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German Pages 514 [520] Year 2005
Weltgesellschaft Theoretische Zugänge und empirische Problemlagen Sonderheft der Zeitschrift für Soziologie Herausgegeben von Bettina Heintz, Richard Münch, Hartmann Tyreii
©
Lucius & Lucius • Stuttgart 2005
Zeitschrift für Soziologie Die Zeitschrift wird herausgegeben von der Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie. Die Fakultät beruft auf Zeit das in seiner Tätigkeit unabhängige Herausgebergremium und den Beirat. Herausgeber:
Bettina Heintz, Bielefeld Martin Kohli, Florenz Richard Münch, Bamberg Peter Preisendörfer, Mainz Hartmann Tyrell, Bielefeld
Redaktion und Geschäftsführung: Hartmann Tyrell, Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie Postfach 1 0 0 1 31, D-33501 Bielefeld Telefon (0521) 1 0 6 - 4 6 2 7 (vorm. Sekr. - 4 6 2 6 ) • Fax (0521) 1 0 6 - 6 4 73 E-mail: [email protected] Internet: www.uni-bielefeld.de/soz/zfs Wissenschaftlicher Beirat: Jutta Allmendinger, München • Johannes Berger, Mannheim • Jörg Bergmann, Bielefeld • Hans-Peter Blossfeld, Bamberg • Josef Brüderl, Mannheim • Andreas Diekmann, Zürich • Hans-Dieter Evers, Bielefeld • Jürgen W. Falter, Mainz • Ute Gerhard, Frankfurt a. M. • Jürgen Gerhards, Berlin • Hans Geser, Zürich • Hans-Joachim Giegel, Jena • Johann Handl, Erlangen • Hartmut Häussermann, Berlin • Stefan Hirschauer, München • Christel Hopf, Hildesheim • Johannes Huinink, Bremen • Hans Joas, Erfurt • Franz-Xaver Kaufmann, Bielefeld • Karin Knorr Cetina, Konstanz • Lutz Leisering, Bielefeld • Thomas Luckmann, Konstanz • Niklas Luhmannf, Bielefeld • Renate Mayntz, Köln • Walter Müller, Mannheim • Bernhard Nauck, Chemnitz • Rosemarie Nave-Herz, Oldenburg • Gertrud Nunner-Winkler, München • Franz Nuscheier, Duisburg • Ilona Ostner, Göttingen • Franz U. Pappi, Mannheim • Detlef Pollack, Frankfurt (Oder) • Werner Rammert, Berlin • Werner Raub, Utrecht • Uwe Schimank, Hagen • Gert Schmidt, Erlangen • Wolfgang Ludwig Schneider, Freiburg i. B. • Yvonne Schütze, Berlin • Hans-Georg Soeffner, Konstanz • Ilja Srubar, Erlangen • Justin Stagl, Salzburg • Rudolf Stichweh, Luzern • Wolfgang Streeck, Köln • Gunther Teubner, Frankfurt a. M. • Monika Wohlrab-Sahr, Leipzig • Stephan Wolff, Hildesheim • Wolfgang Zapf, Berlin. Anschriften der Herausgeber des Sonderheftes Professor Dr. Bettina Heintz Universität Bielefeld Fakultät für Soziologie Universitätsstraße 25 D-33615 Bielefeld E-mail: [email protected]
Professor Dr. Richard Münch Universität Bamberg Institut für Soziologie II Lichtenhaidestraße 11 D-96045 Bamberg E-mail: [email protected]
Professor Dr. Hartmann Tyrell Universität Bielefeld Fakultät für Soziologie Universitätsstraße 25 D-33615 Bielefeld E-mail: [email protected] Die Drucklegung des Sonderheftes wurde dankenswerterweise unterstützt vom Institut für Weltgesellschaft Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBNDaten 3-8282-0303-5 © Lucius 8c Lucius Verlagsgesellschaft m b H • Stuttgart • 2005 Gerokstraße 51, D-70184 Stuttgart Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesamtherstellung: Buch- und Offsetdruckerei Sommer, D-91555 Feuchtwangen Printed in Germany
Zeitschrift für Soziologie
Sonderheft „Weltgesellschaft"
Inhalt/Contents vi
Vorwort
Bettina Heintz Richard Münch Hartmann Tyrell
Einleitung Singular oder Plural - Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung und 'Weltgesellschaft Singular or Plural - Preliminary Remarks on Globalization
Hartmann Tyrell
and World Society
Begriffsgeschichtliche Zugänge 51
Goethes „Weltliteratur" - Ein ambivalenter Erwartungsbegriff
Manfred Koch
Goethe's " Weltliteratur" - An Ambivalent, Anticipatory Concept
68
Von der „Gesellschaft" zur „Vergesellschaftung". Zur deutschen Tradition des Gesellschaftsbegriffs
Klaus Lichtblau
From "Gesellschaft" to "Vergesellschaftung". The German Tradition of the Concept of Society
Zur Theorie der Weltgesellschaft 89
Die „Entdeckung" der Weltgesellschaft. Entstehung und Grenzen der Weltgesellschaftstheorie
Jens Greve Bettina Heintz
The "Discovery" of World Society. Emergence and Limits of the Theory of World Society
120
Auf der Suche nach der verlorenen Totalität. Von Marx' kapitalistischer Gesellschaftsformation zu Wallersteins Analyse der „Weltsysteme"?
Lothar Hack
In Search of the Lost Totality. From Marx' Societal Formation of Capitalism to Wallerstein's "World-Systems Analysis"?
159
Globale Ordnung und globaler Konflikt: Talcott Parsons als Theoretiker des Ost-West-Konfliktes. Eine Anmerkung zur Theoriegeschichte von „Weltgesellschaft"
Bettina Mahlert
Global Order and Global Conflict: Talcott Parsons as a Theorist of the Cold War. A Contribution to the History of Theories of "World Society"
174
Zum Gesellschaftsbegriff der Systemtheorie: Parsons und Luhmann und die Hypothese der Weltgesellschaft
Rudolf Stich weh
On the Concept of Society in Systems Theory: Talcott Parsons, Niklas Luhmann and the Hypothesis of World Society
186
Der Stellenwert von Organisationen in Theorien der Weltgesellschaft. Eine kritische Weiterentwicklung systemtheoretischer und neo-institutionalistischer Forschungsperspektiven
Raimund Hasse Georg Krücken
The Significance of Organizations in Theories of the World Society. A Critical Extension of Research Perspectives of Systems Theory and New Institutionalism
205
Weltgesellschaft, multiple Moderne und die Herausforderungen für die soziologische Theorie. Plädoyer für eine mittlere Abstraktionshöhe World Society, Multiple Modernity and the Challenges for Sociological Theory. A Plea for an Intermediate Level of Abstraction
Thomas
Schwinn
IV
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. Ill—V
Differenzierung und Integration der Weltgesellschaft 223
Politik der Weltgesellschaft und Politik der Globalisierung: Überlegungen zur Emergenz von Weltstaatlichkeit
Mathias
Albert
Politics of World Society and Politics of Globalization: Notes on the Emergence of World Statehood
239
Die Welt der Patente. Eine soziologische Analyse des Weltpatentsystems
Christian
Mersch
Patent World. Towards a Sociological Analysis of the World Patent System
260
Der Weltsport und sein Publikum. Weltgesellschaftstheoretische Überlegungen zum Zuschauersport
Tobias
Werron
World Sports and Their Publics. Spectator Sports through the Lenses of World Society Theory
290
Die Konstruktion des Welthandels als legitime Ordnung der Weltgesellschaft
Richard
Münch
The Construction of World Trade as a Legitimate Order in World Society
314
Vom globalen Dorf zur kleinen Welt: Netzwerke und Konnektivität in der Weltgesellschaft
Boris
Holzer
From the Global Village to the Small World: Networks and Connectivity in World Society
330
Demokratie in der globalen Rechtsgenossenschaft. Einige Überlegungen zur poststaatlichen Verfassung der Weltgesellschaft
Hauke
Brunkhorst
Democracy in the Global Legal Community. Reflections on the Post-Statist Constitution of the Global Society
Region, Nation, Lokalität 348
Die Verortung Europas in der Weltgesellschaft. Historische Europasemantik und Identitätspolitik der Europäischen Union
Theresa Wobbe
Situating Europe Within World Society. Historical Semantics and the Identity Politics of the European Union
374
Weltgesellschaft, Menschenrechte und der Formwandel des Nationalstaats
Matthias Koenig
World Society, Human Rights and the Transformation of the Nation-State
394
Weltgesellschaft und Nationalgesellschaften: Funktionen von Staatsgrenzen
Uwe Schimank
World Society and National Societies - Functions of National Borders
415
Wie global ist institutionalisierte Weltbildungsprogrammatik? Neo-institutionalistische Thesen im Licht kulturvergleichender Analysen
Jürgen Schriewer
Re-Examining Institutionalized World-Level Educational Ideology: Neo-Institutionalist Assumptions in the Light of Cross-Cultural Analysis
442
Die Vergangenheit in der Gegenwart. Traditionelle Landwirtschaft, soziopolitische Differenzierung und moderne Entwicklung in Afrika und Asien: Ein statistischer Ländervergleich The Weight of the Past. Traditional Agriculture, Sociopolitical Differentiation, and Modern Development in Africa and Asia: A Cross-National Analysis
Patrick Ziltener Hans-Peter Müller
Inhalt
479
V Das Lokale als Ressource im entgrenzten Wettbewerb: Das Verhandeln kollektiver Repräsentationen in Nepal-Himalaya The 'Local' as a Resource in Global Competition. Negotiating Collective Representations in Nepal-Himalaya
501
Alphabetisches Verzeichnis der Autorinnen und Autoren des Sonderheftes
Joanna Pfaff-Czarnecka
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. VI
Vorwort Die Zeitschrift für Soziologie legt hiermit im 34. Jahr ihres Erscheinens ihr erstes Sonderheft vor. Wie im Editorial im Heft 1 dieses Jahres (ZfS 34, 2005: 2f.) angekündigt, ist es der Thematik der Weltgesellschaft gewidmet. Der umfangreiche Band hat eine mehrjährige Vorgeschichte. Zu dieser gehört vor allem eine Tagung, die vor drei Jahren im November 2002 in Bielefeld stattfand. Sie war befaßt mit dem Gesellschaftsbegriff und seinen ,weltgesellschaftlichen' Dispositionen. Ihr Titel: „Die Gesellschaft und ihre Reichweite - Wie zwingend ist die We/igesellschaft?". Veranstaltet wurde die Tagung vom Institut für Weltgesellschaft der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld und der Zeitschrift für Soziologie (vgl. die Ankündigung der Tagung im Heft 4 der ZfS 31, 2002: 344f.). Verantwortlich waren seinerzeit Richard Münch, Rudolf Stichweh und Hartmann Tyrell. Die ausgesprochen lebhafte, stimulierende und ertragreiche Tagung nahmen die seinerzeitigen Herausgeber der ZfS zum Anlaß, die schon zuvor gehegte Idee eines Sonderhefts „Weltgesellschaft" in die Tat umzusetzen. Die Weg- und Zeitstrecke, die es für diese Umsetzung gebraucht hat, war mit nahezu drei Jahren recht lang, und sie hat einigen Autorinnen und Autoren Wartezeit und Geduld abverlangt; dafür, daß sie die Geduld aufgebracht haben, sind ihnen die Herausgeber dieses Sonderheftes ausgesprochen dankbar. Zu dem Fundus von Beiträgen, die auf die Tagung von 2002 zurückgehen, sind im Laufe der Zeit eine Reihe weiterer hinzugekommen, teils als „normale" ZfS-Einreichungen, teils auch von den Herausgebern stimuliert oder ihnen anempfohlen. Es sei sodann angemerkt, daß der Gesamtkreis der fünf Herausgeber der Zeitschrift für den Fall des Sonderheftes zwei sonst streng geltende Regeln außer Kraft gesetzt hat: Die drei Heftherausgeber durften selbst „mitschreiben", hatten sich aber - mit Ausnahme der Einleitung - ebenfalls dem üblichen anonymen Begutachtungsverfahren zu unterziehen, und den Autorinnen und Autoren war, wo sie es brauchten, mehr als der sonst ZfS-übliche Platz eingeräumt. Im übrigen aber erfüllt es die Herausgeber dieses Sonderheftes mit Freude, daß in ihm ältere und reputierte Kolleginnen und Kollegen ebenso zu Wort kommen wie jüngere, darunter solche, die hier erstmals publizieren. Die Herausgeber haben Anlaß, dem Verleger, Herrn Dr. Wulf D. von Lucius für die in dem Sonderheftfall erneut bewährte gute Zusammenarbeit zu danken. Dank gilt auf der Verlagsseite in gleichem Maße Frau Bettina Schmidt für die Umsicht, Energie und zuverlässige Kalkulation, mit der sie auch hier maßgeblich dazu beigetragen hat, den voluminösen Band erscheinen zu machen. Und Dank gilt ebenso dem Institut für Weltgesellschaft in Bielefeld für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses; eine Zusammenarbeit, die sich schon hinsichtlich der erwähnten Weltgesellschaftstagung bestens bewährt hat, findet darin ihre sichtbare Fortsetzung. Hartmann Tyrell hat gute persönliche Gründe, noch zwei Danksagungen anzufügen. Einerseits möchte er Klaus Dey für sein vorzügliches Lektorieren und vielerlei weitere Kooperation im Zusammenhang mit der Entstehung des vorliegenden Bandes danken. Und andererseits drängt es ihn, den beiden Mitherausgebern, Bettina Heintz und Richard Münch, seinen besonderen Dank zu sagen. Er tut es, gleichermaßen bewegt, mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Das Lachen gilt der Vergangenheit und ist Ausdruck der Freude auch über das nun zuwege gebrachte Sonderheft; die Tränen aber haben die nahe Zukunft im Sinn, nämlich den Abschied, den es bedeutet, daß Bettina Heintz nach vier und Richard Münch nach sechs Jahren nun zu Ende dieses Jahres aus dem Herausgeberkreis der Zeitschrift für Soziologie ausscheiden werden. Bettina Heintz, Richard Münch, Hartmann
Tyrell
Einleitung
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 1 - 5 0
Singular oder Plural - Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung und Weltgesellschaft Singular or Plural - Preliminary Remarks on Globalization and World Society Hartmann Tyrell* Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld, Universitätsstraße 25, D-33615 Bielefeld E-mail: [email protected]
Zusammenfassung: Der Beitrag führt ein in die Probleme von Weltgesellschaft und Globalisierung. Er tut es, indem er auf die Begriffsgeschichte von .Globalisierung' und .Weltgesellschaft' blickt, indem er die .Karrieren' der beiden Begriffe nachzeichnet und den Blick auch auf die verschiedenen beteiligten Denkschulen richtet. Der Beitrag ist ganz aufs Semantische konzentriert, und der Kern der Sache ist Sprachgebrauchsbeobachtung. Dabei geht es insbesondere um die Frage von Singular und Plural, zumal um beider Entgegensetzung. Das führt - unter vergleichender Zuziehung des .Entwicklungsvokabulars' (F. H. Tenbruck) und der Begrifflichkeit von .Modernisierung' und .Moderne' bzw. der „multiple modernities" (S. N. Eisenstadt) - u. a. auf „die Globalisierung", strikt im Singular verwendet, aber ebenso auf verschiedene „Globalisierungen". Der Gedankengang führt auf der anderen Seite auf den Plural .der Gesellschaften' im Gegensatz zur .Singularität' der Weltgesellschaft (nur noch eine Gesellschaft), dann aber doch auch wieder auf .Weltgesellschaften' im Plural. Summary: This article gives an introduction to problems of world society and globalization. It looks into the history of the concepts of "world society" and "globalization"; it also looks at the "careers" of these terms and at the different schools of thought related to them. The article focuses on semantics, whereby the core of the matter is the observation of language use, in particular that of singular and plural, which are often opposed to one another. In this way the article first analyzes (and compares) the older terms "development", "modernization", and "modernity", i.e. "multiple modernities". Then, in the field of "globalization" (among others) the opposition of "globalization" - strictly used in the singular form - , is shown on the one hand, and "globalizations" (in the plural), as used by several authors in a programmatic way, on the other hand. Finally, in the field of world society one can find the plural of societies as opposed to the "singularity" of the world society (one single worldwide society); but one can find "world societies", as well.
1. „I Begriffi" In den 1980er Jahren fand in Italien, wie Renate Mayntz gelegentlich erzählt hat, ein international besuchter sozialwissenschaftlicher Kongreß statt, an dem auch eine Reihe deutscher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler teilnahm. Im Verlauf des Kongresses fiel den italienischen Gastgebern an den deutschen Teilnehmern (oder doch an einigen von diesen) etwas auf, das sie als deutsche intellektuelle Eigen* Der Verfasser dankt Bettina Heintz und Richard Münch, den Mitherausgebern, für Geduld ebenso wie für kritisches und ermutigendes .Gegenlesen'. Er dankt Renate Mayntz für Erinnerungsarbeit in Sachen „i begriffi" und für die Lizenz, die (im Folgenden wohl etwas ausgeschmückte) Geschichte weiterzuerzählen. Horst F i sching dankt der Verfasser für Affirmation - bis auf den Schlußpunkt. Herzlichen Dank vor allem aber an Klaus Dey für vielerlei ,Rat und Hilfe', für nimmermüdes stirnrunzelndes Mitdenken und die gemeinsame Klein- und Korrekturarbeit an Text und Formulierung!
tümlichkeit wahrnahmen, nämlich ein vordringliches Interesse an Begriffsbildung und Begriffsklärung, überhaupt die Tendenz, Begriffliches vorrangig wichtig zu nehmen. Und wie immer die Tagungssprache war, die deutsche Rede v o m „Begriff" muß den italienischen Hörern in den Ohren geklungen haben. Die Beobachtung wurde zum Gesprächsgegenstand und stimulierte eine amüsant-ironische Begriffserfindung, die unter den kommunikativen Gegebenheiten des Kongresses nicht ohne Resonanz bleiben konnte und die dann auch darüber hinaus gut (weiter-)erzählbar war. Die italienischen Teilnehmer nannten die deutschen Kollegen „i begriffi". Diese Namengebung, die den deutschen ,Begriffsklang' unversehrt ins Italienische hineinnimmt und ihn dabei in ein Personalsubstantiv (im Plural) verwandelt, bündelte aufs Schönste die Unterschiedserfahrung, die man mit und an den ,ultramontanen' Kollegen gemacht hatte, und ,hielt sie fest'. Sie tat es in Form einer Sammelbezeichnung mit nationaler Adressierung und freundlich-bedenklichem Unterton.
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 1 - 5 0
Daß die Geschichte hier wiederaufgenommen wird, hat den Grund, daß der Verfasser der Einleitung des vorliegenden Sonderhefts gar nicht umhin kann, sich selbst in bestimmter Weise dem Menschenschlag der „begriffi" zuzuschlagen, denn diese Einleitung ist ein rundum semantikbezogenes Unternehmen. Sie handelt nur von den Begriffen, von der Begrifflichkeit ,Globalisierung', ,Weltgesellschaft' und Verwandtem, von begrifflichen Vorläufern und Begleitern. Das heißt aber unvermeidlicherweise: nicht ,die Sache' von Globalisierung und Weltgesellschaft ist im Weiteren Thema und Gegenstand des Interesses, sondern die Begriffe und Konzepte, mittels derer sie beschrieben und ,geltend gemacht' wird. Man kann, wenn man skeptisch ist, das, was der „begriffo" hier tut, den Versuch nennen, die Not der Enthaltsamkeit gegenüber den Sachen zur begriffssensitiven Tugend umzudeklarieren. Ob solche Skepsis berechtigt ist, darüber mag man am Ende des Textes urteilen. Vorweg möchte der Verfasser zu seiner Entlastung nur zweierlei sagen. Zum einen: dieser Einleitung folgt ein ganzes Ensemble von bestens informierten Beiträgen ,in Sachen' Weltgesellschaft und Globalisierung, und diese sind ja die Hauptsache des vorliegenden Bandes. Theoriegeschichtliche und theoretische Arbeiten sind ebenso darunter wie empirische Studien, und auf sie im einzelnen (immer wieder) hinzuweisen, ist eine der Aufgaben dieser Einleitung. Zum anderen aber: die Begriffe selbst und ihr Gebrauch sind ,die Sache' dieser Einleitung, die Praxis und ,die Politik', die sich mit ihnen verbindet, ebenso wie ihre Karrieren und ,Schicksale'. Wichtig ist es zu betonen, daß das begriffsbezogene Vorhaben, das hier anzukündigen ist, selbst kein theoretisches ist. Es geht also nicht um theoriesystematische „Arbeit am Begriff", nicht um Klärung und Explikation und auch nicht um die Konstruktion und Kontrolle von Idealtypen oder Ähnliches. Stattdessen geht es dem „begriffo", als der der Verfasser sich bekennt, um Sprachgebrauchsbeobachtung. Gegenstand sind, wie gesagt, Begriffe und ihr Gebrauch und dabei insbesondere, was überraschen mag, ihr Gebrauch im Singular oder im Plural. Zugleich geht es - am Fall von ,Globalisierung',,Weltgesellschaft' und Verwandtem - um begriffliche Werdegänge und auch um semantischen Verdrängungswettbewerb. In solchem Sinne sollen Begriffe hier Gegenstand sein. Bei solcher ,Objektivierung' ist sich der Verfasser der Not des (mit Luhmann) .autologischen Problems' sehr wohl bewußt, wie es sich gerade dem Sprachgebrauchsbeobachter stellt: Er muß dieselbe Sprache sprechen, er ist auf dieselben grammatikalischen Formen (Singular oder Plu-
ral) verwiesen und zehrt von demseben Wortbestand und Begriffshaushalt, auf deren Gebrauch er bei anderen (oder auch bei sich selbst) achtet. Die auf Globalisierung und Weltgesellschaft bezogenen Artikulationen und Mitteilungen, die er ,beobachtet', muß er in demselben Medium artikulieren und mitteilen, in dem diese selbst artikuliert und mitgeteilt worden sind. Und im eigenen Sprachgebrauch macht er sich und weiß er sich selbst beobachtbar. Der ,Zugriff' auf die Begriffe ,Globalisierung' und ,Weltgesellschaft', um die es gehen soll und die im zweiten Abschnitt kurz vorgestellt werden, erfolgt im Weiteren auf Umwegen und in mehreren Anläufen. Die Umwege führen einerseits über die Stationen von Vorläuferbegriffen, nämlich des „Entwicklungsvokabulars" (F. H. Tenbruck; Abschnitt 2) und der Begrifflichkeit von „Modernisierung" und „Moderne" (Abschnitt 4); andererseits gilt es im dritten Abschnitt, die Singular/Plural-Problematik grundsätzlicher zur Sprache zu bringen. Denn sie wird im Weiteren, was die Sprachgebrauchsbeobachtung von ,Weltgesellschaft' und ,Globalisierung' angeht, den Kern der Sache ausmachen. Der fünfte Abschnitt führt dann einerseits auf die ,Singularität' der Weltgesellschaft und andererseits auf die Neigung des Globalisierungsdiskurses, teilweise in den Plural zu wechseln und von „Globalisierungen" zu sprechen. Thema des sechsten Abschnitts sind dann ,die Globalisierung' und ihr Begleitvokabular; dabei wird es um die ,Weltkarriere' von Globalisierung gehen und zugleich darum, sich soziologisch einen Reim auf diese Karriere zu machen. Thema muß hier aber auch das eigentümliche (und meist nullsummenartig verstandene) Gegenüber von Globalisierung und Nationalstaat sein: beide im Singular. Das Schlußstück (Abschnitt 7) gehört dann wieder ,der Weltgesellschaft', wobei es zunächst um ganz skizzenhafte Bemerkungen zur Soziologiegeschichte des Gesellschaftsbegriffs geht; diese Geschichte scheint dem Verfasser weniger nationalstaatlich bestimmt und sozusagen .weltgesellschaftlicher', als es heutzutage meist angenommen wird. Es soll sodann gezeigt werden, daß die Weltgesellschaft in ihrer .Einzigkeit' nicht eine Reihe mit jenen soziologisch populären ,Bindestrichgesellschaften' vom Typ der .Informationsgesellschaft', der ,Risikogesellschaft' usw. gehört, von denen die moderne Gesellschaft in ihrer Komplexität so viele verkraftet. Das sang- und klanglos endende Schlußstück des Aufsatzes ist dann ganz den beträchtlichen Singular/Plural-Problemen der Weltgesellschaft im systemtheoretischen Verständnis (und der Kritik daran) gewidmet.
Hartmann Tyrell: Singular oder Plural - Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung
2. Präludium Semantik und Begriffsgeschichte sind ein Feld voller retrospektiver Überraschungen. Die Vertrautheit und Geläufigkeit von Begriffen, etwa von solchen der Politik, schützt nicht vor der Überraschung, d a ß diese häufig viel jüngeren D a t u m s sind, als es die Selbstverständlichkeit, mit der sie von M u n d zu M u n d oder von T e x t zu T e x t gehen, suggeriert. Friedrich H . T e n b r u c k hat seinen Lesern im J a h r e 1 9 8 7 - zu einer Zeit also, als die Globalisierungsbegrifflichkeit auf den Weg k a m 1 , von ihrer heutigen Allgegenwart aber noch weit entfernt w a r - eine solche Überraschung bereitet. In einem Aufsatz mit dem Titel Der Traum von der säkularen Ökumene (Tenbruck 1 9 8 7 ) hat er sich das V o k a b u l a r der Entwicklung v o r g e n o m m e n : den in Politik und M e d i e n , auch in der Wissenschaft bis heute sich durchhaltenden Sprachgebrauch von .Entwicklungsländern und Unterentwicklung', von u n g l e i cher E n t w i c k l u n g ' , E n t w i c k l u n g s h i l f e und Entwicklungspolitik' usw., und nicht minder auch die daran mitgeführte „Vision der Einen Welt als Entwicklungsgemeinschaft" . M i t Verweis u. a. auf die Encyclopaedia Britannica, deren Ausgabe von 1 9 5 8 die Begrifflichkeit von „ d e v e l o p m e n t " und „underdeveloped c o u n t r i e s " noch nicht führt, demonstriert T e n b r u c k , d a ß das Entwicklungsvokabular vergleichsweise jung und ein Produkt erst der Nachkriegszeit, insbesondere der Dekolonisierungsphase ist: in Umlauf gesetzt vor allem durch die internationalen Organisationen der Z e i t und stark nordamerikanisch geprägt. „ N o c h vor 4 0 J a h r e n gab es keine .Entwicklungsländer' und keine ,Entwicklungspolitik'" (ebd.: 1 5 ) . 2 Erst in den 1 9 6 0 e r J a h r e n also setzt sich international eine (teils implizit bleibende) Beschreibung der Welteinheit durch, die maßgeblich auf die Differenz von ,entwickelt/unterwickelt' bezogen ist, nämlich mit dem Ziel ihrer Beseitigung. Alle Länder/Staaten dieser Erde geraten damit unter Fremd-
1 Bei Tenbruck (1987: 31ff.: „Entwicklung als globaler Kulturkampf") wird dazu beigetragen; von „Globalisierung" ist hier, wiewohl eher beiläufig, ausdrücklich die Rede. 2 Tenbrucks wichtigste Quelle dürfte Heinrich Krauss SJ (1967: insbes. 15ff.) gewesen sein, nämlich dessen ebenso lange wie instruktive Einführung zu Populorum Progressiv), der Entwicklungsenzyklika Papst Pauls VI.; hier wird dem „Auftauchen des Begriffs Entwicklungsländer" detailliert nachgegangen. Vgl. als deutsche Lexikonartikel immerhin Hoffmann 1958 („Entwicklungsländer"), Willems 1958 („Unterentwickelte Gesellschaften"), Behrendt 1961 („Entwicklungsländer"). Vgl. im übrigen im Hinblick auf „economic development" Arndt 1981.
und
Weltgesellschaft
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wie Selbstbeobachtung, allen stellt sich die Frage ihres Entwicklungsniveaus (des wirtschaftlichen vor allem), alle sind in den Vergleich hineingenötigt. Die ,Entwicklungsländer' und ihren R ü c k stand' gibt es nicht an sich, sondern nur in Relation und ,ungleichzeitig' zu den ,schon entwickelten' L ä n d e r n . 3 N i c h t Armut als solche m a c h t .unterentwickelt'. „Die Entwicklungsländer s i n d " vielmehr „als Teil eines internationalen Systems entstanden; sie sind eigentlich das Ergebnis einer Entwicklungspolitik, die die Unterentwicklung abschaffen sollte" (ebd.: 1 4 ) . 4 T e n b r u c k hatte mit seinem Aufsatz soziologisch allerdings m e h r im Sinn als nur die Mitteilung eines überraschenden begriffsgeschichtlichen Befunds. Es ging ihm mit der ihm eigenen Grundsätzlichkeit um eine Kritik der Sprache der Entwicklung; es ging ihm darum, „die historische Bedingtheit, ideologische Befangenheit und durchgängige Wirklichkeitsverfälschung des einschlägigen Vokabulars aufzudec k e n " (ebd.). N i c h t also die Irrtümer, die falschen Erwartungen und, daraus resultierend, der (wissenschaftliche) „Niedergang der Entwicklungsökon o m i e " 5 sind Tenbrucks T h e m a ; vielmehr ist es der Sprachgebrauch als solcher, den T e n b r u c k anficht. Und es ist ihm dabei - nahezu trotzig - um intellektuelle Selbstbefreiung zu tun: um die Auflehnung gegen das R e g i m e ,herrschender Begriffe'. D e n n Schon im 19. Jahrhundert allerdings gibt es Stimmen, die durchaus Ahnliches artikulieren, allen voran die von Friedrich List, wenn er etwa sagt: „Denn je rascher der Geist industrieller Erfindung und Verbesserung, der Geist gesellschaftlicher und politischer Vervollkommnung vorwärts schreitet, desto größer wird der Abstand zwischen den stillstehenden und den fortschreitenden Nationen, desto gefährlicher das Zurückbleiben" (1841; hier 1925: 1). Natürlich ist das in einem weltweiten Sinne und zukunftsbezogen gemeint. Der künftig sich weiter intensivierende Weltverkehr ist daran vorausgesetzt. „Jetzt schon ist mit Bestimmtheit vorauszusehen, daß nach dem Verlauf einiger Jahrzehnte durch die Vervollkommnung der Transportmittel die civilisirten Nationen der Erde, in Beziehung auf den materiellen wie auf den geistigen Verkehr, so eng oder noch enger unter sich verbunden sein werden, wie vor einem Jahrhundert die verschiedenen Grafschaften von England" (ebd.: 113). 4 Es ist klar, daß die Welteinheit, wie sie hier .ideell' hergestellt wird, von anderer Beschaffenheit ist als der strukturelle Abhängigkeitszusammenhang, wie ihn dann die Dependenztheorie für das Verhältnis von Industrie- und Entwicklungsländern in den Vordergrund gestellt hat; vgl. dazu in diesem Band den Beitrag von Jens Creve und Bettina Heintz. 5 Dazu (zu Beginn der 1980er Jahre gesagt) Hirschman 1993: 4 0 ff.; vgl. insbes. ebd.: 58ff. („aus Gutem nur Gutes"?). 3
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 1 - 5 0
von der Entwicklungsbegrifflichkeit kann T e n b r u c k ( 1 9 8 7 : 18) unter Bezug auf das T h o m a s - T h e o r e m sagen: „Diese Begriffe haben von unserem D e n k e n und Handeln Besitz ergriffen; wir können aus ihnen nicht mehr herausfinden. W i e immer trügerisch, sind sie, einmal in U m l a u f gebracht, selbst zu einer Realität geworden, die die Welt m i t b e s t i m m t . " W i r brauchen dem Gedankengang des Aufsatzes nicht im Detail zu folgen. W a s an dieser Stelle jedoch interessiert, ist zunächst, d a ß Tenbruck das bestehende i n t e r n a t i o n a l e System' der Nachkriegszeit so deutlich als Umwelt namhaft m a c h t , innerhalb derer es erst E n t w i c k l u n g s l ä n d e r ' geben konnte. Ein weiteres global disponiertes M o m e n t aber tritt im Entwicklungsdiskurs hinzu; es ist ein teleologisches und futurisches, die Idee nämlich der Einen Welt, die „ V i s i o n " der befriedeten „ G e m e i n schaft der in gleicher und gemeinsamer Entwicklung geeinten V ö l k e r " (ebd.: 15f.). T e n b r u c k (ebd.: 1 2 ) beruft sich dafür u . a . auf Populorum Progressio, auf die päpstliche Enzyklika von 1 9 6 7 6 , in der es ausdrücklich heißt, „ E n t w i c k l u n g " sei „der neue N a m e für F r i e d e " (vgl. auch Krauss SJ 1 9 6 7 : 1 2 6 f f . ) , und in der auch „eine wirksame Welta u t o r i t ä t " a n g e m a h n t wird. Die Entwicklungsvision in diesem Sinne hat aber Weiterungen. Die normative Kraft, die ihr innewohnt, verpflichtet, praktisch zu werden; sie verpflichtet zur tätigen Beseitigung der anstößigen ,Unterentwicklung', mithin zur Entwicklungspo//i/&, und sie produziert so zwischen den entwickelten und unterentwickelten Ländern u. a. jene eigentümliche Relation eines zunächst durchaus einseitig verstandenen G e b e n s und Helfens, die den Titel E n t w i c k l u n g s h i l f e ' hat. Die Vision gerät so zur „lösbaren A u f g a b e " , zur m a c h baren Z u k u n f t , und es ist vor allem dieser praktisch werdende Optimismus, den Tenbruck mißbilligt. Die semantische Lage ist heute - nach 1 9 8 9 - eine grundlegend veränderte, und m a n sieht sich verführt, die Situation im Sinne der Schlußbemerkungen von M a x Webers Objektivitätsaufsatz zu deuten ( 1 9 0 4 ; hier 1 9 7 3 : 2 1 4 ) : „Irgendwann wechselt die Farbe: die Bedeutung der unreflektiert verwerte-
großen Kulturprobleme
ist weitergezogen.
Dann
rüstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu w e c h s e l n " . D a s Pathos der Weberschen Sätze m a g beiseite bleiben. Aber zu der Deutung im Sinne Webers will es irgendwie passen, daß die Zeitdiagnostik seit den 1 9 9 0 e r J a h r e n nicht müde wird, unter immer anderen, doch ähnlichen Titeln den A n b r u c h einer neuen Z e i t zu beschwören, und d a ß dies wissenschaftlich begleitet wird von lebhaften Aufforderungen zur Revision der Begriffsbestände der Vergangenheit. Z u den ,unreflektiert' mitgeführten Prämissen, die dabei problematisch und sichtbar geworden sind, zählt nicht zuletzt das D e n k e n in den Grenzen ,des N a t i o n a l s t a a t s ' . D a m i t ist weit m e h r gemeint als die Aufforderung, die grundsätzliche (und weiterwachsende) Vielzahl der N a t i o n a l s t a a t e n zur Kenntnis zu nehmen; vielmehr ist es die Geltung der Grenzen, die problematisch wird. In diesem Sinne ist etwa von der postnationalen Konstellation ( H a b e r m a s ) die Rede, und parallel dazu wird die „De-Nationalisierung grundlegender Begriffe" gefordert. 7 D e m sozialwissenschaftlichen Begriffshaushalt gelte es seine nationalen bzw. nationalstaatlichen Voreingenommenheiten, seinen „ m e t h o dologischen N a t i o n a l i s m u s " auszutreiben. An dieser Stelle ist es angezeigt, die beiden im Titel dieser Einleitung angekündigten Begriffe ,vorzustellen': Es ist dies auf der einen Seite der in den 1 9 8 0 e r J a h r e n a u f g e k o m m e n e Prozeßbegriff der Globalisierung. M a n m u ß k a u m sagen, d a ß dieser Begriff unter all denen, die das zuvor erwähnte zeitdiagnostische Angebot zur Benennung des Neuen und K o m m e n d e n offeriert, der mit Abstand erfolgreichste war; die Rede vom „Zeitalter der Globalisierung" klingt längst vertraut. Und der weltweite Aufmerksamkeitserfolg des Begriffs war im s e m a n tischen Verdrängungswettbewerb' daran beteiligt, das Entwicklungsvokabular (weiter) in den Hintergrund treten zu lassen. 8 W i r halten uns im Weiteren ganz pauschal und undifferenziert' an den bloßen Begriffsgebrauch und unterscheiden erst sekundär
ten Gesichtspunkte wird unsicher. D a s Licht der
und fallweise, o b es sich um „ G l o b a l i s i e r u n g " aus der Perspektive von Ö k o n o m e n , von Politikwissen-
Mit Populorum Progressio assoziiert sich, wenn man so will, der Vatikan dem „internationalen System" (im Sinne von Talcott Parsons). Die ersten fünf vom Papst feierlich unterzeichneten Exemplare der Entwicklungsenzyklika „waren bestimmt für U Thant, den Generalsekretär der Vereinten Nationen, für René Malheu, den Direkor der UNESCO, für B. R. Sen, den Direktor der FAO, für Kardinal Maurice Roy, den Präsidenten der Kommission Justitia et Pax, und für Msgr. Jean Rodhain, den Präsidenten der Caritas Internationalis" (Krauss SJ 1967:12).
Vgl. nur Koenig 2003: 38ff., 52ff.; zur Formel vom .methodologischen Nationalismus' differenzierend Wimmer / Glick Schiller 2003: 576ff. Schölte 2000: 56ff. spricht von „methodological territorialism". 8 Göran Therborn (2000a: 149f.) hat dem Erfolg von Globalisierung besondere Aufmerksamkeit gewidmet; sein Befund, was die damit einhergehenden semantischen Verschiebungen angeht: „First of all, a substitution of the global for the universal-, second, a substitution of Space for time."
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Hartmann Tyrell: Singular oder Plural - Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung und Weltgesellschaft schaftlern, von Soziologen schaftlern handelt.
oder
Kulturwissen-
Die Unwiderruflichkeit der Bewegung hin auf die Eine Welt bzw. den einen Markt ist vor allem für die neoliberalen oder (mit Held et al. 1999: 3ff.) „hyperglobalistischen" Propagandisten die zentrale Botschaft der ,Globalisierung' - kombiniert mit der Auskunft, dies alles sei schlechterdings neu und werde die Sozialverhältnisse allerorten revolutionieren; vor allem ,der Nationalstaat' in seiner territorialen Limitierung sei davon betroffen. 'Globalisierung' hat sich zudem durchgesetzt mit einem Begleitvokabular von „connectedness", „interconnectivity" oder Vernetzung9, und es ist der Schub der weltweit-grenzüberschreitenden Netz Verdichtungen, wie ihn vor allem die Ausbreitung des Internets repräsentiert, der das Neue der sich herstellenden Welteinheit plausibilisiert. Diese meint also nicht mehr (wie bei Tenbruck) die Zusammengehörigkeit des Ungleichen und Ungleichzeitigen bzw. das prospektive Verschwinden der Differenz von .entwickelt' und ,unterentwickelt'. Am Globalisierungsbegriff, wie wir ihn kennen, fällt (kontrastiv) auch auf, daß er zwar ein Telos und eine Prozeßrichtung mitteilt, aber arm ist an Hoffnung: Es ist ein Begriff ohne starke Vision 10 , ohne menschheitsweites ,Heilsversprechen' und ohne Anschluß an das bei Tenbruck (noch) für das Entwicklungsvokabular herausgestellte christliche Erbe, ohne Anschluß auch an die Geschichtsphilosophie der Aufklärung (Adam Smith eingeschlossen; vgl. Rohbeck 2000). Weiterhin fällt, was die dem Begriff inhärente Zurechnungslogik angeht, auf: im Unterschied zu Entwicklung' ist ,die Globalisierung' nichts Aktivierbares, analog der Entwicklungshilfe in tätige Politik Umsetzbares. Beschrieben wird sie als etwas extern Zuzurechnendes („die Märkte"!), überdies als etwas nahezu Schicksalhaftes, zu dem sich der Akteur (der nationalstaatliche zumal) nur adaptiv oder reaktiv verhalten kann. 11 Und dieser Begriff
Vgl. nur die vorsichtige Definition bei T h e r b o r n ( 2 0 0 0 b : 1 5 4 ) : „globalization as referring to tendencies to a worldwide reach, impact, or connectedness o f social phenomena or to a world-encompassing awareness among social actors". 1 0 Vgl. aber - im Februar 1 9 9 0 und als Glaubensbekenntnis („we believe") formuliert - die „Declaration o f Interdependence Toward the World - 2 0 0 5 " mit dem Versprechen von „boundless prosperity" in einer „borderless w o r l d " (Ohmae 1 9 9 0 : 2 1 6 f . ) . 9
" Das ist gut getroffen bei G ö r g ( 2 0 0 4 : 1 0 5 f f . ) , der von „neoliberaler Globalisierung" spricht und die einschlägige Zwangs- und Unausweichlichkeitsrhetorik präzise kennzeichnet. Schön auch die Beobachtung: gegen das restrik-
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hat nicht nur, mit Tenbrucks Formulierung, „von unserem Denken und Handeln Besitz ergriffen" und soziale Faktizität für sich okkupiert. Man kann, mit Pierre Bourdieu etwa, darüber hinaus sehen, daß genau das (im Sinne eines ,Machtdiskurses') in der Absicht seiner Propagandisten liegt. 12 Für den Erfolg von ,Globalisierung' sei aber auch auf den zeitlichen Sinn hingewiesen, mit dem der Begriff .wichtig gemacht' und ins Gespräch gebracht worden ist. Durchweg mitgemeint ist ja (im Sinne eines Vorher/Nachher): jetzt nur noch „eine Welt". Zu den .relevanz- und absatzsteigernden' Suggestionen der Globalisierungsrhetorik gehört wesentlich eine Diskontinuitätsaussage: die Geltendmachung des (weltweit) umstürzend Neuen mit und im Gefolge der Globalisierung. Martin Albrow (etwa 1998) war nicht der einzige Autor, der es für geboten ansah, ein neues Zeitalter auszurufen: das „global age" (vgl. auch Dürrschmidt 2002: 80ff.), und unübertroffen in der Beschwörung des epochal Neuen, zuletzt unter .kosmopolitischem' Titel, bleibt Ulrich Beck (2000). Solche Dramatisierung von „newness" ist auf teilweise massiven Widerspruch gestoßen, der die behauptete Zeitenwende nicht gelten lassen will (vgl. nur Goldthorpe 2003, Wimmer 2001, 2003). Hier sei in historischer Blickrichtung nur dies festgehalten: Beck, um nur ihn zu nennen, ist, ohne sich vielleicht darüber im Klaren zu sein, ein .Wiederholungstäter'. Denn spätestens seit 1800 und verstärkt jeweils um die Jahrhundertwenden wiederholen sich in Europa die globalen Proklamationen. Im 19. Jahrhundert sprach man mit Emphase vom „Zeitalter des Weltverkehrs" und tat es unbedingt im Bewußtsein des welthistorisch Neuen. 13 Die begrifflich frisch erfuntiv-kontingenznegierende „There is no alternative" setzt die Globalisierungskritik die Formel „Eine andere Welt ist möglich". 1 2 Diesen intendierten Effekt verstand Bourdieu ( 2 0 0 4 : 5 4 f . ) klassenkampfnah; er nennt „Globalisierung" einen Mythos: „sie ist ein M y t h o s im starken Wortsinne, ein Machtdiskurs, eine .Ideenmacht', eine Vorstellung, die gesellschaftliche M a c h t besitzt, die Glauben auf sich zieht. Sie ist die entscheidende Waffe der Kämpfe gegen die Errungenschaften des welfare State". Vgl. auch ebd.: 2 0 9 f f . zur deskriptiv-präskriptiven „Doppeldeutigkeit des Begriffes .Globalisierung'", darin dem Vorgängerbegriff „modernisation" gleich. 13 Für den .Globalisierungsdiskurs' vor und nach 1800, auf Goethes „Weltliteratur" hin, vgl. überaus reichhaltig K o c h 2 0 0 2 , ferner Kochs Beitrag in diesem Band. Martin Albrow ( 1 9 9 8 : 4 2 3 f f . ) übrigens ist vom Vorwurf der Geschichtslosigkeit auszunehmen; Goethes Verhältnis zur Zeitschrift Le Globe ist bei ihm ausdrücklich zur Sprache gebracht. Z u m „Zeitalter des Weltverkehrs", von der Mis-
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dene ,Globalisierung' aber, die um die Jahrtausendwende (neuerlich) „the newness of global compression and of people's consciousness of that compression" herausstreicht (vgl. Yearley 1996: 16), kommt nicht nur eigentümlich geschichts- und gedächtnislos daher. Mit der erklärten Diskontinuität, durch die sich das neue Zeitalter zu aller Vorgeschichte auf Distanz bringt, verschafft es sich zudem eine wohlfeile historische Unbelastetheit und befreit es sich von allen Kontinuitäten und ,Erinnerungslasten', die zurückführen könnten in die europäische Kolonialgeschichte; gerade diese aber war Teil einer Epoche, der es an ,Globalität' und energischem Weltzugriff nicht mangelte (vgl. auch von Trotha 2004: 49f.,vor allem 86f.). Es ist dies natürlich nicht die ganze Wahrheit ,der Globalisierung' in den Sozialwissenschaften. Dafür gibt es zu viele seriöse Bemühungen um den Begriff, Bemühungen zumal, den Begriff im wissenschaftlichen Sprachgebrauch zu beheimaten, seine Unverzichtbarkeit für die adäquate Beschreibung moderner Sozialverhältnisse zu demonstrieren, ihn ferner zu präzisieren und seine verschiedenen Dimensionen näher zu bestimmen. Dafür sei hier nur auf Roland Robertson (1992), Anthoay Giddens (1995: 84ff.) oder Göran Therborn (2000b) verwiesen, ferner auf die politikwissenschaftliche Aneignung des Konzepts unter dem Stichwort von Global Governance 14 . Auch stößt man längst auf starke Bemühungen, der Globalisierung ihre Geschichtslosigkeit zu nehmen, sie mit Geschichte auszustatten und historisch anschlußfähig zu machen. 15 Zugleich ist auf geschichtswissenschaftlicher Seite eine mittlerweile beträchtliche Forschung unter dem Globalisierungstitel in Gang gekommen, und Wirtschaftshistorikern ist insbesondere das 19. und frühe 20. Jahrhundert eine Ära der Globalisierung (vgl. nur Osterhammel / Petersson 2003, Borchardt 2004). Allerdings: der ,Gebrauchserfolg' von Globalisierung hat eine Begleiterscheinung. Es fällt auf, daß die meisten Autoren, die auf sich halten, sich den Begriff nicht umstandslos aneignen mögen; man ist vorab genötigt, sich zu seinem inflationären Gebrauch zu verhalten, und nimmt ihn nur mit einer gewissen Reserve auf: Er sei zunächst ein „Modewort", „ein Schlagwort", ,massenmedial geschädigt', ein „buzz word", das
man erst einer „Reinigung" unterziehen müsse, bevor man wissenschaftlich davon Gebrauch machen könne. Es überrascht in gewisser Weise, daß die meisten Autoren an dem Begriff gleichwohl festhalten und seine Unvermeidlichkeit auf diese Art konfirmieren. 16 Angemerkt sei im übrigen, daß man nur selten Autoren findet, die „Globalisierung und Gesellschaft" zusammenbringen (wohl aber Kaufmann 1998). Es ist auf der anderen Seite der Begriff der Weltgesellschaft, mit dem diese Einleitung befaßt sein wird. 17 Dieser Begriff ist eher einer der scientific Community; er ist (als Neologismus) in den 1970er Jahren innerhalb der Soziologie an drei Orten wohl unabhängig voneinander auf den Weg gekommen (vgl. Wobbe 2000 sowie in diesem Band den Beitrag von Greve/Heintz): in Stanford mit dem World-Society-Konzept der Gruppe um John W. Meyer 1 8 , in Zürich bei Peter Heintz 19 und bei Niklas Luhmann in Bielefeld, wobei vor allem der letztere dezidiert gesellschaftstheoretische Ambitionen damit verband. Alle drei Theoretiker sahen Anlaß, den Gesellschaftsbegriff ins Weltweite ,zu strecken' und von der modernen Gesellschaft als Weltgesellschaft auszugehen. Die Botschaft des Begriffes ist dann zuallererst: die Rede von der Einen Welt ist soziologisch zu ersetzen durch Eine Gesellschaft, und der Titel ,Gesellschaft' soll damit heute nur noch einmal zur Verfügung stehen. Für die Weltgesellschaft 16 Zu diesem Muster im Umgang mit dem Begriff etwa Lübbe 1996: 39: Das Schlagwort „ist medienwirksam geworden und damit der methodischen Disziplin, denen der Gebrauch von Begriffsnamen in Wissenschaftlerkommunitäten unterworfen sein sollte, längst entronnen." Vgl. ferner Held et al. 1999: lff., Therborn 2000a, b, Schölte 2000: 43ff., Guillen 2001, Wimmer 2001: 435ff., 2003: lff., Dürrschmidt 2002: 5ff. Eher ein Ausnahmefall sind Beisheim et al. (1999: 16ff.), die sich definitiv gegen „Globalisierung" und stattdessen für „Denationalisierung" aussprechen, die aber im Titel ihres Buches auf die erstere gleichwohl nicht verzichten wollen: „Im Zeitalter der Globalisierung?". 17 Vgl. statt anderer Stichweh 2 0 0 0 , ferner Albert 2002, letzterer mit reichhaltiger politikwissenschaftlicher Literaturausstattung und unter Einbeziehung auch der sog. „English School" (J. W. Burton, B. Buzan), die ebenfalls seit den 1970er Jahren von „world society" bzw. „international society" spricht. Zur English School auch Brown
2000.
sionsthematik her, Tyrell 2004: 23ff., 38ff., 94ff.; im übrigen Wirth 1906. 14 Im Sinne des „Regierens jenseits des Nationalstaats" (Zürn); vgl. nur Albert 2002: 341 ff. 15 Vgl. nur Therborn 2000a: 158ff. mit der Skizze von „six waves of globalization"; ferner Held et al. 1999: alle großen Kapitel des Buches holen historisch weiter aus.
18 Präferiert war hier aber zunächst world polity; vgl. jetzt als wichtige Aufsatzsammlung Meyer 2005. 19 Vgl. nur Heintz 1982; diese Weltgesellschaftstheorie ist der Entwicklungssoziologie stark verbunden. Die Weltgellschaftstheorie, wie sie heute in Zürich gepflegt wird, bezieht sich .genealogisch' nur noch sehr eingeschränkt auf Peter Heintz; vgl. Bornschier 2002: 36ff., 149.
Hartmann Tyrell: Singular oder Plural - Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung und Weltgesellschaft gilt dabei in zeitlicher Hinsicht: sie ist etwas mit Gegenwart und Geschichte, sie ist, um es in der Sprache des 19. Jahrhunderts zu sagen, von Europa aus im „Weltverkehr" schon hergestellt.10 Mit ihr verbindet sich also nicht die Vorstellung einer radikalen (aktuellen) Diskontinuität. Andererseits ist sie auch nicht etwas, das erst noch zu erwarten steht; sie ist mithin - mit Manfred Koch (in diesem Band) gesprochen - kein Erwartungsbegriff mehr. 21 Der Weltgesellschaftsbegriff hat nicht annähernd die Resonanz gefunden, die ,Globalisierung' auf sich gezogen hat. Aber auch er ist kein unumstrittener Begriff, und man kann die Vorbehalte, auf die die Gesellschaftskomponente des Begriffs schon stößt, nicht übergehen. Wir wollen an dieser Stelle drei solcher Vorbehalte nennen. 1. Dem Begriff der Gesellschaft sind in der Soziologie wiederholt schlechte Prognosen gestellt worden. Helmut Schelsky etwa (1980: 215f.) hat in den späten 1960er Jahren seine Gesellschaftsskepsis so formuliert: ,„Die Gesellschaft' ist . . . nur noch ein metaphorischer Begriff, darstellerisch unentbehrlich, aber kein Gegenstand der exakten Theorie; er wird aus ihr verschwinden, ähnlich wie der Begriff ,Seele' aus der Psychologie, ,Geist' aus der Philosophie im exakten Sinne verschwunden sind." Gezielt ist damit auf die Gesellschaft als „das Ganze der sozialen Bezüge" und auf die „strukturelle EinheitlichWie der Beitrag von Theresa Wobbe in diesem Band zeigt, war sich Europa seiner Sonderrolle innerhalb des Weltverkehrs nachhaltig bewußt: „Und wie diese höhere Industrie, so findet sich zumeist in den Händen der Europäer der eigentlich active Weltverkehr, der nicht blos wie Asien und Afrika, auf Karawanenhandel innerhalb zusammenhängender Länderstrecken sich beschränkt, sondern für die fernsten Unternehmungen sich des Weltmeers als Fahrstraße bedient, alle Erzeugnisse der Länder an ihrer Quelle aufsucht, auf die Bedürfnisse aller Nationen seine Berechnungen gründet und überall neue Bedürfnisse zu wecken versucht, um sie befriedigen zu können" - so Wilhelm Schulz schon 1846. Auf den Weltverkehr (etwa Wirth 1906) und seine reichhaltige Begriffsgeschichte kann hier weiter nicht eingegangen werden. Festgehalten sei an dieser Stelle nur, was den Verkehrsbegriii (engl./frz. „commerce") angeht, daß dieser, wenn man so sagen darf, der Kommunikationsbegriff vor der .Kommunikation' genannt werden darf, und ferner, daß er sich sowohl mit der „Gesellschaft" („commercial society") wie mit der „Welt" (eben „Weltverkehr") begrifflich ,gepaart' hat. 21 Es gibt allerdings durchaus prominente Autoren, die den globalen Verhältnissen den Titel der Weltgesellschaft noch nicht (voll) zuerkennen wollen. Richard Münch (1998: 17) etwa betont in diesem Sinne die Ungleichzeitigkeiten und Tempodifferenzen zwischen System- und Sozialintegration (in) der Weltgesellschaft. 20
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keit", die der Begriff dafür suggeriert oder in Anspruch nimmt. Daß die Streckung des „Ganzen der sozialen Bezüge" ins explizit Weltweite diese Bedenken mehrt, muß kaum betont werden. 2. Der Gesellschaftsbegriff, wie ihn die Soziologie seit Dürkheims Zeiten pflegt, hat starke Konnotationen von ,Sozialintegration' und .Konsens', von struktureller Einheitlichkeit' oder kultureller Homogenität, obwohl zu seiner Vorgeschichte doch auch die K/asseMgesellschaft („two nations"!) gehört. Man kann unter diesen Vorzeichen wie Altvater und Mahnkopf (1996: 45ff.) der Auffassung sein, den Weltsozialverhältnissen mangele es gerade an ,Gesellschaftlichkeit'. Im übrigen sind es gerade „die krassen Unterschiede im Entwicklungsstand der einzelnen Regionen des Erdballs", die gegen die Weltgesellschaft - als eine Gesellschaft - ins Feld geführt werden. 22 Die One World der Entwicklungsunterschiede (mit ihren Zukunftsversprechen) hatte gerade das nicht irritiert; im Gegenteil: hier war die Ungleichheit das Einheitsstiftende gewesen. 3. Die Soziologie hat sich in vielfacher Hinsicht daran gewöhnt, von der Gesellschaft im Plural zu sprechen, von „Gesellschafte»", sogar von „ganzen Gesellschaften" (Klausner 1967, Scheuch 1979). Typisch versteht sie diese dann nationalstaatlich gerahmt und begrenzt, und der Gesellschaftsbegriff konnte damit zum bevorzugten Kandidaten für den Verdacht auf ,methodologischen Nationalismus' werden. 23 Genau das aber ist für viele Autoren, die heute, empirisch wie theoretisch, weltweite Strukturbildungen und globale Verflechtungen beschreiben wollen, der Grund, den Gesellschaftsbegriff beiseite zu lassen. Teils vermeiden sie ihn ganz ausdrücklich, so insbesondere Immanuel Wallerstein (1985,1990) im Kontext seiner Theorie des Weltsystems' 24 , aber auch Anthony Giddens (1995: So Luhmann 1997: 160f.; seine Gegenrede (ebd.: 162): „Das Ungleichheitsargument ist kein Argument gegen, sondern für Weltgesellschaft. . . . Gerade der unterschiedliche Entwicklunggstand in den einzelnen Gebieten des Erdballs erfordert eine gesellschaftstheoretische Erklärung,... erfordert als Ausgangspunkt die Einheit des diese Unterschiede erzeugenden Sozialsystems." 2 3 Die Rede ist dann etwa vom „container model of society that encompasses a culture, a polity, an economy and a bounded social group" (Wimmer / Glick Schiller 2003: 579). Es sei aber schon hier gesagt: die national-territoriale Limitierung des Gesellschaftsbegriffs ist in der soziologischen Tradition nicht annähernd so ausgeprägt gegeben, wie sie heute gern behauptet wird; vgl. nur ZfS 33, 2 0 0 5 (Heft 1): 2. 24 Bzw. der .Weltsysteme', so in diesem Band Lothar Hack. 22
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22ff.). Für beide steht der Gesellschaftsbegriff - um seiner Bindungen an den Nationalstaat willen - der Beschreibung globaler Sozialverhältnisse direkt im Wege, und beide setzen mithin, wie es im übrigen auch Roland Robertson (1992) tut, auf eine globale Makroordnung oberhalb ,der Gesellschaften'. Niklas Luhmann (1997: 30ff., 145ff.) hat sich, was seine Begriffsentscheidung für ein System ,der Weltgesellschaft' angeht, zu demselben Problem gleich und anders verhalten. Er hat sich wie Wallerstein mit Entschiedenheit gegen „das territoriale Gesellschaftskonzept" ausgesprochen, seine Gesellschaftstheorie aber auf „anschlußfähige Kommunikation", auf (simplifizierend gesprochen) weltweit-grenzüberschreitenden Verkehr gebaut. Man kann die Luhmannsche These von der (einen) Weltgesellschaft deshalb im Sinne der Verabschiedung des Plurals verstehen, nämlich (mit Albert 2002: 83ff.) als Botschaft „vom Ende der Gesellschaften".
darüber hinaus nur ganz wenige Illustrationen.25 Der begriffsgeschichtlich-j/iewropäisc^e Ausgangspunkt ist der einer Vielfalt verschiedener und spezifischer „Gesellschaften". Der Begriff steht für eine Pluralität verschiedenster Partikularverhältnisse zur Verfügung; schon das ,ganze Haus' umfaßt (vom Hausvater her und herrschaftlich verfaßt) drei verschiedene „Gesellschaften" (societates).26 Die Entwicklung führt dann im 19. Jahrhundert aber zu dem, was Eberhard Gothein (1909: 680) in einem ausgeprägten (nicht pluralfähigen) Singular „die Gesellschaft schlechthin" genannt hat; gemeint ist damit jene umfassende Gesellschaft, die alle spezifizierenden Zusätze vom Typ der „commercial Society", der „bürgerlichen" oder der „Klassengesellschaft" abgeschüttelt hat. Und die so verstandene Gesellschaft hat sich zugleich - analog der begriffsgeschichtlichen Überführung des Plurals ,der Geschichten' in den Kollektivsingular ,der Geschichte' (Koselleck 1975: 647ff.) - von der Vorgeschichte im Plural gänzlich gelöst. 27
3. Singular und Plural
Der soziologische Sprachgebrauch hat dann aber einen Weg eingeschlagen, der die Möglichkeit des Pluralgebrauchs zurückgewann. Für ,die Gesellschaft' des 19. Jahrhunderts galt soziologisch zu einem guten Teil, daß sie sich im Sinne eines Funktionsprimats teils an die ökonomischen, teils an die politischen Verhältnisse angelehnt hat; genau das macht tendenziell einen Unterschied im Hinblick auf Singular oder Plural. Bekanntlich hat der Hegelsche Singular der „bürgerlichen Gesellschaft" wesentlich die Marktverhältnisse vor Augen, und bei Karl Marx kommt dabei - „über den Staat und die Nation hinaus" - der (eine) „Weltmarkt" in den Blick (Riedel 1975a: 779ff.). Die politische Anlehnung dagegen, so sehr sie zunächst ,den Staat' im Sinn hat, nötigt auf die Staaterrwz\t hin tendenziell zum Plural, und von der ,staatsnahen' soziologischen Redeweise von Gesellschaften' (der deutschen, der
Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen, wie eingangs angekündigt, Beobachtungen, Vermutungen und Befunde, die, was Globalisierung und Weltgesellscbaft angeht, weniger solche zur Sache sind als dazu, wie davon geredet wird. Das zentrale Anliegen ist Sprachgebrauchsbeobachtung, und wir können damit fast nahtlos anschließen an die Tenbrucksche Auseinandersetzung mit dem Entwicklungsvokabular. Auch wir fragen nach dem ,Dienstalter' der Begriffe und nach ihren Karrieren. Allerdings ist der Anspruch viel weniger ambitiös, und es ist uns nicht um das Aufbegehren gegen ein Begriffsregime zu tun. Stattdessen wird der wesentliche Bezugspunkt der Beobachtungen, die hier nun am Sprachmaterial der Globalisierungsrhetorik und des Weltgesellschaftsvokabulars angestellt werden sollen, der Numerus sein, die Benutzung von Singular und Plural. Die auf den ersten Blick wohl nicht sehr aufregenden Fragen, die sich dann ergeben, sind solche, die sich dafür interessieren, welchen Unterschied es macht, ob von „globalization" oder „globalizations" die Rede ist, und was den Wechsel in den Plural veranlaßt hat. Oder solche, die sich die sich darüber wundern, daß ,die Weltgesellschaft' so nachhaltig nur eine sein will und doch in die Situation gerät, den Plural zulassen zu müssen. Es scheint uns sinnvoll, unser Anliegen zunächst anhand eines begrifflichen Beispielfalls zu erläutern. Wir wählen dafür mit Bedacht den Gesellscbaftsbegriff, machen eine kurze selektive Bemerkung zur Begriffsgeschichte und beabsichtigen
Vgl. zur soziologischen Begriffs- und Theoriegeschichte von Gesellschaft (seit dem späten 18 Jahrhundert) auf der deutschen Seite den Beitrag von Klaus Lichtblau in diesem Band; einführend gut Kiss 1989: lff. 2 6 Gemeint sind die .eheliche Gesellschaft', die des Vaters mit den Kindern sowie die des Hausvaters im Verhältnis zum Gesinde; vgl. nur Schwab 1975: 258ff. 2 7 Dort, wo begriffsgeschichtlich beobachtet wird, daß ,die Gesellschaft' sich ,selbstgenügsam' auf die eigenen Füße stellt, da fällt nicht nur der Singulargebrauch (als solcher) auf, sondern auch die Geschichte des Wechsels vom Plural in den Kollektivsingular; vgl. eindrucksvoll zur „Universalisierung" und „Autonomisierung der Gesellschaft" in der französischen Aufklärung Albrecht 1995: 109ff.; für den deutschen Sprachraum Nolte 1999: 32ff. 25
Hartmann Tyrell: Singular oder Plural - Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung und Weltgesellschaft französischen usw.) war oben ja bereits die Rede. Zugleich gilt es, daran zu erinnern, daß die Soziologie noch vor 1900 mit Dürkheim den Comteschen Singular „die Menschheit" oder (gleichbedeutend) „die Gesellschaft" aufgekündigt und verabschiedet hat; sie hat stattdessen auf den Plural unterschiedlicher (Klassen von) „Gesellschaften" als ihren Gegenstand gesetzt. 28 Dieser Durkheimschen Maßnahme zum Trotz findet man gelegentlich noch die Meinung, es verbinde sich mit dem Unterschied von society und societies eine Fächerdifferenz: die Soziologie tendiere zur Gesellschaft, zum Singular, die Ethnologie oder Sozialanthropologie präferiere den Plural. 29 Wenn nun, dies einmal unterstellt, der Singulargebrauch die Sache der Soziologie sein soll, so ist es geboten, auf dessen verschiedene Varianten hinzuweisen. Es gilt hier, auf die Handhabung des Artikels zu achten. Bei dessen Gebrauch macht es erkennbar einen Unterschied und hat es Weiterungen, ob man (bevorzugt) ohne Artikel, aber mit Pathos wie Adorno (1970: 137ff.), bloß von „Gesellschaft" spricht oder ob mit dem unbestimmten Artikel von „einer Gesellschaft" 30 die Rede ist: einer unter anderen und mit der Einladung zum Pluralgebrauch. Man kann aber auch mit dem bestimmtem Artikel und stärker auf Unterscheidung (etwa gegen NichtDürkheim sagt es in seiner 1888 publizierten Eröffnungsvorlesung in Bordeaux so: „Man sagt uns, daß die Soziologie ,die Gesellschaft' studieren müsse; aber ,die Gesellschaft' existiert nicht. Es gibt Gesellschaften', die sich in Gattungen und Arten unterteilen lassen, ähnlich wie bei den Gewächsen und Tieren" (1981: 35). Für Comte dagegen habe gegolten: „Die Menschheit als Ganzes entwickelt sich in gerader Linie und die unterschiedlichen Gesellschaften sind nur die aufeinander folgenden Etappen auf diesem gradlinigen Weg. Auch die Begriffe von Gesellschaft und Menschheit stehen bei Comte, ohne Unterscheidung angewandt, füreinander" (ebd.). Dürkheim löst mithin ,die Gesellschaften' ab von ,der Menschheit'. Vgl. im übrigen Tenbruck 1981. 2 9 Vgl. Deliege 2001: 14530: „In sociology the use of the singular refers to social reality in a general way, which can be both abstract and empirical. In social anthropology, on the other hand, it is more commonly used in the plural, and it is very widely used." Vgl. schon in der International Encyclopedia of the Social Sciences von 1968: einerseits „societies, small" (Benedict 1968), andererseits „society" (Mayhew 1968). 3 0 Man findet das in auffälliger Weise bei Parsons (1961: 44), wo es gilt, den Gesellschaftsbegriff zu bestimmen: „the concept of a society"; nah an Parsons und mit dem Akzent auf „self-sufficient" auch Aberle et al. 1950: 101 („A Definition of a Society"), ferner Mayhew 1968: 577ff., 583ff. Hier geht es natürlich darum, den Leser auf den Pluralgebrauch, auf „societies" einzustellen. 28
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soziales) hin „die Gesellschaft" 31 sagen, wie man es bei Luhmann bevorzugt findet; hier ist der Singular, wie er sich in „die Weltgesellschaft" (Luhmann 1971) hinein verlängert, gewollt. Was aber die Weiterungen angeht, so geht es nicht zuletzt darum, ob solch unterschiedlicher Singulargebrauch pluraldisponiert ist oder aber, wie es für Adornos artikellose Gesellschaft gilt, ein Singularetantum meint. 32 Schon hier sei im übrigen festgehalten: im Kompositum der We/fgesellschaft sind zwei Singularkandidaten zu einem Begriff zusammengezogen, wobei aber ,die Welt' die (noch) stärkere Präferenz für den Singular hat. Und man kann in dieser Doppelung eine Strategie am Werke sehen, die den Singular festigen oder auch forcieren will. Wir gehen im übrigen davon aus, daß auch bzw. noch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch die Handhabung dieser Unterschiede vorwiegend .unbedacht' und implizit erfolgt, also normales kompetentes Gebrauchmachen von der Sprache darstellt. Fälle einer dezidierten Sprachwahl, in denen die Autorin/der Autor thematisiert und mitteilt, welche Sprachmittel sie/er einsetzt, scheinen uns auf dem hier zu beackernden Feld eher die Ausnahme zu sein. Wir werden aber natürlich darauf stoßen, wobei dann, wie gesagt, weniger das Sachargument als die Sprachform interessiert. Ferner: wir werden im Weiteren die Frage völlig offen lassen, ob es die soziologische Theorie ist, die den Sprachund Begriffsgebrauch instruiert und .führt', oder ob es in mancher Hinsicht durch die Sprache ,vorentschieden' und limitiert ist, was der Theorie .denkbar' ist oder was sie artikulieren kann. Man brauchte sich, gedankenexperimentell, nur vorzustellen, es gäbe den Dualis noch, also einen speziellen Plural für alles zweifach Gegebene; man möchte vermuten, daß das im Hinblick auf das für die Theorie Sagbare nicht ohne Folgen wäre. Es sei aber sogleich hinzugefügt: für das Weitere kommt es, was Singular und Plural angeht, nicht auf das Gegenüber von eins und zwei, sondern durchweg auf das von Einheit und Vielheit an. Wir werden im Weiteren immer wieder darauf stoßen, daß Singular und Plural, daß Einheit und Vielheit als Gegensatz behandelt werden: die Einheit als Negation der Vielheit und die Vielheit als Negation der Einheit. Und solche Negation kann sich Und mit Luhmann (1997) sogar „Die Gesellschaft der Gesellschaft". 3 2 Die vorwiegend artikellose Tönniessche Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft, für die ein Pluralgebrauch nicht vorgesehen ist, kann hier beiseite bleiben; vgl. den Beitrag von Klaus Lichtblau in diesem Band. 31
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u.U. mit erheblichem Affekt aufladen, wofür wir ein Beispiel geben, auf das bereits Luhmann (1971: 1) hinwiesen hat. In Heinrich von Treitschkes Politik33 (1897: 28f.) wird mit beträchtlichem Nachdruck das segmentäre Prinzip ,der Staatenwelt' ausgesprochen und mit Gründen versehen: „die nothwendige und vernunftgemäße Vielheit der Staaten". Wir lassen beiseite, daß sich darin eine spezifisch europäische politisch-historische Erfahrung ausspricht, und verweisen nur auf das, was damit negiert ist: „die Idee eines Weltreiches" nämlich; diese erscheint Treitschke direkt „hassenswert; das Ideal eines Menschheitsstaates ist gar kein Ideal." Daß dieser Affekt auch umkehrbar ist und dann die zum Krieg disponierte Vielheit der Staaten (als Naturzustand) das Ärgernis darstellt, versteht sich. Man denke ferner an den Gegensatz von Monotheismus und Polytheismus - hier nun an die (durchaus einseitige) erklärte Feindschaft des Einen gegen die vielen, an den Frevel etwa der .Beigesellung' (im islamischen Sinne). Den religionshistorischen Zusammenhang von Weltreichbildung und monotheistischer Tendenz findet man als Fall für die politische Theologie im übrigen bereits bei Friedrich Nietzsche ausgesprochen (Tyrell 1999: 172f.). Hier gilt es nun, noch einen weiteren Schritt zu tun und zwei Varianten des Plurals auseinanderzuhalten: Man kann einerseits - wie etwa im Fall des Polytheismus - die bloße Mehrzahl betonen wollen: mehrere Götter im Gegensatz zu nur einem. Auf die quantitative Bestimmtheit' als solche kommt es dann an, und das Ungleichartige oder die Ungleichheiten unter den vielen oder auch wenigen, seien sie Götter, Staaten oder was immer, bleibt ganz außer Betracht. Wir nennen dies den ,Plural der (bloßen) Mehrzahl'. Andererseits kann man mit dem Plural noch mehr intendieren: nicht nur Vielheit, sondern auch ,Vielfalt'. Der Akzent liegt dann (auch) auf der Verschiedenheit oder Heterogenität des/der Vielen. Prominent und international steht dafür heute allem der Begriff der Diversität, und der maßgebliche Gegensatz ist dann der von „unity and diversity". Dem ,Plural der Diversität' und seiner Geltendmachung werden wir im Weiteren mehrfach begegnen: im Kontext vor allem einer (auch in diesem Band) auffällig leidenschaftlich geführten Debatte, die den kulturellen Homogenisierungsbehauptungen und Isomorphiesuggestionen von ,Globalisierung' widerspricht. Die Schöpfung von
Den Berliner Vorlesungen also, die Dürkheim so vertraut waren und die er in seiner Kriegsschrift von 1 9 1 5 so scharf attackiert hat (Dürkheim 1 9 9 5 : 245ff.). 33
immer neuen Gegenbegriffen zur ,globalen Uniformität' ist einer der auffälligsten Züge an dieser Diskussion. 34 Zugleich ist Diversität (stimuliert durch ,die Biodiversität') auch ein Kampfbegriff der Globalisierungskritik geworden, gerichtet etwa gegen die reine Marktlogik und ihre (angeblich oder auch wirklich) gleichmacherischen Folgen. Die französische Politik hat ihn sich zueigen gemacht im Kampf um das „General Agreement on Trade in Services" (Gats); sie führt den Kampf zugunsten ihrer Filmindustrie mit der Formel von der (zu schützenden) „diversité culturelle" (FAZ, 15.2.05). Hingewiesen sei auch auf den Widerstand, der sich in Indien gegen die neuerlichen christlichen Missionsoffensiven (aber auch das vatikanische Dokument .Dominus Jesus') organisiert hat und der als Kampf „for the Préservation of Religious Diversity" ausgeflaggt worden ist (Wilke 2003: 326ff., 354). Es bleibt eine letzte Sprachangelegenheit zu verhandeln, die wieder auf die Singularseite führt und die sowohl für die Globalisierungsrhetorik wie für die Theorie der Weltgesellschaft von erheblichem Belang ist: Im Deutschen wie im Französischen ist anders als im Englischen - der unbestimmte Artikel deckungsgleich mit dem Zahlwort für Eins. Wo das letztere gemeint ist, trägt es die Betonung: „eine Welt", englisch aber: „orte world". Uns scheint dabei bemerkenswert, daß - im Vorfeld und in der Begleitung des Globalisierungsbegriffs - die Rede von „einer Welt" (bzw. Einer Welt) sich als so erfolgreich und rezeptionstauglich erwiesen hat. Und dies, obwohl (oder weil) es der quantitativen Angabe ja eigentlich nicht bedarf; ,die Welt' mit dem bestimmten Artikel besagt ja schon (im alles umfassenden Sinne) Ein- oder Einsheit und läßt einen Plural eigentlich nicht zu. Andererseits lädt gerade die gesicherte Prämisse der immer nur einen Welt zum sprachlichen Spiel mit Singular und Plural ein, dazu nämlich in verschiedensten Hinsichten die Unterscheidung einer Mehrzahl von ,Welten' innerhalb der Welt zu betreiben. 35 3 4 Vgl. eindrucksvoll zur Sache Wimmer 2 0 0 1 , 2 0 0 3 , wo das ganze Arsenal an Begriffserfindungen ausgebreitet ist: (statt Homogenisierung) Kreolisierung, Hybridisierung, Synkretisierung, Glokalisierung, Heteromorphisierung, Diversität etc. 3 5 Gerade die Sozialwissenschaften tun das ja gern; insbesondere die für Ungleichheiten sensible Beschreibung der Weltsozialverhältnisse tendiert dazu, ,die Welt' zu pluralisieren, also von mehreren, sozialstrukturell ganz heterogenen ,Welten' in der Welt auszugehen; vgl. nur die vier „Teilwelten der Welt", die Dieter Senghaas ( 2 0 0 3 ) gegenwärtig unterschieden wissen will: die „OECD-Welt", „die neue Zweite Welt", „die Dritte Welt" und „die Vierte
Hartmann Tyrell: Singular oder Plural - Einleitende Bemerkungen zu Clobalisierung und Weltgesellschaft Im Kontext von Weltgesellschaft wie von Globalisierung stößt man nun auf die ausgeprägte Neigung, das Arsenal, das die Sprache dafür bereitstellt, den Singular gegen den Plural stark zu machen, mitunter bis an die Grenze des Sagbaren ,auszureizen'. Aus dem Singular wird dann Singularität: die Ausschließung der Möglichkeit des Plurals. Beschwören kann man dann - auf die Spitze getrieben in den Deklarationen zu dem von Martin Albrow initiierten Programm einer „Sociology for One World" 3 6 - nicht nur weltweit eine Gesellschaft, sondern: „eine einzige Gesellschaft". Globalisierung bezieht sich in diesem Sinne, wie Albrow (1990: 9) sagt, auf all jene Prozesse, „by which the peoples of the world are incorporated into a single world society, global society"; wissenschaftlich zuständig für all das ist „a single sociology". Diese starken Formeln ziehen dann aber auch direkten Widerspruch auf sich und tun es eben da, wo sich die Singularität mit starken (kulturellen) Homogenitätsannnahmen verbindet. Es sind die Anwälte der Diversität, die dann mit Nachdruck vor Interdependenzüberschätzung warnen und darauf insistieren, Globalisierung führe nicht zwingend „to a truly global society governed by one single logic of reproduction and transformation" (Wimmer 2001: 456,453). Denn: „there is no single telos, no functional coherence, and no irreversibility to processes of globalization." Solche Singularnegierung kommt von einem Autor, der nachdrücklich für „globalizations" plädiert.
Welt" (der Zerfallsregionen, „failing states" usw.). Der Artikel heißt aber: „Die Konstitution der Welt"! 36 Vgl a i s maximale Absage an den Plural die Presidential Address von Margaret Archer (1991: 131,133) auf dem 12. ISA-Kongress: „,Sociology for One World' implies: firstly, a single discipline; secondly, a single World; and thirdly, that the former does something for the latter. ... Thus I want to advocate a single sociology, whose ultimate unity rests on acknowledging the universality of human reasoning; to endorse a single World, whose oneness is based on adopting a realistic ontology; and to predicate any services this discipline can give to this world upon accepting the fundamental unicity of Humanity." „The globalization of society means that societies are no longer the prime units of sociology." Natürlich ist dieses Einheitsprogramm auf Widerstand gestoßen; vgl. Smart 1994, Wagner 1996, auch Dürrschmidt 2002: 27ff. Vgl. im übrigen (im systemtheoretischen Kontext) die Formel „Eine WeltGesellschaft" bei Bohn 2005.
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4. Modernisierung, Moderne und multiple modernities Bevor wir nun auf ,Globalisierung' und ,Weltgesellschaft' zu sprechen kommen, sei im Sinne einer Art Pretest das Singular/Plural-Problem zunächst noch an zwei andere Begriffe herantragen - beide nicht weit entfernt voneinander und durchaus prominent. Gemeint ist die Begriffsbildung von Modernisierung hier und Moderne bzw. Modernität dort. 3 7 Blickt man auf den Artikelgebrauch, dann findet man typisch: Modernisierung' (ohne Artikel), aber ,die Moderne' (mit deutlich bestimmtem Artikel). Was hier nun vor allem interessiert, ist die Pluralfrage. 1.) Was den Prozeßbegriff der Modernisierung angeht, so ist vorweg darauf hinzuweisen, daß es wie entsprechend auch im Globalisierungsfall zweierlei Gebrauch davon gibt. Es gibt einerseits einen Gebrauch von Modernisierung', der einen Genitivus objectivus nach sich zieht, so wie man von ,der Modernisierung eines bestimmten Landes' oder von ,der Modernisierung der Wirtschaft' spricht. Andererseits gibt es Modernisierung', die für sich steht, und in diesem Sinne spricht man von ,Modernisierungstheorie(n)'. Im Weiteren ist vorrangig der zweite Sprachgebrauch gemeint: Modernisierung also, die einer näheren Qualifizierung nicht bedarf. Hinsichtlich der Begriffsgeschichte ist zunächst zu sagen: der Begriff steht dem von Tenbruck analysierten Entwicklungsvokabular ausgesprochen nahe, er entstammt demselben nordamerikanischen Intellektuellenmilieu und ist in derselben Zeit, in den 1950er Jahren, auf den Weg gekommen wie dieses. 38 Auch sein Bezugsproblem ist weitgehend dasselbe. Der Blick des Begriffs ist allerdings weniger in die „offene Zukunft" moderner Gesellschaften oder ,Industrienationen' gerichtet (Gumbrecht 1978: 129). Stattdessen hat er eine gleichermaßen historische wie globale Dimension: Modernisierungstheorie ist, wie Wolfgang Zapf (1975: 212) formuliert, befaßt mit der „epochalen, langfristigen, nicht selten gewaltsamen Transformation, die in Westeuropa begonnen, dann aber die ganze Welt in ihre Dynamik einbezogen hat." Vor allem aber hat der Begriffsgebrauch Ungleich zeitigkeiten im Sinn und drückt diese nicht selten unter Rückgriff auf das Entwicklungsvokabular aus. Daniel Lerner (1968: 386) etwa tut das so: „Modernization is the Zur Begriffsgeschichte wesentlich Gumbrecht 1978. Vgl. nur Wehler 1975: 5ff„ Knöbl 2001: 27ff. (zu den politischen Anfängen), 155ff.; ferner in diesem Band den Beitrag von Greve/Heintz. 37
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current term for an old process - the process of social change whereby less developed societies acquire characteristics common to more developed societies." Er fügt - weltgesellschaftlich bemerkenswert - hinzu: „The process is activated by international, or intersocietal communication." Die Modernisierungssprache kennt Modernisierung' im übrigen nur positiv und progressiv; sie sieht zwar ,partielle', aber keine ,De-Modernisierung' vor und kennt auch nichts der , l/raierentwicklung' Entsprechendes. Sie hilft sich hier mit der auf Reinhard Bendix zurückgehenden Unterscheidung von ,Pioniergesellschaften' und ,Nachzüglern', wobei diese Gesellschaften' dabei typisch als solche in staatlichen Grenzen verstanden sind. 3 9 In ihrem Verhältnis zueinander dominieren Vergleich und Wettbewerb. Die Modernisierungstheorie hat mithin ,die (weltgemeinschaftliche) Einheit'' der Pioniere und Nachzügler deutlich weniger im Sinn als der parallele Entwicklungsdiskurs. Die Nutzung programmatischer Begriffe, zumal von solchen, die den Titel von Forschungsprogrammen oder Theorierichtungen abgeben, hat im Fach eine Tendenz zum Singular. Dieser Singular hat dann aber oft einen begleitenden oder mitlaufenden Plural. M a n beschwört die Leitformel, hält sich dann aber bei der Bestimmung der tragenden Einheit nicht lange auf und geht sogleich über zur Multidimensionalität der Sache oder betont Komplexität und Vielfalt. Die Modernisierungstheorie stellt einen solchen Fall auf signifikante Art dar. Gegen ihre zahlreichen Kritiker (auch) hierzulande hat sich Johannes Berger noch 1996 für sie stark gemacht, zu einer Zeit also, als ,die Globalisierung' schon voll im Gange war. 4 0 Bergers Apologie (1996: 47ff.), die wir hier pars pro toto nehmen, betont sogleich: die Modernisierungstheorie ist keine geschlossene Theorie'; auch gehöre zu ihr wesentlich das Dementi von unilinearer Entwicklung 4 1 . Dem folgt dann die multidimensionale Benennung einer Prozeßvielfalt aus Industrialisierung, Urbani-
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Die vergleichende Modernisierungsforschung spricht, wie e r w ä h n t , d a n n gern auch von „total societies"; vgl. Klausner 1967, sehr p r o b l e m b e w u ß t ferner Scheuch 1979. N o c h die kritische Auseinandersetzung von Bettina Gransow (1996) a m chinesischen Fall ü b e r n i m m t diese Prämisse (aus gutem G r u n d ) : „chinesische M o d e r n i s e r u n g " (mit Taiwanvergleich). 40 Für die Reaktivierung der Modernisierungstheorie plädiert nach 1989 auch Tiryakian (1991). 41 An dieser Stelle, im Dementi von „Unilinearität", findet sich ein definitives Singular/Plural-Problem der M o d e r n i sierungstheorie: Gibt es „ n u r einen einzigen Weg in die M o d e r n e " (Knöbl 2 0 0 1 : 1 5 9 , 1 8 7 f f . ) ?
sierung, State- und nationbuilding, Bildungsexpansion, Säkularisierung usw. (so auch Lerner 1968: 387, Zapf 1975: 215ff., Knöbl 2001: 32f.). 4 2 Für diese, ebenfalls im Singular auftretenden, einzelnen Dimensionen bzw. Prozesse ihrerseits wiederholt sich bei näherer Befassung dann das Spiel der alsbaldigen Zerlegung in Pluralität. Im übrigen wird die (lockere) Zusammengehörigkeit der vielfältigen Prozesse unter dem einen Modernisierungstitel über das Postulat grundsätzlicher Kompatibilität (Berger 1996: 46, 56 ff.) plausibel gemacht: die verschiedenen Prozesse stören einander nicht, sie „unterstützen sich wechselseitig". „All good things go together." 4 3 Was aber die Ungleichzeitigkeiten, die Vorsprünge und Rückstände der Entwicklung angeht, so soll mit Berger (ebd.) gelten: „die Vorläufer behindern nicht die Nachzügler". Auffällig und der exogenen Logik von Globalisierung entgegen - ist im übrigen Bergers Tendenz, Modernisierung den „in diesem Prozeß befindlichen Gesellschaften" als „ interne Leistung" zuzurechnen; dies gelte „jedenfalls f ü r die technisch führenden L ä n d e r " (ebd.: 46, 56; Hervorhebung von mir, H . T.). 44 Wie dem auch sei: der schwache Ausweis der Einheit des Gesamtprozesses erlaubt es, unbefangen bei dem Singular „Modernisierung" bzw. Modernisierungstheorie zu bleiben. Der Prozeßvielfalt zum Trotz - die auch die Rede von politischer, wirtschaftlicher, bildungsbezogener usw. Modernisierung erlaubt - ist so zu einem dezidierten Wechsel in den Plural, also zur programmatischen Rede von „Modernisierungen" oder „modernizations" offenbar kein Anlaß gewesen. Jedenfalls haben wir davon einstweilen nichts vernommen. Im Falle von ,Globalisierung' - Prozeßbegriff wie Modernisierung' und diese verdrängend - werden wir dagegen durchaus auf globalizations stoßen, und eine Variante davon sei schon hier überleitend angesprochen, nämlich der von Peter L. Berger und Samuel Huntington (2002) herausgegebene Band Many Globalizations mit dem Untertitel: „Cultural Diversity in the Contemporary World". Bergers Einleitung, der es um „kulturelle Globalisierung" und zugleich um das Dementi von Homogenität 42
Das impliziert: kein Primat der Ö k o n o m i e ! Verzichtet wird auf A n n a h m e n und Formeln von „vollständiger Interdependenz". Widerspruch gegen „zu starke Interdependenzannnahmen" schon bei Rüschemeyer 1969; vgl. auch Knöbl 2 0 0 1 : 12 et pass. 44 D a ß gerade das m e t h o d o l o g i s c h e n N a t i o n a l i s m u s ' bedeutet, betont modernisierungskritisch Brand (2004: 95f.): „der N a t i o n a l s t a a t w a r die zentrale Analyseeinheit, was nicht zuletzt zur Suche nach Möglichkeiten .nationaler Entwicklung' f ü h r t e . " 43
Hartmann Tyrell: Singular oder Plural - Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung und Weltgesellschaft geht, nimmt das Thema Pluralwahl nicht explizit auf. Gemeint ist aber zweifellos der Plural der Diversität, bezogen auf die international-komparativen Studien, die der Band enthält und in denen eine Reihe von Ländern auf ihre je unterschiedliche Reaktion auf Globalisierung hin untersucht wird. Der kulturelle Akzent, der damit gemeint ist, führt unmittelbar zum Begriffskomplex der Moderne bzw. von modernity. 2.) Um ,die Moderne' - für die Modernisierungstheorie der Gegenbegriff zur Tradition - steht es anders als im Falle von Modernisierung. ,Die Moderne' nämlich gehört in eine Reihe von schwergewichtigen und prominenten Begriffen des Faches, für die man zunächst eine starke und durchaus bewußte Fixierung auf den Singular beobachten kann und bei denen es dann zu spektakulären Ausbrüchen in den Plural gekommen ist. Hier gilt zunächst: das „ursprüngliche modernisierungstheoretische Bild der bruchlosen und homogenen Moderne", aus dem Gegensatz zur ,Tradition' bzw. zum ,'Traditionalismus' geformt, hat Kredit und Plausibilität weitgehend verloren (Knöbl 2001: 196ff.). Die gleichwohl ungebrochene Präferenz für den Singular ,die Moderne' hat, wenn wir es recht sehen, seitdem vor allem mit den normativen Implikationen ,des Projekts der Moderne' zu tun. Würde man den Plural wählen und unverbindlicher von ,Modernitäten' sprechen, fiele das, worauf es wohl ankommt, viel schwerer: nämlich ,Nichtmodernes', insbesondere ,/W/modernes' (,Fundamentalismus' zumal) zu unterscheiden und ,auszuscheiden'. Man sieht: „die Moderne" hat ihre Gegenbegrifflichkeit gewechselt; der starke Singular aber, mit dem sie auftritt, hat darüber keinen Schaden genommen. Shmuel N. Eisenstadt hat bekanntlich mit diesem Singular gebrochen. Seine Begriffspolitik, nämlich die programmatische Umstellung von der Einheit der (westlich bestimmten) Moderne auf die „multiplicity of cultural programs and cultural patterns of modernity", hat gleichermaßen „De-Westernization" und das „depriving" eines Monopols auf Modernität im Sinn (2000a: 24); die Moderne gehört nicht dem Westen allein. Im Hintergrund von Eisenstadts „multiple modernities" steht eine historisch-zivilisationsvergleichende Soziologie, die nicht zuletzt an die klassisch-komparativen Studien Max Webers zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen anschließt. Wichtig ist nun vor allem: Eisenstadt ist es um eine koexistenzfähige Pluralität von .Modernen' zu tun. Hier wird ,die Anerkennung' nichtwestlicher Modernität explizit ausgesprochen und darin Samuel Huntingtons These vom „clash of civilizations" direkt widersprochen, „in which
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Western civilization . . . is confronted by a world in which traditional, fundamentalist, antimodern, and anti-Western civilizations - some (most notably, the Islamic and so-called Confucian groupings) viewing the West with animus or disdain - are predominant" (ebd.: 3). 4 5 Eisenstadts programmatischer Aufsatz hat im übrigen erhebliche Resonanz gefunden, und der Plural, den der Titel verkündete, ist inzwischen international eingebürgert. 46 Im übrigen ist mit den Multiple Modernities eine Weltbeschreibung angeboten, die von einigen Autoren - man darf sagen: schon des Plurals wegen - ,der Weltgesellschaft' vorgezogen wird (Koenig 2003: 46ff.); in diesem Band ist es insbesondere Thomas Schwinn, der Eisenstadt folgt. Eisenstadts Idee der „multiple modernities" ist ihrerseits aber doppelt rückversichert; sie ist es einerseits an den Weltreligionen, und sie ist es andererseits durch die von diesen mitformierten Zivilisationen. In beiden Fällen ist auf eine Begrifflichkeit gesetzt, der es konstitutiv auf den Plural ankommt und die ein explizites Dementi des Singulars im Sinn hat. 4 7 Für Max Weber war die Mehrzahl der Weltreligionen eine Selbstverständlichkeit; ihre Diversität aber und ihre ,evolutionäre Auseinanderentwicklung' waren ihm nichts Triviales, sie waren gerade das Problem, das es zu erklären galt. 48 Auch wenn es (auch) heute etwa unter dem Stichwort des ,Weltethos' (vgl. nur Kuschel 1999) an weltreligiöAuch hinter Huntingtons sieben Zivilisationen steht „unübersehbar die Webersche Unterscheidung zwischen Weltreligionen und die im 19. Jahrhundert übliche Trennung zwischen verschiedenen Kulturkreisen" (Giesen 1996: 93); vgl. auch Müller 2003. 4 6 Eisenstadts deutschsprachige „Vielfalt der Moderne" (2000b) wählt den Plural nicht. Vgl. im übrigen das gesamte Daedalusheft, Winter 2000; es trägt den Titel der Multiple Modernities und enthält auch den sehr instruktiven Beitrag von Björn Wittrock (2000) mit dem Titel Modernity: One, None, or Many?. Peter Wagners Lehrbuchartikel Modernity: One or Many? (2001) hat das Daedalusheft noch nicht im Blick und, was das ,Many' angeht, die Postmoderne im Sinn. 4 7 Allerdings: man kann im Sinne von Eisenstadt (2000b) die Formulierung auch so wählen, daß man von der „Moderne im Singular" spricht, zugleich aber deren „ Vielfalt" in den Vordergrund stellt; so Schwinn 2004: 535. Vgl. im übrigen auch Knöbl 2001: 221 ff. 48 Treffend in diesem Sinne Chon 1992: Webers „soziologisch-theoretisches Interesse verhindert . . . , daß sich der Kulturvergleich damit begnügt, die historisch je eigenen Gestalten der Kulturen festzustellen und zu beschreiben, daß es also mit der trivialen (aber doch richtigen Formel) endet: ,andere Länder, andere Sitten'. Denn das theoretisch-soziologische Interesse bringt das Postulat mit sich, auch zu .erklären', sozusagen zu fragen: .Warum andere Sitten?'" 45
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sem Einheitsverlangen nicht fehlt, soziologisch k o m m t man nicht umhin, die Pluralität der Weltreligionen festzustellen. Und wer das explizit tut, will damit auf die Ausschließung der M ö g l i c h k e i t einer „Welteinheitsreligion" hinaus. H e r m a n n Lübbe hat das gerade am Beispiel des weltreligiösen Gebetstreffens in Assisi von 1 9 8 6 überzeugend dargelegt. D o r t h i n hatte J o h a n n e s Paul II. die R e p r ä sentanten der Weltreligionen eingeladen zu einem „ Z u s a m m e n s e i n , um zu b e t e n " , nämlich für den Frieden; dabei w a r ein gemeinsam gesprochenes G e b e t nicht möglich, w o h l aber eine Abfolge von Friedensgebeten in den verschiedenen religiösen Sprachen (Riedl 1 9 9 8 ) . Lübbe ( 1 9 9 7 : lOf.) k o m mentiert dies so: „Sprechende gemeinsame Gebärden, die zu den anthropologischen Universalien zu gehören scheinen, g a b es freilich. U m s o bezwingender brachte sich zur Evidenz, d a ß sich aus dem, w a s allen F r o m m e n in der sich herstellenden Einheit der Weltzivilisation gemeinsam sein mag, eine einheitszivilisationsadäquate Einheitsreligion nicht destillieren ließe." L ü b b e fügt dem die Prognose einer weiterhin wachsenden Pluralisierung und Diversifizierung des weltreligiösen Feldes h i n z u . 4 9 Bezüglich der Zivilisationen50 wird es reichen, wenn wir ein Z i t a t von H e n n i n g Ritter aus der F A Z vom 2 3 . 6 . 0 4 anführen, das mit Heftigkeit den (auch bei L ü b b e anklingenden) weltzivilisatorischen Singular negiert. Es schließt an den „Clash of Civilizations" an: „ M a n darf nicht übersehen, d a ß hinter Huntingtons Anerkennung der sieben Zivilisationen, mit denen langfristig zu rechnen ist, eine allgemeine T h e s e steht, die von viel größerer Bedeutung ist: Es wird immer entweder viele M e n s c h h e i ten, die sich jeweils als Verwirklichung des M e n s c h seins verstehen, oder es wird keine M e n s c h h e i t geben. Die Pluralität in der Zivilisation ist kein Zwischenstadium, sondern ein Dauerzustand, der Ähnlich nachdrücklich dementiert José Casanova (2001: 430) den Gedanken der „formation of one single global religion". Er tut es mit einem Blick zurück auf ,die Religion der Menschheit', auf jenes Comtesche Projekt (mit freimaurerischer Vorgeschichte), das ,die Menschheit' als Subjekt wie auch als Objekt des Kults und der Verehrung vorsah; vgl. Wernick 2001. Es versteht sich, daß es für Comtes ,Soziolatrie' auf den doppelten Singular ankam, auf das Ineins der einen Menschheit und ihrer Religion. 5 0 Vgl. die Beiträge in International Sociology 16, Nr. 3, 2001 („Rethinking Civilizational Analysis"). Zur Frage von ,Kultur und/contra Zivilisation' begriffsgeschichtlich zuletzt (und höchst präzise) Baier 2005; vgl. ferner Zingerle 2005: 135ff., der sich - Singular/Plural-problembewußt - subtil mit Huntingtons „civilization(s)" und ihrer Übersetzung ins Deutsche als „Kultur(en)" bzw. „Kulturkreise" auseinandersetzt. 49
von uns gewollt werden m u ß . Eine M e n s c h h e i t ohne O r i e n t wäre so verkrüppelt wie eine M e n s c h h e i t ohne Okzident. W i r glauben immer n o c h an die eine M e n s c h h e i t der Aufklärung und erliegen dabei einem I r r t u m . " J o s é C a s a n o v a ( 2 0 0 1 : 4 2 9 f . ) fügt dem, was ,die M e n s c h h e i t ' angeht, das Argument hinzu, diese sei als identitätsstiftende Bezugsgruppe oder als ,imagined c o m m u n i t y ' prinzipiell untauglich. D e n n : „individuai and collective identities are necessarily p l u r a l " , nämlich der Unterscheidung von anderen bedürftig. Und auch das läuft dann auf ein Dementi weltweiter Vereinheitlichungserwartungen hinaus; bei Casanova aber sind es jene, die sich mit Globalisierung verbinden. „ T h e end-result o f the process o f globalization, much less its telos, is unlikely to be one world government, one world society, one single global c o m m u n i t y " (ebd.: 4 3 0 ) .
5. A n n ä h e r u n g an Globalisierung(en) u n d die Weltgesellschaft W i r gehen nun über zu der angekündigten B e o b achtung der Begriffsverwendung von Globalisierung und Weltgesellschaft, w o b e i wir aus Anciennitätsgründen zuerst auf die letztere zu sprechen k o m m e n . Die Frage, wie sich die beiden Begriffe zueinander verhalten bzw. wie die Verfechter der Sache der Globalisierung sich zur Weltgesellschaft stellen und umgekehrt, ist im vorliegenden Z u s a m menhang natürlich unvermeidlich; sie wird hier allerdings nur a m R a n d e zur Sprache k o m m e n . U m s o nachdrücklicher ist das in diesem Band T h e m a vor allem des politikbezogenen Beitrags von Mathias
Albert.
1.) W i r beginnen, wie gesagt, auf der Weltgesellschaftsseite. D e m Begriff liegt eine beträchtliche Ideengeschichte voran (jetzt Stichweh 2 0 0 5 ) . Aber was den Begriff selbst angeht, so führt, sieht m a n von früherem, eher beiläufigem Begriffsgebrauch ab, die Begriffsgeschichte in die frühen 1 9 7 0 e r J a h re (ebd.). M a n m u ß sogleich hinzusetzen: große R e sonanz w a r ihr zunächst nicht beschieden - dies der O n e World zum Trotz, die doch auch eine .soziale Welt' war. A m Anfang steht - als Singular mit bestimmtem Artikel - Die Weltgesellschaft, Niklas L u h m a n n s programmatischer Aufsatz von 1 9 7 1 . Und es war die erste Auflage des Lexikons zur Soziologie ( 1 9 7 3 ) , die den wohl frühesten L e x i k o n artikel in Sachen ,Weltgesellschaft' enthält; auch hier w a r Niklas L u h m a n n der Autor. 5 1 Dieser kurze Luhmann selbst hat seine gesellschaftstheoretische Arbeit im Weiteren über lange Jahre nicht (vorrangig) als .weltgesellschaftstheoretische' betrieben. In Die Gesell51
Hartmann Tyrell: Singular oder Plural - Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung und Weltgesellschaft Artikel wird im Weiteren noch zur Sprache kommen. Maßgeblich war für Luhmann die Applizierung des Gesellschaftsbegriffs auf die weltweiten Sozialverhältnisse, und Gesellschaft' ist dabei als ,umfassendes Sozialsystem', also in einem ,gesamtgesellschaftlichen' Sinne gemeint; der Begriff schließt damit alles Soziale ein. Das aber besagt: alles soziale Geschehen, auch alles lokale Geschehen, fällt innergesellschaftlich, mithin innerhalb der Weltgesellschaft an; diese ist die soziale Umwelt oder mit Dürkheim (1961: 194ff.): „inneres soziales Milieu" - für alles, was sich sozial ereignet. Sie ist es damit auch für Globalisierungsprozesse; diese vollziehen sich, wie auch Volker Bornschier (2002: 94f.) meint, „in der Weltgesellschaft". Und man kann in diesem Sinne sagen: ,die Weltgesellschaft' ist im Verhältnis zur Begriffsalternative der Globalisierung' das umfassendere Konzept; sie zieht alle Globalisierung(en) auf die Innenseite der Gesellschaft (vgl. insbes. Stichweh 2000: 14). Der gesamtgesellschaftliche Anspruch der so verstandenen Weltgesellschaft muß hier auch deshalb betont werden, weil es an Fassungen des Weltgesellschaftsbegriffs nicht fehlt, die sich explizit an Ferdinand Tönnies orientieren (prominent: Robertson 1992: 75ff., ferner E. Richter 2000). Die Weltgesellschaft in diesem Sinne, bei der man - nah an Tönnies - an die ,commercial society' und ,den Weltmarkt' denken sollte, fordert den (wie immer ausgestalteten) Gegen- und Komplementärbegriff der Weltgemeinschaft. Der Raum des Sozialen ist damit ,dividiert', und die ,Weltgesellschaft' (im Tönniessinne), aus der alles ,Gemeinschaftlich-Soziale' ausgeschieden ist, kann folglich nicht dekkungsgleich sein mit dem Luhmannschen umfassenden System der weltweiten Sozialverhältnisse.52 schaft der Gesellschaft (1997: 158ff.) - zur Zeit der Hochkonjunktur von .Globalisierung' - finden sich dann aber Äußerungen des Verdrusses und des Unverständnisses über den nur geringen Anklang, den ,die Weltgesellschaft' gerade in der eigenen Disziplin gefunden hatte. Es ist dort die Rede vom „Widerstand, wenn es darum geht, dieses globale System als Gesellschaft anzuerkennen." 5 2 Die Weltgesellschaft' in diesem Sinne gibt es, wie Klaus Lichtblau in diesem Band zeigt, bei Tönnies selbst gelegentlich. Auch die Politikwissenschaft kennt das Gegenüber von „Weltgesellschaft und Weltgemeinschaft", dies auch im Sinne von ,faktisch vs. normativ'; vgl. E. Richter (1990) in Reaktion auf die Verwerfung der „Weltgesellschaft" als „Unbegriff und Phantom" bei Tudyka (1989). Dieser reagierte seinerseits u.a. auf auf die „world society", wie sie die .English School' auf dem Feld der Internationalen Beziehungen (John Burton u.a.) versteht; dazu Brown 2000, Albert 2002: 23ff. Und natürlich gibt es „die Weltgemeinschaft" - nah an der „One World" und als
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Luhmanns Entscheidung, die Reichweite seiner (Gesamt-)Gesellschaft ins Globale (im heutigen Sinne) zu strecken und Gesellschaft sozialtheoretisch dann nur noch einmal vorzusehen (vgl. Luhmann 1971), hatte allerdings mit Tönnies nichts im Sinn; sie war vielmehr, wie Rudolf Stichweh in diesem Band detailliert darlegt, eine Begriffsentscheidung gegen Talcott Parsons (und über diesen hinaus). Die Frage nach der Reichweite und nach den „boundaries" der Gesellschaft war von Parsons und seinem Umfeld in den 1950/60er Jahren wiederholt aufgeworfen worden, sie war aber durchweg im Sinne nationaler und staatlicher Rahmung beantwortet und entschieden worden. 53 Der Grund für die Divergenz liegt nicht zuletzt darin, daß für Parsons Integration die gesellschaftstheoretisch vordringliche Frage war. Eben davon aber hält sich Luhmanns Gesellschaftsverständnis weitgehend frei, und erst recht ist die Luhmannsche Weltgesellschaft mit Problemen der Integrationsfähigkeit bzw. -notwendigkeit kaum belastet. Auch die klassische Frage des sozialen Größenwachstums und der quantitative Blick auf das Ingesamt der Weltbevölkerung drängen diese Probleme nicht auf. Die drei Weltgesellschaftstheorien, die in den 1970er Jahren auf den Weg gekommen und teilweise in den 1990er Jahren reanimiert worden sind 54 , brauchen hier nicht detailliert vorgestellt zu werden. Das geschieht in diesem Band in dem Beitrag von ]ens Greve und Bettina Heintz, wobei beide aber noch ein Weiteres tun, indem sie vor allem die Gemeinsamkeiten, den gemeinsamen Nenner' der drei Theorien herausarbeiten. Hinzuweisen ist, spezieller für das Verhältnis von Systemtheorie und Neo-Institutionalismus, auch auf den (auf das Verhältnis von Gesellschaft und Organisation konzentrierten) Beitrag von Raimund Hasse und Georg Krücken in diesem Band. Im hiesigen Kontext soll
„global Community" etwa - auch ganz unabhängig von der Weltgesellschaft; dies zumal als „globale Schicksalsgemeinschaft" angesichts atomarer Selbstbedrohung bzw. planetarisch-ökologischer Gefährdungen (E. Richter 1992: 193 ff., 252ff.). Vgl. zum Begriffsangebot im übrigen auch Bornschier 2002: 69ff. 5 3 Immerhin (nah an Parsons) Mayhew 1968: 585: „If sociological analysis is adequately to represent the constraints imposed by this emergent global level of social reality, its analytical conceptions must not be inflexibly tied to the concept of the national boundary." Vgl. neben Stichweh auch den Beitrag von Bettina Mahlert in diesem Band. 54 Letzteres darf vor allem für die systemtheoretische Position gesagt werden; vgl. Stichweh 2002: 287ff., im übrigen Wobbe 2000.
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nun nur der Gebrauch des Gesellschaftsbegriffs interessieren, und wir wollen zugleich nach dem jeweiligen Kerngedanken fragen, danach nämlich, was die Weltgesellschaft zu einer macht. Was Peter Heintz (1982: 7ff.) angeht, so ist es zunächst der Befund des weltweit zusammenhängenden Interaktionsfeldes', der den Weltgesellschaftsbegriff trägt und rechtfertigt. 55 Bestimmend ist darüber hinaus vor allem aber eine Schichtungsidee, der Gedanke nämlich eines nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen internationalen Entwicklungsschichtungssystems, geschichtet mit Bezug auf den einen Leitwert Entwicklung' und tendenziell alle Länder dieser Erde (damit die Weltbevölkerung insgesamt) einschließend. Für Heintz (ebd.: 32) lag darin „die integrierteste Vorstellung von Weltgesellschaft". Er sah das internationale Entwicklungsschichtungssystem dann aber - angesichts enttäuschter Erwartungen, nämlich der wachsenden Disparität zwischen reichen und armen Ländern - in den 1970er Jahren in die Krise geraten, und reagierte er darauf mit anomietheoretischen Überlegungen. Heintz (ebd.: 49ff., 62ff.) hatte auf seiner komplexen ,weltgesellschaftlichen Rechnung' aber auch das „intergouvernementale System", das Interaktionsfeld der Regierungen, und ebenso das der „multinationalen Korporationen". Eine ganz andere Akzentuierung erhält die Weltgesellschaftsthese bei John W. Meyer und seinen Mitarbeitern (zuletzt Meyer 2005). Zunächst: hier changiert der Sprachgebrauch, und von „world culture" kann ebenso gut die Rede sein wie von „world society". Auf den Gesellschaftsbegriff kommt es mithin nicht entscheidend an. Die Kernidee heißt stattdessen world polity (vgl. Krücken 2002: 231ff.); gemeint ist damit „a broad cultural order with its explicit origins in western society" (Meyer 1987:41), ein hegemoniales kulturell-legitimatorisches Wertzentrum, das sich sich zumal in Gestalt der Nationalstaaten auf solide institutionelle Infrastrukturen stützen kann. Unterstellt ist, daß es als Orientierungsgröße im globalen Kontext konkurrenzlos und .unbestritten' dasteht und seine Wirksamkeit als „transnational cultural environment" entfaltet. Die ,world polity' - als die weltweit eine Legitimitätsquelle - ist strikt im Singular gedacht; ein Plural vom Typ „multiple polities" liegt hier jenseits des Denkmöglichen. Und der Sin-
55 „Wenn man unter Gesellschaft das Zusammenleben der Menschen versteht, kann man mit Recht von der Existenz einer Weltgesellschaft sprechen. Es dürfte heute kaum mehr isolierte Gruppen von Menschen geben, die außerhalb der Weltgesellschaft leben" (Heintz 1982: 7).
gular wird auch dadurch nicht irritiert, daß das plurale Arsenal der hegemonialen Kulturgüter und Prinzipien, um das es geht, durchaus Inkompatibilitäten und Widersprüche zuläßt und von nur begrenzter innerer Kohärenz ist. 56 Auch in dieser Hinsicht ist der Singular - etwa als „die westliche Kultur", die ,die Welt durchdringt' (Meyer 2005: 17ff.) - nicht gefährdet. Und im Zentrum der neoinstitutionalistischen Theorie und Empirie steht dann die (mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Gang gekommene) weltweite Diffusion dessen, was die ,world polity' mit Legitimität austattet und als der ,Nachachtung' wert qualifiziert. 57 Isomorphie wird zur Leitformel des Programms, auch wenn Dynamik und Diversität als Thema durchaus zugelassen sind (Meyer 2005: 119ff.). Der Anpassungsund Imitationsdruck, der von der ,world polity' als ,kultureller Umwelt' ausgeht, wirkt weltweit homogenisierend auf die Sozialverhältnisse ein, zumindest was die Selbstdarstellungen der Akteure angeht. Der Blick richtet sich dabei insbesondere auf den Nationalstaat als weltgesellschaftliche Institution, auf Organisationen und auf Individuen - alle drei als Träger von „social agency" (Meyer / Jepperson 2000). Und in der reichhaltigen empirischen Forschung, die dem neo-institutionalistischen Programm zugehört, fungiert die ,world polity' zurechnungsstark als die unabhängige Variable, die die Isomorphiebefunde erklärbar macht. Daß nun gerade dieses Forschungsprogramm den Widerspruch der Anwälte der Diversität auf sich zieht, versteht sich; in diesem Band sind es gerade die beiden empirischen Studien von Hans-Peter Müller und Pascale Ziltener sowie von Jürgen Schriewer, die sich detailliert auf den Meyerschen Ansatz einlassen und den Widerspruch mit Nachdruck verfechten. Bei Luhmann schließlich ist es einerseits Kommunikation, ist es die „kommunikative Erreichbarkeit" aller für alle in der Weltgesellschaft, die diese eine sein läßt; wir kommen darauf noch zurück. Ausschlaggebend ist andererseits funktionale Differenzierung. Genauer: es ist der gesellschaftsstrukturelle Primat einer bestimmten Differenzierungsform, der die Weltgesellschaft ,eint' (Luhmann 1997: 145ff., Vgl. Meyer 2005: 127: „es gibt auch Widersprüche innerhalb der allgemein anerkannten Kulturgüter selbst: zwischen Gleichheit und Freiheit, zwischen Fortschritt und Gerechtigkeit, zwischen Standardisierung und Diversität, zwischen Effizienz und Individualität." 5 7 Im Hinblick auf die Menschenrechtsthematik schließt in diesem Band Matthias Koenig explizit an das neo-institutionalistische Theorieprogramm an, drängt aber auf Modifikationen und Ergänzungen in Richtung u.a. von Mehrebenenanalyse und komparativen Studien. 56
Hartmann Tyrell: Singular oder Plural - Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung und 609ff.). Rudolf Stichweh ( 2 0 0 4 : 6) sagt dies so: „Weltgesellschaft beruht darauf, daß die Sozialwelt mehrfach durch je autonome Perspektiven der einzelnen Funktionssysteme zerlegt wird und daß jede dieser funktionalen Perspektiven heute auf je eigene Weise einen weltweiten Kommunikationszusammenhang aufspannt." Die Funktionssysteme sind damit gesellschaftliche im Doppelsinne. Sie b e a r beiten' eine, ihre Funktion (als gesellschaftliche) und tun dies im Sinne von innergesellschaftlicher Nichtsubstituierbarkeit; zum anderen aber operieren sie in den kommunikativen Reichweiten der Gesellschaft: die Weltwirtschaft etwa als weltweit monetarisiert-zahlungsorienter Kommunikationszusammenhang und massenmedial gestützt „der Weltsport", dem in diesem Band der Beitrag von Tobias Werron gewidmet ist. Solcherart auf funktionale Differenzierung zu setzen, heißt für den Gesellschaftsbegriff, ihn strikt unterschieden zu denken von den je einzelnen Funktions- oder Teilsystemen. Keines von diesen steht in einem Sonderverhältnis zur Gesellschaft - nicht die Religion, die ihr bei Dürkheim so nahe war, und auch nicht die Politik. Keines hat ,den Primat' in der Gesellschaft, und keines repräsentiert' sie. Stattdessen ist sie als umfassendes Sozialsystem und „inklusiver Kommunikationszusammenhang begriffen". Für den Gesellschaftsbegriff ist damit konstitutiv, daß er „entpolitisiert" ist, „so wie er ja auch entökonomisiert ist, desakralisiert, dejuridifiziert und ,deszientifiziert'" (Kieserling 2 0 0 3 : 4 2 0 f . ) . Was hier für ,die Gesellschaft' gesagt ist, schließt die We/igesellschaft selbstverständlich ein. Ihre ,Entökonomisierung' bringt die Luhmannsche Weltgesellschaft im übrigen in die größte Distanz zum „Weltsystem" Immanuel Wallersteins, das im wesentlichen ökonomisch, weltwirtschaftlich' konzipiert ist. 5 8 Diese ökonomische Engführung ist eines der Themen von Lothar Hacks Auseinandersetzung mit der Wallersteinschen Theorie (in diesem Band). Hier sind, was Luhmanns frühe Begriffsentscheidung in Sachen ,Weltgesellschaft' angeht, noch zwei zusätzliche Anmerkungen vonnöten. Zunächst: gerade die frühe Luhmannsche Fassung des Weltgesellschaftsbegriffs hat teilweise die Züge eines Hendiadyoin, des „eins-durch-zwei". Die Gesellschaft ist hier ja immer schon gemeint als (jeweili-
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ge) „Einheit des Sozialen". Als „umfassendes Sozialsystem", über das hinaus es kein Soziales mehr gibt, ist sie, auch im Falle von , We/igesellschaft', jeden Zusatzes unbedürftig. Die Aussage „nur noch eine Gesellschaft" - im Gegensatz zu einer Mehrzahl von Gesellschaften in früheren Zeiten - reicht eigentlich schon aus, um das, was ,Weltgesellschaft' meint, auszusagen. Wenn wir es recht verstehen, so ist, was die Begriffsbildung ,Weltgesellschaft' angeht, der Weltzusatz nur eine Stützmaßnahme, die der gesellschaftsbezogenen Singularitätsaussage den Rücken stärkt. An der Welt im Kompositum der Weltgesellschaft ist mithin nicht ,das Weltliche' wichtig, sondern daß sie eine ist. So gesehen ist das Kompositum, die Zusammenführung von Welt und Gesellschaft primär von der Gesellschaftsseite her motiviert; sie dient der Geltendmachung der Singularität von Gesellschaft heute. Der erwähnte Luhmannsche Eintrag Weltgesellschaft im Lexikon zur Soziologie von 1 9 7 3 bringt genau das zum Ausdruck, indem er sich nur auf der Gesellschaftsseite und am Schluß auch den Systembegriff betreffend Gedanken und Sorgen macht, während die Komponente Welt ganz .unbedacht' bleibt. Der Eintrag lautet so: der Begriff Weltgesellschaft „bringt zum Ausdruck, daß das umfassendste System menschlichen Zusammenlebens (Gesellschaft) nur welteinheitlich gebildet werden kann, nachdem alle Menschen füreinander kommunikativ erreichbar sind und durch Folgen ihrer Handlungen betroffen werden. Die Konsequenzen dieses Tatbestandes für den Gesellschaftsbegriff (z.B. Verzicht auf die Merkmale politische Konstitution, ethische und wertmäßige Gemeinschaftlichkeit, Handlungsfähigkeit des Gesellschaftssystems) sind noch nicht durchdacht. Oft wird angenommen, daß das globale System deshalb nicht die Merkmale einer Gesellschaft erfülle, oder umgekehrt, daß die Weltgesellschaft kein System sei." M a n sieht: mit der Welt als .Welt' hat die Weltgesellschaft, wie sie hier charakterisiert ist, wenig im S i n n . 5 9 Und ferner: ,die Weltgesellschaft' wird, weil .Gesellschaft', oft verdächtigt, sie setze nicht nur auf Einheit, sondern, wie schon gesagt, auch auf ,Einheitlichkeit' oder die Homogenität der Sozialverhältnisse. M a n stößt nun aber bei Luhmann, wenn D a ß diese Sicht einseitig ist, ist uns bewußt; wir sehen durchaus, daß schon im frühen Weltgesellschaftsaufsatz (Luhmann 1 9 7 1 ) dem .phänomenologischen Weltbegriff' - der Welt der Gesellschaft - erhebliche Aufmerksamkeit gewidmet ist. Vgl. Bohn ( 2 0 0 5 : 5 4 f f . ) , die die beiden Komponenten „Welt und Gesellschaft" im „Kompositum Weltgesellschaft" ausgewogen würdigt. Wir kommen darauf zurück. 59
Gesagt ist dies auch an die Adresse von Volker Bornschier ( 2 0 0 2 ) , der .Weltgesellschaft' sagt, aber vorzugsweise .Weltsystem' meint. Unter dem Titel der „systemness o f the w o r l d " bringt auch T h e r b o r n ( 2 0 0 0 b : 155ff.) Luhmann und Wallerstein (und darüber hinaus auch Parsons bzw. M o o r e 1 9 6 6 sowie den Neo-Institutionalismus) in gar zu engen Kontakt miteinander. 58
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man genauer hinsieht, geradezu auf Spaltungsbeschreibungen der Weltgesellschaft. So fällt in den frühen Ausführungen zur Weltgesellschaft auf, daß Luhmann hier stark mit dem dem Dual ,kognitiv/ normativ' arbeitet (1971: 10ff., 1972a: 334ff.; vgl. auch Stichweh 2004: 2f.) und es auf eine Weise tut, die an die cultural lag-Ideen W. F. Ogburns anzuschließen scheint. Das führt dann zu einer Beschreibung der funktionalen Differenzierung der Weltgesellschaft, die vor allem eine „unbalancierte Gesamtentwicklung" registriert: Wirtschaft und Wissenschaft sind kognitiv-lernbereit orientiert, sie erscheinen global disponiert und ,zukunftsfähig'. Politik und Recht dagegen werden, weil normativ programmiert und territorial limitiert, als retardiert und Rückständig' genommen. Mehr noch: sie erscheinen als evolutionäres .Überbleibsel' mit eher prekärer weltgesellschaftlicher Zukunft. Luhmann (1972a: 339f.) geht so weit, den „Verdacht" zu äußern, bei der „aus den Hochkulturen überlieferte(n) Festlegung auf normative, politisch-rechtliche Mechanismen" könne es sich um eine „Fehlspezialisierung der Menschheitsentwicklung" handeln, „an die sich eine weitere Evolution nicht anschließen läßt". 6 0 Bei solcher Skepsis in Bezug auf ,normative Programmierung' ist es im systemtheoretischen Lager allerdings, auch was Politik und .Weltpolitik' angeht, nicht geblieben (Stichweh 2002: 290ff.). 6 1 Man darf im übrigen auch an die große Friktion erinnern, die Luhmann, was die funktional differenzierte Weltgesellschaft angeht, später stark ins Gespräch gebracht hat. Wir meinen die These, die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion habe in bestimmten Weltregionen den Status der gesellschaftlichen Primärdifferenzierung ,an sich gezogen' und operiere dort der funktionalen Differenzierung vorgelagert (gut dazu Greve 2004: 116ff.). Gerade auch das beschreibt eine ,gespaltene' Weltgesellschaft. 2.) „Während die ,Weltgesellschaft' eher den Zustand der globalen Vernetzung beschreibt, wird unter dem Begriff ,Globalisierung' das Prozeßhafte dieses Umstandes beschrieben" (D. Richter 1997: 185). Diesem Prozeßbegriff, dessen Welterfolg - als In Luhmanns später Politik der Gesellschaft findet sich davon nichts mehr; vgl. auch Stichweh 2002: 287. Ganz klar ist jetzt von der Ausdifferenzierung ,des weltpolitischen Systems' die Rede; dieses ist „ein Subsystem der Weltgesellschaft", und es ist - ganz im Einvernehmen mit dem Neo-Institutionalismus John W. Meyers - „intern differenziert in das, was wir Territorialstaaten nennen" (Luhmann 2000a: 222). 61 Anders sieht es der Beitrag zum „globalen Rechtssystem" von Hauke Brunkhorst in diesem Band! 60
Kommunikationserfolg in der Weltgesellschaft - im nächsten Abschnitt Thema sein wird, wenden wir uns nun zu. Der Begriff entstammt bekanntlich der Mitte der 1980er Jahre 6 2 und den amerikanischen Managementschulen. Am Anfang steht Theodore Levitts Aufsatz The Globalization of Markets (1983: 92ff.) mit der dreifachen Botschaft, die teils als .Neuigkeit', teils als Prognose mitgeteilt wird: Zunächst: der Weltverkehr, d.h. die technische Entwicklung nämlich auf dem Feld von „communication, transport, and travel" treibt ,die Welt' immer mehr in die Richtung einer „converging communality". „A new commercial reality" ist das Resultat: die Entstehung globaler Märkte und zugleich von immer mehr weltweit operierenden „global corporations". Die dritte Botschaft schließlich ist eine stark prognostische: eine nachdrückliche Homogenisierung der Waren und Produkte (ebenso wie der Präferenzen der Konsumenten) steht bei sinkenden Preisen weltweit in Aussicht: „globally standardized products". 6 3 Damit war „globalization" kommunikativ anschlußfähig in der Welt - immer als Prozeß mit Zukunft, der bereits im vollen Gange ist. Und von der Anschlußfähigkeit des Begriffs machte die Folgekommunikation - zumal weltwirtschaftsbezogen und teils mit globalen Prosperitätsversprechen - reichlichen und dann überreichlichen Gebrauch. Insbesondere fand .die Globalisierung', soweit das nicht Verschwörungstheorie ist, in Kenichi Ohmae (ehedem Direktor bei McKinsey) den neoliberalen Propagandisten, der zumal in The Borderless World (1990) dem Begriff die Entwicklungsrichtung hin auf ,die ganze Welt als einen einzigen Markt' eingepflanzt hat und ihn zugleich auf die Feindschaft gegen das störende Regime des National- und Territorialstaates festlegte. In diesem Sinne setzte .Globalisierung' sich durch; und war bei Levitt noch von der .Globalisierung der Märkte' die Rede gewesen, so ist der Begriff dieser Spezifikation nun nicht mehr bedürftig. Er steht für sich, und daß die Märkte, allen voran die Finanzmärkte, gemeint sind, versteht sich seither von selbst. Weiterhin steht Globalisierung, was die Unternehmen angeht, für eine neue, weltweite Konkurrenz um Märkte und Standorte (Krätke 1997). Es geht dabei nicht mehr wie ein Jahrhundert zuvor (bis Allerdings gibt es in den 1960er Jahren einen Vorläufer in der Völkerrechtslehre; vgl. Kimminich 1974. 65 „The products and methods of the industrialized world play a single tune for all the world, and all the world eagerly dances to it." „Remaining differences" werden als „vestiges of the past" zugestanden (Levitt 1983: 93, 96f.). 62
Hartmann Tyrell: Singular oder Plural - Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung und Weltgesellschaft 1914) um eine Weltwirtschaft und ihren Freihandel, in der die Konkurrenz zu wesentlichen Teilen als eine zwischen unabhängigen Nationen anfiel (Osterhammel / Petersson 2003: 69ff.). Der auf den Märkten allseits verschärfte Wettbewerb mit Konkurrenten aus aller Welt, wie er seit den 1990er Jahren unter dem Globalisierungstitel beschworen wird, ist dagegen nur noch einer unter den Unternehmen, zumal den „global corporations"; aber er verunsichert Unternehmen und Nationalstaaten gleichermaßen, ja er will sie das Fürchten lehren. Und der Blick auf die intensivierte Konkurrenz stattet ,die Globalisierung' dann mit jenem Hof von Assoziationen aus, der - immer extern (auf die Marktumwelt) zugerechnet - von ,Herausforderung' und ,Druck', von Bedrohlichkeit und Anpassungszwang reden macht. In seiner neoliberal bestimmten politisch-öffentlichen Benutzung tritt der Begriff dann zusätzlich mit der Ambition des nunmehr irreversibel Gegebenen und erst recht auf die Z u k u n f t hin Schicksalhaft-Unvermeidlichen auf (Görg 2004: 108f.). Die Globalisierungs£níz¿ aber, der mächtige Chor der anti-neoliberalen Gegenstimmen 6 4 , affirmiert nicht nur den Begriffsgebrauch, er affirmiert teilweise auch die soziale Faktizität, die der Begriff für das, was er geltend macht, prätendiert, lenkt aber den Blick auf die sozialstrukturellen, politischen und kulturellen Kosten sowie auf ,die Verlierer' der Globalisierung (in den Entwicklungsländern ebenso wie in den Wohlfahrtsstaaten des Nordens: vgl. nur Jenner 1997, Bussmann et al. 2003). In der Soziologie war es Roland Robertson, der wohl als erster und in einem religionssoziologischen Kontext den Globalisierungsbegriff aufgenommen hat (Robertson / Chirico 1985: 238ff.), allerdings zunächst noch eher im Sinne einer ,Mitnahme'. Denn im Vordergrund des Aufsatzes steht begrifflich wie in der Sache „the emergence of humanity": das Thema der „unity of m a n k i n d " nach seiner institutionellen Seite hin wie auch hinsichtlich der gesteigerten ,Bewußtheit' und Reflexivität, die Robertson menschheitsbezogen beobachtet. „The term ,globalization"' steht dann für den Prozeß in Richtung der „realization of the global-human condition" (ebd.: 221,238); auch hier ist der Begriff ,selbsttragend' verwendet (also nicht im Sinne einer 64
Zu den globalisierungskritischen Bewegungen vgl. nur Rucht 2002. Wichtig hier die Beobachtung: „Die ,AntiGlobalisierungsbewegung' (zumal im Singular) ist weitgehend ein Konstrukt der Medien. Fixiert auf Eindeutigkeit, auf greifbare Personen und Institutionen, auf .Sprecher' und .Verantwortliche', neigen die Medien" zu forcierter Reduktion von Komplexität (ebd.: 19).
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.Globalisierung von ...'). Im übrigen ist schon in dem Aufsatz von 1985 das Quartett der einander relativierenden Komponenten von Globalisierung entwickelt, auf das sich Robertson auch im Weiteren gestützt hat: (individuelles) „seif", „national society", „world system of societies" und „humankind" (ebd.: 233ff., Robertson 1992: 26ff.). Schon wenige Jahre nach 1985 firmieren Robertsons Dinge dann unter „globalization theory" 6 5 und steht er prominent für den cultural turn in der Globalisierungstheorie. „Glocalization", das Sich-Schneiden von „the global" und „the local", wird seine erfolgreichste Begriffserfindung (1992: 173f., 1998); in diesem Band insbesondere in dem Beitrag von Joanna Pfaff-Czarnecka aufgegriffen. Hingewiesen sei ferner auf das schon angesprochene Programm der „sociology for one world" von Albrow und Archer (Dürrschmidt 2002: 27ff.), in dem die Euphorie des Jahres 1989 an- und nachklingt. Dieses Programm brachte wie kein anderes ,Weltgesellschaft' und ,Globalisierung' einander nahe; Globalisierung war dabei als der Prozeß verstanden, der die Weltgesellschaft herstellt oder herbeiführt (etwa Albrow 1990: 9). 6 6 Bei Anthony Giddens dagegen steht, wie schon gesagt, der Gesellschaftsbegriff auf der globalen Ebene nicht zur Verfügung. Umso mehr hat er dann ,Globalisierung' (1990; hier 1995: 71) zu dem Terminus erklärt, der, ,der Moderne' nah, „im Lexikon der Sozialwissenschaften eine Schlüsselstellung erhalten m u ß . " 6 7 Deutscherseits hat sich - mit internationaler Resonanz und vor allem auf ökologische Risiken hin - Ulrich Beck in die Globalisierungsdebatte eingeschaltet; inzwischen überbietet er aber Globalisierung durch eine der .zweiten Moderne' adäquate „cosmopolitan perspective" (Beck 2000). Das Ende der 1990er Jahre hat dann große datenreiche Studien und Bestandsaufnahmen gebracht, die den empirischen Gehalt der Globalisierungsbehauptungen testen und messen (Held et al. 1999, 65 Vgl. nur das 1991 für Robertson veranstaltete Symposion, das im Journal of the Scientific Study of Religion 31, 1992: 296ff. dokumentiert ist. 66 Allerdings macht Margaret Archer (1990: 1) noch einen zeitlichen Unterschied: Globalisierung sei aktuell im vollen Gange, die „world society" aber sei noch nicht realisiert: „globality itself lies in the future, but the very near future". 67 Definiert als „Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen, durch die entfernte Orte in solcher Weise miteinander verbunden werden, daß Ereignisse am einen Ort durch Vorgänge geprägt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen, und umgekehrt" (Giddens 1995: 85).
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Beisheim et al. 1999, auch Schölte 2000). Sie sind primär politikwissenschaftlicher Herkunft und haben dann neben dem Welthandel, den internationalen Finanzmärkten und den „multinational corporations" insbesondere auch die internationale Politik, die „world military order" und erst recht alle Entwicklungsansätze von „post-sovereign governance" im Blick. Aber auch Indikatoren auf dem Feld von Massenmedien, Ökologie, Mobilität und Migration u.a. werden geprüft. Alle drei Studien widersprechen dem „Bild von Globalisierung als lawinenartigem Schub, der in den siebziger Jahren einsetzt" (Beisheim et al. 1999: 16), warnen vor Überschätzung und gelangen zu differenzierten Befunden, die aber von verschiedenen Globalisierungen' zu sprechen erlauben. 68 Allerdings ist von Autoren, die es mit der Weltgesellschaft halten, eingewandt worden, diese Studien träfen „nur selten die Weltgesellschaft insgesamt" (Bornschier 2002: 93f.) und verblieben in ihren Analysen überwiegend innerhalb dessen, was nicht nur Dieter Senghaas (2003: 118ff.) „die OECD-Welt" nennt. 6 9 Hinzuweisen ist hier im übrigen auf den bemerkenswerten und skeptischen Literatur- und Prüfbericht von Mauro F. Guillen (2001: 238ff., 240); dieser identifiziert, von 1980 an messend, bei einer Reihe von Indikatoren (z. B. im Falle des Tourismus, des grenzüberschreitenden Telephonierens oder der Internetnutzung) ein beträchtliches globalisierungsverdächtiges Wachstum. Er fügt aber hinzu: „It is perhaps ironic to observe that the fastest increase among the indicators ... does not refer to globalization itself, but to the literature on globalization. ... there has been an explosion in the number of articles on globalization published in the economic, sociological, and political literatures." Dieser Explosion wendet sich der nächste Abschnitt zu. Damit ist im Blick auf ,Weltgesellschaft' und G l o balisierung' klar: die spätere Begriffserfindung war die ungleich erfolgreichere. 70 Die beiden Begriffe haben aber nicht nur andere Wurzeln und andere 68
„Globalization can best be understood as a process or set of processes rather than a singular condition. It does not reflect a simple linear development, n o r does it prefigure a world society or a w o r l d c o m m u n i t y " (Held et al. 1999: 27). 69 Vgl. auch die entsprechend .limitierten' Befunde in der auf die „Transnationalisierung" der Bundesrepublik bezogenen Studie von G e r h a r d s und Rössel 1999; zur „Entmystifizierung der Globalisierung" in ähnlichem Sinne Krätke 1997: 224ff. 70 Mathias Albert hat im April des Jahres 2 0 0 4 (in Bielefeld) vergleichend gegoogelt: auf der Weltgesellschaftsbzw. World Society-Seite lag die Trefferquote bei 0 , 0 7
kommunikative Erfolgsquoten; auch der Zuschnitt der Debatten, die sich mit ihnen verbinden, ist jeweils ein ganz verschiedener. Auch dazu liegt auf der Globalisierungsseite inzwischen eine anspruchsvolle Berichterstattung vor. Wir nennen einerseits Göran Therborn (2000b: 151ff.); dieser ordnet das weite Globalisierungsfeld dadurch, daß er fünf Diskurse identifiziert. „Each of them includes scholarly as well as ideological or journalistic argumentation." Die Stichworte heißen „competition economics", Globalisierungskritik („sociocritical"), ferner „State (im)potence", also die Frage nach dem ,Ende des Nationalstaats', sodann .kulturelle' Globalisierung und das Problem von „uniformity/diversity" und schließlich „planetary ecology". Wir verweisen andererseits auf die „five key debates", die Guillen (2001: 240ff.) identifiziert und die zumal in Sachen Nationalstaat und Kultur mit Therborns Diskursen übereinstimmen. Die Breite, die teilweise Ideologisiertheit, Politiknähe und Heftigkeit der damit angedeuteten Debatten hat auf der Weltgesellschaftsseite durchaus keine Entsprechung. Wir können uns im Blick auf .Globalisierung' damit der Singular/Plural-Problematik zuwenden und wollen dabei die Therbornschen Diskurse im Blick behalten. Unverkennbar ist der Begriff so, wie er als Globalisierung ,pur' (also ohne Zusatz im Sinne der .Globalisierung von etwas') - in die Kommunikation gebracht worden ist, im Singular erfunden worden. An einen Plural ist dabei zunächst gar nicht gedacht, und damit ist dem Singulargebrauch der unbestimmte Artikel („eine Globalisierung") weitgehend verwehrt. Umso mehr aber macht es dann, zumindest im Deutschen, einen Unterschied, ob man den bestimmten Artikel verwendet oder artikellos einfach von ,Globalisierung' spricht. Unser Eindruck, der aber der näheren Prüfung bedarf, ist dieser: der wissenschaftliche Sprachgebrauch präferiert zu weiten Teilen - ganz anlog dem Sprechen über Modernisierung - den Singular ohne Artikel. 71 Anders der ökonomische, der neoliberal-ideologische und erst recht der derzeitige tages- und talkshow-politische Sprachgebrauch; hier gibt es - im Deutschen, wie gesagt - eine ausgeprägte Neigung zur Verwendung des bestimmten Artikels: „die Globalisierung". 72 Das suggeriert: ein Prozeß von weltbzw. 0 , 0 2 M i o . , bei Globalization bzw. Globalisierung bei 2 , 8 6 bzw. 1,16 M i o . 71 Im Englischen dominiert der Verzicht auf den Artikel; vgl. nur, sehr konsequent, Schölte (2000). Dieser A u t o r ist ü b e r h a u p t bemerkenswert begriffssensibel; „,global-spea k ' " , sagt (und belegt) er, „has become p o p u l a r quite recently" (ebd.: 43). 72 Vgl. den Sprachgebrauch, wie er etwa in d e m Sammel-
Hartmann Tyrell: Singular oder Plural - Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung und Weltgesellschaft weiter Reichweite, der - der H e t e r o g e n i t ä t der verschiedenen Weltregionen z u m Trotz - überall derselbe u n d v o n gleichartiger W i r k u n g ist. U n d im Satzbau fungiert ,die Globalisierung' d a n n gern als Subjekt, etwa Bestimmtes b e w i r k e n d o d e r zu bes t i m m t e n Verhaltensweisen nötigend. A u c h diejenigen, die an d e r s o v e r s t a n d e n e n Globalisierung Ans t o ß n e h m e n , ziehen, w a s den S p r a c h g e b r a u c h a n g e h t , d a n n n o t g e d r u n g e n m i t . 7 3 Es ist wie ehed e m mit der R e d e v o n ,dem K a p i t a l i s m u s ' : Der bes t i m m t e Singular reduziert die K o m p l e x i t ä t d r a stisch, er schafft die nötige Einheit u n d K o m p a k t h e i t der Sache u n d gestattet, von ihr zu reden wie v o n einem ü b e r m ä c h t i g e n Subjekt, d e m starke soziale Ursächlichkeit z u r e c h e n b a r ist: die Globalisierung als „ O r k a n " usw.! Zugleich ermöglicht d a s d e n catch-all-Effekt: nichts in der sozialen Welt, bei d e m die Globalisierung nicht irgendwie (kausal) mit im Spiel w ä r e , u n d der Verweis auf sie ist i m m e r zur H a n d . G l e i c h w o h l h a t , wie schon e r w ä h n t , Globalisierung den W e g in den Plural inzwischen m e h r f a c h g e f u n d e n , u n d m a n h a t den E i n d r u c k , die jeweiligen ,Täter' h a b e n es w e i t g e h e n d u n a b h ä n g i g v o n e i n a n d e r getan. Allerdings ist der Wechsel in den Plural nirg e n d w o ähnlich s p e k t a k u l ä r vollzogen w o r d e n wie im Fall der ,multiple m o d e r n i t i e s ' u n d s c h o n g a r nicht so folgenreich gewesen. N i r g e n d w o geht es u m eine dezidierte K a m p f a n s a g e a n den Singular, n i r g e n d w o u m dessen prinzipielle Delegitimierung. J a n N e d e r v e e n Pieterse ( 1 9 9 4 : 161f.; dt. 1 9 9 8 : 87ff.), der d e n Pluralvorschlag w o h l als erster unterbreitet h a t , tat d a s teils spielerisch, teils w o h l b e d a c h t mit Bezug auf die Prozeßvielfalt, die sich a n d e r e n A u t o r e n zufolge mit Globalisierung verbind e 7 4 , u n d zugleich im Blick auf die Globalisierung, wie sie von Ö k o n o m e n , Politikwissenschaftlern, Soziologen u n d E t h n o l o g e n je a n d e r s beschrieben w e r d e . Ist es bei N e d e r v e e n Pieterse n o c h eine Kapitelüberschrift, so erfolgt die G e l t e n d m a c h u n g des Plurals bei G ö r a n T h e r b o r n ( 2 0 0 0 b ) als Titel eines Aufsatzes: Globalizations, u n d hier ist sie p r o g r a m -
band Globalisierung und Wettbewerb (Biskup 1996) von Ökonomen gepflegt wird. Die Belege wenigstens innerhalb des deutschen Sprachraums sind leicht vermehrbar. 73 Vgl. nur Scheuch 2002; hochinteressant etwa der folgende Satz: „Dabei ist die Berufung auf die Globalisierung oft eine ideologische Rauchwand: Es ist weniger die hier und heute wirkende Globalisierung, welche Fusionen erzwingt, als die Fusion, die sich nur bei weiterer Globalisierung durchhalten läßt" (ebd.: 57). 74 „Since these processes are plural, we may as well conceive of globalizations in plural" (Nederveen Pieterse 1994: 161).
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matisch g e m e i n t . 7 5 A b e r m a l s erfolgt sie im Blick auf die mit ,Globalisierung' gemeinte Prozeßvielfalt: „In s u m , t h e c o n c e p t refers t o a plurality of social processes, a n d t h e w o r d h a d t h e r e f o r e better be used in plural: g l o b a l i z a t i o n s " ( T h e r b o r n 2 0 0 0 b : 154). Eine scharfe N e g a t i o n , die d e m Singular sein Recht bestreitet, ist a b e r a u c h d a s nicht. Die (oben schon e r w ä h n t e n ) „ m a n y g l o b a l i z a t i o n s " im Titel des S a m m e l b a n d e s v o n Berger u n d H u n t i n g t o n (2002) h a b e n „cultural diversity" im Sinn u n d beziehen sich vergleichend auf eine Ländervielfalt mit je unterschiedlichen Globalisierungen; die R e d e k a n n d a n n in Bergers E i n f ü h r u n g (ebd.: 10) - in gesuchter N ä h e zu den ,multiple m o d e r n i t i e s ' - v o n „alternative g l o b a l i z a t i o n s " sein. 7 6 Hingewiesen sei a u c h auf die „ d u a l g l o b a l i z a t i o n s " des iranischen Soziologen Saied Reza Ameli (2004), w o m i t „globalizations in t h e ,real w o r l d ' a n d globalizations w h i c h are t a k i n g place in the ,cyber w o r l d ' " gemeint sind. Der systematisch wichtigste Pluralbeit r a g a b e r scheint uns der v o n W i m m e r ( 2 0 0 1 , 2 0 0 3 ) zu sein; auch er f ü h r t den Plural „Globalisierungen" im Titel u n d zielt d a m i t auf den Plural der Diversität. Der Aufsatz ist getragen u n d von nachdrücklichem Widerspruch gegen die Thesen v o m globalen Isom o r p h i s m u s und von weltweiter Homogenisierung. Vor allem m a c h t er, w o v o n noch zu reden sein wird, mobil gegen gegen alle A n n a h m e n von v o l l s t ä n d i g e r Interdependenz' im globalen R a h m e n . Festzuhalten bleibt n a c h diesem k n a p p e n u n d unvermeidlich unvollständigen D u r c h g a n g d u r c h die Pluralfassungen von Globalisierung: die Plädoyers für d e n Plural h a b e n es nicht v e r m o c h t , die N o r m a lität u n d u n b e d i n g t e D o m i n a n z des Singulars in Frage zu stellen o d e r g a r zu v e r d r ä n g e n . Eine Pluralvariante von Globalisierung, die von der Weltgesellschaftsseite her naheliegt u n d sprachlich längst praktiziert w i r d , gilt es n o c h a n z u f ü g e n . 7 7 75 Mehr noch: der Beitrag ist der Kopfbeitrag des von Therborn herausgebrachten Hefts 2 von International Sociology 15, 2000, das im Titel „Globalizations Are Plural" trägt. Auch für die „comparative sociology of globalization", für die der Literaturbericht von Guillen (2001: 254ff.) abschließend plädiert, liegt der Plural sachlich nahe; der Schritt dahin wird aber nicht getan. 76 Berger (2002: 14f.) kennt auch „subglobalizations"; der prominenteste Fall dafür ist „Europeanization". Wir lassen Bergers „four faces of cultural globalization" („business elite, faculty club, popular culture, social movements") hier beiseite. Hingewiesen sei ferner auf die „Globalization(s)" des Sammelbandes von Aulakh und Schechter (2000). 77 Sie liegt aber auch bei Guillen (2001: 243f.) ganz nahe, wenn er gegen ein .monolithisch' ökonomisches Globali-
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Sie bezieht sich auf die Globalisierung mit Zusatz-. im Sinne etwa von Levitts „globalization of markets". Solche „Globalisierung von . . . " läßt sich leicht mit der Weltgesellschaft und ihrer funktionalen Differenzierung zusammenbringen, nämlich auf die einzelnen Funktionsysteme beziehen. Rudolf Stichweh (2003: 3ff.) etwa hat bezogen auf die Wissenschaft eine Unterscheidung von ,Universalität' und ,Globalität' gemacht. Die erstere meint (u.a.) in sozialer Hinsicht den Geltungsanspruch des ,für jedermann wahr', und die ,Globalisierung der Wissenschaft' besagt dann „die weltweite Durchsetzung jenes einigermaßen kohärenten sets wissenschaftlicher Traditionen, der sich selbst unter den normativen Druck der Universalitätserwartung gesetzt hat". Und im gleichen Sinne der faktischen weltweiten Ausbreitung und Inklusionsfähigkeit spricht in diesem Band Tobias Werron von der ,Globalisierung des Sports' bzw. Christian Mersch von der ,Globalisierung des Patentsystems'. Entsprechend kann man die Durchsetzung des weltweiten Operierens auch anderer (weltgesellschaftlicher) Funktionssysteme als deren Globalisierung beschreiben. Die Pluralität der Funktionssysteme zwingt dann wie von selbst dazu, in den Plural zu wechseln und von verschiedenen .Globalisierungen' zu sprechen. Man kann in diesem Zusammenhang schließlich ein Argument hinzuziehen, das Trutz von Trotha (2003: 86f.) vor dem Hintergrund der Kolonialismusthematik geltend gemacht hat. Er weist auf das Scheitern der „Globalisierung grundlegender Institutionen" hin und zielt damit darauf, daß es, je nach institutionellem Feld bzw. Funktionssystem, gelingende wie mißlingende Globalisierung geben könne. Er nimmt das zum Anlaß festzustellen: „Der Prozeß der Globalisierung ist eben ein Prozeß der Globalisierungen." Was nun das Scheitern angeht, so hat von Trotha vor allem das Funktionssystem der Politik im Blick, das postkoloniale Scheitern des Staates zumal in beträchlichen Teilen Afrikas. 78 Allerdings sollte man es nicht bei diesem negativen Befund belassen. Man sollte eben die innergesellschaftliche (zumal politische) Umwelt jener ordnungsgeschwächten Regionen nicht außer Betracht sierungskonzept Stellung bezieht und auch einer „political and cultural globalization" ihr Recht eingeräumt sehen will. 7 8 „Staat und staatliches Rechtssystem" scheiterten vorrangig „dort, wo sie nicht an vorkoloniale staatliche Ordnungsformen anknüpfen konnten, am deutlichsten in großen Teilen des subsaharischen Afrikas" (von Trotha 2 0 0 3 : 87). Auch hier gilt mit MüllerIZiltener (in diesem Band): „Die Vergangenheit in der Gegenwart"!
lassen. Denn diese Umwelt, der von Trotha selbst zugehört, registriert den gegebenen Mangel an Staatlichkeit nicht nur kognitiv, ,als Fakt' (im Sinne von Fehlanzeige'), vielmehr verhält sie sich auf vielfältige Art dazu und dies vor allem normativ, sie hält die Erwartung des .Nichtseinsollens' fehlender Staatlichkeit aufrecht. Staatlichkeit soll eben weltweit, in nationalstaatlich segmentierter Form, und allerorten gegeben sein, was zur Konsequenz hat: der abweichende Fall fällt auf - als scheiternde .Globalisierung des Staates' etwa!
6. Die Globalisierung und ihr Begleitvokabular des Näheren Nachdem der „hegemonic status", wie ihn sich .Globalisierung' „in the social science vocabulary" errungen hat (Wimmer 20001: 435), verhandelt und sichtbar gemacht ist, gilt es nun, einen Blick auf den weltweiten Kommunikationserfolg des Begriffs im Singular zu werfen, einen Erfolg, der ja weit über das engere Feld der wissenschaftlichen Kommunikation hinausreicht. Und darüber hinaus ist es dann angezeigt, das mitgeführte Begleitvokabular mit seinen Eigentümlichkeiten zur Sprache zu bringen. Eine davon ist die, daß .Globalisierung' grenzüberschreitend als Bewegung .nach außen', als „widening" und Ausdehnung von Reichweiten beschrieben wird; andererseits aber findet sich eine eher ¿»/«weworientierte Blick- und Bewegungsrichtung, so wenn von „time space compression", von Netzverdichtung usw. die Rede ist. Das führt dann auf die globale Interdependenz und zugleich auf die Interdependenzunterbrechungspiobleme, die sich mit dem Nationalstaat verbinden. 1.) Es ist ein auffälliger Zug des Globalisierungsdiskurses, daß seine Autoren häufig auch als seine Beobachter agieren, dies zumindest im zwischenzeitlichen Blick zurück auf das, was bei Schölte (2000: 43f.) „rise of a buzz word" heißt, gemeint nicht zuletzt in einem quantitativen Sinne. Die Vermessung der „Konjunktur des Themas .Globalisierung' in den Sozialwissenschaften", wie sie (in dieser Zeitschrift) für den sozialwissenschaftlichen Gebrauch von Gerhards u. Rössel (1999: 325f.) vorgenommen worden ist, steht ganz und gar nicht allein. Entsprechende Recherchen haben auch Busch (vgl. Bornschier 2002: 87 ff.), Therborn (2000a: 149) und Guillen (2001: 239ff.) angestellt, und es zeigt sich dabei ein weitgehend übereinstimmendes Bild: sehr behutsamer Anstieg in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre auf niedrigem Niveau, erheblicher Anstieg in den frühen 90er Jahren und eine explo-
Hartmann Tyrell: Singular oder Plural - Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung sionsartige Steigerung seit 1 9 9 3 . Von da an ist . G l o balisierung', im Singular gebraucht, in aller M u n d e , und sie ist es bis in die Alltagssprache hinein. M a n kann E-mails von Bielefeld nach Singapur verschic k e n , und es liegt auf der H a n d , das mit „ G l o b a l i sierung" oder „the global village" zu kommentieren. Und auch unter U n b e k a n n t e n kann m a n dafür mit fraglosem Einverständnis rechnen. D a s führt hin zu der Internationalität und Globalität der Verbreitung der Globalisierungssemantik. M a n darf unterstellen: nicht nur in Deutschland wird der Aufstieg von ,Globalisierung' der (jeweiligen) professionellen nationalen Sprachentwicklungsbeobachtung aufgefallen s e i n . 7 9 Z u betonen ist das Eindringen des Begriffs in die verschiedensten nationalsprachlichen L e x i k a . W i r zitieren der Einfachheit halber G ö r a n T h e r b o r n ( 2 0 0 0 a : 1 4 9 ) : „In the m a j o r dictionaries of English, French, Spanish and G e r m a n o f the 1 9 8 0 s or the first half o f the 1 9 9 0 s the w o r d is not listed. In Arabic at least four different words render the notion. W h e r e a s in J a p a n e s e business the word goes t o the 1 9 8 0 s , it entered academic Chinese only in the m i d - 1 9 9 0 s . " J a n Art Schölte ( 2 0 0 0 : 4 3 f . ) geht derselben internationalen Übersetzungsresonanz n a c h , zunächst für den europäischen R a u m , dann aber auch erheblich darüber hinaus. Es geht bei diesen Ü b e r n a h m e n , wie er zeigen k a n n , teils um sprachliche Neuschöpfungen (mit Anklang an das englische Original und „ b u z z w o r d " ) , teils um die N e u - und Umbesetzung von vorhandenen W o r t b e s t ä n d e n . 8 0 D e m enormen K o m m u n i k a t i o n s e r f o l g von G l o b a l i sierung' w a r innerwissenschaftlich sicher förderlich, d a ß sich hier verschiedenste Diskurse und Disziplinen beteiligten (bzw. sich unter Beteiligungsdruck gesetzt sahen), für die ansonsten gilt, d a ß sie eine gemeinsame Agenda miteinander eher nicht h a b e n . 8 1 Hinzuweisen ist weiterhin auf die
7 9 Hier hat die Gesellschaft für Deutsche Sprache das Wort im Jahre 1996 unter die „Top Ten" der „Worte des Jahres" aufgenommen; vgl. Beisheim et al. 1999: 15. Im Französischen ist das englische „globalization" teilweise als „mondialisation" ,unter Kontrolle' gebracht worden. 8 0 „Outside the Indo-European languages we find the Chinese Quanqiuhua, the Finnish globalisaatio, the Indonesian globalisasi, the Korean Gukje Hwa, the Nepali bishwavya-pikaran, the Singhalese jatyanthareekaranaya, the Tagalog globalisasyon, the Thai lokanuvat, the Timorese luan bo'ot and the Vietnamese toan kou hoa. All are new terms, or ascribe a new meaning to a pre-existent word" (Schölte 2000: 43). 1,1 Vgl. Guillen 2001: 240: „Perhaps the most bewildering feature of the literature is not its sheer size but the remarkable diversity of authors that have contributed to it, ran-
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Rolle einiger ,public intellectuals' und Resonanzerzeuger, die, wie schon angesprochen, mit der dramatischen Botschaft an die Öffentlichkeit gegangen sind, Globalisierung sei der N a m e für eine epochale Diskontinuität, die hier und jetzt und im Weltmaßstab im Vollzuge sei, und in die Sozialwissenschaften hinein verlängere sich das als die unmittelbar umzusetzende Notwendigkeit eines grundstürzenden Paradigmawechsels. Solche dramatisierende Diskontinuitätsrhetorik, die für die wissenschaftlichen Begriffe und Theorien eine (umweltadäquate) ,'Totalalteration' fordert, operiert zu einem guten Teil im Sinne einer Relevanzbeschaffung, die Aufmerksamkeit und Resonanz nachgerade ,erzwingen' will. Und hier treten die Verfechter der Globalisierung - natürlich im Singular - dann nicht nur als Beobachter der neuen .großen Transformation' auf, sondern auch als deren Propheten und semantische Bahnbrecher. Naturgem ä ß ist das innerwissenschaftlich auf Widerspruch zumal von empirischer Seite g e s t o ß e n . 8 2 Von prinzipieller Art aber ist der Widerspruch bei Andreas W i m m e r ( 2 0 0 1 : 4 3 9 f . , 4 5 6 f f . , 2 0 0 3 : 6f., 29ff.); er wehrt sich, mit .heterodoxer' Selbstbeschreibung, gegen Tendenzen, „to overestimate the singularity and uniqueness o f present-day developments", und sucht dann an zwei langen Fallgeschichten zu demonstrieren, „daß Globalisierung nicht eine Zeitenwende markiert, sondern seit Menschengedenken immer wieder in Schüben aufgetreten ist." 3 Solcher Wider-
ging from postmodernist scholars or social theorists who rarely, if ever, engage in empirical research to numbercrunching empiricists, politicians, and management consultants." 82 Vgl. nur Goldthorpe 2003, der die Diskontinuitätsthese und -rhetorik unter scharfen Beschuß nimmt. Gemeint sind Globalisierungstheorien (von Reich und Ohmae bis Giddens und Beck), die „die historisch einmalige Natur der gegenwärtigen Entwicklung und ihre radikale Diskontinuität mit der Vergangenheit herausstreichen" (ebd.: 302). Vgl. zur Debatte um die Frage „Is globalization a wholly new phenomenon?" auch mehrere Beiträge in dem Sammelband von Aulakh / Schechter (2000). Vgl. historischerseits Osterhammel / Petersson 2003: 108ff.; ihre Antwort auf die Frage einer „neue(n) Epoche", einer „quantitativ wie qualitativ neuartige(n) Globalität" ist ein deutliches Nein. Wirtschaftshistoriker reden heute für die Zeit um 1900 (bis 1914) ganz selbstverständlich von „Globalisierung"; ihr Problem ist dann nicht zuletzt die Weltwirtschaftskrise als „the end of globalization" und gegenwartsbezogen die Frage: „can it happen again?" (James 2001, auch Borchardt 2004). Die Globalisierung von heute ist damit als ein Wiederholungssfall genommen, und man könnte damit auch in einem sequentiellen Sinne von .Globalisierungen' sprechen. 8 3 Auch diese „Schübe" lassen an Globalisierung im Plural, an wiederholte Globalisierung denken!
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Spruch hat dem publizistischen Erfolg der gemeinten ,public intellectuals' aber keinen Abbruch getan; gerade ihnen waren internationale Übersetzungserfolge beschert, und an der weltweiten Verbreitung der Globalisierungsbotschaft haben sie ihren Anteil. Anteil hat daran erst recht der Umstand, daß ,die Globalisierung' und ihre Kritiker in die internationale Publizistik und politische Berichterstattung Eingang gefunden haben, vor allem auch in die Weltnachrichten, und gerade das nötigt zu allfälliger Übersetzung und je kultureller Übernahme des Begriffs. Hermann Lübbe (1996: 51), der Vorbehalte gegen die ,Weltgesellschaft' hat, meint: „Als System der Versorgung mit Weltnachrichten existiert eine Weltgesellschaft tatsächlich." Und in eben diesen sind ,die Globalisierung' und ihre Feinde inzwischen eine vertraute Größe, und sie sind es mehr oder minder weltweit. Man kann in der Sprache Luhmanns auch sagen: ,die ganze Welt' wird kommunikativ erreichbar für die Globalisierungsbotschaft. Dazu gehört dann auch, daß ,Globalisierung' in der Sprache und Selbstbeschreibung der großen internationalen Organisationen Fuß gefaßt hat. „Making globalization work for all" war die zentrale Devise der Millenium Declaration der Vereinten Nationen vom September des Jahres 2 0 0 0 . 8 4 Angemerkt sei schließlich: mit dem Welterfolg von ,Globalisierung' wird auch „,global-speak"' (Schölte 2000: 43f., 15ff.) global, denn die Rede von ,Globalisierung' zieht einen Schweif weiterer, affiner Begriffe mit und hinter sich her. Teils sind es Prozeßbegriffe, typischerweise Singulare, für die ihrerseits gilt, daß sie ,Globalisierung' assoziieren machen. Genannt seien an dieser Stelle neben der wiederbelebten „one world" nur das Kontrastpaar von „the global" und „the local", die Rede vom „global village" 85 , von „global actors" und „global players", aber auch die Selbstbeschreibung der Vereinten Nationen als „global stage" 8 6 . Und was das Prozeßvokabular angeht, so nennen wir einerseits 8 4 Die Erklärung betont (nach Department of Public Information 2 0 0 4 : 142), „that ensuring globalization becomes a positive force for all represents the central challenge before the international community. People must feel included if globalization is to succeed, Secretary-General Kofi Annan said in his report to the Millenium Summit." 8 5 Dazu, aber auch zum Übrigen sei nur auf die konzise Darstellung von Dürrschmidt ( 2 0 0 2 ) verwiesen. 8 6 Die Akteure auf dieser Bühne sind „not only states", sagte Kofi Annan im Jahr 2 0 0 0 (Department of Public Information 2 0 0 4 : 18). „The Private Sector, NGOs and multilateral agencies increasingly work with the governments to find consensus solutions to global problems."
nur die „time-space compression" (D. Harvey), können dabei aber nicht umhin, auf eine affine Begriffsprägung hinzuweisen, die der ,Kompression' an Alter und Geist so vieles voraus hat; gemeint ist Goethes Begriff des Veloziferischen, auf den in diesem Band der Beitrag von Manfred Koch eingeht (vgl. auch Koch 2002: 252ff.). Verwiesen sei sodann mit Ritzer und Stillman (2003) auf „McDonaldisierung, Amerikanisierung und Globalisierung". Man sieht aus alledem: „global-speak" läßt ,die Welt' und die gerade im Deutschen so vielfältigen Weltkomposita (Braun 1992) teilweise zurücktreten, und sicher geht mit Therborn (2000a: 149) der Erfolg des ,Globalen' zulasten von „the Universal" und dem, was semantisch daran hängt. Ob aber dieser Erfolg nur ein bloß ,modischer' und ,temporärer' ist bzw. sein wird und ob darüber hinaus, wie Volker Bornschier (2002: 96) meint (und möchte), die Globalisierungsdebatte inzwischen „ihren Zweck erfüllt" hat 8 7 und „der mobilisierende Begriff" damit „wieder verschwinden" kann, das lassen wir dahingestellt. Erst recht liegt uns der Gedanke fern, hier nun gar zu folgern, damit sei im semantischen Wettbewerb der Weg frei für ,die Weltgesellschaft'.
2.) Die Karriere von ,Globalisierung', die kommunikative Durchsetzung weltweit - so daß man die Kenntnis des Begriffs allerorten mehr oder minder voraussetzen kann - scheint uns nun aber etwas durchaus Erklärungsbedürftiges zu sein. Natürlich läge es, was das angeht, nahe, der Begriffsdiffusion genauer nachzugehen, also nach strategischer' Diffusion und Propaganda zu fragen, nach Imitation, nach resonanzsteigernden Konflikten, nach semantischen Mitnahmeeffekten, nach dem Part der public intellectuals' und ihrer Verkündigungen usw. 88 Wir wollen nun aber keine Zurechnungsfragen dieser Art aufwerfen, sondern stattdessen vorsichtig feststellen, daß die enorme Resonanz dem, was der Begriff beschreibt oder beschwört, irgendwie selbst zugehört. Man kann es auch so formulieren: wenn es denn als soziale Realität des späten 20. Jahrhunderts so etwas gibt wie Prozesse der Globalisierung oder gar einen Globalisierungsschub, dann dürfte,
8 7 Den nämlich: „die soziale Welt als Ganzes auf die Agend a " zu bringen. 8 8 Man kann wohl auch, was die Abnahmebereitschaft für das Wort angeht, auf eine spezielle Anschlußfähigeit „an Erfahrungen" hinweisen, wie sie „viele Menschen" heute in den reichen Ländern als Konsumenten, Fernsehzuschauer, Internetnutzer usw. täglich machen; so Osterhammel / Petersson 2 0 0 3 : 7f.
Hartmann Tyrell: Singular oder Plural - Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung und Weltgesellschaft wie auch von Mauro F. Guillen (2001: 240ff.) her naheliegt, der weltweite Begriffserfolg von ,Globalisierung' als reflexive Begleiterscheinung mit dazugehören. 89 Wir wollen dabei, was die damit unterstellte Gleichzeitigkeit angeht, gar nichts präjudizieren, also weder den möglichen Fall einer Nachträglichkeit' der Semantik (Stäheli) noch die Möglichkeit einer ,vorlaufenden Semantik' ausschließen, die sozialstrukturellen Wandel teils ,antizipiert', teils mitstimuliert. Hingewiesen werden darf aber doch auf die auffällige Parallelität, wie sie die erwähnte Kurve zur sozialwissenschaftlichen Konjunktur des Themas ,Globalisierung' und die Kurven zum Anstieg der weltweiten Nutzung des Internet seit den 1980er Jahren aufweisen (Beisheim et al. 1999: 56ff.; vgl. auch Held et al. 1999: 344f.) ; das exponentielle Wachstum erfolgt in den beiden Fällen nahezu synchron, und auch der nordamerikanische Anfang (und Ausgangspunkt) wird von beiden Prozessen geteilt (vgl. Kroes 2003). Von Korrelation darf also wohl die Rede sein, vielleicht auch von mitlaufender Plausibiliserung ,der Globalisierung' durch die ja durchaus geräuschvolle Ausbreitung des World Wide Web. Unvermeidlich ist, darauf hinzuweisen, daß das „worldwide" des www. natürlich nur begrenzt zutrifft. Um die „Connectivity" weiter Teile Afrikas ist es nach wie vor schlecht bestellt. Afrika erscheint aber nicht allein bezüglich des www. als „weißer Fleck auf der Landkarte der Globalisierung" (Osterhammel/Petersson 2003: 110). Roland Robertson (1992: 8) hat nun Globalisierung auf die folgende Art bestimmt: „Globalization as a concept refers both to the compression of the world and the intensification of consciousness of the world as a whole." Dieser Doppe/bestimmung, der die soziale Verdichtung („compression") als Struktur nicht genügt und die den weltweiten Sozialzusammenhang auch im Bewußtsein widergespiegelt' wissen will, sind andere Autoren (etwa Therborn 2000b: 154) gefolgt. Setzt man nun für das, was in Robertsons Definition „world" heißt, den Kollektivsingular ,Gesellschaft' ein, so führt das in die Nähe von Dürkheims ,Kollektivbewußtsein'; dieses zielte bekanntlich auf einen gesellschaftlichen Integrationsmodus, dem die normative Gemeinsamkeit als solche nicht genügte und für den es zusätzlich auf das kollektiv geteilte BewußtW i r vertreten damit nicht die Auffassung, daß der K o m munikationserfolg ,das Eigentliche' und die soziale Faktizität der Globalisierung bloß Produkt und Konstrukt der Kommunikation ist. Wissenssoziologische Fragen dieser Art liegen aber natürlich nahe. 89
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sein dieser Gemeinsamkeit ankam. Man kann dann aber im Hinblick auf die Weltgesellschaft hin ein weiteres tun und Robertsons ,gedoppelte Globalisierung' mit dem Luhmannschen We/igesellschaftsverständnis in Verbindung bringen. Diesem zufolge findet sich nämlich das eine weltweite Kommunikationssystem (als strukturelle Gegebenheit) zusammen in und unter einem Weltentwurf (im phänomenologischen Sinne), und der so verstandenen Weltgesellschaft gehört „die reale Einheit des Welthorizonts für alle" unmittelbar zu (Luhmann 1971: 9, 1997: 147ff.); darauf wird noch zurückzukommen sein. Hier ist nur wichtig: Luhmann spricht nicht wie Dürkheim und Robertson von „Bewußtsein", sondern setzt auf Kommunikation und kommunikative Erreichbarkeit. Darauf bezogen aber läßt sich dem Welterfolg von Globalisierung noch ein weiterer Sinn abgewinnen. Man kann diesen Welterfolg als reflexive Mitwirkung an der Konstruktion der einen, der Weltgesellschaft zugehörigen ,Welt' verstehen, als Beitrag zur Affirmation (und Steigerung) der Geltung des weltweit ,für alle' „vereinheitlichten Welthorizontes" (Luhmann 1971: 8ff.). Dafür aber kommt es nicht allein auf die globale Verbreitung und Rezeption von „global-speak" an, sondern vor allem auf den Inhalt der Globalisierungsbotschaft. Für das kollektive Bewußtsein weltweit ist es die (nicht nur frohe) Botschaft von der Erreichbarkeit aller für alle in derselben einen Welt und ,Weltzeit', die Botschaft von den immer intensiveren weltweiten Abhängigkeitsverhältnissen und auch die vom grenzenlosen' Wettbewerb als dem, mit Simmel gesprochen, „Kampf aller um alle". Solche Mitteilung aber betreibt ganz unmittelbar „the intensification of the consciousness of the world as a whole". Allerdings geht diese Rechnung zu glatt auf. Denn natürlich macht die Heterogenität der Zivilisationen, macht die Pluralität der Weltreligionen oder die Diversität der Kulturen - jede jeder anderen eine Fremdkuhur - einen Unterschied, was die jeweilige interne Rezeption und semantische Anschlußfähigkeit der Globalisierungsbegrifflichkeit angeht. Und natürlich gibt es, wie Jürgen Schriewer in diesem Band formuliert „länderspezifische Rezeptionsfilter". Zivilisation', .Kultur', ,Religion' und .Nation' besagen ja - im Hinblick auf die jeweils anderen Zivilisationen, Kulturen, Religionen und Nationen - allesamt zuerst Differenz, nämlich Grenzbildung und, wenn nicht Kommunikationsunterbrechung, so doch Reduktionen der Kommunikationsdichte mit Übersetzungsproblemen im Gefolge. Und was aber die interkulturelle semantische Diffusion von .Globalisierung' und die sich
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damit verbindenden Übersetzungsnotwendigkeiten angeht, so dürfte hier erst recht gelten: „many globalizations"! Es geht uns hinsichtlich dieses Plurals nun nicht darum, die kulturellen (und anderen) Differenzen stark zu machen (oder zu reden), und schon gar nicht darum, zu der Frage nach einer „global culture in the making" (Guillen 2001: 252ff.) bzw. nach einem „gradual disappearance of cultural diversity" (Wimmer 2001: 437ff.) Stellung zu nehmen. 90 Gemeint ist lediglich, daß wir es einstweilen für ganz unwahrscheinlich ansehen, daß die Globalisierungssemantik ihren Weg um die Welt (d. h. in die Sprachen der Welt) ,ungebrochen' und bedeutungskonstant nimmt bzw. genommen hat. Im übrigen könnte(n) gerade solche Globalisierung(en) von ,Globalisierung', was die je kulturoder länderspezifische Begriffsaneignung angeht, Anlaß geben, von Konzepten wie Hybridisierung oder Kreolisierung Gebrauch zu machen (Nederveen Pieterse 1994, Wimmer 2001: 438ff.). Auf das weltweite Feld, das damit semantisch aufgetan ist, können wir uns nicht begeben. Wir wollen also gar nicht erst fragen, inwieweit etwa G l o balisierung' in Europa, Lateinamerika oder Japan als Amerikanisierung angekommen' und rezipiert worden ist (vgl. Beck et al. 2003) oder wie man in China .Globalisierung' übersetzt91 und angeeignet hat. Wir beschränken uns auf ein aufschlußreiches islamisches Rezeptions- und ,Bearbeitungsbeispiel', in dem ,Globalisierung' zwar auf den menschheitsweiten Einheitssinn hin aufgegriffen wird, ansonsten aber nicht auf unbedingt guten Boden fällt und verdoppelt' wird. 92 Islamische Theologen verbinden ,Gobalisierung' einerseits mit westlicher Dominanz und der Fortsetzung der Kolonialgeschichte mit anderen Mitteln. Andererseits fühlen sie sich Die „global culture", soweit davon die Rede sein kann (Berger 2002), darf zu einem gewissen Teil wohl Übersetzungskultur (Renn 1998) genannt werden, wobei an dieser Stelle natürlich zuerst an die Übersetzungsproblematik zwischen Fremdsprachen gedacht ist; seit der babylonischen Sprachverwirrung sind alle Sprachen der Welt füreinander Fremdsprachen. 91 Vgl. zur Debatte der „Chinese Intellectuals" Yan 2 0 0 2 : 36ff.; ,Globalisierung', übersetzt als „Quanqiuhua", wird nachdrücklich aufgefaßt in Kontinuität zu Modernisierung/Entwicklung'; die Übersetzung des „global village" im Sinne von „global membership". Vgl. zur Geschichte des innerchinesischen .Modernisierungsdiskurses' Gransow 1995: 188ff. 92 Wir beziehen uns im weiteren auf verschiedene Beiträge des Doppelheftes „Globalisierung" der von der Islamischen Akademie Deutschland e.V. herausgegebenen Zeitschrift Islam im Dialog 3, 2 0 0 4 (Nr. 8/9); vgl. für das Weitere insbes. die Beiträge von Aries, Fayyad und Afrug. 90
durch den Begriff herausgefordert, von zweierlei Globalisierung bzw. Globalisierungstheorie zu sprechen, nämlich der Globalisierung ,westlicher Herkunft' eine (eigentliche und) ,eigensinnig' islamische an die Seite zu stellen. Der ,Globalisierung', wie sie westlicher-, zumal amerikanischerseits propagiert wird, wird dann eine „zweite Theorie" von .Globalisierung' gegenübergestellt, die sich ihrerseits an ein klassisches islamisches Theologoumenon anlehnt, welches Gott zur gesamten (einschließlich der .ungläubigen') Menschheit ins Verhältnis setzt und fitra (ein Singular) heißt. Fitra betont, durchaus universalistisch, die im Sinne des Korans eine, allen Menschen gemeinsame Disposition und Fähigkeit, „die göttlichen Botschaften zu hören und anzunehmen". Diese Aufnahmefähigkeit ist nicht an Ort und Zeit, nicht an Volk, Stamm oder Kultur gebunden, jedem Neugeborenen ist sie in die Wiege gelegt 93 , auch wenn sie bei den Ungläubigen dann ,anderskulturell' deformiert wird. Die Globalisierung erhält hier ein islamisch-theologisches Gegenstück, das natürlich theologisch präferiert wird, das aber eben auch einen menschheitsweit-globalen Aussagegehalt mit sich führt. 3.) Nimmt man den Globalisierungsbegriff als solchen, so teilt er, zumal vom einzelnen Nationalstaat her, eine Bewegung nach außen mit, die Ausdehnung etwa der Reichweiten des sozialen Handelns und seiner Orientierung ins Weltweite. Die Prozessualität, um die es dem Begriff geht, ist dann von einem je bestimmten Standort auf der Erdkugel aus konzipiert. 94 Nun enthalten aber alle näheren Beschreibungen von dem, was .Globalisierung' heißen soll, prominent ein Moment, das der Begriff, so wie er klingt, nicht unmittelbar aussagt und mit dem sich andere, ja gegenläufige Richtungsangaben verbinden. Gemeint ist das Moment von weltweit gesteigerter und verdichteter Interdependenz oder Vernetzung. Für Richard Münch (1998: 12) etwa besagt der Prozeßbegriff Globalisierung, „daß sich Interdependenzen unmittelbarer und schneller bemerkbar machen". Diesen Bestimmungen, die auch „interconnectedness", „Connectivity", „compression", „interpénétration" heißen können, wollen wir uns nun zuwenden. Wir tun es unter Zuziehung von Emile Dürkheims .sozialer Morphologie', nämAnders als den ungetauft sterbenden Christenkindern droht hier dem Säugling, der stirbt, damit nicht die Verdammnis. 94 Beisheim et al. (1999: 16ff., 18) definieren „gesellschaftliche Denationalisierung" in diesem .standortabhängigen1 Sinne als „Ausdehnung von verdichteten sozialen Handlungszusammenhängen über die Grenzen des Nationalstaates hinaus". 93
Hartmann Tyrell: Singular oder Plural - Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung und Weltgesellschaft lieh seiner Begrifflichkeit von Volumen und dynamischer Dichte (1961: 194ff., 1988: 314ff.). Mit beider Hilfe läßt sich, wie wir meinen, eine gewisse Unausgewogenheit des Globalisierungsvokabulars heilen. Bei dem Rückgriff auf Dürkheim ist uns durchaus bewußt, daß dieser eine der beliebtesten Adressen für den Vorwurf des methodologischen Nationalismus' ist. Dürkheim favorisierte in der Tat einen deutlich national gerahmten Begriff von .Gesellschaft' (etwa Bielefeld 2003: 51ff.). Er tat dies allerdings aufgrund einer expliziten Begriffsentscheidung, nämlich deshalb, weil er einen kosmopolitisch dimensionierten Gesellschaftsbegriff soziologisch (einstweilen) nicht für tragfähig hielt (vgl. nur Dürkheim 1984: 124ff.). Gleichwohl hat er die .dynamische Dichte' - im Unterschied zur ,moralischen Dichte' - nicht so konzipiert, daß sie an den nationalen Grenzen endete. 95 Auch wenn ihm diese Grenzen ,moralisch' wichtige Kontaktunterbrechungen waren, so war Dürkheim doch nicht blind für den grenzüberschreitenden Verkehr, und seine Morphologie mit ihrem Interesse an .inneren sozialen Milieus' ist - aller nationalgesellschaftlichen Präferenz zum Trotz - weder .nationalistisch voreingenommen' noch nationalstaatlich limitiert. Mit Bezug auf die (binnen-)nationale Sozialstruktur ist sie so gut verwendbar wie für die Analyse transnationaler Sozialverhältnisse. 96 Im übrigen stößt man auch bei James Coleman auf eine ,morphologische' Binnenbeschreibung des gesellschaftlichen Wandels in den USA seit den 1940er Jahren, die ganz nach Art des späteren Globalisierungsdiskurses abgefaßt ist. Es geht dabei um „changes in society", und man muß bei Coleman 95
Auf die Frage der ,moralischen Dichte' kam es Dürkheim mit Bezug auf Nation und Gesellschaft maßgeblich an. Wichtig ist dabei, daß Dürkheim (1961: 197f.) die „rein wirtschaftlichen Beziehungen" und den grenzüberschreitenden Verkehr, den sie darstellen, aus der Produktion ,moralischer Dichte' ausschloß. Das erlaubte es ihm, die Grenzen der Gesellschaft und die des wirtschaftlichen Verkehrs (des Marktes) als inkongruent zu behandeln: „Denn da die rein wirtschaftlichen Beziehungen den Menschen äußerlich bleiben, kann man wirtschaftliche Beziehungen unterhalten, ohne darum an derselben sozialen Existenz teilzuhaben. Die wirtschaftlichen Beziehungen, die sich über die die Völker trennenden Grenzen knüpfen, bewirken nicht, daß diese Grenzen zu existieren aufhören." 96 Cornelia Bohn (2005: 51f.) weist diesbezüglich auf den Begriff der Zivilisation bei Dürkheim und Mauss hin, der explizit gemeint war als supranationale soziale Milieubildung (mit moralischen Implikationen); vgl. auch Turner 1990: 346ff.
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nur die Opposition ,lokal/national' gegen die von .national/global' auswechseln, um bei den heutigen Globalisierungsdiskursen anzukommen. 97 Appliziert man nun die Durkheimsche Terminologie auf den Globalisierungsfall, so fällt auf: der Akzent, den der Globalisierungsbegriff setzt, der Unterschied also, den er machen will, liegt auf der Seite des Volumens. Die Ausweitung der Sozialverhältnisse ins Globale, über die nationalen Grenzen hinaus, ist die Information, die der Begriff ,für's erste' bietet. Die Botschaft, die sich mit Globalisierung' verbindet, ist darüber hinaus aber die von (weltweit) gesteigerter Interdependenz, die von der Zunahme und Intensivierung dynamischer Dichte' im Sinne Dürkheims. Die Dynamik der Globalisierung stellt sich dann aber nicht mehr als (vom nationalen Standort aus) .Bewegung nach außen' dar; vielmehr erscheint sie, wenn man sich etwa an die Formel „compression" hält, geradezu gegenläufig als (««ungerichtet. Diese Verdichtungsbotschaft (und ihre empirische Fundierung bzw. Prüfung) tritt bei vielen Autoren ganz in den Vordergrund, und das geschieht typisch in einer Sprache, die die (Sozial-)Präpositionen des zwischen und mit (in lateinischer Fassung) bevorzugt und vielerlei ,Inter'- und .Con'-Formeln zum Einsatz bringt; „interconnectedness" bietet gleich beides. 98 Das impliziert dann aber eine Perspektive, die mehrere Standorte in der Welt gleichzeitig den Blick nimmt und darauf achtet, was sich zwischen diesen verschiedenen Standorten tut bzw. was die sozialen Akteure dort mit- und gegeneinander tun. Ganz in diesem Sinnne besagt Globalisierung dann mit Ulrich Beck (2000: 80) etwa: „space-time compression and an increasing networklike interconnectedness between national societies". Aber soviel ist klar: würde sich mit .Globalisierung' nur die Aussage von der transnationalen Zunahme dynamischer Dichte oder gesteigerter Interdependenz verbinden, dann hätte man es mit einer soziologischen Trivialität zu tun. 9 9 97
Vgl. Coleman 1986: 1317. Dort heißt es mit Blick auf Märkte und Massenmedien: „These changes ... were ones that shifted the nation from a set of local communities, largely internally focused, to a place in which the focus was no longer local, but national." Siehe dort auch weiter! 98 Vgl. nur Held et al. 1999: 2: „Globalization may be thought of initially as the widening, deepening and speeding up of worldwide interconnectedness in all aspects of contemporary social life, from the cultural to the criminal, the financial to the spiritual." 99 Die differenzierungstheoretische Tradition des Faches etwa (Tyrell 1998) sagt das längst, indem sie die Korrelation von gesellschaftlichem Größenwachstum, Differen-
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Erst die Angabe des Volumens, die Geltendmachung der globalen Reichweite des Sozialraums, innerhalb dessen die Dynamik der Verdichtung sich (nunmehr) vollzieht, verschafft dem Begriff seine Pointe. Vom Volumen her gesehen geht es aber immer um eine B/rc«e«dynamik. Natürlich sind die komplexen Analysen der aktuellen „global transformations", wie sie Held et al. (1999) und Beisheim et al. (1999) vorgelegt haben, was Operationalisierung und Empirie, Messung und Methoden angeht, der Durkheimschen Morphologie weit überlegen. In konzeptioneller Hinsicht aber - also bezüglich der präziseren Bestimmung der sozialen Qualität und Beschaffenheit der betreffenden Prozesse - scheinen mir die Zugewinne so bedeutend nicht. Jedenfalls ist im Fach, blickt man auf die begriffliche Vorgabe der dynamischen Dichte, der Bestand an Begriffen und Metaphern seit Dürkheims Zeiten nicht unbedingt gehaltvoller oder anschaulicher geworden. Und man darf sagen: dem massiven Einsatz der der Inter- und Con-Formeln zum Trotz! Auszunehmen ist von solchem ,Stagnationsverdacht' aber wohl die Kommunikaizorasbegrifflichkeit, die um 1900 als solche nicht zur Verfügung war, nun aber in einem präzisen Sinn auch in die empirische Denationalisierungsforschung Eingang gefunden hat (Beisheim et al. 1999: 43ff.). Auszunehmen ist sicher die Netzwerkforschung, wie sie in diesem Band der Beitrag von Boris Holzer präsentiert, aber auch Hermann Lübbes „Globalisierung als Netzverdichtung" (1996: 46ff.) mit seiner genauen Beschreibung des Auseinandertretens von Verkehrs- und Informationsnetzen. Aber noch einmal: Zwar machen sich, was Senghaas (2003: 117f.) tadelt, die ,Globalisierungstheoretiker' über ihren Begriff vom Globus (bzw. der Welt) eher wenig Gedanken; gleichwohl bezieht ,die Globalisierung' ihr Pathos von der spezifischen Reichweite her, zu der die Theoretiker die dynamische Dichte in den letzten Jahrzehnten vorangetrieben sehen. Das soziale Volumen, das nun erreicht ist, ist eben das menschenmöglich äußerste zumindest einstweilen, solange noch alle Menschen Erdenbewohner sind. (Science Fiction ist darüber längst schon hinaus.) Daß damit weltweit alle Erdenbewohner - wiewohl mehr und weniger - sich in einer immer noch weiter zunehmenden dynamischen Interdependenz zueinander befinden, hat für sich etwas Beeindruckendes und Suggestives, und zierung und Interdependenz betont; diese Korrelation ist seit Herbert Spencer (ganz selbstverständlich) als transnationale verstanden. Erinnert sei nur an Spencers industriell society.
eben das artikuliert sich sprachlich in den erwähnten nachdrücklichen Singularen (teils mit expliziter quantitativer Bestimmtheit): „ one world", „the Single world society" (Archer), „ the global village" usw. Eng liiert mit diesen Kollektivsingularen ist ,Globalisierung', wie dargelegt, in den 1990er Jahren um die Welt gegangen. In der Perspektive aber, die diesem das Volumen akzentuierenden Begleitvokabular zugehört, verwandelt sich das sich verdichtende Geschehen zwischen den sozialen Akteuren in ein Binnengeschehen, in ein Geschehen innerhalb der „one world", diese zugleich (mit-) herstellend. Für die Globalisierungsrhetorik, soweit sie den weltweit integrierten' Sozialzusammenhang im Sinn hat, ist noch etwas anderes charakteristisch. Gerade da, wo sie den Singular pflegt und die nie dagewesene ,Globalität' beschwört, verführt sie (sich) zur Einheits- und Interdependenzüberschätzung. Wo sie das ganz Neue der Globalverflechtung und deren Tiefenwirkungen herausstreicht 100 , wo sie dem neuen Zeitalter die durchgehende globalistische Bestimmtheit bescheinigen und (schon deshalb) die ,real existierende' Kohärenz übertreiben muß, da manövriert sie sich geradezu zielstrebig in die Nähe der Behauptung von ,vollständiger Interdependenz'. 1 0 1 Daß eine solche Sicht, die alles mit allem eng gekoppelt sehen muß, sich mit dem Singulargebrauch gern zusammentut, versteht sich. Abermals ist es Andreas Wimmer (2001: 439), der sich gegen solche globale Integrationsüberschätzung am schärfsten ausgesprochen hat, nämlich gegen Globalisierung „pereeived as a unique and novel, uniform and directed process leading to an integrated world society following the same principles of Organization." Es darf hinzugefügt werden, daß gerade die Systemtheorie (als SystemAJmweltTheorie) lehrt, es sei für alle Systembildung - auch für alle soziale Systembildung innerhalb des (Welt-)Gesellschaftssystems - von Interdependenzunterbrechungen, von der „Entkoppelung von 100 Vgl., ganz willkürlich gewählt, nur eine Formulierung von Albrow 1998: 419: „Kurzum: die Globalisierung betrifft die gesamte Gesellschaft sowie die Grundlage des menschlichen Handelns im sozialen Miteinander. Sie impliziert eine Transformation der Gesellschaft." Die Hervohebungen von mir (H. T.). 101 Davor hat in makrosoziologisch-methodologischer Hinsicht - bezogen auf ,nationale Gesellschaften' - Erwin K. Scheuch (1969: 163f.) schon in den späten 1960er Jahren eindringlich gewarnt, und erst recht m u ß man Robert K. Mertons Funktionalismuskritik (1957: 19ff.), seine Kritik der drei funktionalistischen Postulate nämlich, in diesem Sinne lesen.
Hartmann Tyrell: Singular oder Plural - Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung und Weltgesellschaft Wechselwirkungen", wie Luhmann gelegentlich sagt, auszugehen (präzise: Drepper 2003: 232ff.). Wir können uns damit, wie Uwe Schimank in diesem Band so schön formuliert, dem Nationalstaat (und seinen Grenzen) als „Interdependenzunterbrecher" innerhalb des globalen Sozialsystems zuwenden. 4.) ,Die Globalisierung' hat - von ihrem Interdependenzsteigerungs- und Verdichtungssinn her - einen bislang nur unzureichend sichtbar gemachten Gegen-, ja Feind begriff-, den Nationalstaat, fast nur im Singular gebraucht. Zu diesem verhält sich die Globalisierungsrhetorik direkt negatorisch, und sie ist auf den Nationalstaat so nachdrücklich (im Negativen) fixiert, daß man, wie Matthias Koenig (in diesem Band) nahelegt, Anlaß hat, den Verdacht des methodologischen Nationalismus' auf sie selbst auszudehnen. 1 0 2 Teilweise regiert eine Art Nullsummenspiel: Was ,die Globalisierung' gewinnt, das verliert der Nationalstaat. Globalisierung ist dann ganz nah an „Denationalisierung" (Beisheim et al. 1999), und die Literatur zur Frage „Does it undermine the authority of the nation-state?" (Guillen 2001: 247ff.) ist inzwischen kaum noch überschaubar. Auch dieser Band nimmt das Thema wiederholt auf. Wir wollen im Zuge unserer Sprachgebrauchsbeobachtung an dieser Stelle die Frage nach der Schwächung des Nationalstaats nur streifen und beziehen sie mit Schimank (in diesem Band) auf das staatliche Grewzregime, nämlich auf die staatliche Potenz zur Interdependenz- und Kommunikationsunterbrechung. Vorweg sei gesagt: das erwähnte Nullsummenspiel, was Nationalstaat und Globalisierung angeht, kann auch zeitlich akzentuiert sein, etwa so, wie Ulrich Beck globalisierungsbezogen die Akzente setzt: Die Moderne zerfällt in zwei Zeitalter, deren erstes ein nationalstaatlich bestimmtes war; es wurde inzwischen durch ein zweites ,reflexiv' globales bzw. kosmopolitisches abgelöst (Beck 2000: 90ff.). Pointierter noch die neoliberale Globalisierung: wenn sich mit ihr (irgend)etwas Visionäres verbindet, dann ist es die Verkündigung vom kommenden „Ende des Nationalstaats" (Jenner 1997: 228ff., mit Bezug auf Robert Reich). Deutlich hat man als Soziologe den Eindruck, daß hier (teils wohl unwissentlich) ein ideenpolitischer Streit wiederaufgenommen wird, den im 19. Jahrhundert Herbert Spencer „gegen den Staat" geführt hat, ein Streit, an dem er 102 M a n darf die Globalisierungsfcnii/s hier teilweise mit einbeziehen; vgl. n u r Bourdieu 2 0 0 4 : 208ff., w o der Gegensatz von „globalization" und N a t i o n a l s t a a t derselbe, n u r die Wertung gegenläufig ist.
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zum Ende des Jahrhunderts im Angesicht des zeitgenössischen Wettrüstens zwischen den europäischen Großmächten verzweifelte. Die Vision (und Großprognose), die vor Spencers alternden Augen scheiterte, war die des evolutionären ,Absterbens' von Staat und „militant society", zugleich aber und positiv die von der weltweit pazifizierenden Durchsetzung der („commercial" oder) „industrial society" gewesen (Wiltshire 1978: 243ff.). Soziologiehistorisch ist aber hinzuzufügen: wenn es innerhalb der europäischen Soziologie vor und um 1900 einen ,locus classicus' der Zusammenführung von Gesellschaft und Nationalstaat gibt, dann findet man ihn - in direkter Reaktion auf Spencer - in Dürkheims Arbeitsteilung (1988: 256ff., 276ff., auch Tyrell 1985: 193ff., 221ff.), in dem von Parsons berühmt gemachten Kapitel zur ,Vertragssolidarität'. Dieses Kapitel wendet sich eben mit Nachdruck gegen die Spencersche These und Prognose von der zunehmenden Dominanz der ,industrial society', und statt den Staat auf den Absterbeetat zu setzen, insistiert Dürkheim (empirisch) auf dem Wachstum der Staatsfunktionen in der Moderne. Vor allem aber läßt er hinsichtlich der Trägerschaft der „noncontractual elements of contract" Staat und Gesellschaft ganz unmittelbar koinzidieren. Allerdings: bei Spencer wie bei Dürkheim ist eine Nullsummenvorstellung im Spiel, der die heutigen Globalisierungshistoriker im Rückblick auf das ,lange 19. Jahrhundert' direkt widersprechen: „die Entstehung der Weltwirtschaft" und die ,nationale' Konsolidierung der Nationalstaaten (in Europa und Amerika) fallen in dieselbe Zeit, beider Wachstum korrelierte positiv', und die Staaten waren u.a. durch internationale Kollektivverträge an der (nicht nur ökonomischen) „Globalisierung vor 1914" maßgeblich und tätig beteiligt (Fischer 1975, Osterhammel / Petersson 2003: 60ff.; vgl. auch Borchardt 2004, Petersson 2004). N u n ist aber, blickt man auf die weltweit hergestellten Interdependenzen, der Nationalstaat unter den weltgesellschaftlichen ,Subformationen' nicht der einzige Kandidat, mit dem sich stärkere Interdependenzunterbrechungen verbinden. 1 0 3 Gleiches gilt ja für die Zivilisationen, etwa für die sieben Großzivilisationen, deren Verhältnis zueinander Samuel Huntington so konfliktbetont beschrieben hat (vgl. 10i Vgl. die Liste mit den „wichtigsten expliziten Lösungsvorschägen", die L u h m a n n (1971: 6, A n m . 9) zu der Grenz- und Dissoziationsfrage (eher beiläufig) z u s a m m e n gestellt hat: „territoriale Grenzen des politischen Systems; kulturelle Grenzen; Schwellen der K o m m u n i k a t i o n s - und Interaktionshäufigkeit; Unterschiede relativer Interdependenz des H a n d e l n s " .
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nur Giesen 1996). Und nicht minder impliziert, ja meint das „Prinzip kultureller Diversität" (Stichweh 2000: 19ff., 43ff.) - also der Plural der Kulturen - die Unterbrechung von Kommunikationsund Verstehensmöglichkeiten; es geht dann um ,Fremdheit' und „Grenzen des Verstehens" (Kogge 2002). Im Verhältnis dazu ist der klassische Nationalstaat, was sein Grenzregime angeht, der auffällige Fall einer organisierten, also konsequent und intendiert betriebenen Kontakt- und Interdependenzunterbrechung, schon zumeist in sprachlicher, in rechtlicher und nicht zuletzt in ökonomischer Hinsicht. Gerade dies Grenzregime gerät nun, empirisch breit nachgewiesen, angesichts wachsender Verkehrsdichten und Mobilität (Beisheim et al. 106ff.) unter Globalisierungsdruck. Und nicht nur der seine territorialen Außengrenzen und seine Bevölkerung (von innen her) kontrollierende Nationalstaat ist tangiert; ebenso ist es der Wohlfahrtsstaat. Das demonstriert in diesem Band - bezogen auf die Frage nach den (nationalen oder internationalen) Reichweiten von »Solidarität' - vor allem der Beitrag von Richard Münch. Der Wohlfahrtsstaat ist ja der Fall von (weitgehend) legitimem Partikularismus und von Bi'wnewmoral, mit erklärter Präferenz eben für die Wohlfahrt der eigenen Staatsbürger. Die Globalisierungsbotschaft ist aber nicht nur die, „daß viele ehedem wichtige Systemgrenzen bedeutungslos werden" (Stichweh 2000: 27), sie ist gerade wohlfahrtsbezogen die von der „nachlassend e ^ ) Integrationskraft des Nationalstaates" (Münch 1998: 9ff.). Und vollends obsolet scheint auf der ökonomischen Seite ein Denken, das von , Volkswirtschaften' (gedoppelt gar: von „nationalen Volkswirtschaften") ausgeht (Albrow 1998: 414ff.). Noch erheblich weitergehend ist - „gegen den Staat" gerichtet - Entgrenzung (in einem ideologisch zu nennenden Sinne) das Programm auf Seiten der ,hyperglobalistischen' Neoliberalen (Held et al. 1999: 3ff.). Hier sind die staatlichen Grenzen, soweit sie auf den wirtschaftlichen Verkehr bezogen geltend gemacht werden, ein Ärgernis, das man entweder anfeindet oder (prognostisch) ,klein redet'. Bei Kenichi Ohmae (1995: 5) klingt das so: „traditional nation states have become unnatural, even impossible business units in a global economy". Das .Natürliche', das verbleibt, ist der Weltmarkt, und das, was kommen soll, ist „the emergence of a Single global market" - als „borderless world" (Ohmae 1990), ohne Interdependenzunterbrechung an den Staatsgrenzen. Und dementsprechend bekommt der Nationalstaat dann denkbar schlechte Prognosen. Wo Herbert Spencer um 1900 resignierte, da gehen die Hyperglobalisten um 2000 umso energischer in die Offensive.
Nochmals: das Spiel gegen die staatlichen Außengrenzen ist eines, das bevorzugt im Singular geführt wird: „die Globalisierung" gegen „den Nationalstaat"! Dabei tritt die erstere als übermächtige Umwelt auf, und gemeint sind damit ,der Weltmarkt', ,die Märkte' und insbesondere die internationalen Finanzmärkte; ihnen gegenüber befindet sich ein im Standortwettbewerb isolierter und geschwächter Nationalstaat. Und allemal hat ,die Globalisierung' das Zeug dazu, das Interdependenzunterbrechungspotential des letzteren zu unterminieren. Die ,Binnenwirtschaft' (innerhalb der nationalstaatlichen Grenzen) verliert dann mehr und mehr ihren Bin«ewcharakter, und nicht zuletzt steht (etwa in Westeuropa) der Wohlfahrtsstaat als Opfer ,der Globalisierung' da. Unserer Sprachbeobachtung fällt an der Beschreibung dieses ungleichen Kampfes nicht nur die doppelte Nutzung des Singulars auf, sondern auch die des bestimmten Artikels auf der Globalisierungsseite unter Verzicht auf jede nähere adjektivische Spezifikation, unter Verzicht auf den Zusatz ökonomische Globalisierung' (oder spezifischer noch: Globalisierung der Finanzmärkte). Die Ökonomen, die diese Sprache sprechen, tun all dies vielleicht nicht mit Bedacht, wohl aber mit Methode. ,Die Globalisierung', mit der nur die ökonomische gemeint ist, ist ihnen ein kohärenter Prozeß, der für den (einzelnen) Nationalstaat von außen kommt: unwiderstehlich, unaufhaltsam, als externer Zwang wirkend. Pierre Bourdieu (2004: 54ff.) sah hier aus guten Gründen eine kommunikative Strategie am Werk, die er unter Machtverdacht setzte. Wir haben seinen Widerspruch gegen den „Mythos Globalisierung" oben schon zitiert. 104 Man braucht nun aber nur den Sprachgebrauch zu variieren, und schon stellen sich die globalen Dinge deutlich anders dar. Wir schlagen diesbezüglich zwei (in der Sache eng zusammenhängende) einfache Modifikationen vor: Die Empfehlung ist einerseits, auf der Seite ,des Nationalstaates' den Singular zu verabschieden, hier also dem segmentären Prinzip ,der Weltpolitik' Rechnung zu tragen und dementsprechend in den allein sachadäquaten Plural zu wechseln. Und wir schlagen andererseits vor, statt von der Globalisierung' von ökonomischer Globalisierung zu sprechen und neben dieser auch eine politische bzw. mit von Trotha (2003: 86f.) eine „des Staates" zuzulassen. Wenn man letzteres tut, dann stößt man über die ganze bewohnte Erde 104 Vgl. zur Globalisierung als „unser aller Schicksal" usw. etwa auch Görg 2004: 108f.: sie wird „zur ,self fulfilling prophecy'. Was als Sachzwang daherkommt, verdeckt gerade die darin angelegten politischen Strategien".
Hartmann Tyrell: Singular oder Plural - Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung und Weltgesellschaft hinweg auf die Vielzahl der Nationalstaaten - im Isomorphie- und Wiederholungsssinne: Staat neben Staat neben Staat. l o s Korrigiert man nun den Sprachgebrauch in diesem den Plural (der Staaten) herbeiführenden Sinne, dann verbietet sich die Rede vom Kampf ,der Globalisierung' gegen ,den Nationalstaat' ebenso wie jene von neoliberaler Seite immer wieder suggerierte System/Umwelt-Konstellation, in der der geschwächte Nationalstaat ganz unmittelbar der übermächtig-bedrohlich ihn umgebenden Marktglobalität ausgeliefert ist. Die Rede sollte - globalitätsadäquat - stattdessen von der Globalisierung der Märkte hier und der politischen Globalstruktur der den Erdkreis überziehenden Staaten dort sein. Und was die Machtbalance zwischen den beiden Seiten angeht, so sollen hier mögliche Gewichtsverschiebungen zugunsten der ersteren keineswegs in Abrede gestellt werden; wohl aber wird man die Sachlage denn doch wohl um einiges komplexer einzuschätzen haben, als es die besagte Nullsummenkonstellation nahelegt. Vor allem aber tut man gut daran, im differenzierungstheoretischen Sinne von der Inkongruenz der Strukturen von Weltwirtschaft und Weltpolitik auszugehen.
7. Gesellschaft Näheren 7.1
und We/tgesellschaft des
Gesellschaft
1.) Mit der soziologischen Aneignung von Globalisierungsbegrifflichkeit und -perspektive verbindet sich seit 1990 eine bestimmte Erzählung der Soziologiegeschichte, die großen Anklang gefunden hat. Diese Geschichte läßt die Soziologie im 19. Jahrhundert universalistisch' beginnen, sieht sie dann aber in der klassischen Phase um 1900 in eine Mehrzahl von „national sociologies" überführt; aus diesen nationalen Bindungen führt der Weg der Disziplin dann nach 1945 über die Etappen von „Internationalism" und „Indigenisation" zum Ende des 20. Jahrhunderts in die .finale Phase" von „Globalisation". So die wiederholt nacherzählte Er1 0 5 Wo State- und nation-building nicht gelingen wollen oder scheitern, da fällt das, wie schon gesagt, als defizitär, als Mangel an Staat(lichkeit) und damit, nicht nur in der UN-Beobachtung, als internationales Problem auf. Daß es heute andererseits „Staatlichkeit" auch oberhalb der Staaten gibt, ist die These des Beitrags von Mathias Albert in diesem Band. Daß Analoges auch für das Rechtssystem gilt, ist unter dem Titel „globaler Konstitutionalismus" die These von Hauke Brunkhorst in diesem Band.
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Zählung Martin Albrows (1990: 6ff.). 1 0 6 Wir wollen diese etwas zu teleologisch geratene Geschichte hier nicht kritisieren, sondern sie nur anreichern mit Eindrücken zur Geschichte des Gesellschaftsbegriffs, eben des Begriffs, mit dem die Soziologie im 19. Jahrhundert ,Karriere gemacht' hat. 1 0 7 Die spezifisch deutsche Begriffsgeschichte von .Gesellschaft' wird in diesem Band von Klaus Lichtblau detailliert nachgezeichnet; wir fügen dem einige Beobachtungen hinzu, die auch auf außerdeutsches Terrain führen. Die Leitfrage ist dabei die nach der Kongruenz bzw. Inkongruenz von Gesellschaft und Staat. Und neben dieser Reichweitetrage geht es weiterhin um die von Singular und Plural. Es hat, was Staat und Gesellschaft angeht, der kritischen Formel des ,methodologischen Nationalismus' nicht bedurft, um auf die Idee von der „klassischein) Prägung des Gesellschaftsbegriffs auf das politische System" zu kommen (Luhmann 1972a: 333). Diese Prägung, die hier nicht zuletzt deshalb interessiert, weil sie den Singular ,/e¿>«/sgesellschaft. In den Sammelbänden von Pongs (1999: 27ff.) und dem von Kneer et al. (1997: 184ff.) taucht nun als eine unter den vielen Bindestrichgesellschaften auch die Weltgesellschaft auf. Aber so, wie diese zumal in der Systemtheorie verstanden ist, gehört sie dort nicht hin, ist sie dort ,in der falschen Gesellschaft'. Denn diese ,Bindestrichgesellschaft' will zweierlei auf keinen Fall sein: eine unter vielen oder aber „pars-pro-toto"-Gesellschaft. Vielmehr will sie das ,umfassende Sozialsystem' als solches bezeichnen, mit der Implikation, daß das umfassende
Sozialsystem in der Moderne von globaler Konstitution, eben We/fgesellschaft ist, und begrifflich strikt im Singular zu gebrauchen. ,Die moderne Gesellschaft' ist nicht im Sinne eines Teilaspekts oder Zusatzsinnes ,Weltgesellschaft', sie ist es konstitutionell: Gesellschaft und Weltgesellschaft fallen ineins. 7.2 Weltgesellschaft - systemtheoretisch Es fehlt in der Soziologie nicht an Stimmen, die sich mit Nachdruck für den „Abschied von der klassischen Gesellschaftstheorie" (Giesen) ausgesprochen haben. Niklas Luhmann dagegen hat seit den 1960er Jahren konsequent an der Entscheidung festgehalten, „die Gesellschaftstheorie als den Abschluß oder gar als den Kern soziologischer Theorie zu verstehen" (Stichweh 2001a: 25). Mit dieser Position steht die Systemtheorie mittlerweile eher isoliert da, und ironisch könnte man sagen, daß sie nach dem Kollaps der marxistischen Großtheorie auf dem Projekt ambitiöser Gesellschaftstheorie sitzen geblieben ist. In dieser Konstellation aber hat die Systemtheorie den makrosoziologischen Anspruch noch höher geschraubt und insistiert auf Weltgesellschaft, auf einer Gesellschaft also, „für die Luhmann keinen Plural kennt" (Firsching 1998: 168). Dieser Gesellschaftstheorie, die in diesem Band wiederholt, insbesondere in dem dem Gesellschaftsbegriff gewidmeten Beitrag von Rudolf Stichweh, zur Sprache kommen wird, wollen wir uns nun abschließend zuwenden. Wir tun es strikt beschränkt auf Singular/Plural-Probleme, die hier nun auf einen besonderen Höhepunkt gelangen. Unzweifelhaft hat das mit Luhmanns sprachlich-reflexiver Meisterschaft zu tun. Man sollte im übrigen vorausschicken: In der Luhmannschen Gesellschaftstheorie ist der Nationalstaat nicht der natürliche Kontrahent' des Globalen; er fungiert in dieser nur als segmentäres Subsystem des weltgesellschaftlichen Subsystems ,Weltpolitik'. 126 Die Möglichkeit der Direktentgegensetzung von ,der Weltgesellschaft' und ,dem Nationalstaat' entfällt damit, und auch die von Uwe Schimank in diesem Band wohlbedacht praktizierte Gegenüberstellung der einen Weltgesellschaft und der vielen „Nationalgesellschaften" (innerhalb der ersteren) ist ,theorieoffiziell' nicht zugelassen. Mit anderen Worten: die Singular/Plural-Probleme, die es nun zu verhandeln 126 Der Systemtheorie ist hinsichtlich des Nationalen eine gewisse ,Sehschwache', um nicht .Blindheit' zu sagen, angelastet worden; vgl. nur H a h n 1993, Koenig 2003: 52ff.
Hartmann Tyrell: Singular oder Plural - Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung und Weltgesellschaft gilt, entstammen nicht der Konstellation ,Nationalstaat-versus-Gesellschaft'. Sie beziehen sich stattdessen vor allem auf eine Vorher/Nachher-Relation: erst Gesellschafte« und dann nur noch Gesellschaft. Und das Problem ist dann vor allem das der Singularität der Weltgesellschaft (als Gesellschaft). Wir wollen die Luhmannschen Dinge in vier Schritten abhandeln. Deren erster bezieht sich auf den kommunikativen Zusammenhalt' und die Grenzen der Gesellschaft (als Kommunikation) sowie bezüglich der Grenz- und Umweltfrage auf den Gegensatz zwischen der einen neuzeitlichen' Weltgesellschaft und den vielen vormodernen Gesellschaften. Der zweite Schritt konfrontiert Luhmanns .Gesellschaft', für die alles Soziale und alle Differenzierung sich gesellschafts/nier« vollzieht, mit F. H. Tenbrucks nachdrücklicher Kritik an „£/wgesellschaftsmodellen". Der dritte Schritt führt auf die Welt der Gesellschaft und auf einen von dort her unvermeidlichen und bei Luhmann (gelegentlich) auch exekutierten Wechsel in den Plural „Weltgesellschaften". Der vierte Schritt schließlich behandelt die Probleme des strikten Singulars, unter dem Luhmann die einzelnen weltgesellschaftlichen Funktionssysteme zum Thema macht. Wir wählen dabei mit Bedacht das Beispiel „der Religion der Weltgesellschaft"; wir tun es aber gerade im Angesicht des Plurals (und der Diversität) ,der Weltreligionen'. 1.) Die beiden evolutionstheoretischen Werke von Talcott Parsons tragen den Titel „Societies" (1966) und „The System of Modern Societies" (1971). Die Titel zeigen ein Nacheinander an; der Rückblick auf die vormoderne Welt registriert eine Vielzahl ,primitiver' bzw. hochkultureller Gesellschaften, während der zweite Titel für die ,modernen Gesellschaften' den Plural beibehält, ihnen aber einen Singular („das System") voranstellt. Wir brauchen diesen Kontrast hier nicht näher zu erläutern; alles Nötige dazu ist in diesem Band in den Beiträgen von Bettina Mahlert und Rudolf Stichweh dargelegt. Hier interessiert nur, wie sich - weitgesellschaftsbezogen - Niklas Luhmann in der gleichen Angelegenheit verhalten hat. Auch bei ihm stoßen wir ja auf auf den Gegensatz von zuerst Plural und dann Singular. Anders aber als Parsons läßt Luhmann die (früheren) Gesellschaften mit der beginnenden Moderne in die We/igesellschaft übergehen, in nur noch eine Gesellschaft. Luhmann (1975: 11) hat das gelegentlich so formuliert: „Gesellschaft ist das umfassende Sozialsystem aller kommunikativ füreinander erreichbaren Handlungen. In der heutigen Zeit ist die Gesellschaft Weltgesellschaft. Es gibt nur noch ein einziges Gesellschaftssystem. In
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früheren Zeiten war dies jedoch anders. Wir brauchen deshalb einen Begriff, der sowohl die Einzigkeit als auch eine Mehrheit von Gesellschaftssystem (sie! - H.T.) bezeichnen kann." Das .einzige' und globale Gesellschaftssystem soll in demselben Sinne und ebenso .Gesellschaft' sein, wie das die vielen älteren Gesellschaften vor ihm waren. Weltgesellschaftsbezogen ist dabei wichtig, daß der Weltbegriff, der hier zum Zuge kommt, eine „Territorialkategorie" ist, die, wie Cornelia Bohn (2005: 57) sagt, „tatsächlich die räumlich weltumspannende Kommunikation im Blick hat". Die Welt, die hier gemeint ist, heißt bei Luhmann bevorzugt „Erdball". Kommunikation ist bei Luhmann - zumal nach der .autopoietischen Wende' - die Antwort auf die Frage nach dem Wie des Operierens der Gesellschaft. Gesellschaft vollzieht sich als Kommunikation, und die Grenzen kommunikativer Erreichbarkeit sind die Grenzen der Gesellschaft, heute also: der einen Gesellschaft als Weltgesellschaft. .Gesellschaft' schließt damit alle Kommunikation ein und läßt sie (nur) auf der Innenseite des umfassenden Sozialsystems geschehen. Außergesellschaftlich fällt dann nichts Soziales mehr an; auch kann es keinerlei Komunikation geben, die .grenzüberschreitend' Brücken in die außersoziale Umwelt schlüge (1997: 149ff.). Was die Weltgesellschaft angeht, so hatte der im 19. Jahrhundert so geläufige, viel schlichtere Begriff des .Weltverkehrs' bezüglich der Verschiebung der kommunikativen Grenzen teilweise Ähnliches im Sinn; nicht zuletzt zielte er auf die technisch ermöglichte Kommunikationsbeschleunigung und -Verdichtung jener Zeit (Tyrell 2004: 40ff., 94ff.). Luhmanns Formel der kommunikativen Erreichbarkeit nun hält sich für eine technische Akzentuierung ebenso offen wie für ein massenmediales Verständnis, für weiträumigen Individual- und Reiseverkehr so gut wie für computervermittelte Kommunikation. Rudolf Stichweh (2000: 239f., 256ff.) hat darüber hinaus die indirekten Erreichbarkeiten herausgestellt und in diesem Zusammenhang das small world-Theotem ins Gespräch gebracht; an diesen netzwerktheoretischen Vorschlag schließt in diesem Band der Beitrag von Boris Holzer an. Weltgesellschaftsbezogen sieht er in „Connectivity", in .globaler Erreichbarkeit' ein .soziales Band', das leichter und elastischer ist als das, was die herkömmlichen Konzepte von Integration und Solidarität soziologisch im Sinn haben. Das paßt gut zu den schwachen' Strukturen eines „Gesellschaftssystems", das als globales, wie Luhmann (1972a: 337) betont, ohne die (von Parsons geforderte) „Eigenschaft eines handlungsfähigen sozialen Körpers, einer .Kollektivität'" auskommen muß.
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An dieser Stelle gilt es, auf die Kritik zu sprechen zu kommen, die Horst Firsching (1998) an dem auf Kommunikation und kommunikative Erreichbarkeit setzenden Gesellschaftsbegriff geübt hat, wie ihn insbesondere Luhmanns Spätwerk gepflegt hat. Diese Kritik, die zum Teil von den gleich anzusprechenden gesellschaftsskeptischen Aufsätzen Tenbrucks inspiriert ist, hat das Singular/Plural-Problem deutlich vor Augen. Sie attackiert nicht die Gesellschaft im Singular; im Gegenteil: den Begriff, der „die Gesellschaft nur in sich selber kommunizieren läßt" (Luhmann 1997: 96), sieht sie in der Weltgesellschaft eingelöst, aber eben nur in ihr. Was Firsching in Frage stellt, ist der Plural der der Weltgesellschaft historisch voranliegenden Gesellschaften' - jede von ihnen mit eigener Sozialexistenz (je für sich). Diesbezüglich schafft die kommunikative Geschlossenheit, die der Gesellschaftsbegriff fordert, in der Tat Probleme. Zumal im Blick auf die historisch-hochkulturellen Sozialverhältnisse führt es empirisch in erhebliche Schwierigkeiten, geschlossene Gesellschaften' im Sinne einer „unverbundenen Pluralität" (K. Gilgenmann) und kommunikationslos im Verhältnis zueinander zu denken. 1 2 7 Firsching führt das, nah an Luhmann, beispielreich vor, und er lenkt den Blick auch auf die zeitlichtransformatorischen Nahtstellen, d.h. darauf, wie man das Enden einer Mehrzahl von Gesellschaften, also ,das multiple Aufhören' von deren je einzelner Sozialexistenz, und zugleich den Anfang der weltweit nur noch einen Gesellschaft in terms von Kommunikation näher zu bestimmen hat. Was Firsching also bestreitet, ist genauer betrachtet die Tragfähigkeit jenes einen Begriffs, der „sowohl die Einzigkeit als auch eine Mehrheit von Gesellschaftssystem be-
127
„Das H a u p t p r o b l e m ist, d a ß die Kopplung der Gesellschaftsgrenze an die Kommunikationsgrenze o f f e n b a r nicht d u r c h f ü h r b a r u n d nicht d u r c h h a l t b a r ist" (Firsching 1998: 170). D a ß L u h m a n n die damit angesprochenen Probleme d u r c h a u s registriert hat, ist insbesondere seiner jüngst (posthum) publizierten Vorlesung zur Gesellschaftstheorie zu entnehmen; vgl. L u h m a n n 2005: 65ff. O b er hier auf die noch anzusprechenden .gesellschaftskritischen' Aufsätze Tenbrucks reagiert, m u ß offen bleiben; jedenfalls k a n n L u h m a n n hier u . a . sagen, „dass alle Gesellschaften, ich nehme an, bereits spätarchaische Gesellschaften, es mit K o m m u n i k a t i o n e n zu tun haben, die die eigenen Grenzen überschreiten, etwa mit militärischen Attacken, selbst produzierten Angriffen und mit H a n d e l . " Und er fügt hinzu (ebd.: 65f.): „ M a n k ö n n t e d a r a u s eine Widerlegung der Kommunikationstheorie ableiten." Es darf hinzugesetzt werden: frühere Äußerungen L u h m a n n s (etwa 1972a: 334f.) lassen ein kontaktfähiges, sogar .nachbarschaftliches' Nebeneinander von Gesellschaften durchaus zu.
zeichnen" soll (Luhmann 1975: 11). Denn der Unterschied zwischen den Gesellschaften, in deren Umwelt es - zumindest in der Beobachtung des Historikers - andere Gesellschaften gab, und der heutigen einzigen Gesellschaft, die eine nur noch außersoziale Umwelt hat, fällt kommunikationsbezogen womöglich so schwer ins Gewicht, daß sich an dem einen Gesellschaftsbegriff für beide Fälle nicht gut festhalten läßt. 2.) Friedrich H. Tenbruck hat in seiner verspätet publizierten Habilitationsschrift (1986: 250ff.) und ebenso in der noch immer eindrucksvollen Skizze mit dem Titel Gesellschaft und Gesellschaften (1972) eine Gesellschaftstypologie vorgestellt, die auf eine Sequenz von drei Gesellschaftstypen setzt: „primitive Gesellschaft", „Hochkultur" und „moderne Gesellschaft". Deutlich sind die Affinitäten zur Luhmannschen Gesellschaftsbeschreibung, und in deren Nähe führt erst recht der Umstand, daß „soziale Differenzierung" die „zentrale Variable" für die Typologie darstellte (Tenbruck 1972: 54ff.; vgl. auch Tyrell 2001). 1 2 8 Es ist nun bemerkenswert, daß Tenbruck in der Folgezeit - wohl unter dem Einfluß des Werks Max Webers - zu dieser Typologie auf Distanz gegangen ist, und mehr noch: er ist gegen zentrale Prämissen ihrer Konstruktionsweise geradezu Sturm gelaufen. Schon in der besagten Skizze deutet sich die Richtung des Protests an. Hier macht Tenbruck (1972: 55) gleich zu Beginn die Einschränkung, bei den drei Gesellschaftstypen gehe es „grundsätzlich um Ein-Gesellschafts-Modelle, bei denen die Wirkung des Kontaktes mit anderen Gesellschaften nicht veranschlagt wird." Ausdrücklich wird dann aber festgehalten, es gebe durchaus „Fälle, in denen mit Mehr-GesellschaftsModellen gearbeitet werden müßte." Diese Fälle erscheinen hier noch als Ausnahme; in den späteren Gesellschaftsaufsätzen Tenbrucks dagegen gelten sie als der Regelfall.119 Und diese Akzentverschiebung verbindet sich mit massiven Angriffen auf den soziologischen Gesellschaftsbegriff, zunächst vor allem auf den Durkheimschen (Tenbruck 1981), dann auf die entsprechenden soziologischen Denkgewohnheiten insgesamt, einschließlich auch der Luhmannschen ,Weltgesellschaft' (Tenbruck 1989). In der Sache geht es um die „gesellschaftliche Entwicklung", also um ,Evolution' im Sinne von sozialem Größenwachstum, von Komplexitätssteigerung
128 „Die Gesellschaftstypen werden gebildet, indem die soziale Differenzierung variiert w i r d " (Tenbruck 1972: 55). 129 Und umgekehrt gilt dann: „Die .Gesellschaft', wie sie die Soziologie als selbständige Einheit versteht, ist eher ein seltener Grenzfall" (Tenbruck 1989: 428).
Hartmann Tyrell: Singular oder Plural - Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung und Weltgesellschaft und Differenzierung. Und abermals ist Tenbrucks Botschaft (1989: 437ff.) die von der notwendigen „Revision des soziologischen Begriffsapparates", eines Begriffsapparats, der die Soziologie u.a. auf ein Denken von „distinkten Gesellschaften" festlegt. Tenbruck trägt sein Argument nun einerseits als Plädoyer für die Gesellschaft im Plural vor, d. h. für „Mefcr-Gesellschafts-Modelle", die in der Umwelt von Gesellschaften andere Gesellschaften bzw. „Vergesellschaftungen" zwischen ihnen vorsehen (1989: 426ff.). Gegenstand des Anstoßes ist der Singular des „Ew-Gesellschafts-Modells" und „der Gesellschaftsgeschichte". 130 Andererseits argumentiert Tenbruck in der Sprache von .Innen und Außen'; er plädiert für die grundsätzliche Berücksichtigung der gesellschaftlichen „Außenlagen" und tut dies gegen eine Soziologie, die alle soziale Entwicklung - etwa im Sinne von ,sozialer' als ,interner Differenzierung' - nur innerhalb der Gesellschaft und als Binnengeschehen vorsieht und die sich durch den ,umfassenden' Gesellschaftsbegriff eben darauf festgelegt hat. Das Resultat der Überlegungen, die zumal die klassischen Hochkulturen im Blick haben, ist dann, „daß die gesellschaftliche Entwicklung im Grunde kein Binnenvorgang in einer Gesellschaft ist, sondern aus raumgreifenden Expansionen und zwischengesellschaftlichen Verbindungen hervorgeht, wie sie durch Eroberung, Unterwerfung, Kolonisierung, Vereinigung, Verflechtung oder andere Formen der Ausdehnung einschließlich religiöser und kultureller Missionen ergeben" (ebd.: 432). Tenbrucks Überlegungen führen dann aber naturgemäß auch auf die globalen Sozialverhältnisse im Gefolge „der neuzeitlichen europäischen Expansion", wobei ihm die Luhmannsche „Weltgesellschaft" durchaus vor Augen ist (ebd.: 435f., Anm. 18). Und auch Tenbruck (ebd.: 435) setzt zur Beschreibung davon auf ein Weltkompositum, allerdings auf „Weltgeschichte". Diese „kann aus der heutigen Warte definiert werden als jene zeitliche Kette raumgreifender Vorgänge, durch die sich nach und nach eine Vielheit selbständiger Gesellschaften mit je eigener Geschichte in einen durchgängigen Zusammenhang mit einer potentiell gemeinsamen Geschichte verwandeln." Fragt man im Sinne der Systemtheorie nach der „Genese der Weltgesellschaft", so fällt auf, daß die transnationalen und globalen Interessen, die im letzten Jahrzehnt in der historischen Forschung 1 , 0 Tenbrucks „Befund" ist dementsprechend, „daß eine beharrliche Entwicklung nirgends insgesamt in einer Gesellschaft stattgefunden hat" (1989: 432).
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zum Tragen gekommen sind, überwiegend der Globalisierungsseite, aber kaum der Weltgesellschaft zugute gekommen sind. 131 In dieser Lage bietet sich mit Stichweh (2000: 245ff.) eine gewisse Anlehnung an das nachdrücklich historisch ausgerichtete Werk Immanuel Wallersteins an, das in diesem Band von Lothar Hack ausgiebig diskutiert wird. (Allerdings ist Hack, was die Annäherung der Systemtheorie and die Weltsystemtheorie angeht, skeptisch, nicht zuletzt, weil er Wallersteins Theorie bevorzugt als eine Theorie der heterzogenen Weltsysteme (im Plural) einschätzt.) Wenn man nun aber mit Wallerstein den Blick auf die .Anfänge des Weltsystems' im „langen sechzehnten Jahrhundert" richtet, dann fällt vergleichend auf, wie wenig Aufmerksamkeit jene ,makrosoziale Metamorphose', in der sich eine Pluralität distinkter Gesellschaften in die Singulararität der Weltgesellschaft verwandelt, im gesellschaftstheoretischen Werk Luhmanns gefunden hat. 1 3 2 Denn was die frühe Neuzeit angeht, so ist Luhmanns Blick ganz auf den ,innergesellschaftlich-europäischen' Wechsel der dominanten Differenzierungsform konzentriert, auf den Wechsel von Stratifikation zu funktionaler Differenzierung (1997: 678ff., 707ff.). „Die Katastrophe der Neuzeit", „die Umstellung des Gesellschaftssytems auf einen Primat funktionaler Differenzierung", sie hat sich „nur in Europa" ereignet (ebd,: 683); dessen .Außenlagen' kommen dabei nicht in Betracht. 133 So gesehen hat sich die Entstehung der Weltgesellschaft nicht im oder mit dem .innergesellschaftlichen' Durchbruch zur funktionalen Differenzierung 131 Immerhin aber Ziemann 2003: 612ff., der seinen Historikerkollegen auf Gesellschaftsgeschichte hin die systemtheoretische Konzeption der Weltgesellschaft ans Herz legt. 1 3 2 Explizit evolutionstheoretisch bezieht sich Luhmann (1972a: 333ff.) auf die Weltgesellschaft, und die Metamorphose wird hier - .vorautopoietisch* - so beschrieben, „daß die Mehrheit einander fremd gegenüberstehender Gesellschaften, die allenfalls nachbarschaftliche, nicht aber weltweite Kontakte pflegten, sich aufgelöst hat und daß die Gesamtheit aller Funktionen nur noch in einem globalen System sozialer Interaktion, in der Weltgesellschaft, zusammengefaßt werden kann" (ebd.: 335). Vgl. zum Problem der evolutionären Übergänge und dem Wechsel der Differenzierungsformen bei Luhmann die Kritik von Kuchler 2003. 133 Natürlich ist aber bei Luhmann (etwa 2005: 65) nicht übersehen, daß die „Vollentdeckung der Einheit", die „Umrundungsfähigkeit . . . des Erdballs" eine „von Europa aus" war. Vgl. zu der europäischen Erschließung und .Zugänglichmachung' der Welt in diesem Band den Beitrag von Theresa Wobbe.
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vollzogen, wohl aber in der Konsequenz davon (Luhmann 1972a: 335); und das ist darin begründet, daß man eben „in allen Funktionssystemen" die „Tendenz zu einer weltweiten Operations- und Strukturbildung feststellen kann" (Luhmann 2005: 68) 1 3 4 . Hier hätte eine historische Weltgesellschaftsforschung' dann wohl anzusetzen (Tyrell 2004: 40ff.). In der Konsequenz der Konsequenz ist die Weltgesellschaft von zweifacher welthistorischer Einzigartigkeit: Sie ist einerseits der einzige Gesellschaftsfall, in dem das „Umfassende" des .umfassenden Sozialsystems' im Sinne von global oder weltweit zu verstehen ist. Nach außen hin heißt das: sie ist der - zumindest seit der Entstehung der klassischen Hochkulturen - unwahrscheinliche Fall einer Gesellschaft ohne soziale Außenlagen. 135 Und andererseits ist die Weltgesellschaft - von ihrer Differenzierungsform her - der einzige Fall einer Gesellschaft unter dem strukturellen Primat funktionaler Differenzierung. Und hier fällt soziale Differenzierung in der Tat, wie mit Blick auf Tenbruck hinzuzufügen ist, ausschließlich als Binnendifferenzierung an. All das spricht dafür, den Unterschied zwischen ,der Weltgesellschaft' und ,den Gesellschaften' stark zu machen. 3.) In Niklas Luhmanns Vorlesung zur Gesellschaftstheorie (vom Wintersemester 1992/93) stößt man in Sachen Weltgesellschaft auf eine Überraschung, nämlich auf eine ausdrückliche Verdopplung' des Begriffs. Diese wird dort von der Weltseite her entwickelt. In schlichter Deutlichkeit heißt es (2005: 65): „Wenn man von ,Weltgesellschaft' spricht, lassen sich zwei verschiedene Begriffe unterscheiden, je nachdem, ob der Weltbegriff phänomenologisch angesetzt wird, als eine Konstruktion des gesamten Umfeldes inklusive der Gesellschaft, oder ob man gleichsam objektiv auf den Erdball Bezug nimmt und sagt, eine Weltgesellschaft ist eine die gesamte Erde umspannende kommunikative Systembildung." Im Kontext dieser Einleitung war bislang überwiegend von dem zweiten Begriff die Rede, der so wie die meisten anderen ,Welt-Wörter' orientiert ist. Wichtiger aber als der Hinweis auf diese Einseitigkeit ist hier der sprachbezogene Befund: Die beiden Weltgesellschaften verhalten sich zu Singular und Plural je anders. Für die zweite Variante gilt, wie gehabt: „auf dem Erd134 In Luhmanns Vorlesung zur Gesellschaftstheorie (2005: 68ff.) wird diese Tendenz ins Globale dann auf dem Feld der Massenmedien, der Technik, der Wirtschaft, der Politik und des Rechts aufs Schönste illustriert. 1 , 5 Nun aber gewissermaßen: garantiert ohne soziale Außenlagen, wie es die global populäre Fiktion der ,Aliens' (als solche) gerade zur Voraussetzung hat.
ball nur eine einzige Gesellschaft" (ebd.: 67). Für die auf den phänomenologischen' Weltbegriff setzende Variante dagegen gilt, „abgekürzt" gesagt, daß „jede Gesellschaft Weltgesellschaft" ist, und das macht die Rede von „Weltgesellschaften" unvermeidlich. 136 Für das Gesellschaftssystem der Moderne hat das zur Konsequenz: von ihm muß einerseits im ,gleichsam objektiven' Sinne als von der Weltgesellschaft (nur im Singular) die Rede sein, andererseits aber im phänomenologischen Sinne als von einer Weltgesellschaft, und in letzterer Hinsicht macht ,die moderne Gesellschaft' keinen Unterschied: sie ist ,Weltgesellschaft' wie alle anderen Gesellschaften auch. Wir können den Unterschied der beiden ,Weltgesellschaften' auch so formulieren: Die eine (,gleichsam objektive') hat als Gesellschaftssystem eine Umwelt (oder mit Tenbruck: ,Außenlagen'); weil sie aber We/igesellschaft ist, ist diese Umwelt eine strikt nichtsoziale. Die andere Weltgesellschaft dagegen, die, von der es viele gibt, hat ihre je eigene Welt. Für eine solche Weltgesellschaft (im Sinne des phänomenologischen Weltbegriffs) soll gelten, „dass die Gesellschaft ihre eigene Welt konstruiert, eine Semantik der Welt produziert, passend zu ihren eigenen Strukturen" (Luhmann 2005: 67). Der Einheit der jeweiligen Gesellschaft entspricht, kommunikativ fundiert und reproduziert, die projektive Einheit ihres Welthorizonts'; hier stützt der eine Singular den anderen. Nun liegt es aber in der Logik sowohl der genannten Tenbruckargumente als auch der zitierten Weltgesellschaftsdarlegungen Luhmanns (2005: 65ff.), davon auszugehen, daß in die ,Welt' oder in die Kosmologie zumal hochkultureller Gesellschaften nicht nur die jeweilige gesellschaftliche Se/6sibeschreibung hineingenommen ist, sondern mit ihr auch die Differenz zur sozialen Umwelt. Integriert sind in die Welt der Gesellschaft mithin typisch auch andere, fremde Gesellschaften. Zu solcher Weltgesellschaft aber paßt nun recht gut die Differenzierungsform von „Zentrum und Peripherie" (Luhmann 1997: 663ff.), und Luhmann kann dann sagen: „Die Viel1 , 6 Ganz in diesem Sinne kann Luhmann (1997: 839) dann im Selbstbeschreibungskontext über „vormoderne Gesellschaften" sagen: „Sie konnten sich selbst als Mitte der Welt betrachten und jeweils eigene Kosmologien entwerfen. In diesem Sinne konnten sie Weltgesellschaften sein und andere Gesellschaften in ihrer eigenen Kosmologie unterbringen." Nachdrücklicher noch ist das bei Stichweh (2000: 240f.) betont, der dafür votiert, „daß alle historischen Gesellschaften Weltgesellschaften sind." Sie sind es auf kommunikativer Grundlage. Zur Sache jetzt auch Bohn 2 0 0 5 : 56ff.
Hartmann Tyrell: Singular oder Plural - Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung
Völkerstruktur der menschlich bevölkerten Welt . . . ist ein Topos in der Literatur, ohne dass es einen Begriff gäbe, wie diese Vielheit wieder zur Einheit wird. Die Tendenz ist eher, auf eine Zentrum-Peripherie-Differenzierung umzustellen, das heißt, sich vorzustellen, das eigene Reich, die eigene Stadt sei das Zentrum, und alle anderen Völker, Städte, Kriegsprobleme, die Nomaden oder was immer gehörten in die Peripherie" (2005: 66). Wir wiederholen: als eine .ihre Welt konstruierende Gesellschaft' unterscheidet sich die moderne Gesellschaft nicht von allen älteren Weltgesellschaften (im Plural); auch ihr kommt (nur) ihre Welt zu. 1 3 7 Die Frage bleibt dann allerdings, ob die heutige globale Gesellschaft (ohne soziale Umwelt) als ,Welt konstruierende Gesellschaft' sich vielleicht in .qualitativer' Hinsicht von den älteren Weltgesellschaften unterscheidet, ob ,die Globalität' etwa, in der sie sich eingerichtet hat, auf ihre Welt- und Selbstbeschreibung hin einen Unterschied macht. Geht man nun aber von der .historischen Normalität' aus, daß Gesellschaften ihre .sozialen Außenlagen' (im Sinne Tenbrucks) in ihre jeweilige Weltkonstruktion integrieren, so deutet sich ein Unterschied an, der „die Weltgesellschaft der Gegenwart" singularisiert. Denn von dieser Gesellschaft könnte man (unter Vorbehalt) differentiell sagen: sie ist nicht nur im Beobachtersinne eine Gesellschaft ohne soziale Umwelt; sie ist es auch hinsichtlich und innerhalb der Welt, die sie sich entwirft. Denn in ihrer Welt (oder Kosmologie) sind - über sie selbst hinaus - .soziale Außenlagen', andere, externe Gesellschaften oder Sozialexistenzen, .fremde Völkerschaften' usw. nicht mehr vorgesehen. Und dementsprechend kann Rudolf Stichweh (2000: 241) formulieren: „Weltgesellschaft kommt nur noch einmal vor. Es gibt keine anderen Gesellschaften oder Weltgesellschaften neben ihr. Es existiert außerhalb dieses einen Systems der Weltgesellschaft keine Kommunikation. Das System, das die strukturelle Einheit der Kommunikation realisiert und das sie zur projektiven Einheit eines Welthorizonts verlängert, ist ein und dasselbe System und insofern ist die Weltgesellschaft der Gegenwart eine historische Singularität." 1 3 7 Es fällt auf, daß es der Weltgesellschaftstheorie einstweilen an anspruchsvolleren (phänomenologischen) Bestimmungs- und Beschreibungsversuchen hinsichtlich ,der Welt' und .Wirklichkeit' mangelt, die im Sinne globaler Geltung (und von weltweit geteilten Prämissen) der heutigen Weltgesellschaft zugehören. Natürlich wäre dabei die Wissenschaft im Spiel (so Luhmann 2005: 67); im Hinblick auf den Weltbegriff, die einheitliche Weltzeit usw. Luhmann 1997: 145ff.
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4.) Die soziologische Systemtheorie hat, wie bisweilen übersehen wird, zweierlei Art Differenzierungstheorie im Angebot. Es ist dies einerseits die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung, der es um die Differenzierungsformen und deren evolutionären Wechsel geht (Luhmann 1997: 595ff.; auch Kuchler 2003). Es ist dies andererseits „eine Theorie über das Auseinandertreten der drei Systemtypen von Interaktion, Organisation und Gesellschaft" (Kieserling 2004: 215). Luhmann hat, soweit wir sehen, dieses zweite Differenzierungsangebot erstmals in seinem Aufsatz Einfache Sozialsysteme (1972b) unterbreitet und dabei den Unterschied zur .gesellschaftlichen' und zumal funktionalen Differenzierung deutlich betont. 1 3 8 Er hat 1975 unter dem Titel Interaktion, Organisation, Gesellschaft eine knappe Ausarbeitung dieses dreistelligen Theorieangebots unterbreitet (1975: 9ff.) und auch dabei, wie oben schon zitiert, herausgestellt, Gesellschaft müsse heute Weltgesellschaft heißen. Im übrigen heißt Differenzierung gerade in diesem Zusammenhang Interdependenzunterbrechung; die drei Typen sind aufeinander nicht reduzierbar und soziale Systembildungen je eigenen Rechts. Wir wollen in dieser Sache dreierlei ganz knapp und thesenhaft festhalten. Zunächst und unvermeidlich: die Gesellschaft (und erst recht die Weltgesellschaft) ist ein Singular; .unterhalb' aber und innerhalb ihrer gibt es nur den Plural: „einfache Sozialsysteme", also Interaktionen im Sinne der „Kommunikation unter Anwesenden" (Kieserling 1999) einerseits und Organisationen andererseits. Sodann: seit Max Weber sind die Vermehrung und das Wachstum von Organisationen ein großes modernisierungstheoretisches Thema (Geser 1982), wohingegen das Meer der Interaktionen und tagtäglichen Nahkontakte zwischen Vertrauten oder Fremden - Goffman zum Trotz - deutlich geringere soziologische Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Und schließlich darf man weltgesellschaftsbezogen sagen, daß .formale Organisationen' - etwa als .weltgesellschaftliche Mechanismen' (Stichweh 2000: 112ff., 25Iff., auch Tyrell 2004: 76ff.) -
1 , 8 „Denn weder Organisationen noch einfache Systeme sind Teilsysteme des Gesellschaftssystems, wie man dies vom politischen System, vom Wirtschaftssystem, von Familien usw. sagen kann, deren Funktionen gesamtgesellschaftlich notwendig sind. Es handelt sich vielmehr um dem Typus nach andersartige Formen sozialer Systembildung, die sich nicht durch funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems bilden. Deshalb braucht man neben der Gesellschaftstheorie eine allgemeine Theorie sozialer Systeme, der kein spezifischer Systemtypus entspricht" (Luhmann 1972b: 63).
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inzwischen stark ins Gespräch gebracht sind; in diesem B a n d sind sie das T h e m a des Beitrags von Rai-
mund Hasse und Georg Krücken. Zu konstatieren
ist demgegenüber, wie in dem Beitrag von Jens Greve und Bettina Heintz klar zur Sprache gebracht ist, ein mikrosoziologisches oder Interaktionsdefizit der Weltgesellschaftstheorie. Rudolf Stichweh ( 2 0 0 0 : 15ff.) empfiehlt L u h m a n n s Ebenenunterscheidung von ,Interaktion, Organisation, Gesellschaft' auf das Schema ,Globalität/Lokalität' hin, und gerade der auf „das Lokale" konzentrierte Beitrag von Joanna Pfaff-Czarnecka in diesem B a n d könnte ermutigen, den Vorschlag aufzugreifen.
Andererseits aber mangelt es bei L u h m a n n keinesfalls an Eindeutigkeit, wenn es darum geht, den engen Z u s a m m e n h a n g von funktionaler Differenzierung und Weltgesellschaft zu betonen: „Die Konstitution der Weltgesellschaft ist . . . die K o n sequenz der erfolgreichen Stabilisierung dieses Differenzierungsprinzips" ( 1 9 7 2 a : 3 3 5 ; auch 1 9 7 1 : 2 0 f f . , 1 9 9 7 : 1 6 7 f f . ) . W a s hier daran interessiert, sind die Folgen dieses Z u s a m m e n h a n g s für die Theoriesprache. Es sind dies in zweierlei Hinsicht
deutliche Singular(o\gen. Zum einen fordert das
schaftsaufsatz auf funktionale Differenzierung hin,
eine Differenzierungsprinzip, das sich strukturbestimmend und gesellschaftsweit durchsetzt, den Singular; neben ihm wirkt kein zweites (allenfalls ein ,sekundäres'). Und zugleich hat funktionale Differenzierung zur Konsequenz: innerhalb der sozialen Reichweiten, in denen sie sich durchsetzt und stabilisiert, entsteht eine über funktionale Interdependenzen hergestellte Gesellschaft, und das löst in der Tendenz die voranliegenden .Mehrgesellschaftskonstellationen' auf. D a tendenziell alle Funktionen, die es (nach und nach) zu spezialisierter Systembildung bringen, die Disposition ins Weltweite haben, ist dann „die Einheit einer alle Funktionen umfassenden Gesellschaft nur noch in der F o r m der
nämlich auf die einzelnen Funktionssysteme bezogen, deutlich getan und als Funktion des umfassenden Systems für seine Teilsysteme zur Sprache geb r a c h t . 1 3 9 Allerdings k o m m t m a n auch für die L u h m a n n s c h e T h e o r i e der gesellschaftlichen Differenzierung nicht umhin zu sagen, daß sie durchweg nicht auf die Weltgesellschaft hin konzipiert ist. D a s gilt gerade für die vielfältigen Arbeiten zu den verschiedenen gesellschaftlichen Teil- oder Funktionssystemen. Die einschlägigen Bücher heißen eben, um nur zwei spätere zu nennen, Die Politik
Weltgesellschaft m ö g l i c h " (Luhmann 1 9 7 1 : 2 1 ) . D a m i t aber ist - zum anderen - der Plural der verschiedenen Funktionssysteme angesprochen. Und diese heterogenen Funktionssysteme sind nun ihrerseits „nicht etwa . . . verkleinerte, unter sich gleiche Kopien des G e s a m t s y s t e m s " (ebd.: 2 0 ) ; vielmehr k o m m e n sie je für sich - in ihrer je unterschiedlichen Spezialisierung und um dieser willen - weltgesellschaftsweit nur einmal vor und sind darin als ,nicht substituierbar' veranschlagt; hier geht nur der Singular. 1 4 0 D e s h a l b eben heißt es bei L u h m a n n
N i k l a s L u h m a n n selbst hat seine Systemtypologie nicht im Lichte der Weltgesellschaftsthese ausgearbeitet. Das hätte den Ausbau der T h e o r i e verlangt und erfordert, ,das Auseinandertreten' von Interaktion, Organisation und Gesellschaft als Differenzierungsprozeß stärker transparent zu m a c h e n ; und andererseits hätte es nötig gemacht, die (Welt-)Gesellschaft als Umwelt, als ,inneres soziales M i l i e u ' allen Interagierens und aller Organisationsbildung nachhaltiger ins Spiel zu bringen. Das letztere hat L u h m a n n ( 1 9 7 1 : 18f.) in seinem frühen Weltgesell-
der Gesellschaft (2000a), Die Religion der Gesell-
schaft ( 2 0 0 0 b ) ; L u h m a n n sagt in der Titelwahl eben „ G e s e l l s c h a f t " , nicht aber „ We/fgesellschaft", und Stichweh ( 2 0 0 2 : 2 8 9 ) hat kaum Unrecht, wenn er meint, die Bücher seien nicht „vom T h e m a der Weltgesellschaft her entworfen. Vielmehr wird dieses T h e m a , als sei es ein Subthema, an speziellen Plätzen in die Bücher eingefügt."
139 „Das umfassende System garantiert seinen Teilsystemen eine .innere Umwelt' von schon reduzierter Komplexität, also etwa Frieden, Vorhersehbarkeit, Vereinfachung der möglichen Veränderungen auf wenige relevante Variable. Die Teilsysteme können das Systeminnere (das heißt die anderen Teilsysteme) als ihre Umwelt behandeln und nochmals die Vorteile einer Grenzziehung und grenzgesteuerter Selektionsprozesse erzielen" (Luhmann 1971: 18). Es ist deutlich, daß sich hier Luhmanns älteres Paradigma, das der System/Umwelt-Theorie, artikuliert.
konsequent und jeweils mit bestimmtem Artikel: „das R e c h t " , „die W i r t s c h a f t " , „die W i s s e n s c h a f t " usw. der Gesellschaft. Zugleich aber k o m m t es ge-
sellschaftstrukturell
unbedingt auf die Mehrzahl
der je für sich e i n m a l i g e n ' und durchweg weltweit operierenden Funktionssysteme an. Diese befinden sich überdies - mnergesellschaftlich - in einer Vielfalt von System/Umwelt-Verhältnissen zueinander. Unter den je einmaligen Funktionssystemen der Weltgesellschaft ist nun die Religion ein ganz besonderer Fall. Sie ist es aus Singular/Plural-Gründen, wie deutlich wird, wenn m a n das religiöse Funktionssystem denen der W i r t s c h a f t , der Wissen-
140 „Dass die Funktionssysteme immer nur im Singular auftreten, markiert die Differenz zur segmentären Differenzierung, bei der gleichartige Systeme nebeneinander existieren können" (Greve 2004: 113).
Hartmann Tyrell: Singular oder Plural - Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung und Weltgesellschaft schaft oder des Sports gegenüberstellt. Für die letzteren stehen, mehr oder minder gebräuchlich, Weltkomposita im Singular zur Verfügung; die Rede ist von „der Weltwirtschaft", von „Weltwissenschaft" und vom (mit Tobias Werron in diesem Band) „Weltsport". Auf dem religiösen Feld aber - als weltweitem - stößt man unvermeidlich auf den Plural und auf die Konkurrenz (nicht nur) ,der Weltreligionen'. Schon das verweist für das Religionssystem der Weltgesellschaft auf erhebliche interne Inkohärenz. Einen besonderen Fall stellt die Religion darüber hinaus im Luhmannschen Werkzusammenhang dar, denn nur auf diesem Feld findet man, wenn wir es recht sehen, einen (zwar nicht Buch-, wohl aber) Aufsatztitel, in dem Luhmann eines der Funktionssysteme mit der We/igesellschaft zusammenführt. Es geht dabei um einen recht kurzen und vom Publikationsort her marginalen Text. Umso markanter aber ist der Titel: Die Weltgesellschaft und ihre Religion (Luhmann 1995); hier ist (entgegen der sonstigen Titulatur) ,die Gesellschaft' vorangestellt, und die Religion (als Teilsystem) wird ihr mit einem Possessivpronomen angehängt. 141 Und mehr noch: Rudolf Stichweh (2002: 290) zufolge ist Luhmanns Religion der Gesellschaft (2000b) „unter den späten Büchern das am stärksten von der Weltgesellschaft her gedachte." Den Nachweis für dieses Urteil ist Stichweh nicht schuldig geblieben; er hat ihn in einem Aufsatz geführt, der schon in seinem Titel auf das Singular/PluralProblem verweist: Weltreligion oder Weltreligionenf (Stichweh 2001b). Dieses gilt es nun noch etwas näher anzusprechen. 142 Die Entgegensetzung von ,Religion' bzw. ,der Religion' einerseits und ,den Religionen' andererseits verstanden als das Gegenüber von Allgemeinem und Besonderem - ist eine traditionsreiche Denkfigur der religiösen Reflexion. Man findet sie besonders klar bei Schleiermacher (1799; hier: 1985: 157ff.) ausgesprochen: „in den Religionen sollt ihr die Religion entdecken"! Zugleich wird von Schleiermacher die „Vielheit" und „bestimmteste Verschiedenheit" der Religionen mit Nachdruck bejaht und die Idee der Einheitsreligion ausdrücklich abge141 Der Text selbst behandelt zunächst Religionsbegriffliches und kommt dann im Schlußteil auf „die Frage nach den weltgesellschaftlichen Bedingungen der Weiterentwicklung von Religion" zu sprechen (Luhmann 1995: 11). Dort kommen die Singular/Plural-Probleme besonders klar zur Sprache. 142 Die Frage nach dem .zentristischen' Charakter (J. Matthes), nach der europäisch-christlichen .Befangenheit' des Religionsbegriffs muß dabei beiseite bleiben; vgl. Haußig / Scherer 2003.
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wiesen. 143 Dieses Zusammenspiel von Singular und Plural kehrt bei Luhmann unter differenzierungstheoretischen Vorzeichen wieder. Es bedarf des Singulars der Religion zum Zwecke der Bezeichnung des ,weltweit operierenden Funktionssystems für Religion', und den Plural braucht es, um das globale Religionsystem - parallel zur Staatenvielfalt der ,Weltpolitik' - als „segmentär differenziert in eine Vielheit von Religionen" zu beschreiben (Luhmann 2000b: 272). 1 4 4 Aus dieser Kombination von Singular und Plural wird dann bei Peter Beyer (1998: 88ff.) die Formel von „the religión of religions: a global religious system". Weltgesellschaftsbezogen tritt bei Luhmann (2000b: 272ff., 1995: 12) die Prognose von „Diversifikation" und der „Neubildung von Religionen" hinzu; er geht also nicht nur von einer stabil hohen, sondern von einer noch wachsenden Diversität („Artenvielfalt") des Religiösen aus (2000b: 341ff., auch Stichweh 2001b: 120ff.). Und das dementiert dann erst recht die tendenzielle Erwartbarkeit von „welteinheitliche(r) Religion". Ein Zusatzproblem ergibt sich im Hinblick auf die ß/rcwercdifferenzierung des globalen Religionssystems, im Hinblick also auf ,die Religionen', womit ja unbedingt ein ,Plural der Diversität' gemeint ist. Das Problem ergibt sich infolge der segmentären Differenzierungsform, die Luhmann für den weltreligiösen Fall ebenso geltend macht wie für den „des politischen Systems mit einer Vielzahl von Staaten" (2000b: 272). Diese Parallelisierung von Religion und Politik aber paßt nur, solange es um schiere Vielheit geht. Segmentierung' aber will auf mehr als den bloßen Plural hinaus; eng ausgelegt bezeichnet sie ein Wiederholungsprinzip und betont die strukturelle Gleichheit der Subsysteme untereinander. Dem isomorphen Nebeneinander der Ter143 Schleiermachers Sache ist „die Unendlichkeit" der Religion, sie ist „ein ins Unendliche fortgehendes Werk des Weltgeistes: so müßt Ihr den eitlen und vergeblichen Wunsch, daß es nur eine geben möchte, aufgeben, Euren Widerwillen gegen ihre Mehrheit ablegen" ( 1985: 161 f.). Das Problem steckt hier u. a. darin, daß für die Verächter der Religion diese Mehrzahl vor allem den nicht endenden Streit der Religionen untereinander bedeutet. 144 „Trotz der extremen Unterschiedlichkeit von Religionsangeboten setzt die gesellschaftliche Kommunikation voraus, daß Religion als Religion erkennbar ist und gegen andere Funktionsbereiche der Gesellschaft abgegrenzt werden kann. Insofern hat es Sinn, von der Religion der Weltgesellschaft zu sprechen und die Vielzahl von Religionen als interne Differenzierung des Religionssystems zu behandeln - ähnlich wie die Vielzahl von Staaten als interne Differenzierung des Politiksystems" (Luhmann 1995: 12).
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ritorialstaaten des weltpolitischen Systems ist das durchaus a d ä q u a t . 1 4 5 Aber solche Segmentierung ist nicht nur eine ,an sich'. Sie ist, wenn m a n so sagen darf, auch Segmentierung für sich', denn dem Isomorphieprinzip entspricht es, daß sich Staaten als Staaten untereinander ,anerkennen', daß sie einander als Ihresgleichen .akkreditieren'. Ihre Sozialexistenz ist, zumal mit den Augen des N e o Institutionalismus gesehen, solcher externen Legitimierung bedürftig. Segmentierung in diesem Doppelsinne findet sich sich nun auf dem weltreligiösen Feld ersichtlich nicht. Schon mit der S e g mentierung an sich' tut sich der Beobachter angesichts der „Varietät" des Feldes (Stichweh 2 0 0 1 b : 120ff.) schwer; dieses umfaßt ja partikulare Lokalkulte so gut wie Weltreligionen und nimmt sie gleichermaßen als ,Religionen'. Erst recht liegt hier die Segmentierung ,für sich' fern. Denn die eine Religion bedarf, um Religion zu sein, der Akzeptanz bei den anderen gerade nicht.146 Sehr pauschal gesprochen: das religiöse Feld sieht feindliche Konstellationen' (im Gefolge von Schismen etwa) und Konkurrenzen so gut wie gänzliches Desinteresse und Ignoranz vor, sozial affirmative Verhältnisse dagegen in auffällig geringem M a ß e . M a n muß also sagen: die verschiedenen Religionen sind einander in einem deutlich anderen Sinne Umwelt, als es die Staaten füreinander sind. 1 4 7 Der Plural ,der Religionen' ist folglich einer, der einen so erheblichen Grad an Inkohärenz, Heterogenität und Diversität anzeigt, daß „the religion of religions" nur als s c h w a c h e r ' Singular in Betracht k o m m t und sich gerade in dieser .Schwäche' „die Differenz der Religion zu anderen Funktionssystemen" umso ,schärfer abzeichnet' (Luhmann 1 9 9 5 : 12).
1 4 5 Uns ist klar, daß diese Gleichheit mit enormen Ungleichheiten im „intergouvernementalen System" zusammengeht; bei Peter Heintz (1982: 49ff.) führt der Begriff der Segmentierung' gerade auf diese Ungleichheiten. Bei Rudolf Stichweh (2002: 294f.) findet man .gleichheitsbezogen' im übrigen die These, „die Durchsetzung nur einer einzigen politischen Form, die . . . im 19. und 20. Jahrhundert weltweit die einzige Form von Staatlichkeit geworden ist", könne „möglicherweise nur ein kurzer Moment in der Geschichte der Weltpolitik gewesen" sein. 146 Eher schon sucht sie - etwa auf die Inanspruchnahme der Religionsfreiheit hin - die jeweilige staatliche Akzeptanz. 1 4 7 Daß das religiöse Feld in seiner Diversität sich den zentralen, auf Homogenisierung bedachten Theoremen des Neo-Institutionalismus nicht fügt, betont mit Blick auf die nordamerikanischen Verhältnisse Patricia M. Y. Chang (2003); vgl. aber auch Stichweh 2001b: 122.
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Autorenvorstellung: H a r t m a n n Tyrell, geb. 1943 in Dresden. 1 9 6 5 - 1 9 7 2 Studium der Soziologie, Geschichte und Kunstgeschichte in Münster/Westf.; seit 1972 an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld, zunächst als Wissenschaftlicher Mitarbeit, dann als akademischer Rat und apl. Professor. Forschungsschwerpunkte: Gesellschaftstheorie, Geschichte der Soziologie, Religionssoziologie. Publikationen: Religiöse Kommunikation: Auge, O h r und Medienvielfalt. S. 41-93 in: K. Schreiner (Hrsg.), Frömmigkeit im Mittelalter: Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen. München: Wilhelm Fink Verlag 2002; Weltgesellschaft, Weltmission und religiöse Organisationen - Einleitung. S. 13-134 in: A. Bogner / B. Holtwick / H. Tyrell (Hrsg.), Weltmission und religiöse Organisationen. Protestantische Missionsgesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert. Würzburg: Ergon 2004; zuletzt in dieser Zeitschrift: Ist der Webersche Bürokratietypus ein objektiver Richtigkeitstypus? Anmerkungen zu einer These von Renate Mayntz. ZfS 10, 1981: 38-49.
Begriffsgeschichtliche Zugänge
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 51-67
Goethes „Weltliteratur" - Ein ambivalenter Erwartungsbegriff Goethe's „Weltliteratur" - An Ambivalent Anticipatory Concept Manfred Koch Deutsches Seminar der Universität Tübingen, Wilhelmstraße 50, D-72074 Tübingen E-mail: [email protected] Zusammenfassung:
In seiner Zeitschrift „Über Kunst und Altertum" verkündet Goethe a b 1827 wiederholt, er beobachte schon seit geraumer Zeit, wie sich eine „allgemeine Weltliteratur" heranbilde, in der Deutschland - das Land der Übersetzer - eine führende Rolle spielen werde. Goethes „Weltliteratur" ist, wie der vorliegende Aufsatz zeigt, ein temporal aufgeladener, offener Erwartungsbegriff, der Globalisierungserscheinungen im Bereich der Kultur thematisiert. Die permanente Revolutionierung der Verkehrsmittel (Eisenbahnen, Dampfschiffe) und der Printmedien (Setzmaschine, Zylinderdruckpresse) verändert Goethe zufolge auch die Kommunikation der Einzelliteraturen untereinander in unabsehbarer Weise. Goethe spricht von einem „ W e l t u m l a u f " , in den alles planetarisch verfügbare Wissen, die Ideen, literarischen Stoffe und Techniken aller Kulturen zunehmend geraten. Der Aufsatz geht ausführlich ein auf die in den Weltliteratur-Äußerungen beständig begegnende Metaphorik der Zirkulation, mit der Goethe das moderne Phänomen der massenhaften Produktion und weltweiten Distribution von Literatur zu erfassen versucht. Trotz seiner Skepsis gegen die .teuflischen' Beschleunigungstendenzen im neuesten Literaturbetrieb verbindet Goethe die entstehende Weltliteratur auch mit der Hoffnung auf zunehmende interkulturelle Verständigung.
Summary: In
his journal " Ü b e r Kunst und Altertum [On Art and Antiquity]" Goethe repeatedly declared that for a considerable time he had been watching " a general world literature/eine allgemeine Weltliteratur" develop in which Germany - the country o f translators - would play a leading role. T h e present essay shows that Goethe's "Weltliteratur" is a temporally charged, open, anticipatory concept aimed at cultural phenomena in the process of globalization. For G o e the, the permanent revolution in the means of transport (railways, steamboats) and o f the print media (the typesetting machine, the rotation press) would also change the communication between the individual national literatures in an unforeseeable way. Goethe speaks of a "global circulation/Weltumlauf" encompassing all the available knowledge, ideas, literary materials, and techniques. T h e essay takes a close look at the ever-present image o f circulation in Goethe's remarks on world literature. Using this imagery, he tries to grasp the modern phenomenon of mass production and the worldwide distribution of literature. Despite his scepticism toward the "devilish" acceleration in literary business, G o e the also associates the emerging world literature with hopes for an increase in cultural understanding. W e l t l i t e r a t u r ist - u m eine F o r m e l R e i n h a r t K o s e l -
sehen den Einzelliteraturen unter Bedingungen m o -
lecks zu variieren -
aber
ein
derner Kommunikationsverhältnisse. Konkret macht
schwieriger Begriff.1 Umgangssprachlich wird
der
er dieses P h ä n o m e n i m e r s t e n D r i t t e l d e s 1 9 . J a h r -
ein s c h ö n e s W o r t ,
T e r m i n u s h e u t e p r o b l e m l o s v e r w e n d e t i m Sinn ei-
h u n d e r t s fest a n e i n e r n e u e n F o r m v o n
nes i n t e r n a t i o n a l e n K a n o n s d e r g r ö ß t e n W e r k e aller
g e n , die die europäischen
Literaturen
Beziehunzueinander
Arundhata
u n t e r h a l t e n . „ E u r o p ä i s c h e , d. h . W e l t - L i t e r a t u r " ( F A
R o y , v o n E c h n a t o n bis E n z e n s b e r g e r , v o n H a f i z bis
2 2 : 7 2 4 2 ) ist d e s h a l b ein S c h e m a a u s d e m J a h r 1 8 3 0
Zbignew
ü b e r s c h r i e b e n , d a s sich m i t d e n C h a r a k t e r i s t i k a d e r
L ä n d e r u n d Z e i t e n : v o n A i s c h y l o s bis Herbert.
Ungebräuchlicher,
aber
noch
simpler, ist e i n e rein q u a n t i t a t i v e A u f f a s s u n g
des
deutschen, englischen, französischen,
Begriffs, w i e sie m a n c h e L e x i k a v e r z e i c h n e n :
die
und spanischen L i t e r a t u r und ihrer wechselseitigen
italienischen
aller
R e z e p t i o n b e f a ß t . W e l t l i t e r a t u r ist z u n ä c h s t in die-
jemals an irgendeinem O r t der Welt entstandenen
s e m e i n f a c h e n Sinn ein E r w a r t u n g s b e g r i f f . W a s s i c h
schlechterdings nicht überschaubare
Summe
L i t e r a t u r . K o m p l i z i e r t e r w i r d die S a c h e e r s t , w e n n
in d e r v e r d i c h t e t e n K o m m u n i k a t i o n
m a n d a s W o r t bis z u s e i n e m U r s p r u n g v e r f o l g t : in
s c h e n L i t e r a t u r e n a b z e i c h n e t , w i r d in
die S a t t e l z e i t u m 1 8 0 0 . D e n n G o e t h e s W e l t l i t e r a t u r -
Zeit globale Dimensionen annehmen.
Begriff hat mit der heute eingespielten unter
Weltliteratur
den
europäi-
absehbarer
Semantik
n i c h t s bzw. n u r h ö c h s t v e r m i t t e l t z u t u n . versteht
der
Goethe
Austausch
zwi-
1 Das entsprechende Wort bei Koselleck ist „Zeitgeschicht e " (Koselleck 2 0 0 0 : 2 4 6 ) .
Goethe-Zitate werden, soweit möglich, nach der .Frankfurter Ausgabe' (Sigle: FA und fortlaufende Bandnumerierung ohne Abteilungsangabe) belegt, darin nicht enthaltene Texte nach der .Weimarer Ausgabe' (Sigle: WA / Abteilung / Band). 2
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Goethes Begriff handelt also, wie man vereinfacht sagen könnte, von Globalisierungstendenzen im Bereich der Kultur.3 Er geht hervor aus einer anhaltenden Debatte, die europäische Intellektuelle, verstärkt seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, über die zunehmende .Verkettung der Nationen' in planetarischem Maßstab führen. Eine Flut von Texten preist im 17. und 18. Jahrhundert das im Gefolge der europäischen Expansion entstandene Welthandelsnetz und träumt von einer Humanisierung des Erdballs durch den völkerverbindenden ,Handelsgeist'. Auf dem Höhepunkt der Aufklärung verwirft hingegen Rousseau sowohl den internationalen Handel mit Konsumgütern als auch den interkulturellen Austausch von Wissen, Ideen und Kunstwerken: all dies ist für ihn kaum weniger schädlich als die weltweite Verbreitung von Schußwaffen und Epidemien. Dieser wirkungsmächtigste frühe Globalisierungsgegner beschreibt die heraufziehende Weltzivilisation als fatalen Verstrickungszusammenhang, der die Völker aller Kontinente ihrer lebensweltlichen Sicherheiten und Sinnhorizonte berauben wird. Die Göttinger Historiker Gatterer und Schlözer entwerfen um 1770 das Projekt einer empirischen Weltgeschichtsschreibung, die in synchroner Perspektive die komplexen Wirkungsketten erforschen soll, durch die Ereignisse an weit voneinander entfernten Orten der Erde unsichtbar miteinander in Verbindung stehen. Die schottischen Sozialphilosophen beginnen, die Welt systematisch als einen zusammenhängenden Wirtschaftsraum zu konzipieren; Kant erörtert in seinem Traktat „Vom ewigen Frieden" (1795) die Möglichkeit, diese ökonomisch, kommunikationstechnisch und wissenschaftlich rasant zusammenwachsende Welt politisch als globale Rechtsgemeinschaft der Staaten zu konstituieren. Goethes Begriffsbildung des Jahres 1827 steht in engem Zusammenhang mit dieser frühen Globalisierungsdebatte. Sie kann hier nicht noch einmal entfaltet werden.4 Ich versuche stattdessen, ausgehend von elementaren philologischen Befunden Wer .Globalisierung' ausschließlich als gegenwartsdiagnostischen Begriff für das seit ca. zwei Jahrzehnten beobachtbare Phänomen einer planetarischen Totalvernetzung zu virtueller Gleichzeitigkeit verwenden will, wird die Rede von einem .Globalisierungsbewußtsein' um 1 8 0 0 ablehnen. .Globalisierung' kann aber auch historisch als Begriff für einen Makroprozeß der Neuzeit verstanden werden, der - im Unterschied zu Kategorien wie „Modernisierung" und „Industrialisierung" - den Akzent auf die beschleunigte Verflechtung und Interdependenz der Gesellschaften zu legen erlaubt (vgl. die umsichtige Argumentation bei Osterhammel/Petersson: 2 0 0 3 , 7ff. u. 108ff.). Diese Erscheinungen wurden um 1 8 0 0 bereits heftig diskutiert. 3
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Vgl. hierzu Koch 2 0 0 2 : 23ff.
die Hauptaspekte von Goethes Weltliteraturbegriff darzustellen und im Einzelfall Verbindungslinien zur zeitgenössischen Diskussion zu ziehen.
1. Das Wort „Weltliteratur" Eine Goethesche Theorie der Weltliteratur gibt es nicht. Goethe hat bewußt auf eine systematische Darstellung seiner Überlegungen zu diesem Phänomen verzichtet und es bei Sprüchen und mehr oder minder detaillierten Hinweisen in Unterhaltungen, Briefen, Notizen, Aphorismen, Zeitschriftenartikeln und Rezensionen belassen. Bisweilen findet sich die explizite Weigerung, über Andeutungen oder sentenzartige Behauptungen hinauszugehen: „Ueberall hört und lies't man von dem Vorschreiten des Menschengeschlechts, von den weiteren Aussichten der Welt- und Menschenverhältnisse. Wie es auch im Ganzen hiermit beschaffen seyn mag, welches zu untersuchen und näher zu bestimmen nicht meines Amts ist, will ich doch von meiner Seite meine Freunde aufmerksam machen, daß ich überzeugt sey, es bilde sich eine allgemeine Weltliteratur, worin uns Deutschen eine ehrenvolle Rolle vorbehalten ist" (FA 22: 356; erste Herv. M. K.). Der Offenheit des beschriebenen Prozesses entspricht ein offener, in dialogisch-tastenden oder thesenartig-pointierten Formulierungen vorgetragener Erwartungsbegriff. Das Textkorpus zu Goethes „Weltliteratur" ist deshalb zugleich sehr schmal und beängstigend umfangreich. Zwanzig Stellen, in denen das Wort vorkommt, hat Fritz Strich 1946 in seiner klassischen Studie „Goethe und die Weltliteratur" versammelt (Strich 1957: 369ff.). Zum engeren Kontext dieser meist kurzen, programmatischen Erklärungen gehört aber die ganze Fülle der Goethe-Schriften über europäische und außereuropäische Literaturen, über die Besonderheit der deutschen Literatur, über Praxis und Theorie der literarischen Übersetzung, über das Verhältnis von Antike und Moderne (um nur die wichtigsten Punkte anzuführen). Das weitere Umfeld der Weltliteratur-Äußerungen schließlich bilden Goethes Überlegungen zum unaufhörlich sich beschleunigenden Modernisierungsprozeß: seine Darstellung und Kritik des - wie er es nennt - „veloziferischen Genius der Zeit" (FA 37: 337) 5 . In dieser Perspektive wäre nicht weniger als das gesamte Spätwerk Goethes Das neue Adjektiv „veloziferisch" bildet Goethe in Anlehnung an das französische „velocifere" (Eilpostbeförderung). Was ihn daran reizte, war offenbar die Verbindung von „velocitas" und „Luzifer", sprich: die Moderne ist ein Zeitalter teuflischer Beschleunigung. 5
Manfred Koch: Goethes „Weltliteratur" - Ein ambivalenter Erwartungsbegriff einzubeziehen: von Sachtexten des in Wirtschaftstheorie und Fiskalpolitik äußerst bewanderten Weimarer Ministers 6 bis hin zu den großen literarischen Darstellungen der Umwälzungen, die die .neueste Zeit' mit sich bringt: „Faust II", dem Drama des entfesselten Industrialismus, und „Wilhelm Meisters Wanderjahre", dem Roman der modernen M o bilität. Eine Art Gravitationszentrum all dieser Texte ergibt sich allerdings aus der Tatsache, daß Goethe sich zu „Weltliteratur" meist in seiner Funktion als Herausgeber (und Hauptautor) seiner ab 1 8 1 6 erschienenen Zeitschrift „Über Kunst und Altertum" äußert. Dieser pragmatische Aspekt ist auch inhaltlich von großer Bedeutung. Goethes Begriff zielt implizit auf eine Medientheorie der modernen Literatur: als Herausgeber einer europäischen Kulturzeitschrift beschreibt er nicht nur neue Formen transnationaler Vermittlung von Literatur (bei denen Zeitungen und Zeitschriften zunehmend eine entscheidende Rolle spielen), er nimmt auch aktiv an diesem Vermittlungsgeschehen teil. Goethe analysiert und praktiziert „Weltliteratur" im bewußten Einlassen auf die Zwänge und Möglichkeiten des Zukunftsmediums Zeitschrift. Doch zunächst noch einmal zurück zur Wortgeschichte: Bis vor etwa einem Vierteljahrhundert war man überzeugt, daß Goethe im Januar 1 8 2 7 das Kompositum „Weltliteratur" erfunden habe. 7 Seit 1 9 8 7 wissen wir nun, daß dieses Nomen bereits zwanzig bis dreißig Jahre vorher bei Christoph Martin Wieland auftaucht. 8 Wieland hat in ein Exemplar seiner eigenen Horazübersetzungen aus dem Jahr 1 7 9 0 eine handschriftliche Korrektur in die Zueignung an Herzog Carl August eingetragen. Die Stelle handelt von der altrömischen „Urbanit ä t " , die Wieland umschreibt als eine „feine Tinktur von Gelehrsamkeit, Weltkenntniß und Politesse", gewonnen aus dem „Lesen der besten Schriftsteller, und aus dem Umgang der cultiviertesten und vorzüglichsten Personen in einem sehr verfeinerten Zeitalter" (Weitz 1 9 8 7 : 2 0 7 ) . Wieland streicht nun die Worte „Gelehrsamkeit" und „Politesse" durch und ersetzt sie - wohl im Blick auf eine geplante Neuausgabe - durch das bis dahin unbekannte Wort „Weltlitteratur"; sprich: Urbanität ist eine feine Tinktur von „Weltkenntniß und Weltlitteratur". „Weltlitteratur" ist also etwas, was man Vgl. Mahl 1 9 8 2 . Tagebucheintrag v o m 1 5 . Jan. 1 8 2 7 : „An Schuchardt diktiert bezüglich auf französische und Welt-Literatur" (WA III, 11: 8). 8 Diese Wieland-Stelle hat Hans-Joachim Weitz entdeckt und 1 9 8 7 in einem Aufsatz in der Zeitschrift „Arcadia"
6
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dokumentiert.
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als persönliche Qualifikation haben kann. Diese Satzkonstruktion zeigt deutlich, daß Wieland den Begriff noch im Sinn der alten „historia litteraria" verwendet: Wer „Weltlitteratur" hat, verfügt über das Gesamt des gelehrten Wissens und der literarischen Kultur, wie es im Schrifttum seiner Zeit vorliegt. Ein Gelehrsamkeitsideal also, bei dem es in Wielands speziellem Zusammenhang darauf ankommt, daß der Vielwissende kein pedantischer, trockener Polyhistor ist, sondern eben ein urbaner Mensch mit feinen Manieren und der Gabe der geistreichen Rede. „Weltkenntniß" gewinnt man aus dem „Umgang" innerhalb der guten Gesellschaft, „Weltlitteratur" aus dem breitgefächerten „Lesen der besten Schriften". Weder zielt der Begriff bei Wieland also auf Literatur im eingeschränkten, heute geläufigen Sinn, noch geht es um die neuzeitliche Interaktion zwischen einzelnen Literaturen bzw. Kulturen. Wielands „Weltlitteratur" ist ein neues Wort im ziemlich alten Kontext der „Litterärgeschichte" (so hieß das im Deutschen), die um die rechte Darbietung der Totalität des in Büchern gespeicherten Wissens bemüht war (und „Poesie" wurde bis weit ins 18. Jahrhundert hinein ja unter die Wissenschaften rubriziert). Mit Goethes „Weltliteratur" hat der Ausdruck nur wenige allerdings nicht unwichtige - Berührungspunkte.
2. Gutenbergs Weltpublikum Wielands Worterfindung referiert auf einen zwar erweiterungsfähigen, prinzipiell aber stabilen Bestand von Wissen; Goethes Begriff bezieht sich auf die Bewegung, die die Literatur im Zeitalter ihrer zunehmenden Kommerzialisierung, ihrer sprunghaft gesteigerten Vervielfältigung und ihrer weitflächigen Verbreitung erfaßt hat. Seine Prägung des Kompositums - er selbst war wohl überzeugt, das Wort als erster zu verwenden - ist ersichtlich eine Parallelbildung zu zahlreichen anderen Welt-Komposita, die um 1 8 0 0 im Deutschen auftauchen: Weltwirtschaft, Weltverkehr, Weltmarkt, Weltöffentlichkeit, Weltpolitik. In diesen neuen Zusammensetzungen artikuliert sich erstmals die Semantik der Globalität (mit ihren spezifischen Konnotationen der Raumverdichtung und der Zeitverkürzung 9 ) und drängt Es ist kein Zufall, sondern ein wortgeschichtlicher Beleg für die zeitgenössische Erfahrung einer ,space-time-compression', daß parallel zu den neuen Welt-Komposita zahlreiche neue Bildungen mit ,Zeit' entstehen: Zeitabschnitt, Zeitaufgabe, Zeitbedürfnis, Zeitbewegung, Zeitereignis, Zeiterscheinung, Zeitgefühl, Zeitgeist etc. Vgl. die Auflistung bei Koselleck 1 9 8 4 : 3 3 7 f . 9
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die religiöse Opposition ,weltlich/geistlich', die bis dahin den ,Welt'-Begriff dominiert hatte, allmählich zurück. 1 0 Ganz im Sinn eines Adam Smith, eines Kant (oder auch der späteren Aufnahme des Begriffs bei Karl M a r x 1 1 ) thematisiert Goethe die Entstehung eines Weltliteraturmarkts. Die neueste Zeit hat einen planetarischen Fluß nicht nur von gewöhnlichen materiellen Gütern, sondern auch von Informationen und Forschungswissen, von religiösen, philosophischen, politischen Ideen und von Werken der Kunst hervorgebracht. Wie andere Ware auch kann „poetische Ware" (der Ausdruck begegnet im Kontext der Debatte um das Urheberrecht immer häufiger im Verlauf des 18. Jahrhunderts) prinzipiell grenzenlos im- und exportiert werden. Übersetzungen machen einen wachsenden Bestandteil der nationalen Buchproduktion aus. Weltliteratur ist ein Moment der durch expandierende Märkte und moderne Kommunikationsmedien sich bildenden Weltöffentlichkeit. Goethe knüpft hier an Überlegungen an, die in der Humanitätsdebatte des ausgehenden 18. Jahrhunderts von verschiedensten Autoren - die prominentesten in Deutschland waren vielleicht Kant und Herder vorgetragen worden waren. Ich zitiere exemplarisch zwei Passagen aus Herders „Briefen zu Beförderung der Humanität" ( 1 7 9 3 - 9 7 ) , in denen - ohne daß die Wörter auftauchen - das moderne Weltpublikum und die moderne Weltliteratur beschworen werden. In durchaus emphatischem Ton - „es geht alles ins Große" - beschreibt Herder die Mechanismen der internationalen Arbeitsteilung,
10 Von den zweiundvierzig Zusammensetzungen mit ,Welt', die Adelungs Wörterbuch von 1 7 8 6 verzeichnet, artikulieren dreizehn die Differenz ,weltlich/geistlich': Der Großteil der anderen Einträge bezieht sich auf Welt in der Bedeutung des kosmischen oder geographischen Raums (Weltall, Weltgebäude, Weltkörper, Weltkarte, Weltteil). ,Welt' unter dem Aspekt internationaler Zirkulation und Verdichtung existiert in diesem Stadium der Wortgeschichte noch kaum (Adelung 1 7 8 6 , Bd. V: 161ff.). 11 „Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion der Länder kosmopolitisch gestaltet. An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen [...] Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur" (Marx/Engels 1 9 6 4 : 4 6 6 ) .
die eine agonale, transnationale Produktivität der Menschheit hervorbringen: „Hieraus entspringt ein Wettkampf menschlicher Kräfte, der immer vermehrt werden muß, je mehr die Sphäre des Erkenntnisses und der Übung zunimmt. Elemente und Nationen kommen in Verbindung, die sich sonst nicht zu kennen schienen; je härter sie in den Kampf geraten, desto mehr reiben sich ihre Seiten allmählich gegeneinander ab, und es entstehen endlich gemeinschaftliche Produktionen mehrerer V ö l k e r " (Herder 1 9 9 1 : 127).
Dem entspricht auf der Rezeptionsseite die Bildung einer europazentrierten Weltöffentlichkeit: „Durch alles Reiben der Völker, der Gesellschaften, Zünfte und Glieder unter einander erwuchs immer ein größeres
oder feineres Publikum, das in Streit und Friede, in Liebe und Leid einander Teil nahm. Auf diesem Weg bekam die rohe Kunst, der vom Bedürfnis erpressete Fleiß der Einwohner Europens nicht nur diesen ganzen Weltteil, sondern durch ihn auch alle Weltteile zum gemeinschaftlichen Boden. Was für den Krieg und Handel, für die Seefahrt und den Luxus erfunden und ausgeübt ward, verbreitete seine guten und schädlichen Wirkungen auf alle Weltteile unsrer bewohnten Menschenerde; alle Völker Europas greifen hiebei in einander und halten unsern Erdball für das Publikum, worauf sie zu wirken haben" (Herder 1991:320).
Auch die Medien, die die Bildung eines solchen Weltpublikums erst ermöglichen, werden von Herder, der in seinen Frühschriften als Kritiker der typographischen Schriftkultur der Moderne aufgetreten war, mit freundlichen Worten bedacht. Herder spricht ausdrücklich von den „Vorteilen der Geistes-Industrie" (dem modernen Zeitungsund Verlagswesen; Herder 1 9 9 1 : 34) und lobt den Buchdruck als „Telegraph menschlicher Gedanken": „Welche Mühe kostete es in ältern Zeiten, Bücher zu haben und über einen Inbegriff von Wissenschaft zu urteilen! Jetzt überschwemmen sie uns; eine Flut Bücher und Schriften, aus allen für alle Nationen geschrieben. Ihre Blätter rauschen so stark und leise um unser Ohr, daß manches zarte Gehör schon jugendlich übertäubt wurde. In Büchern spricht Alles zu Allem; niemand weiß zu Wem? [...] Von einem solchen Publikum wußte weder R o m , noch Griechenland: Guttenberg und seine Gehülfen haben es für die ganze Welt gestiftet" (Herder 1 9 9 1 : 3 2 3 ) .
Herder, der mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Zeit der Abfassung dieser Briefe Adam Smiths „Wealth of nations" gelesen hat, handelt vom ,Welt-Publikum' durchaus nicht mehr rein appellativ im Sinn der kosmopolitischen Aufklärung. Es geht nicht mehr allein um den Anspruch, daß alles Gedruckte sich grundsätzlich an das Publikum der ganzen Welt richten, jede Idee der ganzen Menschheit angehören soll. Herder betont vielmehr die systemi-
Manfred Koch: Goethes „Weltliteratur" - Ein ambivalenter Erwartungsbegriff sehe Seite jenes Prozesses, in dem die V ö l k e r immer enger zusammenrücken und strukturell zur Zwangsgemeinschaft vereinigt werden. Seinen Ausführungen in diesem K o n t e x t ist, ohne d a ß das W o r t vork o m m t , bereits klar zu entnehmen, was das P h ä n o m e n „Weltliteratur" a u s m a c h t und wie seine Genese zu begreifen ist. D e m n a c h gibt es Weltliteratur, von der Grundstruktur her gesehen, seit dem 1 5 . / 1 6 . Jahrhundert. D a mals formiert sich, durch das neue M e d i u m des Buchdrucks extensiv, schnell und dauerhaft verbunden, der eine verstetigte europäische K o m m u n i k a tionsraum, in dem sich die volkssprachigen N a t i o nalliteraturen ausdifferenzieren. Die E x p a n s i o n der D r u c k t e c h n i k und die generelle Verbesserung der Verkehrs- und K o m m u n i k a t i o n s w e g e ermöglichte in der Frühen Neuzeit die Entstehung der europäischen res publica litteraria, des ersten „internationalen N e t z w e r k s " (Burke 2 0 0 1 : 6 2 ) des modernen Ideen- und Informationsaustauschs. Weitere wichtige Voraussetzungen auf dem Weg zur Formulierung des Konzepts „Weltliteratur" sind: a) die französische „Querelle des anciens et des mod e r n e s " , die den Glauben an die Gültigkeit zeitloser und kulturübergreifender Schönheitsnormen auflöste, was allererst ein Interaktionsmodell autonomer Einzelliteraturen ermöglichte; b) die Philosophie der Aufklärung, die kulturelle Verschiedenheit generell ins R e c h t setzte und lehrte, sie genetisch zu begreifen (Montesquieu, Herder); c) die Alphabetisierung breiterer Bevölkerungsschichten und die ungeheure Expansion des Buchmarkts in der zweiten Hälfte des 1 8 . Jahrhunderts; damit ist speziell in Deutschland ein sprunghafter Anstieg der Übersetzungen aus fremden Sprachen verbunden, der zu der topischen Behauptung führt, Deutschland sei die Ubersetzernation schlechthin; d) die Französische Revolution als das exemplarische weltgeschichtliche Ereignis ( d . h . ein Ereignis, das in bis d a t o ungekannter Weise mit dem B e w u ß t sein einhergeht, d a ß es alle angeht und weltweite Folgen zeitigen wird); e) die Erfahrung der langen Kriegsperiode 1 7 9 3 1 8 1 5 als des „zweiten wirklichen Weltkriegs" (Osterhammel/Petersson 2 0 0 3 : 4 8 ) , der Europa binnen eines halben Jahrhunderts erschütterte 1 2 , mit M a s senmobilisierungen und Kämpfen auf drei K o n tinenten. Viele der Zeitschriften, die G o e t h e in den zwanziger J a h r e n liest („Le G l o b e " , „Le T e m p s " , 12 Der erste Krieg, der auf mehreren Kontinenten gleichzeitig geführt wurde, war der Siebenjährige Krieg 1756 1763.
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„Revue f r a n ç a i s e " aus Frankreich, „Edinburgh R e v i e w " , „Foreign R e v i e w " , „Foreign Quarterly R e v i e w " aus Großbritannien, „ L ' E c o " aus Italien), waren angetreten mit dem Vorsatz, durch Präsentation der Kultur der N a c h b a r l ä n d e r und Hinweise auf den Austausch künstlerischer und philosophischer Ideen die Verständigung zwischen den kriegsgeschädigten N a t i o n e n zu befördern. W o G o e t h e das Versöhnungspotential der „Weltliteratur" unterstreicht, schließt er sich solchen verbreiteten Hoffnungen a n . 1 3 Ausschlaggebend für Goethes Begriffsbildung im J a h r 1 8 2 7 ist schließlich ein weiterer medialer Beschleunigungsschub. An erster Stelle sind hier natürlich die vielbeschworenen „Eisenbahnen und D a m p f s c h i f f e " (vgl. FA 3 7 : 2 7 7 ) zu nennen. G o e t h e interessiert sich indessen für die technische Progression auf verschiedensten Gebieten, für die Eilpostbeförderung innerhalb Europas so gut wie für den transkontinentalen K a n a l b a u ( 1 8 2 7 hat er unter Berufung auf Alexander von H u m b o l d t den Bau des P a n a m a - K a n a l s und daran anschließend auch den des Suez- und des R h e i n - D o n a u - K a n a l s prophez e i t 1 4 ) . Im engeren Bereich der Printmedien sind die entscheidenden Neuerungen, die G o e t h e in den zwanziger J a h r e n vor Augen standen, die Erfindung der Lithographie, der Zylinderdruckpresse und der Setzmaschine. Die „Fazilitäten der K o m m u n i k a t i o n " (FA 3 7 : 2 7 7 ) , wie G o e t h e das nennt, sind unabsehbar gesteigert worden. Sie verändern sowohl die Verbreitung und Rezeption von Literatur wie auch die Gestalt der W e r k e selbst. „Weltliteratur" bezeichnet auch den neuen, unhintergehbaren Horizont allen kreativen Schreibens. M o d e r n e Literatur entsteht vor dem Hintergrund eines unabsehbar angewachsenen Textuniversums. M i t dem zunehmen13 „Es ist schon einige Zeit von einer allgemeinen Weltliteratur die Rede und zwar nicht mit Unrecht: denn die sämmtlichen Nationen, in den fürchterlichsten Kriegen durcheinander geschüttelt, sodann wieder auf sich selbst einzeln zurückgeführt, hatten zu bemerken, daß sie manches Fremde gewahr worden, in sich aufgenommen, bisher unbekannte geistige Bedürfnisse hie und da empfunden. Daraus entstand das Gefühl nachbarlicher Verhältnisse, und anstatt daß man sich bisher zugeschlossen hatte, kam der Geist nach und nach zu dem Verlangen, auch in den mehr oder minder freyen geistigen Handelsverkehr aufgenommen zu werden" (FA 22: 870). 14 FA 39: 580f. Die Stelle entstammt allerdings dem sehr viel später verfaßten III. Teil von Eckermanns „Gesprächen mit Goethe", und es ist schwer zu entscheiden, was authentische Goethe-Äußerung gewesen sein mag und was Eckermann ihm retrospektiv in den Mund legt. Daß Goethe von dem amerikanischen Kanalprojekt fasziniert war, bezeugen jedenfalls die Tagebücher der 20er Jahre.
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den Reflexivwerden von Traditionen stellen die permanent revolutionierten Kommunikationsmittel auf lange Sicht nahezu jedem Autor an jedem Punkt der Welt die Gesamtheit der literarischen Techniken aller Traditionen und Gegenwartsliteraturen zur Verfügung. Jeder kann sich mit einem hochdifferenzierten Spektrum poetischer Formen verschiedenster kultureller Provenienz vertraut machen. Goethe hat, vor allem im „West-östlichen Divan", dieses zunehmende Rauschen der Intertextualität um den einzelnen Text reflektiert und eine arkane Poetik der modernen Weltliteratur entwickelt. Global verbreitete Motive, Stoffe und Gestaltungstechniken gehen in immer neuer Weise Verbindungen mit den spezifischen lebensweltlichen Bedingungen und der Individualität der jeweiligen Autoren ein. Damit rückt schon bei Goethe in den Blick, was Hans Magnus Enzensberger 1960 als „Weltsprache der modernen Poesie" bezeichnet hat (Enzensberger 1960: 13). 1 5
3. Ideenkommerz und internationale ideenzirkulation Den systemischen Aspekt von Weltliteratur betont die in Goethes Äußerungen durchgängig begegnende Merkantil- und Zirkulationsmetaphorik: „geistiger Handelsverkehr" (FA 22: 870), „Weltumlauf" der Literaturen (FA 22: 555), „Freihandel der Begriffe und Gefühle" (FA 38: 157f.). Diese Metaphorik ist grundsätzlich ambivalent. Sie kann mit dem Pathos des Wirtschaftsliberalismus den ungehinderten Zugang einer immer größeren Zahl von Menschen zu allen intellektuellen Gütern heraus15
Eine solche „Weltsprache" ist keine Einheitssprache; es geht vielmehr um das spannungsreiche Widerspiel von Forminnovation (die sich am globalen Reservoir poetischer Techniken orientiert) und dem individuellen Artikulationswillen des Schriftstellers, der, sozialisiert in einer bestimmten Kultur, sich an deren Sprache und den darin sedimentierten historischen Erfahrungen abarbeitet. Die poetischen Techniken, die in der Poesie des 20. Jahrhunderts universell geworden sind, sind allerdings deutlich Errungenschaften der europäischen und nordamerikanischen Lyrik. Vgl. Enzensbergers Selbstkritik am „ahnungslosen", allein den „Standards der Metropolen" verpflichteten Eurozentrismus seiner Weltpoesie-Konzeption in den Nachwörtern zu den späteren Ausgaben des „Museums" (1979 und 2002): Es fehlten „in diesem Buch die Chinesen, die Araber, die Inder, die Japaner, von Dutzenden anderer Zonen der Poesie zu schweigen. Die Idee der Weltliteratur hat dadurch eine Verkürzung erlitten, die heute, in einem postkolonialen Zeitalter, ziemlich merkwürdig anmutet"; Enzensberger 2002: 786f.
streichen. Wird hingegen die besorgniserregende Textvermehrung und -distribution im Zeitalter der modernen Geistesindustrie ins Auge gefaßt, kann die Bildlichkeit des Ideenflusses leicht umschlagen in die der Sintflut, des Strudels, des Ertrinkens im Sekundären. So macht der Präzeptor der Weltliteratur selbst die Erfahrung, in der Textmasse, die der von ihm angestoßene Dialog gebiert, den Boden unter den Füßen zu verlieren: „Sodann bemerke, daß die von mir angerufene Weltliteratur auf mich, wie auf den Zauberlehrling, zum Ersäufen zuströmt; Schottland und Frankreich ergießen sich fast täglich [...]" (FA 37: 611). Wo Goethe vom Bedrohlichen, Desorientierenden der modernen Schriftkultur handelt, taucht auch die militärische Metapher der „anmarschierenden Weltliteratur" (FA 38: 99) auf. Die Metaphorik der .Ideenzirkulation' und des ,Ideenumtausches'. des ,geistigen Tauschhandels' oder wie immer die Begriffe lauten mögen 1 6 , ist im 18. Jahrhundert in deutschen Zeitschriften und wissenschaftlichen Abhandlungen omnipräsent. Daß mit Ideen Handel getrieben werden kann, drücken die Zeitgenossen häufig mit einem Wort aus, das im Deutschen dann bald außer Gebrauch kam: ,Ideenkommerz'. Zugrunde liegt das lateinische c o m m e r cium', das bereits in der Antike im Doppelsinn von materiellem Tauschgeschäft und geistigem Austausch verwendet wurde (commercium linguae, idearum, sermonum, epistularum, studiorum etc.). Die Äquivokation im Commercium-Begriff erlaubte schon im 17. Jahrhundert, den wachsenden europäischen Güterverkehr spontan mit der Aussicht auf Steigerung des Wissensaustauchs und - in letzter Instanz - der H o f f n u n g auf Verständigungswachstum zu verknüpfen. So wurde das „commercium idearum" auch zu einem Leitbegriff der europäischen République des Lettres. Einer ihrer aktivsten Vertreter, Gottfried Wilhelm Leibniz, ist hier ein besonders instruktives Beispiel, weil er in seinen (bekanntlich lateinstrotzenden) deutschen Schriften das Wort mal lateinisch, mal deutsch verwendet, mal bezogen auf den Güterverkehr, mal bezogen auf den Wissensaustausch. Leibniz fordert in seinen Akademieschriften beständig Maßnahmen, durch die es nicht allein möglich werde, in Deutschland „Manufakturen zu stiften und per consequens Kommerzien dahin zu ziehen" (Leibniz 1967: 40), sondern auch „die Geister der Deutschen aufzumuntern, [...] der englischen, französischen, venetianischen, romanischen Sozietäten und Journa16
Einen „fruchtbaren Umtausch der Ideen" erhoffte sich z.B. Schiller von seiner Zeitschrift „Die Hören"; Schiller 1992: 998.
Manfred Koch: Goethes „Weltliteratur" - Ein ambivalenter Erwartungsbegriff len Exempel zu folgen" und „gleichsam einen Handel und Kommerz mit Wissenschaften anzufangen" (Leibniz 1967: 42). Der geistige Tauschhandel innerhalb Europas ist im 17. und 18. Jahrhundert Dauerthema unter den führenden Köpfen der Gelehrtenrepublik. Auch in Frankreich, der kulturellen Hegemonialmacht, fordert Voltaire 1 7 3 3 einen „commerce mutuel d'observations" zwischen den europäischen Nationen, damit sie in der Lage wären, „une attention moins superficielle aux ouvrages et aux manières de leurs voisins" zu entwickeln (zit. nach Maurer 1 9 9 7 : 47). O b Goethe bei seiner Beschwörung des „geistigen Handelsverkehrs" solche älteren Äußerungen vor Augen standen oder ob er einfach den europaweiten „commerce intellectuel" (Hamm 1 9 9 8 : 4 4 0 ) , von dem die Mitarbeiter der französischen Kulturzeitschrift „Le Globe", seiner damaligen Lieblingslektüre, handelten, in einen bewußt den Doppelsinn artikulierenden deutschen Terminus übersetzte, 1 7 kann man dahingestellt sein lassen. Originell war diese Bildlichkeit, als Goethe sie in seinen Weltliteratur-Äußerungen aufgriff, jedenfalls nicht. Ähnlich verhält es sich mit der Metaphorik der ,Ideenzirkulation' bzw. des ,Ideenumlaufs'. Nach William Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs (1628) werden in England bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (gemäß der alten Analogie von „natural" und „political body") wirtschaftliche Prozesse zunehmend nach dem Vorbild der „circulatio sanguinis" neu konzeptualisiert. John Locke handelt 1691 von der „quickness of circulation", die dem Wohlbefinden des Gemeinwesens generell förderlich sei (vgl. Schmidtgall 1 9 7 3 : 4 2 8 ) . Daß solche Zirkulation nicht nur die handgreiflichen Waren und Zahlungsmittel, sondern auch die nützlichen Kenntnisse umtreiben müsse, ist dabei von Anfang an mitbedacht. Zur wahren Leitmetapher aber wird die geistige Zirkulation erst durch jene neue Vorstellung von der Gestalt und Funktion des Wissens, die mit dem Namen ,Aufklärung' verbunden ist. Die wichtigsten Zeitschriften der europäischen République des Lettres des 17. Jahrhunderts das „Journal des Scavans", die „Philosophical Transactions", das „Giornale de Letterati", die „Acta Eruditorum" - waren Gelehrtenzeitschriften, beschränkt auf einen überschaubaren Kreis hochgebildeter Wissenschaftler und Schriftsteller. Daß das Wissen beweglich sein soll, daß es mitgeteilt und
17 „ C o m m e r c e intellectuel" ließe sich ja auch nur mit ,geistiger Verkehr' übersetzen. „Gedankenverkehr" ist ein Kompositum, das sich dem Grimmschen Wörterbuch zufolge erstmals bei Kant findet.
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ausgetauscht werden soll, spielte in deren Kommunikation gewiß schon eine Rolle; es ging aber eben um den Wissenstransfer innerhalb dieser Eliten. Aufklärung hingegen versteht sich als Unternehmen vor allem zur weitflächigen, gemeinnützigen Verbreitung der Wissensschätze über die Gelehrtenkreise hinaus. Aufklärungsjournalisten charakterisierten ihre Zeitschriften als Schaltstellen eines Umlaufprozesses, in dem die „Goldstücke aus den Schatzkammern der Wissenschaften [...] zu Groschen und Dreiern geprägt werden, um als solche durchs ganze Land zu roulieren". 1 8 Mit dieser Ausrichtung auf ein möglichst breites Publikum, mit der immer emphatischeren Propagierung einer Verflüssigung der Intelligenz, die nun auch die verborgensten Winkel und die untersten Klassen eines Landes erreichen soll, wird Ideenzirkulation zur „programmatischen Metapher der europäischen Aufklärung für die öffentliche Gewinnung, Anreicherung und Verbreitung von Wissen" (Schmidt 2 0 0 1 : 2 6 6 ) . Das Bildfeld steht für den „Selbstentwurf der aufgeklärten res publica litteraria" (Schmidt 2 0 0 2 : 105), die die Bildung einer literarischen Öffentlichkeit in Analogie zur Ökonomie als prinzipiell unbegrenzten, selbstregulativen Prozeß der Wissensdiffusion und -interaktion begreift. Die Konnotationen aus dem medizinischen Bereich spielen hierbei immer noch eine wichtige Rolle. Es gilt als ausgemacht, daß der gesellschaftliche Körper überall dort erkranken wird, wo der Umlauf der Güter und Gelder, aber eben auch der der nützlichen Kenntnisse und klugen Ideen in „Stockung" gerät. Die lautstarke Beschwörung des Umlaufs als soziale Vitalitätsquelle und Vereinigungskraft in den Journalen der zweiten Jahrhunderthälfte erklärt, warum Friedrich Schlegel in seinen „Heften zur Philosophie" der neunziger Jahre „Circulation" als einen von fünf Begriffen aufführen kann, die die „Götter" des gegenwärtigen Zeitalters seien: „Credit ist der dritte Gott des Zeitalters, neben der Mode und der Industrie. [...] Luxus ist der vierte Gott des Zeitalters, Circulation desgleichen" (F. Schlegel KA 18: 239f.). Der Zirkulationstopos begegnet in Texten dieser Zeit bisweilen in einer Form, in der gar nicht mehr genau unterscheidbar ist, ob von Blut-, Waren-, Geld- oder Ideenzirkulation die Rede ist. Zirkulation durchwaltet alles, von den Körpersäften über die Güter, die Münzen bis hin zu den Wissensbeständen.
18 Aus einem Artikel von J o h a n n Heinrich Campe im „Braunschweigischen J o u r n a l " 1 7 8 8 , abgedruckt im Anhang des Aufsatzes von R a a b e 1 9 7 4 : 1 1 6 f f . , hier: 1 2 2 .
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Goethe bewegt sich also in ausgetretenen Bahnen, wenn er sein Konzept des vervielfachten, beschleunigten Austauschs zwischen den Nationalliteraturen in dieser Kommunikationsmetaphorik formuliert. Dennoch ist sie geeignet, den Blick auf wichtige Voraussetzungen und Zielvorstellungen in Goethes Äußerungen zu lenken. Denn die Rolle, die die einzelnen Länder in der sich bildenden Weltliteratur spielen werden, hängt für ihn entscheidend von den jeweiligen sozialen Bedingungen, Institutionen und Steuerungsmechanismen des Wissensflusses ab.
4. „Le Globe" in Paris Goethes Begriff der Weltliteratur zielt aufs Globale, ist de facto befaßt mit der Interaktion der europäischen Literaturen (jedenfalls in erster Linie) und geht konkret hervor aus einer vergleichenden Kultursoziologie der deutschen und der französischen Intelligenz. Goethe entwickelt, wie die Forschung mittlerweile zur Genüge gezeigt hat, den Begriff in der täglichen Lektüre und der anhaltenden Übersetzung von Artikeln der liberalen Pariser Kulturzeitschrift „Le Globe" (ab Januar 1826; vgl. die umfassende Dokumentation von Hamm 1998). Goethes Begeisterung für das Pariser Journal scheint zunächst ein Ausdruck von Alterseitelkeit zu sein. Im April 1826 hatte der 26jährige „Globe"-Mitarbeiter Jean-Jacques Ampère (ein Sohn des berühmten Physikers) eine seitenlange Besprechung der ersten vollständigen französischen Übersetzung von Goethes Dramen ins Blatt gerückt; eine Rezension, die in Wahrheit eher ein Grundsatzartikel war mit dem erklärten Ziel, Goethe in Frankreich „populär zu machen" (Hamm 1998: 128). Goethe hatte diesen Artikel sogleich für seine eigene Zeitschrift „Über Kunst und Altertum" übersetzt und in einer Vorbemerkung erfreut darauf hingewiesen, daß die Franzosen, „welche von jeher nur im Allgemeinen an deutschem Bestreben Theil genommen, weniges davon gekannt, das wenigste gebilligt" hätten (FA 22: 258), nun beginnen würden, die deutsche Literatur „in einem sich immer weiter ausbreitenden Kreise" zu schätzen. Dies sei „in weltbürgerlichem Sinne" (FA 22: 259) äußerst erfreulich. Fünf Monate später ist das Nomen „Weltliteratur" eine schlagwortartige Komprimierung für solche Literaturbetrachtung ,in weltbürgerlichem Sinn'. Daß Goethe beglückt war über die massive französische Rezeption seiner Schriften, wird zweifellos ein persönlicher Impuls hinter der Formulierung
des Weltliteratur-Programms gewesen sein. Es auf die Gefallsucht eines verdämmernden Greises zu reduzieren, wie es die aufkommende Nationalphilologie Germanistik getan hat 1 9 , ist indessen nicht statthaft. Denn Goethe entwickelt am Modellpaar Deutschland - Frankreich grundlegende Reflexionen zur Literatur, zum Literaturbetrieb und zum Verhältnis von Literatur und Wissensorganisation in der Moderne. Ausschlaggebend ist weniger das Goethe-Interesse der Globisten als ihre beinahe nervöse Aufmerksamkeit für alles Neue (bzw. neu aufzunehmende) im Bereich der Kultur, ihre Fähigkeit, in kürzester Zeit ein Maximum an umlaufender poetischer Ware zu rezipieren. Bei der Beschreibung der durchweg jugendlichen „Globe"-Mitarbeiter greift Goethe auf eine Topik zurück, die sich seit den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts vielfach in den ParisTexten deutscher Autoren findet. Die Metaphorik der Ideenzirkulation wird dort unter dem Eindruck der Französischen Revolution gleichsam revivifiziert. Paris ist die Kapitale des modernen Wissens (vgl. Stierle 1988). Die kulturelle Vormachtstellung der Seine-Metropole wird nicht mehr - wie bis weit ins 18. Jahrhundert hinein - mit der generellen zivilisatorischen Überlegenheit Frankreichs begründet; sie verdankt sich vielmehr Strukturveränderungen der Revolutionszeit. Die Französische Revolution war ja in einem ihrer wesentlichen Aspekte eine Kulturrevolution, die freie, ausgreifende Ideenzirkulation durch eine zielgerichtete Umwälzung beinahe aller überkommenen Institutionen des Wissens - Bibliotheken, Museen, höhere Schulen, Akademien, Forschungsinstitute - herbeizuführen bemüht war. 20 Vor diesem Hintergrund ist das neue Pathos verständlich, mit dem deutsche Parisbesucher der neunziger Jahre eine Bildlichkeit einsetzen, in der Paris zugleich als Ort einer nie dagewesenen Konzentration des Wissens, seines freien Strömens innerhalb dieses Zentrums und seiner Transmission in die Peripherie erscheint. „Paris gibt den Ton an", schreibt Georg Forster in den „Parisischen Umrissen", „nicht bloß wegen seiner Bevölkerung und Größe, sondern weil der Umlauf des Handels, der 19 Vgl. die Darstellung bei Gervinus: „Seit sich dieser [Carlyle] mit G ö t h e in Relation setzte, italienische Dichter zu dessen Fahne schwuren, der Globe sein Lobpreiser w a r d , Byron und Scott seine Werke benutzten, gefiel sich der alte H e r r in dem G e d a n k e n einer Weltliteratur [...]" (Gervinus 1842: 577). 20 „ D u r c h die Ö f f n u n g der Institutionen wird das Wissen selbst M o m e n t der Öffentlichkeit, es gerät in den Zirkulations- und K o m m u n i k a t i o n s f l u ß der Stadt und beschleunigt und bereichert sich d a d u r c h " (Stierle 1988: 90).
Manfred Koch: Goethes „Weltliteratur" - Ein ambivalenter Erwartungsbegriff Ideen, der M e n s c h e n selbst, im Lande noch unbedeutend ist. [ . . . ] Hier allein ist Bewegung und Leben, hier Neuheit, Erfindung, Licht und Erkenntniß. Paris ist der K o m m u n i k a t i o n s p u n k t zwischen allen übrigen Städten, zwischen allen Departements der Republik; alles fließt hier zusammen, um erst von hier aus nach den Provinzen zurückzuström e n . " (Forster 1 9 7 0 : 7 7 2 ) Analog K o n r a d Engelbert Oelsner, der seine Vergleichung des „ G r a d s " der gesellschaftlichen Aufgeklärtheit in Deutschland und Frankreich mit einer allgemeinen Feststellung beginnt: „Wenn es darauf a n k o m m t , den Grad der öffentlichen Aufklärung einer Gesellschaft zu bestimmen, so müssen vorzüglich zwei Gesichtspunkte betrachtet werden. Einer ist: Beschaffenheit der Ideen; der andre: die Lebhaftigkeit ihres Uml a u f s " (Oelsner 1 9 8 7 : 3 1 ) . Vor allem unter dem zweiten Aspekt ist Frankreich (Paris) unschlagbar: „ W a s Frankreich aber besonders auszeichnet, ist die unglaubliche Tätigkeit, w o m i t um Ideen geworben, womit Ideenkommerz getrieben wird. Kein O r t in der Welt, selbst L o n d o n nicht, darf sich in dieser Hinsicht mit Paris messen. Neue Begriffe, Einfälle, M a x i m e n , praktische Wahrheiten haben für die Neugier dieses geistreichen Volks einen Reiz, den kein sinnliches Vergnügen aufwiegt. Ein gesunder G e d a n k e vervielfältigt sich hier im Hui wie der Blitz in einem Spiegelsaale. M a n kann sagen, d a ß die französische Aufklärung durch Geschwindigkeit ersetzt, w a s ihr an M a s s e f e h l t " (Oelsner 1 9 8 7 : 3 2 ) . Einen zusätzlichen Anstoß erhielt die Diskussion, nachdem durch die Napoleonischen Beutezüge weitere Kunst- und Wissensschätze aus aller Welt - vor allem natürlich die bedeutenden antiken D e n k m ä ler - in Paris versammelt wurden. So ablehnend die meisten deutschen Intellektuellen auf den Kunstr a u b reagierten, so selbstverständlich machten sie von Wilhelm v. H u m b o l d t bis Friedrich Schlegel von den in Paris verfügbaren Wissensbeständen Gebrauch. Goethe, der bekanntlich den Gang nach Paris vermied, wünscht sich in einem seiner Briefe an den nach Frankreich umgezogenen Wilhelm v. H u m b o l d t einen „Korrespondenten in Paris, d a ß
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Denn hier wird die Stadt Paris als jener letztlich ins G l o b a l e ausgreifende K o m m u n i k a t i o n s r a u m entworfen, der G o e t h e auch noch bei seinen Weltliteratur-Äußerungen zwanzig J a h r e später vor Augen stand. Eindrucksvoll belegt dies ein Goethe-Gespräch über einen Besuch Ampères in Weimar (April/Mai 1 8 2 7 ) , das E c k e r m a n n aufgezeichnet hat. E c k e r m a n n w a r fassungslos, als sich bei der ersten Begegnung der hochgeschätzte, souveräne Pariser Publizist als ein „lebensfroher Jüngling von einigen zwanzig J a h r e n " herausstellte (FA 3 9 : 6 0 8 ) . Es sei unfaßlich, wendet er sich an G o e t h e , wie ein Mittzwanziger „eine solche Ü b e r s i c h t " und „eine solche H ö h e des Urteils" besitzen k ö n n e . Goethes A n t w o r t ist eine kurze vergleichende Sozialgeschichte der deutschen und der französischen Intelligenz: 2 1 „Wir führen doch im Grunde Alle ein isoliertes armseliges Leben! Aus dem eigentlichen Volke kommt uns sehr wenige Kultur entgegen und unsere sämtlichen Talente und guten Köpfe sind über ganz Deutschland ausgesäet. Da sitzt Einer in Wien, ein Anderer in Berlin, ein Anderer in Königsberg, ein Anderer in Bonn oder Düsseldorf, Alle durch fünfzig bis hundert Meilen von einander getrennt, so daß persönliche Berührungen und ein persönlicher Austausch von Gedanken zu den Seltenheiten gehört. [...] Nun aber denken Sie sich eine Stadt wie Paris, wo die vorzüglichsten Köpfe eines großen Reichs auf einem einzigen Fleck beisammen sind und in täglichem Verkehr, Kampf und Wetteifer sich gegenseitig belehren und steigern; wo das Beste aus allen Reichen der Natur und Kunst des ganzen Erdbodens der täglichen Anschauung offen steht; diese Weltstadt denken Sie sich, wo jeder Gang über eine Brücke oder einen Platz an eine große Vergangenheit erinnert und wo an jeder Straßenecke ein Stück Geschichte sich entwickelt hat. Und zu diesem allem denken Sie sich nicht das Paris einer dumpfen geistlosen Zeit, sondern das Paris des 19. Jahrhunderts, in welchem seit drei Menschenaltern durch Männer wie Molière, Voltaire, Diderot und ihresgleichen eine solche Fülle von Geist in Kurs gesetzt ist, wie sie sich auf der ganzen Erde auf einem einzigen Fleck nicht zum zweiten Mal findet, und Sie werden begreifen, daß ein guter Kopf wie Ampère, in solcher Fülle aufgewachsen, in seinem vierundzwanzigsten Jahre wohl etwas sein kann" (FA 39: 609).
m a n zeitig erführe, w a s in Kunst und Wissenschaft dort vorginge" (Goethe/Humboldt 1 9 0 9 : 1 3 2 ) . H u m b o l d t verstand die Botschaft und berichtete
Wenn Goethe seinem Gehilfen Eckermann, dem Au-
treulich über seine Begegnungen mit französischen Intellektuellen, seine Theater- und Museumsbesuche. D e r Humboldt-Goethe-Briefwechsel dieser
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J a h r e , der in Z u s a m m e n h a n g zu lesen ist mit H u m boldts Artikeln über die französischen „Institute" der Literatur-, Kunst- und Wissensvermittlung, hat fundamentale Bedeutung für die Entwicklung von Goethes Weltliteraturkonzept (vgl. Oesterle 1 9 9 1 ) .
todidakten aus der Lüneburger Heide, hier nicht ohNorbert Elias hat, gestützt auf diese Eckermann-Stelle, die Unterscheidung folgendermaßen formuliert: auf der einen Seite die deutsche „mittelständische Intelligenzschicht ohne Hinterland", deren wichtigstes Kommunikationsmittel das Buch ist; auf der anderen Seite die französischen Intellektuellen, die „im Verkehrskreise einer mehr oder weniger einheitlichen und zentralen guten Gesellschaft" leben und deren Medium die Unterhaltung ist; Elias 1978: 33ff.
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ne Boshaftigkeit den weltläufigen Pariser Journalisten Ampère gegenüberstellt, wiederholt er nicht einfach den alten Gegensatz von formbewußtem, geistreichem Franzosen auf der einen und ungelenkem, schüchternem Deutschen auf der anderen Seite. Ampère und die Globisten sind nicht mehr bloße Repräsentanten höherer ,Politesse', sie stehen vielmehr für eine gelungene Synthese von aristokratischer Gesprächskultur (das Frankreich des 17. / 18. Jahrhunderts) und modernster Organisation des Wissens (das nachrevolutionäre Frankreich). Der französische Esprit, die vielgerühmte Leichtigkeit der Salon-Konversation, ist nun das auszeichnende Merkmal einer Kulturzeitschrift, die scheinbar mühelos die Übersicht über die verschiedensten Wissensbereiche behält und dies in unangestrengtem Ton einem breiten hauptstädtischen Publikum zu vermitteln versteht.
5. Weltliteraturgewinner und -Verlierer Paris als Knotenpunkt eines ins Globale ausgreifenden Ideenumlaufs verschafft der französischen Literatur langfristig einen Modernitätsvorsprung. Die deutsche Literatur, durch die Blütezeit um 1800 gerade in den Kreis der ,Großen', ja zum Vorbild der anderen aufgestiegen, droht dagegen in Rückstand zu geraten: „Jetzt, da sich eine Weltliteratur einleitet, hat, genau besehen, der Deutsche am meisten zu verlieren" (FA 22: 356). Das Defizit erblickt Goethe im ,ungeselligen' Charakter der deutschen Literatur. In anderen Äußerungen wird den Deutschen dagegen eine Vorreiterrolle bei der Herausbildung der „allgemeinen Weltliteratur" attestiert. Wie lassen sich diese gegensätzlichen Positionen vereinbaren? Eine weltliterarische Sonderstellung kommt Deutschland als Land der Übersetzer zu. Goethe, wie fast alle bedeutenden Autoren seiner Zeit ein fleißiger Übersetzer aus mehreren Sprachen, schließt hier an eine geläufige Selbstinterpretation der einheimischen Schriftsteller an. Topisch ist seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Behauptung, es sei ein Charakterzug des Deutschen, das Fremde zu lieben, was sich sowohl in der Vielzahl von Übersetzungen als auch in deren herausragender Qualität niederschlage. Deutsch sei die „biegsamste" Sprache Europas, geeignet - wie es August Wilhelm Schlegel in einem repräsentativen Aufsatz formuliert - „sich den verschiedensten fremden [Sprachen] anzuschmiegen, ihren Wendungen zu folgen, ihre Silbenmaße nachzubilden, ihnen beinahe ihre Töne abzustehlen" (A.W. Schlegel 1965: 34).22 Tatsächlich gelang auch nur im Deutschen die Nachbildung der antiken Versmaße in der neueren Dichtung.
Dank der unbegrenzten Aufnahmebereitschaft der deutschen Intelligenz und ihrer Bemühung um gewissenhafte Wiedergabe des fremden Sprachguts sieht man die europäische Literatur um 1800 in Deutschland gewissermaßen gebündelt und umfassend archiviert. Dieser verbreiteten Beschwörung Deutschlands nicht nur als eines Sammelbeckens, sondern darüber hinaus als quasireligiösen Vereinigungszentrums der europäischen Kultur entstammen die bekannten visionären Apostrophierungen der politisch hoffnungslos zersplitterten Nation: Hölderlins Anrede an das „Vaterland": „O heilig Herz der Völker" („Gesang des Deutschen",); Schillers Verkündigung, dem deutschen Geist sei „das Höchste bestimmt, / Und so wie er in der Mitte von Europas Völkern sich befindet, / So ist er der Kern der Menschheit" („Deutsche Größe"). Die pathetische Überhöhung Deutschlands zur apostolischen Menschheitsmitte findet sich bei Goethe nicht, wohl aber der Topos von der deutschen Fremdenliebe und der unendlich anpassungsfähigen deutschen Sprache: „Es liegt in der deutschen Natur, alles Ausländische in seiner Art zu würdigen und sich fremder Eigentümlichkeit zu bequemen. Dieses, und die große Fügsamkeit unserer Sprache macht denn die deutschen Übersetzungen durchaus treu und vollkommen" (FA 39: 132). Deutschland steht deshalb im Zentrum der Weltliteratur. „Wer die deutsche Sprache versteht und studiert befindet sich auf dem Markte wo alle Nationen ihre Waren anbieten, er spielt den Dolmetscher indem er sich selbst bereichert" (FA 22: 434). Deutschland ist aufgrund seiner Übersetzungsleistungen das Land, in dem man sich am einfachsten auf dem Weltliteraturmarkt bedienen kann. Wer deutsch lernt, kann am meisten fremde Literatur in einer Sprache lesen. Deutsch ist für Goethe zu Beginn des 19. Jahrhunderts die lingua franca oder - wenn man seine ökonomische Metaphorik fortspinnt - das Weltgeld der internationalen Literatur. Daraus ergibt sich für ihn aber nur die Verpflichtung, eine führende Rolle innerhalb einer europäischen Bildungsgemeinschaft zu spielen, in die die Kulturen ihre Vorzüge einbringen und ihre Defizite wechselseitig korrigieren. Und korrekturbefürftig ist in Goethes Augen sowohl das ganze Deutschland als auch seine Literatur. Die weltliterarische Pioniernation wird, verharrt sie im Eigenen, ihre Ausnahmestellung verlieren. Goethes düstere Prophezeiung einer europäischen Marginalisierung der deutschen Literatur läßt sich, mentalitätsgeschichtlich betrachtet, rekonstruieren als frühe Kritik der deutschen Innerlichkeit. 23
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Auf die anhaltende Diskussion, ob man nicht ganz auf
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Schon vor der Wende zum 19. Jahrhundert finden sich in seinem Werk Invektiven gegen eine deutsche Kultur des „Gemüts" (das ist das Unwort für ihn), die nach 1805 zunehmend schärfer werden und schließlich in der bekannten Forderung kulminieren, die „Deutschen sollten in einem Zeiträume von dreyßig Jahren das Wort Gemüth nicht aussprechen" (FA 22: 211; 1826). Auch für ihn stand außer Frage, daß die hohe Zeit der deutschen Dichtung und Philosophie auf eine Tradition genuin protestantischer Kultivierung und Reflexion des inneren Bewußtseinslebens zurückging, auch er wußte, daß die deutsche Literatur sich im europäischen Vergleich durch eine an Philosophen wie Kant, Fichte, Reinhold, Jacobi, Schelling und Schleiermacher geschulte, hochdifferenzierte Sprache der Subjektivität auszeichnete. Dafür fehlte es ihr aber in Goethes Augen an Anschaulichkeit und Eleganz, dafür hatte sie eine ungeheure Kluft zwischen intellektueller Elite und breitem Lesepublikum in Kauf genommen. Die deutsche Literatur krankt für Goethe (im wahrsten Wortsinn) an einem Subjektivitätspathos, das ihre Protagonisten weder untereinander noch mit den Lesern kommunizieren läßt. 2 4 Im Blick auf die Weltliteratur argumentiert Goethe nun weniger moralisch als strategisch: Im europäischen Wettbewerb wird der skizzierte Gemütsnarzißmus langfristig sowohl die deutsche Kunst als auch deren Vermittlungsinstanzen zurückwerfen. Medien spielen im modernen Literaturbetrieb eine immer wichtigere Rolle. Da angesichts der gewaltig angestiegenen Textproduktion auf dem europäischen Buchmarkt kein Autor, kein Redakteur, kein Lektor sich durch unmittelbare Lektüre mehr einen eigenen Überblick verschaffen kann, wird die Selektion und Präsentation wichtiger Literatur durch Zeitungen und Zeitschriften (deren Zahl ebenfalls exponentiell ansteigt) zu einem ausschlaggebenden Faktor: „Die Producte der verschiedenen Nationen gehen jetzt so velociferisch durch einander, daß man sich eine neue Art, davon Kenntniß zu nehmen und sich darüber auszudrücken, verschaffen muß" (WA IV, 43: 136), schreibt Goethe 1827 an den Übersetzer Streckfuß, den er für „Kunst und Alterdiesen Begriff verzichten sollte, k a n n ich hier nicht eingehen. Ich bin allerdings der Ansicht, d a ß mentalitätsgeschichtlich das spezifische Profil der deutschen Kultur im Anschluß an Klassiker wie Plessners „Verspätete N a t i o n " nach wie vor in dieser Perspektive beschrieben werden m u ß . Vgl. als neueren Versuch M ü n c h 1993: 683ff. 24 Vgl. in den Eckermann-Gesprächen die Auslassungen über „die Sucht unserer Poeten nach Originalität [...] sowie die A b s o n d e r u n g und Verisolierung unserer Gelehrt e n " (FA 39: 335f.).
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tum" als Informanten über neueste Entwicklungen der italienischen Literatur gewinnen will. Die Bedeutung des sekundären Sektors wächst. Eine Nation wirkt nach außen nicht allein durch die Werke, sondern entscheidend auch durch die Institutionen und Medien, die zur Produktion und Distribution der Werke beitragen. Weltliterarische Geltung ist zu einem nicht geringen Teil eine Frage der innovativen Kraft und der Kapitalausstattung, über die ein Land im kulturellen Sektor verfügt: der Stärke seiner Verlage, seiner Zeitungen und Zeitschriften, der Ausstattung seiner Bibliotheken, dem Niveau seiner Schulen und Universitäten, dem Vorhandensein von Stiftungen, Akademien etc. Ideenreichtum allein reicht nicht aus, um eine Literatur erfolgreich auf dem Weltliteraturmarkt zu positionieren. Was nun die Zeitschriften im engeren Sinn angeht, werden die deutschen Autoren und Journalisten Goethe zufolge kein kritisches Organ hervorbringen, das es an Attraktivität und konzeptioneller Geschlossenheit mit dem „Globe" aufnehmen könnte. „Wie [...] die militärisch-physische Kraft einer Nation aus ihrer inneren Einheit sich entwickelt, so muß auch die sittlich-ästhetische aus einer ähnlichen Uebereinstimmung nach und nach hervorgehen" (FA 22,357). Darin haben die Deutschen zwar Fortschritte gemacht: die Blütezeit um 1800 verdankt sich, wie Goethe gleich anschließend bemerkt, einer Verdichtung der literarischen Kommunikation zwischen „sehr heterogenen Elementen". Die Heterogenität bleibt aber ein Problem. Das für die Außenwirkung erforderliche M a ß an „Uebereinstimmung" ist nicht zu erreichen in einem Land, in dem die Intellektuellen zum einen eine isolierte Kaste bilden, die sich „in einer beinahe unverständlich werdenden Sprache [...] Gedanken und Urteil" (FA 36: 258) zukommen läßt, zum andern solche Mitteilung oft nur zum Zweck der Abgrenzung unternommen wird. Dem geselligen Ton und der fraglosen Publikumsnähe der fanzösischen Schriftsteller konfrontiert Goethe plakativ die Eigenbrötelei und Streitsucht der deutschen. Die deutsche Literatur tendiert zur Provinzialität, nicht allein weil die Autoren auf so viele Provinzen verteilt sind, sondern weil sie dazu neigen, sich in ihren kleinen Welten und ihrem Eigensinn zu verhausen. Deutschland hat bekanntlich keine Hauptstadt, kein kulturelles Zentrum wie Paris, ein Faktum, das man in Deutschland um 1750 noch vielfach beklagt, um 1800 aber bereits positiv umgedeutet hatte zum Stolz auf die Vielfalt lokaler Traditionen und Kulturstile. Goethe - grundsätzlich ein entschiedener Gegner des nationalstaatlichen Zentralismus - macht die fehlende Kulturhauptstadt
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wieder zum Problem. Er sieht an der Pariser Entwicklung, daß eine Metropole, wenn sie nicht als Zentrum einer Geschmacksdiktatur, sondern als R a u m der Bündelung und wechselseitigen Anreicherung mannigfaltiger Diskurse fungiert, die intellektuellen Energien eines Landes in unvergleichlicher Weise belebt. Der Intensität der großstädtischen Diskussion, der Organisationskraft der Pariser Institutionen des Wissens und der Dynamik der Pariser Medien kann Deutschland auf lange Sicht nichs Gleichwertiges zur Seite stellen. D a s Fehlen einer Urbanen Geselligkeitskultur in Deutschland erweist sich indessen nicht nur als mediales Hemmnis, sondern auch als Crux der Werke selbst. Was in Deutschland geschrieben wird, ist in Goethes Augen zu einem Gutteil ungesellige, monologische Literatur. Daraus folgt: die Deutschen können in der Weltliteratur nicht mithalten, wenn ihre Literatur nicht selbst welthaltiger wird. Erfährt die deutsche Literatur keine realistische Korrektur 2 5 , entwickeln ihre Autoren nicht in Anlehnung an die publikumsorientierten Franzosen das „Vermögen der leichten lebendigen Darstellung" (FA 39: 59), droht ihnen Resonanzlosigkeit. Während die Franzosen sich durch breite Aufnahme der deutschen Romantik (wozu man im Ausland seit jeher Goethe rechnete) vom starren Gefüge der écriture classique befreit haben, läuft die deutsche Literatur Gefahr, ihrem protestantischpietistisch-idealistischen Erbe bis zur Sterilität verhaftet zu bleiben. Goethe hat die Gründe erkannt, die dazu geführt haben, daß die deutsche Literatur im 19. Jahrhundert tatsächlich wieder ins zweite Glied zurücktrat. Bestimmend blieben Gattungsmuster wie Ideendrama, Bildungsroman und Gedankenlyrik; in den Texten werden vielfach weiter ,deutsche Probleme' wie individuelle Selbstentfaltung und euphorische Seelengemeinschaft in jenem hohen Ton verhandelt, der die Bindung an die Tradition der protestantischen Gewissenserforschung und der idealistischen Ich-Philosophie verrät. Bezeichnenderweise stieß Goethes Spätwerk mit seiner Neigung zur Ironie, zum experimentellen Sprachspiel („West-östlicher Divan") und zur allegorischen Darstellung von Zeitgeschichte („Faust
„Die deutsche Poesie bringt [...] eigentlich nur Ausdrücke, Seufzer und Interjektionen wohldenkender Individuen. Jeder Einzelne tritt auf nach seinem Naturell und seiner Bildung; kaum irgend etwas geht in's Allgemeine, Höhere; am wenigsten merkt man einen häuslichen, städtischen, kaum einen ländlichen Zustand; von dem, w a s Staat und Kirche betrifft, ist gar nichts zu merken" (FA 38: 192). 25
II") in Deutschland auf weitgehendes Unverständnis.
6. Zivilisierung Deutschlands Goethes vergleichende Überlegungen zur deutschen und französischen Mentalität haben, über das engere Interesse am Schicksal der deutschen Literatur hinaus, eine kulturpädagogische Stoßrichtung. In der Zeit der „Globe"-Lektüre (1826 - 1830) häufen sich in Gesprächen und Zeitschriftenbeiträgen drastisch die Unmutsbekundungen über die Deutschen. Das Derbe, Grobe, allem Feineren gegenüber starrsinnig Verschlossene, das charakteristisch sein soll für die deutsche Gemütsart, wird - wie seinerzeit üblich - bis in die Nationalphysiognomie hinein verfolgt. Diese Äußerungen sind zum Teil hoch ergötzlich, so wenn Goethe, der neben Hunden und Brillenträgern bekanntlich vor allem Raucher verabscheute, sich über die Gefahr ausläßt, das Volk der Dichter und Denker könne mit seiner Freude am Formlosen zu einer Gemeinschaft der „Bierbäuche und Schmauchlümmel" verkommen. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden. Festzuhalten bleibt: so intensiv wie in keiner anderen Lebensphase plädiert Goethe in der Zeit seiner „Globe"-Begeisterung für eine grundlegende Zivilisierung Deutschlands, die vollbracht werden soll durch Import von französischer Gesprächs- und britischer Benimm-Kultur. Die Agenten eines solchen mentalen Handelsverkehrs müßten vor allem die deutschen Schriftsteller sein. Der elegantere, leichtere Ton, den die deutschen Autoren sich durch Lektüre der Ausländer aneignen sollen, könnte das ist offensichtlich Goethes Hoffnung - im eigenen Land eine neue Kultur der Geselligkeit stiften. Und so betreibt Goethe im persönlichen Umgang mit einem Nachwuchsautor wie Eckermann explizit Erziehung zur Weltgewandtheit und Höflichkeit und scheut sich nicht, gleichzeitig in seiner Spruchdichtung eine Art Nationaldidaktik zur Verbesserung der Umgangsformen zu praktizieren: Ohne Umschweife Begreife, Was dich mit der Welt entzweit; Nicht will sie Gemüt, will Höflichkeit. Gemüt muß verschleifen, Höflichkeit läßt sich mit Händen greifen. (FA 2: 405)
„Ubi homines sunt modi sunt", lautet eine der M a ximen des Auswandererbundes in den „Wanderjahren"; wo „Menschen in Gesellschaft zusammen treten", heißt es zur Erläuterung, müsse sich „sogleich
Manfred Koch: Goethes „Weltliteratur" - Ein ambivalenter Erwartungsbegriff
die Art und Weise wie sie zusammen sein und bleiben mögen", ausbilden (FA 10: 588). Das Projekt einer literarischen, ja - wie man im Blick auf die Vorbilder Frankreich und England sagen müßte - weltliterarischen Zivilisierung Deutschlands zeigt, wie weit Goethe entfernt ist von der alten Vorstellung naturgegebener, invarianter Nationalcharaktere. Der annähernd achtzigjährige Autor weiß im Rückblick auf mehr als ein halbes Jahrhundert deutscher Kulturgeschichte, in welchem M a ß er selbst mit seinem Frühwerk mitverantwortlich war für Besonderheiten der deutschen kulturellen Entwicklung. Er weiß generell, daß und wie kulturelle Eliten ganze Mentalitäten Selbstbilder, verbindliche Wertvorstellungen bis hinab zu unreflektierten alltäglichen Einstellungen - formen, um nicht zu sagen: erfinden können. So kritisiert er auch nicht schlichtweg die Deutschen als von jeher kulturlos, sondern er kritisiert einen Habitus des ungebremst Individuellen, Spontanen, Authentischen, den deutsche Autoren generiert und in jüngster Vergangenheit (Befreiungskriege) in Absetzung gegen Frankreich wieder verstärkt kultiviert haben. Der Titel für diesen Habitus der deutschen Intelligenz ist, wie bereits erwähnt, „Gemüt". Schlagwortartig verkürzt heißt das nationale Projekt demnach: Korrektur einer Gemütsdurch eine Höflichkeitskultur, ein Erziehungsprogramm für die Deutschen, das später in analoger Absicht Philosophen wie Nietzsche und Helmuth Plessner („Grenzen der Gemeinschaft",) wieder aufgreifen werden. So versucht Goethe als eine Art ironischer praeceptor Germaniae seinem Volk nicht gerade Verhaltenslehren der Kälte nahezubringen, aber doch die aristokratische Kunst des vornehmen, selbstbeherrschten, distanzierten Umgangs miteinander. Der deutsche Kult des Authentischen, „Biederen", „Ehrlichen", wie er ja im 18. Jahrhundert polemisch gegen das scheinbar Verlogene der französischen Politesse entwickelt worden war („Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist", heißt es im „Faust II", V. 6771), führt Goethe zufolge in eine neue Barbarei der aufgespreizten Innerlichkeit. Immer wieder klagt Goethe über deutsche Autoren, die durch fehlende „Dezenz des Ausdrucks" (FA 33: 148), „unartige Zudringlichkeit" (WA I, 36: 111), „unbezwingliche Selbstigkeitslust" (FA 37: 545), „abstrusen Selbstdünkel" (FA 33: 313) o d e r wie er es dann gleich mit dem französischen Wort sagt - durch völligen Mangel an „tournure" (FA 13: 18) unangenehm auffallen. Es ist das deutsche Dilemma der durch Krieg und ökonomische Verelendung in der frühen Neuzeit verhinderten
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Ausbreitung einer stilbewußten aristokratischen Verhaltenskultur, das in Goethes Augen nun verhängnisvollerweise durch ein Bildungsideal, in dem aller Akzent auf Selbstgefühl, Ursprünglichkeit und Entfaltung des Individuellen liegt, in die Zukunft verlängert wird. Hellsichtig hat er damit jene seltsame Privatisierung und Sentimentalisierung des Öffentlichen vorausgesagt, die sich bis in die deutsche Gegenwart verfolgen läßt.
7. Höfliche Weltliteratur Höflichkeit ist für Goethe nicht nur die Chance und das aufgegebene Lernpensum der deutschen Intelligenz; Höflichkeit ist generell die einzige Verhaltensmaxime, die gegen die zunehmende Zersplitterung der modernen Gesellschaften aufgeboten werden kann. Man hat bis heute nicht ausreichend reflektiert, in welchem M a ß Goethes Werk ab 1789 sich als eine einzige große Abhandlung über Sittenverfall, Verhaltensunsicherheit, Indiskretion und schlechte Manieren lesen läßt. Ich nenne nur wenige Beispiele. Die „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" (1795) handeln vom Zerstörerischen des politischen Streits, der eine Adelsgruppe alle hergebrachten Umgangsformen vergessen läßt. Sie beginnen mit dem Eklat, der die Gemeinschaft durch das Aufeinanderprallen von Revolutionsgegnern und -befürwortern auseinanderbrechen läßt. Im folgenden geht es dann jedoch immer wieder auch um die kleinen bösartigen Sticheleien, die gedankenlosen Gemeinheiten, die Taktlosigkeiten, die aus Nervosität oder Unsicherheit begangen werden. Die „Wahlverwandtschaften" (1809) kreisen ebenfalls um eine eingegrenzte Gemeinschaft, die durch unbeherrschte Leidenschaft (Eduard), gutwilliges, aber hartnäckiges Mißverstehen (Charlotte und der Hauptmann) und trampelnde Rücksichtslosigkeit (Mittler) in die Katastrophe gleitet. Ottilies Tagebuch ist eine anhaltende Reflexion über die richtige „Lebensart", über „Betragen", „gute Sitten"; dort wird durchaus auch einmal festgehalten, wie „unschicklich" es sei, mit dem Stuhl zu schaukeln (FA 8: 432). Deutsche Adlige sind die Hauptfiguren der „Wahlverwandtschaften" auch darin, daß sie sich narzißtische Überempfindlichkeiten zugelegt haben, die sie je nach Laune ausleben oder vergessen. Das betrifft sogar die Heilige des Romans, Ottilie, die zutiefst unkommunikativ ist und deren Verzicht aufs subjektive Wollen deshalb auch in den Fastentod und nicht in eine neue, beherrschte Form von Gesellschaftlichkeit führt. Der Altersroman „Wilhelm Meisters Wanderjahre" (1821/1829) handelt
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über weite Strecken von Konflikten, die durch Mangel an Takt, durch idiosynkratische Verbissenheit oder aufbrausende Selbstüberschätzung verursacht werden. Höflichkeit ist in dieser Perspektive ein wesentliches Moment von Goethes Programmbegriff „Entsagung": nur im vornehmen Verzicht auf unbedingtes Geltendmachen des Selbst können die auseinanderstrebenden Individuen in den hochkomplexen Gesellschaften der Moderne überhaupt noch kooperieren. Paradoxerweise wird der Verhaltenskodex der untergegangenen aristokratischen Welt so zum Remedium der jüngsten Moderne. Was binnengesellschaftlich gilt, ist ausschlaggebend auch für die interkulturelle Kommunikation. Goethe scheint bereits im Blick zu haben, was der Berliner Philosoph Thomas M a c h o unter dem Eindruck der heutigen Globalisierungsdiskussion festhält: „Höflichkeit ist [...] eine Überlebensbedingung kultureller Vielfalt; selbst bei höchster Toleranz wird ein gemeinsames Überleben von der Entwicklung, Bewahrung und Kultivierung differenzierter Verständigungstechniken abhängen, die auch in konkreten Spannungssituationen bewahrt werden" (Felderer/Macho 2002: 7). Goethes Weltliteraturprogramm folgt offenbar der Richtlinie, daß Höflichkeit die Sprache der Weltgesellschaft sein m u ß keine kulturell fixierte Höflichkeit, sondern „eine Meta-Höflichkeit, die alle denkbaren Höflichkeitsregeln und -Stile vorwegnimmt und integriert" (Felderer/Macho 2002: 18). Weltliteratur als letztlich unüberschaubarer, anarchischer Prozeß der Vervielfältigung und grenzenlosen Zirkulation von Texten muß aktiv von Menschen betrieben werden, die über Aufgeschlossenheit, guten Geschmack, hermeneutischen Takt und noble Umgangsformen verfügen. N u r so lassen sich die unvermeidlichen kulturellen Mißverständnisse und die Streitigkeiten zwischen literarischen Lagern in ein Gespräch überführen, in dem alle die Chance haben, zumindest wahrgenommen zu werden. Der weltliterarische Publizist sollte auch „homme du m o n d e " sein - in dieser Beschwörung des Urbanen, Weltläufigen kommt Goethes Begriff mit Wielands „Weltlitterat u r " überein. Und so besticht Goethe selbst in seiner Korrespondenz mit den anderen europäischen Kulturzeitschriften durch derart gute Manieren, daß bisweilen das Umkippen ins Manierierte naheliegt. „Die ersten siebenundvierzig Blätter Ihrer Zeitschrift, die Sie in Mailand beginnen, haben mich auf das angenehmste überrascht; sie wird gewiß durch ihren Gehalt und durch die freundliche Form, die Sie ihr zu geben wissen, zur allgemeinen Weltliteratur, die sich immer lebhafter verbreitet, auf das freundlichste mitwirken, und ich darf Sie meines
Antheils gar wohl aufrichtig versichern." (WA IV, 44, 108f.; an die Herausgeber von „L'Eco") Gewiß gehören die zeremoniösen Schnörkel generell zum Altersstil Goethes; diese ostentative Hyperfreundlichkeit aber hat Methode. Sie schlägt vor jeder Rede über bestimmte literarische Werke die Tonlage an, in der das Gespräch der Literaturen überhaupt zu führen ist.
8. Ewiger Frieden Goethe hat, was schon den Spott mancher Zeitgenossen hervorrief, die gesteigerte Interaktion zwischen den Nationalliteraturen mit der H o f f n u n g auf zunehmende Verständigung zwischen den Nationen verknüpft: Das „Bestreben der besten Dichter und ästhetischen Schriftsteller aller Nationen" sei, so heißt es in einer der berühmtesten Weltliteratur-Äußerungen, „schon seit geraumer Zeit auf das allgemein Menschliche gerichtet". Das berechtige zwar nicht zu der Hoffnung, „daß ein allgemeiner Friede dadurch sich einleite, aber doch daß der unvermeidliche Streit nach und nach läßlicher werde, der Krieg weniger grausam, der Sieg weniger übermüthig" (FA 22: 433f.). Es gelte, eine „wahrhaft allgemeine Duldung" zu erreichen, indem man im literarischen Verkehr der Nationen untereinander lerne, „die Besonderheiten einer jeden kennen[zu]lernen, um sie ihr zu lassen, um gerade dadurch mit ihr zu verkehren" (FA 22: 434). In der älteren Weltliteraturforschung, vor allem in der Nachkriegszeit, wurde fast ausschließlich auf diesen Aspekt abgehoben, seit den siebziger Jahren spielt er immer weniger, heute so gut wie keine Rolle mehr. Goethes Beschwörung literarischer Völkerverständigung ist zu sehen vor dem Hintergrund der deutschen Debatte um den „Ewigen Frieden" ab etwa 1795 und der europäischen, gerade auch von Literaten vorangetriebenen Proklamationen einer „Heiligen Allianz der Völker". H ö r t man das messianische Pathos dieses Friedensdiskurses mit, nehmen die einschlägigen Goethe-Äußerungen sich sogar vergleichsweise nüchtern aus. Goethes Haltung wäre hier am ehesten derjenigen Kants vergleichbar: wie Kant argumentiert er sowohl als Moralist wie als Skeptiker, um - sehr viel stärker noch als Kant gegebenenfalls spielerisch beide Positionen in der des Ironikers aufgehen zu lassen. Generell müssen die Weltliteratur-Stellen streng nach Kontext, Adressat und Publikationsort differenziert werden. Wo Goethe sich ,offiziell' als Patriarch der europäischen Literatur äußert, dem die jungen Autoren allerorten huldigen, ist seine Rede stilistisch durch jenes auffällige Höflichkeitsgeba-
Manfred Koch: Goethes „Weltliteratur" - Ein ambivalenter Erwartungsbegriff ren und inhaltlich durch das E t h o s der literarischen Verständigung geprägt. In unveröffentlichten T e x ten und Gesprächen mit Freunden erklingen ganz andere T ö n e . Ihnen läßt sich entnehmen, d a ß Weltliteratur für G o e t h e alles andere als ein rundweg erfreuliches P h ä n o m e n war. Exponentielles Wachstum der Schriftproduktion an allen Ecken und Enden der Welt bereitete dem Weimarer Greis eher Angst: „ D a ß eine mittlere Kultur gemein w e r d e " , d a ß die „gebildete W e l t " in einem ständigen Überbietungstaumel schließlich nichts Substantielles mehr hervorbringe, sondern sich und das fügsame M a s s e n p u b l i k u m daran gewöhnen werde, „in der Mittelmäßigkeit zu v e r h a r r e n " , ist die dunkle Aussicht der Weltliteratur. „ W a s der M e n g e zusagt wird sich gränzenlos ausbreiten und wie wir jetzt schon sehen sich in allen Z o n e n und Gegenden e m p f e h l e n " (FA 2 2 : 8 6 6 ) . M i t „ L e G l o b e " und anderen geschätzten europäischen Blättern will G o e t h e Weltliteratur-Politik treiben, die dem infernalischen Durcheinander im neueren Literaturbetrieb gegensteuern soll. M o d e r nitätskritik und Therapie der M o d e r n e formuliert G o e t h e hier als Entschleunigungsprogramm. Überall auf der Welt, schreibt er, gebe es die „ M ä n n e r denen es um das Gegründete und von da aus um den wahren Fortschritt der M e n s c h h e i t zu t h u n " sei (FA 2 2 : 8 6 6 ) . Gemeinsam mit ihnen soll aus der Flut der Publikationen durch wechselseitige Lektüre, Auslegung und Bewertung das H a l t b a r e ausgesondert werden. Die Autoren, auf die er hierbei setzt, sind ausdrücklich Verlangsamer: „ D e r Weg den sie einschlagen der Schritt den sie halten ist nicht eines jeden Sache; die eigentlichen Lebemenschen wollen geschwinder gefördert s e y n " (FA 2 2 : 8 6 6 ) . W a s die Besonnenen also auszeichnet, ist die Fähigkeit, den literarischen Tagesbetrieb von vornherein aus einer gewissen Distanz zu überschauen, sich von den Aufgeregtheiten der konkurrierenden literarischen Strömungen nicht mitreißen zu lassen und zielsicher aus der M a s s e des Erscheinenden das „Vortreffliche" herauszugreifen. Dabei hat die Beschleunigung der modernen Kommunikationsverhältnisse das Gute, d a ß die Entschleuniger schneller zueinander finden und effektiver zusammenwirken k ö n n e n : „diejenigen aber die sich dem höheren und dem höher Fruchtbaren gewidmet haben werden sich geschwinder und näher kennen l e r n e n " (FA 2 2 : 8 6 6 ) . Am Ende spricht G o e t h e diesen Weltbund der Verständigen in beinahe religiösem Tonfall an: „Die Ernstesten müssen deshalb eine stille, fast gedrückte Kirche bilden, da es vergebens wäre der breiten Tagesfluth sich entgegen zu setzen; standhaft m u ß man seine Stellung zu behaupten suchen
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bis die Strömung vorüber gegangen i s t " (FA 2 2 , 866f.). Dieses M o d e l l der „stillen", unsichtbaren Kirche schließt an Lessings Freimaurergespräche an. Herder hatte in den „ H u m a n i t ä t s b r i e f e n " weite Teile daraus zitiert, um die entsprechende Gemeinde die Internationale der vorurteilslosen, sozial engagierten Bürger - zuletzt mit dem M u t der Simplizität zu definieren als „die Gesellschaft aller denkenden M e n s c h e n in allen Weltteilen" (Herder 1 9 9 1 : 1 3 9 ) . „ U n s i c h t b a r " ist diese Kirche nicht durch arkane Praktiken, sondern weil ihre weltweit zerstreuten Mitglieder einander k a u m jemals persönlich kennenlernen. Als „idealische G e s e l l s c h a f t " , die die „ B u c h d r u c k e r e i " gestiftet hat (Herder 1 9 9 1 : 1 3 9 ) , bilden sie das fragile N e t z w e r k der aufgeklärten Leser; als publizistisch Tätige können sie darüber hinaus eine quasimissionarische Kraft entfalten. G o e t h e greift diese Herdersche Konzeption auf im Sinn einer regulativen Idee für die Bändigung der modernen literarischen K o m m u n i k a t i o n . Weltliteratur ist eine der „Forderungen des T a g e s " , der man sich stellen m u ß , um den bedrohlichen Entwicklungen, so gut es eben geht, zu begegnen. K o n kret bedeutet das für den weltliterarischen Publizisten die selbstauferlegte Verpflichtung zu Neugier und Aufmerksamkeit im Blick auf Literatur unterschiedlichster Provenienz. Es ist die Disziplin, mit der der alte G o e t h e sich ein ungeheures Lesepensum zumutet, um weltliterarisch auf dem Laufenden zu sein; es ist die viele Z e i t , die er sich n i m m t , um im H a u s a m Frauenplan Literaten aller Länder zu empfangen und mit ausgesuchtester Höflichkeit zu behandeln. Es ist generell die Aufforderung an alle Beteiligten, auch die veloziferischen Seiten des modernen Literaturbetriebs so anzugehen, daß ein Möglichstes für die Verbesserung der Verständigungsverhältnisse erreicht wird. „ G u t e r Wille ist die beste A u g e n s a l b e " , schreibt G o e t h e 1 8 3 0 an den Junghegelianer H o t h o , „ M i ß w o l l e n ist eine falsche Brille, welche die Gegenstände entstellt und die Sehkraft verdirbt" (FA 3 8 : 2 5 4 ) . Die Weltliterat u r - M a x i m e des alten G o e t h e würde d e m g e m ä ß lauten: Engagiere dich gutwillig in der literarischen K o m m u n i k a t i o n , in dem M a ß , in dem die Autoren und Literaturvermittler diesem Anspruch wenigstens zu folgen versuchen, wird Weltliteratur auch ein erfolgreicher moralischer Lernprozeß sein. Viele der einschlägigen Goethe-Äußerungen muten heute eher treuherzig an. Es ist auch k a u m zu bestreiten, d a ß sich Goethes herrschaftsfreier Diskurs der verständigen Literaturkenner durchaus strategisch deuten läßt. Koalitionen einflußreicher Auto-
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ren und Medienorgane haben häufig zur Marginalisierung unliebsamer literarischer Strömungen geführt. Goethe selbst hat - um ein Beispiel zu geben - in seiner Zeitschrift „Kunst und Altertum" wiederholt verkündet, er wolle gemeinsam mit „Le Globe" und „L'Eco" dazu beitragen, den europaweiten Streit zwischen Klassizisten und Romantikern endlich beizulegen. Konkret ging er dabei allerdings so vor, daß er zahlreichen Autoren, die zum Lager der Romantik gehörten, attestierte, „tüchtige", „vortreffliche" Werke hervorgebracht zu haben, weshalb man sie umstandslos als „klassische" Autoren bezeichnen könne. Ausgeschlossen blieben freilich die Schriftsteller, die nach Goethes Auffassung monströse, morbide Literatur produzierten und die er deshalb auf der Grundlage seiner berüchtigten Neudefinition von 1829 - „das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke" (FA 39: 324) - als pathologische Romantik abqualifizierte (E.T.A. H o f f m a n n ; Victor Hugo). Dennoch gibt es trivialerweise gegen das Strategische im Literaturbetrieb kein Mittel als den Willen, ihm nicht zu verfallen. Goethe wußte, daß moderne Weltliteratur Literatur unter Vermarktungszwängen sein würde; er wußte auch - was das Verhältnis der ,großen' zu den ,kleinen' Literaturen angeht - , daß das weltliterarische Gespräch der Völker ein extrem asymetrischer Dialog sein würde: Kleine Literaturen, deren Texte in den westlichen Kulturmetropolen überhaupt nicht wahrgenommen werden (weil sie nicht übersetzt, nicht besprochen, nicht vertrieben werden, weil sie sich vielleicht tatsächlich als nicht übersetzbar erweisen), bleiben in der Weltliteraturkonkurrenz auf der Strecke; ihre Chance besteht oft nur darin, entweder als reizvolle exotische Z u t a t eine Nische auf den westlichen Märkten zu besetzen oder die genuin europäischen Muster zu adaptieren. Gegen die faktische mediale Übermacht Europas hilft aber vorläufig nur die Neugier und Selbstreflexion der Europäer. Goethe setzt auf die Verführungskraft der Kulturen und demonstriert in „Kunst und Altertum" den Eros des Fremden in seinen begeisterten Anpreisungen slavischer, skandinavischer, neugriechischer, arabischer, persischer und amerikanischer Poesie. Zumindest für seine Praxis als Herausgeber eines weltliterarischen Journals gilt der Anspruch, den Goethe in einem Altersgedicht mit einem anderen, vermutlich von ihm geprägten Welt-Kompositum erhebt: Gott grüß* euch, Brüder, Sämtliche Oner und Aner! Ich bin Weltbewohner, Bin Weimaraner. (FA 2: 661)
Wägt man den historisch-diagnostischen und den moralischen Aspekt in Goethes Weltliteratur-Begriff gegeneinander ab, m u ß man feststellen, daß zumindest der Globalisierungstheoretiker Goethe rechtbehalten hat. Goethe konstatiert anfangs des 19. Jahrhunderts, so ließe sich abschließend zusammenfassen, eine kulturelle Disposition, die mutatis mutandis noch für unsere Gegenwart gilt. Wir sind, sofern wir nicht an einer nationalphilologischen déformation professionelle leiden, heute selbstverständlich weltliterarische Leser, die zum Beispiel als Deutsche nicht nur Grass und Walser, sondern (womöglich mit größerem Genuß) Philip Roth, Nägib Machfus oder Antonio Lobo Antunes studieren. Der Normalleser reflektiert ja gar nicht darauf, daß er ein Werk einer ,fremden Kultur' vor sich hat, er geht aus Interesse an einem bestimmten Thema, einem bestimmten Autor, einem bestimmten Buch in eine Buchhandlung und kauft gewöhnlich eine Übersetzung. Wie dieses eingespielte, gleichsam zur zweiten Natur gewordene weltliterarische' Leseverhalten mit kultureller Reflexion einhergeht, ist so gut wie unerforscht. Zweifellos wird beim Lesen eines gehaltvollen indischen Romans sehr viel mehr an Wissensbildung und Besinnung über eine fremde Lebenswelt in Gang gebracht als, sagen wir, beim Konsum einer Tasse Darjeeling-Tee. Daß daraus größere Toleranz, Fremdenliebe oder gar Einsatzbereitschaft für den Weltfrieden entspringen, mag heute aber kaum jemand mehr ernsthaft behaupten. Im allgemeinen sind Leser hochwertiger Literatur eben eher bereit, die eigenen kulturellen Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen; im allgemeinen können sie sich das auch eher leisten. Was das breite Publikum angeht, gilt der einfache Satz: ,Die Völker' lesen einander nicht, schon gar nicht in Form ihrer anspruchsvollen Literatur. ,Weltliteratur' für ein Weltpublikum findet heute sehr viel eher im Kino, Fernsehen und Internet statt. Z u r Versöhnungskraft von Hollywood und Microsoft wäre aber auch Goethe wohl nicht mehr viel eingefallen.
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Autorenvorstellung: Manfred Koch, geb. 1955 in Stuttgart. Studium der Philosophie, Germanistik und Geschichte in Tübingen. Promotion in Tübingen. 1988-1991 DAAD-Lektor für deutsche Sprache und Literatur in Thessaloniki; 1 9 9 1 - 1 9 9 8 Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Gießen. Habilitation in Gießen 2001. Von 2 0 0 1 - 2 0 0 3 Vertretung einer Professur für Neuere deutsche Literatur an der Universität Tübingen. Seit 2003 freier Publizist; seit WS 2004/05 Mitorganisator der Poetikdozentur an der Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur um 1800 und um 1900; Literatur und Religion; Theorie der Vergleichenden Literaturwissenschaft; Lyrik. Wichtigste Publikationen: .Mnemotechnik des Schönen*. Studien zur poetischen Erinnerung in Romantik und Symbolismus. Tübingen 1988. Weimaraner Weltbewohner. Zur Genese von Goethes Begriff ,Weltliteratur'. Tübingen 2002. Mitherausgeber (zus. mit W. Braungart) von drei Bänden: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden: um 1800; um 1900; um 2000. Paderborn 1998-2001.
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 6 8 - 8 8
Von der „Gesellschaft" zur „Vergesellschaftung" Zur deutschen Tradition des Gesellschaftsbegriffs
From "Gesellschaft" to "Vergesellschaftung" The German Tradition of the Concept of Society Klaus Lichtblau Johann W o l f g a n g Goethe-Universität Frankfurt, FB 3 - Gesellschaftswissenschaften, Robert-Mayer-Straße 5, D - 6 0 0 5 4 Frankfurt am M a i n . E-mail: [email protected] Zusammenfassung: Der Begriff der „Weltgesellschaft" hat in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der Globalisierungsdebatte eine bemerkenswerte Renaissance erfahren. M i t ihm kommen wieder unterschiedliche nationale Traditionen des Gesellschaftsbegriffs in den Blick, wie sie seit Beginn des 19. Jahrhunderts die Geschichte der Soziologie prägen. In dem vorliegenden Aufsatz wird der Versuch unternommen, die deutsche Tradition des Gesellschaftsbegriffs ausgehend von der Aufklärungsphilosophie Immanuel Kants und der ihr zugrunde liegenden Vision einer „Weltbürgergesellschaft" bis hin zu den soziologischen Klassikern Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und M a x Weber zu rekonstruieren. Es wird dabei zum einen der Versuch gemacht, die weltgesellschaftlichen Implikationen zu verdeutlichen, die innerhalb dieser Tradition des Gesellschaftsbegriffs zum Ausdruck kommen. Zum anderen werden die Gründe benannt, die Simmel und Weber dazu veranlaßt haben, den Begriff der „Gesellschaft" durch den der „Vergesellschaftung" zu ersetzen und das mit diesem ursprünglich verbundene Konstrukt einer autonomen Gesellschaftsgeschichte schließlich ganz zugunsten einer höchst anspruchsvollen Version von Universalgeschichte aufzugeben. Summary: The notion "world society" has recently had a notable renaissance in the context of the globalization debate. Within this debate different national and cultural traditions with respect to the theory of society can be found which are characteristic of the history of sociology since its beginnings in the early 19 th century. This essay deals with the German tradition of the concept of society starting with the philosophy of Immanuel Kant and his vision of a coming Weltbürgergesellschaft and continuing up to the sociological classics of Ferdinand Tönnies, Georg Simmel, and M a x Weber. To begin with the global implications of this national tradition in the theory of society are demonstrated. Then the reasons are discussed why Simmel and Weber replaced the concept of Gesellschaft with that of Vergesellschaftung. As a consequence, they favored a specific version of universal history instead of a mere sociological conception of societal evolution.
1. Einleitung
densten
F o r m e n des Z u s a m m e n l e b e n s
zum
Aus-
d r u c k . E r u m f a ß t s o w o h l intime B e z i e h u n g e n w i e In einer v i e l b e a c h t e t e n a k a d e m i s c h e n R e d e a u s d e m
die
J a h r e 1 8 8 8 h a t t e der T ü b i n g e r J u r i s t , B e v ö l k e r u n g s -
Reise- und Badegesellschaft
wissenschaftler
D e r zweite B e d e u t u n g s g e h a l t des Begriffs „Gesell-
und
Statistiker
Gustav
Rümelin
Freundschaft
als
auch
die
flüchtige
(Rümelin
Tisch-,
1889:
38).
drei unterschiedliche G e b r a u c h s w e i s e n des Gesell-
s c h a f t " , a u f den R ü m e l i n hinwies, bezieht sich d a -
schaftsbegriffs
g e g e n a u f einen juristischen S a c h v e r h a l t . Dieser h a t
einander
gegenübergestellt.
Diese
v e r d e u t l i c h e n zugleich die Schwierigkeiten, die an
vermittels der R e z e p t i o n des r ö m i s c h e n R e c h t s E i n -
den d e u t s c h e n U n i v e r s i t ä t e n n o c h gegen E n d e des
g a n g in die d e u t s c h e S p r a c h e gefunden. D a s ihm zu-
1 9 . Jahrhunderts mit dem Versuch verbunden w a -
g r u n d e liegende lateinische W o r t societas
ren, den Begriff der Gesellschaft zur G r u n d l a g e ei-
diesem Z u s a m m e n h a n g
ner n e u e n Disziplin im überlieferten K o n z e r t der
T e i l h a b e r g e s c h ä f t s bzw. einer E r w e r b s g e m e i n s c h a f t
Staatswissenschaften
v e r w e n d e t . In diesem ü b e r t r a g e n e n juristischen Sin-
war
für
Rümelin
zu
zum
erheben. einen
der
„Gesellschaft" Inbegriff
aller
eines
ne bezeichnet der T e r m i n u s „ G e s e l l s c h a f t " eine ver-
sozialen B e z i e h u n g e n , die v o n d e n einzelnen Indivi-
t r a g l i c h e Vereinigung
duen o h n e V e r f o l g u n g eines b e s o n d e r e n
sonen
Zweckes
w u r d e in
zur K e n n z e i c h n u n g
zur
zweier o d e r
wechselseitigen
mehrerer
Wahrnehmung
Perihrer
ausschließlich zur Befriedigung ihres Geselligkeits-
g e m e i n s a m e n rechtlichen u n d ö k o n o m i s c h e n Inte-
bedürfnisses e i n g e g a n g e n w e r d e n . Dieser unter A b -
ressen ( R ü m e l i n 1 8 8 9 : 3 9 ) . 1
sehung aller v e r w a n d t s c h a f t l i c h e n
und
geschäftli-
c h e n B e z i e h u n g e n s t a t t f i n d e n d e gesellige
Umgang
unter den M e n s c h e n k o m m t d a b e i in den verschie-
1 Auf diesen privat- und obligationenrechtlichen Bedeutungsgehalt des neuzeitlichen Gesellschaftsbegriffs ver-
69
Klaus Lichtblau: Von der „Gesellschaft" zur „Vergesellschaftung" R ü m e l i n m a c h t e a b e r auch n o c h a u f einen weiteren G e b r a u c h des Gesellschaftsbegriffs a u f m e r k s a m , der als spezifisch „ m o d e r n " angesehen werden k a n n . E r hatte dabei die Verwendung des Begriffs Gesellschaft „in der Einzahl und mit dem b e s t i m m t e n A r t i k e l " im Auge, die dazu tendiere, ihn zu einem u n b e s t i m m t e n K o l l e k t i v b e g r i f f aufz u b l ä h e n , der keine natürlichen G r e n z e n m e h r kenne: „ D e r Begriff dehnt sich d a m i t auf einmal ins U n b e g r e n z t e aus und ergreift alle Berufsarten und Lebensstellungen; er überschreitet die G r e n z p f ä h l e , w e l c h e V ö l k e r und Staaten von einander t r e n n e n , H o c h g e b i r g e und M e e r e , die S c h r a n k e n der S p r a c h e n , der B e k e n n t n i s s e , der Bildungsstufen. M a n w e i ß nicht, w o H a l t m a c h e n , und ist in Gefahr, sich ins U n b e s t i m m t e und N e b e l h a f t e zu verlieren. D e n n zur Gesellschaft in diesem Sinne scheinen schließlich alle Leute zu gehören und nach allen ihren L e b e n s b e z i e h u n g e n , und so d r o h t der Begriff sich in den der M e n s c h h e i t zu verflüchtigen und dann in diesem u n t e r z u g e h e n " ( R ü m e l i n 1889: 39). Rümelin w a r also offensichtlich der M e i n u n g , d a ß mit der dritten der von ihm unterschiedenen Gebrauchsweisen des Gesellschaftsbegriffs die Vorstellung verbunden sei, d a ß es letztlich nur eine einzige weltumspannende Gesellschaft gebe, die diesen N a men wirklich verdiene, auch wenn er das W o r t „Weltgesellschaft" selbst noch nicht gebrauchte, um diesen Tatbestand zu umschreiben. Wohl aber sah er sehr genau die „weltgesellschaftliche Disponiertheit" dieser dritten Variante des Gesellschaftsbegriffs, die er nicht mit dem disziplinaren Selbstverständnis für vereinbar hielt, das gegen Ende des 1 9 . Jahrhunderts die einzelnen staatswissenschaftlichen Disziplinen an den deutschsprachigen Universitäten prägte. 2 Rümelin empfahl deshalb weist auch Riedel ( 1 9 7 5 b : 811): „Neben dem moralphilosophischen Sinn des Begriffs steht, relativ unverbunden (was sich u.a. darin ausdrückt, daß die Lexika des 17. und 18. Jahrhunderts dem Wort .Gesellschaft' stets zwei Artikel widmen), eine spezifisch rechtliche Bedeutung, ,societas' als Terminus der Jurisprudenz. .Gesellschaft' heißt hier in der Regel die durch Vertrag (consensus, pactum) begründete Vereinigung zweier oder mehrerer Personen zur wechselseitigen Förderung ihrer - wirtschaftlichen oder sonstigen - Zwecke, unterschieden von ,collegium' (= Vereinigung, die nicht, wie die societas, auf eine bestimmte Zeit, sondern für immer konstituiert wird) und ,communio' (= vertraglose Sachgemeinschaft)." Den Ausdruck „weltgesellschaftliche Disponiertheit" habe ich aus dem Prospekt der Tagung „Die Gesellschaft und ihre Reichweite - Wie zwingend ist die .Weltgesellschaft'?" übernommen, die am 2 8 . - 3 0 . November 2 0 0 2 in Bielefeld stattfand. 2
zum einen eine kulturtheoretische Einschränkung des Gesellschaftsbegriffs. Denn von der Existenz einer einheitlichen Gesellschaft k ö n n e immer nur in bezug auf jene V ö l k e r gesprochen werden, die eine gleichartige Welt- und Lebensauffassung teilen. Z u m anderen vertrat er die Ansicht, d a ß der Begriff der Gesellschaft nicht so weit gefaßt werden dürfe, daß er auch noch die Sphäre des Staates in seinen Geltungsbereich miteinbezieht. D e r Staat und die Gesellschaft seien vielmehr als zwei selbständige Gebilde zu betrachten. Z u s a m m e n mit dem Recht sollten sie deshalb als jene Sphären verstanden werden, auf die eine interne Differenzierung der Staatswissenschaften in drei getrennte und doch eng miteinander zusammenhängende Teildisziplinen Rücksicht zu nehmen habe (Rümelin 1 8 8 9 : 4 0 , 4 9 ) . Rümelins Ausführungen sind deshalb auch heute noch von Interesse, weil sie auf das Spannungsverhältnis zwischen einer engen und einer weiten Fassung des Gesellschaftsbegriffs verweisen, das auch noch unseren gegenwärtigen Sprachgebrauch prägt. Die Vorstellung, d a ß wir es mit einer Vielzahl von nationalstaatlich verfaßten Gesellschaften zu tun haben, bis hin zur Ansicht, d a ß der Gesellschaftsbegriff letztlich nur ein einziges M a l vergeben werden kann - gleichgültig, o b wir dieses soziologische K o n s t r u k t dann „Weltgesellschaft" nennen oder aber schlichtweg als „die Gesellschaft" im Singular bezeichnen - , bildet die Bandbreite der in diesem Z u s a m m e n h a n g vertretenen Positionen. Z w a r ist es vielen nicht mehr bewußt, d a ß die Grundbegriffe unseres Faches einstmals politische Kampfbegriffe innerhalb der K o n f r o n t a t i o n der großen weltanschaulichen Lager w a r e n , mit denen zugleich zentrale Richtungsentscheidungen bezüglich der zukünftigen Entwicklung der modernen Sozialwissenschaften verbunden gewesen sind. J e d o c h zeigen entsprechende begriffsgeschichtliche Untersuchungen, d a ß der im Laufe des 2 0 . Jahrhunderts zum Grundbegriff der Soziologie avancierte Gesellschaftsbegriff gerade in dieser Hinsicht lange Zeit äußerst umstritten war. Die Probleme, die mit dieser Durchsetzung eines emphatischen Verständnisses von Gesellschaft verbunden gewesen sind, ähneln offensichtlich nicht zufällig denen, die sich heute der allgemeinen Akzeptanz des Begriffs der „Weltgesellschaft" in den Weg stellen. Friedrich Tenbrucks Warnung vor einem „generalisierten M a r x i s m u s " , durch den er die Z u k u n f t der Soziologie bedroht sah, hatte hierbei nicht nur die G e f a h r einer Vernachlässigung von kulturellen Faktoren zugunsten von sozialstrukturellen Erklärungsversuchen der gesellschaftlichen Entwicklung im Auge, sondern
auch
die intellektuelle
Versuchung,
die
70
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 6 8 - 8 8
durch einen scheinbar unproblematischen Kollektivbegriff wie den der „Gesellschaft" bzw. „Weltgesellschaft" ausgehen. Sein Hinweis darauf, daß unter den soziologischen Klassikern Georg Simmel und M a x Weber den Gesellschaftsbegriff weitgehend zugunsten des Begriffs der „Vergesellschaftung" vermieden hatten und sein Plädoyer, den Begriff der „Gesellschaftsgeschichte" durch den der „Weltgeschichte" zu ersetzen, machen deutlich, daß er sich dabei auf intellektuelle Traditionen berief, die im deutschen Sprachraum bereits im 19. Jahrhundert zur Abwehr des ursprünglich von England und Frankreich ausgehenden modernen Gesellschaftsverständnisses mobilisiert worden sind (vgl. Tenbruck 1979,1981,1989). Dies verweist zugleich auf die Schwierigkeiten, die mit dem Versuch verbunden waren, dem Begriff der Gesellschaft eine ähnliche geschichtsphilosophische Bedeutung wie dem der „Geschichte" zukommen zu lassen, der sich Reinhart Koselleck zufolge bereits im 18. Jahrhundert erfolgreich als „Kollektivsingular" zu behaupten vermochte (vgl. Koselleck 1975). Das Spannungsverhältnis zwischen der Vielzahl der einzelnen Historien und der einen, umfassenden Weltgeschichte wiederholte sich so in dem Bestreben, die unterschiedlichen Rahmenbedingungen in den einzelnen europäischen Territorialstaaten zugunsten der Unterstellung einer übergreifenden gesellschaftlichen Entwicklungslogik zu relativieren. Der Begriff der Gesellschaft, wie er im Laufe des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum gebräuchlich wurde, stand somit für beides: Z u m einen beinhaltete er eine Herausforderung gegenüber einer weltgeschichtlichen Betrachtungsweise, die zugleich die unterschiedlichen kulturellen Traditionen sowie die Haupt- und Staatsaktionen der einzelnen Territorialstaaten in die Untersuchung miteinbezog. Und zum anderen stand sein eigener universalistischer Bedeutungsgehalt im Widerspruch zur Vielzahl der sozialen Gruppen und Verbände, die augenscheinlich das moderne gesellschaftliche Leben prägten. Die folgenden Ausführungen versuchen in diesem Zusammenhang zweierlei zu verdeutlichen. Z u m einen belegen sie die anhaltenden Widerstände, auf die im Laufe des 19. Jahrhunderts die Rezeption des westeuropäischen Gesellschaftsverständnisses im deutschen Sprachraum stieß. Und zum anderen versuchen sie deutlich zu machen, welche weltgesellschaftlichen Implikationen mit der spezifisch deutschen Tradition des Gesellschaftsbegriffs verbunden waren. Die Tatsache, daß unter den soziologischen Klassikern Georg Simmel und M a x Weber schließlich dazu neigten, den Begriff der
„Vergesellschaftung" dem der „Gesellschaft" vorzuziehen, wird deshalb letztlich nur verständlich, wenn wir den fachgeschichtlichen Hintergrund berücksichtigen, vor dem sie ihr eigenes Verständnis von Soziologie entwickelt und durchzusetzen versucht haben.
2. Das aufklärerische Projekt einer „Weltbürgergesellschaft" im Kontext der Weltbegriffe um 1800 Umfassende historische Untersuchungen zur Geschichte des Begriffs der „Weltgesellschaft" liegen derzeit immer noch nicht vor. Dies spricht dafür, daß wir es hierbei offensichtlich mit einem neuartigen Sprachgebrauch zu tun haben, der noch keine nennenswerten begriffsgeschichtlichen Spuren hinterlassen hat. 3 Z w a r häufen sich um 1800 jene Begriffe, die ein neues Bewußtsein von der Einheit der Welt artikulieren, das in begrifflichen Neuschöpfungen wie „Weltgeschichte", „Weltmarkt" und „Weltliteratur" zum Ausdruck kommt. Allein den Begriff der „Weltgesellschaft" sucht man mit einer gleich noch zu erwähnenden Einschränkung vergeblich in dieser sonst durchaus beeindruckenden Liste der neuzeitlichen Weltbegriffe (vgl. Braun 1992: 488ff., Koch 2002: 43ff., Kaube 2003). Einer der Gründe f ü r diese Abwesenheit des Gesellschaftsbegriffs in den mit dem Terminus „Welt" gebildeten Komposita ist sicherlich darin zu sehen, d a ß im deutschen Sprachraum gemäß der aristotelischen Tradition der praktischen Philosophie bis Ende des 18. Jahrhunderts noch nicht zwischen der Sphäre des Staates und der der Gesellschaft unterschieden worden ist. W ä h r e n d in der schottischen Moralphilosophie zu dieser Zeit der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft bereits zur Kennzeichnung jener „commercial society" verwendet wurde, die sich mit der beginnenden Industrialisierung allmählich als autonomes Wirtschaftssystem zu behaupten vermochte (vgl. Medick 1973), galt bei den deutschen Philosophen und Staatsrechtslehrern immer noch der Satz, daß die bürgerliche Gesellschaft mit dem Staat identisch sei. Denn gem ä ß der Lehre des Aristoteles w a r nur innerhalb der Polis, d . h . innerhalb des Stadtstaates ein freies bürgerliches Leben möglich, das streng von der herrschaftlichen Sphäre des Hauses als dem primären O r t der wirtschaftlichen Bedarfsdeckung un3
Dies gilt zumindest für den Z e i t r a u m bis 1970. Z u m entsprechenden zeitgenössischen Sprachgebrauch siehe die einschlägige Studie von Wobbe 2 0 0 0 .
Klaus Lichtblau: Von der „Gesellschaft" zur „Vergesellschaftung"
terschieden wurde. 4 „Der Staat, oder die bürgerliche Gesellschaft" - civitas sive societas civilis sive res publica - war deshalb die Formel, die innerhalb dieser Tradition der praktischen Philosophie die Vorstellung einer nicht an die Existenz des Staates gebundenen Form des gesellschaftlichen Lebens erst gar nicht aufkommen ließ (vgl. Riedel 1969: 140ff., 1975a: 738ff.). Bezeichnenderweise hatte auch noch Immanuel Kant den Begriff der „staatsbürgerlichen Gesellschaft" verwendet, um diese Identität von Staat und Gesellschaft hervorzuheben. Sein aufklärerisches Interesse an einer Form der Öffentlichkeit, die nicht mehr der Staatsgewalt unterworfen war, motivierte ihn jedoch dazu, zugleich die Vision einer „Weltbürgergesellschaft" zu entwickeln, die dem einzelnen Bürger ein freies Räsonnieren ermöglichen sollte, ohne auf politische Beschränkungen Rücksicht nehmen zu müssen (vgl. Kant 1983c: 55ff., 1983e: 431ff.). Die Idee einer weltbürgerlichen Gesellschaft und eines ihr entsprechenden „Weltbürgerrechts" war dabei an geschichtsphilosophische Voraussetzungen gebunden, die Kant 1884 in seinem Programm einer „allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" dargelegt hatte. Er ging von einem verborgenen Plan der Natur aus, der die Menschen dazu zwinge, alle Probleme, die sich im Rahmen ihres gesellschaftlichen Zusamenlebens stellen, letztlich in vernünftiger Weise zu regeln. Die Natur bediene sich dabei eines Kunstgriffes, indem sie von einem anthropologischen Tatbestand Gebrauch mache, den Kant als „ungesellige Geselligkeit des Menschen" umschrieb. Denn der Mensch habe sowohl die Neigung, sich zu vergesellschaften, als auch die Neigung, sich abzusondern, um seine eigenen Interessen ohne Rücksichtnahme auf andere zu verfolgen. Aufgrund dieses „Antagonismus" bedürfe es eines äußeren Zwanges, damit der Mensch den Naturzustand verläßt. Die „Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft" müsse ihm also zunächst „pathologisch abgedrungen" werden, bevor sich diese in ein „moralisches Ganzes" zu verwandeln vermag (Kant 1983b: 37f.). Letzteres sei dann der Fall, wenn es eine gerechte staatsbürgerliche Verfassung gibt, die es dem einzelnen Bürger ermöglicht, unter Einhaltung der gegebenen Rechtsnormen ein größtes Maß an persönlicher Freiheit zu entfalten. Die Dies ist auch der Grund, warum in der durch Aristoteles begründeten Tradition der praktischen Philosophie der Bereich der Politik strikt von dem der Ökonomie abgegrenzt worden ist. Eine „politische Ökonomie" mußte vor diesem Hintergrund deshalb lange Zeit notwendigerweise als eine contradictio in adjecto erscheinen; vgl. Bien 1974, Koslowski 1979, Lichtblau 1999: 157ff.
4
71
Errichtung einer solchen idealen Verfassung sei aber von einer entsprechenden rechtlichen Regulierung der zwischenstaatlichen Beziehungen abhängig. Denn solange die einzelnen Staaten ihre außenpolitischen Interessen noch mit Gewalt verfolgen und in den internationalen Beziehungen nicht das Völkerrecht, sondern der Naturzustand herrscht, ist Kant zufolge auch keine vollkommene moralische Ordnung innerhalb eines Staates möglich. Erst wenn im Gefolge der Globalisierung des ökonomischen Verkehrs der „Handelsgeist" die einzelnen Völker erfaßt, sei die Gewähr dafür gegeben, daß die Verfolgung des jeweiligen Eigennutzens auch dauerhaft auf friedlichem Weg geschehen kann (Kant 1983d: 226; vgl. Wood 1998). Kant stellte deshalb drei Formen des öffentlichen Rechts einander gegenüber, die untrennbar miteinander verbunden sind: das Staatsbürgerrecht (ius civitatis), das Völkerrecht (ius gentium) und das Weltbürgerrecht (ius cosmopoliticum). Ersteres regelt die rechtlichen Beziehungen der Bürger innerhalb eines Staates, das Völkerrecht dagegen die außenpolitischen Beziehungen zwischen den einzelnen Staaten. Selbst im Falle der Bildung eines „Völkerbundes" bleibt dabei die Souveränität der einzelnen Staaten gewahrt. Der Begriff des Weltbürgerrechts beruht demgegenüber auf der fiktiven Annahme, daß alle Menschen als Bürger eines „allgemeinen Menschenstaats" anzusehen seien (Kant 1983d: 203). Ein solches Rechtsbewußtsein setzt unter anderem ein verschärftes Gefühl für Rechtsverletzungen jeglicher Art voraus, und zwar unabhängig davon, an welchem Ort der Erde sie begangen werden. Es ist insofern auf die Existenz eines weltweiten Verkehrs und einer entsprechenden Form von Öffentlichkeit angewiesen. Um zu gewährleisten, daß dieser globale Verkehr grundsätzlich auf friedlichem Wege verläuft, hatte Kant die Geltung des Weltbürgerrechts auf die „Bedingungen der allgemeinen Hospitalität" eingeschränkt sehen wollen. Er verstand darunter kein Gastrecht, sondern ein Besuchsrecht, das allen Menschen ermöglichen sollte, jedes Gebiet dieser Erde ohne Hindernisse zu bereisen.5 Kant schränkte die Geltung des WeltbürKant hatte dieses uneingeschränkte Reise- und Verkehrsrecht ursprünglich damit begründet, daß die Erdoberfläche als gemeinsamer Besitz der Menschheit anzusehen sei (vgl. Kant 1983d: 213f.). In der „Metaphysik der Sitten" hatte Kant seinen Standpunkt später jedoch dahingehend präzisiert, daß er nun zwischen der „Gemeinschaft des Bodens" und der „rechtlichen Gemeinschafts des Besitzes" (communio) unterschied. Nun vertrat er den Standpunkt, daß sich aus der ursprünglichen Gemeinschaft des Bodens ausschließlich das Recht auf den „Verkehr" (commerci5
72
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 68-88
gerrechts insofern auf die Sicherstellung von allgemeinen Rahmenbedingungen für den friedlichen Verkehr zwischen den einzelnen Völkern ein. Keinesfalls war damit jedoch die politische Forderung nach Errichtung eines „Völkerstaats" verbunden, da sich dieser ihm zufolge immer in eine despotische Zwangsanstalt zu verwandeln droht. Das von ihm postulierte Recht auf einen uneingeschränkten weltweiten Verkehr ist vielmehr in der Idee einer globalen Zivilgesellschaft begründet, die auf einer spezifisch bürgerlichen Form von Öffentlichkeit beruht (vgl. Habermas 1974: 127ff., 1 9 9 5 : 294ff.). Der von Kant in diesem Zusammenhang geprägte Begriff der „Weltbürgergesellschaft" stellt dabei einen normativen Vorgriff auf einen universalistischen Vernunftgebrauch dar, der durch keine staatlichen Grenzen mehr beschränkt wird. Als eigentlicher Adressat dieses aufklärerischen Projektes muß deshalb ein kosmopolitisch geprägtes Publikum von Lesern angesehen werden, die weltweit miteinander in Verbindung stehen und sich in Form eines ungehinderten Austauschs von Informationen und Meinungen ein eigenes Urteil zu bilden vermögen (vgl. Kant 1983c: 55ff.). Die hierbei vorweggenommene kommunikative Einheit der Welt im Medium einer übergreifenden Sphäre bürgerlicher Öffentlichkeit ist jedoch an die Möglichkeit einer Neutralisierung partikularer politischer Zugehörigkeiten gebunden, die offensichtlich eine breitere Rezeption dieser neuen Begriffsprägung verhindert hat. 6 Zwar mehren sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum die Stimmen, die unter dem Einfluß englischer und französischer Sozialtheorien von einem durch die geschichtliche Entwicklung bedingten „Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft" ausgehen (vgl. Angermann 1963). Die in diesem spezifisch modernen Begriff der Gesellschaft implizierten universalistischen
um) ableiten lasse, nicht aber ein Recht auf Eigentum bzw. Gebrauch desselben (Kant 1 9 8 3 e : 4 7 6 ) . Z u r Vieldeutigkeit des Wortes „ G e m e i n s c h a f t " , das Kant zufolge zu seiner Zeit sowohl im Sinne von „ c o m m u n i o " als auch von „ c o m m e r c i u m " gebräuchlich war, siehe auch die entsprechenden Ausführungen in der „Kritik der reinen Vern u n f t " (Kant 1 9 8 3 a : 2 4 4 f f . ) . Dieser Sachverhalt hatte Emanuel Richter dazu veranlaßt, die weitere Entwicklung des Diskurses über die Weltgesellschaft in Gestalt des Zerfallprozesses einer ursprünglichen, d . h . apriorisch als vernünftig unterstellten „Welteinheit" zu rekonstruieren. O b eine solche Betrachtungsweise jedoch ihrerseits „vernünftig" ist, steht dagegen auf einem anderen Blatt, zumal sie doch sehr an die fatale Geschichtskonstruktion von Georg Lukäcs' „Die Zerstörung der Vernunft" erinnert; vgl. Richter 1 9 9 2 . 6
Bedeutungsgehalte werden jedoch meist dadurch verdeckt, daß das ihm zugrunde liegende Gesellschaftsverständnis noch zu sehr durch den Gegensatz von Staat und Gesellschaft geprägt ist, der von vornherein den Blick auf andere Denkmöglichkeiten verstellt. Die traditionelle Formel „Staat, oder Gesellschaft", die ursprünglich eine unmittelbare Identität beider Sphären zum Ausdruck bringen sollte, verkehrt sich in der Folgezeit stattdessen zu einer weltanschaulichen Polarisierung, deren Extreme sich dadurch unterscheiden, daß die eine Seite die Gesellschaft in der übergreifenden Einheit des Staates, die andere Seite dagegen den Staat in der übergreifenden Einheit der Gesellschaft aufgehen läßt. Eine vermittelnde Position zwischen beiden Lagern nehmen dagegen jene Denker ein, die zwar eine selbständige Existenz der Gesellschaft nicht bestreiten, diese aber durch dermaßen starke soziale Antagonismen geprägt sehen, daß ihrer Ansicht nach nur noch ein weltanschaulich neutraler Staat in der Lage ist, den drohenden Zusammenbruch der modernen Gesellschaft zu verhindern. Auch in diesem Fall wird jedoch der prinzipiell universalistische Gehalt des neuzeitlichen Gesellschaftsbegriffs zugunsten eines territorialen Verständnisses von Gesellschaft eingeschränkt.
3. Die Rezeption des neuzeitlichen Begriffs der „bürgerlichen Gesellschaft" Ein gutes Beispiel für die Rezeption des neuzeitlichen Gesellschaftsbegriffs innerhalb des traditionellen Systems der Staatswissenschaften stellt Hegels Rechtsphilosophie von 1 8 2 1 dar. Zwar übernahm Hegel den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft von englischen und französischen Nationalökonomen seiner Zeit, um mit ihm die Eigenart der modernen industriellen Arbeitsgesellschaft kenntlich zu machen. Dieses „System der Bedürfnisse" ist deshalb nicht mehr unmittelbar politisch verfaßt, sondern bildet eine „Stufe der Differenz" zwischen Familie und Staat, die Hegel als Sphäre der Besonderheit bezeichnete, weil in ihr jedes Individuum seine eigenen Interessen verfolgt (vgl. Hegel 1 9 7 0 : 338ff.). Andererseits war für ihn die selbständige Existenz der bürgerlichen Gesellschaft ein reiner „Schein". Denn zur bürgerlichen Gesellschaft zählte Hegel nicht nur das System der Bedürfnisse, sondern auch die Rechtspflege sowie die Polizei und die Korporation. Unter „Polizei" verstand Hegel die Sicherung der Daseinsvorsorge durch die Staatsverwaltung, unter „Korporation" dagegen eine berufsständische Organisation der gewerblichen Arbeit, welche die Vereinzelung der Bürger tendenziell wieder aufhebt
Klaus Lichtblau: Von der „Gesellschaft" zur „Vergesellschaftung" (Hegel 1 9 7 0 : 3 8 2 f f . ) . In Hegels Verständnis der bürgerlichen Gesellschaft sind also selbst schon M o m e n t e enthalten, die über die Sphäre der Besonderheit hinausweisen. Nicht zufällig kennzeichnete er sie auch als den „äußerlichen S t a a t " bzw. als „ N o t - und Verstandesstaat" (Hegel 1 9 7 0 : 3 4 0 ) . 7 Anders gesprochen: Diese „bürgerliche Gesells c h a f t " stellt selbst nur eine untergeordnete Sphäre in Hegels Darstellung der „Sittlichkeit" dar, die in der Souveränität des neuzeitlichen Anstaltstaates ihren krönenden A b s c h l u ß findet. Ihm zufolge ist es gerade die Existenz der M o n a r c h i e und des Erbadels, die es verhindert, d a ß die bürgerliche Gesellschaft an ihren eigenen Widersprüchen zugrunde geht (Hegel 1 9 7 0 : 4 4 1 f f . , 4 7 4 f f . ) . Dies bedeutet jedoch nicht, d a ß deren Entwicklungsdynamik dauerhaft durch den Staat unterbunden werden könnte. Denn zum einen betonte Hegel selbst, d a ß die bürgerliche Gesellschaft durch die ungleiche Verteilung des ökonomischen Reichtums und die dadurch bedingte Erzeugung des „Pöbels" über sich hinausgetrieben werde, um im Handel mit anderen Völkern neue Konsumenten und die für sie erforderlichen Subsistenzmittel zu finden. In der Kolonisation sah er dabei eine von mehreren M ö g l i c h k e i t e n , wie die zukünftige Bedarfsdeckung einer entfalteten bürgerlichen Gesellschaft sichergestellt werden kann. Und zum anderen h o b er hervor, daß der Selbstbehauptungswille eines einzelnen Staates an der Existenz anderer Staaten seine natürlichen Grenzen findet. Innerhalb der außenpolitischen K o n f r o n t a t i o n zwischen den Staaten erweise sich deshalb die Weltgeschichte als das eigentliche „Weltgericht" (Hegel 1970: 391f., 503ff.). Hegel gebrauchte in diesem Z u s a m m e n h a n g nicht zufällig verschiedene Weltbegriffe wie „Weltgeist" und „ W e l t g e s c h i c h t e " , um die Expansion der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates über ihre territorialen Grenzen hinaus zu beschreiben, auch wenn diese sich noch nicht zu einem einheitlichen Begriff der „Weltgesellschaft" verdichteten. 8 D e m Manfred Riedel betont deshalb zu Recht, daß die von Hegel beschriebene bürgerliche Gesellschaft immer noch traditioneller sittlich-politischer Elemente bedarf, soll das „System der Bedürfnisse" nicht an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehen (vgl. Riedel 1 9 7 0 : 54ff.). 8 Zwar hatte Joachim Ritter in bezug auf Hegels Darstellung der Entwicklungsdynamik der bürgerlichen Gesellschaft bereits von einer Vorwegnahme der sich am Horizont abzeichnenden „Weltgesellschaft" gesprochen. Er verstand darunter aber bezeichnenderweise nur „die sich über die Erde ausbreitende und potenziell universale Arbeitsgesellschaft" (Ritter 1 9 6 5 : 57). Dagegen hatt M a n fred Riedel die politische Inklusion der bürgerlichen Ge7
73
gegenüber haben M a r x und Engels die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft von Anfang an in einen universalgeschichtlichen Z u s a m m e n h a n g gestellt. Unter „bürgerlicher Gesellschaft" verstanden sie dabei jenes auf Privateigentum beruhende System der materiellen Produktion und des gesellschaftlichen Verkehrs, das untrennbar mit der Geschichte des Handels und der Industrie verbunden ist. Ihrer Ansicht nach hat diese im 1 6 . - 1 8 . J a h r hundert entstandene Gesellschaftsform überhaupt erst einen tieferen Einblick in die allgemeinen Bewegungsgesetze der gesellschaftlichen Entwicklung möglich gemacht. D e n n als ö k o n o m i s c h fortgeschrittenste Gesellschaftsformation stelle sie zugleich die geschichtliche Voraussetzung für ein adäquates Verständnis der ihr vorausgegangenen Entwicklungsstufen der materiellen Produktion und Reproduktion dar. Keinesfalls vertraten sie dabei jedoch die Auffassung, daß die ö k o n o m i s c h e n Kategorien, die sie zur Beschreibung der „Anatom i e " der bürgerlichen Gesellschaft verwendet haben, umstandslos auf vormoderne Gesellschaften übertragen werden können. Die von ihnen im R a h men ihrer materialistischen Geschichtsbetrachtung aufgestellte T h e s e vom Primat der Produktion gegenüber den sonstigen Lebensäußerungen der M e n schen bezog sich vielmehr auf die Überlegung, d a ß nur unter den Bedingungen der modernen Industrie und der dadurch bewirkten ständigen Umgestaltung der technologischen Grundlagen der Produktion die menschliche Arbeit zur Schlüsselkategorie für ein adäquates Verständnisses des geschichtlichen Prozesses geworden sei (vgl. M a r x 1 9 5 3 : 2 5 f f . , 1 9 7 2 : 14ff.). M a r x und Engels k a m e n dabei zu dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse und Staatsformen nicht aus sich selbst heraus begriffen werden k ö n n t e n , sondern von der jeweils vorherrschenden F o r m des Privateigentums an den Produktionsmitteln abhängig seien. Die bürgerliche Gesellschaft bilde deshalb den „wahre(n) Herd und Schauplatz aller Geschicht e " und gehe „insofern über den Staat und die N a tion hinaus, o b w o h l sie andrerseits wieder nach Außen hin als Nationalität sich geltend machen, nach Innen als Staat sich gliedern m u ß " (Marx/Engels 1 9 7 3 : 3 6 ) . 9 Ihre Apotheose der bürgerlichen Gesellsellschaft in die Weltgeschichte vermittels Hegels Staatsbegriff betont: „Die Unterordnung der bürgerlichen Gesellschaft unter den Staat steht zur Überordnung der Geschichte in einem komplementären Verhältnis" (Riedel 1970:23). 9 Dies ist auch der Grund, warum M a r x ursprünglich neben den geplanten Büchern über das Kapital, das Grundeigentum und die Lohnarbeit noch drei weitere Bücher
74
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 68-88
schaft ging dabei so weit, daß sie die mit der modernen industriellen Produktionsweise untrennbar verbundene Klassenherrschaft der Bourgeoise als die eigentliche revolutionäre Umgestaltung der bisherigen Geschichte würdigten. Denn die Bourgeoisie habe alle feudalen und patriarchalischen Verhältnisse zerstört und die bisherigen Klassengegensätze auf den zentralen Antagonismus von Lohnarbeit und Kapital reduziert. Sie habe die große Industrie geschaffen und die Staatsgewalt ihren eigenen Zwecken unterworfen. Sie habe den Handel über die ganze Erde ausgebreitet und auch die nichteuropäischen Völker dazu gezwungen, bei Strafe ihres eigenen Untergangs sich ebenfalls die bürgerliche Produktionsweise zu eigen zu machen und sich dem durch die führenden europäischen Staaten erzwungenen System der internationalen Arbeitsteilung unterzuordnen (Marx/Engels 1974: 464ff.). Von einer „Weltgeschichte" könne jedoch erst dann gesprochen werden, wenn die Teilung der Arbeit so weit fortgeschritten sei, daß alle Nationen von der Entwicklung des Weltmarktes abhängig geworden seien. Sie ist also letztlich nur unter der Bedingung eines „Übergreifens der bürgerlichen Gesellschaft über den Staat" möglich (Marx 1953: 1 7 5 ) . 1 0 Erst die Entstehung des Weltmarktes bzw. eines „universellen Verkehrs" sorgt also dafür, daß die bisherige Geschichte sich vollständig in ein weltgeschichtliches Zusammenwirken der einzelnen Klassen und Nationen verwandelt, auch wenn M a r x und Engels sagen, daß es sich unter den Be-
schreiben wollte, die auch den Staat, den auswärtigen Handel sowie den Weltmarkt umfassen sollten. Zu den Umständen, warum es dazu nicht mehr kam und warum sich M a r x im Rahmen seiner Ökonomiekritik damit begnügte, sich auf das „Kapital" zu konzentrieren, siehe Rosdolski 1 9 6 9 : 24ff. 1 0 Diese These hatte Immanuel Wallerstein dazu veranlaßt, im Rahmen seiner Analysen der kapitalistischen Entwicklung nicht von den einzelnen europäischen Nationalstaaten, sondern von dem sich um 1 5 0 0 allmählich etablierenden internationalen System der Arbeitsteilung und der damit verbundenen kapitalistischen Weltwirtschaft auszugehen: „Es waren also das Weltsystem und nicht die einzelnen Gesellschaften', die sich .entwickelt' haben. Das heißt, nachdem sie einmal ins Leben gerufen worden war, wurde die kapitalistische Weltwirtschaft zunächst einmal konsolidiert, und dann nach und nach der Einfluß ihrer Grundstrukturen auf die gesellschaftlichen Prozesse innerhalb ihrer Grenzen vertieft und erweitert. Die ganzen Vorstellungen des Wachstumsprozesses von der Eichel zur Eiche, vom Keim zu seiner Entfaltung, gibt, wenn überhaupt, nur einen Sinn, wenn sie auf die einzigartige kapitalistische Weltwirtschaft als ein historisches System angewendet werden" (Wallerstein 1 9 8 5 : 85).
dingungen des Kapitalismus hierbei noch um eine „naturwüchsige Form" der Weltgeschichte handelt, die noch nicht unter der bewußten Kontrolle der Menschen steht (Marx/Engels 1 9 7 3 : 3 5 , 37). Damit diese durch eine bewußte Form des allseitigen Zusammenwirkens ersetzt wird, bedarf es erst noch einer umfassenden sozialen Revolution, welche die bisherige Geschichte endgültig in die Vorgeschichte der Menschheit verweist. Da der Weltmarkt und seine Schwankungen die adäquate Daseinsform der bürgerlichen Gesellschaft bilde, könne deshalb auch das moderne Proletariat und die kommunistische Bewegung nur in einem weltgeschichtlichen Zusammenhang existieren. In dem von M a r x später in seiner Kritik der politischen Ökonomie entfalteten Kapitalbegriff ist insofern nicht zufällig zugleich die Zusammenfassung der einzelnen nationalen Kapitalien durch die „unsichtbare Hand" des Weltmarktes geradezu zwingend begriffslogisch impliziert! Daran ändert auch nichts der Sachverhalt, daß M a r x selbst zu Lebzeiten ,nur' dazu kam, den Begriff des „Kapitals im allgemeinen" darzustellen, während die von ihm ursprünglich geplante Darstellung der „Besonderheit" und der „Einzelheit" des Kapitals in Gestalt der einzelnen nationalen Volkswirtschaften und deren Synthese in Gestalt des Weltmarktes nicht mehr - wie noch 1857/58 in den „Grundrissen" ursprünglich vorgesehen - zur Ausführung kam (vgl. M a r x 1953: 175ff., 186ff., Braunmühl 1 9 7 3 , Hirsch 1 9 7 3 , Hennig 1 9 7 4 , Schäfer 1 9 7 4 , Lichtblau 1978: 164ff., 227ff., 248ff.). Anders gesprochen: Eine „kommunistische" Gesellschaft ist M a r x und Engels zufolge letztendlich nur als Weltgesellschaft möglich! In ihr verwandelt sich die in der bürgerlichen Epoche noch „entfremdete" Form des Zusammenwirkens der Individuen in eine bewußte Kontrolle und Beherrschung jener anonymen Mächte, die bisher die gesellschaftliche Entwicklung bestimmt haben: „Der Kommunismus ist empirisch nur als die Tat der herrschenden Völker ,auf einmal' und gleichzeitig möglich, was die universelle Entwicklung der Produktivkraft und den mit ihm zusammenhängenden Weltverkehr voraussetzt . . . Das Proletariat kann also nur weltgeschichtlich existieren, wie der Kommunismus, seine Aktion, nur als weltgeschichtliche' Existenz überhaupt vorhanden sein kann; weltgeschichtliche Existenz der Individuen, d. h. Existenz der Individuen, die unmittelbar mit der Weltgeschichte verknüft ist" (Marx/Engels 1973: 35f.). In der von M a r x und Engels vertretenen Geschichtsauffassung ist also die Expansion der bürgerlichen Gesellschaft zu einem globalen System der wechselseitigen ökonomischen Abhängigkeit ausdrücklich benannt. Ihr
Klaus Lichtblau: Von der „Gesellschaft" zur „Vergesellschaftung" entspricht in praktischer Hinsicht die Vorstellung, daß die internen Widersprüche dieser Gesellschaft nicht mehr immanent, sondern nur durch eine weltweite kommunistische Revolution und die damit zumindest als Übergangsphase - notwendig werdende „Diktatur des Proletariats" aufgehoben werden können. 11
4. Der Streit um die „Gesellschaftswissenschaft" im 19. Jahrhundert Zu einer völlig anderen Schlußfolgerung kam dagegen Lorenz von Stein, dem wir es zusammen mit dem liberalen Staatsrechtslehrer Robert von Mohl zu verdanken haben, daß der Begriff der „Gesellschaft" seit Mitte des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum zum Schlüsselbegriff der modernen Gesellschafts- und Staatswissenschaften avanciert ist (vgl. Angermann 1962). Während Stein sich als erster darum bemühte, das in der Literatur des französischen Frühsozialismus zum Ausdruck kommende Gesellschaftsverständnis einem breiteren deutschsprachigen Publikum bekannt zu machen, verband Mohl damit zugleich das Ansinnen, einer neuen Disziplin - nämlich der „Gesellschaftswissenschaft" - in Abgrenzung zum überlieferten System der Staatswissenschaften zum Durchbruch zu verhelfen. Beide waren jedoch nicht bereit, die revolutionären Konsequenzen zu ziehen, die Marx und Engels aus dem Studium der Schriften der sozialistischen Theoretiker in England und Frankreich zogen. Gleichwohl stieß auch Steins und Mohls Versuch, die neue Gesellschaftslehre an den deutschen Universitäten zu etablieren, auf erhebliche innerakademische Widerstände, die erklären, warum sich namhafte deutsche Soziologen um 1900 gezwungen sahen, die Soziologie in Deutschland unter weitgehendem Verzicht auf den Gesellschaftsbegriff noch einmal völlig neu zu begründen (vgl. Rehberg 1986, Burger 1994, Lichtblau 2001a). Lorenz von Stein ging bei seinem Versuch, seinen Zeitgenossen die Bedeutung der „Gesellschaft" als einer historisch völlig neuen Kategorie und Schicksalsmacht näherzubringen, von einem Studium der sozialen Bewegungen aus, wie sie sich in Frankreich 11 Daß der Kampf der Arbeiterbewegung deshalb nur „der Form n a c h " , nicht jedoch dem „Inhalt" nach national ausgerichtet sein konnte, hatte M a r x nicht nur im „Kommunistischen Manifest", sondern auch in seiner ätzenden Kritik des „Gothaer Programms" der deutschen Arbeiterpartei hervorgehoben; vgl. M a r x 1 9 7 4 : 23ff.
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seit der Revolution von 1789 entwickelt hatten. Sein Gesellschaftsverständnis wurde dabei wesentlich durch die Schriften von Saint-Simon, Charles Fourier und Pierre-Joseph Proudhon geprägt. Stein war der erste Staatswissenschaftler im deutschen Sprachraum, der die Notwendigkeit einer selbständigen Lehre von der Gesellschaft ausdrücklich anerkannte. Zentral war für ihn dabei der spezifisch moderne Gegensatz von Staat und Gesellschaft, die sich ihm zufolge in einem ständigen Kampf miteinander befinden, da sie auf unterschiedlichen Prinzipien beruhen. Denn während sich im Staat der Wille der Bürger in Form der „persönlichen Einheit" geltend mache, zeichne sich die Gesellschaft dadurch aus, daß hier die Verfolgung der privaten Interessen im Mittelpunkt stünde, wie sie sich aus der gewerblichen Arbeitsteilung ergebe. Die ungleiche Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums schlage sich in der Existenz verschiedener sozialer Klassen nieder, wobei der Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital der entscheidende Grund für die revolutionären Bewegungen der Gegenwart sei. Der Staat drohe dabei seine Selbständigkeit zu verlieren, wenn er unter den Einfluß einer der um die Macht kämpfenden sozialen Klassen gerate. Nur die Monarchie sei deshalb in der Lage, die bevorstehende politische und soziale Revolution zu verhindern, indem sie selbst die durch die moderne soziale Frage notwendig gewordenen gesellschaftlichen Reformen in Angriff nimmt und dabei den Zugriff der einzelnen gesellschaftlichen Klassen auf die Staatsgewalt erfolgreich abwehrt (vgl. Stein 1971, 1972, Böckenförde 1963, Blasius 1971). Steins Lehre vom sozialen Königtum verfolgte eine strikt auf das Hoheitsgebiet der einzelnen Staaten beschränkte Gesellschaftsreform. Sie gipfelte dabei in dem Satz, „daß erst durch das Königtum der Staat seine Selbständigkeit außerhalb, über der Gesellschaft wiedergefunden hat" (Stein 1971: 80). Jedoch gab er mit dieser schroffen Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft den entscheidenden Anstoß für die seit Mitte des 19. Jahrhunderts feststellbaren Bemühungen, die Gesellschaftswissenschaft als selbständigen Zweig neben den überkommenen staatswissenschaftlichen Disziplinen an den deutschen Universitäten zu etablieren (vgl. Pankoke 1970). Robert von Mohl bezog sich denn auch ausdrücklich auf die Schriften von Stein, als er empfahl, fortan strikt zwischen den „Gesellschafts-Wissenschaften" und den „Staats-Wissenschaften" zu unterscheiden (Mohl 1851: 21, 1960: 69ff.). Um die Selbständigkeit der modernen, primär durch die sozialen Bewegungen der Gegenwart gekennzeichneten Sphäre der Gesellschaft zu betonen, grenzte
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er sich zugleich von Hegel a b , dem er vorwarf, die „bürgerliche Gesellschaft" dem Staat untergeordnet zu haben. Gegenüber den Anhängern der „Gesellschafts-Umgestaltung" m a c h t e er dagegen den Einw a n d geltend, d a ß diese zwar viel zu einem besseren Verständnis der Gesellschaft beigetragen hätten, durch ihren politischen Aktionismus dagegen die weitere Entwicklung der Gesellschaftswissenschaft in Frage stellen würden ( M o h l 1 8 5 1 : 1 8 , 2 5 f . ) . Um den N a c h w e i s zu erbringen, daß sich diese neue Anschauungsweise nicht darauf reduzieren lasse, der sozialen Revolution den Weg zu ebnen, m a c h t e M o h l gegenüber der staatlichen Organisation einen Bereich des sozialen Lebens geltend, der sich aus der gemeinsamen Interessenlage verschiedener M e n s c h e n ergebe und der zur Bildung entsprechender „Interessen-Genossenschaften" führe. M o h l machte dies unter anderem a m Beispiel der sozialen Untergliederung der Gesellschaft in verschiedene Stände und Klassen sowie dem G e m e i n deleben in den K o m m u n e n und religiösen Gemeinschaften deutlich. Ihm zufolge ist es gerechtfertigt, für diese verschiedenen sozialen Kreise einen neuen O b e r b e g r i f f - eben den der „ G e s e l l s c h a f t " - einzuführen, um das gemeinsame Charakteristikum zu kennzeichnen, das ihnen z u k o m m e und das sie vom Staat unterscheide: „Gesellschaftliche Lebenskreise sind also die einzelnen, je aus einem bestimmten Interesse sich entwickelnden natürlichen Genossenschaften, gleichgültig o b förmlich geordnet oder nicht; gesellschaftliche Zustände sind die Folgen, welche ein solches mächtiges Interesse zunächst für die Theilnehmer, dann aber auch mittelbar für die Nichtgenossen hat; die Gesellschaft endlich ist der Inbegriff aller in einem bestimmten Umkreise, z. B. Staate, Welttheile, thatsächlich bestehenden gesellschaftlichen G e s t a l t u n g e n " ( M o h l 1 8 5 1 : 4 9 ) . M o h l hatte deshalb den traditionellen Staatswissenschaften ein „System der Gesellschaftswissenschaft e n " gegenübergestellt, das zum einen die „allgemeine Gesellschaftslehre", zum anderen verschiedene historische und dogmatische Disziplinen umfaßte ( M o h l 1 8 5 1 : 5 6 f f . , 1 9 6 0 : 1 0 3 f f . ) . Dies hatte eine scharfe Kritik von seifen des jungen Heinrich von Treitschke provoziert, der sich in seiner 1 8 5 9 veröffentlichten Habilitationsschrift leidenschaftlich mit diesen neuen Strömungen auseinandergesetzt hatte. E r sprach sich nicht nur dafür aus, die insbesondere von M o h l vorgeschlagene Unterscheidung zwischen den Gesellschafts- und Staatswissenschaften wieder rückgängig zu m a c h e n , sondern er vertrat auch die Ansicht, d a ß es unmöglich sei, ein gemeinsames Kriterium für die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche anzugeben. Z w a r könnten
ö k o n o m i s c h e , religiöse und künstlerische Genossenschaften jeweils für sich g e n o m m e n untersucht werden. Dies bedeute jedoch nicht, d a ß es die Berechtigung für eine Wissenschaft gebe, welche alle diese „heterogenen D i n g e " in einer eigenständigen Disziplin zusammenfasse (Treitschke 1 9 8 0 : 5 5 f f . ) . Wenn schon der Versuch gemacht werde, die verschiedenen gesellschaftlichen Kreise in einer einzelnen Wissenschaft zu behandeln, so k ö n n e dies nur in Gestalt einer erst noch zu entwickelnden neuen F o r m der Kulturgeschichtsschreibung oder aber auf staatswissenschaftlichem Wege geschehen. Denn der Staat sei der „einheitliche politische Mittelp u n k t " bzw. die „eigentliche O r g a n i s a t i o n " der G e sellschaft. Deshalb stehe er auch im Gegensatz zu dem „Partikularismus der einzelnen sozialen Kreis e " (Treitschke 1 9 8 0 : 5 7 , 6 8 ) . Ein weiterer Grund, w a r u m das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft niemals völlig konfliktfrei sein k a n n , liegt Treitschke zufolge darin begründet, d a ß die Gesellschaft sich nicht in vorgegebene Staatsgrenzen einbinden läßt. Sein Verweis auf die Abhängigkeit des Staates von den „internationalen Verhältnissen" und die Existenz einer „Völkergesellschaft" jenseits der einzelnen Staaten m a c h t deutlich, d a ß entsprechende Verkehrsbeziehungen und rechtliche Vereinbarungen zwischen den einzelnen Staaten vielmehr von der Entwicklung gemeinsamer ethischer und kultureller Ideale abhängig sind (Treitschke 1 9 8 0 : 53f., 71).12 Treitschke hatte versucht, die disziplinare Verselbständigung der Gesellschaftswissenschaften zu verhindern, indem er vorschlug, die im Gefolge der R e zeption englischer und französischer Ansätze entstandene neue Gesellschaftslehre in das überlieferte System der Staatswissenschaften zu integrieren. Es gab jedoch auch in den Geisteswissenschaften beträchtliche Wiederstände, den Begriff der „Gesellschaft" als Grundlage einer neuen Disziplin an den deutschen Universitäten zu akzeptieren. Symptomatisch hierfür ist die Kritik von Wilhelm Dilthey an der englischen und französischen Tradition der Soziologie des 1 9 . Jahrhunderts. Dieser hatte in seiner 1 8 8 3 erschienenen „Einleitung in die Geisteswissenschaften" gegenüber der durch C o m t e und Spencer geprägten positivistischen Richtung der modernen Soziologie den Vorwurf e r h o b e n , daß sie keine wirkliche Wissenschaft sei, sondern Auch M o h l ( 1 8 5 1 : 2 8 f . ) hatte auf die Existenz der „Staatengesellschaft" hingewiesen, jedoch das Problem der internationalen Beziehungen bewußt ausgeklammert und sich in seinen entsprechenden Untersuchungen primär auf das „Verhältniss von Gesellschaft und Einzelnstaat" konzentriert. 12
Klaus Lichtblau: Von der „Gesellschaft" zur „Vergesellschaftung"
das problematische Erbe der Geschichtsphilosophie angetreten habe. Insbesondere die Vorstellung, daß mit dem Gesellschaftsbegriff die Möglichkeit gegeben sei, alle Erscheinungsformen der geschichtlichsozialen Welt auf ein gemeinsames Prinzip zurückzuführen, lehnte er als „metaphysisch" ab (Dilthey 1923: 86ff., 422). Dilthey unterschied dabei sehr genau zwischen jener „neuen erlösenden Wissenschaft der Gesellschaft", wie sie in den Arbeiten von Condorcet, Saint-Simon, Comte, John Stuart Mill und Herbert Spencer ihren Ausdruck fand, und der von Stein und Mohl vertretenen Gesellschaftslehre. War erstere darum bemüht, auch die Entwicklung der Kunst, Religion, Wissenschaft sowie der Sitte und des Rechts auf allgemeine Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung zurückzuführen, so ging es seiner Meinung nach den deutschen Staatsrechtslehrern primär darum, die Eigenständigkeit der modernen Gesellschaft gegenüber dem neuzeitlichen Anstaltsstaat hervorzuheben, um eine entsprechende Abgrenzung zwischen den Gesellschafts- und Staatswissenschaften zu rechtfertigen (Dilthey 1923: 36,90). Dilthey ging auch dieser Vorschlag noch zu weit. Denn solange der Nachweis noch nicht erbracht worden war, daß es tatsächlich so etwas wie allgemeine Bewegungsgesetze der gesellschaftlichen Entwicklung gibt, stand ihm zufolge auch die von Stein und Mohl vertretene Gesellschaftslehre auf tönernen Füßen. Er stellte deshalb die von ihnen vorgenommene Trennung von Staat und Gesellschaft grundsätzlich in Frage. Überdies war er der Ansicht, daß sich die einzelnen Bereiche der Kultur nicht auf soziale oder politische Gesichtspunkte reduzieren lassen. Er grenzte deshalb diejenigen Disziplinen, welche die einzelnen „Systeme der Kultur" zum Gegenstand haben, von jenen Wissenschaften ab, die sich mit der „äußeren Organisation der Gesellschaft" befassen. Handelt es sich im ersten Fall um Zweckzusammenhänge, die wie die Kunst, Wissenschaft und Religion bestimmten sachlichen Gesichtspunkten folgen, so zielt der Begriff der „äußeren Organisation" dagegen primär auf Formen der Gemeinschafts- und der Verbandsbildung ab, in denen sich die Menschen einem objektiven Herrschaftsverhältnis unterordnen. Obwohl Dilthey zufolge das gesellschaftliche Leben auf einer Vielzahl von Wechselwirkungen zwischen den Individuen beruht, die zum Teil einem reinen Gemeinschaftsbzw. Geselligkeitsbedürfnis geschuldet sind, kommt es seiner Ansicht nach erst dann zur Entstehung dauerhafter sozialer Gebilde, wenn sich die einzelnen Akteure in Körperschaften und in Anstalten zu
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Verbänden vereinigen, wodurch äußere Bindungen und Abhängigkeiten entstehen, die von sehr unterschiedlicher Dauer sein können (Dilthey 1923: 40ff., 64ff.). Diese starke Fokussierung auf die Rolle von Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen ist auch der Grund dafür, warum Dilthey das Studium der „äußeren Organisation der Gesellschaft" letztlich den Staatswissenschaften bzw. einer allgemeinen Theorie der Verbände überlassen wollte und er selbst darauf verzichtete, eine gesellschaftstheoretische Grundlegung seiner Klassifikation der Geisteswissenschaften vorzunehmen, auch wenn sich diese bei einer unvoreingenommenen Betrachtungsweise geradezu aufdrängt. Denn schließlich war die „geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit" Gegenstand der geisteswissenschaftlichen Forschung, weshalb Dilthey zwischen einer weiten und einer engeren Fassung des Gesellschaftsbegriffs unterschied. Im ersten Fall subsumierte er auch die „Systeme der Kultur" unter den Begriff der Gesellschaft, im zweiten Fall dagegen nur die „äußere Organisation der Gesellschaft" bzw. die einzelnen sozialen Verbände (Dilthey 1923: 35ff., 81ff.). Obgleich Dilthey also durchaus selbst den Begriff der Gesellschaft auch als Oberbegriff gebrauchte, um damit den gemeinsamen Gegenstandsbereich der einzelnen geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu kennzeichnen, war ihm zufolge jedoch allein eine „Kritik der historischen Vernunft" in der Lage, eine „Erkenntnis dieses Ganzen der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit" zu ermöglichen (Dilthey 1923: 87,116). 1 3 Später räumte er allerdings ein, daß zumindest die von Georg Simmel entwickelte Variante einer „formalen Soziologie" nicht von seiner Ablehnung der „Gesellschaftswissenschaft" be13 Diltheys diesbezügliche Ausführungen sind aufgrund seines schwankenden Sprachgebrauchs dabei allerdings nicht ganz frei von Widersprüchen. So spricht er selbst davon, daß die Klärung des Verhältnisses zwischen der staatlichen Zwangsgewalt und den einzelnen Kultursystemen eines der Hauptprobleme einer „Mechanik der Gesellschaft" darstelle. Und bezüglich der - von ihm freilich in Abrede gestellten - möglichen Ausarbeitung einer „allgemeinen Gesellschaftslehre" führt er aus, daß diese das „Bindeglied zwischen den Wissenschaften von den Systemen der Kultur und der Staatswissenschaft" darstellen würde (Dilthey 1923: 7 0 , 8 5 ) . Dilthey sieht zwar das Problem, ergreift aber selbst nicht die von ihm angedeutete Lösungsstrategie, weil er sie für nicht durchführbar hält. Daß er dennoch einer modernen soziologischen Problemlösung vorgearbeitet hat, begründet seine Stellung innerhalb der Geschichte der Soziologie. Siehe hierzu auch Freyer 1927, Lieber 1965 und - mit Blick auf die moderne Theorie sozialer Systeme - Hahn 1999.
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troffen sei, da Simmel es gerade vermeide, der „Gesellschaft" eine unabhängige Existenz gegenüber den einzelnen Formen der sozialen Wechselwirkung zuzusprechen. Unabhängig davon hielt Dilthey jedoch bis zuletzt an seiner Uberzeugung fest, daß seine ablehnende Haltung gegenüber der Soziologie einer akademischen Disziplin gelte, „welche alles dasjenige, was de facto in der menschlichen Gesellschaft stattfindet, in einer Wissenschaft zusammenfassen will" (Dilthey 1923: 421 ). 1 4
5. Der Gegensatz von „Gemeinschaft" und „Gesellschaft" und die „Weltstellung" der Gesellschaft All dies gilt es zu berücksichtigen, wenn wir verstehen wollen, in welcher Weise der Begriff der Gesellschaft in der deutschen Soziologie um 1900 verwendet worden ist. Während Georg Simmel und Max Weber dabei der von Treitschke und Dilthey geäußerten Kritik an der neuen Gesellschaftslehre Rechnung zu tragen versuchten, indem sie im Rahmen ihrer Neubegründung der Soziologie den Gesellschaftsbegriff weitgehend vermieden bzw. synonym mit dem der „Vergesellschaftung" gebrauchten, konnte Ferdinand Tönnies die damit verbundene Aufregung jedoch nicht nachvollziehen. Insbesondere bestritt er, daß mit der seit Hegel üblichen Gegenüberstellung von Gesellschaft und Staat eine neue historische Erkenntnis gewonnen worden sei. Der in diesem Zusammenhang entwickelte Gesellschaftsbegriff sei nämlich in Wahrheit nichts anderes als „eine neue Fassung des alten ,Natur-Zustandes' (status naturalis), der immer als unterhalb des Staates verharrend gedacht wurde" (Tönnies 2000a: 118f.). Auch Lorenz von Steins Lehre vom sozialen Königtum wiederhole im Grunde genommen nur die bereits von Thomas Hobbes vertretene Ansicht, daß nur ein starker Staat in der Lage sei, den Krieg aller gegen alle dauerhaft zu unterbinden. Daraus einen grundsätzlichen theoretischen Dualismus von Gesellschaft und Staat abzuleiten, war seiner Meinung nach allerdings nicht statthaft. Denn der Staat verkörpere im Rahmen der neuzeitlichen Vertragstheorie nichts anderes als die Gesellschaft selbst, die sich in dieser Gestalt gegenüber den einzelnen Individuen als fiktive Einheit geltend mache (Tönnies 1979: 198f., 2000a: 119, 122). Für Tönnies war deshalb auch nicht der Gegensatz 1 4 Zur ausführlichen Erörterung des spannungsreichen Verhältnisses zwischen Dilthey und Simmel siehe auch Liebeschütz 1 9 7 0 : 123ff. und Köhnke 1989.
von Staat und Gesellschaft entscheidend, sondern der Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft. Auf letzterem beruhen die Grundbegriffe seiner „reinen Soziologie", wie er sie in seinem erstmals 1887 erschienenen philosophisch-soziologischen Hauptwerk entwickelt hatte (vgl. Tönnies 1979). 1 5 Tönnies versuchte dabei die historische und die rationale Betrachtungsweise miteinander zu verbinden. Während ihm zufolge die Gemeinschaft ein „lebendiger Organismus" darstellt, verkörpere die Gesellschaft dagegen ein „mechanisches Aggregat und Artefakt" (Tönnies 1979: 4). Da das gemeinschaftliche Zusammenleben der Menschen das Natürliche und Ursprüngliche sei, beinhalte der Begriff der Gesellschaft demgegenüber zugleich den „gesetzmäßig-normalen Prozeß des Verfalls aller G e meinschaft'" (Tönnies 2000a: 123). Tönnies unterschied deshalb zwischen einem „Zeitalter der Gemeinschaft" und einem „Zeitalter der Gesellschaft". Während im ersten Fall die Verwandtschaft, Nachbarschaft und Freundschaft das soziale Leben prägen, sei das gesellschaftliche Zeitalter dagegen durch die Vorherrschaft abstrakter Verstandesbeziehungen gekennzeichnet. Indem Tönnies den Gesellschaftsbegriff aus der Tradition des Naturrechts und des Wirtschaftsliberalismus übernahm, konnte er im Anschluß an Henry Sumner Maine das historische Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft auch als Übergang von primär statusbezogenen hin zu primär kontraktbezogenen Sozialbeziehungen deuten (Tönnies 1979: X X X I I I u. 158f.). „Gesellschaft", „Tausch" und „Vertrag" waren für Tönnies dabei letztlich identische Begriffe. In ihnen kommt eine rein rationale Form der Interessenwahrnehmung zum Ausdruck, die Tönnies in Anlehnung an einen älteren deutschen Sprachgebrauch als „Willkür" bzw. „Kürwille" bezeichnet und von dem in der Gemeinschaft vorherrschenden „Wesenwillen" abgegrenzt hat (Tönnies 1979: 35ff., 73ff.; vgl. Merz-Benz 1991). Tönnies' Gesellschaftsbegriff ist insofern identisch mit der „bürgerlichen Gesellschaft", wie sie innerhalb der klassischen politischen Ökonomie von 1 5 Von „reiner Soziologie" sprach Tönnies allerdings erst seit der zweiten Auflage von „Gemeinschaft und Gesellschaft", die 1 9 1 2 erschienen ist und der er den Untertitel „Grundbegriffe der reinen Soziologie" gab. In der ersten Auflage von 1 8 8 7 lautete der diesbezügliche Untertitel dagegen noch „Abhandlung des Kommunismus und des Sozialismus als empirische Kulturformen". Offenbar hatte Tönnies später das Bedürfnis, zumindest sprachlich eine allzu enge Bezugnahme auf die sozialen Bewegungen seiner Zeit zu vermeiden, um den strikt akademischen Anspruch seines Hauptwerkes zu unterstreichen.
Klaus Lichtblau: Von der „Gesellschaft" zur „Vergesellschaftung" A d a m Smith bis hin zu Karl M a r x beschrieben worden ist. D . h . er zielt a b auf ein tieferes Verständnis jener „Tauschgesellschaft", die als System der allgemeinen Konkurrenz in der Entstehung eines Weltmarktes gipfelt, von dem schließlich alle übrigen M ä r k t e abhängig werden. T ö n n i e s konnte deshalb in bezug auf die Entwicklung der Gesellschaft auch sagen: „Es ist mithin immer ein werdendes E t w a s , das hier als Subjekt des allgemeinen Willens oder der allgemeinen Vernunft gedacht werden soll. Und zugleich (wie wir wissen) ein fiktives und nominelles. Es schwebt gleichsam in der Luft, wie es aus den Köpfen seiner bewußten Träger hervorgegangen ist, die sich über alle Entfernungen, Grenzen und Bedenken hinweg tauschbegierig die H ä n d e reichen, und diese spekulative Vollkommenheit begründen, als das einzige Land, die einzige Stadt, worin alle Glücksritter und Abenteurer (merchant adventures) ein wirklich gemeinsames Interesse haben. So wird sie repräsentiert, wie die Fiktion des Geldes durch M e t a l l oder Papier, durch den ganzen Erdball, oder durch ein irgendwie abgegrenztes Territorium . . . Gesellschaft als Gesamtheit, über welche sich ein konventionelles System von Regeln erstrecken soll, ist daher, ihrer Idee n a c h , unbegrenzt; ihre wirklichen und zufälligen Grenzen durchbricht sie f o r t w ä h r e n d " (Tönnies 1 9 7 9 : 4 4 f . ) . Auch wenn bei solchen Formulierungen ein Verständnis von Gesellschaft zum Ausdruck k o m m t , in dem die ö k o n o m i s c h e n Verhältnisse eine zentrale Rolle spielen, erwähnte T ö n n i e s neben der Globalisierung des wirtschaftlichen Verkehrs noch weitere Errungenschaften der modernen Welt, die ihm zufolge deutlich m a c h e n , d a ß die Entstehung von N a tionalstaaten nur eine „vorläufige Beschränkung der schrankenlosen Gesellschaft" darstellt (Tönnies 1 9 7 9 : 2 0 3 ) . So sah er auch in der internationalen Presse eine M a c h t , welche die Entstehung einer „ W e l t r e p u b l i k " begünstigt, deren Ausdehnung parallel mit der des Weltmarktes einhergeht. Und die moderne „ W e l t s t a d t " begriff er als einen O r t , an dem sich M e n s c h e n aus allen Gegenden der Erde treffen, um Informationen, M e i n u n g e n , Güter und Dienstleistungen auszutauschen. T ö n n i e s schloß in diesem Z u s a m m e n h a n g die Entstehung einer „universalen Gesellschaft" bzw. „ W e l t o r d n u n g " nicht aus. Diese sei in der Antike bereits durch das römische Weltreich vorweggenommen worden und habe zur Bildung eines entsprechenden „ W e l t r e c h t s " geführt, das später die Entfaltung des „Weltverkehrs" begünstigt h a b e (Tönnies 1 9 7 9 : 1 8 0 f . , 2 0 3 , 2 1 2 ) . Es ist deshalb kein Zufall, daß T ö n n i e s in seiner Vorrede zur dritten Auflage von „ G e m e i n s c h a f t und Gesellschaft" bewußt den Terminus Weltgesell-
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schaft gebraucht hat, um das durch die internationale Arbeitsteilung und den W e l t m a r k t begründete System der allseitigen ö k o n o m i s c h e n Abhängigkeit zu kennzeichnen (Tönnies 2 0 0 0 b : 1 0 9 f . ) . D a ß er dies 1 9 1 9 in einem polemischen Sinne tat, um damit die durch den Ausgang des Ersten Weltkrieges bewirkte internationale Vorherrschaft des angelsächsischen Kapitalismus zu kennzeichnen, und daß er dieser westlich geprägten Weltgesellschaft die Idee eines deutschen Sozialismus gegenüberstellte, der vornehmlich auf gemeinwirtschaftlichen bzw. genossenschaftlichen Grundlagen beruhen sollte, zeigt, in welcher Weise sich die Grundbegriffe seiner „reinen Soziologie" auch für zeitgenössische weltanschauliche Auseinandersetzungen instrumentalisieren l i e ß e n . 1 6 T ö n n i e s ist jedoch nicht der einzige deutsche Soziologe, der zu dieser Z e i t auf die globalen Dimensionen des neuzeitlichen Gesellschaftsbegriffs hingewiesen hatte. Denn auch Gustav Rümelin hatte darauf aufmerksam gemacht, d a ß die Verwendung des Begriffs Gesellschaft „in der Einzahl und mit dem bestimmten A r t i k e l " dazu tendiere, ihn zu einem unbestimmten Kollektivbegriff aufzublähen, der keine natürlichen Grenzen mehr kenne (Rümelin 1 8 8 9 : 3 9 ) . Und Albert E.F. Schäffle sprach in seinem 1 9 0 6 posthum erschienenen „Abriß der S o z i o l o g i e " ausdrücklich davon, d a ß die moderne Soziologie bei ihrer Begriffsbildung von der „Weltstellung der menschlichen Gesellschaft" bzw. dem „Weltverkehr der Gesellschaft" auszugehen habe (vgl. Schäffle 1 9 0 6 : 2 7 f f . ) . Bezeichnend für dieses globale Verständnis von Gesellschaft ist folgender Passus: „Die Gesellschaft erstreckt sich über die bew o h n b a r e Erde ( O e k u m e n e ) und sendet ihre Verbindungsfäden und Mitteilungswellen durch das Luftmeer, die Wasser, über die Erddecken. Sie gehört zum Planeten und ist Bestandteil des Weltganzen. Die Weltstellung der Gesellschaft steht daher für die soziologische Betrachtung o b e n a n " (Schäffle 1 9 0 6 : 2 7 ) . Er unterschied deshalb zwischen der „ n a t i o n a l e n " und der „internationalen Gesells c h a f t " . D a ß eine solche internationale Gesellschaft
1 6 Siehe hierzu auch Käsler 1 9 9 1 . Die spätere weltanschauliche Instrumentalisierung des von Tönnies behaupteten Gegensatzes von „Gemeinschaft" und „Gesellschaft" war einer der entscheidenden Gründe, warum René König das soziologische Hauptwerk von Tönnies schließlich ganz in die philosophische Vorgeschichte der modernen Soziologie verbannt wissen wollte; vgl. König 1 9 8 7 : 122ff. Zur Debatte um die möglichen weltanschaulichen Implikationen der von Tönnies gebrauchten soziologischen Grundbegriffe siehe auch Breuer 1 9 9 6 und Lichtblau 2 0 0 1 b .
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im Entstehen sei, beweise unter anderem die neue „Weltgeschichte" und „Weltpolitik" (Schäffle 1906: 129ff., 228ff.). Implizit orientierte er sich dabei an Kants Begriff der „Weltbürgergesellschaft", den er jedoch um einige weitere Gesichtspunkte ergänzte, indem er folgende Ansprüche an eine Theorie der Weltgesellschaft stellte: „An die Spitze einer Soziologie der internationalen Gesellschaft könnte (...) eine Lehre vom Völkerbewußtsein, von einer öffentlichen Weltmeinung, einer allgemeinen internationalen Wertung alles Tun der zivilisierten Welt gestellt werden . . . Eine Elementarlehre von der internationalen Gesellschaft würde nicht vom Lande, Volksvermögen und einer Landesbevölkerung, sondern von der Länderwelt oder bewohnbaren Erde, von der internationalen Verteilung der Sachgüter, von Völkerkreisen auszugehen haben" (Schäffle 1906:229). Daß sich solche und ähnliche Begriffsbestimmungen jedoch nicht durchzusetzen vermochten, lag allerdings nicht nur an der damals vorherrschenden nationalistischen Einstellung in Europa, sondern auch daran, daß zu dieser Zeit zumindest im deutschen Sprachraum die Forderung nach einer umfassenden Theorie der Gesellschaft in den maßgeblichen inneruniversitären Kreisen auch in intellektueller Hinsicht längst in Mißkredit geraten war. 17 Es ist deshalb bezeichnend, wie Georg Simmel und Max Weber auf die um 1900 festzustellende Krise des Gesellschaftsbegriffs reagierten, als sie den Versuch unternahmen, die Soziologie als eine akademische Disziplin noch einmal völlig neu zu begründen.
6. Soziologie als Lehre von den Formen der Vergesellschaftung Simmeis Auseinandersetzung mit dem Gesellschaftsbegriff stand im engen Zusammenhang mit seinem Bemühen, der Soziologie eine sichere wissenschaftliche Grundlage zu verschaffen, die es ihr ermöglichen sollte, sich als eigenständige Disziplin im Konzert der überlieferten Geistes- und Staatswissenschaften erfolgreich zu behaupten (vgl. Dahme 1981: 350ff.; Köhnke 1996: 334ff.; Ziemann 2000: 72ff.). Ausgehend von der Überlegung, daß es keinen Sinn mache, eine neue Wissenschaft zu gründen, indem man den bereits bestehenden Disziplinen ihren eigenen Anspruch auf einen bestimmten Gegenstandsbereich streitig macht und diesen 1 7 Siehe hierzu auch die mit Blick auf die deutsche und französische Tradition der Soziologie angestellten Uberlegungen von Turner 1 9 9 0 .
für sich selbst reklamiert, konnte es seiner Meinung nur darum gehen, vermittels der Soziologie eine neue methodische Verfahrensweise einzuführen, die das Material, das bereits die etablierten Wissenschaften zum Gegenstand haben, noch einmal einer gesonderten Betrachtung unterwirft. Wenn also die einzelnen Bereiche der Gesellschaft wie die Politik, das Recht, die Religion und die Kultur bereits von den bestehenden Geistes- und Staatswissenschaften ausgiebig erforscht werden, so bleibt Simmel zufolge nur noch eine Möglichkeit übrig: nämlich die Frage zu stellen, welche Eigenschaften diese verschiedenen Bereiche zugleich als spezifisch gesellschaftliche Phänomene ausweist. Anders gesprochen: Was geschieht, wenn wir diese einzelnen gesellschaftlichen Sphären nicht nach besonderen inhaltlichen Gesichtspunkten betrachten, sondern danach fragen, ob sich neue Gesichtspunkte ergeben, die sich ausschließlich aus der formalen Tatsache erklären lassen, daß diese Bereiche zugleich Teil der wie auch immer definierten Gesellschaft sind? 18 Die intensive Beschäftigung mit dieser Frage hatte Simmel zugleich dazu veranlaßt, sich darüber Rechenschaft abzulegen, ob und wenn ja, in welchem Sinne man der „Gesellschaft" überhaupt eine eigenständige Realität zusprechen könne. Denn daß es sich hierbei um einen Bereich handelt, der eindeutig vom „Staat" bzw. der „Gemeinschaft" abgegrenzt werden kann, war schließlich die Überzeugung, die so unterschiedliche Autoren wie Marx und Engels sowie Stein, Mohl und Tönnies miteinander verband. Bedenken gegenüber einem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausufernden Gebrauch des Gesellschaftsbegriffs wurden dabei allerdings nicht nur von Autoren wie Treitschke und Dilthey geäußert, sondern auch von neueren Strömungen innerhalb der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, die sich generell dagegen wehrten, daß solch unbestimmten Allgemeinbegriffen wie „Gesellschaft", „Recht", „Staat" und „Kultur" neben ihrer Funktion, eine bestimmte Klasse von Phänomenen gegenüber anderen Erscheinungen in einer nominalistischen Weise abzugrenzen, zugleich eine 1 8 Simmel hat diese Frage erstmals 1 8 9 0 in seiner Schrift „Über sociale Differenzierung" ausführlich behandelt und ist auch noch in seiner Abhandlung über die „Grundfragen der Soziologie" von 1 9 1 7 auf sie eingegangen, um das Forschungsgebiet der Soziologie gegenüber den anderen Disziplinen abzugrenzen. Es handelt sich hierbei also um eine übergreifende Fragestellung, die trotz der unterschiedlichen Phasen, die in der Entwicklung seines Denkens festzustellen sind, sein gesamtes soziologisches Werk prägt (vgl. Simmel 1 9 8 9 : 115ff., 1 9 9 2 a , 1 9 9 2 b : 13ff., 1 9 9 9 : 62ff.).
Klaus Lichtblau: Von der „Gesellschaft" zur „Vergesellschaftung"
reale Existenz zugesprochen wurde. „Real" konnte dieser Auffassung zufolge nämlich immer nur etwas „Individuelles" sein, das sich nicht mehr auf kleinere Bestandteile zurückführen ließ. Simmel war gegenüber diesem Programm, alle Makrophänomene letztlich auf die Bewegungsgesetze von kleinsten Einheiten zurückzuführen, unter dem Eindruck des Erfolgs der analytischen Methode in den Naturwissenschaften zwar durchaus aufgeschlossen, er hat es sich aber nicht vollständig zu eigen gemacht (vgl. Böhringer 1976). Zwar stimmte er der Ansicht zu, daß der Begriff der „Gesellschaft" eine gedankliche Abstraktion darstelle. Jedoch verwies er darauf, daß von einer gesellschaftlichen „Einheit" ohnehin nur im Sinne einer Wechselwirkung ihrer Teile gesprochen werden könne. Denn jede Erscheinung lasse sich in einfachere Elemente zerlegen, was ihren Realitätsgehalt so lange nicht in Frage stelle, solange „jedes im Verhältnis zum andern einheitlich wirkt"(Simmel 1989: 131). Diese Eigenschaft gelte aber nicht nur für Personen, sondern auch für soziale Gruppen, die ihrerseits wieder größere Einheiten bilden können, die miteinander in Wechselwirkung stehen. Simmel zog daraus die Schlußfolgerung, daß der Begriff Gesellschaft einen bloßen „Namen" für die Summe der Wechselwirkungen darstellt, die zwischen den Individuen stattfinden (Simmel 1989: 131). Keinesfalls könne deshalb von der gesonderten Existenz der Gesellschaft neben diesen zahllosen sozialen Wechselwirkungen gesprochen werden. Denn dies würde darauf hinauslaufen, einem nur im Denken existierenden Allgemeinbegriff eine „scheinbar selbständige historische Realität" zuzusprechen (Simmel 1992b: 24f.). Simmel schlug deshalb vor, von „Gesellschaft" ausschließlich im Sinne von etwas Funktionellem zu sprechen und diesen Begriff so weit wie möglich durch den der Vergesellschaftung zu ersetzen, um entsprechende Mißverständnisse zu vermeiden (Simmel 1992b: 19ff., 1999: 70). In der Gesellschaft zu sein, ist für ihn insofern bedeutungsgleich mit dem Umstand, sich zu vergesellschaften, ein Teil von ihr zu sein und damit zugleich einen Teil des eigenen Fürsichseins zu opfern, ohne daß damit ausgesagt wäre, daß die daran beteiligten Individuen vollständig in diesem Vergesellschaftungsprozeß aufgehen. Dies ist auch der Grund, warum der Begriff der Gesellschaft bzw. der Vergesellschaftung einen graduellen Begriff darstellt, „von dem auch ein Mehr oder Weniger anwendbar ist, je nach der größeren Zahl und Innigkeit der zwischen den gegebenen Personen bestehenden Wechselwirkungen" (Simmel 1989: 131). Man kann deshalb die ver-
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schiedenen sozialen Wechselwirkungen dahingehend unterscheiden, wieviel Gesellschaft in ihnen enthalten ist bzw. in welchem Umfang die daran beteiligten Individuen sozialisiert bzw. vergesellschaftet sind (Simmel 1992a: 54,57). 1 9 In seinem berühmten „Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich" aus dem Jahre 1908 hatte Simmel diesem Tatbestand Rechnung getragen, indem er drei formale Bedingungen nannte, die „apriorisch" gegeben sein müssen, damit sichergestellt ist, daß es sich bei solchen Wechselwirkungen um soziale bzw. „seelische" Wechselwirkungen zwischen Individuen handelt, nicht aber bloß um rein mechanische Prozesse, die als solche noch keine „Vergesellschaftung" konstituieren. Dieser erkenntnistheoretische Exkurs Simmeis, der oft als Beitrag zu einer „verstehenden Soziologie" mißverstanden worden ist, hat primär die Funktion, die dialektische Beziehung zwischen dem „Fürsichsein" und dem „Vergesellschaftetsein" zu verdeutlichen. Das erste Apriori besagt, daß wir einen konkreten Menschen niemals vollständig in seiner eigenen Individualität wahrnehmen, sondern ihn immer in gewisser Weise verallgemeinern bzw. typisieren (Simmel 1992b: 47ff.). Das zweite Apriori besagt demgegenüber, daß jeder Mensch nicht nur Teil der Gesellschaft, sondern außerdem noch etwas anderes ist bzw. daß „die Art seines VergesellschaftetSeins (...) bestimmt oder mitbestimmt (ist) durch die Art seines Nicht-Vergesellschaftet-Seins" (Simmel 1992b: 51). Und das dritte Apriori gibt die Bedingungen an, die erfüllt sein müssen, damit wir von einer „vollständigen" Vergesellschaftung eines Individuums sprechen können. Dies setzt aber voraus, daß jeder einzelne Mensch eine „Stelle" bzw. „Position" in einer objektiv vorgegebenen Sozialstruktur findet, die seinen persönlichen Neigungen vollkommen entspricht. Ein solcher idealer Einklang zwischen den subjektiven Präferenzen der einzelnen Individuen und den objektiven Erforder-
19 Simmel machte sich mit diesen Formulierungen eine Mehrdeutigkeit des Begriffs „Vergesellschaftung" zu eigen, der in der deutschen Sprache seit dem 17. J a h r h u n dert sowohl zur Kennzeichnung des psychologischen Gesetzes der „Ideenassoziation" als auch zur Bezeichnung eines zentralen sozialtheoretischen Sachverhaltes verwendet wird. Im letzteren Fall k a n n „Vergesellschaftung" sowohl den Z u s a m m e n s c h l u ß zweier oder mehrerer Individuen zu einer sozialen G r u p p e als auch den Prozeß der „Sozialisation" eines Individuums bedeuten, vermittels dem es sukzessive Teil einer bereits bestehenden Gesellschaft wird. Z u den entsprechenden begriffsgeschichtlichen Befunden, die in Simmeis Sprachgebrauch Eingang gefunden haben, siehe auch Lichtblau 2001c.
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nissen der Gesellschaft kommt Simmel zufolge in einem anspruchsvollen Verständnis des Begriffs „Beruf" zum Ausdruck. Die Tragik dieses dritten Apriori besteht allerdings darin, daß die in ihm angegebenen Bedingungen einen Grenzfall markieren, dessen Eintreten nicht ohne weiteres als selbstverständlich angesehen werden kann. Ist nämlich in bezug auf ein konkretes Individuum die hierbei unterstellte Voraussetzung nicht gegeben, so „ist es eben nicht vergesellschaftet, ist die Gesellschaft nicht die lückenlose Wechselwirksamkeit, die ihr Begriff aussagt" (Simmel 1992b: 59). Simmel zufolge bildet also nicht die „Gemeinschaft" oder der „Staat", sondern das Individuum den eigentlichen Gegenbegriff zu dem der Gesellschaft. Ihn interessierten dabei nicht die konkreten Motive, Zwecke und Interessen, welche die Menschen mit ihrem Handeln verfolgen, sondern die verschiedenen Arten und Grade ihres Vergesellschaftseins, die sich aus ihrem Aufeinanderwirken ergeben. Dies ist auch der Grund, warum er seine Soziologie als eine Lehre von den Formen der Vergesellschaftung verstanden wissen wollte (Simmel 1992b: 19ff.; vgl. Steinhoff 1924-25). Denn nur unter Absehung von den verschiedenen „inhaltlichen" Neigungen der Menschen war es ihm zufolge möglich, das zu beschreiben, was eine Masse von Individuen überhaupt erst zu einer „Gesellschaft" macht. Für Simmel ist es dabei nicht entscheidend, wie flüchtig bzw. dauerhaft oder wie räumlich begrenzt bzw. ausgedehnt ihr „Miteinander-", „Füreinander" und „Gegeneinander-Handeln" ist (Simmel 1992a: 57, 1992b: 18). Sein Gesellschaftsbegriff ist deshalb nach oben hin prinzipiell offen und auch im Hinblick auf eine Theorie der Weltgesellschaft anschlußfähig, auch wenn Simmel selbst es vorzog, sich primär mit jenen „mikroskopisch-molekularen Vorgängen" zu beschäftigen, bei denen sich das soziale Geschehen noch nicht zu „festen, überindividuellen Gebilden" verfestigt hat, sondern sich die Gesellschaft gleichsam im Geburtszustand zeigt (Simmel 1992b: 33). 2 0 Doch könnte man vom
In seiner Schrift „Über sociale Differenzierung" (Simmel 1 9 8 9 : 133f.) hatte Simmel demgegenüber den Begriff der Gesellschaft ursprünglich noch ausschließlich für jene objektiven Gebilde reserviert wissen wollen, in denen sich die einzelnen Wechselwirkungen zu Organisationen verdichtet bzw. „kristallisiert" haben, die unabhängig vom Eintritt bzw. Austritt einzelner Mitglieder existieren. Indem er später bewußt diese Engführung des Gesellschaftsbegriffs aufgab und in ihn auch den Bereich der elementaren alltäglichen Interaktionen miteinbezog, hat er ihn dermaßen ausgeweitet, daß er nun mit dem des Sozialen schlechthin identisch geworden ist. Dies ist auch der 20
Standpunkt seiner formalen Soziologie nur dann von der Existenz einer „Weltgesellschaft" sprechen, wenn tatsächlich globale Wechselwirkungen feststellbar sind, welche die Menschheit als Ganzes betreffen. Denn ihm zufolge kann man die Welt „nicht eine nennen, wenn nicht jeder ihrer Teile irgenwie jeden beeinflußte, wenn irgenwo die, wie immer vermittelte, Gegenseitigkeit der Einwirkungen abgeschnitten wäre" (Simmel 1992b: 18). Dies würde jedoch nichts daran ändern, daß gemäß seinem Sprachgebrauch auch der Prozeß der Globalisierung nur eine spezifische Form der Vergesellschaftung darstellt, neben der noch zahlreiche andere Arten und Grade der Vergesellschaftung existieren.
7. Die Abdankung der Gesellschaftstheorie zugunsten der Universalgeschichte Wenn Max Weber am Schluß dieses Überblicks über die deutsche Tradition des Gesellschaftsbegriffs steht, so hat dies nicht nur chronologische, sondern auch sachliche Gründe. Denn zum einen hatte sich Weber an dem Sprachgebrauch von Tönnies und Simmel orientiert und diesen in eigenartiger Weise weiterentwickelt. Zum anderen verstand Weber die Ausarbeitung entsprechender soziologischer Grundbegriffe nicht als Selbstzweck, sondern sie war bei ihm eingebettet in den anspruchsvollen Versuch, die universalgeschichtliche Eigenart des okzidentalen Rationalismus in Abgrenzung von den wichtigsten außereuropäischen Kulturkreisen auf vergleichendem Wege zu verdeutlichen. Webers universalgeschichtlich ausgerichtete Soziologie, wie sie in den beiden Fassungen von „Wirtschaft und Gesellschaft" sowie in seinen religionssoziologischen Schriften zum Ausdruck kommt, ist insofern in sehr spezifischer Art und Weise dem Problem der Rationalisierung der verschiedensten Lebensbereiche innerhalb des ursprünglich von Europa und Nordamerika ausgehenden ModernisieGrund, warum man Simmel keine gesellschaftstheoretischen Ambitionen im engeren Sinne unterstellen sollte, wie sie z. B. in den entsprechenden Arbeiten von Talcott Parsons und Niklas Luhmann zum Ausdruck k o m m e n . Denn bei Parsons und Luhmann gibt es neben der Gesellschaft auch noch andere soziale Systeme, bei Simmel dagegen nicht. Simmel gebrauchte darüber hinaus im Unterschied zu Parsons und Luhmann den Begriff „Gesells c h a f t " grundsätzlich im Singular, während er von den „Formen der Vergesellschaftung" nur im Plural sprach. Vgl. demgegenüber die „luhmanneske" Simmel-Interpretation von Ziemann 2 0 0 0 sowie die diesbezüglich berechtigte Kritik von Göbel 2 0 0 1 .
Klaus Lichtblau: Von der „Gesellschaft" zur „Vergesellschaftung"
rungs- und Globalisierungsprozesses verpflichtet (vgl. Abramowski 1966, Habermas 1981: 225ff., Schluchter 1988: 23ff.). Von Tönnies übernahm er dabei die Gegenüberstellung von gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensformen, von Simmel dagegen die Anregung, daß die Hypostasierung der Gesellschaft zu einem Kollektivsubjekt zugunsten eines prozessualen Verständnisses von Vergesellschaftung zu vermeiden sei. Dies ist offensichtlich auch der Grund, warum Weber im älteren Teil von „Wirtschaft und Gesellschaft" nicht den Gesellschaftsbegriff, sondern den Gemeinschaftsbegriff sowie den von diesem abgeleiteten Begriff des „Gemeinschaftshandelns" als Oberbegriff für ganz unterschiedliche Formen der Gruppen- und Verbandsbildung gebraucht hat, während die Begriffe „Gesellschaftshandeln" und „Vergesellschaftung" bei ihm wesentlich enger gefaßt sind, da sie auf bestimmte Erscheinungsformen einer Rationalisierung und Versachlichung des sozialen Lebens Bezug nehmen (vgl. Lichtblau 2000; Mommsen 2001). Weber hatte diese entwicklungsgeschichtliche Gegenüberstellung von gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensformen bereits in seiner Dissertation von 1889 im Auge, als er die Entstehung der geschlossenen Handelsgesellschaften im europäischen Mittelalter auf eine entsprechende historische Entwicklungsstufe der Hausgemeinschaft zurückzuführen versuchte. 21 In dem Text über die „Hausgemeinschaften", der im älteren Teil von „Wirtschaft und Gesellschaft" Eingang fand, hatte Weber dann die These aufgestellt, daß es zwei Ausgehend von den dogmatischen Gegensätzen zwischen dem römischen und dem germanischen Recht vertrat Weber dabei die These, daß nur die auf den mittelalterlichen Familien- und Arbeitsgemeinschaften beruhende „kommunistische" Form der Gütergemeinschaft zur Entstehung der auf dem Prinzip der Solidarhaftung beruhenden offenen Handelsgesellschaft geführt habe. Die im Falle der Erbengemeinschaft äußerst problematische Konsequenz der Solidarhaftung habe schließlich dazu geführt, daß anstelle der gemeinsamen Wirtschaft der Haus- und Familiengenossen eine durch einen Sozietätsvertrag gebildete Vermögensgemeinschaft getreten sei, welche auch die weitere Entwicklung entsprechender Familiensozietäten begünstigt habe. M i t der Aufwertung der „Sozietät" zu einem eigenständigen Rechtsgebilde war auch der Weg frei für die Bildung eines gesellschaftlichen Sondervermögens, das von dem eigentlichen „Haushalt" unterschieden wurde. Weber kam dabei zu dem Schluß: „Die Arbeitsgemeinschaften und noch die späteren großen industriellen Assoziationen haben in ihren ersten Entwicklungsstadien ein auch der Familie eigentümliches Moment, den gemeinsamen Haushalt, mit seinen Konsequenzen in sich aufgenommen, die Familie aber hat sich als Sozietät konstituiert" (Weber 1 9 2 4 : 4 1 6 ) . 21
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unterschiedliche historische Entwicklungsformen der ursprünglichen Hausgemeinschaft gebe, die ihre universalgeschichtliche Bedeutung unterstreichen: nämlich den „Oikos" und den kapitalistischen „Betrieb". Die eine Entwicklungsrichtung stelle dabei die ökonomische Grundlage für eine spezifisch traditionalistische Form der Herrschaft dar, während die andere den Übergang zur modernen Form der ökonomischen Bedarfsdeckung markiere (vgl. Weber 1972: 230ff., 2001: 155ff.). Weber hatte insofern bereits in seinen frühen Texten über die „Gemeinschaften" verschiedene universalgeschichtliche Entwicklungsmöglichkeiten angedeutet, die im engen Zusammenhang mit seiner Frage nach der epochalen Eigenart des okzidentalen Rationalismus standen, auch wenn diese dort noch nicht so differenziert ausgearbeitet waren wie jene Begriffstypologien, die Weber später seinen religions-, rechts- und herrschaftssoziologischen Untersuchungen zugrunde gelegt hat. Offensichtlich schwebte ihm ursprünglich eine Untergliederung seines eigenen Beitrages zu dem von ihm herausgegebenen „Grundriß der Sozialökonomik" vor, bei der die Darstellung der einzelnen Formen der Gemeinschaftsbildung im Rahmen einer relativ statischen Betrachtungsweise erfolgen sollte, während eine umfassende dynamische Betrachtungsweise der großen entwicklungsgeschichtlichen Prozesse erst in Gestalt des Einbezugs der Religions-, Rechtsund Herrschaftssoziologie geplant war. Denn er wies ausdrücklich darauf hin, daß es ihm in seinen frühen Untersuchungen nicht um die Beziehung der Wirtschaft zu den einzelnen „Kulturinhalten" ging, sondern lediglich um „ihre Beziehung zur Gesellschaft', das heißt in diesem Fall: den allgemeinen Strukturformen menschlicher Gemeinschaften"; diese Strukturformen hatte er darüber hinaus den Entwicklungsformen des Gemeinschaftshandelns gegenübergestellt, von denen Weber sagte, daß er sie in einigermaßen präziser Form erst im Zusammenhang mit der Kategorie der „Herrschaft" erörtern könne (Weber 1972: 212, 2001: 114). Daraus kann jedoch nicht der Schluß gezogen werden, daß Weber erst im Rahmen seiner Arbeit an der Religions-, Rechts- und Herrschaftssoziologie die universalgeschichtliche Bedeutung des Problems der Rationalisierung der einzelnen Lebensbereiche erkannt habe. 22 Denn Weber hatte bereits in der ersGenau dies unterstellt Wolfgang J. Mommsen in seiner ansonsten sehr verdienstvollen Einleitung zu der von ihm besorgten Herausgabe des Teilbandes „Gemeinschaften" innerhalb der Edition des Nachlasses von „Wirtschaft und Gesellschaft" im Rahmen der M a x Weber Gesamtaus22
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ten Phase seiner Arbeit an „Wirtschaft und Gesellschaft", in der die Texte über die „Gemeinschaften" entstanden sind, von der später in seinem Kategorienaufsatz entwickelten Terminologie Gebrauch gemacht. Diese frühe Fassung seiner soziologischen Grundbegriffe sowie die ihnen zugrunde liegende entwicklungsgeschichtliche Betrachtungsweise stellen deshalb das eigentliche Bindeglied zwischen den einzelnen Texten aus dem Nachlaß von „Wirtschaft und Gesellschaft" dar, auch wenn Weber dort diese Begriffe in unterschiedlichem Umfang gebraucht hat (vgl. Orihara 1994, 1999 und 2003, ferner Schluchter 1999). Zentral für unseren Zusammenhang ist dabei die terminologische Abgrenzung des „Gemeinschaftshandelns" vom „Gesellschaftshandeln", die Weber in Anlehnung an Tönnies vorgenommen hat, sowie die damit eng im Zusammenhang stehende Unterscheidung zwischen „Vergemeinschaftung" und „Vergesellschaftung". Zwar trifft es nicht zu, daß Weber den Gesellschaftsbegriff überhaupt nicht verwendet hat; in seinem Kategorienaufsatz von 1913 und auch in seinen späteren soziologischen Grundbegriffen taucht er allerdings nicht als terminus technicus auf (vgl. Tyrell 1994). Stattdessen zog Weber dort ähnlich wie Simmel den Begriff der „Vergesellschaftung" dem der „Gesellschaft" vor, um den dynamischen und funktionalen Charakter des damit angesprochenen „Gesellschaftshandelns" zu betonen. Im Unterschied zu Simmeis Sprachgebrauch ist dieser Begriff bei Weber jedoch auf einen besonderen Fall von sozialen Beziehungen beschränkt, der zugleich seine entwicklungsgeschichtliche Bedeutung unterstreicht. Denn Weber zufolge sind „Vergesellschaftung" und „Rationalisierung" identische Begriffe. Zentrale Beispiele für das Vorliegen einer Vergesellschaftung sind dabei ähnlich wie bei Tönnies der Tausch als Sonderfall einer vertraglichen Vereinbarung sowie die Orientierung des Handelns an einer „rationalen Ordnung", wobei letztere frei vereinbart oder aber oktroyiert sein kann. Demgegenüber liegt nach Weber eine „Vergemeinschaftung" bereits dann vor, wenn das Handeln der Menschen sinnhaft aufeinander bezogen ist, mithin ein „Gemeinschaftshandeln" bzw. ein soziales Handeln im
gäbe; vgl. Mommsen 2001. Dies ist eine sehr gewagte Hypothese, die den engen werkgeschichtlichen Zusammenhang zwischen Webers Vorkriegsmanuskripten grundsätzlich in Frage stellt. Sie läuft streng genommen auf die Unterstellung hinaus, daß Weber nicht nur zwei, sondern sogar drei unterschiedliche Varianten von Soziologie ausgearbeitet habe; dies vermutet zumindest Breuer 2002. Zur ausführlichen Diskussion dieser fragwürdigen werkgeschichtlichen Hypothese siehe auch Lichtblau 2003.
Unterschied zu einem rein reaktiven Sichverhalten vorliegt (vgl. Weber 1972: 181ff., 1985: 441ff.). Das „Gesellschaftshandeln" stellt also einen Sonderfall des Gemeinschaftshandelns dar, der nur unter bestimmten entwicklungsgeschichtlichen Voraussetzungen massenhaft in Erscheinung tritt. Weber hat in seiner späteren Terminologie für diesen Handlungstypus den Begriff des zweckrationalen und wertrationalen Handelns eingeführt, um die in ihm vorherrschende Sinnrichtung zu unterstreichen und ihn vom traditionalen und affektuellen Handeln abzugrenzen (Weber 1972: 12ff.). Während er nun darum bemüht war, die Vieldeutigkeit des Begriffs der „Rationalisierung" hervorzuheben, kam diesem in den älteren Manuskripten noch ein sehr präziser Sinn zu. Er meinte hier nämlich den Sonderfall der „Rationalisierung der Ordnungen einer Gemeinschaft" (Weber 1985: 471; vgl. Weber 1972: 181 ff.). Dieser Rationalisierungsprozeß ließ sich seiner Meinung nach in Form einer Entwicklungsgeschichte rekonstruieren, bei der verschiedene Stufen voneinander unterschieden werden können und die aufgrund der herrschaftssoziologischen Engführung seiner damaligen Terminologie paradoxerweise nicht in der Marktvergesellschaftung, sondern in der „anstaltsmäßigen Vergesellschaftung" ihren krönenden Abschluß fand. 2 3 Die frühe Fassung seiner soziologischen Grundbegriffe ist also noch eng mit seiner universalgeschichtlichen Rationalisierungsthese verbunden, wie er sie insbesondere in seiner Religions-, Rechtsund Herrschaftssoziologie entwickelt hat. Obgleich er diese entwicklungsgeschichtliche Dimension seiner Grundbegriffe später zugunsten eines soziologischen Typenatomismus aufgab, den Talcott Parsons mit der Methode der Kreuztabellierung wieder zu überwinden versuchte, ändert dies nichts an der Tatsache, daß Weber kein „Gesellschaftstheoretiker" im heute gebräuchlichen Sinn dieses Wortes war. Denn er war bis zu seinem Tod primär an einer historischen Erklärung der Eigenart des okzidentalen Rationalismus und an einer kulturvergleichenden Analyse seiner verschiedenen Erscheinungsformen interessiert. Weber hätte sich deshalb vermutlich auch nicht an der Ausarbeitung einer Theorie der „Weltgesellschaft" beteiligt, obgleich 23
Erst in der definitiven Fassung seiner soziologischen Grundbegriffe hatte Weber dann die Marktvergesellschaftung und die anstaltsmäßige Vergesellschaftung gleichberechtigt gegenübergestellt; vgl. Weber 1972: 21ff., Lichtblau 2000: 436ff.; zu Webers Verständnis von „Entwicklungsgeschichte" siehe auch Roth 1987: 283ff.
Klaus Lichtblau: Von der „Gesellschaft" zur „Vergesellschaftung" gerade er in einer sehr spezifischen Art und Weise auf Entwicklungsprozesse von universalgeschichtlicher Bedeutung aufmerksam gemacht hat, von der auch noch die zeitgenössische Globalisierungsdebatte profitieren kann. Schließlich war der durch die zunehmende Rationalisierung und Intellektualisierung bedingte Prozeß der „Entzauberung der Welt" sein zentrales Thema. O b dieser Rationalisierungsprozeß eines Tages jedoch tatsächlich weltweit zu einer „mechanischen Versteinerung" führen wird oder ob dereinst die „alten Götter" wieder aus dem Grab steigen und Einfluß auf unser Leben nehmen werden, ist dabei allerdings genauso offen wie das Schicksal zahlreicher anderer soziologischer Zeitdiagnosen. Vielleicht ist deshalb auch nicht unbedingt die „Weltgesellschaft" oder gar die „Bürokratie" unser unentrinnbares Schicksal, w o h l aber die Weltgeschichte, die nach einem berühmten Diktum von Friedrich Schiller ohnehin das eigentliche „Weltgericht" darstellt.
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 6 8 - 8 8
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Autorenvorstellung: Klaus Lichtblau, geb. 1 9 5 1 in Karlsruhe. Studium der Philosophie, Politikwissenschaft und Soziologie in München und Bielefeld. 1 9 8 0 Promotion zum Dr. phil. in Bielefeld; 1 9 9 6 Habilitation in Kassel. 1 9 8 1 - 1 9 8 2 Forschungsstipendiat der Fritz Thyssen Stiftung. 1 9 8 3 - 1 9 8 8 Redakteur der „Soziologischen Revue". 1 9 8 9 - 1 9 9 5 Wissenschaftlicher Assistent in Kassel. 1 9 9 6 - 1 9 9 7 Vertretungsprofessur in Kiel. 1 9 9 8 - 2 0 0 0 Vertretungsprofessur in Kassel; 2 0 0 1 - 2 0 0 4 Vertretungsprofessuren in Bielefeld und Wuppertal. Seit dem 1 6 . 1 2 . 2 0 0 4 Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Geschichte und Systematik sozialwissenschaftlicher Theoriebildung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt. Arbeitsschwerpunkte: Soziologische Theorie und ihre Geschichte, Kultur-, Wissens- und Religionssoziologie. Neuere Buchveröffentlichungen: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland, Frankfurt am Main 1 9 9 6 ; Georg Simmel, Frankfurt am Main/New York 1 9 9 7 ; Das Zeitalter der Entzweiung. Studien zur politischen Ideengeschichte des 19. Und 2 0 . Jahrhunderts, Berlin 1 9 9 9 ; Transformationen der Moderne, Berlin/Wien 2 0 0 2 ; Die Eigenart kulturwissenschaftlicher Erkenntnis (im Erscheinen). Zuletzt in dieser Zeitschrift: „Vergemeinschaftung" und „Vergesellschaftung" bei M a x Weber. Eine Rekonstruktion seines Sprachgebrauchs. ZfS 2 9 , 2 0 0 0 : 4 2 3 ^ 4 3 .
Zur Theorie der Weltgesellschaft
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 8 9 - 1 1 9
Die „Entdeckung" der Weltgesellschaft Entstehung und Grenzen der Weltgesellschaftstheorie
The "Discovery" of World Society Emergence and Limits of the Theory of World Society Jens Greve und Bettina Heintz Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie, Universitätsstraße 25, D - 3 3 6 1 5 Bielefeld E-mail: [email protected]; [email protected]
Zusammenfassung: Der Aufsatz untersucht die „Mehrfachentdeckung" der Weltgesellschaft durch Niklas Luhmann, Peter Heintz sowie durch John Meyer und seine Schule. In einem ersten Teil wird gezeigt, an welche sozialwissenschaftlichen Vorläuferdiskussionen die Weltgesellschaftstheorien anknüpfen: einerseits an die Theorien des internationalen Systems (u.a. Kaplan, Riggs, Parsons und Lagos) und andererseits an die kritische Rezeption der Modernisierungstheorie, die sich in der Dependenz- und Weltsystemtheorie vollzieht. Der zweite Teil des Aufsatzes stellt die drei Weltgesellschaftstheorien dar und arbeitet ihre gemeinsamen Annahmen heraus. Diese unterscheiden die Weltgesellschaftsperspektive nicht nur von früheren Ansätzen, sondern auch von der gegenwärtig prominenten Globalisierungsforschung. Erstens teilen alle drei Weltgesellschaftstheorien die Vorstellung, dass im Laufe der historischen Entwicklung ein umfassender globaler Zusammenhang entstanden ist. Zweitens bildet dieser globale Zusammenhang eine eigenständige Form der Sozialorganisation. Damit erschließt sich die Soziologie ein grundlegend neues Untersuchungsobjekt. Drittens zeichnet sich die Weltgesellschaft durch nicht-reduzierbare Strukturmerkmale aus. Viertens unterstellen Weltgesellschaftstheorien „Makrodetermination", d. h. alles, was in der Welt stattfindet, ist als Folge dieser Welt zu begreifen. Eine letzte Gemeinsamkeit liegt fünftens in der Übertragung des Gesellschaftsbegriffs auf globale Zusammenhänge. In einem abschließenden Abschnitt zeigen wir, in welcher Weise die makrosoziologisch konzipierten Weltgesellschaftstheorien durch eine mikrosoziologische Perspektive sinnvoll erweitert werden können. Summary: This article analyzes the "parallel discovery" of world society by Niklas Luhmann, by Peter Heintz, and by John Meyer and his school. The first section of the article scrutinizes two central traditions in the social sciences to which their world society theories refer, namely the theories of the international system (Kaplan, Riggs, Parsons, and Lagos among others) and the critical discussions of modernization theory which lead to dependence theory and world system theory. In the second section the three conceptions of world society are described in detail. We argue that world society theories are marked by five common assumptions which distinguish world society theory from previous theories and also from currently prominent globalization research. First, world society theories assume that in the course of history one encompassing world society has emerged. Second, this society denotes an independent form of social reality which, accordingly, provides a new object for sociology. Third, this object is marked by irreducible properties. Fourth, world society theories assume "macro determination," i.e. they consider occurrences in the word society as a consequence of world society. Fifth and finally, they apply the notion of society at the global level. In the concluding section we suggest complementing the macro-sociological outlook of world society theory with a micro-sociological perspective. D i e B i n d u n g des G e s e l l s c h a f t s b e g r i f f s an den N a t i o n a l s t a a t hat lange Z e i t verhindert, die soziale Welt in ihrer G e s a m t h e i t als Einheit u n d e i g e n s t ä n d i g e n U n t e r s u c h u n g s g e g e n s t a n d zu d e n k e n . A n s ä t z e d a z u g a b es z w a r i m m e r wieder, a b e r offensichtlich fiel es schwer, den letzten Schritt zu tun u n d den g l o b a l e n Z u s a m m e n h a n g als e t w a s zu begreifen, d a s m e h r u n d e t w a s a n d e r e s ist als die S u m m e der N a t i o n a l s t a a t e n und deren Beziehungen. D i e Schwierigkeit, diesen E b e n e n w e c h s e l zu vollziehen, d o k u m e n t i e r t ein B a n d , der 1 9 8 0 erschienen ist und in d e m Beiträg e a u s der Schule der Weltsystemtheorie von I m m a -
nuel Wallerstein, a b e r a u c h die ersten world-polityAufsätze von J o h n Meyer und seinem Stanforder K r e i s v e r s a m m e l t sind (Bergesen 1 9 8 0 b ) . A l b e r t Bergesen p l ä d i e r t in seiner E i n l e i t u n g f ü r einen d o p p e l t e n P e r s p e k t i v e n w e c h s e l - f ü r eine Vers c h i e b u n g des A n a l y s e f o k u s v o n der n a t i o n a l e n a u f die g l o b a l e E b e n e u n d f ü r einen g r u n d l e g e n d e n Wechsel des E r k l ä r u n g s m o d e l l s ( B e r g e s e n 1 9 8 0 a ) . A n s t a t t g l o b a l e S t r u k t u r e n a u f die N a t i o n a l s t a a t e n u n d ihre B e z i e h u n g e n z u r ü c k z u f ü h r e n , sei der glob a l e Z u s a m m e n h a n g in D u r k h e i m s c h e r Weise a l s e i g e n s t ä n d i g e r u n d k a u s a l w i r k s a m e r Wirklich-
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keitsbereich zu begreifen „that has its own laws of motion, that, in turn, determine the social, political, and economic realities of the national societies it encompasses" (Bergesen 1980a: xiii). Ähnlich unterscheidet Robert L. Bach zwei Jahre später zwischen drei Typen von Theorien: der Modernisierungstheorie, die die Nationalstaaten als unabhängige Entitäten konzipiert und deren Außenwelt nicht in den Blick nimmt; der Dependenztheorie, die zwar die (Abhängigkeits-)Beziehungen zwischen den Ländern in den Mittelpunkt rückt, aber den globalen Gesamtzusammenhang (noch) nicht als eigenständigen Wirklichkeitsbereich begreift; und schließlich die Weltsystemtheorie von Immanuel Wallerstein, die den von Bergesen geforderten Ebenenwechsel konsequent vollzieht (Bach 1982). Implizit gehen Bergesen und Bach von einem „starken" Emergenzbegriff aus. Während die Soziologie in der Regel bereits dann von Emergenz spricht, wenn die Makroebene Eigenschaften aufweist, die auf der Mikroebene nicht vorhanden sind, beinhaltet der stärkere Emergenzbegriff der Philosophie die zusätzliche Annahme, dass die Makroeigenschaften irreduzibel, d.h. nicht auf die Mikroeinheiten und ihre Beziehungen zurückführbar sind (vgl. B. Heintz 2004). 1 Genau dies behaupten Bergesen und Bach in Bezug auf die globale Ebene. Die These einer Irreduzibilität globaler Strukturen ist gleichzeitig mit der Annahme verbunden, dass im Prinzip sämtliche sozialen Prozesse und Einheiten als Folge dieser emergenten globalen Strukturmerkmale aufzufassen sind. Im Anschluss an die philosophische Emergenzdiskussion bezeichnen wir diese Annahme als Makrodetermination bzw. downward causation (vgl. terminologisch ähnlich Wendt 2003). Bergesen und Bach sprechen zwar nirgends von We\tgesellschaft und tendieren ähnlich wie Wallerstein dazu, Welt mit Weltwirtschaft gleichzusetzen, davon abgesehen formulieren sie jedoch die Grundprämissen einer soziologischen Weltgesellschaftstheorie: 1. Die Entdeckung des globalen Zu1 Das philosophische Emergenzkonzept, das vor allem in der Philosophie des Geistes und in der Wissenschaftsphilosophie entwickelt wurde, kombiniert zwei Annahmen, die in der Regel als unvereinbar angesehen werden: Mikrodeterminiertheit und epistemologische Irreduzibilität. Emergente Phänomene sind zwar durch die Prozesse auf der Mikroebene determiniert, aber dennoch ist es nicht möglich, sie vollständig auf diese zurückzuführen. So gesehen ist Bewusstsein eine emergente Eigenschaft des Gehirns, die zwar durch neurophysiologische Prozesse determiniert ist, aber dennoch nicht reduktiv erklärbar ist. Damit grenzt sich Emergenztheorie von reduktionistischen wie auch von dualistischen Positionen ab.
sammenhangs als neues und eigenständiges Untersuchungsobjekt. 2. Die Vorstellung, dass die globale Ebene Eigenschaften aufweist, die sich von denjenigen der sie konstituierenden Einheiten und Prozesse unterscheiden und auch nicht auf diese zurückführbar sind (Emergenzthese). 3. Die Annahme, dass die globalen „sozialen Tatsachen" kausal wirksam sind und auf die tiefer liegenden Einheiten und Prozesse einwirken (Makrodetermination), und 4. die Auffassung, dass Weltgesellschaftsanalyse einen makrosoziologischen Bezugsrahmen erfordert. Bergesens Band erschien 1980 und kam in gewisser Weise in doppelter Hinsicht zu spät. Denn erstens war die von ihm geforderte „globology" bereits einige Jahre früher unabhängig voneinander von drei Autoren entwickelt worden: in der systemtheoretischen Weltgesellschaftstheorie von Niklas Luhmann, die er erstmals 1971 formulierte (Luhmann 1975 [1971]), in der Weltgesellschaftstheorie von Peter Heintz, die im Kontext der Entwicklungssoziologie entstanden ist (u.a. P. Heintz 1974, 1976, 1982a), und in der world-polity-Theorie von John Meyer, die in Auseinandersetzung mit der Weltsystemtheorie von Wallerstein entwickelt wurde und einen deutlich modernisierungstheoretischen Hintergrund hat (u.a. Meyer et al. 1977, Meyer 1980, Boli Bennett 1980). Zweitens waren die Annahmen der Weltgesellschaftstheorien nicht so neu, wie sie uns heute erscheinen mögen. Blickt man weiter zurück, stellt man fest, dass einiges von dem, was sie zu einem theoretisch konsistenten Bild zusammenfügten, bereits früher formuliert worden war, wenn auch fragmentarisch und verstreut auf unterschiedliche Diskussionskontexte. Auf diese Vorläuferdiskussionen gehen wir in einem ersten Abschnitt ein. Wir beziehen uns hier auf zwei Diskussionsstränge, an die die Weltgesellschaftstheorien auf je unterschiedliche Weise anknüpfen: auf die in den Politikwissenschaften entwickelte Theorie des internationalen Systems und auf die Kritik an der Modernisierungstheorie, die im Rahmen der Dependenztheorie sowie in Wallersteins Weltsystem-Theorie formuliert wurde. Die Weltgesellschaftstheorien waren nicht nur durch diese Vorläuferdiskussionen geprägt, sondern auch durch die aktuellen politischen Debatten, die zur gleichen Zeit auf den internationalen Bühnen ausgetragen wurden. Verfolgt man den Wandel der sozialwissenschaftlichen Diskussion seit den 50er Jahren, so lässt sich eine erstaunliche Parallele zur entwicklungspolitischen Diskussion im Rahmen der einschlägigen internationalen Organisationen feststellen. Wir können darauf nicht systematisch ein-
Jens Greve und Bettina Heintz: Die „Entdeckung" der Weltgesellschaft gehen, werden aber punktuell auf diesen parallel laufenden politischen Diskurs verweisen. Die Rekonstruktion des Diskursraumes in den 50er und 60er Jahren dient dazu, die theoretischen Entscheidungen der Weltgesellschaftstheorien deutlicher hervortreten zu lassen. Auf diese Entscheidungen gehen wir in einem zweiten Abschnitt ein, in dem wir die drei Theorien vorstellen. Daran anschließend werden die Annahmen der Weltgesellschaftstheorie(n) noch einmal zusammengefasst und mit der Globalisierungstheorie kontrastiert. In einem abschließenden dritten Teil diskutieren wir einige Beschränkungen und Probleme, die sich aus den genannten Annahmen ergeben. Die Weltgesellschaftstheorien haben der Soziologie zwar ein neues Untersuchungsobjekt erschlossen, die von ihnen getroffenen theoretischen Entscheidungen haben jedoch auch zu einer Verengung auf eine strikt makrosoziologische Betrachtung globaler Prozesse geführt. Die Variabilität und Reversibilität globaler Vergesellschaftungsprozesse lässt sich unter den gewählten Prämissen kaum mehr fassen. Um diese Verengung aufzubrechen, gehen wir in Analogie zu Luhmanns Strategie, das Erwartbare zunächst als unwahrscheinlich zu betrachten (Luhmann 1981), davon aus, dass die Herausbildung globaler Ordnungsstrukturen ein unwahrscheinliches Ereignis ist und fragen uns anschließend, unter welchen Bedingungen es dennoch dazu kommt.
I. Die Theorie des internationalen Systems und der Weg von der Modernisierungstheorie zur Theorie des Weltsystems Die in den 70er Jahren entwickelten Weltgesellschaftstheorien sind zwar durch unterschiedliche Theoriekontexte geprägt, dennoch teilen sie eine Reihe von Grundannahmen (vgl. Einleitung). Wie wir in diesem Abschnitt zeigen, wurden viele der Ideen, die sie zu einer neuen, „globalen" Soziologie verknüpfen, bereits früher formuliert, wenn auch erst zögerlich und nicht immer konsistent. Wir stellen im Folgenden zwei Theorietraditionen vor, die für die Entwicklung der Weltgesellschaftstheorien wichtig waren: die in der Politikwissenschaft entwickelte Theorie des internationalen Systems und die kritische Aneignung der Modernisierungstheorie im Rahmen der Dependenzschule und der Wallersteinschen Weltsystemtheorie. 2 Für die Welt1
Ein dritter Diskussionsstrang ist die frühe Globalisie-
rungsdiskussion, die damals vor allem unter dem Begriff
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gesellschaftstheorien der 70er Jahre stellen diese Diskussionen einen Ideenpool dar, aus dem sie sich auf unterschiedliche Weise bedienen.
1. Die Theorie des internationalen Systems Die Übertragung des Gesellschaftsbegriffs auf die globale Ebene ist keine Erfindung der Weltgesellschaftstheorien der 70er Jahre, sondern findet sich bereits früher, und zwar vor allem in den Rechtswissenschaften. Beispielhaft dafür sind etwa Gerhart Niemeyer (1941), der von einer „society of states" spricht, oder George W. Keeton und Georg Schwarzenberger, die bereits 1 9 3 9 eine weltweite „internationale Gesellschaft" konstatieren (Keeton/ Schwarzenberger 1939: 29). Diese Annahme wird in der Folge von Schwarzenberger weiter ausgebaut. Eine „internationale Gesellschaft" ist für ihn eine Gesellschaft, die aus mindestens zwei Kollektiven besteht, die untereinander in regelmäßigem Kontakt stehen (Schwarzenberger 1 9 5 1 : 2 5 ) . Heute umspanne die internationale Gesellschaft die gesamte Welt und sei deshalb, so Schwarzenberger, eine „world society" (Schwarzenberger 1951: 26).3 Schwarzenberger wählt seinen Gesellschaftsbegriff in Anschluss an die Tönnies'sche Tradition (Schwarzenberger 1 9 5 1 : 12; vgl. ähnlich auch Keeton/Schwarzenberger 1 9 3 9 : 28f.). Aus seiner Sicht beruht die Gesellschaftlichkeit der Weltgesellschaft auf der wechselseitigen Abhängigkeit der verschiedenen Gruppen, und das Bindungsprinzip ist Macht: „Modern international society is a reality for the reason that in it groups co-exist which are both interdependent and independent of each other. [...] The bond that holds world society together is not any vague community of spiritual interests. It is power" (Schwarzenberger 1 9 5 1 : 2 5 1 ) . Schwärzen-
der „Transnationalisierung" geführt wurde und heute weitgehend vergessen ist; vgl. etwa Inkeles 1 9 7 5 , Kaiser 1969, Nye/Keohane 1 9 7 1 , M o o r e 1 9 6 6 , Etzioni 1 9 6 3 . Wir können auf diese Diskussion nicht weiter eingehen. ' Die Tatsache, dass es zunächst die Rechtswissenschaften sind, die zumindest versuchsweise von „Weltgesellschaft" bzw. „internationaler Gesellschaft" sprechen, ist kein Zufall, sondern eine paradoxe Folge der rechtswissenschaftlichen Tradition, Recht und Staat bzw. Recht und nationale Gesellschaft zusammenzudenken. Die Beobachtung, dass sich ein transnationales Recht herausbildet, lässt folglich die Frage aufkommen, o b diesem Recht eine „international society" oder sogar eine „world Society" entspricht; vgl. dazu Teubner 1 9 9 6 , Buzan 1 9 9 3 , Cutler 1 9 9 1 , Butterfield/Wight 1 9 6 6 .
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berger überträgt zwar den Gesellschaftsbegriff auf die globale Ebene, im Gegensatz zu den Weltgesellschaftstheorien der 70er Jahre ist sein Erklärungsmodell jedoch reduktionistisch: Die Strukturmerkmale der „world society" werden auf die (Macht-)Beziehungen der sie konstituierenden (nationalen) Einheiten zurückgeführt. 4 Trotz dieser Vorgaben wird der Weltgesellschaftsbegriff in der Folge nur noch selten verwendet. Ein Grund dafür liegt darin, dass die konventionelle Gemeinschafts-/ Gesellschafts-Unterscheidung eine neue Deutung erfährt. Im Gegensatz zur Tönnies'schen Tradition wird „Gesellschaft" nun mit normativer Integration assoziiert (etwa Wirth 1948). Dies hat zur Folge, dass Weltgesellschaft nicht mehr als Realität, sondern bestenfalls als ein Projekt betrachtet wird. „Weltgesellschaft" ist aus dieser Sicht ein noch herzustellender Zustand, und das wiederholt vorgetragene Argument lautet, dass es bislang keine gemeinsamen Normen und Wertvorstellungen gibt, die diese globale Welt hinreichend integrieren könnten. 5
steht. Im Zentrum steht die Frage, unter welchen Bedingungen das System seine Stabilität bewahrt (vgl. Kaplan 1957: 4). Neben dem internationalen System unterscheidet Kaplan nationale und supranationale, aber auch Persönlichkeitssysteme, die er als Subsysteme des internationalen Systems begreift. Die verschiedenen Systemtypen stehen zueinander in (asymmetrischen) Austauschbeziehungen, ohne jedoch aufeinander reduzierbar zu sein. „The international system is the most inclusive system treated by this book. National and supranational systems are subsystems of the international system. They may, however, be treated separately as systems, in which case inputs from the international system would function as parameters" (Kaplan 1957: 12). Kaplan geht zwar davon aus, dass der Einfluss der nationalen Subsysteme auf das internationale System zum gegenwärtigen Zeitpunkt größer ist als umgekehrt (upward causation), er schließt jedoch nicht aus, dass sich die Einflussrichtung im Sinne einer downward causation auch umkehren kann (vgl. auch Brecher 1963).
Die Übertragung des Gesellschaftsbegriffs auf die globale Ebene ist damit zunächst blockiert. Gleichwohl wird Ende der 50er Jahre mit dem Konzept des „internationalen Systems" ein theoretisches Modell formuliert, an das die späteren Weltgesellschaftstheorien anknüpfen können. Entscheidend für diese Entwicklung war Morton A. Kaplan, der im Rückgriff auf die allgemeine Systemtheorie (v.a. Ashby 1952) den Begriff des internationalen Systems in die politikwissenschaftliche Diskussion einführt und dieses als eigenständige und irreduzible Systemebene begreift (Kaplan 1957). 6 Im Anschluss an Parsons, den er allerdings nicht explizit erwähnt, definiert Kaplan das internationale System als ein Handlungssystem, das durch eine spezifische Konfiguration ausgewählter Variablen charakterisiert ist und mit seiner Umwelt in Austauschbeziehungen
In der Politikwissenschaft wird die Frage nach der Reichweite des Systemansatzes bald intensiv diskutiert. Kontrovers ist z.B. die Frage, ob ein solchermaßen deduktiver Ansatz für die Analyse internationaler Beziehungen überhaupt geeignet sei. 7 Ein weiterer, für unseren Zusammenhang relevanterer Diskussionsstrang betrifft die Frage, ob sich der Systembegriff, der ursprünglich nur auf Nationalstaaten angewendet wurde, überhaupt auf internationale Beziehungen übertragen lässt (vgl. u.a. Carlston 1962: 66, Hoffmann 1959: 360). Eingewandt wird vor allem, dass Merkmale, die für Nationalstaaten konstitutiv sind - eine zentrale Regierung, eine verbindliche Rechtsordnung und ein staatliches Gewaltmonopol - , im Falle des internationalen Systems fehlen oder nur rudimentär ausgebaut sind. Dieser Einwand ist der Ausgangspunkt für Fred W. Riggs, der 1961 in einem einflussreichen Aufsatz wesentliche Vorarbeiten für die späteren Weltgesellschaftstheorien leistet (Riggs 1961). Riggs konzediert zwar, dass zwischen der nationalen und der internationalen Ebene Unterschiede bestehen, er macht aber gleichzeitig darauf aufmerksam, dass es auch Staaten gibt, darunter viele „neue" Staaten, die die genannten Merkmale nicht aufweisen. Damit hebelt er die Kritik am Begriff des internationalen Systems erfolgreich aus. Offensichtlich lässt sich der Systembegriff auch auf Entitäten anwenden, die weder über eine politische
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Vgl. ähnlich auch Mathisen, der im Anschluss an Schwarzenberger ebenfalls von einer „world society" spricht und diesen Begriff vom Konzept der „international society" abgrenzt. Im Gegensatz zur „international societ y " berücksichtige der Begriff der „world society" auch nicht-staatliche Akteure (Mathisen 1959: 36ff., 148ff.). 5 Vgl. z.B. Arndt/Everett 1951, Carlston 1962: 66, Corbett 1951: 4 0 und M a n d e r 1948. 6 Der Begriff des internationalen Systems findet sich auch bei Morgenthau, aber das dahinter liegende Erklärungsmodell ist reduktionistisch. Im Einklang mit der im Sinne der politischen Theorie „realistischen" Konzeption von Schwarzenberger wird die Struktur des internationalen Systems auf die (Macht-)Beziehungen zwischen Nationalstaaten zurückgeführt (vgl. Morgenthau 1954: 25).
7
Vgl. kritisch H o f f m a n n 1959 und abwägend 1961.
Singer
Jens Greve und Bettina Heintz: Die „Entdeckung" der Weltgesellschaft Ordnung mit Gewaltmonopol noch über ein ausdifferenziertes Rechtssystem verfügen. In der Folge entwickelt Riggs ein differenzierungstheoretisches Modell, das drei Typen von Systemen unterscheidet. Das gegenwärtige internationale System bezeichnet er als „prismatisches" System und interpretiert es als Übergangsstadium, das zwischen zwei Gesellschaftstypen liegt, die er als „fused" und „refracted" bezeichnet: „We may speak of a system for which a single structure performs all the necessary functions as a fused model, using the terminology of light. At the opposite end of this scale is a refracted society in which, for every function, a corresponding structure exists. Traditional agricultural and folk societies (Agraria) approximate the fused model, and modern industrial societies (Industria) approach the refracted model. T h e former is 'functionally diffuse', the latter 'functionally specific 1 . Intermediate between these polar extremes is the prismatic model, so called because of the prism through which fused light passes to become refracted" (Riggs 1 9 6 1 : 1 4 9 ) . 8 Festzuhalten sind vor allem drei Überlegungen, die die Argumentation von Riggs für die späteren Weltgesellschaftstheorien anschlussfähig machen. Erstens ist das internationale System für Riggs ein weltweites System (Riggs 1 9 6 1 : 151). Zweitens geht er davon aus, dass sich das internationale System nicht nur, wie in den Politikwissenschaften üblich, als ein „interstate-system" beschreiben lässt. Vielmehr ist es ein komplexes System mit Staaten, Individuen und Organisationen als Einheiten. Drittens beschränkt Riggs den Begriff des internationalen Systems nicht auf die politische Sphäre, sondern dehnt ihn auf andere Bereiche aus: „What emerges is not a model for world politics, but rather a ,holistic' or total picture of world affairs - perhaps a ,macro society' - which might be studied in terms of its political, economic, social, and ideological aspects" (Riggs 1 9 6 1 : 1 8 1 ) . Obschon er den Begriff der Weltgesellschaft nicht explizit verwendet und stattdessen die Bezeichnung „ m a c r o society" wählt, hätte er ebenso gut von „Weltgesellschaft" sprechen kön9 nen. Die meisten politikwissenschaftlichen Autoren ziehen es jedoch vor, weiterhin den Begriff des interna-
Die Unterscheidung zwischen Agraria und Industria übernimmt Riggs von Modelski ( 1 9 6 1 ) . Die These, dass sich das internationale System als ein primitives soziales System verstehen lasse, findet sich auch bei Alger 1 9 6 3 , Masters 1 9 6 4 , Modelski 1 9 6 1 und Easton 1 9 5 9 : 2 3 6 . 9 Andere, wie etwa Modelski ( 1 9 6 1 : 1 2 0 ) , sprechen durchaus von einer „world society". 8
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tionalen Systems zu verwenden. Dies gilt auch für Talcott Parsons, der zwar die internationale Ordnungsebene als soziales System interpretiert (und damit den Begriff des internationalen System erheblich weiter fasst als die Politikwissenschaftler), den Gesellschaftsbegriff aber für nationale Gesellschaften reserviert. 1 0 Ähnlich wie im Falle des Nationalstaats setzt soziale Ordnung für Parsons auch auf internationaler Ebene gemeinsame Werte voraus, die in Normen spezifiziert sind und qua Institutionalisierung und Internalisierung zum Bestand des sozialen Systems beitragen. Aus seiner Sicht hat sich seit dem 2 . Weltkrieg ein weltweit akzeptierter Wertkomplex herausgebildet, dessen Kern die M o dernisierung bildet (Parsons 1 9 6 9 b : 305f.). Modernisierung, verstanden als wirtschaftliches Wachstum und politische Unabhängigkeit, ist für Parsons ein übergeordneter Wert, der von allen Ländern Regierungen wie Bevölkerungen - geteilt wird, unabhängig von ihrer Blockzugehörigkeit. Die Spaltung der Welt in verschiedene politische Lager ist insofern eine Erscheinung, die trotz ihrer offensichtlichen Konflikthaftigkeit auf eine gemeinsame Wertorientierung verweist. Diese Wertorientierung habe ihren Ursprung zwar in der westlichen Kultur, sie stelle heute aber ein weitgehend konsensual akzeptiertes Orientierungsmuster dar (vgl. Parsons 1 9 6 4 : 3 9 0 , Parsons 1 9 6 9 b : 3 0 5 ) . Parsons schließt zwar an die Modernisierungstheorie der 50er Jahre an, er betont jedoch stärker als diese den Wertcharakter der Modernisierung und damit auch die Relativität der Deutung der Welt in Termini von Modernisierungs- resp. Entwicklungsunterschieden (Parsons 1 9 6 7 : 4 7 7 ; vgl. ähnlich auch Nettl/Robertson 1 9 6 6 sowie Anm. 19). In Analogie zur nationalen Ebene begreift Parsons das internationale System als ein Schichtungssystem, nur sind die Einheiten in diesem Fall Nationen und die Ordnungsdimension ist der Modernisierungs- bzw. Entwicklungsgrad. Während die internen Klassenspannungen in den westlichen Ländern zu einer Transnationalisierung der entsprechenden politischen Bewegungen geführt hätten, sei in den heutigen unterentwickelten Ländern eine nationalistische Deutung des Problems zu beobachten, in1 0 Wir beziehen uns im Folgenden vor allem auf zwei Aufsätze, die ursprünglich 1 9 6 1 erschienen sind und in denen sich Parsons aus einer konfliktsoziologischen Perspektive eingehend mit dem Problem der internationalen O r d nungsbildung befasst (Parsons 1 9 6 7 , 1 9 6 9 b ) . Sie gehören zu den wenigen Texten, in denen Parsons das internationale System zum Gegenstand macht. Ein weiterer Beitrag, der wesentlich an Parsons ( 1 9 6 7 ) anknüpft, ist Parsons (1964).
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dem die interne Ungleichheit externalisiert, d. h. auf die internationale Ungleichheitsstruktur zurückgeführt und in den R a h m e n des Ost-West-Konflikts gestellt w e r d e . 1 1 D . h . hinter der Konkurrenz der B l ö c k e steht für Parsons ein Konflikt, der sich aus dem Schichtungscharakter des internationalen System ergibt: der O s t - W e s t - K o n f l i k t ist für ihn gleichzeitig ein Gegensatz zwischen den „,have' and ,have n o t ' n a t i o n s " , in dem letztere versuchen, mit ersteren gleichzuziehen (Parsons 1 9 6 7 : 4 7 1 f f . ) . M i l i t ä risch sei dies dem O s t b l o c k gelungen, in ö k o n o m i scher Hinsicht jedoch nicht. Die Deutung der Welt in Termini von zwei politischen Lagern verdecke zwar, dass es jenseits der Blöcke ein gemeinsames Wertsystem gibt, gleichzeitig diene sie jedoch auch der Spannungsreduktion. Die sozialistische Ideologie sei als ein Versuch zu sehen, die moralische Überlegenheit eines alternativen Entwicklungspfades zu behaupten und dadurch die Spannung zu reduzieren, die sich aus dem Vergleich mit den erfolgreichen westlichen Ländern ergebe (Parsons 1 9 6 7 : 4 8 5 ) . Anders als die meisten seiner Kollegen zu dieser Zeit hat Parsons den gemeinsamen Wert der Modernisierung - und nicht den Ost-West-Konflikt - als konstitutives M e r k m a l des internationalen Systems angesehen. M e h r noch: Die stabile Spaltung der Welt in einen westlichen und einen k o m munistischen B l o c k , die Parsons als Zwei-Parteiensystem auf der E b e n e des internationalen Systems deutet, und die Institutionalisierung einer dritten Partei - des Lagers der Blockfreien - w a r für ihn neben der Entwicklung des Völkerrechts und der Etablierung der U N O ein Z e i c h e n dafür, dass sich eine internationale normative Ordnung gebildet hat (Parsons 1 9 6 9 b : 3 0 2 ) .
heraus-
Angesichts der Tatsache, dass Parsons die integrativen M e c h a n i s m e n betont, und sogar von einer „emergent world Community" spricht (Parsons 1 9 6 7 : 4 7 1 ) , stellt sich die Frage, weshalb er den Gesellschaftsbegriff lediglich auf Nationalstaaten anwendet, nicht aber auf das internationale System. Eine explizite Rechtfertigung hierfür findet sich bei Parsons nicht. In seinen Überlegungen zum Gesellschaftsbegriff (vgl. v.a. Parsons 1 9 6 6 , Parsons 1 9 7 1 ) bindet Parsons die Verwendung des Gesellschaftsbegriffs an das Kriterium der Selbstgenügsamkeit: „In defining a society, we may use a criterion which " Parsons (1967: 476f.) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die internationalen Konflikte bislang nicht religiös gedeutet wurden, was aber nicht ausschließe - und damit nimmt er eine wichtige Entwicklung vorweg dass der gegenwärtige Wertkonsens in Zukunft durch religiöse Ideologien überlagert und letztlich auch zerstört werden könne.
goes b a c k at least to Aristotle. A society is a type o f social system, in any universe o f social systems, which attains the highest level o f self-sufficiency as a system in relation to its environments. ( . . . ) T h e core o f a society, as a system, is the patterned normative order through which the life o f a population is collectively o r g a n i z e d " (Parsons 1 9 6 6 : 9 f . ) . 1 2 Selbstgenügsamkeit bedeutet also einerseits K o n trolle über die Umweltbedingungen, andererseits, und das steht im Weiteren im Vordergrund, interne normative Integration. Ein soziales System ist m . a . W . nur dann als Gesellschaft zu qualifizieren, wenn eine für ihre Mitglieder verbindliche normative Struktur existiert, die auch effektiv durchgesetzt werden kann. Dies erfordert eine Institutionalisierung der N o r m e n im R a h m e n eines Rechtssystems und eine Zentralgewalt, die in der Lage ist, die normativen Verpflichtungen innerhalb eines Territoriums zu kontrollieren und bei Abweichung zu sanktionieren: „ H e n c e , there can be no certainty o f implementation o f a normative order, unless the employment o f physical force can be controlled and controlled within a territorial area - because force must be applied to the o b j e c t in the place where it is l o c a t e d " (Parsons 1 9 6 9 b : 2 9 5 ; vgl. auch Parsons 1 9 6 6 : 1 7 , 1 9 7 1 : 8 , 1 0 ) . W ä h r e n d diese Bedingungen für Parsons im Falle der N a t i o n a l s t a a t e n gegeben sind, ist dies auf internationaler Ebene (noch) nicht der Fall, auch wenn er, unter Hinweis auf das V ö l k e r r e c h t , die U N O und ein entstehendes „privates" transnationales R e c h t , eine Tendenz zur Institutionalisierung von globalen N o r m e n konstatiert ( 1 9 6 7 : 4 7 8 f f . ) . So gesehen erscheint Parsons' Vermeidung des Gesellschaftsbegriffs letztlich empirische, nicht prinzipielle Gründe gehabt zu haben (vgl. auch 1 9 6 9 b : 2 9 7 ) . Unter der Voraussetzung einer weitergehenden Institutionalisierung weltweit geltender N o r m e n und der Entstehung einer globalen Zentralagentur mit effektivem Sanktionspotential wäre es für ihn vermutlich denkbar gewesen, das internationale System als Weltgesellschaft zu bezeichnen und den Gesellschaftsbegriff von seiner nationalstaatlichen K o n n o t a t i o n zu l ö s e n . 1 3 1 2 „Umwelt" bezieht sich hier auf die Umwelt des allgemeinen Handlungssystems, Kultur, Persönlichkeit und Verhandlungsorganismus, die „ultimate reality" und die „physikalisch-organische Umwelt" (Parsons 1 9 6 6 : 9). Nach der Einführung der „human condition" wäre noch das menschlich-organische System hinzuzufügen (Parsons 1978). 13 In diese Richtung weist auch folgende Überlegung Parsons' zum Gesellschaftsbegriff: „The top of this hierarchy [von System-Subsystem-Beziehungen, Zusatz durch uns] is
Jens Greve und Bettina Heintz: Die „Entdeckung" der Weltgesellschaft Parsons' Texte zum internationalen System lassen sich als eine Verbindung zwischen der Theorie des internationalen Systems und der Modernisierungstheorie lesen. Explizit wird dieser Zusammenhang von Gustavo Lagos hergestellt, der in seinem 1963 erschienen Buch „International Stratification and Underdeveloped Countries" den Begriff des internationalen Systems mit der Entwicklungs- und Modernisierungsfrage verknüpft (Lagos 1963,1962). Lagos bezieht sich in seinem Buch auf die Entwicklungssoziologie von Peter Heintz und nimmt gleichzeitig Überlegungen der Dependenzschule und der Weltsystemtheorie vorweg, indem er die sozio-ökonomische Position der einzelnen Länder auf die Struktur des internationalen Schichtungssystems zurückführt. Die von Parsons bereits ansatzweise formulierte Idee, dass sich alle Länder am Wert der Modernisierung orientieren und nach ihrem Entwicklungs- resp. Modernisierungsgrad eingestuft werden, wird von Lagos weiter ausgebaut und mit schichtungstheoretischen Überlegungen verbunden. Seine Kernthese lautet, „that the nations of the world can be considered a great social system composed of different groups interacting and that the national groups occupy various positions within the social system" (Lagos 1963: 6ff.). Aus Lagos' Sicht lässt sich die Position der Länder im internationalen Schichtungssystem anhand von drei Dimensionen bestimmen: wirtschaftliche Entwicklung, militärische Macht und Prestige (vgl. ebd. 1963: 20). Das Prestige eines Landes ergibt sich aus seiner Konformität mit international anerkannten Werten wie Demokratie, Modernität und Selbstbestimmung (vgl. Lagos 1963: 140). Das internationale System selbst zeichnet sich durch drei Strukturmerkmale aus: 1. Die Koexistenz von formaler Gleichheit und struktureller Ungleichheit, indem alle Länder politisch gesehen zwar formal gleichberechtigt sind, faktisch aber auf den drei Dimensionen unterschiedliche Positionen einnehmen. 2. Schichtung im Sinne einer systematischen Ungleichheit zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern. 3. Im Falle der Entwicklungsländer eine wachsende Diskrepanz zwischen dem formalen und dem faktischen Status mit der Folge eines relativen Statusverlusts. Lagos verwendet da-
the concept of society, which is the highest-order concrete system of interaction treated (including the possibility of an e m e r g e n t , w o r l d society')" (Parsons 1961: 43). Für eine weitere Verwendung des Weltgesellschaftsbegriffs, allerdings in einem unterminologischen Z u s a m m e n h a n g ; vgl. Parsons 1969a: 2 8 5 .
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für den Begriff der „atimia" (vgl. ebd. 1963: 22ff.). Lagos hält zwar am Begriff des internationalen Systems fest, er reformuliert das ursprüngliche Konzept jedoch in zweierlei Hinsicht. Zum einen sind die politisch-militärischen Machtdifferenzen, die im politikwissenschaftlichen Begriff des internationalen Systems eine zentrale Rolle spielen, nur noch eine Dimension neben anderen. Zum andern verbindet er das Konzept des internationalen Systems mit dem in den 50er Jahren einsetzenden Entwicklungs- bzw. Modernisierungsdiskurs und fügt damit die beiden Diskussionsstränge zusammen, die die Entwicklung der Weltgesellschaftstheorien vorbereiten.
2. Die Modemisierungstheorie und ihre kritische Weiterentwicklung: Dependencia und Weltsystemtheorie 2.1 Modernisierungstheorie Die Modernisierungstheorie entstand Ende der 40er Jahre und bildete bis Mitte der 60er Jahre die dominante makrosoziologische Orientierung. 14 Die Beschäftigung mit Fragen der Modernisierung war an sich nichts Neues. Im Rahmen der historisch oder evolutionstheoretisch argumentierenden Soziologie, man denke etwa an Max Weber oder Emile Dürkheim, war Modernisierung, wenn auch nicht unter diesem Begriff, schon immer ein prominentes Thema (Moore 1966). Neu war aber, dass die Modernisierungsfrage systematisch auf nicht-westliche Gegenwartsgesellschaften ausgeweitet wurde. Entscheidend für den Erfolg der Modernisierungstheorie war die Verbindung, die sie mit der Entwicklungsproblematik einging. 15 Modernisierung und 14
Für Überblicke vgl. F l o r a l 9 7 4 , H u n t i n g t o n 1971, Knöbl 2 0 0 1 , Lepsius 1977, Mansilla 1978, Z a p f 1975. Der „ G r ü n d u n g s t e x t " ist Levy 1949. 15 Im politischen R a h m e n w u r d e ,Entwicklung' innerhalb kürzester Zeit zu einem Leitkonzept für die D e u t u n g der Welt. Dies zeigt sich nicht zuletzt an der semantischen Karriere der entsprechenden Begriffe: „Unterentwicklung" und „Dritte Welt" sind Begriffe, die erst Ende der 40er J a h r e Einzug in den politischen Diskurs halten, d a n n aber mit unschlagbarem Erfolg; vgl. zur Begriffsgeschichte A r n d t 1981 und Pletsch 1981. Escobar (1999) spricht in diesem Z u s a m m e n h a n g von einer „invention of developm e n t " und meint d a m i t , dass das Konzept der Entwicklung in kürzester Zeit zu einem „ m a s t e r f r a m e " w u r d e , der die gesellschaftliche O p t i k bis Ende der 70er J a h r e ungebrochen prägte. Wir k ö n n e n auf diese politische Diskussion hier nicht näher eingehen.
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Entwicklung wurden schon in kurzer Zeit zu praktisch synonymen Begriffen. Gleichzeitig fielen die Grenzen, die die akademische Soziologie in der Regel vom politischen Geschäft fernhalten: Für kurze Zeit wurde die Soziologie in bislang nie gekanntem (und auch nie wieder erreichtem) Maße „praktisch". Soziologen wurden von ihren Universitäten beurlaubt, um als Repräsentanten der U N O oder ihrer Regierungen Entwicklungsländer planerisch zu beraten und dort die Sozialwissenschaften aufzubauen (vgl. u.a. Fuenzalida 1980, Gendzier 1985, P.Heintz 1959). Zu den Leitideen der frühen Modernisierungstheorie gehörte die Gegenüberstellung von Tradition und Moderne. Der Gegensatz zwischen „modernen" und „traditionalen" Gesellschaften wurde zum Teil in psychologischen Begriffen beschrieben (vgl. etwa McClelland 1961, Hagen 1962, Inkeles 1966), zum Teil institutionell verstanden (vgl. etwa Rostow 1960, Lipset 1959). Im einen Fall hieß Modernisierung Überwindung von traditionalen Persönlichkeitsstrukturen, im andern Fall wurde Modernisierung gleichgesetzt mit Industrialisierung, Urbanisierung, Bildung, Demokratisierung und der Nutzung von Massenmedien. Häufig wurden beide Konzepte auch miteinander verbunden, so etwa bei Lerner (1958), der institutionelle Modernisierung als Voraussetzung für die Entwicklung von „Empathie" begreift (und umgekehrt). Ähnliches gilt auch für Arbeiten, die an Parsons' „pattern variables" anknüpfen und darüber den Gegensatz zwischen traditionalen und modernen Gesellschaften bestimmen (vgl. Levy 1952, Hoselitz 1969, Sutton 1965, Levy 1949). Trotz der Fülle der modernisierungstheoretischen Schriften lässt sich ein Kern gemeinsamer Annahmen ausmachen, von denen wir drei besonders herausstellen möchten: 1. Modernisierung wird als ein endogener Prozess verstanden, d. h. als eine Entwicklung, die sich aus der inneren Dynamik der einzelnen Länder ergibt und nicht wesentlich von außen beeinflusst ist (vgl. Portes 1976: 66, Tipps 1973: 212). 2. Dementsprechend sind es die einzelnen Länder, die die Analyseeinheit bilden. Die Tatsache, dass diese in ein umfassendes System eingebettet sind, wird kaum thematisiert. 3. Modernisierung wird als eine notwendige und irreversible Phasenfolge beschrieben, der universelle Gültigkeit zukommt. Im Zuge ihrer Modernisierung durchläuft jede nationale Gesellschaft die gleichen Phasen in gleicher Reihenfolge. Dies führt zu Konvergenz und Homogenisierung: Sofern sie den Zustand der Modernität erreichen, werden alle Länder am Ende durch ähnliche kulturelle Leitbilder
und Institutionen geprägt sein (vgl. Huntington 1971: 288ff.). 1 6 Nach einer kurzen Blütezeit gerät die klassische Modernisierungstheorie in den 60er Jahren unter zunehmende Kritik, die zum Teil innerhalb der Modernisierungstheorie selbst formuliert und zum Teil von außen an sie herangetragen wird. Die interne Kritik setzt an drei Punkten an. 1 7 Der erste betrifft die Unterscheidung von Tradition und Moderne. Kritisiert wird insbesondere die Annahme, dass Tradition und Moderne notwendig in einem Konflikt zueinander stehen und sich die einzelnen Länder entlang dieser Dimension trennscharf voneinander abgrenzen lassen. Zweitens führen Modernisierungsprozesse nicht notwendig zu einer einheitlichen Gestalt. Vielmehr erzeugen die jeweiligen historischen Prozesse unterschiedliche Interpretationen dessen, was Modernität und Traditionalität im Einzelfall bedeuten (vgl. Huntington 1971: 293ff., Eisenstadt 1973, Gusfield 1967). 18 Der dritte Kritikpunkt ist wesentlich mit dem Namen von Reinhard Bendix verbunden und bezieht sich auf die Endogenitätsannahme der frühen Modernisierungstheorie und ihre Vorstellung, dass Modernisierung in allen Ländern weitgehend gleich abläuft. Im Gegensatz dazu betont Bendix die Pfadabhängigkeit von Modernisierungsprozessen. Modernisierung kann sich in seinen Augen schon deswegen nicht überall auf gleiche Weise vollziehen, weil sie unter jeweils andern historischen Bedingungen stattfindet (vgl. Bendix 1967: 324ff.). Während die Modernisierungsprozesse in Europa weitgehend endogen verursacht wurden, ist dies heute in den nicht-westlichen Gesellschaften nur noch bedingt der Fall. Die bereits modernisierten Gesellschaften stellen für diese „Nachfolgergesellschaften" eine Bezugsgröße dar, an denen sie sich orientieren (vgl. Bendix 1967: 331). Hier trifft sich Bendix sowohl mit Parsons' Vorstellung von Modernisierung als einem weltweit angestrebten, aber in unterschiedlicher Weise verwirklichtem Wert, wie auch mit Gustavo Lagos (1963: 56; vgl. auch 130): „The existence of developed nations acts as a reference group for the underdeveloped countries. The interaction in a stratified system makes these nations appear as ,mo-
16 Mit seinem Konzept der „strukturellen Isomorphie" schließt Meyer später an diese Konvergenzvorstellung an. 17 Zu auf diese Kritiken reagierende Umbauten der ursprünglichen Modernisierungstheorie vgl. Binder et al. (1971), Knöbl (2001), Wehler (1975), Zapf (1975: 220ff.). 18 Vgl. auch die Weiterentwicklung in Eisenstadts Konzept der multiplen M o d e r n e (Eisenstadt 2000a, Eisenstadt 2000b).
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dels' whose very high status creates imitation and attraction." 1 9 2.2 Dependeriztheorie Während Gusfield, Bendix, Eisenstadt und andere das modernisierungstheoretische Paradigma gleichsam von innen her zu transformieren suchen, entsteht Mitte der 60er Jahre mit der Dependenz-Schule eine Sicht auf das Entwicklungsproblem, die sich von der klassischen Modernisierungstheorie grundsätzlich unterscheidet und vor dem Hintergrund der ausbleibenden nachholenden Entwicklung vieler Staaten verstanden werden muss. Im Gegensatz zur Modernisierungstheorie, die vorwiegend in den USA entwickelt wurde, entsteht die Dependenztheorie in Lateinamerika und in engem Austausch mit entwicklungspolitischen Gremien. Viele Sozialwissenschaftler, die an der Entwicklung der Dependenztheorie wesentlich beteiligt waren z.B. Celso Furtado, Osvaldo Sunkel, Fernando Henrique Cardoso und Enzo Falleto - , waren eng mit der Comisión Económica para América Latina (CEPAL) verbunden. Die CEPAL ist eine UN-Kommission für Lateinamerika, die 1 9 4 8 gegründet wurde und auf die lateinamerikanischen Länder einen beträchtlichen Einfluss hatte. Ihr Leiter, der Wirtschaftswissenschafter Raúl Prebisch, ging von der Beobachtung aus, dass die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern für letztere durch eine Verschlechterung der terms of trade gekennzeichnet sind. Die Produktivitätsgewinne bei der Herstellung von Industriegütern, die in den industrialisierten Ländern (dem Zen-
1 9 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Nettl/Robertson ( 1 9 6 6 ) , die ähnlich wie Parsons dafür plädieren, Modernisierung resp. Entwicklung nicht zu reifizieren, sondern als ein kontingentes kulturelles Modell anzusehen. Ihre Argumentation ist in zweierlei Hinsicht aufschlussreich. Z u m einen zeigt der Text, dass die von ihnen vertretene „kulturalistische" Perspektive, die später von Robertson weiter ausgebaut wird, damals keineswegs selbstverständlich war. Die Argumentation hatte sich gegen M o delle durchzusetzen, die Entwicklungsdifferenzen als objektive Strukturtatsachen begriffen. Z u m andern lassen sich die Arbeiten von heute aus gesehen als Vorläufer der kulturalistischen Wende in der Entwicklungsdebatte lesen, die in den 80er Jahren einsetzt. Sowohl in der akademischen wie auch in der politischen Diskussion kommt es zu einer „Dekonstruktion" des Entwicklungsmodells mit der Folge, dass die von Nettl und Robertson erst zögerlich behauptete Kontingenz des Modernisierungs- und Entwicklungsmodells deutlicher sichtbar wird; vgl. Escobar 1 9 9 9 , M a n z o 1 9 9 1 , Banuri 1 9 9 0 .
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trum) erzielt wurden und diese Güter dort billiger werden ließen, führten nicht dazu, dass sie im Handel mit den Rohstoff exportierenden Ländern (der Peripherie) für letztere ebenfalls günstiger wurden. D.h. die in den Industrienationen durch technologischen Fortschritt erzielten Preisvorteile wurden nicht an die Rohstoff exportierenden Nationen weitergegeben. 2 0 Aus dieser Beobachtung leitete Prebisch die Empfehlung einer Import substituierenden Wirtschaftspolitik ab, um von den Importen höherwertiger Industriegütern aus den Industrieländern unabhängig(er) zu werden. Bis in die 60er Jahre stellte die Politik der Importsubstitution den programmatischen Kern der lateinamerikanischen Wirtschaftspolitik dar. Mit der Zeit wurde jedoch zunehmend deutlich, dass dieses Programm gescheitert war. Es ist dieser Kontext, in dem die Dependenztheorie entstand. Bei aller Vielfalt der entwickelten Positionen liegt ihr gemeinsamer Nenner in der Übernahme von Prebischs Unterscheidung von Zentrum und Peripherie sowie in der Annahme, dass sich die wirtschaftlichen Bedingungen und Prozesse in den beiden Regionen wesentlich unterscheiden (vgl. Love 1990). Im Vergleich zur CEPAL beurteilten die Dependenztheoretiker die Möglichkeit, die periphere Stellung durch eine kapitalistische Entwicklung im Innern zu überwinden, aber wesentlich skeptischer. Zudem bezweifelten sie, dass die nationalen Eliten überhaupt an einer Überwindung der abhängigen Situation ihrer Länder interessiert sind. 2 1 Entsprechend steht für die Dependenztheorie das Problem der Abhängigkeit im Vordergrund sowie die Frage, ob und wie Entwicklung trotz dieser Dependenz möglich ist. Die klassisch gewordene Definition von Abhängigkeit stammt von Theodonio Dos Santos: „Unter Abhängigkeit verstehen wir eine Situation, in der die Wirtschaft bestimmter Länder bedingt ist durch die Entwicklung und Expansion der Prebisch gelangt damit zu einer Einschätzung, die der Ricardoschen These der komparativen Preisvorteile entgegengesetzt ist (vgl. Prebisch 1 9 5 9 : v.a. 2 6 1 ff., auch 1949). Dieselbe These wird kurz nach Prebisch und unabhängig von diesem auch von Singer entwickelt, weshalb sie als Prebisch-Singer-These in die ökonomische Diskussion eingegangen ist; vgl. Love 1 9 8 0 , Maneschi 1 9 8 3 . 20
Eine der Dependenztheorie verwandte Position entwickelt Samir Amin (z. B. 1 9 7 3 ) für Afrika. An Imperialismustheorien und die Dependenzschule schließen die Arbeiten von Galtung ( 1 9 6 6 , 1 9 7 1 ) und Senghaas ( 1 9 8 1 ) an. In dieser Tradition stehen auch die Arbeiten von Gantzel und Röhrich, die den Weltgesellschaftsbegriff aufnehmen, bei Gantzel ( 1 9 7 3 , 1 9 7 5 ) Undefiniert, bei Röhrich ( 1 9 7 8 : 144) als Ausdruck der das Ganze bestimmenden Produktionsweise. 21
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Wirtschaft eines anderen Landes, der sie unterworfen ist" (Santos 1 9 7 3 : 2 4 3 ) . Die Dependenztheorie ist jedoch keine einheitliche Doktrin. Ihre Vertreter unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer Nähe zum Marxismus (vgl. Mansilla 1 9 7 8 : 5 8 , Love 1990), sondern vor allem auch danach, wie sie den Zusammenhang zwischen Abhängigkeit und Unterentwicklung beschreiben. Während André Gunder Frank und Samir Amin Abhängigkeit ausschließlich auf den ungleichen Tausch zurückführen (Frank 1 9 6 7 , Amin 1973), argumentieren andere wie etwa Sunkel, Cardoso, und Faletto, dass Abhängigkeit aus einem Wechselspiel von internen und externen Faktoren resultiere (Sunkel 1973: 2 6 0 , Cardoso/Faletto 1979; vgl. auch Cardoso 1 9 7 7 : 14). Es sind nicht bloß die ungleichen Tauschbedingungen, sondern auch die jeweiligen Klassenkonstellationen, die internen regionalen Disparitäten und Produktionsbedingungen, die für die Abhängigkeit verantwortlich sind (vgl. Boeckh 1 9 8 5 : 65, Roxborough 1979: 44). Schließlich herrscht auch keine Einigkeit darüber, ob Entwicklung trotz Abhängigkeit möglich ist. Während beispielsweise Cardoso und Faletto davon ausgehen, dass es eine abhängige Entwicklung geben kann, ist dies für Frank nicht denkbar (vgl. Frank 1969b, Frank 1969a). Die Dependenztheorie versteht sich selbst als Gegenprogramm zur Modernisierungstheorie und den aus ihr abgeleiteten entwicklungspolitischen Empfehlungen. 2 2 Ihre Kritik bezieht sich insbesondere auf die Endogenitätsannahme der Modernisierungstheorie und ihre Kontrastierung von traditionalen und modernen Gesellschaften: „Selbst eine bescheidene Kenntnis der Geschichte zeigt (...), dass die Unterentwicklung nicht ursprünglich oder traditionell ist, und dass weder die Vergangenheit noch die Gegenwart der unterentwickelten Länder in irgendeiner Hinsicht der Vergangenheit der jetzt entwickelten Länder entspricht. Die jetzt entwickelten Länder waren niemals unterentwickelt, auch wenn sie unentwickelt gewesen sein mögen. Ebenso wird oft angenommen, dass die derzeitige Unterentwicklung eines Landes als das Produkt oder die Reflexion seiner eigenen ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Besonderheiten oder Struktur verstanden werden könne. Die historische Er-
M i t M a n z o ( 1 9 9 1 ) könnte man allerdings argumentieren, dass die Dependenztheorie letztlich einem modernisierungstheoretischen R a h m e n verhaftet bleibt, da sie nicht das Ziel der Entwicklung selbst infrage stellt, sondern nur die von der Modernisierungstheorie vorgezeichneten Wege, es zu erreichen. 22
fahrung zeigt jedoch, dass die zur Zeit stattfindende Unterentwicklung zum großen Teil das historische Produkt der vergangenen und andauernden wirtschaftlichen und anderen Beziehungen zwischen dem unterentwickelten Satelliten und den jetzt entwickelten Metropolen ist. Weiterhin sind diese Beziehungen ein wesentlicher Teil der Struktur und Entwicklung des kapitalistischen Systems in seinem gesamten Weltumfang" (Frank 1 9 6 9 a : 31f.). Frank verwirft hier wie die anderen Autoren der Dependenzschule nicht nur die für die Modernisierungstheorie zentrale Unterscheidung von traditional und modern, sondern auch die Konvergenzannahme. Der entscheidende Unterschied zur Modernisierungstheorie liegt aber darin, dass er die Erklärungsrichtung umkehrt. Indem er Unterentwicklung nicht bloß auf die Beziehungen zwischen den Ländern zurückführt, sondern diese selbst als Teil eines globalen Zusammenhangs versteht, entwirft Frank eine radikal makrosoziologische Perspektive, die ähnlich auch von Furtado formuliert und später von Wallerstein ausgearbeitet wird: „Die als unterentwickelt bezeichneten Wirtschaften (sind) Subsysteme, deren Verhalten so lange nicht gänzlich zu begreifen ist, wie wir nicht Hypothesen verwenden, die sich auf die Struktur und Funktionsweise des globalen, übergeordneten Systems beziehen . . . Daraus ergibt sich die Forderung, zu Hypothesen über die Struktur des Systems als Ganzes zu kommen (und das ist etwas ganz anderes als internationale Beziehungen' im Sinne der traditionellen Theorie)" (Furtado 1 9 7 3 : 3 1 7 ) .
2 . 3 Die Weltsystemtheorie Immanuel Wallersteins Furtados Forderung, die „Welt als Ganze" in den Blick zu nehmen und sie zum Ausgangspunkt der empirischen Analysen zu machen, wird erst von Immanuel Wallerstein konsequent umgesetzt (vgl. zu Wallerstein Hack in diesem Band). 2 3 Davon abgesehen stimmt Wallerstein in vielen Punkten mit der Dependenz-Schule überein: in der Kritik der M o dernisierungstheorie, in der Betonung des ungleiNeben der Dependenztheorie gehören zu den prägenden Ideengebern die Annales-Schule, hier insbesondere die Arbeiten von Fernand Braudel, und der M a r x i s m u s (vgl. Imbusch 1 9 9 0 : 19). Dennoch ist die N ä h e zur Frankschen Konzeption unübersehbar, der entsprechend häufig ebenfalls zur Weltsystemtheorie gerechnet wird (vgl. z. B. Bergesen 1 9 8 2 ) . Chirot und Hall ( 1 9 8 2 : 9 0 ) gehen sogar so weit, in der Weltsystem-Theorie „merely a N o r t h American adaption o f dependency t h e o r y " zu sehen. 23
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chen Tauschs für die Erklärung der Unterentwicklung und in der Einteilung der Welt in Zentrum und Peripherie. 24 Wallerstein geht davon aus, dass die gegenwärtige Welt als globale kapitalistische Weltökonomie verstanden werden muss. Diese entstand in Europa während des langen 16. Jahrhunderts und breitete sich dann über den gesamten Globus aus (vgl. Wallerstein 1979a: 46, Hopkins/Wallerstein 1979: 157, 168f.). Aus seiner Sicht hat die kapitalistische Weltökonomie frühere Formen ökonomischer Systeme - Minisysteme und Weltreiche abgelöst und ist heute das einzig verbliebene historische System (vgl. Wallerstein 1987: 318). 2 5 Unter einem historischen System versteht Wallerstein ein System, das „largely self-contained" (Wallerstein 1976a: 229) ist und sich durch eine fortgesetzte Arbeitsteilung reproduziert (vgl. Wallerstein 1987: 317). 2 6 Minisysteme sind kleine, kulturell und politisch homogene Einheiten mit einem reziproken Tausch. Weltreiche (world empires) zeichnen sich dagegen durch eine umfassende politische Struktur und vielfältige Kulturen aus, in denen das Zentrum Tribute von lokalen autonomen wirtschaftlichen Einheiten fordert. Weltökonomien schließlich sind durch eine diversifizierte politische Struktur und eine kapitalistische Logik gekennzeichnet, die in einer ungleichen Abschöpfung des Mehrwerts besteht. „The ,world economies' are vast uneven chains of integrated production structures dissected by multiple political structures. The basic logic is that the accumulated surplus is distributed unequally in favor of those able to achieve various kinds of temporary monopolies in the market networks. This is a capitalist' logic" (Wallerstein 1987: 317). 2 7 Im Gegensatz zur Modernisierungstheorie, die Entwicklung primär endogen erklärt und die umfassende soziale Welt, wenn überhaupt, nur als Summe von Nationalstaaten in den Blick bekommt, setzt Wallersteins Analyse beim Weltsystem als Ganzem an. Aus seiner Sicht sind es die Strukturmerkmale 24
Wallerstein fügt allerdings noch die „Semiperipherie" hinzu, die seines Erachtens für die Funktionsweise des kapitalistischen Systems unabdingbar ist; vgl. Wallerstein 1979a: 48f., 1976a: 231f. 25 Da die Struktur der kapitalistischen Ökonomie über die politische Struktur hinausreicht, ist sie schon vor ihrer globalen Ausbreitung für Wallerstein ein Weltsystem; vgl. Wallerstein 1976a: 1 5 , 4 8 . 26 Die Verwendung des Gesellschaftsbegriffs lehnt Wallerstein explizit ab, da dieser wegen seiner Bindung an den Staatsbegriff zu unangemessenen Konnotationen führe; Wallerstein 1987: 315ff., 1985. 27 Vgl. auch Wallerstein 1979a: 35, 1976b: 348.
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des Gesamtsystems, die die Einheiten und Prozesse auf tieferer Ebene formen. „Es waren also das Weltsystem und nicht die einzelnen ,Gesellschaften', die sich entwickelt' haben. Das heißt, nachdem sie einmal ins Leben gerufen worden war, wurde die kapitalistische Weltwirtschaft zunächst einmal konsolidiert, und dann nach und nach der Einfluss ihrer Grundstrukturen auf die gesellschaftlichen Prozesse innerhalb ihrer Grenzen vertieft und erweitert" (Wallerstein 1985: 85). Dementsprechend werden die Länder nicht mehr als autonome, vorgegebene Entitäten betrachtet, sondern „as one kind of organizational structure among others within this Single social system" (Wallerstein 1976a: 7). 28 Das bestimmende Strukturprinzip der kapitalistischen Weltökonomie ist für Wallerstein das Profitstreben und die daraus erwachsenden Strukturen eines ungleichen Tausches (vgl. Wallerstein 1979a: 43ff.). Entsprechend rechnet Wallerstein, ähnlich wie die Dependenztheorie nicht mit einer Konvergenz der Länder, sondern mit einer Perpetuierung oder sogar Verstärkung der strukturellen Differenzierung in zentrale, semiperiphere und periphere Weltregionen. Die dezentrale politische Struktur des Weltsystems und die Differenzierung in schwache und starke Staaten ist für ihn dabei eine Folge und Voraussetzung der kapitalistischen Logik (vgl. Wallerstein 1976a: 111, 230f., 1979a: 48f.). 2 9 Wallersteins Ansatz ist aus verschiedenen Perspektiven infrage gestellt worden. Kritisiert wurde sein auf den Tausch zentrierter Kapitalismusbegriff, der von den Produktionsverhältnissen weitgehend absieht. Weiter wurde ihm vorgehalten, dass er politische und kulturelle Strukturen auf ökonomische Beziehungen reduziere oder ihnen bestenfalls einen epiphänomenalen Status einräume (vgl. Bergesen 1990, Skocpol 1977, Hauck 1985, Imbusch 1990: 39ff., Brenner 1976, 1977, 1983, Chirot/Hall 1982). 30 Im Vergleich zu vielen Studien der Depen28
Vgl. zur entsprechenden Kritik am Atomismus der M o dernisierungstheorie auch Hopkins/Wallerstein 1979: 152. 29 Für historische Gegenbeispiele vgl. Skocpol 1977: 1085. Zum Problem einer ausbleibenden Definition von schwachen und starken Staaten vgl. Imbusch 1990: 51ff. Bergesen 1990 und Imbusch 1990: 7 9 weisen darauf hin, dass bei Wallerstein nicht eindeutig geklärt ist, ob der ungleiche Tausch eine rein ökonomische Folge von Tauschbeziehungen ist; vgl. Wallerstein 1979b: 71, 1983: 31 (wobei der Gewährsmann für Wallerstein nicht Prebisch, sondern Emmanuel ist), oder ob er erst zustande kommt, wenn es politische Einheiten gibt, die sich für die Verschiebung von Marktgleichgewichten instrumentalisieren lassen. Für diese Annahme vgl. Wallerstein 1979a: 46f. 30 Skocpol kritisiert an Wallerstein eine doppelte Reduktion: die Reduktion der ökonomischen Struktur auf den
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denztheorie fehlt bei Wallerstein zudem eine weiter reichende Analyse der regionalen und strukturellen Differenzierungen jenseits der Gliederung in Nationalstaaten. Skocpol (1977: 1089) zufolge bleibt Wallerstein in diesem Punkt der Modernisierungstheorie verhaftet. Ähnlich wie diese sehe er nur die Differenzierung in Nationalstaaten und nehme nicht-nationale Strukturbildungen nicht ausreichend zur Kenntnis. Fassen wir abschließend die Resultate dieses Abschnitts kurz zusammen. Schwarzenberger spricht schon früh und explizit von Weltgesellschaft, sein Modell ist jedoch wenig elaboriert und im Kern reduktionistisch. In der Folge vermeiden die Theorien des internationalen Systems zwar den Begriff der Weltgesellschaft, sie nehmen aber wesentliche Uberlegungen der späteren Weltgesellschaftstheorien vorweg. Dies gilt insbesondere für die makrosoziologische Perspektive und die emergenztheoretische Vorstellung, dass die internationale Ebene eine eigenständige und irreduzible Form der Sozialorganisation bildet. Die frühe Modemisierungstheorie verengt dagegen den Blick wieder auf die Ebene der Nationalstaaten, wenn auch in vergleichender Perspektive. Die von Bendix und anderen vorgetragene Kritik an einer ausschließlich endogenen Perspektive führt zwar einen Schritt weiter, da nun die Beziehungen zwischen den Ländern in den Blick geraten, der Gesamtzusammenhang wird allerdings noch nicht wahrgenommen. Demgegenüber konzeptualisieren Autoren wie Gustavo Lagos den globalen Zusammenhang als ein internationales Schichtungssystem und repräsentieren damit bereits den zweiten Typus von Theorien, die Bach (1982) unterschieden hat (vgl. Einleitung). Diese schichtungstheoretische Perspektive wird von der Dependenztheorie radikalisiert. Während Lagos und Parsons der Auffassung waren, dass das internationale Schichtungssystem über den konsensualen Wert der Modernisierung zumindest partiell legitimiert ist, wird es von der De-
Markttausch und die Reduktion der Politik auf die Ökonomie; vgl. Skocpol 1977: 1079, 1087. Das Konfliktpotenzial zwischen Politik und Ökonomie wird von Wallerstein zwar gelegentlich notiert - „Was die Staaten zu vereinen suchen, reißt die Weltwirtschaft auseinander" (Hopkins/Wallerstein 1979: 153) aber nicht systematisch entfaltet. Z u r Diskussion um die Rolle der Kultur vgl. Boyne 1990, Wallerstein 1990a, 1990b. Ähnliche Kritiken wurden gegenüber Frank vorgebracht. Auch für seinen Ansatz gelte, dass er lediglich den Tausch und nicht die Produktionsbedingungen berücksichtige und dass er die Wirkungen von Klassenbildungsprozessen, von Politik und Kultur vollständig vernachlässige; vgl. Foster-Carter 1976: 176.
pendenztheorie als eine Art Feudalsystem interpretiert, das auf einer asymmetrischen Tauschbeziehung zwischen den Ländern des Zentrum und der Peripherie beruht. Obschon die Außenwelt - als primäre Ursache der „Entwicklung der Unterentwicklung" - in der Dependenztheorie in den Mittelpunkt rückt, wird der von Bergesen geforderte doppelte Perspektivenwechsel (vgl. Einleitung) erst zögerlich vollzogen. Erst in Wallersteins Weltsystemtheorie kommt es zu einem konsequenten Wechsel von der nationalen zur globalen Ebene. Analytischer Ausgangspunkt ist der globale Zusammenhang, der von ihm - allerdings verkürzt auf die Ökonomie - als eine eigenständige Strukturform mit eigenen Gesetzen und determinierender Wirkung beschrieben wird. Was aus der Perspektive der früheren Theorien bis hin zur Dependenztheorie als Außenwelt erscheint, wird bei Wallerstein zur Innenwelt: sämtliche Einheiten und Prozesse sind als Binnendifferenzierungen des Weltsystems zu begreifen. Im Unterschied zur Theorie des internationalen Systems ist das Strukturprinzip ein ökonomisches und kein politisches, und anders als in Parsons' Lesart wird die mögliche Einheit des internationalen Systems nicht über gemeinsame Werte oder Normen, sondern über die wechselseitigen wirtschaftlichen Verflechtungen bestimmt. Indem Wallerstein den globalen Zusammenhang als eigenständigen Untersuchungsgegenstand behandelt, hat er zwar einen entscheidenden Schritt in Richtung einer Weltgesellschaftstheorie getan, gleichzeitig entwirft er jedoch ein theoretisches Modell, das soziologisch um einiges anspruchsloser ist als jenes seiner Vorgänger. Wallerstein reduziert die Welt auf nur eine Dimension und bleibt damit weit hinter Riggs, Parsons und Lagos zurück, die sie als komplexes, mehrdimensionales Gefüge konzipiert hatten.
II. Die Weltgesellschaftstheorien der 70er Jahre: John Meyer, Peter Heintz und Niklas Luhmann Die im letzten Kapitel dargestellten Debatten waren zwar ein wichtiger Schritt - eine soziologische Theorie der 'Weltgesellschaft, die den von Bergesen geforderten doppelten Perspektivenwechsel tatsächlich vollzieht, wurde aber erst in den 70er Jahren entwickelt, und zwar unabhängig voneinander von drei Autoren. Insofern ist die „Entdeckung" der Weltgesellschaft ein instruktives Beispiel einer Mehrfacherfindung. 3 1 Wir gehen im Folgenden vor 31
Zu Beginn der 70er Jahre entwickelt Burton (1972) in
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allem auf die frühen Arbeiten an, um auf diese Weise die Kontinuitäten, aber auch den Bruch mit den skizzierten Theorietraditionen aufzuzeigen. Die Darstellung ist notgedrungen selektiv und konzentriert sich eher auf die Gemeinsamkeiten, anstatt die durchaus vorhandenen theoretischen Differenzen zu akzentuieren (vgl. als Überblick über die drei Theorien auch Wobbe 2000).
1. Weltgesellschaft als Weltkultur: Der neoinstitutionalistische Ansatz von John Meyer Die ersten weltgesellschaftstheoretischen Arbeiten von John Meyer und seinen Mitarbeitern stammen aus den späten 70er Jahren. Der Begriff der Weltgesellschaft wurde damals allerdings noch kaum verwendet - der Leitbegriff ist der Begriff der „world polity" (Boli-Bennett 1979, Meyer 1980, Meyer et al. 1977, Ramirez/Meyer 1980). 3 2 Die Argumentation richtet sich einerseits gegen Ansätze, die wie die klassische Modernisierungstheorie Nationalstaaten als abgeschlossene Entitäten konzipieren und deren Wandel ausschließlich endogen erklären, und andererseits gegen den Ökonomismus der Weltsystemtheorie. Mit Wallerstein teilt Meyer die Auffassung, dass sich jenseits der Nationalstaaten eine globale Wirklichkeit herausgebildet hat, die in zunehmendem Maße die Entwicklungen in den einzelnen Ländern beeinflusst. Während Wallerstein diese globale Wirklichkeit mit der kapitalistischen Weltwirtschaft gleichsetzt, betonen Meyer und seine Mitarbeiter die politisch-kulturelle Dimension und sprechen deshalb in expliziter Abgrenzung zu Wallerstein von „world polity". Dass Wallerstein die Kontrastfigur ist, zeigt sich besonders deutlich in einem 1980 erschienenen Aufsatz, in dem Meyer den world polity-Ansatz zum ersten Mal in programmatischer Form formuliert (Meyer 1980). Der Aufsatz schließt an die zu dieser Zeit heftig diskutierte Frage an, ob Modernisierung am Ende zu institutioneller Homogenität oder gerade umgekehrt zu vermehrter Divergenz führt. Während die klassische Modernisierungstheorie eine
der Politikwissenschaft ebenfalls ein Modell der Weltgesellschaft, das den soziologischen Weltgesellschaftstheorien in vielen Punkten nahe kommt. 3 2 Die Weltgesellschaftstheorie von John Meyer entstand ursprünglich im Rahmen der neo-institutionalistischen Organisationstheorie. Wir können auf diese Verbindung hier nicht näher eingehen, vgl. aber Hasse/Krücken in diesem Band.
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Tendenz zur Konvergenz postuliert, behauptet die Weltsystemtheorie wachsende Divergenz, nicht nur in ökonomischer, sondern auch in politischer Hinsicht. Die Kräfte des Weltmarktes weisen den drei Weltregionen - Zentrum, Semiperipherie und Peripherie - unterschiedliche wirtschaftliche Rollen zu, die ihrerseits mit unterschiedlichen politischen Strukturen einhergehen (vgl. Abschnitt 1.2.). Der Behauptung einer ökonomisch induzierten politischen Divergenz setzt Meyer die empirische Beobachtung entgegen, dass sich gerade im politischen Bereich deutliche Konvergenzen - „Isomorphien" (Meyer 1980: 115) - herausgebildet haben. Er verweist in diesem Zusammenhang zum einen auf das Phänomen, dass sich die Sozialform des Nationalstaates seit dem 2. Weltkrieg flächendeckend ausgebreitet hat, und zum andern auf die Tatsache, dass praktisch alle Staaten ihren Regulationsbereich erweitert haben, und zwar unabhängig von ihrer Stellung in der Weltwirtschaft. 33 Wie ist diese politische Isomorphie angesichts der bestehenden ökonomischen Disparitäten und kulturellen Unterschiede zu erklären? Diese Frage bildet das Bezugsproblem der neo-institutionalistischen Weltgesellschaftstheorie, und die Antwort darauf wird in der Herausbildung einer globalen Ordnungsstruktur gesucht, die die ökonomisch induzierten Heterogenisierungstendenzen im politischen Bereich auffängt und die Meyer zu dieser Zeit noch relativ beliebig als „world system", „world society" und oder eben als „world polity" bezeichnet. 34 Da zu diesem Zeitpunkt noch keine umfangreicheren empirischen Studien vorliegen, welche die world-polity-These hätten stützen können, verläuft die Plausibilisierung im Wesentlichen über eine „reductio ad absurdum". Hätte Wallerstein recht und wäre ökonomische Konkurrenz wirklich das einzige globale Strukturprinzip, dann würde die Welt anders aussehen, als sie es tatsächlich tut: Staaten könnten sich nur in den Zentren halten, während sie in der Peripherie mit der Zeit verschwinden würden. An ihre Stelle träten multinationale Organisationen, die einen Teil des Gewaltmonopols für sich Die empirischen Belege dafür hat insbesondere BoliBennett geliefert, vgl. u.a. Boli-Bennett/Meyer 1 9 7 8 , BoliBennett 1 9 7 9 , 1 9 8 0 . 3 4 Die enge Verbindung zur Weltsystemtheorie zeigt sich auch darin, dass Meyer seinen ersten Aufsatz zur Weltgesellschaftsproblematik zusammen mit Christopher Chase-Dunn, einem Vertreter der Weltsystemtheorie, verfasst hat (Meyer et al. 1975). Der Aufsatz ist ein Hybrid: Thesen der Weltsystemtheorie werden mit Überlegungen kombiniert, die Meyer später ausarbeitet, ohne dass die beiden Positionen schon klar voneinander abgegrenzt würden. 33
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beanspruchen. Die Zentrumsgesellschaften würden zunehmend modernere Institutionen aufbauen, während die Gesellschaften der Peripherie traditionelle Strukturen beibehalten oder sogar noch weiter ausbauen würden. Da dies nicht der Fall ist, sondern gerade im politischen Bereich zunehmende Konvergenzen zu beobachten sind, kann Wallersteins These einer Dominanz der Ökonomie nicht zutreffen. Erklärbar sind diese strukturellen Isomorphien nur dann, wenn man neben der Weltwirtschaft noch eine zweite globale Ordnungsstruktur annimmt - die „world polity" - , die die ökonomisch induzierten Heterogenisierungstendenzen im politischen Bereich auffängt. Die These einer globalen Makrodetermination wird an verschiedenen Beispielen zu plausibilisieren versucht. Empirisch verfahren diese Arbeiten bereits nach der Logik, die in der Folge anhand von Zeitreihenanalysen perfektioniert wird. Man nehme einen weltweit präsenten „isomorphen" Trend, z.B. den Ausbau des Bildungssystems (Meyer et al. 1977) oder die zunehmende Regulationskompetenz des Staates (Boli-Bennett 1979), versuche diesen Trend endogen, d.h. über die Binnenstruktur der einzelnen Länder zu erklären, zeige, dass dies nicht möglich ist, und leite daraus die Folgerung ab, dass die Strukturähnlichkeiten die Existenz einer übergeordneten Wirklichkeitsebene voraussetzen, die auf alle Länder in gleichem Maße einwirkt: „The modern expansion of the university system, as with that of mass education, seems closely tied to the rise of a transnational world culture; it cannot be explained in terms of distinctive national characteristics" (Ramirez/Meyer 1980: 393). In den folgenden Jahren wird diese Annahme einer systematischen empirischen Überprüfung unterzogen bei gleichzeitiger Ausarbeitung des theoretischen Ansatzes. Abgesehen von begrifflichen Verfeinerungen und einer enormen Ausweitung des Datenmaterials ändert sich an der grundlegenden Argumentationsstruktur aber nur noch wenig. Der Begriff der „world polity" hat ähnlich wie der spätere Begriff der „world society" eine stark kulturalistische Komponente: „The world polity is a highly institutionalized system, reified in world social life. (...) (It) is held together by something of a common culture, and by a clergy that embodies this common culture and its authority" (Meyer 1980: 110,131). Die globale kulturelle Ordnung, die rund um die Werte Rationalität, Gerechtigkeit, Fortschritt und Individualismus organisiert ist, wird nicht als internalisiertes Bündel von Werten verstanden, sondern als in Institutionen objektivierte Kultur. „Modern world culture is more than a
simple set of ideals or values diffusing and operating separately in individual sentiments in each society. The power of modern culture (...) lies in the fact that it is a shared and binding set of rules exogenous to any given society, and located not only in individual or elite sentiments, but also in many world institutions (...).The United Nations, though a weak body organizationally, symbolically represents many of the rules of the modern world polity" (Meyer 1980: 117). In späteren Arbeiten avanciert diese „world culture" zu einem ähnlich (makro-)deterministischen und monokausalen Erklärungsprinzip wie Wallersteins Gesetz des ungleichen Tausches. Die von Meyer und seinen Mitarbeitern konstatierte Strukturkonvergenz - sei das nun im Bildungs- und Wissenschaftsbereich, bei der Gleichstellung, im Umweltschutz oder im Aufbau und dem Inhalt von Verfassungen - werden auf die Existenz einer Weltkultur zurückgeführt, die in internationalen Verträgen kodifiziert, in Aktionsprogrammen operationalisiert und über ein dichtes Geflecht von internationalen Regierungs- und Nicht-Regierungsorganisationen in die einzelnen Länder diffundiert wird. Interessanterweise wird die in den frühen Arbeiten noch durchaus thematisierte Ungleichheitsproblematik in der Folge sukzessiv ausgeblendet. Während der globale Zusammenhang in den ersten Aufsätzen noch als ein internationales Schichtungssystem konzipiert wird, das auf den gemeinsamen Wertkomplex der Modernisierung bezogen ist (vgl. etwa Boli-Bennett/Meyer 1978: 810, Meyer/Hannan 1979: 301), spielen Entwicklungsunterschiede in den späteren Arbeiten kaum mehr eine Rolle: Entwicklung wird auf eine endogene Variable reduziert, für die zu zeigen ist, dass sie mit der Herausbildung der Weltgesellschaft als Einflussfaktor an Bedeutung verliert (vgl. exemplarisch Ramirez et al. 1997). Diese Ausblendung der Ungleichheitsproblematik, die gleichermaßen auch in der systemtheoretischen Weltgesellschaftstheorie zu finden ist, markiert den wohl stärksten Bruch mit Wallersteins Weltsystemtheorie und generell mit den Theoriedebatten der 60er und 70er Jahre. Der neo-institutionalistische Weltgesellschaftsansatz ist in gewisser Weise eine Weiterführung der modernisierungstheoretischen Tradition. Die von ihm postulierte Weltkultur ist aus Meyers Sicht das Ergebnis einer Universalisierung westlicher Werte und Handlungsmuster. D.h. Max Webers These einer Ausbreitung formaler Rationalität in der Moderne wird auf eine globale Ebene gehoben und um jene Komponenten ergänzt, die für Parsons die Konstitutionsmerkmale der Moderne bilden (vgl.
Jens Greve und Bettina Heintz: Die „Entdeckung" der Weltgesellschaft Meyer et al. 1 9 9 7 , Meyer et al. 1987). Mit seinem Konzept der strukturellen Isomorphie schließt Meyer an die Konvergenzthesen der klassischen Modernisierungstheorie an, distanziert sich jedoch von ihnen in zweierlei Hinsicht. Zum einen werden die von ihm konstatierten Strukturähnlichkeiten nicht mehr endogen erklärt, sondern auf die Existenz einer globalen Kultur zurückgeführt, an die sich die Akteure anzupassen haben. Zum andern nimmt Meyer zum Fortschrittsglauben der Modernisierungstheorie eine ironische Haltung ein: Staaten passen sich zwar pro forma den globalen Vorgaben an, faktisch setzen sie aber keineswegs immer um, was sie auf der „Vorderbühne" symbolisch demonstrieren. Dies führt dazu, dass Strukturähnlichkeiten vor allem auf einer formalen Ebene zu finden sind, während die faktischen Unterschiede hinter der Fassade der Modernität fortbestehen (Meyer et al. 1 9 8 7 : 32). Pointiert formuliert: Es wird geplant statt ausgeführt, deklariert statt implementiert. Obschon Meyer seinen Ansatz vor allem in Abgrenzung zu Wallerstein entwickelt, ist die Erklärungslogik weitgehend dieselbe. Beide gehen davon aus, dass sich jenseits der Nationalstaaten ein eigenständiger und irreduzibler Wirklichkeitsbereich gebildet hat, der nicht bloß das Verhalten der tiefer liegenden Einheiten prägt, sondern diese als Akteure überhaupt erst konstituiert (vgl. exemplarisch Meyer/Jepperson 2 0 0 0 ) . Meyer bezeichnet seinen Ansatz in einer späteren Arbeit zwar als „Makrophänomenologie" (Meyer et al. 1 9 9 7 : 147), faktisch vertritt er aber einen radikalen (Makro-)Determinismus, der die Interpretationsleistungen der Akteure gerade nicht berücksichtigt. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht in der monokausalen Erklärungsstruktur und in der Auffassung, dass die Entstehung einer Weltgesellschaft resp. eines Weltsystems eine Entwicklung darstellt, die nicht mehr rückgängig zu machen ist. Während Peter Heintz die Konsolidierung einer Weltgesellschaft als einen Zustand begreift, der im Prinzip auch umkehrbar ist, ist die Weltgesellschaft für Meyer und für Wallerstein - und dies gilt ähnlich auch für Luhmann ein Prozess, der unaufhaltsam voranschreitet. Im Gegensatz zu Luhmann, der seine Theorie explizit als Gesellschaftstheorie versteht, bleibt der Gesellschaftsbegriff bei Meyer unbestimmt. Der Begriff der „world polity" wird zwar zusehends durch den Begriff der „world society" ersetzt (vgl. exemplarisch Meyer et al. 1997), es wird jedoch nirgends systematisch ausgeführt, worin das Gesellschaftliche an der Weltgesellschaft besteht. Weltgesellschaft wird stattdessen gleichgesetzt mit einer in globalen Insti-
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tutionen objektivierten Kultur, in der westliche Werte und Handlungsmuster zu Prinzipien avanciert sind, die heute weltweite Geltung haben - zumindest auf der Vorderbühne.
2. Weltgesellschaft als weltweites Interaktionsfeld: Die Weltgesellschaftstheorie von Peter Heintz Die Weltgesellschaftstheorie von Peter Heintz steht in einem engen Zusammenhang mit seinen entwicklungssoziologischen Arbeiten (vgl. u.a. P. Heintz 1 9 6 2 , 1 9 6 9 ) . Während Heintz in seinen frühen entwicklungssoziologischen Studien ähnliche Fragen verfolgte wie Gustavo Lagos, verschob sich mit der Zeit der Fokus von der Analyse nationaler Entwicklungswege zur Analyse des Gesamtsystems. Damit wurde die Weltgesellschaft, ähnlich wie bei Meyer und Luhmann, zum Ausgangspunkt seiner theoretischen und empirischen Arbeit. Weltgesellschaft wurde von Heintz als ein weltweites Interaktionsfeld aufgefasst, das als umfassendstes System alle denkbaren Systeme umgreift und gleichzeitig die höchste Systemebene darstellt (vgl. u.a. P. Heintz 1 9 7 6 , 1 9 8 2 a , 1982b). Ähnlich wie Morton Kaplan (vgl. 1.1.) unterschied er zwischen verschiedenen, nicht aufeinander reduzierbaren Systemebenen - Nation, Region, Familie und Persönlichkeitssystem - , die miteinander verknüpft sind und die Einheiten des umfassenden Systems darstellen. Die Weltgesellschaft ließ sich für Heintz so als ein System von konzentrisch gelagerten sozialen Systemen beschreiben. Das Modell der konzentrisch gelagerten Systeme schließt aus, die Weltgesellschaft als ein ausschließlich aus Individuen bestehendes System zu begreifen. Individuen partizipieren an der Weltgesellschaft indirekt, über ihre Mitgliedschaft an sozialen Systemen tieferer Ordnung (z.B. Nationalstaaten), die ihrerseits Einheiten des umfassendsten Systems sind. 3 5 Abgesehen von der Differenzierung der Weltgesellschaft in unterschiedliche Systemebenen unterschied Heintz drei Typen von weltweiten Systemen: das internationale Entwicklungsschichtungssystem, das intern in die genannten Systemebenen gegliedert ist, das Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass auf Weltebene direkte Mitgliedschaftsrollen institutionalisiert werden und Individuen eine globale Identität entwickeln (P. Heintz 1 9 8 2 b : 14). Beispielhaft dafür ist die gegenwärtige Diskussion um Weltbürgerrechte; vgl. u . a . Birckenbach 35
2000.
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intergouvernementale System politisch-militärischer M a c h t , dessen Haupteinheiten die nationalen Regierungen sind, und das interorganisationelle System, das sich aus (multinationalen) Organisationen zusammensetzt (vgl. u . a . P. Heintz 1 9 8 2 a : 2 7 f f . ) . Alle drei Systeme sind konstitutive Bestandteile der Weltgesellschaft, ihre relative Bedeutung ist jedoch historisch variabel. D a der Fokus seiner empirischen Arbeiten auf dem internationalen Schichtungssystem lag, gehen wir im Folgenden vor allem auf dieses e i n . 3 6 W i e angemerkt, wird Weltgesellschaft von Heintz als weltweites Interaktionssystem konzipiert. In dieser Hinsicht besteht durchaus eine Ähnlichkeit zu L u h m a n n . M i t der Definition der Weltgesellschaft als „weltweites Interaktionsfeld" (Heintz 1 9 8 2 a : 12) oder als das „umfassende Sozialsystem aller kommunikativ füreinander erreichbaren Handlungen" (Luhmann 1 9 7 5 [ 1 9 7 1 ] : 11) ist allerdings noch wenig über die Struktur der Weltgesellschaft ausgesagt. W ä h r e n d L u h m a n n den Aspekt der funktionalen Differenzierung in den Mittelpunkt rückt, steht bei Heintz die internationale Ungleichheit im Vordergrund und die Frage nach deren W a h r n e h m u n g und Deutung. In Übereinstimmung mit Autoren wie Lagos, Parsons oder N e t t l / R o b e r t son geht Heintz davon aus, dass sich seit dem 2 . Weltkrieg ein weltweites Schichtungssystem herausgebildet hat, das rund um den Wert der Modernisierung bzw. der Entwicklung organisiert i s t . 3 7 Ähnlich wie Parsons und in Abgrenzung zu den normativen Setzungen der klassischen Modernisierungstheorie betrachtet er Modernisierung als einen im Prinzip kontingenten kulturellen W e r t , der auch wieder infrage gestellt werden kann. Die weltweite
Die Weltgesellschaftstheorie ist ein Anwendungsfall einer allgemeineren Theorie, die Heintz als Theorie sozietaler Systeme bezeichnet hat; vgl. u.a. P. Heintz 1 9 7 2 : Teil 36
III. Ähnlich wie Lagos konzipiert Heintz das internationale Schichtungssystem als ein mehrdimensionales System. Die Länder nehmen auf den verschiedenen Entwicklungsdimensionen unterschiedliche Positionen ein, die zusammen ihre Statuskonfiguration ausmachen. Je nach Statuskonfiguration erfahren die Länder (und ihre Bevölkerungen) unterschiedliche strukturelle Spannungen: Rang-, Statusinkonsistenz- und Unvollständigkeitsspannungen. Die Entwicklungschancen ergeben sich aus der Gesamtstruktur der Weltgesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt und der Art und Weise, wie die aus der jeweiligen Statuskonfiguration resultierenden Spannungen verarbeitet und (um)gedeutet werden. Die daraus abgeleiteten Hypothesen wurden in quantitativen Studien und anhand von Simulationsmodellen getestet (P. Heintz 1969, 1982b). 37
Akzeptanz dieses Wertes und die damit einhergehende vergleichsweise hohe Legitimität des internationalen Schichtungssystems waren aus seiner Sicht auf die Z e i t zwischen 1 9 5 0 und 1 9 7 0 beschränkt. Seit den 7 0 e r J a h r e n zeige sich dagegen eine zunehmende Tendenz, die Legitimität des Entwicklungsschichtungssystems infrage zu stellen oder sogar das Ziel der Modernisierung generell zu relativieren. D e r Grund dafür liege vor allem darin, dass die über den Ausbau des Bildungssystems legitimierten Erwartungen auf wirtschaftliches W a c h s tum in den Entwicklungsländern enttäuscht worden und in den Industrieländern neue postmaterielle Orientierungen in den Fokus der Selbstbeschreibung gerückt seien. D e r Legitimationsverlust führe dazu, dass das internationale Schichtungssystem seine verhaltensprägende Kraft verliere mit der Folge einer wachsenden Unberechenbarkeit des H a n delns bzw. einer Relevanzverschiebung auf andere Differenzierungsdimensionen. 3 8 Heintz spricht in diesem Z u s a m m e n h a n g von einer tendenziellen „Entstrukturierung" der Weltgesellschaft, die in letzter Konsequenz auch zu einer Abkopplung einzelner Länder oder Regionen führen kann. Insofern ist die Entstehung der Weltgesellschaft für ihn ein prinzipiell reversibler Prozess (vgl. P. Heintz 1 9 7 4 : 453ff., 1982a: 75ff.). Die Weltgesellschaftstheorie von Heintz ist keine bloße Strukturtheorie, sondern zielt auf eine systematische Verknüpfung von „ S t r u k t u r " und „Sem a n t i k " der Weltgesellschaft. Es geht m.a.W. nicht bloß um die Frage der kausalen W i r k s a m k e i t weltgesellschaftlicher Strukturen, sondern ebenso, und damit verbunden, um die Wahrnehmung und D e u tung dieser Strukturen: Weltgesellschaft ist für Heintz ein objektiver Strukturzusammenhang und gleichzeitig ein (möglicher) Orientierungshorizont, der auf unterschiedliche Weise interpretiert werden kann. Die von der späteren Globalisierungsdiskussion in den M i t t e l p u n k t gerückte Frage der Wahrnehmung der einen, gemeinsamen Welt (vgl. u . a . Friedman 1 9 9 4 ) wird von Heintz vorweggenommen und systematisch mit der spezifischen Struktur der Weltgesellschaft und deren Wandel verknüpft. Als umfassendstes System bildet die Weltgesellschaft zwar eine allen Individuen gemeinsame soziale Umwelt, faktisch orientieren sie sich aber in der Regel an jenen Systemen, an denen sie unmittelbar partizipieren und nehmen die Existenz einer
Die gegenwärtige Dominanz kulturell-religiöser Deutungsmuster wäre dafür ein Beispiel ebenso wie die „postmoderne" Kritik am Entwicklungsparadigma; vgl. u.a. Escobar 1 9 9 5 . 38
Jens Greve und Bettina Heintz: Die „Entdeckung" der Weltgesellschaft Weltgesellschaft nicht oder nur a m R a n d e
wahr
(vgl. u . a . P. Heintz et al. 1 9 7 8 ) . 3 9 Aus dieser Doppelkonstruktion von Weltgesellschaft - Weltgesellschaft als objektiver Strukturzusammenhang und Weltgesellschaft als Orientierungshorizont - leitet Heintz eine Reihe von Hypothesen über den Z u s a m m e n h a n g zwischen struktureller Position und Reichweite des Orientierungshorizontes ab. Was Parsons in seinem Aufsatz „Polarization o f the World and International Ord e r " (Parsons 1 9 6 7 ) nur angedeutet hatte, dass nämlich die eigene soziale Situation je nach Entwicklungsgrad des Landes unterschiedlich interpretiert werden kann und entsprechend entweder die Identifikation mit der Klasse oder mit der eigenen N a t i o n im Vordergrund steht (vgl. 1.1.), wird von Heintz systematisch ausgebaut und mit Hypothesen über den Z u s a m m e n h a n g zwischen strukturellen Spannungen und Deutungen der Welt verbunden: „We assume that the relevance o f different system levels is interrelated and may change by the transfer o f tensions and problem-solving activities from one level to the other. In particular, but not exclusively, transfers from a higher to a lower level are envisag e d " (P. Heintz 1 9 8 2 b : 16). So werden z . B . die sow o h l a m oberen als auch a m unteren Ende des internationalen Schichtungssystems b e o b a c h t b a r e n Tendenzen zur Abschließung gegen außen - z. B. in F o r m eines ausgeprägten Nationalismus oder einer radikalen Politik der „self-reliance" - als ein Spannungstransfer interpretiert, durch den die im Prinzip extern verursachten Probleme nicht als solche w a h r g e n o m m e n , sondern ausschließlich in einem internen R a h m e n gedeutet werden. W ä h r e n d eine solche „Internalisierung" im Falle der hoch entwickelten Länder eine R e a k t i o n auf deren mangelnde Legitimität im internationalen Schichtungssystem ist, ist sie im Falle der armen Länder eine Folge blockierter Entwicklungsmöglichkeiten (vgl. P. Heintz 1 9 8 2 a : 6 6 f f . ) . Z u ähnlichen Relevanzverschiebungen und Spannungstranfers kann es auch in Bezug auf die verschiedenen Systemtypen k o m men, indem z. B. das internationale Schichtungssystem zugunsten eines (subjektiven) Bedeutungszuwachses des politisch-militärischen Systems an Relevanz verliert (oder umgekehrt). Beides, sowohl
die Internalisierung von Spannungen als auch die Relevanzverschiebung auf das politisch-militärische System, wird, so Heintz, durch die genannte Entstrukturierung der Weltgesellschaft v e r s t ä r k t . 4 0 In unserem Z u s a m m e n h a n g entscheidend ist, dass die Erklärung dieser P h ä n o m e n e für Heintz i m m e r von außen nach innen resp. von oben nach unten verläuft. So disparate Phänomene wie die segmentäre Differenzierung der Welt in N a t i o n a l s t a a t e n , die zunehmende Technik- und Wissenschaftskritik in den Industrieländern, die Reruralisierungspolitik des Pol-Pot-Regimes, die Revitalisierung indigener Kulturen, der Wandel der offiziellen U N - E n t w i c k lungsindikatoren, die Solidarnosc-Bewegung in Polen, der Bedeutungsverlust der U N O zugunsten weltregionaler Gipfeltreffen, der K a m p f der J u r a s sier für einen eigenen K a n t o n - dies alles wird nicht über die Bedingungen in den einzelnen Ländern erklärt, sondern auf die spezifische und historisch kontingente Struktur der Weltgesellschaft zurückgeführt. „Tatsächlich können wir unter einem m a krosoziologischen Gesichtspunkt feststellen, dass Interaktionsfelder (gemeint sind N a t i o n a l s t a a t e n , Organisationen etc.; A n m . von uns), die nicht die Weltgesellschaft umfassen, ausdifferenziert und in unterschiedlichem M a ß e nach außen abgegrenzt sind. ( . . . ) J e d o c h kann man sich fragen, o b die Existenz solcher Interaktionsfelder ausschließlich durch Prozesse erklärt werden kann, die von innen nach außen verlaufen, d. h. durch F a k t o r e n , die beinhalten, dass für die Abgrenzung der Felder fast ausschließlich deren Mitglieder verantwortlich sind. Es ist nämlich durchaus sinnvoll, die Abgrenzung solcher Interaktionsfelder auch als eine Funktion der weiteren U m w e l t zu sehen. M a n kann also auch versuchen, die Differenzierung der Weltgesellschaft in solche Interaktionsfelder aus der Existenz dieser Gesellschaft selbst zu e r k l ä r e n " (P. Heintz 1 9 8 2 a : 9). Heintz teilt zwar die t o p - d o w n - E r k l ä rungslogik der anderen Weltgesellschaftstheorien, im Gegensatz zu M e y e r s makrodeterministischem Universum wird aber der Ebene der Deutungen ein sehr viel größeres G e w i c h t beigemessen und der in-
Ähnlich könnte man auch den von uns beschriebenen Wandel der soziologischen Modelle weltgesellschaftstheoretisch erklären. So lässt sich z . B . die Tatsache, dass die internationale Ungleichheitsproblematik in den soziologischen Weltgesellschaftstheorien seit den 80er Jahren kaum mehr thematisiert wird, kaum als wissenschaftlicher Fortschritt interpretieren, eher ist zu vermuten, dass diese Entwicklung (unreflektierter) Ausdruck genau jenes Wandels ist, den Heintz als „Entstrukturierung" der Weltgesellschaft beschrieben hat. 40
Eine solche „Nahsicht" kennzeichne auch die meisten Soziologen, die sich vornehmlich mit ihrer eigenen Gesellschaft beschäftigen und dabei übersehen, dass die Weltgesellschaft der einzige Forschungsgegenstand ist, der ihnen allen gemeinsam ist. Die Beschäftigung mit der Weltgesellschaft könnte deshalb, so Heintz, dazu beitragen, den „Provinzialismus" der gegenwärtigen Soziologie zu überwinden (P. Heintz 1 9 8 2 a : 10). 39
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ternen Differenzierung der Weltgesellschaft stärker Rechnung getragen. Zusammenfassend schließt Heintz in verschiedener Hinsicht an die von uns skizzierten Theoriedebatten der 50er und 60er Jahre an. Seine Weltgesellschaftstheorie hat deutlich systemtheoretische Anklänge und entstand in Auseinandersetzung sowohl mit der damaligen Systemtheorie wie auch mit der Dependenzschule und Wallersteins Weltsystemtheorie. „Der hier vertretene Ansatz der Weltgesellschaft unterscheidet sich von andern Ansätzen, so vom Dependenzansatz, der die externe Abhängigkeit von der Weltwirtschaft hypostasiert, und von der Modernisierungstheorie, der die Annahme nationaler Unabhängigkeit zugrunde liegt. In dem hier vertretenen Ansatz werden beide Fragen miteinander kombiniert, d. h. Dependenz bzw. nationale Unabhängigkeit wird als Variable eingeführt" (P. Heintz/Hischier 1983: 103). Neu ist insbesondere der konsequente Wechsel von der nationalen Ebene auf die Ebene der Weltgesellschaft, die für Heintz einen eigenständigen Untersuchungsgegenstand darstellt und den Bezugsrahmen für die Erklärung von Prozessen auf tiefer liegenden Systemebenen bildet. Im Gegensatz zu Parsons wird (Welt-)Gesellschaft nicht über gemeinsame Normen und Werte, sondern als Netz von Interaktionen gefasst: „Gesellschaft stellt ein zusammenhängendes Interaktionsfeld dar, in das jedermann direkt oder indirekt involviert ist. . . . (Da es) heute kaum mehr isolierte Gruppen von Menschen geben (dürfte), die tatsächlich außerhalb der Weltgesellschaft leben (...) kann man mit Fug und Recht von einer Weltgesellschaft sprechen" (P. Heintz 1982a: 7f.). Obschon sein Interaktionsbegriff sehr viel weniger elaboriert ist als der Kommunikationsbegriff von Luhmann, teilt Heintz mit Luhmann die Annahme, dass Kommunikation eine Basiseinheit der Soziologie ist und Weltgesellschaft als das umfassendste System aller füreinander erreichbaren Kommunikationen definiert werden muss.
3. Weltgesellschaftals Einheit aller füreinander erreichbaren Kommunikationen: Die Weltgesellschaftstheorie von Niklas Luhmann Niklas Luhmanns Weltgesellschaftstheorie ist ein Ergebnis seiner theoretischen Auseinandersetzung mit dem Gesellschaftsbegriff (Luhmann 1975 [1971], 1974 [1970], 1 9 7 5 , 1 9 8 2 , 1980: 333ff.). Im Unterschied zu Meyer und Heintz, die in gewisser
Weise induktiv, d. h. über eine Generalisierung empirischer Beobachtungen zu ihrem Weltgesellschaftsmodell gelangten, ist Luhmanns Vorgehensweise eher deduktiv. Dies hat zur Folge, dass seine Weltgesellschaftstheorie empirisch wenig konturiert, dafür aber theoretisch komplexer ist, vor allem was ihren gesellschaftstheoretischen Kern anbelangt. 4 1 In Abgrenzung zur soziologischen Tradition, die Gesellschaft über Staatlichkeit, territoriale Grenzen und gemeinsame Werte und N o r m e n definiert, fasst Luhmann den Gesellschaftsbegriff abstrakter. Gesellschaft ist für ihn das umfassende System aller füreinander erreichbaren Kommunikationen (Luhmann 1975 [1971]: 11, vgl. auch Luhmann 1997: 171). Als umfassendstes soziales System ist Gesellschaft für alle anderen sozialen Systeme Umwelt: „ihre Struktur regelt letzte, grundlegende Reduktionen, an die andere Sozialsysteme anknüpfen können" (Luhmann 1980: 133). Damit ist im Prinzip noch keine Aussage über die Reichweite von Gesellschaft getroffen. Es ist auch vorstellbar (und historisch realisiert), dass verschiedene voneinander isolierte Gesellschaften existieren, die für ihre je eigenen sozialen Systeme als umfassendstes System fungieren. Inwieweit Gesellschaft Weltgesellschaft ist und es damit nur noch eine Gesellschaft gibt, ist folglich eine empirische Frage. „Wir beginnen daher (...) mit der Frage, ob und in welchen Hinsichten sich weltweite Interaktion schon konsolidiert h a t " (Luhmann 1975 [1971]: 53). In der Folge weist Luhmann, ganz im Sinne der frühen Transnationalisierungsdebatte (vgl. Anm. 2), auf die Zunahme von Interaktionen hin, die nicht an Landesgrenzen enden: „Ein Argentinier mag eine Abessinierin heiraten, wenn er sie liebt; ein Seeländer in Neuseeland Kredit aufnehmen, wenn dies wirtschaftlich rational ist, ein Berliner sich auf den Bahamas bräunen, wenn ihm dies ein Gefühl der Erholung vermittelt" (Luhmann 1975 [1971]: 53). Sofern also Interaktionen nach funktionalen Gesichtspunkten realisiert werden, haben sie potentiell weltweiten Charakter. Damit ist freilich nicht ge-
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Wichtige Autoren der beiden Vorläuferdiskussionen werden von Luhmann zwar erwähnt, z.B. Niemeyer, Moore, Carlston und Nettl/Robertson, aber vor allem als Beispiele für eine Gesellschaftskonzeption, gegen die er sich abgrenzt. Dass es Luhmann vor allem um den Gesellschaftsbegriff gegangen ist und weniger um eine Analyse der gegenwärtigen Realität der Weltgesellschaft, zeigt sich auch darin, dass er sich in seinen frühen weltgesellschaftstheoretischen Arbeiten nur auf Parsons' Gesellschaftsbegriff, nicht aber auf dessen Arbeiten zum internationalen System bezieht.
Jens Greve und Bettina Heirtz: Die „Entdeckung" der Weltgesellschaft meint, dass nun alle mit allen weltweit interagieren und möglichst über große Distanzen hinweg, sondern dass Interaktionen potentiell auf andere verweisen und sie „in die Interaktionssteuerung einbeziehen" (Luhmann 1 9 7 5 [ 1 9 7 1 ] : 5 4 , vgl. dazu auch Stichweh 2 0 0 0 : 2 5 6 f f . ) . I m Z u g e der Herausbildung „weltweit orientierter K o m m u n i k a t i o n " (Luhmann 1 9 7 5 [ 1 9 7 1 ] : 5 7 ) gibt es folglich nur noch eine Gesellschaft: die Weltgesellschaft. 4 2 Weltgesellschaft ist das singulare soziale System, das keine soziale Umwelt hat - alles Soziale findet innerh a l b der Weltgesellschaft statt. In dieser allgemeinen Bestimmung von (Welt)Gesellschaft bestehen zwischen Heintz und L u h m a n n noch gewisse Parallelen. Die Unterschiede liegen in der weiteren Ausführung des Weltgesellschaftsbegriffs. W ä h r e n d Heintz den Aspekt der Ungleichheit in den M i t t e l p u n k t rückt, entwickelt L u h m a n n seine Weltgesellschaftstheorie aus einer differenzierungstheoretischen Perspektive. Im Gegensatz zur Modernisierungstheorie und ähnlich wie Parsons versteht L u h m a n n den Prozess sozialer Evolution allgemeiner, nämlich als Prozess der Durchsetzung funktionaler Differenzierung. Im Unterschied zu Parsons verschiebt er aber die Referenz des Gesellschaftsbegriffs hin zur Weltgesellschaft: „ T h e inclusion o f all c o m m u n i c a t i v e behavior into one societal system is the unavoidable consequence of functional differentiation" (Luhmann 1 9 8 2 : 2 9 8 ) . Die Herausbildung der Weltgesellschaft und die Durchsetzung funktionaler Differenzierung sind m.a.W. „ein und derselbe V o r g a n g " (Stichweh 2 0 0 4 : 190). M i t dem Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung ändert sich der Selektionshorizont von K o m m u n i k a t i o n . Es sind nicht mehr Kriterien wie Stand oder N a t i o n , an denen sich die K o m m u n i k a t i o n orientiert, sondern die für die jeweiligen Funktionssysteme spezifischen Codierungen. Ein mathematischer Beweis wird nicht deswegen akzeptiert, weil es sich bei der Autorin um eine Schweizerin handelt, und die Herkunft aus einer aristokratischen Familie ist für die Schiedsrichter eines Fußballspiels nicht entscheidungsrelevant. D . h . W i r t s c h a f t , Wissenschaft, R e c h t oder Sport orientieren sich an den ihnen eigenen Funktionen, und dies ohne Rücksicht auf territoriale G r e n z e n . 4 3
Luhmann führt komplementär zum (Welt)Gesellschaftsbegriff noch einen phänomenologisch inspirierten Weltbegriff ein. Wir können darauf nicht näher eingehen, vgl. aber ausführlicher Luhmann ( 1 9 7 5 [ 1 9 7 1 ] : 64ff., 1 9 9 7 : 145ff.); sowie Stichweh ( 2 0 0 0 : 237ff.). 4 3 Ansatzweise wird die Vorstellung, dass der funktionalen 42
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Gleichzeitig bedeutet funktionale Differenzierung, dass die jeweiligen Perspektiven der einzelnen Funktionssysteme nicht ineinander übersetzbar sind: übergreifende gemeinsame Werte und N o r men sind damit ausgeschlossen. „Die einzelnen Teilsysteme fordern jeweils andere Grenzen nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Gesellschaft. M a n kann nicht mehr einfach unterstellen, dass die Gesellschaftsgrenzen zwischen zugehörigen und nichtzugehörigen M i t m e n s c h e n identisch bleiben, wenn m a n von politischer Aktivität zu wissenschaftlicher Korrespondenz, zu wirtschaftlichen T r a n s a k t i o n e n , zur Anknüpfung einer Liebesbeziehung übergeht. Solches Handeln setzt jeweils andere Abschattungen relevanten Handelns voraus, die insgesamt nicht mehr durch einheitliche territoriale Grenzen auf dem Erdball symbolisiert werden k ö n nen. D a m i t ist die Einheit einer alle Funktionen umfassenden Gesellschaft nur noch in F o r m der Weltgesellschaft m ö g l i c h " (Luhmann 1 9 7 5 [1971]: 60).44 O b s c h o n L u h m a n n den Primat der funktionalen Differenzierung betont, schließt er nicht aus, dass sich in der m o d e r n e n , funktional differenzierten (Welt)gesellschaft noch andere Differenzierungsformen finden. Diese haben jedoch nur den Status einer sekundären Differenzierung (vgl. L u h m a n n 1 9 9 7 : 1 6 7 , 8 1 0 f f . ) . Ähnlich wie M e y e r und Heintz begreift L u h m a n n die segmentäre Differenzierung des Funktionssystems Politik in Territorial- bzw. Nationalstaaten als Zweitdifferenzierung, d . h . als Folge der Entstehung einer Weltgesellschaft und der funktionalen Ausdifferenzierung eines weltpolitischen Systems (vgl. bereits L u h m a n n 1 9 7 5 [ 1 9 7 1 ] : 6 0 ; ausführlich 2 0 0 0 : 2 2 0 f f . ) . O h n e eine solche segmentäre Differenzierung, die eine gewisse H a n d Differenzierung eine Dynamik inhärent ist, die nationale Grenzen transzendiert, bereits von Parsons angesprochen, ohne dass er daraus jedoch Konsequenzen für den Gesellschaftsbegriff zieht; vgl. Parsons 1 9 6 9 b : 2 9 8 f f . 4 4 Schwinn ( 1 9 9 5 ) stellt die Frage, ob sich unter dieser Voraussetzung Gesellschaft noch als Einheit denken lässt. Luhmann sieht für die Beibehaltung eines einheitlichen Gesellschaftsbegriffs drei Gründe. Zunächst setze die Idee der Differenzierung notwendig eine Einheit voraus, die sich differenzieren kann. Gesellschaft ist das „Substrat" von Evolution und Differenzierung; vgl. Luhmann ( 1 9 7 5 [1971]: 61). Zudem seien erst von einem Gesellschaftsganzen aus die Beiträge der einzelnen Funktionssysteme für das Ganze identifizierbar; vgl. Luhmann ( 1 9 7 5 [ 1 9 7 1 ] : 6 0 , 1 9 7 4 [ 1 9 7 0 ] : 145); schließlich stelle die Gesellschaft durch ihre komplexitätsreduzierende Leistung die Voraussetzung für die Bildung anderer Systeme dar, indem sie „den Horizont des Möglichen und Erwartbaren definiert" (Luhmann 1 9 7 4 [ 1 9 7 0 ] : 145).
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lungsfreiheit und dezentrale Problemlösungen sichert, bestünde die Gefahr, dass die anderen Funktionssysteme „politisiert" würden (Luhmann 2000: 222ff.). D.h. im Gegensatz zu reduktionistischen Theorien wird die Entstehung einer weltgesellschaftlichen Ordnungsebene nicht auf die Nationalstaaten zurückgeführt, sondern diese werden umgekehrt als Produkt der Weltgesellschaft aufgefasst. In diesem Punkt stimmen alle drei Autoren überein. Von Wallersteins Weltsystemtheorie unterscheidet sich die systemtheoretische Weltgesellschaftstheorie in mehrfacher Hinsicht. Zum einen widerspricht die Vorstellung einer Gleichwertigkeit der Funktionssysteme Wallersteins These einer Vorherrschaft der Ökonomie (vgl. Luhmann 1974 [1970]: 142f., 1997: 170f.). Zudem steht die Annahme eines Primats funktionaler Differenzierung im Gegensatz zur Zentrum/Peripherie-Unterscheidung. Und schließlich besteht ein weiterer Unterschied darin, dass die Frage der internationalen Ungleichheit bei Luhmann keine zentrale Rolle spielt. Der Grund dafür ist seine differenzierungstheoretische Orientierung. Obschon Luhmann die internationale Ungleichheit durchaus konstatiert und deren weltweite Thematisierung, ähnlich wie Parsons und Heintz, auf die Etablierung des Modernisierungswertes als gemeinsame Referenzgröße zurückführt, betrachtet er sie als ein zweitrangiges Problem. Im Gegensatz zu Phänomenen wie „BevölkerungsVermehrung, Aufblähung von Anspruchsniveaus, Entwicklung von Zerstörungstechniken", die sich unmittelbar aus dem Prinzip der funktionalen Differenzierung ergeben, ist Ungleichheit für ihn keine direkte Folge dieses Differenzierungsprinzips. Sie lässt sich entsprechend als ein „historisch bedingter Zufall" begreifen, d. h. als ein Problem, das im Prinzip lösbar ist, im Gegensatz zu den direkten Folgeproblemen funktionaler Differenzierung, die sich nur über einen Wechsel der primären Differenzierungsform beseitigen ließen (Luhmann 1980: 336). Während Luhmann 1980 noch explizit zwischen der Ungleichheitsproblematik und den Folgeproblemen funktionaler Differenzierung unterschieden hatte, versucht er später über das Begriffspaar Inklusion und Exklusion Ungleichheit und funktionale Differenzierung zu verbinden und auf den weltgesellschaftlichen Zusammenhang zu übertragen (Luhmann 1995a, 1995b). 45 Die Beobachtung, dass 45
Die Unterscheidung zwischen Inklusion u n d Exklusion fällt mit d e m Konzept sozialer Schichtung schon deswegen nicht vollständig zusammen, da diese im Gegensatz zur Unterscheidung von Inklusion u n d Exklusion in der Regel
es Gebiete gibt, in denen Teile der Bevölkerung von praktisch allen Funktionssystemen ausgeschlossen sind, ließ ihn vermuten, dass funktionale Differenzierung in bestimmten Regionen der Welt durch die „Meta-Differenz" Inklusion/Exklusion abgelöst werden kann (Luhmann 1997: 632ff., vgl. auch Luhmann 1995a). Diese Vermutung hat jedoch weitreichende Implikationen. Unterstellt man, dass sich die Weltregionen in ihrer Differenzierungsform unterscheiden, lässt sich die Vorstellung einer primär funktionalen Differenzierung der Weltgesellschaft nicht mehr aufrechterhalten. Gleichzeitig wird damit auch die Globalitätsannahme problematisch. Denn wenn neben die Differenzierung in Funktionssysteme eine Differenzierung entlang von Inklusion und Exklusion tritt, lässt sich der globale Charakter funktionaler Differenzierung streng genommen nicht mehr behaupten (vgl. dazu Stichweh 2002, Greve 2004). Luhmann führt den Weltgesellschaftsbegriff allerdings nicht nur über die Differenzierungstheorie ein, auch wenn diese seinen Hauptbezugspunkt bildet, sondern zusätzlich über die Unterscheidung zwischen drei Systemebenen: Interaktion, Organisation und (Welt)Gesellschaft (Luhmann 1975). Aus dieser Perspektive ist Weltgesellschaft, ähnlich wie bei Heintz, das umfassendste System und gleichzeitig die höchste Systemebene: „Gesellschaft ist das umfassende Sozialsystem aller kommunikativ füreinander erreichbaren Handlungen. In der heutigen Zeit ist Gesellschaft Weltgesellschaft. (...) Gesellschaft ist danach nicht einfach die Summe aller Interaktionen, sondern ein System höherer Ordnung" (Luhmann 1975: 11). Aus Luhmanns Sicht bilden die drei Systemebenen je eigene Ordnungen, die im historischen Verlauf zunehmend auseinander treten. Während Gesellschaft und Interaktion in archaischen Gesellschaften weitgehend zusammenfielen und die Sozialform der Organisation noch nicht ausgebildet war, ist es erst im Verlauf der soziokulturellen Evolution zu einer Differenzierung von Interaktion und Gesellschaft und damit zur Emergenz von Gesellschaft als höchster Systemebene gekommen. Obschon die drei Ebenen in einem hierarchischen Verhältnis stehen, schließen sie sich gegenseitig nicht aus, vielmehr können die tiefer liegenden Systeme auch in den jeweils höheren Systemen enthalten sein (vgl. zur Unterscheidung von inklusiven und exklusiven Hierarchien Stichweh 1991). Auch in Organisationen wird interagiert, und Organisanicht binär codiert, sondern als gradualistisches Konzept verstanden wird. Vgl. d a z u u . a . Schwinn (2000).
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tionen und Interaktionen sind Teil der Gesellschaft, d.h. alles, was auf den beiden tieferen Systemebenen geschieht, findet immer auch in der Gesellschaft statt. Inklusivität impliziert jedoch nicht Reduzibilität: Organisationen lassen sich nicht auf Interaktionen reduzieren, und Gesellschaft ist mehr als die „Summe" der Interaktionen und Organisationen. Dies schließt sowohl eine ausschließlich interaktionstheoretische als auch eine primär organisationssoziologische Erklärung weltgesellschaftlicher Phänomene aus: Weltgesellschaftstheorie ist (vorwiegend) als Gesellschaftstheorie zu betreiben. Als höchste Systemebene besitzt die (Welt)Gesellschaft für Luhmann ein Erklärungsprimat: „Bei einem solchen Aufbau sind die jeweils umfassenderen Systeme für die eingeordneten Systeme in doppelter Weise relevant: Sie geben ihnen bestimmte strukturelle Prämissen vor, auf Grund deren ein selbstselektiver Prozess anlaufen kann und in seinen Möglichkeiten begrenzt wird" (Luhmann 1975: 19). In diesem Sinn geht Luhmann ähnlich wie Heintz und Meyer von der makrotheoretischen Auffassung aus, dass sämtliche Ereignisse und Prozesse weltgesellschaftsinterne Phänomene sind, deren Form und Verlauf durch die Strukturen der Weltgesellschaft geprägt werden. Oder wie es Rudolf Stichweh formuliert: „Zunächst aber sind beobachtbare Unterschiede als strukturelle Effekte der Weltgesellschaft selbst zu analysieren." (Stichweh 2000: 13)
4. Zwischenfazit: Die gemeinsamen Annahmen der Weltgesellschaftstheorien Alle drei Weltgesellschaftstheorien zeichnen sich trotz ihrer Unterschiede durch eine Reihe von Gemeinsamkeiten aus, die zusammengenommen ihre Besonderheit und ihre Differenz zu den Vorläuferdebatten ausmachen. 1. Allen drei Weltgesellschaftstheorien gemeinsam ist die Vorstellung, dass im Laufe der historischen Entwicklung ein globaler Zusammenhang entstanden ist, der als umfassendstes System die Randbedingungen für alle anderen sozialen Einheiten und Prozesse vorgibt. 46
In Bezug auf die historische Datierung bestehen allerdings Unterschiede. Während Meyer und Heintz den Zeitpunkt auf die 2. Hälfte des 2 0 . Jahrhunderts verlegen, entsteht Weltgesellschaft für Luhmann, ähnlich wie für Wallerstein, im 16. Jahrhundert als Folge der Vollentdeckung des Erdballs; vgl. Luhmann 1 9 9 7 : 148ff., Stichweh 2 0 0 0 : 2 4 5 f f . 46
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2. Dieser globale Zusammenhang bildet eine neue und eigenständige Form der Sozialorganisation. Damit erschließt sich die Soziologie ein grundlegend neues Untersuchungsobjekt: Die Weltgesellschaft ist mehr und etwas anderes als die Summe der Nationalstaaten und deren Beziehungen. Alle Ereignisse, wie „lokal" sie auch immer erscheinen mögen, sind von nun an auf dieses umfassende System zu beziehen. Gesellschaftstheorie wird damit, so Luhmann, zur Theorie der Weltgesellschaft (Luhmann 1975 [1971]: 61). 3. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass die Weltgesellschaft eigenständige und irreduzible Strukturmerkmale aufweist. Metatheoretisch gesehen handelt es sich um eine „starke" Emergenzthese, die sich explizit von reduktionistischen Ansätzen abgrenzt (vgl. Anm. 1). D.h. es wird nicht bloß postuliert, dass sich neue weltgesellschaftliche Strukturformen herausbildet haben, sondern es wird zusätzlich behauptet, dass diese neuen Strukturformen als globale „soziale Tatsachen" eine Eigendynamik aufweisen, die nicht auf die Prozesse tieferer Systemebenen zurückführbar sind. Der Analysefokus liegt im Gegensatz zu den Modernisierungstheorien auf der Ebene der Weltgesellschaft und nicht mehr auf der Ebene der Nationalstaaten. 4. Dementsprechend ist die theoretische Ausrichtung strikt makrosoziologisch. Weltgesellschaftstheorien behaupten m.a.W. nicht bloß eine Irreduzibilität globaler Strukturen, sondern sie unterstellen zusätzlich „Makrodetermination": Alles, was in der Welt stattfindet, ist als Folge dieser Welt zu begreifen. Oder wie es Peter Heintz formulierte: „Die Differenzierung der Weltgesellschaft in Interaktionsfelder (ist) aus der Existenz dieser Gesellschaft selbst zu erklären" (P. Heintz 1982a: 9). Bei Meyer äußert sich die Annahme einer downward causation in der Auffassung, dass es die weltkulturellen Vorgaben sind, die die institutionellen Strukturen von Nationalstaaten und Organisationen und die Selbstdefinitionen der Subjekte prägen, bei Luhmann im Gedanken, dass die (Welt)Gesellschaft für alle anderen sozialen Systeme eine gemeinsame soziale Umwelt darstellt und für die weiteren Systembildungsprozesse die strukturellen Randbedingungen vorgibt. 5. Eine weitere Gemeinsamkeit liegt in der Übertragung des Gesellschaftsbegriffs auf globale Zusammenhänge. Mit der Entscheidung, Welt als Wehgesellschaft zu begreifen, nehmen Weltgesellschaftstheorien die gesamte Sozialwelt in den Blick und grenzen sich damit von Theorien ab, die die These einer emergenten Sozialordnung nur auf ein Funktionssystem beziehen - auf die Wirtschaft im Falle der Weltsystemtheorie, auf die Politik im Falle
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der Theorien des internationalen Systems. Während Luhmann einen abstrakten und differenzierten Gesellschaftsbegriff entwickelt und diesen dann auf den globalen Zusammenhang überträgt, findet sich bei Heintz und erst recht bei Meyer keine explizite gesellschaftstheoretische Begründung für die Verwendung des Gesellschaftsbegriffs. So gesehen verfügt nur die Systemtheorie über eine Weltgesellschaftstheorie im strengen Sinne. Mit den genannten fünf Annahmen unterscheiden sich Weltgesellschaftstheorien in verschiedener Hinsicht von der Globalisierungsforschung. Die Globalisierungsforschung beruht nicht auf einer übergeordneten theoretischen Perspektive, sondern bildet eher ein heterogenes Gefüge von Teilhypothesen, die bislang nicht zu einer integralen Theorie verbunden sind. 47 Trotz der Heterogenität der Konzepte und Standpunkte lassen sich drei Annahmen ausmachen, die sie von der Weltgesellschaftstheorie unterscheiden. Erstens wird der globale Zusammenhang nicht als eine (gesellschaftliche) Einheit verstanden oder höchstens im kulturellen Sinne eines zunehmenden Bewusstseins einer gemeinsamen „Welt" (vgl. Archer 1991: 133, Robertson 1992: 13). Zweitens argumentiert die Globalisierungsforschung in der Regel von „innen" nach „außen", d.h. der Ausgangspunkt sind lokale Zusammenhänge. Globalisierung wird entsprechend als Prozess der „Entgrenzung", d.h. der Auflösung lokaler (z.B. nationaler) Grenzen interpretiert. Exemplarisch für diese Argumentation ist Anthony Giddens' Begriff der „Entbettung" im Sinne „eines ,Heraushebens' sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen und ihre unbegrenzte Raum-Zeit-Spannen übergreifende Umstrukturierung" (Giddens 1995: 33). Im Zusammenhang damit steht drittens, dass Globalisierung häufig mit Homogenisierung gleichgesetzt und gleichzeitig darauf verwiesen wird, dass dieser Homogenisierungsprozess durch das Weiterbestehen von kulturellen Differenzen und lokalen Orientierungen konterkariert resp. transformiert wird (vgl. dazu kritisch Wimmer 2001). Während die neo-institu-
Innerhalb der Globalisierungsdiskussion lassen sich grob zwei Hauptdebatten unterscheiden. Zum einen die vor allem in den Politikwissenschaften geführte Diskussion zur Frage, inwieweit der (ökonomische) Globalisierungsprozess zu einem Bedeutungsverlust oder sogar zu einem Verschwinden des Nationalstaates führt. Zum andern die eher in der Soziologie und in den Kulturwissenschaften thematisierte Frage nach dem Zusammenhang zwischen Globalisierung und Lokalität resp. zwischen Homogenisierung und kultureller Differenz; vgl. als Überblick Therborn 2 0 0 0 , Guillen 2 0 0 1 , Dürrschmidt 2 0 0 2 . 47
tionalistische Weltgesellschaftstheorie mit ihrer These einer zunehmenden „Isomorphie" zumindest auf der Ebene der Formalstrukturen einen ähnlichen Homogenisierungstrend behauptet, steht kulturelle Diversität für die Systemtheorie nicht im Gegensatz zu Globalisierung, sondern bildet gerade umgekehrt ein konstitutives Moment von Globalität. 4 8 Indem Funktionssysteme einen weltweiten Kommunikations- und Beobachtungszusammenhang etablieren, schaffen sie einen Vergleichshorizont, vor dessen Hintergrund Singuläres überhaupt erst als Differenz wahrgenommen und kommuniziert werden kann (vgl. Stichweh 2004 sowie Werron in diesem Band). Ein entscheidender Unterschied zwischen Globalisierungs- und Weltgesellschaftstheorie besteht vor allem darin, dass Weltgesellschaftstheorien nicht bei der Beobachtung einer zunehmend vernetzten Welt stehen bleiben, sondern zusätzlich annehmen, dass sich innerhalb dieses globalen Kommunikationsraumes eine neue, emergente Systemebene herausgebildet hat. Der Begriff der „Weltgesellschaft" erhält damit eine doppelte Bedeutung (vgl. ähnlich auch Schwinn in diesem Band). Zunächst meint er - und in dieser ersten Bedeutung besteht weitgehende Übereinstimmung mit der Globalisierungsthese dass ein weltumspannender Kommunikationszusammenhang entstanden ist, der nationale Grenzen transzendiert. Der Begriff „Weltgesellschaft" beschränkt sich aber nicht auf die Feststellung, dass sich gewissermaßen in der „Horizontalen" ein umfassendes Sozialsystem herausgebildet hat, sondern meint gleichzeitig, dass innerhalb dieses weltweiten Kommunikationszusammenhanges übergeordnete Strukturen entstanden sind, die gewissermaßen in der Vertikalen auf die Ereignisse und Prozesse der unteren Systemebenen einwirken. Darauf weist jedenfalls der in allen drei Theorien präsente Begriff der „höchsten System ebene"' hin. Die drei Weltgesellschaftstheorien unterscheiden sich allerdings darin, welche Bedeutungsvariante sie akzentuieren. Während bei Meyer die Vorstellung von Weltgesellschaft als einem alles Soziale umfassenden System kaum zu finden ist und er stattdessen mit seinem Begriff der „world polity" bzw. der „world cultuDies gilt in gewissem Sinne auch für Roland Robertson, der mit seinem breit rezipierten Begriff der „Globalisierung" versucht, die in der Globalisierungsforschung verbreitete Entgegensetzung von Globalität und Lokalität resp. Homogenisierung und kultureller Differenz zu überwinden (Robertson 1994). Aus seiner Sicht ist Globalisierung durch zwei interdependente Prozesse charakterisiert, die er als „universalization of particularism" und „particularization of universalism" bezeichnet (Robertson 1992: 100). 48
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re" die Emergenz einer übergeordneten globalen Ebene betont, steht für die Systemtheorie die Herausbildung globaler und funktional differenzierter Kommunikationszusammenhänge im Vordergrund (vgl. exemplarisch Mersch sowie Werron in diesem Band). Bei Heintz sind beide Bedeutungsvarianten gleichermaßen präsent, sie werden jedoch nicht systematisch auseinandergehalten. Abgesehen von diesen unterschiedlichen Akzentsetzungen vertreten jedoch alle drei Theorien die Auffassung, dass soziale Phänomene aus der Existenz der Weltgesellschaft zu erklären sind, und formulieren damit einen sehr viel umfassenderen Erklärungsanspruch als die Globalisierungsforschung (vgl. auch Stichweh 2000: 14).
III. Ausblick: Die Unwahrscheinlichkeit globaler Ordnungsstrukturen Die Weltgesellschaftstheorien haben der Soziologie zwar ein neues Untersuchungsfeld erschlossen, die von ihnen getroffenen Entscheidungen haben jedoch auch zu einer theoretischen Verengung geführt. Diese Verengung betrifft insbesondere den makrosoziologischen Bezugsrahmen. Die strikt makrosoziologische Orientierung blockiert die Entwicklung einer komplementären mikrosoziologischen Perspektive und hat zur Folge, dass die Existenz „globaler Mikrostrukturen" nicht wahrgenommen wird (vgl. als Ausnahme Knorr Cetina/ Bruegger 2002, Knorr Cetina 2005). Die „Größe" des globalen Zusammenhanges legt es offenbar nahe, makroskopisch zu beobachten und makrosoziologisch zu erklären, während die Mikrosoziologie ins Reservat des (G)Lokalen verbannt und weltgesellschaftstheoretisch als irrelevant betrachtet wird. Dies gilt sogar für die Systemtheorie, die eine ergänzende interaktionstheoretische Analyse globaler Phänomene im Prinzip zulassen würde, faktisch aber fast ausschließlich als makrosoziologisch angelegte Differenzierungstheorie betrieben wird, mit Bezugnahme höchstens auf die Ebene der Organisation. Besonders ausgeprägt ist dieser makrosoziologische Rigorismus bei Meyer, der trotz seines phänomenologischen Anspruchs strikt makrodeterministisch argumentiert. Die Ergänzung der Weltgesellschaftstheorie um eine mikrosoziologische Perspektive öffnet dagegen den Blick auf den unterschiedlichen Kristallisationsgrad globaler Strukturen und die Variabilität globaler Vergesellschaftungsprozesse; sie stellt in doppelter Hinsicht eine Erweiterung dar. Zum einen bedeutet die Entstehung eines globalen Kommunikations-
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zusammenhangs nicht notwendig, dass sich überall übergeordnete Ordnungsstrukturen herausgebildet haben; und sofern es zur Ausbildung von solchen Strukturen kommt, brauchen diese nicht unbedingt hoch institutionalisiert und durch Organisationen abgestützt zu sein. Sie können auch auf Wechselwirkungen beruhen, die noch wenig verfestigt und in starkem Maße interaktionsabhängig sind und die folglich unter Rekurs auf die Mikroebene beschrieben werden müssen (vgl. B. Heintz 2004). Entsprechend stellt sich die Frage, wo und in welcher Form sich übergeordnete und weltweit geltende Erwartungsstrukturen herausgebildet haben und welche Mechanismen zu ihrer Genese und Reproduktion beitragen. Zum anderen verhilft die Erweiterung um eine mikrosoziologische Perspektive dazu, den insbesondere im Neo-Institutionalismus ausgeprägten Strukturdeterminismus zu relativieren. Aus mikrosoziologischer Sicht wirken Regeln nicht von selbst, sondern werden stets interpretiert und an die jeweilige Situation angepasst. Dies gilt auch für weltweit institutionalisierte Regeln, die, um wirksam zu sein, lokal übersetzt werden müssen. Wie lassen sich solche Mikroprozesse in den Blick bringen? Ein möglicher Zugang besteht darin, die Existenz globaler Ordnungsstrukturen zunächst als ein unwahrscheinliches Phänomen zu behandeln und dann zu fragen, unter welchen Bedingungen es dennoch dazu kommt. Es lassen sich zumindest drei Gründe finden, weshalb die Ausbildung globaler Ordnungsstrukturen ein unwahrscheinliches Phänomen ist. Ein erster - trivialer - Grund sind die räumlichen Distanzen. Globale Strukturen umspannen die ganze Welt. Ein zweiter Grund sind die kulturellen und sozialen Distanzen: An der Genese und Reproduktion globaler Strukturen sind Akteure aus unterschiedlichsten kulturellen Kontexten beteiligt. Dies führt zu Verständigungsschwierigkeiten und verringert die Akzeptanzwahrscheinlichkeit von Kommunikation. Ein Beispiel dafür ist die Frauenbewegung, der es erst Ende der 80er Jahre gelang, die internen weltregionalen Spaltungen zu überwinden und sich zumindest temporär als transnationale Bewegung zu etablieren (vgl. u.a. Finke 2001, Wölte 2002). Eine dritte Unwahrscheinlichkeit ist die Etablierung normativer globaler Integrations- und Inklusionsmechanismen, wie sie zumindest aus einer Parsonianischen Sicht für die Entstehung einer Weltgesellschaft erforderlich sind. Damit es trotzdem zur Herausbildung globaler Strukturen kommt, braucht es Mechanismen, die diesen fragmentierenden Tendenzen entgegenwir-
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ken. Drei mögliche Gegenmechanismen möchten wir im Folgenden kurz erwähnen: 1. Das Problem der räumlichen Ausdehnung wird durch die Entwicklung von Transport- und Kommunikationstechnologien aufgefangen, mit deren Hilfe sich geographische Distanzen heute relativ problemlos überwinden lassen, entweder faktisch oder virtuell. Es ist deshalb kein Zufall, dass viele Autoren einen Zusammenhang zwischen Globalisierungsprozessen und Umbrüchen in den Kommunikations- und Transporttechnologien konstatieren (vgl. exemplarisch Stichweh 2000: 17, Giddens 2003, Osterhammel/Petersson 2003). 2. Das Vorhandensein einer technischen Infrastruktur reicht jedoch nicht aus, um weltumspannende Zusammenhänge entstehen zu lassen. 49 Um der kulturellen und sozialen Heterogenität entgegenzuwirken, bedarf es zusätzlich einer kulturellen „Infrastruktur". Es müssen m.a.W. Mechanismen entwickelt werden, die kommunikative Anschlüsse auch dann möglich machen, wenn die Beteiligten aus unterschiedlichen sozialen Kontexten stammen. Ein möglicher Weg ist funktionale Spezialisierung, d. h. die Einschränkung des thematisierten Weltausschnitts auf einen eng umgrenzten Gegenstandsbereich. Ein anderes, ebenso wichtiges Verfahren ist die Standardisierung der Sprache. Die Festlegung von expliziten Kommunikationsregeln verhilft dazu, Verständigung auch unter der Bedingung anonymer und sozial heterogener Kommunikation zu ermöglichen. Ein überzeugendes Beispiel dafür ist die Mathematik, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts ihre Kommunikationsregeln stark normierte. Die rigorose Formalisierung der mathematischen Sprache war ein wichtiges Instrument, um angesichts eines zunehmend heterogenen und anonymen Adressatenkreises die internationale mathematische Kommunikation sicherzustellen (zur Interpretation der mathematischen Formalisierung als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium vgl. B. Heintz 2001: Kap. 7).
über Interaktion gelingt hier nur deswegen, weil die Welt auf einen kleinen visualisierbaren Ausschnitt reduziert und die Verkehrssprache hochgradig standardisiert ist. Ein aufschlussreicher Kontrastfall ist das politische System, das, wie Gipfeltreffen und UN-Weltkonferenzen zeigen, offenbar in hohem Maße auf face-to-face-Kontakte angewiesen ist. Aber auch in der Wirtschaft gibt es Grenzen einer Umstellung von direkter Interaktion auf virtuelle Kommunikation. So werden in multinationalen Konzernen E-Mails vor allem für Routinekommunikation eingesetzt, während die Steuerung und Entscheidungsfindung zum größten Teil über simulierte (Videokonferenzen) und faktische faceto-face-Gespräche erfolgen, auch wenn letzteres für das Management ein ständiges Reisen rund um den Globus erforderlich macht (vgl. Frohnen 2005).
Diese Überlegung lässt sich verallgemeinern. Ein Beispiel dafür sind die von Karin Knorr Cetina untersuchten globalen Finanzmärkte, die als eine Art virtueller Interaktionssysteme funktionieren (vgl. Knorr Cetina/Bruegger 2002). Die Koordination
3. Die Schwierigkeiten, jenseits der Nationalstaaten Inklusions- und Integrationsmechanismen zu etablieren, zeigen sich bereits auf EU-Niveau (vgl. prägnant Geser 2000). Allerdings stellt sich die Frage, inwieweit die Existenz einer Weltgesellschaft tatsächlich auf so etwas wie eine globale (Sozial-)Integration angewiesen ist. Je nach theoretischem Standpunkt fällt die Antwort unterschiedlich aus. Während sich Luhmann gegen die Vorstellung einer übergreifenden Integration wendet und an deren Stelle das Konzept der strukturellen Kopplung setzt (vgl. u.a. Luhmann 1997: 601ff.) 5 0 , halten Autoren in Parsonianischer Tradition daran fest, dass die Verwendung des Begriffs der Weltgesellschaft die Existenz von normativen globalen Integrationsmechanismen voraussetzt (vgl. Münch in diesem Band). Dies gilt ähnlich auch für die beiden anderen Weltgesellschaftstheorien. So schließt Heintz aus der Relativierung des gemeinsamen Wertes der Modernisierung auf eine „Entstrukturierung" der Weltgesellschaft (vgl. II.2.), und bei Meyer ist „Weltgesellschaft" praktisch gleichbedeutend mit der Ausbreitung einer „world culture", an deren Normen sich die einzelnen Akteure orientieren, zumindest auf einer symbolischen Ebene (vgl. II.l.). Unabhängig davon wie diese Frage theoretisch entschieden wird, gibt es auf empirischer Ebene Zeichen für eine Institutionalisierung globaler Erwartungsstrukturen (man denke etwa an den Men-
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Dies zeigt exemplarisch die I n t e r n e t - K o m m u n i k a t i o n . Die meisten virtuellen K o m m u n i k a t i o n e n haben hochgradig lokalen Charakter, d . h . die soziale Heterogenität wird drastisch reduziert. Anstatt mit Personen aus anderen Ländern und Kulturkreisen zu kommunizieren, trifft m a n sich in lokalen C h a t s u n d schreibt im Regionaldialekt; vgl. B. Heintz 2 0 0 0 .
Die These einer nicht ineinander übersetzbaren Vielstimmigkeit der f u n k t i o n a l e n Perspektiven schließt die Existenz von normativen (und kognitiven) E r w a r t u n g e n innerhalb der Funktionssysteme nicht aus. Bestritten wird bloß, dass in der m o d e r n e n (Welt)Gesellschaft n o r m a t i v e Integration im Sinne eines übergreifenden Konsenses d e n k b a r ist.
Jens Greve und Bettina Heintz: Die „Entdeckung" der Weltgesellschaft schenrechtsbereich). Auch lassen sich Hinweise darauf finden, dass die Frage nach den Möglichkeiten globaler Sozialintegration auf der Ebene der Selbstbeschreibung zunehmend thematisiert wird. M a n denke hier etwa an die Diskussionen um eine Globalverfassung (vgl. Brunkhorst in diesem Band), an die Rede von einer „globalen Zivilgesellschaft" (vgl. Czempiel 1 9 9 2 , Lipschutz 1 9 9 2 , Keane 2 0 0 3 ) oder an die Diskussion um eine gerechte Weltwirtschaftsordnung. Diese empirischen Befunde zeigen, dass global institutionalisierte Standards nicht überall und nicht in allen Funktionsbereichen in gleichem M a ß e durchgesetzt sind - von einer homogenen Formierung der Weltgesellschaft kann daher nicht ausgegangen werden. Stattdessen bietet es sich an, zwischen unterschiedlichen Graden der Institutionalisierung globaler Strukturen zu unterscheiden. Ein hoher Institutionalisierungsgrad bedeutet, dass sich globale Erwartungsstrukturen herausgebildet haben, die objektiviert und weltweit verbindlich sind und über deren Einhaltung ein mehr oder weniger effizientes Kontroll- und Sanktionssystem wacht (vgl. dazu instruktiv Djelic/Quack 2 0 0 3 ) . Wo sich solche Institutionen ausgebildet haben, kann man von einer eigenständigen globalen Ordnungsebene sprechen und ist ein makrosoziologischer Bezugsrahmen angemessen. Beispielhaft dafür sind die Vermehrung von globalen Gerichtshöfen, die teilweise staatenunabhängig agieren, und die verschiedenen Varianten von Weltrecht, die, im Gegensatz zum Völkerrecht, nicht oder nur teilweise auf zwischenstaatlichen Vereinbarungen beruhen, sondern größtenteils von privaten Organisationen entwickelt und durchgesetzt werden. In Ansätzen gilt dies für das Sportrecht, für die lex digitalis des Internet und vor allem für die lex mercatoria (vgl. u.a. Teubner 1 9 9 6 , Wahl 2 0 0 3 , Fischer-Lescano/Teubner 2 0 0 5 ) . Ein anderes Beispiel sind global institutionalisierte Standards, die mit einem weltweiten Anspruch definieren, wie Dinge und Personen zu klassifizieren und zu behandeln sind (vgl. Loya/Boli 1 9 9 9 , Brunsson 2 0 0 0 ) . Am anderen Pol liegen globale Felder, in denen die Regeln und gemeinsamen Deutungen erst in Ansätzen objektiviert sind und vor allem in den Köpfen der Beteiligten existieren. Deren Reproduktion ist folglich instabil und stark personenabhängig. Ein Beispiel dafür ist die transnationale Frauenbewegung, die zu einem großen Teil auf informellen Kontakten zwischen einer Vielzahl von Gruppierungen beruht und nur in Ansätzen ,formal organisiert' ist (vgl. u . a . Rucht 2 0 0 2 : 3 3 8 f . ) . Transnationale „advocacy networks" (Keck/Sikkink 1 9 9 8 )
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und „epistemische Gemeinschaften" (Haas 1 9 9 3 ) liegen zwischen diesen beiden Polen. So bildet z. B. die Wissenschaft einen weltweiten Kommunikationszusammenhang, der vorwiegend auf informellen und themenabhängigen Netzwerkstrukturen beruht. Transnationale Wissenschaftsorganisationen existieren zwar, sie haben aber für die Forschung eine nur geringe Bedeutung (vgl. Stichweh 2 0 0 0 : 170ff.).J1 Wir haben in diesem Aufsatz die Annahmen beschrieben, die allen drei Weltgesellschaftstheorien gemeinsam sind, und haben dazu zwei Theorietraditionen rekonstruiert, die ihnen vorausgingen. Trotz ihrer unbestreitbaren Innovationsleistung sind die Weltgesellschaftstheorien jedoch in dreierlei Hinsicht problematisch. Erstens sollten die beiden Fassungen des Weltgesellschaftsbegriffs (vgl. II. 4.) expliziter auseinander gehalten werden: Es ist eine Sache, die Entstehung eines globalen Kommunikations- und Beobachtungszusammenhangs zu postulieren, eine andere aber zu behaupten, dass sich innerhalb dieses Kommunikationszusammenhangs übergeordnete Regelund Ordnungsinstanzen ausgebildet haben, die gewissermaßen in der Vertikalen wirken. Während an der Existenz einer Weltgesellschaft im ersteren Sinn kaum gezweifelt werden kann, sind solche übergeordneten Ordnungsstrukturen in unterschiedlichem M a ß e realisiert. Es ist deshalb eine empirische Frage, inwieweit und wo sich Weltgesellschaft in diesem zweiten Sinne ausgebildet hat. Die makrodeterministische Orientierung führt zweitens dazu, die Autonomie und die Eigendynamik von Prozessen auf tieferer Ebene zu unterschätzen. Während die Modernisierungstheorie die Bedeutung transnationaler Strukturen übersehen hat, neigt die Weltgesellschaftstheorie umgekehrt dazu, deren determinierende Wirkung zu hypostasieren. Als Gegenpol zu dem nach wie vor dominierenden „Provinzialismus" der Soziologie (P. Heintz) ist die Devise, alle Phänomene in der Weltgesellschaft aus der Existenz dieser Gesellschaft selbst zu erklären, zwar eine wichtige Anregung, als Forschungsprogramm ist sie aber kaum durchführbar. Nicht alle Ereignisse in der Welt sind ausschließlich auf die (Makro-)Strukturen der Weltgesellschaft zurückzuführen - sieht man von der letztlich trivialen Der Unterschied zum Weltrecht zeigt sich auch darin, dass Regelverletzungen in der Regel informell geahndet werden. Erst in jüngster Zeit haben sich formelle und von Wissenschaftsorganisationen getragene Sanktionsverfahren herausgebildet, die aber nach wie vor mehrheitlich national verankert sind. 51
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Feststellung ab, dass alles durch alles beeinflusst ist, w e n n alles mit allem zusammenhängt. Vielmehr ist es eine zunächst empirisch zu beantwortende Frage, in welchem M a ß e und auf welche Weise regionale und lokale Ereignisse durch übergeordnete globale Ordnungsstrukturen geprägt sind. Die strikt makrosoziologische Ausrichtung der Weltgesellschaftstheorien hat drittens zur Folge, dass globale Zusammenhänge, die noch wenig institutionalisiert und entsprechend instabil und interaktionsabhängig sind, aus dem Blickfeld geraten. Um solche „globalen Mikrostrukturen" in den Blick zu bekommen, müssen Weltgesellschaftstheorien um eine mikrosoziologische Dimension erweitert werden. Nur auf diese Weise geraten die globalen „Wechselwirkungen" in den Blick, die sich, mit Simmel gesprochen, „noch nicht zu festen, überindividuellen Gebilden verfestigt haben" (Simmel 1992: 33). Literatur Alger, C.F., 1963: Comparison of Intranational and International Politics. American Political Science Review 57: 406^119. Amin, S., 1973: Le dévelopment inégal. Essai sur les formations sociales du capitalisme périphérique. Paris: Minuit. Archer, M., 1991: Sociology for one world: unity and diversity. International Sociology 6: 131-147. Arndt, C.O. / Everett, S. (Hrsg.), 1951: Education for a World Society: Promising Practices today. New York: Harper. Arndt, H.W., 1981: Economic Development: A Semantic History. Economic Development and Cultural Change 29: 457-466. Ashby, W.R., 1952: Design for a Brain. London: Chapman ÔC Hall. Bach, R.L., 1982: On the Holism of a World-System Perspective. S. 159-180 in: T.K. Hopkins /1. Wallerstein / R.L. Bach / C. Chase-Dunn / R. Mukherjee (Hrsg.), World System Analysis. Theory and Methodology. London: Sage. Banuri, T., 1990: Development and the Politics of Knowledge: A Critical Interpretation of the Social Role of Modernization Theories in the Development of the Third World. S. 29-72 in: F.A. Marglin / S.A. Marglin (Hrsg.), Dominating Knowledge. Development, Culture and Resistance. Oxford: Clarendon Press. Bendix, R., 1967: Tradition and Modernity Reconsidered. Comparative Studies in Society and History 9: 292- 346. Bergesen, A., 1980a: Preface. S. xiii-xiv in: A. Bergesen (Hrsg.), Studies of the Modern World System. New York: Academic Press. Bergesen, A. (Hrsg.), 1980b: Studies of the Modern World System. New York: Academic Press. Bergesen, A., 1982: The Emerging Science of the WorldSystem. International Social Science Journal 34: 23-36.
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Autorenvorstellung: Jens Greve, geb. 1966 in Heidelberg. Studium der Philosophie und Soziologie in Frankfurt a . M . und Heidelberg. 2 0 0 1 Promotion am M a x Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien an der Universität Erfurt, anschließend wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Soziologie der Universität Mainz. Seit 2004 Wissenschaftlicher Angestellter an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, Handlungstheorie und Theorie der Weltgesellschaft. Veröffentlichungen u. a.: Handlungserklärungen und die zwei Rationalitäten? Neuere Ansätze zur Integration von Wertund Zweckrationalität in ein Handlungsmodell, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 55, 2003: 6 2 1 - 6 5 3 ; Kommunikation und Bedeutung. Grice-Programm, Sprechakttheorie und radikale Interpretation. Würzburg: Königshausen & N e u m a n n 2003; Bedeutung, Handlung und Interpretation. Z u den Grundlagen der verstehenden Soziologie, in Zeitschrift für Soziologie 31, 2002: 3 7 3 - 3 9 0 . Bettina Heintz, geb. 1949 in Zürich. Studium der Soziologie und Sozialgeschichte in Zürich. Promotion 1991 in Zürich. Habilitation 1996 an der FU Berlin. 1987-1995 Assistentin an den Universitäten Zürich, FU Berlin und Bern. 1992/93 Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin. 1996 Gastprofessur an der Universität Wien. 1997-2004 Professorin für Allgemeine Soziologie an der Universität Mainz; seit 2004 Professorin für Soziologische Theorie an der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, Soziologie der Weltgesellschaft, Wissenschaftssoziologie. Wichtigste Publikationen: Die Herrschaft der Regel. Z u r Grundlagengeschichte des Computers, Frankfurt/M. 1993; Die Innenwelt der Mathematik. Zur Kultur und Praxis einer beweisenden Disziplin, Wien u.a. 2000; Wissenschaft, die Grenzen schafft. Geschlechterkonstellationen in disziplinären Vergleich, Bielefeld 2004 (zus. mit Martina Merz und Christina Schumacher); Emergenz und Reduktion. Neue Perspektiven auf das Mikro/Makro-Problem, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 2004, 56: 1 - 3 1 ; zuletzt in dieser Zeitschrift: „In der Mathematik ist ein Streit mit Sicherheit zu entscheiden" - Perspektiven einer Soziologie der Mathematik, in: Zfs 29, 2000: 339-360.
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 120-158
Auf der Suche nach der verlorenen Totalität Von Marx' kapitalistischer Gesellschaftsformation zu Wallersteins Analyse der „Weltsysteme"?
In Search of the Lost Totality From Marx' Societal Formation of Capitalism to Wallerstein's "World-Systems Analysis"? Lothar Hack Eulenhorst 3, D-49205 Hasbergen. E-mail: [email protected]
Für Gerhard Brandt ( 1 9 2 9 - 1 9 8 7 )
Z u s a m m e n f a s s u n g : Als theoretischer R a h m e n , aber auch als flotte Formel hat „Wallersteins Weltsystem" in den letzten drei Jahrzehnten zweifellos Karriere gemacht. In den siebziger Jahren trug die von Wallerstein (und anderen) vorgelegte Weltsystemanalyse wesentlich dazu bei, gesellschaftliche und politische Strukturzusammenhänge so zu konzipieren, dass bis dahin nationalstaatlich definierte Entitäten - Territorien, Klassen, Gesellschaften - in den für sie relevanten weltwirtschaftlichen K o n t e x t gestellt wurden. Wenn auch vielfach gebrochen, wurden Motive von M a r x und M a x Weber aufgenommen sowie Überlegungen der Dependenztheorie (A. G. Frank) und der Sozialgeschichte (F. Braudel, K. Polanyi). Der Begriff „Weltsystem", der von anderen Autoren bereits zuvor verwendet worden war, wurde nun auf den K o n t e x t der kapitalistischen Expansion bezogen und schrittweise in einem ambitionierten Forschungsprogramm umgesetzt. Eine systematische und kritische Interpretation des Konzeptes ergibt allerdings, dass sich aus der spezifischen Vorgehensweise Wallersteins, „Weltsysteme" - Weltreiche, Weltwirtschaften - als zentrale Analyse-Einheiten zu konzipieren, schwerwiegende Theoretisierungsprobleme (Grenzziehung, Binnendifferenzierung, kategoriale Rückprojektionen usw.) ergeben. Besonders deutlich zeigen sich Reichweite und Grenzen des Konzepts bei der Behandlung aktueller T h e m e n wie „ G l o b a lisierung" und der „Hegemonie der U S A " . S u m m a r y : As theoretical frame, but also as snappy formula, "Wallerstein's world-system" has made a brillant career during the last three decades. In the seventies, world-systems analysis, presented by Wallerstein (and others) meant an important contribution for conceptualizing societal and political structures in such a way that entities, hitherto defined by nation-states - territories, classes, societies - , were analyzed in its relevant world-economic c o n t e x t . In this connection motives of M a r x and M a x Weber were - frequently broken - taken up, as well as contributions o f dependency theory (A. G . Frank) and social historiography (F. Braudel, K. Polanyi). T h e term " w o r l d - s y s t e m " , previously used by several authors, was now related to capitalist expansion and step by step converted into an ambitious research program. Systematic and conscientious interpretation unveils that Wallerstein's specific way of proceeding, conceptualizing "worldsystems" - empires, world-economies - as central units of analysis, leads to serious problems of theorizing (drawing border-lines, internal differentiation, aftermindedness). R e a c h , range and limits o f the world-systems approach can be demonstrated by its way of handling actual themes such as " g l o b a l i z a t i o n " and " U S h e g e m o n y " . T h e m e n k o m p l e x e w i e Globalisierung, gehörigen
neuen F o r m e n
b e i t s t e i l u n g , u n d weltweite
m i t d e n zu-
der internationalen ökologische
Ar-
Vernetzung
1. Einleitung: die Konturen sind undeutlicher geworden
s o w i e die D e b a t t e n ü b e r die f o r m a t i v e F u n k t i o n d e r
Z u m i n d e s t i m R ü c k b l i c k sieht es s o a u s , als sei M i t -
U S A - Hegemonie
- in d e r n e u e n W e l t -
te d e r siebziger J a h r e alles n o c h g a n z k l a r u n d ein-
o r d n u n g haben Wallersteins Analyse der Weltsyste-
fach gewesen. Vorbereitet und flankiert durch eine
m e , deren Blütezeit bereits E n d e der achtziger J a h r e
Reihe
abgelaufen schien, unversehens wieder höchst aktu-
1 9 7 4 d e n e r s t e n B a n d seiner a l l e s - u m f a s s e n d e n M o -
ell w e r d e n lassen. K o n k u r r i e r e n d e
nographie zum „Modernen Welt-System"
vs. Empire
Interpretationen
des „ g r o ß e n G a n z e n " u n d k o r r e s p o n d i e r e n d e r e a l e
von
vorgelegt,1
„Essays"
hatte
Immanuel
Wallerstein (MWS)
der das „lange 16. J a h r h u n d e r t "
um-
E n t w i c k l u n g e n , die sich i n z w i s c h e n g l e i c h e r m a ß e n in d e n V o r d e r g r u n d d r ä n g e n , h a b e n a l l e r d i n g s z u e i n e r K o n s t e l l a t i o n g e f ü h r t , i n n e r h a l b d e r d e r Stellenwert der Wallersteinschen Konzeption neu stimmt werden muss.
be-
1 Z u r Zitierweise: die Bände des „ M o d e r n World S y s t e m " ( M W S ) werden nicht nach dem Erscheinungsjahr, sondern als Vol. I, II und III zitiert, die englischen Ausgaben mit den Seitenangaben „ p . " , die deutschen mit „ S . " . Außer-
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Lothar Hack: Auf der Suche nach der verlorenen Totalität
fasste und thematisch der „Capitalist Agriculture and the Origins of the European World Economy in the Sixteenth Century" gewidmet war. Angekündigt wurden gleichzeitig drei weitere Bände, mit Themenstellungen, deren Zeitrahmen theoretisch (scheinbar) zwingend umrissen wurde: Vol. II: 1640-1815, „the consolidation of this system"; Vol. III: 1815-1917, „the conversion of the world-economy into a global enterprise, made possible by the technological transformation of modern industrialism"; und Vol. IV: 1917 bis zur Gegenwart, „the consolidation of the capitalist world-economy" (Vol. I: p. 10f.). Der russischen Oktoberrevolution kam hier also noch die Funktion zu, den Anfang der letzten Phase der „kapitalistischen Weltökonomie" einzuleiten. Die Umsetzung des großen Projekts ergab dann einige Änderungen. Vol. II erschien 1980, erfasste nun die Zeit zwischen 1600 und 1750 und hatte das Thema „Mercantilism and the Consolidation of the European World-Economy". Vol. III, publiziert 1989, zog sich dann noch stärker zurück auf den Zeitraum 1730 bis in die 1840er, mit dem Thema „The Second Era of Great Expansion of the Capitalist World Economy". Damit war auch die (1974) so klar erscheinende Einteilung in Stadien des Systems beiläufig aufgegeben worden. Wallerstein sieht das ganz konstruktiv: „Jeder Band und jedes Kapitel . . . bewegte sich vorwärts in der Zeit, diskutierte neue empirische Fragen und errichtete weitere Elemente eines architektonischen Entwurfs. M a n kann nicht alles zugleich diskutieren." Außerdem habe er sich „zu Zeitüberschneidungen entschieden", was auch in den folgenden Bänden so bleiben werde; den einzelnen Kapiteln habe er „ihre eigenen chronologischen Grenzen" gegeben (Wallerstein 2001b: 20). Es waren nicht nur die Begleitumstände des Zusammenbruchs der Sowjetunion und das Ende der „System-Konkurrenz", die eine bruchlose Fortsetzung des ursprünglichen Plans infrage stellten. Die ersten Texte zum „Modernen Welt-System" resp. zur „kapitalistischen Weltwirtschaft" waren auf eine sehr breite Resonanz gestoßen. Wallersteins Konzept versprach etwas, was in dieser Zeit dringend gebraucht wurde: eine theoretische Perspektive, die in der Lage war, die kritischen Untersuchungen über dem: da viele Aufsätze Wallersteins leichter über die Sammelbände zugänglich sind, werden sie zwar (zur Kontrolle der Zeitachse) nach dem ursprünglichen Erscheinungsjahr zitiert, ergänzt um das Erscheinungsjahr des jew. Sammelbandes, an dem sich auch die Seitenangaben orientieren, also: Wallerstein 1 9 7 5 / 1 9 8 4 etc.
die zunehmende Abhängigkeit der sog. Entwicklungsländer („Dritte Welt") in der nach-kolonialen Periode bzw. die Analysen des „peripheren Kapitalism u s " (Senghaas 1974) aufzunehmen und verbindlich mit einer zeitgemäßen Analyse der Funktionsweise des modernen Kapitalismus in den Metropolenländern zu verknüpfen (Senghaas 1979). 2 Die kritisch gewendeten Bezüge zur Marxschen Theorie und zum Marxismus-Leninismus, die zunächst die breite Rezeption der Wallersteinschen Weltsystemtheorie befördert hatten, wurden bald für widersprüchlich und fehlerhaft befunden. Dass auch die beiden Folgebände sowie die - verspätet publizierten und allzu lässigen - deutschen Übersetzungen der beiden ersten Bände ( 1 9 8 8 , 1 9 9 8 ) eher auf Vorbehalte oder gar Desinteresse stießen, hing allerdings auch damit zusammen, dass sich die „abhängigen Länder" in den achtziger Jahren auf so unterschiedliche Weisen entwickelten, dass differenzierte Modelle erforderlich wurden (Torp 1998: 239f.). Die schnelle Abkehr von der Weltsystem-Analyse war schon insofern ignorant, als Wallerstein seine Konzeption in zahlreichen Zeitschriftenaufsätzen weiter entwickelte, von denen jeweils etwa zwei Dutzend in Essay-Bänden gesammelt wurden: The Capitalist World-Economy (1979); The Politics of the World-Economy (1984); Unthinking Social Science (1991/2001); After Liberalism (1995); Geopolitics and Geoculture (1991/1997); The End of the World as we Know It (1999) - mit 15 VortragsManuskripten aus Wallersteins Zeit als ISA-Präsident. Die wichtigsten Texte wurden schließlich sozusagen als „best o f " - in „The Essential Wallerstein" (2000) zusammengefasst. Zuvor waren institutionelle Vorkehrungen getroffen worden, die für die Durchsetzung des MWSProjektes wichtig wurden. 1976/77 wurde das „Fernand Braudel Center for the Study of Economics, Historical Systems, and Civilizations" an der State University of New York (SUNY), in Binghampton, gegründet 3 sowie kurz danach die Zeitschrift „ReIn der Politikwissenschaft war der Begriff „Internationales System" längst gebräuchlich. E. Krippendorff definierte es als „historische Symbiose" von „Staatenbildung" und „Kapitalismus-Entfaltung", zu ergänzen durch die „militärische Dimension"; zusammen ergab das das „ k a pitalistische Weltsystem" (Krippendorff 1983: 200) - ganz ohne irgendeinen Bezug auf Wallerstein. Eine Interpretation „politischer Systeme" hatte S. N . Eisenstadt (1963) bereits zwei Jahrzehnte früher als „centralized bureaucratic empires" resp. „societies" vergangener Jahrhunderte ausgelegt. 3 In Binghampton bekam Wallerstein eine Professur. In den Folgejahren g a b es Kooperationen (Konferenzen etc.) 2
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view" des Zentrums; 1 9 9 6 kam die Internet-Zeitschrift „Journal of World Systems Research" (JWSR) hinzu. 4 Bereits in den siebziger Jahren wurde eine eigene Sektion „Political Economy of the World-System (PEWS)" der American Sociological Association eingerichtet, von deren Studien inzwischen der 2 3 0 . Band vorgelegt wurde (Dunaway 2 0 0 3 ) . Wallersteins Interpretationen sind zunehmend mit prognostischen Ansprüchen versehen, die „Trajekte des Weltsystems" bis 2 0 2 5 skizzierbar erscheinen lassen (Hopkins et al. 1996), getragen von der Überzeugung, dass das bestehende Weltsystem definitiv an sein Ende gekommen sei - mit neuen Gestaltungsmöglichkeiten, für die eine neue Form der „Sozialwissenschaft für das Einundzwanzigste Jahrhundert" (Wallerstein 1 9 9 9 ) entwickelt werden müsse. So geht es Wallerstein in „Utopistik" um „eine ernsthafte Einschätzung historischer Alternativen", wobei er im Anschluss an M a x Webers materielle Rationalität „unser Urteilsvermögen" dafür einsetzen möchte, mögliche historische Systeme zu entwerfen (2002/1998: 8). Eher unbemerkt haben sich Wallersteins Argumentationsstrategien seit 1 9 7 4 beträchtlich geändert. 5 Schon die Bände II und III (MWS) hatte Wallerstein beiläufig dazu genutzt, auf die - teilweise vehemenzwischen dem „Braudel Center", dem „Maison des Sciences de l ' H o m m e s " (Paris) und der Projektgruppe „Entwicklung und Unterentwicklung in der Weltökonomie" des MPI zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg (s. Fröbel u. a. 1 9 8 1 : 7). Forschergruppen und Zeitschriften des BraudelCenter indizieren in der Folgezeit weltweite Diskussionsund Kooperationszusammenhänge. Später wurde das Center for Interdisciplinary Research on World-Systems an der University of California Riverside gegründet, das von Chase-Dunn geleitet wird (Skiair 2 0 0 2 : 4 0 ) , der zugleich eine Brücke zur Weltgesellschaftstheorie der Stanford-Gruppe (J. W. Meyer et al.) schlägt. Eine konkurrierende „Third World Perspective on World-Systems Analysis" wird an der sog. „St. Augustine School" des Institute of International Relations der University of the West Indies, in Trinidad, verfolgt, das um 1 9 7 9 entstand und von Herb Addo geleitet wird (Forte 1 9 9 8 : 3 6 ) . Seit 1 9 9 8 werden kurze „Commentaries" publiziert, in denen - zweimal im M o n a t - „Reflexionen über die gegenwärtige Weltszene" formuliert werden, wie sie sich aus der „Sicht der Langfristperspektive" ergeben (vgl. Wallerstein 2 0 0 3 ) . 4
Imbusch ( 1 9 9 0 ) ging noch davon aus, dass Wallersteins Theoriekonzeption im wesentlichen seit Beginn der siebziger Jahre unverändert geblieben sei; dabei war Vol. III nicht mehr (ernsthaft) berücksichtigt worden. Robertson ( 1 9 9 6 / 9 2 : 66f.) notiert hingegen, Wallerstein habe seit 1 9 7 9 (spätestens seit 1 9 8 2 ) seine Konzeption in Richtung auf „subjektive" resp. voluntaristische Motive geöffnet. 5
ten - Kritiken (vgl. Skocpol 1 9 7 7 , Aronowitz 1981, Brenner 1983) einzugehen und wichtige Korrekturen vorzunehmen. Gleichzeitig ergaben sich große Differenzen zwischen den eher induktiv (ad hoc) verfahrenden Interpretationen des empirischen Materials und den immer wieder modifizierten Systematisierungsversuchen. Kaum mehr wahrgenommen wurden m.W. hierzulande die anspruchsvollsten Versuche einer weiteren theoretischen Ausarbeitung des Konzepts. Das bezieht sich auf Bemühungen, der Kultur einen höheren Stellenwert einzuräumen. Das meint aber auch die Ausrichtung der Weltsystemtheorie auf die naturwissenschaftlichen Theorien Prigogines sowie die theoretischen und methodologischen Reflexionen zur Weltsystemanalyse, die T. Hopkins zusammen mit Wallerstein und anderen ( 1 9 8 2 , 1996/98) unternommen hat. Und es betrifft die theoriestrategische Veränderung, die in der Ausrichtung auf „evolving institutional domains" zu sehen ist, die als „Vektoren des Welt-Systems" konzipiert sind (Hopkins/ Wallerstein 1996/1998: 2; vgl. auch 1986; Wallerstein 1997/91: 2f.). Gegen die in den fünfziger und sechziger Jahren vorherrschenden Formen sozialwissenschaftlicher Analyse, die wie selbstverständlich ein nationalstaatlich eingehegtes Verständnis von „Gesellschaft" vertraten, lieferte das Weltsystem-Konzept der Gruppe um Wallerstein frühzeitig wichtige Anregungen, die zu einer räumlichen und zeitlichen Ausweitung der Themenstellungen beitrugen. „Wallerstein's work is important exactly because he breaks away strongly from the endogenous concentration upon ,societies' that has prevaled so much of sociology" (Giddens 1 9 8 7 : 35). Eine bahnbrechende Rolle spielte Wallersteins Konzept für die Weltgese//sc/w/fs-Konzeption der Zürich-Gruppe (Heintz 1 9 8 2 ) wie für die institutionalistisch ausgerichteten Analysen der „world society" der Stanford-Gruppe (Meyer et al. 1997). Auch Luhmann (1975/71; 1 9 9 7 ) hat seine Theorie der Weltgesellschaft unter anderem in Übereinstimmung mit Wallersteins „scharfer Kritik des ,Konzeptes der Staatsgesellschaft'" (Luhmann 1 9 9 7 : 31) formuliert, allerdings gegen dessen Konzeption des „Weltsystems". Alle diese Theoriekonzepte halten zwar Wallersteins ökonomistische Einengung für falsch, verlassen sich aber darauf, dass er die Ausweitung der Perspektiven auf den weltweiten Kontext zureichend begründet. Es wird sich zeigen, dass das Zutrauen in die geleistete kategoriale Öffnung zur „Welt" - zumindest was die Lokalisierung im „langen 16. Jahrhundert" 6 betrifft - nicht berechtigt war. 6
Das „lange 16. Jahrhundert" hatte Wallerstein von F.
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Lothar Hack: Auf der Suche nach der verlorenen Totalität Inzwischen ist der Weltsystemtheorie auf ihrem ureigensten Gebiet auch andere Konkurrenz erwachsen mit Theoriekonzepten, die ebenfalls die ganz großen Linien der Weltgeschichte systematisch zu begreifen versuchen („civilizationists", Globalisierungstheorien, s.u.). Generell werden die Begriffe „Weltsystem" resp. „Weltwirtschaft" mittlerweile wie selbstverständlich mit Wallersteins Namen assoziiert. Hinweise auf die Bedeutung von Weltmarkt und Welthandel für die Herausbildung des Kapitalismus gab es bereits in den Arbeiten von Marx, in dessen Tradition sich Wallerstein immer wieder gestellt hat. Dennoch wäre es irreführend, einen geradlinigen Weg von Marx zu Wallerstein nachzeichnen zu wollen. Zum einen ist die Marxsche Theorie viel zu komplex - und keineswegs widerspruchsfrei - angelegt, als dass sie nur eine einzige Anschlussmöglichkeit zuließe. Gegenläufig ist das Verhältnis Wallersteins zu Marx bzw. dem Marxismus in vielfältiger Weise gebrochen. In der folgenden Darstellung sollen deshalb zunächst (2.) zentrale Kennzeichen der Konzeption der Weltsystemanalyse vorgestellt werden, unter Berücksichtigung theoretischer bzw. konzeptioneller Vorgaben, auf die Wallerstein (teils implizit) zurückgegriffen hat. Vor diesem Hintergrund werden dann (3.) Bezüge der Wallersteinschen Konzeption zur Marxschen Theorietradition skizziert. Danach wird (4.) versucht, systematisch einige der Grundannahmen und Engführungen des Wallersteinschen Systembegriffs zu analysieren; dazu gehört auch sein Vorschlag (1987), den Begriff „Gesellschaft" durch den des „historischen Systems" zu ersetzen. Abschließend (5.) soll kurz analysiert werden, wie plausibel Wallersteins zeit-stabile Interpretation aktuelle Tendenzen (Globalisierung, US-Hegemonie) zu interpretieren vermag, und welchen Stellenwert konkurrierende Theorien gegenwärtig der Weltsystemtheorie beimessen.
2. Das Konzept des modernen Weltsystems 2.1 Ausgangspunkte, Abgrenzungen Es sind zunächst zwei weitgehend konvergierende Problemstellungen, die Mitte der sechziger Jahre zu Braudel übernommen; es soll die beiden Zeiträume 1 4 5 0 bis 1 5 5 0 und 1 5 5 0 bis 1 6 4 0 umfassen. „Für die europäische Weltwirtschaft als Ganzes . . . halten wir die Zeitspanne von 1 4 5 0 bis 1 6 4 0 für eine sinnvolle Zeiteinheit, während derer eine kapitalistische Weltwirtschaft geschaffen w u r d e " (Wallerstein Vol. I: S. 1 0 0 ) .
einem grundlegenden Perspektivenwechsel führten, an dem Wallerstein, neben anderen, beteiligt war. (1.) Da war zum einen die Kritik derer, die wissenschaftlich und politisch an den Entwicklungsmöglichkeiten der Länder der „Dritten Welt" interessiert waren und die damals vorherrschenden Konzepte für falsch und irreführend hielten. Das bezog sich vor allem auf Theorien, denen ein lineares Erfolgsmodell zugrunde lag, für das die nationalen Gesellschaften Englands und der USA als Vorbild dienten und dem die Entwicklungsländer nur zu folgen brauchten. Als „abstoßendes" Beispiel im doppelten Wortsinn - diente das Konzept des „take-off", das Walt W. Rostow i 9 6 0 in dem Bändchen „The Stages of Economic Growth: A NonCommunist Manifestó" publiziert hatte. Ergänzt wurde diese Kritik durch eine systematische Abgrenzung von den Modernisierungstheorien, die i.d.R. implizit und eher pauschal - vor allem auf die Arbeiten von Talcott Parsons bezogen war.7 Kritisiert wurden an den Modernisierungstheorien vor allem deren Neigung, den Nationalstaat als einzige Einheit der Analyse zu verdinglichen und damit transnationale Strukturen zu vernachlässigen; die Annahme, alle Länder würden einem ähnlichen Wachstumspfad folgen; sowie die ahistorische Erklärungsmethode (Bach 1982: 160; s.a. Skocpol 1977: 1075). Gegen „Evolutionisten" und „Modernisten" war frühzeitig auf Probleme beim Vergleich „nationaler Gesellschaften" hingewiesen worden. 8
Explizite Hinweise finden sich bei Wallerstein (Vol. I: S. 1 9 3 ) auf Parsons' „Structure and Process in M o d e r n Societies" ( 1 9 6 0 ) . Nicht erwähnt werden die beiden zusammengehörigen Bücher „Societies. Evolutionary and C o m parative Perspectives" ( 1 9 6 6 ) und, vor allem, „ T h e System o f M o d e r n Societies" ( 1 9 7 2 ) , die vor dem Erscheinen des Vol. I publiziert wurden und die - nicht nur im Titel - einige auffallende Ähnlichkeiten mit Wallersteins „ M o d e r n World-System" aufweisen. A. G . Frank hat im Rückblick notiert, seine Kritik habe sich vor allem auf die Webersche Soziologie bezogen, in der F o r m , wie sie von Parsons in „ T h e Structure o f Social A c t i o n " ( 1 9 3 7 ) und „ T h e Social System" ( 1 9 5 1 ) vermittelt worden sei (Frank 1 9 9 8 : X V I I ) . - In anderer F o r m als die Dependenztheoretiker hatten sich Nettl/Robertson ( 1 9 6 6 ) von den Engführungen der Entwicklungs- und Modernisierungstheorien abgesetzt, indem sie die vorwiegend ökonomischen durch soziologische und politikwissenschaftliche (s. „internationales System") Interpretationen ersetzen wollten. Robertson ( 1 9 9 6 ) entwickelte später eine soziologische Interpretation der Globalisierung. 7
Die Ausbildungssituation hinsichtlich makrosoziologischer Vergleiche sei an der Columbia University besonders gut gewesen; erwähnt werden C. Wright Mills, Daniel Bell, R o b e r t S. Lynd etc. (Wallerstein 2 0 0 0 : X I ) . 8
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Z u s a m m e n mit Terence K . H o p k i n s hatte Wallerstein bereits 1 9 6 7 eine Arbeit mit dem Titel „ T h e Comparative Study o f N a t i o n a l Societies" veröffentlicht. 9 (2.) Zeitgleich mit diesen Diskussionen - und mit vielfältigen sozialwissenschaftlichen und politischen Rückbezügen - waren seit den fünfziger J a h ren Probleme der Entwicklungsländer in veränderter Perspektive diskutiert worden. So hatte der lateinamerikanische Gelehrte R a u l Prebisch in der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika ( E C L A , spanisch C E P A L ) das Konzept der Peripherie eingeführt (Wallerstein 2 0 0 1 b ) , das dann in den Arbeiten der E C L A im R a h m e n des Begriffspaares „ Z e n t r u m - Peripherie" verwendet wurde (vgl. H o p k i n s , Wallerstein 1 9 7 7 / 1 9 7 9 : 1 5 6 , 1 9 7 ) . Vor allem mit Blick auf Lateinamerika hatte A. G . Frank - mit dem Wallerstein, Arrighi und Amin immer wieder (Amin et al. 1 9 8 6 / 1 9 8 2 ) eng kooperierten (Wallerstein 2 0 0 0 : X I ) - in einem Aufsatz mit dem programmatischen Titel „ T h e Development o f Underdevelopment" ( 1 9 6 6 ) die Ignoranz angeprangert, die die Entwicklungstheorie auszeichnete, wenn man aus der Perspektive der „Dritten W e l t " analysierte. Die „Unterentwicklung" der armen Länder sei nicht Ausdruck eines Zurückbleibens, sondern Resultat der spezifischen Entwicklungsform der reichen Länder. Es gehe darum, die Beziehungen zwischen der M e t r o p o l e und den wirtschaftlichen Kolonien durch die ganze Geschichte der weltweiten E x p a n s i o n und Entwicklung des merkantilistischen und kapitalistischen Systems zu begreifen. „Consequently, most o f our theory fails to explain the structure and development o f the capitalist system as a whole and to account for its simultaneous generation o f underdevelopment in some o f its parts and of e c o n o m i c development in o t h e r s " (Frank 1 9 6 6 : 1 7 f . ; kursiv von mir, L . H . ) . 9 Verglichen wurden fünf Manuskripte Vorträge auf dem VI. Weltkongreß für Soziologie (Evian 1966) - von S. Rokkan, E. Allardt, S.N. Eisenstadt, R.M. Marsh und E. Scheuch (Hopkins, Wallerstein 1967: 25). Abschließend heißt es hier aber doch noch: „We have supposed, and argued in support of, a double narrow view of the field. We believe it should focuse on national societies and their modernization and thus should not include either comparisons of other kinds of societies or comparative studies of units other than societies" (a.a.O.: 57). Knapp zwei Jahrzehnte später hat Tilly (1984: 80ff.) ein zweidimensionales Schema vorgeschlagen, um die unterschiedlichen Formen des Vergleichs zu systematisieren. Es bezieht sich auf die Arbeiten von Eisenstadt, Rokkan etc. und nun auch auf die ersten Texte Wallersteins - und zeichnet damit eine Kontinuität der US-amerikanischen Diskussionen, die Wallerstein gar nicht gefallen dürfte.
Die Unterentwicklung der Satelliten sei nur in Relation zur M e t r o p o l e - „ o n a world scale as a w h o l e " (Frank 1 9 6 6 : 18) - zu verstehen, w o b e i in diesen Beziehungen unterschieden werden müsse zwischen produktiven Sektoren im Inneren eines Landes, den Provinz-Hauptstädten, nationaler M e t r o p o l e und W e l t - M e t r o p o l e . „ T h u s , a whole chain o f constellations o f metropoles and satellites relates all parts o f the whole system from its metropolitan center in Europe or the United States to the farthest outposts in the Latin American countryside" ( a . a . O . : 2 0 ) . J e de nationale und lokale M e t r o p o l e diene dazu, die monopolistische Struktur und die ausbeuterischen Beziehungen dieses Systems durchzusetzen und aufrechtzuerhalten. D a b e i müsse m a n globale, nationale and lokale Strukturen auseinanderhalten. D . h . Frank hatte bereits 1 9 6 6 eine Ausdifferenzierung v o r g e n o m m e n , die deutlich über die einfache Zweiteilung ( M e t r o p o l e - Satellit) hinausging. Im I. Band seines M W S n a h m Wallerstein die Interpretation Franks auf - mit der direkt anschließenden Distanzierung: „Aber dieser Prozeß ist viel allgemeiner, als F r a n k andeutet" (Vol. I: S. 1 2 7 ) . Wallerstein selbst, der seit Ende der fünfziger J a h r e in Afrika gearbeitet hatte (vgl. Wallerstein 1 9 6 6 ) , hatte 1 9 6 7 eine Arbeit zum T h e m a „Africa: T h e Politics o f Unity: An Analysis o f C o n t e m p o r a r y Social M o v e m e n t s " publiziert. 1 0 Sein Resümee: die Transformation Afrikas k ö n n e nur durch die Transform a t i o n der Welt erfolgen; die Feinde stünden zwar im Inneren (in Afrika), aber sie seien als „Agenten fremder M ä c h t e " anzusehen. „We must accordingly analyze the emergence o f the movement for African unity in terms of the world system . . . " . D a s sei die erste Formulierung der Weltsystem-Perspektive bei Wallerstein (Imbusch 1 9 9 0 : 2 1 ) . Vor diesem Hintergrund ist das Plädoyer „für ein alternatives K o n z e p t zur Untersuchung sozialen Wandels in unserer Zeit'''' zu verstehen, so Hopkins/ Wallerstein ( 1 9 7 7 / 1 9 7 9 ) in der p r o g r a m m a t i s c h w o h l anspruchsvollsten Formulierung: „ W i r bezeichnen dieses Konzept hier als das eines Weltsystems'. Die Prämisse lautet: Die Arena, in der soziales Handeln und sozialer Wandel sich vollziehen, ist nicht eine G e s e l l s c h a f t ' in A b s t r a c t o , sondern eine konkrete ,Welt', ein raum-zeitliches Ganzes, wobei
10 In dieser Zeit sei er im Africana Bulletin, dem Journal der polnischen Afrikanisten, auf Arbeiten des Wirtschaftshistorikers Marian Malowist gestoßen, die sich unter anderem mit der kolonialen Expansion und dem Goldhandel im 14. und 15. Jahrhundert beschäftigten; hier habe er auch den ersten Hinweis auf Braudels Mittelmeerstudie gefunden (Wallerstein 2001b: 12).
Lothar Hack: A u f der Suche nach der verlorenen Totalität
der Raum dieselben Ausmaße hat wie die einfache Arbeitsteilung zwischen den das Ganze bildenden Teilen oder Regionen, und wobei die Zeit sich so weit erstreckt, wie die einfache Arbeitsteilung die ,Welt' beständig als soziales Ganzes reproduziert ( . . . ). Genauer gesagt: die Arena sozialen Handelns und sozialen Wandels in der Neuzeit war und ist das moderne Weltsystem, das sich im 16. Jahrhundert als europazentrierte Weltwirtschaft herausbildete." In Zyklen von Expansion und Kontraktion sei das Weltsystem seither gewachsen: geographisch umspanne es heute „die ganze Erde", bezüglich seiner Produktionskapazität impliziere es Kapitalbildung, hinsichtlich der Integration bestehe eine „weltweite Interdependenz" und die „Durchdringung und Organisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse" umfasse die Herausbildung der Warenwirtschaft und Klassenstruktur. Insgesamt wirke das System räumlich als „allgegenwärtige Trennung in Zentralländer und Hinterländer" - jetzt: „Zentren" (cores) und „Peripherien" - , verbunden und reproduziert durch Prozesse der endlosen Kapitalakkumulation 11 und des ungleichen Tauschs 12 ; zeitlich funktioniere es „im wesentlichen zyklisch". Das bedeute, dass sein Wachstum, das sich in „säkularen Trends" manifestiere, in „Wellen" verlaufe, die wiederum an sich beschleunigenden und dann wieder verlangsamenden „Wachstumsraten" abzulesen seien. „Die einzelnen Phasen der Zyklen des Systems sind somit - wie die Zonen seiner Arbeitsteilung - nicht nur die fortgesetzte Folge sozialen Handelns, sondern auch die sehr reale Bedingung und die sehr reale Einschränkung des Ergebnisses solchen Handelns" (Hopkins/Wallerstein 1979/ 1977: S. 152f.). (3.) Damit sind zugleich Motive einbezogen, die aus weiteren konzeptionellen Anleihen resultieren. Die Kennzeichnung des Raumes als „Trennung in Zentralländer und Hinterländer" (für „Zentrum - Peripherie") verweist ebenso auf die Arbeiten von Fernand Braudel, wie die zeitliche 11 Vgl.: „Die endlose Akkumulation von Kapital um seiner selbst willen erscheint auf den ersten Blick als sozial absurdes Z i e l " (Wallerstein 1 9 8 4 / 1 9 8 9 : 39). Wenn auch konkretistischer angelegt, hat die „endlose Akkumulat i o n " systematisch eine ähnliche Funktion wie Luhmanns „Und-so-weiter" der grundsätzlich endlosen und grenzenlosen Kommunikation. 1 2 Die Argumente hierzu holt Wallerstein sich vor allem von Arghiri Emmanuel „L'échange inégal" ( 1 9 7 2 ) ; s. Wallerstein ( 1 9 7 4 a / 2 0 0 0 : 87). Eine Übersicht über die weit reichende Kritik an Emmanuels Konzept sowie die desaströsen Folgen, die das für die Tragfähigkeit von Wallersteins Weltsystemtheorie hat, gibt C. Torp ( 1 9 9 8 : 2 3 3 f f . ) .
125 Bestimmung 13 von „säkularen Trends" dessen Konzept der „longue durée" (300 bis 500 Jahre) aufnimmt - erweitert um Varianten der langen Wellen resp. Zyklen, wie sie von Kondratieff, Schumpeter u. a. vorgelegt worden sind. Von Braudel übernahm Wallerstein auch das Konzept der „europäischen Weltwirtschaft/en", wobei die Verwendung des Plurals wesentlich ist. 14 Mit Verweis auf die „Thünenschen Kreise" (vgl. dazu bereits Braudel 2001/1949, 1. Bd. : 83) skizzierte Braudel später, nachdem er Vol. I. von Wallersteins MWS gelesen hatte, ein „räumliches Schema der Weltwirtschaft": „Jede Weltwirtschaft setzt sich aus dem Nebeneinander und Ineinander mehrerer auf unterschiedlicher Stufe stehender Zonen zusammen. Im konkreten Fall zeichnen sich mindestens drei .Bereiche', drei Arten von Zonen ab: ein kleines Zentrum, daran angrenzend Regionen von ziemlich hohem Entwicklungsstand und schließlich ungeheuer weiträumige Randgebiete. . . . Damit erhalten wir ein sehr umfassendes Erklärungsschema, auf das Immanuel Wallerstein 1974 sein gesamtes Werk The Modern World-System aufbaute" (Braudel 1986/1979: 35ff.). Diese ironische Bemerkung geht insofern etwas zu weit, als die Semiperipherie bei Wallerstein zugleich mit strukturellen und funk13 Braudel hatte drei (vier) Kategorien der sozialen Zeit unterschieden: l'histoire événementielle (kurzfristig), l'his-
toire conjuncturelle (mittelfristig) und l'histoire structurel-
le (langfristig) sowie „the very long-term, which he says is that of Lévi-Strauss's structures". Wallerstein versuchte später, durch eine analoge Interpretation des Raums ein zusammenhängendes Verständnis von ZeitRaum (TimeSpace) zu konzipieren (Wallerstein 1 9 8 8 / 2 0 0 1 : 136ff.). 14 Braudel ( 1 9 4 9 ) führte das Konzept der Weltwirtschaft ein, um die Mittelmeer-Region in der Zeit der frühen M o derne beschreiben und analysieren zu können (Barradas 2 0 0 0 ) . „Eine Weltwirtschaft umschließt als eine Art Hülle ein riesiges Gebiet" (Braudel 1 9 8 6 / 1 9 7 9 : 4 2 ) . Wichtig ist für Braudel die Unterscheidung von „économie mondial e " , i.S. der Wirtschaft der gesamten Welt, i.e. „die weltweite Wirtschaft als Ganzes, dem M a r k t des gesamten Universums, wie Sismondi sagte", und der „économiemonde" [mit Bindestrich], der „Wirtschaft eines Teils unseres Planeten, sobald er ein wirtschaftliches Ganzes bildet" (Braudel 1 9 8 6 : 74). Im Kontext der Überlegungen, ob sich ein „Modell" der Mittelmeerwirtschaft konstruieren lasse, heißt es: man könnte „dieses Gesamtbild der Mittelmeerwirtschaft mit den anderen , Weltwirtschaften', die an das Mittelmeer angrenzen oder den räumlichen Anschluß bilden, vergleichen". Folgerichtig stellt sich das Problem der Abgrenzung: „Ist das Mittelmeer eine in sich kohärente Zone? Eine Frage, die wir zweifellos mit ja beantworten müssen - trotz der verschwommenen und vor allem schwankenden Grenzen" (Braudel 2 0 0 1 / 1 9 4 9 , Bd. 2: 106).
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tionalen Implikationen ausgestattet wurde, die die wechselseitige Interdependenz der „polaren" Konstellation von Kern / Peripherie betonte. Die „dialektischen Wirkungen", die Kern und Peripherie aufeinander haben, ergeben für Hopkins/Wallerstein - im Unterschied zu den „dependistas" „auch die Unmöglichkeit und Nutzlosigkeit der Entkopplung als Entwicklungsstrategie" (Goldfrank 2000: 157). Eine weitere Veränderung stellt die Differenzierung von „Peripherie" und „Außenarena" [external arena] dar, die „aus den Weltsysteme« (besteht), mit denen eine gegebene Weltwirtschaft irgendeine Art Handelsbeziehung unterhält, die überwiegend auf dem Austausch von Kostbarkeiten beruht, was gelegentlich auch ,Luxushandel' genannt wird" (Wallerstein Vol. I: S. 450) - ein Handel, der aber für die Binnenstruktur des Weltsystems relativ folgenlos bleibe (s.u., 4.4). Auch diese Erweiterung liegt noch im Einzugsbereich dessen, was Braudel bereits vorgegeben hatte: es sind „Begriffe wie Welttheater oder Weltwirtschaft, die sie [deutsche Wirtschaftshistoriker 15 ] gern für die historische und die lebendige Einheit des Mittelmeers gebrauchen, um deutlich zu machen, daß es als eigene Welt, als .Wirtschaftswelt', lange Zeit auf sich selbst gestellt lebte - auf seinen Durchmesser von 60 Tagen 16 - und daß es den Rest der Welt, namentlich den Fernen Osten, nur dann in Anspruch nahm, wenn es um den Luxus ging. Wichtig ist vor allem, die Ausmaße dieser Welt hervorzuheben" (Braudel 2001/1949, 2. Bd.: 40). (4.) Wenn es so etwas wie „nationale Entwicklung" nicht gebe - so Wallersteins weitere systematische Begründung seiner Konzeption - , sei auch die Rede von Entwicklungs-„Stadien", die in der „aufholenden Entwicklung" übersprungen werden könnten, unsinnig. Die angemessene Einheit für einen Vergleich sei das Welt-System. Wenn man also von Entwicklungsstufe« spreche, müssten es folgerichtig „Stadien der Sozialsysteme" sein, also „Totalitäten". Die einzigen Totalitäten, die heute existierten oder jemals historisch existiert haben, seien „MiniSysteme" einerseits sowie „Welt-Systeme" andererFerdinand Fried: Wende der Weltwirtschaft, Leipzig 1 9 3 9 (Braudel 2 0 0 1 / 1 9 4 9 : 3 8 , Anm. 70). Später ( 1 9 8 6 / 1 9 7 9 ) verweist Braudel auf die Arbeit „Mittelalterliche Weltwirtschaft" ( 1 9 3 9 ) von Fritz Rörig, „der den Begriff Weltwirtschaft als erster in unserem Sinn verwendet" (100,712). 15
16 Braudel verweist auf Frieds Überlegung - die Wallerstein (Vol. I: 2 9 ) übernommen hat dass der „antike römische Weltwirtschaftsraum" in sechzig Tagen zu durchmessen sei, und dass das heute ( 1 9 3 9 ) für den gesamten modernen Weltwirtschaftsraum noch ebenso gelte.
seits. Diese wiederum gebe es nur in zwei Varianten: als Welt-Imperien (Weltreiche) und als Weltwirtschaften. Im 19. und 20. Jahrhundert habe es nurmehr ein Weltsystem gegeben, die kapitalistische Weltwirtschaft (Wallerstein 1974a/2000: p. 74; S. 34). Denkbar sei allerdings eine weitere, neuartige Variante des Weltsystems: eine sozialistische Weltregierung (Wallerstein 1974a/2000: S. 102). Bestimmendes Kennzeichen eines „Sozialsystems" sei generell die Existenz innerhalb einer Arbeitsteilung derart, dass die verschiedenen Sektoren oder Gebiete abhängig sind vom ökonomischen Austausch mit anderen Gebieten, „for the smooth and continuous provisioning of the needs of the area". Ein solcher wirtschaftlicher Austausch könne bestehen ohne eine gemeinsame politische Struktur und - offensichtlicher noch - ohne eine gemeinsame Kultur (Wallerstein 1974a/2000: 74f.). Ein MiniSystem sei eine Einheit, die in sich selbst eine vollständige Arbeitsteilung hat und einen einzigen kulturellen Rahmen. Solche Systeme, die man nur in sehr einfachen Agrar-, Jäger- und Sammler-Gesellschaften gefunden habe, seien seltener gewesen als gemeinhin angenommen wurde. Denn jedes derartige System sei bald durch die Zahlung von Tributen als ,Protektionskosten' an ein Imperium gebunden worden, womit es aufhörte, ein „System" zu sein, da es nicht länger über eine sich selbst versorgende [self-containing] 17 Arbeitssteilung verfügte. Für solche Gebiete bedeutete die Tributzahlung einen Wechsel - in Polanyis Sprache - von einer reziproken Ökonomie zur Teilnahme an einer größeren redistributiven Ökonomie (Wallerstein 1974a/2000: 75). Lasse man die ausgestorbenen Mini-Systeme beiseite, sei die einzige Art des Sozialsystems, die es heute noch gebe, das Weltsystem, das Wallerstein ganz einfach definiert sehen möchte als eine Einheit mit einer einzigen Arbeitsteilung und vielfältigen kulturellen Systemen. Logisch folge daraus, dass es zwei Varianten geben könne: eine mit einem gemeinsamen politischen System, das „Welt-Imperium", und eine ohne, die Weltwirtschaft/en (ebd.). Diese „drei Typen der Totalität" - Mini-Systeme, Welt-Imperien und Welt-Wirtschaften - erinnern nicht zufällig an die drei „Integrationsformen" bzw. „three basic modes of economic Organization" (Goldfrank 2000: 161), die Karl Polanyi entwickelt hat: Reziprozität (symmetrisch), Redistribution (Zentralität) und Marktaustausch (Markt). In einem kleinen Aufsatz von 1975, der ein Jahrzehnt später in „The politics of the world-economy" 17 Der Ausdruck „self-containing" erinnert an Parsons' Kennzeichnung der sozialen Systeme per „seif sufficiency".
Lothar Hack: Auf der Suche nach der verlorenen Totalität ( 1 9 8 4 ) wieder abgedruckt wurde, hat Wallerstein darauf hingewiesen, dass er die ersten beiden Charakterisierungen von Polanyi entliehen habe. W o rauf Wallerstein nicht hinwies - und was ihm offenbar auch selbst nicht klar w a r sind zwei Implikationen dieser argumentativen Anleihe. F a k tisch hat er auch für die „kapitalistische Weltwirts c h a f t " Polanyis dritte Kennzeichnung ( „ M a r k t a u s t a u s c h " ) ü b e r n o m m e n , und damit insgesamt auch dessen Eingrenzung der Problemstellung auf die Formen der Verteilung (des bereits produzierten Sozialproduktes) und der Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit, die für Polanyi zentral w a r e n . 1 8 Zugleich impliziert Polanyis „substantialistisches" Konzept der „Sozialökonomie" eine Kritik an der Entbettung (disembedding) der ökonomischen Strukturen, die als verselbständigte Marktmechanismen aus den gesellschaftlichen Kontexten entlassen werden. Die Ausblendung der beiden wesentlichen Kennzeichen der Konzeption Polanyis führte zu fatalen Engführungen der Wallersteinschen Weltsystemtheorie (s. u.).
2.2 Die europäische Weltwirtschaft als System Die genaue Bestimmung dessen, was Wallerstein unter „System/en" verstanden wissen will, variiert je nach K o n t e x t . Im zweiten Kapitel des Vol. I über die „neue Arbeitsteilung in Europa (ca. 1 4 5 0 bis 1 6 4 0 ) " - , das der Ausdifferenzierung von Z e n trum und Peripherie und der Herausbildung einer „vielschichtigen K o m p l e x i t ä t " (Vol. I: S. 1 1 7 ; p. 8 6 ) gewidmet ist, gibt es folgende Funktionsbestimmungen: „Such a system o f multiple layers o f social status and social reward is roughly correlated with a c o m p l e x system o f distribution o f productive tasks: crudely, those w h o breed m a n p o w e r sustain those w h o grow food w h o sustain those w h o g r o w other raw materials w h o sustain those involved in industrial production (and o f course, as industrialism progresses, this hierarchy o f productive services gets more c o m p l e x as this last category is ever further refined)" (Vol. I: p. 8 6 ) . Im Schlusskapitel des Bandes versucht Wallerstein dann einige systematische Klärungen dessen, w a s theoretisch unter einem „ S y s t e m " zu verstehen ist.
18 Ende der siebziger Jahre bestimmte Wallerstein seine drei bzw. vier theoretisch möglichen Weltsysteme - vom reziproken Mini-System bis zur bisher noch utopischen sozialistischen Weltregierung - eindeutig durch die „only four possible modes of production", denen er die „Zivilisationen" als „historical mental constructs" gegenüberstellte (Wallerstein 1 9 7 8 / 1 9 8 4 : 63f.).
127 „ W h a t characterizes a social system in my view is the fact that life within it is largely self-contained, and that the dynamics o f its development are largely internal . . . Perhaps we should think o f self-containment as a theoretical absolute, a sort of social vacuum, rarely visible . . . Using such a criterion, it is contended here that most entities usually described as social systems - .tribes', communities, nations t a t e s 1 9 - are not in fact total [!] systems" (Vol. I: pp. 3 4 7 f . ) . Die einzigen wirklichen sozialen Systeme seien einerseits die kleinen, a u t o n o m e n Subsistenzwirtschaften und andererseits die Weltsysteme. Im Grunde seien Systeme das, was m a n „ W e l t e n " nenne. Z u unterscheiden seien Weltreiche, die ein einziges politisches System besitzen, und solche Weltsysteme, bei denen das nicht der Fall ist und die zugleich eine Vielzahl von Kulturen enthalten. „ F o r convenience and for want o f a better term, we are using the term . w o r l d - e c o n o m y ' t o describe the latter." Vor der modernen Zeit habe es bereits Weltwirtschaften gegeben, die aber sehr „instabile Strukturen w a r e n " . Die Besonderheit des modernen Weltsystems liege darin, dass eine Weltwirtschaft 5 0 0 J a h r e überlebt habe, ohne in ein Weltreich überzugehen - eine Besonderheit, die das Geheimnis seiner Stärke sei. „ T h i s peculiarity is the political side o f the form o f e c o n o m i c organization called capitalism. Capitalism has been able to flourish precisely because the w o r l d - e c o n o m y has had within its bounds not one but a multiplicity o f political systems" (Vol. I: p. 3 4 8 ; S. 5 1 8 ) . Wesentliche Kennzeichen der Wallersteinschen „Weltsystemtheorie" ergeben sich daraus, wie die „europäische W e l t w i r t s c h a f t " - i.e.: der Kapitalismus - geradezu als absichtsvoll herbeigeführte „ L ö sung der Krise des Feudalismus" vorgestellt wird. D a s ist nicht nur eine zeitliche Z u o r d n u n g , sondern liefert eine Reihe von Strukturbestimmungen. Im späten Mittelalter habe im weitgehend feudalen Europa eine christliche „ Z i v i l i s a t i o n " bestanden, aber
1 9 Vgl. zur theoretischen Einordnung der Wallersteinschen Konzeption: „Partly in reaction to microrealism, macrorealist arguments such as world-system theory (Wallerstein 1 9 7 4 , Chase-Dunn 1 9 8 9 ) and state-competition theory (Tilly 1 9 9 2 , Skocpol 1 9 7 9 ) see the nation-state as the creature of world-wide systems of economic or political power, exchange, and competition. The nation-state is less a bounded actor, more the occupant of a role defined by world economic and political/military competition. Culture, most often seen as self-serving hegemonic ideology or repressive false consciousness, is of only marginal interest; money and force, power and interest, are the engines of global change. World-system theory develops this line of thought most consistently" (Meyer 1 9 9 7 : 147).
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kein Weltreich und auch keine Weltwirtschaft. Es bestand aus relativ kleinen, autarken Einheiten, in denen eine „relativ kleine Klasse des Adels" sich direkt den „landwirtschaftlichen Surplus" aneignete. Allerdings sah sich Wallerstein gegenüber Braudel zu dem Zugeständnis veranlasst, dass es innerhalb Europas mindestens „zwei kleinere Weltwirtschaften" gegeben habe, von denen die eine auf die Stadtstaaten Norditaliens gegründet und von mittlerer Größe war, und die kleinere auf den Stadtstaaten von Flandern und Norddeutschland basierte (Vol. I: S. 45). 2 0 Für die Krise des Feudalismus gebe es in der vorliegenden Literatur hauptsächlich drei Erklärungen: (1) die „Produktion zyklischer ökonomischer Trends"; (2) die „Produktion eines Jahrhunderttrends", der „nach tausend Jahren" einen Punkt erreichte, von dem ab sich die Gewinne der Feudalherren verringerten; und (3) die „klimatologische" Erklärung, incl. Wetterbedingungen und Epidemien. Da es die Erklärungen (1) und (3) auch für „andere Orte" gegeben habe, „jedoch ohne die Folge, daß eine kapitalistische Weltwirtschaft als Lösung für die Probleme geschaffen [!] wurde", hält Wallerstein es für die einleuchtendste Annahme, vom - prinzipiell kontingenten - Zusammenwirken aller drei Faktoren auszugehen, um die Entstehung des Kapitalismus zu erklären (Vol. I: S. 46). 2 1 20
Von 1150 bis 1300 habe sich in Europa „im Rahmen der feudalen Produktionsweise eine Expansion" vollzogen, die eine geographische, eine kommerzielle und eine demographische Dimension hatte. Anschließend - von etwa 1300 bis 1450 - sei es auf allen drei Ebenen dann wieder zusammengeschrumpft (Vol. I: S. 45). 21 Diese Annahme der kontingenten Konstellation dreier voneinander unabhängiger Entstehungsursachen ist auf scharfe Kritik gestoßen, zumal alle drei Faktoren als „extrinsische Ursachen" vorgestellt würden, womit der Ubergang des Feudalismus zum Kapitalismus prinzipiell ohne Berücksichtigung interner Widersprüche des Feudalismus konzipiert werde (Aronowitz 1981: 512). - Der Einwand gilt auch für eine andere Variante, die Wallerstein später vorgelegt hat, um die „spezifische Schwäche" Westeuropas zu erklären, die zur Entstehung des „Desasters" geführt habe, das kapitalistisches Welt-System genannt werden könne: sie sei zurückzuführen auf die „implausible contemporaneity of four collapses - those of the seigniors, the states, the Church, and the Mongols". Dabei komme den Mongolen eine spezifische, negative Bedeutung zu. Die drei anderen „Zusammenbrüche" für sich genommen hätten dazu geführt, dass Europa von einer externen Macht erobert worden wäre, was die Möglichkeit des „Abstiegs [descent!] in den Kapitalismus" beendet hätte. Da der Zusammenbruch der Mongolen aber zu einem augenblicklichen Zusammenbruch des Welthandels-Systems geführt habe, sei es unmöglich gewesen, Westeuropa von
Für die Etablierung der kapitalistischen Weltwirtschaft als Lösung der Krise des Feudalismus seien drei Dinge wesentlich gewesen: (a) die geographische Ausweitung; (b) die Arbeitskontrollmethoden; und (c) starke Staatsapparate (Vol. I: S. 47), die „die Verteilung der wirtschaftlichen Aufgaben" beeinflussen (Hopkins/Wallerstein 1979/1977: S. 175), und zwar nach innen wie nach außen. Nur in ganz seltenen Ausnahmefällen könne ein Zentralstaat zu einer Hegemonialmacht werden. Im Rahmen der kapitalistischen Weltwirtschaft hätten das in den letzten fünf Jahrhunderten nur drei Zentralstaaten geschafft: die Vereinigten Provinzen der Niederlande (VPN) 1625 - 1650/72; Großbritannien 1815 1850/1873; und die USA 1945 - 1967 (Hopkins/ Wallerstein 1979/1977: S. 176). Da Hegemonie „Überlegenheit in bezug auf jedweden Aspekt des Marktes" - Produktion, Handel und Finanzen - bedeute, bestehe die „Hauptfunktion des Staatsapparates der Hegemonialmacht nicht darin, (künstliche) ,marktfremde' Vorteile zu schaffen, sondern die Marktmechanismen offen zu halten" (Hopkins/Wallerstein 1979/1977: S. 177). Drei Momente machen nach Wallerstein die relative politische Stabilität des Weltsystems „im Sinne des Überlebens des Systems" aus: (a) die militärische Stärke; (b) eine starke ideologische Bindung; und (c) die dreischichtige Struktur des Weltsystems, d. h. das Zusammenwirken von Zentrum, Peripherie und Semiperipherie, die zum reibungslosen Funktionieren der Weltwirtschaft nötig sei, da sie „zugleich ausbeute und ausgebeutet werde" (Imbusch 1990: 29). Für unterschiedliche Typen der Produktion sei jeweils eine bestimmte Arbeitsorganisation „am besten geeignet" (Vol. I: S. 11). So gibt es in den verschiedenen Zonen der Weltwirtschaft gleichzeitig Sklaverei und Feudalismus in der Peripherie, im Zentrum Lohnarbeit und Selbständigkeit und in der Semiperipherie „das Prinzip der Anteilswirtschaft", das „share-cropping", das in Wallersteins Versuch, eine eigenständige Rolle des „Agrarkapitalismus" zu begründen, eine erhebliche Rolle spielt (vgl. Vol. I, pp. 103ff., 113, 264, 287 etc.). In der Periode zwischen 1733 und 1817 habe die europäische Weltwirtschaft dann die Begrenzungen durchbrochen, die sie im „langen 16. Jahrhundert" außen zu erobern. Vor allem aber: „For one moment in historical space-time, the protective anticapitalist gates were opened up and capitalism ,snuck in', to the loss of us all" (Wallerstein 1993: 293). Ein weltgeschichtlich winziger Augenblick der Unaufmerksamkeit reichte, um das Böse in die Welt zu lassen. Dumm gelaufen!
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geschaffen hatte, und begonnen, die weiträumigen neuen Z o n e n in die effektive Arbeitsteilung zu integrieren. Sie begann mit den Z o n e n , die bereits seit dem 1 6 . J a h r h u n d e r t ihre Außenarenen waren, vor allem: dem indischen Subkontinent, dem O t t o m a nischen und dem Russischen R e i c h [beide: empire] sowie West-Afrika. Die Inkorporierung habe in der zweiten Hälfte des 1 8 . und der ersten Hälfte des 1 9 . Jahrhunderts mit wachsender Geschwindigkeit stattgefunden, so dass schließlich am Ende des 1 9 . und zu Beginn des 2 0 . Jahrhunderts der „gesamte G l o b u s ins Innere gerissen wurde, sogar jene Regionen, die zuvor niemals Teil der Außenarena der kapitalistischen Weltwirtschaft gewesen w a r e n " . Diese Inkorporation in die kapitalistische Weltwirtschaft habe niemals auf der Initiative derer beruht, die inkorporiert wurden, sondern sie sei von dem Bedürfnis der Weltwirtschaft geleitet worden, ihre Grenzen auszuweiten, „einem Bedürfnis, das selbst das Ergebnis der internen Pressionen auf die Weltwirtschaft w a r " . Das M u s t e r des Inkorporierungsprozesses der Außenarena in die Weltwirtschaft, d . h . deren „Peripheralisierung", zeige in den wesentlichen Aspekten „substantielle Ä h n l i c h k e i t e n " , auch wenn es kleine Unterschiede gegeben habe (Vol. III: 1 2 9 f . ) . In dieser übergreifenden Interpretation liegt eine der Stärken der Wallersteinschen Weltsystemtheorie. Angesichts der enormen Heterogenität jedes einzelnen der genannten vier Bereiche droht aber auch eine funktionalistische Verengung auf die (vermeintlichen) „Bedürfnisse" der W e l t w i r t s c h a f t . 2 2
3. Wallersteins Verhältnis zur M a r x s c h e n Theorie Wallersteins Verhältnis zur M a r x s c h e n T h e o r i e scheint mehrfach gebrochen zu sein. Auf der einen Seite wird Wallerstein nicht müde zu betonen, wieDie gleiche Gefahr funktionalistischer Verengung gibt es bei der Interpretation der Peripherie, die Wallerstein mit den Vertretern der „radikalen Variante der Dependenztheorie" teilt: „der Glaube an die determinierende Kraft der exogenen Faktoren" führe „zu der Annahme, daß Unterentwicklung im Grunde immer gleich verlaufe. Auf der Suche nach einer derartigen, aus der Abhängigkeit resultierenden allgemeinen Anomalie der Entwicklung an der Peripherie werden dabei die Spezifika der einzelnen Länder, wie etwa Kultur, überkommene Gesellschaftsstruktur, traditionelle Rolle des Staates, Zeitpunkt der Unabhängigkeit, Grad und Form der Weltmarktintegration, geografische Ausdehnung und Beschaffenheit, Reichtum oder Armut an natürlichen Ressourcen, völlig vernachlässigt" (Torp 1 9 9 8 : 239f.). 22
viel er den Arbeiten von M a r x verdanke, der die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der „contradictions o f the s y s t e m " gelenkt h a b e (Wallerstein 1 9 7 4 a / 2 0 0 0 : 7 1 f . ) . 2 3 In einem programmatischen T e x t von 1 9 9 0 - also zum Zeitpunkt des Z u s a m menbruchs der Sowjetunion - heißt es: „ M a r x and his ideas are flourishing, stand up better today than those o f any other nineteenth-century analyst, and promise to remain central to social life in the world-system in the twenty-first Century"; der M a r xismus-Leninismus als Strategie und Ideologie habe aber ausgespielt (Wallerstein 1 9 9 0 / 1 9 9 7 : 8 4 ) . Andererseits fällt auf, wie selten Wallerstein in seinen Arbeiten inhaltlich auf Argumente der M a r x s c h e n T h e o r i e rekurriert, auch dann, wenn sie für seine Themenstellung zentral (gewesen) wären. Die „Erbschaft des M a r x i s m u s " (Goldfrank 2 0 0 0 : 1 6 3 f f . ) ist in die Wallersteinschen Arbeiten vor allem vermittelt über Personen und Traditionen eingegangen, die für ihn zentrale Bedeutung hatten: F. Braudel (Schule der „ A n n a l e s " . . . ) 2 4 , K. Polanyi, aber auch C. Wright Mills u . a . In der Dependenztheorie waren neo-marxistische M o t i v e aufgenommen worden, die besonders Paul B a r a n (1962/ 1 9 5 7 ) eingebracht hatte (Hopkins et al. 1 9 8 2 : 4 6 ) . Eine wichtige Rolle spielten weiterhin die politischen Strategiekonzepte von Lenin und M a o 2 5 soEin Vierteljahrhundert später bestreitet Wallerstein die Behauptung, der Begriff „Weltsystem" impliziere Gleichgewicht und Konsens. Am interessantesten an Systemen sei gerade, dass sie tiefe Brüche (cleavages) aufwiesen, die sie durch Institutionalisierung zu begrenzen versuchten, worauf bereits G. Simmel, L. Coser u.a. aufmerksam gemacht hätten. Wahr sei aber gleichermaßen, dass Systeme niemals vollständig erfolgreich dabei seien, ihre internen Konflikte zu eliminieren oder auch nur zu verhindern, dass sie gewaltsame Formen annähmen. Diese Einsicht bleibe das wichtigste Vermächtnis der Arbeit von Karl M a r x (Wallerstein 2 0 0 0 : X I X ) . 23
Verwiesen wird auf den Einfluss der marxistischen Historiographie, vor allem auf die englische Zeitschrift „Past & Present" (s. Vol. I, 17 Zitate), Christopher Hill, Eric Hobsbawm, Victor Kiernan und R.H. Tawney (Goldfrank 2 0 0 0 : 165). 25 Von M a o Tse Tung habe Wallerstein die - gegen den Sowjet-„Revisionismus" hochgehaltene - Strategie übernommen, dass der Klassenkampf fortgesetzt werden müsse, von Lenin die Annahme, dass die inter-imperialistische Rivalität (bei Wallerstein: core compétition) und die antiimperialistische Revolution im 20. Jahrhundert von zentraler Bedeutung seien (Goldfrank 2 0 0 0 : 164). Bei Lenin findet sich auch der Begriff „Weltsystem": „Der Kapitalismus ist zu einem Weltsystem kolonialer Unterdrückung und finanzieller Erdrosselung der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung der Erde durch eine Handvoll f o r t geschrittener' Länder geworden" (Lenin 1 9 1 7 / 1 9 6 1 : 7 7 1 ) . 24
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wie der II. und III. Internationale. Wallersteins Ehrgeiz aber sei es immer gewesen, den Marxismus selbst zu revidieren, indem er die moderne Welt ohne dessen Scheuklappen zu interpretieren versucht/e (Goldfrank 2000: 165). 2 6 Im vorliegenden Zusammenhang der Weltsystemtheorie und der kapitalistischen Weltwirtschaft sind es vor allem fünf zentrale Argumentationsmuster bzw. Themenstellungen, an denen sich die Bezüge Wallersteins zur Marxschen Theorietradition klären lassen. (1.) Die Notwendigkeit, „das Ganze", die übergreifende Totalität für die Analyse von Einzelprozessen heranzuziehen, ist zentraler Anspruch der marxistischen Theorietradition, vor allem in ihrer hegelianischen Ausrichtung, kulminierend in der Formel „Das Wahre ist das Ganze". 2 7 So hatten Baran, Sweezy den Ausspruch Hegels ihrem Essay „Monopoly Capital" (Baran/Sweezy 1966) als Motto vorangestellt, um dann die Kritik anzuschließen: „As for society as a whole, which in the past has been the chief preoccupation of the great social thinkers, since it transcends all the specialties, it simply disappears from the purview of social science. It is taken for granted and ignored" (Baran/Sweezy 1966: p. 2). 2 8 Wichtigster Referenztext dieser Diskussion ist eine viel-zitierte Passage aus „Geschichte und In seinem Artikel über C. Wright Mills (1972a) notiert Wallerstein, Mills habe die Arbeiten von Marx und Max Weber als „hilfreiche klassische Theorien" angesehen, über die er aber hinausgehen wollte, „to a new comparative world sociology that would seek to understand our time in terms of its historical specificity and by so doing renew the possibility of achieving human freedom." Mills sei gestorben (1962), bevor er eine „vollständige Synthese seiner Ideen" habe vorlegen können. Drei späte Bücher von Mills interpretiert Wallerstein zusammenfassend wie folgt: „These three books were historical interpretations of the contemporary world system, of the evolution of the social sciences in the United States, of societal revolution in Cuba - in the form of polemical essays." Diese Charakterisierungen dürften recht gut Wallersteins eigene Ambitionen kennzeichnen. 26
Philosophiegeschichtlich handelt es sich um den Versuch, nach Immanuel Kants Darlegung der großen Entgegensetzungen „in die Perspektive des Absoluten zurückzukehren". „In Kants Nachfolge haben viele von der Ganzheit geträumt - allen voran Hegel mit seiner Devise ,Das Wahre ist das Ganze' - und dabei übersehen, dass die kantischen Gegensätze sämtlich die Endlichkeit unserer Vernunft ausdrücken" (Schnädelbach 2004: 29). 2 8 In seinem Kapitel (XVI.) über „Die Weltwirtschaft" hatte Sweezy aber jene Gleichsetzung von „Nationen" und „Gesellschaften" vorgenommen, gegen die Wallerstein/Hopkins frühzeitig begründete Einwände erhoben hatten: „In der realen Welt leben eine Reihe von Nationen nebeneinander und unterhalten Beziehungen zueinander. 27
Klassenbewußtsein", in der G. Lukäcs betont: „Nicht die Vorherrschaft der ökonomischen Motive in der Geschichtserklärung unterscheidet den Marxismus von der bürgerlichen Wissenschaft, sondern der Gesichtspunkt der Totalität. Die Kategorie der Totalität, die allseitige, bestimmende Herrschaft des Ganzen über die Teile ist das Wesen der Methode, die Marx von Hegel übernommen und originell zur Grundlage einer ganz neuen Wissenschaft umgestaltet hat. . . . Die Herrschaft der Kategorie der Totalität ist der Träger des revolutionären Prinzips in der Wissenschaft" (Lukäcs 1923: 39). Auch Wallerstein referiert diese Passage an programmatisch zentraler Stelle (1974a/2000: 71f.). Grundlegend für die Weltsystemtheorie war frühzeitig (1974) die Annahme, zentrale „AnalyseEinheit" 2 9 seien nicht einzelne (nationale) Gesellschaften oder Nationalstaaten, sondern das „Weltsystem" (Vol. I: S. XVII) als Ganzes bzw. als Totalität, was nicht mit Vollständigkeit verwechselt werden dürfe. „Ich versuchte, das Weltsystem auf einem bestimmten Abstraktionsniveau zu beschreiben, nämlich auf dem der Evolution der Strukturen des gesamten Systems" (Vol. I: S. 20; p. 8). Auch vergleichende Analysen könne man nur durchführen, wenn man „von den Ganzen und von Teilen der Ganzen" ausgehe (Vol. I: S. 102; vgl. auch Goldfrank 2000: 150f). Die Frage ist dann aber, wie man „Totalität" abgrenzt, vor allem wenn es mehrere „Totalitäten" („wholes") nebeneinander geben soll. In der marxistischen Theorietradition gibt es dazu eine jahrzehntelange Diskussion, die Martin Jay (1984) detailliert - als Entwicklung des „westlichen Marxismus" - rekonstruiert hat. 3 0 Dazu gehört Einige dieser Nationen sind gut entwickelte kapitalistische Gesellschaften" (Sweezy 1959/1942: 226). 2 9 Ebenso: „grundlegende Beobachtungseinheit [basic unit of observation] ist ein Konzept des Welt-Systems, das strukturelle Teile und sich entwickelnde Teile [evolving parts] hat" (Wallerstein Vol. I: S. 102). 10 Von den zahlreichen Theoretikern des „westlichen Marxismus" - von Bloch, Korsch und Gramsci über Benjamin, Adorno und Horkheimer bis zu Habermas - , deren Verständnis von „Totalität" Jay analysiert, findet außer Lukäcs keiner einen Platz in Wallersteins endlosen Literaturlisten. Erkennbar fehlt eine ganze Dimension dessen, was Wallerstein mit seiner emphatischen Ausrichtung auf „das Ganze" beansprucht. Um so bemerkenswerter ist der Anspruch, die frühe kritische Theorie - vor allem Horkheimers (1937) Kritik der „traditionellen Theorie" - aufzunehmen: „world-system analysis is in its very essence the best of the critical theory" (Sonntag 2003: 244).
Lothar Hack: Auf der Suche nach der verlorenen Totalität
Adornos Beschwörung des „ubiquitären Verblendungszusammenhangs", der in der Umkehrung der Hegeischen Formel mündet: die Nichtidentität des Antagonistischen, die die Philosophie Hegels „mühselig zusammenbiegt", sei „die jenes Ganzen, das nicht das Wahre, sondern das Unwahre, der absolute Gegensatz zur Gerechtigkeit ist" (Adorno 1963: 44). 3 1 Dazu gehört aber auch der großangelegte Versuch von Habermas, das Ganze in der kategorialen Differenzierung von System und Lebenswelt (Habermas 1981a: 460) und Totalität als „Einheit von System und Lebenswelt" neu zu verankern (Habermas 1981b: 501). Das ist nahezu das Gegenteil des durchgängigen Bemühens Wallersteins, sich des „Ganzen" empirisch zu bemächtigen. Trotz seines beengten Verständnisses von sozialen Strukturen hält Wallerstein wenigstens an der Möglichkeit fest, die tatsächlichen Machtverhältnisse und Herrschaftsstrukturen verbindlich zu analysieren und zu kritisieren. In Anlehnung an die Arbeit von Jay hat Ken Post dessen Unterscheidung von „longitudinal totality, which is history, and latitudinal totality, which is society" (Post 1996: 39; s.a. 86ff.) auf Wallersteins Konzeption angewendet. Wallerstein bearbeite beide Problemstellungen mit brachialer Konsequenz, indem er die „longitudinale Totalität" für 500 Jahre fixiere und die „Breiten-Totalität" als ökonomisch dominiert vereinfache. 32 Für Wallersteins Theoretisierungsstrategie gelte die Regel: „Um Wandel zu
Die „Einheit des Systems rührt her von unversöhnlicher Gewalt. Die vom Hegeischen System begriffene Welt hat sich buchstäblich als System, nämlich das einer radikal vergesellschafteten Gesellschaft, erst heute, nach hundertfünfundzwanzig Jahren, satanisch bewiesen. . . . Die durch Produktion', durch gesellschaftliche Arbeit nach dem Tauschverhältnis zusammengeschlossene Welt hängt in allen ihren Momenten von den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Produktion ab und verwirklicht insofern in der Tat den Vorrang des Ganzen über die Teile; darin verifiziert die verzweifelte Ohnmacht eines jeden Individuums heute den überschwenglichen Hegeischen Systemgedank e n " (Adorno 1 9 6 3 : 39f.). Auch diese Position lässt sich mit Fug bestreiten, da „sich kein Standpunkt mehr festlegen läßt, von dem aus das Ganze, mag man es Staat oder Gesellschaft nennen, richtig beobachtet werden k a n n " (Luhmann 1 9 8 4 : 6 2 9 ) . 31
Das kann durch das ergänzt werden, was man „epistemological totality" nennen könnte (s. Wallerstein 2 0 0 0 ; 2 0 0 1 / 1 9 9 1 ; Wallerstein et al. 1 9 9 6 ) , die Auflösung der sozialwissenschaftlichen Disziplinen in einer Einheitswissenschaft. „One may call this historical s o c i o l o g y . . . or sociological history or anything else, provided one realizes this is not a subdiscipline but the entire enterprise" (Wallerstein 1 9 8 3 / 2 0 0 1 : 37). 32
131 untersuchen, lokalisiere die relevante Totalität, innerhalb deren Wandel primär determiniert ist" (Goldfrank 2000: 183). Wie aber bestimmt man die „relevante Totalität"? Für Wallerstein ist der entscheidende Mechanismus die „internationale Arbeitsteilung". (2.) In der Marxschen Theorietradition kommt dem Prozess der (ursprünglichen) Akkumulation des Kapitals grundlegende Bedeutung zu, wobei die Ausbeutung der Kolonien eine wichtige Rolle spielte. Wallerstein hat diese Grundbestimmung übernommen, aber mit zwei bedeutsamen Unterscheidungen gegenüber dem Mainstream marxistischer Konzepte: (a) Der Akkumulationsprozess, der als prinzipiell „endlos" resp. grenzenlos konzipiert ist, wird als We/i-Prozess gesehen, nicht als eine Reihe von parallelen nationalen Prozessen, (b) Er ist notwendigerweise involviert in die Appropriation und Transformation des peripheralen Surplus; geographische Expansion und anhaltende Akkumulation sind konstitutiver Bestandteil auch des modernen Kapitalismus (Goldfrank 2000: 170). Mit der systematischen und begrifflichen Kopplung des Kapitalverhältnisses an den Welthandel resp. „Weltmarkt" sind diese auch in der Marxschen Theorie bereits für die Durchsetzung des Kapitalismus sowie für die Herausbildung dessen nationaler Formationen wesentlich gewesen (vgl. Kößler/Wienold 2001: 241ff.). Bei Marx war das aber kein einfaches Abhängigkeitsverhältnis. Einerseits bedeutet die begriffliche Koppelung, dass der Weltmarkt selbst die Basis der kapitalistischen Produktionsweise bildet. „Aus diesem Grund wirkten die Konstitutierung des Weltmarktes und die sukzessive Einbeziehung ,ausgedehnter Gebiete' in Amerika, Asien und Australien sowie die Entstehung einer gewissen Anzahl .industrieller Nationen' als Bedingung für den zyklischen Charakter der ökonomischen und damit auch der sozialen Krisen des Kapitalismus [Kapital Bd.I: 662]" (Kößler/Wienold 2001: 243). Immer wieder aber werden Formulierungen verwendet, die eher eine gegenläufige Abhängigkeit betonen: „Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt" (Marx, Engels 1848/1959: 463). Nationalstaatliche Zusammenhänge sind mit der „Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarktes" keineswegs bedeutungslos geworden. Der Weltmarktzusammenhang wird durch die Nationalstaaten vermittelt, „ihre gegenseitigen Grenzen und die damit zusammenhängenden Regelungen wie Zölle und Währungen, aber auch durch repressive und ideologische Apparate und deren Rolle im Klassenkampf" (Kößler/Wienold 2001:
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243). 3 3 Für Wallerstein hingegen entsteht der Kapitalismus als „kapitalistische Weltwirtschaft", durch die Nationalstaaten und Klassen erst ihren spezifischen Stellenwert erhalten. Von ihrer Entstehung bis heute nutzen die „Kernländer" die Mechanismen des „ungerechten Tauschs", um sich den Surplus der Peripherieländer wie - mit Einschränkungen - der semiperipheren Regionen anzueignen. Bestandteil der Marxschen Theorietradition war schließlich das - seit langem mehr als umstrittene „Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate", ein Dogma, das Wallerstein beizubehalten und in die „strukturelle Profitkrise" des gegenwärtigen Kapitalismus, die sein baldiges Ende bedeute, zu überführen versucht. 34 Die Profitkrise begründet Wallerstein folgendermaßen: Das Bemühen der Kapitalisten um höhere Profite werde „durch Löhne, Materialkosten und Steuern beschränkt", wobei Preise vom Markt bestimmt würden. Als Ausweg kämen demnach nur Produktionsverlagerungen infrage - dorthin, wo niedrige Löhne erzielt werden könnten. Diese Möglichkeit aber gebe es immer weniger, und demnächst gar nicht mehr. Die Argumentation erinnert an Rosa Luxemburgs Annahme, der Kapitalismus sei dadurch gekennzeichnet, dass er immer neue Regionen erschließen müsse, um Absatzmärkte für seine Überproduktion zu gewinnen. Mit der gleichen „strategischen" Begründung geht es bei Wallerstein um die Erschließung der neuen Regionen als Produktionsstandorte. „Im Gegensatz zu Luxemburg, die in dieser Hinsicht weltsystemisch dachte, blieben die meisten Marxisten des 19. Jahrhunderts auf den Kapitalismus innerhalb der einzelnen Staaten orientiert. Luxemburg hingegen erkannte, dass die notwendige räumliche Ausdehnung der kapitalistischen Weltwirtschaft an
3 3 „Nationale Ö k o n o m i e n " resp. „Volkswirtschaften" sind keineswegs nur fiktive oder abgeleitete Größen: „The world economy during this period thus tended increasingly to consist essentially of a group o f rival developed .national economies', . . . functioned primarily through such organized sub-units of the world economy: ,British capitalism', .German capitalism', ,US capitalism' etc. T h e purely transnational element in this world economy, though still visible in such activities as international trade shipping and finance, was clearly much more tied to national bas e s " ( H o b s b a w m 1 9 7 9 : 3 1 2 f . ) . „From the global point of view national capitalist economies and world capitalism reinforced one a n o t h e r " (Hobsbawm 1 9 7 9 : 3 1 4 ) .
Damit hängt ein weiteres M o t i v zusammen, bei dessen Aufnahme und Weiterführung Wallerstein ungewöhnlich dogmatisch vorgeht: das Problem der „absoluten Verelend u n g " , gewendet und verschärft als Verelendung im Weltmaßstab; vgl. Imbusch 1 9 9 0 .
34
die physischen Grenzen des Globus stoßen würde" (Wallerstein 2001a: 125; kursiv von mir, L.H.). 3 5 (3.) Die Funktionsweise des Nationalstaates will Wallerstein im Kontext des Staatensystems verstanden wissen, ebenso wie die Bedeutung des Klassenkampfes als globaler Klassenkampf begriffen werden müsse - beide zu sehen im Rahmen der alles-umgreifenden kapitalistischen Weltwirtschaft. Beide Akzente variieren zentrale Motive der marxistischen Theorietradition. In der Marxschen Theorie ist der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie „der Form nach" zuallererst ein nationaler Kampf (Marx/Engels 1848/1959: 473; Kößler/Wienold 2001: 243). Genau diese nationale Vermittlung bzw. Brechung der Klassenkämpfe bestreitet Wallerstein. Auch das, was Amin als „Konflikte zwischen den am Weltsystem beteiligten nationalen Systemen" (Amin 2003: 49) bezeichnet, kann es bei Wallerstein nicht geben. Die Öffnung der Perspektive zur „Weltwirtschaft" soll den übergreifenden Systemzusammenhang in den Vordergrund holen, womit Wallersteins Konzept von Kern - Semiperipherie - Peripherie eine potentiell fruchtbare Erweiterung und Präzisierung darstellt. Das gilt auch für seine Interpretationen der Rolle der „starken Staaten" des Zentrums und deren Konkurrenzverhältnisse im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung. 36 Da Wallerstein aber den Nationalstaat per definiBezeichnend ist, dass Wallerstein immer wieder von „Asymptoten" redet, die das Ende von Entwicklungsprozessen (2001/1991: 2 6 , 1 4 3 ) bzw. der „säkularen Trends" ( 2 0 0 0 b : 2 5 8 ) definitiv begrenzen (sollen). - Eine erstaunliche Bestätigung hat Wallerstein durch die reale Entwicklung der letzten 15 Jahre erfahren. Frühzeitig insistierte er darauf, dass es nur „eine kapitalistische Weltwirtschaft" gibt und keine „sozialistische Weltwirtschaft". Dagegen haben Marxisten(-Leninisten) heftig protestiert - noch um 1 9 8 0 ; vgl. Blaschke 1 9 8 3 . Auch Baran/Sweezy (1973/1966) hatten das ganz anders gesehen; um die ungeheuren Militärausgaben der USA zu erklären, sei es notwendig, „ein neues historisches Phänomen einzubeziehen, nämlich die Entstehung eines sozialistischen Weltsystems als Konkurrenz und Alternative des kapitalistischen Weltsystems" (S. 179). 35
3 6 Vgl. die Darstellung des Kampfes um die Hegemonie zwischen England und Frankreich im Zeitraum 1 7 6 3 1 8 1 5 in „Struggle in the Core - Phase I I I " (Wallerstein Vol. III: 5 5 - 1 2 6 ) , in der die hin und wieder eingestreute Beschwörung der „ w o r l d - e c o n o m y " allerdings weniger aufschlußreich ist als die schließliche Betonung der politisch-militärischen Komponente: „Great Britain ultimately prevailed globally in military t e r m s " (Vol. III: 1 1 2 ) . Es klingt wie eine beiläufige Antwort auf Giddens' Kritik, Wallerstein untertreibe die Bedeutung militärischer M a c h t bzw. der „world politico-military o r d e r " (Giddens 1 9 8 7 : 180).
Lothar Hack: Auf der Suche nach der verlorenen Totalität tionem als kontextualisiert - und zudem auch: ausschließlich als M a k r o a k t e u r , Organisation oder Unt e r n e h m e r 3 7 - konzipiert, und da er außerdem die Differenz zwischen „ W e l t m a r k t " und „Weltwirts c h a f t " weg-abstrahiert hat (s.u.), kann er die Wechselwirkungen (Dialektik) der M a r x s c h e n Interpretation nicht nachvollziehen. Denn im Unterschied zu Wallerstein wird in der M a r x s c h e n T h e o rietradition auch die Trennung von Ö k o n o m i e und Politik als gesellschaftliches Verhältnis verstanden, ebenso wie das Verhältnis Kapital/Arbeit, in dem
die gesellschaftliche
Formbestimmung
zum Aus-
druck k o m m t , ohne deren Berücksichtigung die Herrschaftsverhältnisse ebenso wenig zu verstehen sind wie Ausbeutung, Entfremdung usw. (vgl. K ö ß ler/Wienold 2 0 0 1 : 4 2 f f . ) . D . h . die zentralen „ökonomischen" Kategorien strukturieren zugleich die gesellschaftlichen Verhältnisse. In diesem Sinne ist „ G e s e l l s c h a f t " bei M a r x stets auch das, was durch die „prinzipiell s c h r a n k e n l o s e " D y n a m i k des Kapitals und seiner Verwertungsimperative immer schon als etwas verstanden werden musste, was nationalstaatliche Grenzen transzendiert. Erst vor diesem Hintergrund ergeben sich dann - vor allem in den politisch-historischen Schriften von M a r x - jene spezifischen F o r m a t i o n e n , in denen Nationalstaaten (durch Zölle, Steuern etc.) Einfluss nehmen können auf die spezifischen Formen der Ausprägung des Kapitalismus. (4.) Indem die Wallersteinsche Weltsystemtheorie das M a r x s c h e Konzept der Gesellschaftsformation ökonomistisch reduziert, vernachlässigt sie zwei weitere - eng zusammengehörende - Grundmotive der M a r x s c h e n Theorie/tradition. Erstens wird damit die T r a n s f o r m a t i o n von formeller in reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital und damit die Herstellung der D o m i n a n z des Verwertungsprozesses über den Arbeitsprozess ausgeblendet, w o m i t der Übergang in organisationsinterne Strukturierungen blockiert ist. Zweitens wird die Differenz zwischen Handels- und Kaufmannskapital einerseits und der Herausbildung des industriellen Kapitals andererseits ignoriert. Das impliziert zugleich, dass es nicht mehr möglich ist, zwischen dem M a r k t als Verteilungsmechanismus und als F o r m a tion der K a p i t a l f e w e r i w w g zu unterscheiden, durch die die D o m i n a n z des Tauschwerts über den Gebrauchswert zum Ausdruck k o m m t . Erst damit aber wurde jener robuste M e c h a n i s m u s der Produktivitätssteigerung institutionalisiert, der für die
Vgl.: „An empire cannot be conceived of as an entrepreneur as can a state in a world-economy" (Wallerstein Vol. I: p. 60). 37
133 rasante
Technologieentwicklung
ausschlaggebend
ist, die den Industriekapitalismus k e n n z e i c h n e t . 3 8 Z w a r n i m m t Wallerstein das M a r x s c h e M o t i v der „Arbeitskraft als W a r e " auf, demonstriert aber durchgängig und nachdrücklich, dass er auch bei dieser W a r e nur den M a r k t a s p e k t markt) w a h r n i m m t . 3 9
(i.e.
Arbeits-
Erst durch diese vollständige Vernachlässigung des Transformationsprozesses und damit der gesellschaftlichen Formveränderungen erhält Wallersteins Weltsystemtheorie jene Abstraktionshöhe, auf der „ K a p i t a l i s m u s " als etwas vorgestellt werden k a n n , was seit dem „langen 1 6 . J a h r h u n d e r t " im wesentlichen unverändert - bis heute existiere. Das ist sozusagen der argumentationsstrategische Vorteil. Die Kehrseite dieser Abstraktion liegt nun allerdings darin, dass Wallerstein an die AnalyseEbene des Marktes gefesselt bleibt: es handelt sich um eine - im Hegeischen Sinne - „schlechte Abstrakt i o n " , da sie gerade von wesentlichen Strukturbestimmungen absieht. So bleibt seine Interpretation der internationalen Arbeitsteilung auf die Vorstellung von „commodity c h a i n s " (Hopkins/Wallerstein 1 9 8 6 ) beschränkt: „Produktionsprozesse wurden (mit) komplexen Warenketten miteinander verbund e n " (Wallerstein 1 9 8 4 : 1 1 ) . Die Durchsetzung des Kapitalismus bzw. der Weltwirtschaft wird primär zu einem Vorgang der Expansion. Altvater ( 1 9 8 7 ) hat das aufgespießt: die Expansion der kapitalistiDieses Defizit hat verheerende Folgen: wenn Wallerstein davon ausgeht, dass eine „immer größer werdende Mittelschicht von Technikern, Managern, Experten, Ingenieuren, Wartungspersonal", die für das Funktionieren des Systems unentbehrlich sind, „von einem Teil jenes Mehrwerts leben, den andere schaffen" (Wallerstein 1986: 19), verschüttet er den Zugang zu dem, was die kapitalistische Produktionsweise seit dem Ubergang zur science based industry auszeichnet. 3 9 Dabei begeht er einen doppelten Fehler: (a) nirgends sei die Behandlung der „Arbeitskraft als Ware" so deutlich ausgeprägt wie in der Sklaverei; (b) „freie Arbeit" sei zwar „ein entscheidendes Merkmal des Kapitalismus", aber: „Wenn die Arbeit überall frei ist, haben wir den Sozialismus erreicht" (Vol. I: S. 151). - Mit der Vernachlässigung der Arbeitsprozesse vergibt Wallerstein zugleich die Möglichkeit, an wichtige Diskussionen anschließen zu können, wie die seit den 70er Jahren geführte „Labour process"-Debatte (Blackburn et al. 1990/1985), in der die Implikationen analysiert wurden, die es für die kapitalistische Organisation der Produktion hat, dass - auf dem Arbeitsmarkt - zwar das Arbeitsvermögen erworben wird, dieses Potential aber erst noch in tatsächliche Arbeit umgesetzt werden muss. Erst von hier aus ergibt sich ein zeitgemäßer Zugang zum Problem der „Arbeitskontrolle", die für Wallersteins Gesamtkonzeption von zentraler Bedeutung sein soll. 38
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 120-158
sehen Produktion sei ein Prozess, „der freilich in verschiedenen historischen Phasen unterschiedlichen . T i e f g a n g ' " habe. Die Verknüpfung von O r t e n der Produktion und des K o n s u m s durch den Fernhandel erfolge zunächst ohne Veränderung der Produktionsweise, also ohne T r a n s f o r m a t i o n . D a v o n zu unterscheiden sei die „Durchdringung einer k o n kreten Gesellschaft mit den aus der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft stammenden Techn o l o g i e n 4 0 und sozialen F o r m e n der Produktion sowie der Ausbreitung und Ü b e r n a h m e von entsprechenden Konsumtionsmustern und kulturellen F o r m e n und I n h a l t e n " (Altvater 1 9 8 7 : 7 0 f . ) . M i t der Ausdehnung des kapitalistischen Prinzips auf dem W e l t m a r k t würden also nicht mehr nur „Prod u k t i o n s p u n k t e " durch den Welthandel miteinander verbunden. Vielmehr werde dabei auch die Produktionsweise umgestaltet, und das ist; die „reelle S u b s u m t i o n " , mit der der Kapitalismus als Gesellschaftsformation erst konstituiert wird. Wallerstein fällt im Übrigen auch hinter die Einsichten M a x Webers ( 1 9 5 6 / 1 9 2 4 ) zurück, der nachdrücklich d a r a u f verweist, dass sich ein „kapitalistisches System der W i r t s c h a f t " unter Bedingungen der „Unberechenbarkeit und unsteten W i l l k ü r " nur schwer entwickeln könne. V e r m ö g e n s a k k u m u l a t i o n und die Bildung von Handelskapital habe es schon zur „Zeit H a m m u r a b i s " gegeben. „Anders der industrielle Kapitalismus. Er bedeutet, w o er zur typischen F o r m des Gewerbebetriebs werden soll, eine Organisation der Arbeit mit dem Ziel des M a s s e n absatzes und hängt an der M ö g l i c h k e i t sicherer Kalkulationen, und zwar um so mehr, je kapitalintensiver, speziell je gesättigter mit stehendem Kapital er wird. Er m u ß auf die Stetigkeit, Sicherheit und Sachlichkeit des Funktionierens der Rechtsordnung, auf den rationalen, prinzipiell berechenbaren C h a r a k t e r der Rechtsfindung und Verwaltung zählen k ö n n e n . Sonst fehlen jene Garantien der Kalkulierbarkeit, welche für den großkapitalistischen Industriebetrieb unentbehrlich s i n d " ( M . W e b e r 1 9 5 6 II: 6 5 1 ) . 4 1 Von der Rechtsordnung über die VerwalDa Wallerstein die Bedeutung der modernen Wissenschaft nicht als eigenständige Formation wahrnimmt, sondern nur als „Baconian/Cartesian/Newtonian worldview" (Wallerstein 1986/1997: 218), als szientifischen Irrweg ansieht, vernachlässigt er deren Bedeutung für die Entwicklung neuer Technologien und ihrer kapitalistischen Nutzung, was zu einem sehr simplifizierten Konzept des gegenwärtigen Kapitalismus führt. 4 1 Dodgshon hat einige der von Wallerstein ignorierten Umbrüche (Diskontinuitäten) notiert, die es am Ende des 18. Jahrhunderts gegeben hat. So sei die Hauswirtschaft so etwas wie eine „duale Wirtschaft" gewesen, in der die 40
tung bis zur nun erst beginnenden großkapitalistischen Unternehmensorganisation sind damit wesentliche Sozialformen genannt, die Wallerstein ausblendet (vgl. Kapital Bd. I: K a p . 1 1 bis 1 3 ; M a r x 1857/8). Beiläufig wird im K o n t e x t der „ W a r e n k e t t e n " auch deutlich, dass Wallerstein durchweg unterstellt, Entfernungen - ggfs. auch über tausend Kilometer hinweg - seien bereits im 1 6 . J a h r h u n d e r t tendenziell irrelevant. So sollen sich Niedrigpreise und -löhne in Polen alsbald in Venedig auswirken. H i n gegen hat Braudel ( 2 0 0 1 / 1 9 4 9 , 2 . B d . ) einen eigenen Abschnitt der Langsamkeit der Abläufe gewidmet, Geldverkehr und Warenhandel eingeschlossen: „ Z w i s c h e n dem E i n k a u f spanischer Wolle durch Florenz und der Fertigstellung der T u c h w a r e n vergehen M o n a t e und M o n a t e , m a n c h m a l J a h r e , bis die Wolle in ihrer neuen Gestalt die Kunden in Ägypten, Nürnberg oder andernorts e r r e i c h t . " D a s gelte auch für das polnische Getreide, das erst viele M o n a t e nach der Ernte a m M i t t e l m e e r verbraucht werden konnte (Braudel 2 0 0 1 / 1 9 4 9 : 4 6 f . ) . Die ernsthafte Berücksichtigung der Transport- und Kommunikationsstrukturen führt damit zu einem weiteren Argument gegen die von Wallerstein protegierte Vorstellung, es habe eine integrierte kapitalistische Weltwirtschaft bereits im 1 6 . J a h r h u n d e r t gegeben. Schon die Vernachlässigung der „Tyrannei der D i s t a n z " resp. der entsprechenden Opportunitätskosten werfe die Frage auf, o b es sich dabei nicht um „unüberwindliche H i n d e r n i s s e " handelte, die ein Weltsystem im 1 6 . J a h r h u n d e r t - selbst in embryonaler F o r m - unmöglich m a c h t e n . Erst in den letzten J a h r z e h n t e n des 1 8 . Jahrhunderts, teilweise noch später seien alle die empirischen Bedingungen gegeben gewesen, deren Realität Wallerstein unterstellen mußte, um sein modernes Weltsystem bereits im 1 6 . J a h r h u n d e r t lokalisieren zu k ö n n e n (Dodgshon 1 9 7 7 : 16ff.). Wenn sich aber die von Wallerstein in seiner Weltsystemtheorie un-
Arbeiten in der Landwirtschaft und im Gewerbe (Industrie) noch schnell wechselten, so dass man nur mit Einschränkungen von einer „geographischen Arbeitsteilung" sprechen könne. Zudem habe die Entwicklung in manchen Gegenden Englands und Westfrankreichs eben nicht nur von der Hausindustrie zum Industriekapitalismus, sondern auch zurück in die Landwirtschaft geführt; es habe im 16. Jahrhundert noch keinen unausweichlichen Weg in die Industrie gegeben. „Options on the role which an area might play within the Modern World-System were not closed until the new industrial technologies of the eighteenth and nineteenth centuries called forth a wholly new level of commitment as regards labor and fixed capital" (Dodgshon 1977: 14).
Lothar Hack: Auf der Suche nach der verlorenen Totalität terstellte kapitalistische Weltwirtschaft erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts in ihren wesentlichen Strukturierungen durchzusetzen begann 42 - also einen erneuten Bruch gegenüber all dem darstellte, was bereits im „langen 16. Jahrhundert" an handels- bzw. kaufmanns-kapitalistischen Formationen entstand - , dann entstand mit der Etablierung der modernen Nationalstaaten und ihren immer weiter reichenden Handlungsmöglichkeiten im 18. und 19. Jahrhundert auch insofern eine neue Konstellation, als für die moderne Weltwirtschaft zugleich neue Formen der Grenzüberschreitung wirtschaftlicher Aktivitäten erforderlich und möglich wurden. Das aber hat Folgen für das, was neuerdings „Globalisierung" genannt wird (s. Abschnitt 5). Da er die Mechanismen der Kapitalverwertung ausblendet, braucht Wallerstein die „Stärke des Staatsapparates", um die Ungerechtigkeiten des „ungleichen Tausches" zu erklären (s. „terms of trade"). Damit aber ist gerade der strategische Vorteil des Kapitalismus nicht mehr bestimmbar, den Wallerstein für den historischen Siegeszug des Kapitalismus ins Zentrum seiner Argumentation rücken möchte: die Fähigkeit der Reichen bzw. der reichen Zentren, sich den Surplus der Welt in versteckter Form anzueignen, also nicht mehr in der direkten Form der traditionellen Tributzahlungen, deren Ungerechtigkeit so leicht zu erkennen sei. 43 Die Kritiken marxistischer Theoretiker sind denn Die schwierigen Landtransporte - mit hohen Kosten und Risiken - setzten dem Handel bis zum 18. Jahrhundert enge Grenzen. Mit Bezug auf K. Polanyi schreibt Dodgshon: „Only from the eighteenth Century onwards, did the national economies of western Europe become fully integrated within themselves, let alone with a world-based economy". Und mit Verweis auf die von Wallerstein (Vol. I: p. 77) übernommene Formulierung Braudels, es habe „mehrere europäische Kapitalismen" gegeben, so dass es sich vor dem 18. Jahrhundert um eine „stark segmentierte" Weltwirtschaft gehandelt habe, bezweifelt Dodgshon, ob man legitimerweise mit Bezug auf das 16. Jahrhundert von einem „Welt-System" reden könne, wenn es nur wenig Interaktion zwischen den Handelsdomänen der Niederländer, Engländer, Spanier, Portugiesen und Franzosen gegeben habe (Dodgshon 1977: 12). 4 3 Wallerstein rekurriert auf beide Varianten der Erklärung des „ungleichen Tauschs" - wie es der Interpretationskontext gerade verlangt bzw. nahelegt: als versteckte Ausbeutung der Ware Arbeitskraft durch die kapitalistischen Verhältnisse oder als Resultat der Interventionen des „starken Staates". Die beiden Varianten sind aber nicht einfach kommensurabel (s. Brenner 1983). Zentral für Wallersteins Konzeption des (ungleichen) Tausches sei die Annahme, dass der Gewinn des einen zwangsläufig der Verlust des anderen sei (Aronowitz 1981: 514). 42
135 auch vernichtend: von Wallersteins Weltsystem-Perspektive bleibe eigentlich nur „der Grundgedanke, daß Struktur und Entwicklung der meisten nationalen Gesellschaften von heute nicht zureichend aus deren Eigendynamik erklärt werden können, sondern weitgehend durch ihre Stellung im internationalen System bestimmt sind". Das sei aber schon seit Beginn der Dependencia-Diskussion in der Entwicklungsländersoziologie Gemeingut gewesen. „Neu ist bei Wallerstein eigentlich nur die griffige Formel vom ,Weltsystem' und die Identifikation dieses Systems mit dem Weltmarkt, mit dem Bereich der weltweiten Warenzirkulation." Genau diese Verengung auf die Zirkulationssphäre aber müsse überwunden werden (Hauck 1985: 353). Die Einengung auf Verteilungsaspekte ist auch von anderen (Brenner 1983, Altvater 1985, Imbusch 1990) als „Zirkulationismus" kritisiert worden ebenfalls ohne die Rückbezüge auf die Arbeiten von Polanyi zu bemerken. Ob die „griffige Formel vom ,Weltsystem'" aber tatsächlich von Wallerstein erfunden wurde, wird noch zu kontrollieren sein. (5.) Auch die Formel vom „kapitalistischen System" findet sich bereits bei Marx, der den SystemBegriff gerade in den internationalen Kontexten verwendet hat, auf die Wallerstein abstellt. 44 Im Zentrum der Marxschen Analyse des Kapitalismus steht die britische Wirtschaft, das „geschichtlich gegebene System, aus dem er [Marx] sein theoretisches Modell ableitete" (Baran/Sweezy 1973/1966: S. 14). Ist es schon bemerkenswert, dass Wallerstein sein Verständnis des „kapitalistischen Systems" nicht mit Bezug auf die einschlägigen Vorgaben von Marx spezifiziert, so ist es ausgesprochen erklärungsbedürftig, warum Wallerstein den Essay von Baran/Sweezy zum „Monopoly Capital" (1966) schlicht ignoriert hat. Immerhin heißt es dort am Anfang des 7. Kapitals: „From its earliest beginnings in the Middle Ages capitalism has been an international system. And it has always been a hierarchical system with one or more leading metropolises at the top, completely dependent colonies at the bottom, and many degrees of superordination In einer Arbeit über die britische „Ostindische Kompanie" schreibt Marx über die Rückwirkungen aus der peripheren Region: „Nach jeder Handelskrise wurde der Handel mit Ostindien von überragender Bedeutung für die englischen Baumwollfabrikanten, und der ostindische Kontinent wurde tatsächlich zu ihrem besten Absatzmarkt. In gleichem Maße, wie die Baumwollindustrie von vitaler Bedeutung für das gesamte soziale System Großbritanniens wurde, wurde Ostindien von vitaler Bedeutung für die englische Baumwollindustrie" (Marx 1853/1960: 155; kursiv von mir, L.H.). 44
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and Subordination in between. These features are of crucial importance to the functioning of both the system as a whole and its individual components, though this is a fact the importance of which bourgeois economists have consistently ignored or denied and even Marxists have often underestimated" (Baran/Sweezy 1966: 178; kursiv von mir, L.H.). 4 5 Dass Wallerstein das seinerzeit berühmte Buch von Baran/Sweezy ebenso ignoriert hat wie die einschlägigen Arbeiten von Cox, ist offenbar nicht nur ein Versehen. 46 Zu diesem „selektiven" Rezeptionsmuster passt - auch wenn es sich nicht um marxistische Arbeiten handelt - , dass Wallerstein und seine Kollegen auch die thematisch einschlägigen Arbeiten der historischen Geographen ignoriert haben. 47 Mit Genugtuung zitiert Wallerstein hingegen lange Passagen aus dem 3. Band des „Kapital" (S. 850; s. Vol. I, S. 357,420), in denen Marx auf die Bedeutung des Weltmarktes „beim Übergang aus der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise" hinweist. In seiner Begeisterung darüber, dass Marx ihm (nachträglich) die Legitimation für seine Interpretation geliefert habe (Goldfrank 2002: 163), vernachlässigt Wallerstein allerdings, dass das, was Baran/Sweezy verweisen in einer Anmerkung darauf, dass M a r x nicht mehr dazu gekommen sei, den „internationalen Charakter des kapitalistischen Systems" hinreichend deutlich herauszuarbeiten; von Lenin könne man das nicht sagen (vgl. Anm. 2 5 ) ; einen Ansatz liefere auch die Arbeit von Oliver Cromwell C o x („Capitalism as a System", 1964). Inzwischen hat S. P. Hier ( 2 0 0 1 ) auf die weitgehend ignorierte Vorreiterrolle von C o x ( 1 9 0 1 in Trinidad geboren, gestorben 1 9 7 4 ) hingewiesen: Bereits in den 1940ern habe Cox in „Caste, Class and R a c e " die Parameter für einen konzeptionellen Rahmen skizziert, in dem der Kapitalismus als weltweites soziokulturelles Systems verstanden wurde. In späteren Arbeiten habe C o x dann viele der Überlegungen Wallersteins vorweggenommen. M i t seiner Betonung der besonderen Bedeutung der Städte (insbesondere Venedigs) für die Entwicklung des Kapitalismus komme er in mancher Hinsicht der Interpretation Braudels sehr nahe, der C o x mehrfach erwähnt ( 1 9 8 6 / 1 9 7 9 : S. 1 2 5 ; 134), aber eher dessen (vermeintliche) Schwächen betont. 45
Erst in „World-Systems Analysis" ( 1 9 8 2 ) wird C o x erwähnt - in einer Aufzählung von einem halben Dutzend „leading names", die sich mit dem Zusammenhang von Sozialstrukturen und Bewußtseinsmustern in „the Black intellectual traditions" beschäftigt haben (Hopkins 1 9 8 2 : 2 2 f . , 37n). 4 7 Dodgshon ( 1 9 7 7 : 10) hat darauf hingewiesen, dass einige historische Geographen (Schlebecker 1 9 6 0 , Grotewold 1 9 7 1 , Peet 1 9 7 2 ) frühzeitig über ein „selbst-reguliertes Weltsystem" geschrieben haben, mit strukturellen Bestimmungen (Kern, Peripherie; Weltmetropolen), teilweise in Anlehnung an von Thünens „Der isolierte S t a a t " .
man heute unter „Weltwirtschaft" versteht, sehr viel weiter gefasst werden muss. Sie umfasst eben nicht mehr nur die „Markt"-Mechanismen, sondern zunehmend auch die Organisation der Produktion in ihren Binnenstrukturen (s. Einzelkapitale). Bereits zwei Jahre vor Erscheinen des Vol. I. von Wallersteins „Modernem Welt-System" hatte Ernest Mandel in seiner Analyse des „Spätkapitalismus" (1972) - vor allem im 2. Kapitel über „Die Struktur der kapitalistischen Weltwirtschaft" - eine Reihe wichtiger Klärungen vorgelegt. In „Imperialismus und Weltwirtschaft" (1929) habe Bucharin Weltwirtschaft definiert als „ein System von Produktionsverhältnissen und entsprechenden Austauschverhältnissen im internationalen Ausmaß". Hinzunehmen müsse man aber einen entscheidenden Aspekt dieses Systems, „daß nämlich die kapitalistische Weltwirtschaft ein gegliedertes System kapitalistischer, halbkapitalistischer und vorkapitalistischer Produktionsverhältnisse, durch kapitalistische Austauschverhältnisse miteinander verbunden und durch den kapitalistischen Weltmarkt beherrscht, darstellt" (Mandel 1972: 46). Was wie eine Bestätigung der Wallersteinschen Konzeption klingt 48 , wird allerdings durch genau die Art von differenzierender Argumentation präzisiert, die bei Wallerstein fehlt. Zunächst konstatiert Mandel, dass die Herausbildung dieses Weltmarktes - als Produkt der Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise - „nicht zu verwechseln (sei) mit dem vom Handelskapital geschaffenen Weltmarkt, der eine Vorbedingung der Gründung dieser kapitalistischen Produktionsweise war" (Mandel 1972: 46). 4 9 Anschließend skizziert Mandel „die Geschichte der kapitalistischen Weltwirtschaft seit der industriellen Revolution", wobei er mehrere „Etappen" unterscheidet: den Kapitalismus der freien Konkurrenz, das Zeitalter des Imperialismus und das Zeitalter des Spätkapitalismus. Dagegen wirkt Wallersteins bedingungslose Kontinuitätsvermutung ziemlich undifferenziert.
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Mandel erwähnt in diesem Kontext Arbeiten von G.A. Frank ( 1 9 6 7 ) und Oliver C. C o x ( 1 9 6 4 ) . 4 9 Auch Mandel verweist hier auf Bd. III des Kapital, sowie auf die von F. Engels eingefügte Fußnote (S. 5 0 6 ) zur „kolossalen Ausdehnung der Verkehrsmittel - ozeanische Dampfschiffe, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Suezkanal", durch die „der Weltmarkt erst wirklich hergestellt" worden sei (Mandel 1 9 7 2 : 4 6 ) . 48
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4. Expansion der kapitalistischen Gesellschaftsformation oder deren Auflösung? „Wallersteins Weltsystem" hat als flotte Formel in den letzten drei Jahrzehnten zweifellos Karriere gemacht. Der Versuch einer systematischen Einschätzung der Reichweite und der Leistungsfähigkeit des theoretischen Konzeptes stößt allerdings auf eine Reihe von Schwierigkeiten, da die Formulierungen in entscheidenden Punkten differieren. In den einzelnen programmatischen Texten (Wallerstein 1974a, 1 9 7 4 / 1 9 7 7 d , 1 9 8 2 , 1 9 8 7 / 2 0 0 0 , Hopkins/Wallerstein 1977/79, Hopkins et al. 1982, 1996/98) gibt es jeweils eine recht klare Grundstruktur, die allerdings im Laufe der Jahre geändert wurde. Das Bild wird noch komplizierter, wenn man Wallersteins materiale, im Wesentlichen wirtschaftshistorisch ausgerichtete Untersuchungen genauer durchgeht, in denen es von ad hoc-Interpretationen (vgl. Goldfrank 2 0 0 0 ) , metaphorischen Plausibilisierungen etc. wimmelt.
4.1 Irgendwie emergent Am fruchtbarsten sei es - so Wallerstein im Zweiten Kapitel des Vol. I mit dem Thema „Eine neue Arbeitsteilung in Europa: ca. 1 4 5 0 - 1 6 5 0 " - sich vorzustellen, „daß die europäische Welt im 16. Jahrhundert aus der Verknüpfung zweier zuvor getrennter Systeme entstanden war": einmal das „System des christlichen Mittelmeerraums", zentriert in den norditalienischen Städten und dem flandrischhanseatischen Handelsnetz im Norden und Nordwesten Europas, mit Ostelbien, Polen und einigen anderen Gebieten Osteuropas als Anhängsel an diesen neuen Komplex; und andererseits die atlantischen Inseln und Teile der neuen Welt, mit den Antillen, Chile, Brasilien etc. (Vol. I: p. 68, S. 101). Hier wird ein System-Begriff verwendet, der eher als Netzwerk oder als Konstellation von lose zusammenhängenden Gebieten verstanden werden kann. Unmittelbar vorher wird hingegen unterschieden zwischen der Weltwirtschaft als „larger system" und „smaller systems", mit denen zunächst nur Staaten gemeint sind. Dabei solle „die Einheit der konkreten historischen Entwicklung" nicht geleugnet werden. Das gelte ganz allgemein: „The states do not develop and cannot be understood except within the context of the development of the world-system." Das Gleiche gelte für soziale Klassen und ethnische (nationale, religiöse) Gruppierungen. „They too came into social existence within the framework of states and of the world-system,
137 simultaneously and sometimes in contradictory fashion. They are a function of the social organization of the time. The modern class system began to take its shape in the sixteenth century" (Vol. I: p. 6 7 , S. 99). Das ist so etwas wie eine Systemtheorie mit einer grob skizzierten Binnendifferenzierung: die Weltwirtschaft bildet das eigentliche „soziale System" bzw. das „größere System" und, zusammen mit den Staaten, den „Rahmen" [framework]. Darin wiederum gibt es soziale Klassen und diverse „Gruppierungen". In welchem „Kontext" aber entwickelt sich die Weltwirtschaft? 5 0 In der einfachsten und insgesamt dominierenden Variante der Wallersteinschen Theorie des M W S wird das konzipiert als Prozess der unaufhaltsamen - inneren wie äußeren „Expansion" bzw. „Inkorporation" (vgl. Vol. III: pp. 127ff.). 5 1 Damit aber hätten auch die Weltwirtschaften weiterhin ihre „Kontexte" und damit hat die Theorie auch ihre Abgrenzungsprobleme - bis zu dem stark variierenden Zeitpunkt, da es auf dem Globus nichts anderes mehr gibt als die eine alles-umfassende kapitalistische Weltwirtschaft. 5 2 In der zuvor zitierten Passage gibt es noch ein zweites systematisches Problem. Soziale Klassen und Gruppierungen 5 0 Zu Beginn des Vol. I hat Wallerstein den Begriff „Weltsystem" mit einer recht sprunghaften Begründung eingeführt. Um die Frage beantworten zu können, wie man das Frankreich des 17. Jahrhunderts mit dem Indien des 20. Jahrhunderts vergleichen könne - ohne in die Fehler der „Evolutionisten" oder der „Modernisten" zu verfallen - , müsse man zunächst einmal systematisch die Möglichkeit eines solchen Vergleichs herstellen. Dafür brauche man den „Kontext" der jeweiligen Epoche, das, was Wolfram Eberhard die „Weltzeit" genannt habe (S. 18, p. 6). Von der „Weltzeit" springt Wallerstein zum „Weltkontext" und - ohne jede weitere Begründung - weiter zum „Weltsystem". Verwiesen wird nur darauf, dass weder der „souveräne Staat" noch der „unschärfere Begriff .nationale Gesellschaft'" als Einheit der Analyse taugten, da keines von beiden ein „soziales System" sei. „The only social system in this scheme was the world-system" (Vol. I: p. 7). Später hat Wallerstein dann die Geokultur als „cultural framework" bezeichnet, „within which the world-system operates" (1997/1991: 11). 51 Die Darstellung der Expansion wirkt teilweise sehr mechanistisch: „As India was incorporated, China became part of the external arena. . . . As European Russia was incorporated, Central Asia (and even China) moved into the external arena. . . . " (Wallerstein Vol. Ill: 167). 5 2 Mal Anfang des 19. (Vol. I: p. 10), mal Anfang des 20. Jahrhunderts: „It was not however until this century that the ,world' extended throughout the globe" (Hopkins et al. 1982: 46). Denkbar wäre natürlich, dass es auch weiterhin „Bereiche" des Globus' gibt, die immer noch nicht Teil der (kapitalistischen) Weltwirtschaft geworden sind.
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werden interpretiert als „funktional auf die soziale Organisation" hin ausgerichtet. Gleichzeitig aber soll es sich um wirtschaftliche bzw. politische „Entscheidungen" handeln, die einmal auf die „Arena der Weltwirtschaft" hin orientiert sind, zum anderen auf die „kleineren Strukturen, die legale Kontrolle haben" (Vol. I: S. 99, p. 67). Der Begriff „Entscheidungen" aber kann sinnvollerweise nicht als etwas verstanden werden, was von Systemen und Subsystemen vollzogen wird; er verweist implizit auf „Akteure". Von diesen Akteuren aber wird behauptet, sie „orientierten sich" - problemlos und zweifelsfrei - an den jeweiligen „funktionalen" Anforderungen der „sozialen Organisation" (s.u.: „intentionalistischer Funktionalismus "). Gemeinsam haben Hopkins und Wallerstein (1982) den allgemeinen Anspruch, der mit der Weltsystemtheorie verbunden ist, etwas anders formuliert: „The perspective we are sketching here is of a system of social action that not only is comprehensive and singular in scope, forming a spatial ,world' within its expanding, geo-political boundaries, but is also comprehensive and singular in time, forming a temporal ,world' as well as over the course of its deepening synchronization, chronologically ordered growth, and cyclically modulared rhythms of expansion and contraction. . . . Time in the form of its trends and cycles is constitutive of it as a system, not merely a coordinate of the variations of its properties. It does not ,have' a history or a set of histories so much as it constitutes a history or set of histories. . . . the world-system, as we understand it, does not first exist and then move or develop ( . . . ) , but that its development is its existence.... In short, the .development' of which the developmentalists speak only has meaning as the defining essence of the capitalist world-economy as a whole" (Hopkins et al. 1982: 54ff.; kursiv von mir, L.H., bis auf das letzte „as a whole"). Diese Vorstellung der Selbstkonstitution der kapitalistischen Weltwirtschaft widerspricht diametral der absonderlichen Annahme Wallersteins (Vol. I), die im Abstieg befindlichen Feudalherren hätten als neue, clevere Art der indirekten Aneignung des Mehrwerts die kapitalistische Wirtschaft „erfunden", eine Annahme, die er allerdings nach heftigen Kritiken fallen gelassen (Vol. II) hatte. 53
Noch 1 9 8 6 hatte Wallerstein die Gefahr beschworen, die gegenwärtigen Machthaber könnten auch jetzt wieder versuchen, selbst die Führung zu übernehmen, um das alte System zu zerstören und ein neues zu konstruieren, wie es schon im sogenannten Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus geschehen sei (Wallerstein 1 9 8 6 / 1 9 9 7 : 2 2 7 ) . 53
Zu der anspruchsvollen Variante gehört der Versuch, den Vorgang als emergenten Prozess zu formulieren: „The modern world-economy might be said to have been tenously integrated as a whole when it emerged in the sixteenth century" (Hopkins/Wallerstein 1982: 43). Das aber war empirisch nicht haltbar: unabhängig voneinander hatte es kapitalistische Strukturen und „Weltwirtschaften" bereits vorher gegeben: schon im 11. und 12. Jahrhundert, wie insbesondere Braudel (2001/1949, 1986/1979) gezeigt hat. Wallerstein hat das konzediert - vgl. die „kleinen Weltwirtschaften" in Norditalien und Flandern/Norddeutschland - , ohne zu bedenken, dass das seine Argumentation zerreißen musste. Und es gab auch noch, selbst in Wallersteins eigener Darstellung, einige Jahrhunderte lang parallele „Weltwirtschaften" (russisch, indisch etc.), die für die „europäische Weltwirtschaft" auf ihre Funktion als „Außenarenen" (s.u.) reduziert wurden. 54 Der Versuch, die Emergenz der kapitalistischen Weltwirtschaft als Prozess zu konzipieren, in dem sich diese zugleich als ihren eigenen Kontext konstituierte, ist auch nicht vereinbar mit den durchgängig dominierenden Begründungsversuchen, den Siegeszug der kapitalistischen Weltwirtschaft als Vorgang der Expansion darzustellen (Wallerstein 1993:293). Vor allem von T. Hopkins beeinflusst, hat Robert L. Bach den „Holismus der Weltsystem-Perspektive" - allerdings weniger auf die Marxsche Theorietradition als auf eine einschlägige Arbeit Ernest Nagels (1952/1965) bezogen - epistemologisch zu präzisieren versucht: „For the world-system perspective, ..., the whole consists of singular processes which form and reform the relations that express patterns or structures. Parts are .pieces' of a process, not independent of the remainder of the Wie einseitig diese Perspektive ist, wird deutlich, wenn man nach dem Stellenwert dieser „Außenarenen" im Kontext der anderen „Weltwirtschaften" fragt. A. G. Frank ( 1 9 9 8 ) ist dem in seiner fulminanten Kritik des Eurozentrismus nachgegangen. So habe China über viele Jahrhunderte ein „tribute trade network" aufrechterhalten können, das man als „Sinocentric ,world-economy"' bezeichnen kann, das der europäischen Weltwirtschaft lange überlegen war. Wenn Frank allerdings behauptet, derartige regionale Weltwirtschaften seien immer schon „part and parcel of a single global world economy" gewesen, die mehrere Zentren haben konnte, wobei das chinesische Zentrum „im System als Ganzem über die anderen dominiert" habe (Frank 1 9 9 8 : 116), dann führt er unter der Hand einen Systembegriff ein, der nichts anderes ist als ein - ggfs. sehr lose geknüpftes - Netzwerk. 54
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Lothar Hack: Auf der Suche nach der verlorenen Totalität process but located within a specific time-place coordínate" (Bach 1982: 166). Das habe wichtige Implikationen. Wenn Strukturen nicht der Anfangspunkt der Analyse sind, sondern deren Ergebnis, dann seien die Strukturen des Weltsystems ebenfalls nicht „gegeben", sondern „konstruiert durch deren Prozesse", und sie seien, „retrospektiv und prospektiv, ein Ergebnis der Forschung. ,Globale' Eigenschaften mögen existieren, aber solange sie nicht als ein Ergebnis konstruiert sind, das die Prozesse miteinander verknüpft, bleibt die Einheit, auf die sie sich beziehen, abstrakt und unspezifiziert" (Bach 1982: 167). Damit wird ein Kurzschluss erkennbar, der für die theoretische Konzeption von Wallerstein, Hopkins et al. kennzeichnend ist. In der Terminologie von Alfred Schütz (1967: 6) ausgedrückt: die „Konstrukte zweiten Grades" fungieren zugleich als „Konstrukte ersten Grades", weil die Theorie die beiden Ebenen/Formen gar nicht auseinander halten kann. Ebenso aufschlussreich ist eine zweite Implikation, die Bach herausarbeitet: „the emphasis on these processes leads directly to a discussion of change of the world-economy prior to the changing position of structures within the world-economy" (Bach 1982: 167). D.h. im Fokus der Forschung müsse immer die Transformation von Strukturen und Beziehungen stehen, wie sie ständig durch diese Prozesse neu geformt würden: „such an approach must ... be able to account for the changes in the categories or concepts used to capture any specific set of structures, relations, and traits" (Bach 1982: 167; kursiv von mir, L.H.). Das aber leistet die Weltsystemtheorie - insbesondere in der Form der empirischen Analysen Wallersteins - gerade nicht. Es wird gerade als theoriestrategischer Vorteil der „langen Dauer" ausgegeben, Kategorien und Konzepte für den Zeitraum von 500 Jahren stillzustellen. Die von Hopkins/Wallerstein (1982) und Bach (1982) vorgestellten Konzeptualisierungen vertragen sich zudem nicht mit der - später verwendeten metaphorischen - Vorstellung des Weltsystems als „Trajekt": Flugbahnen lassen sich zwar bestimmen/berechnen, wenn man ihre Parameter (Kräfte, Winkel) kennt, aber sie lassen sich nicht als „Ganze" konzipieren, die ihre Bedingungen/Kontexte vollständig in sich enthalten. 55 Vgl.: „their [historical systems] historical trajectories are inscribed in their structures" - aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Da alle Strukturen inhärente Widersprüche aufweisen, führe die Evolution der historischen Systeme zu einem Punkt, an dem die notwendige Anpassung der Strukturen [an was?!] nicht mehr möglich sei. Was dann geschehe, sei nicht mehr vorhersagbar (Waller55
Die entscheidende Frage ist, wie man sich die Emergenz des Weltsystems vorstellen soll, vor allem: welchen Anteil die theoretische Interpretation an der Konstruktion dessen hat, was als „Ganzes" bzw. als „System" verstanden werden soll. Die systematische Reflexion dieses Problems würde implizieren, dass der Interpret sich als „Teil des Ganzen" begreifen müsste. Die auch in dieser Hinsicht unpräzise Argumentation Wallersteins legt die Vermutung nahe, dass er von einer einfachen Korrespondenz von Realität und Theorie ausgeht, von einer unproblematischen Übereinstimmung von „kapitalistischem System" und (aktualisiertem) Hegeischen System. 56 Die Realität teilt mit, wie sie interpretiert werden will: als Totalität bzw. als System. Einem solchen Begriffsrealismus aber ist längst der wissenschaftstheoretische Boden entzogen worden. 57
4.2 Substitution von „Gesellschaft" durch „historisches System" Frühzeitig haben Hopkins und Wallerstein (1967) auf Probleme hingewiesen, die die Soziologie sich mit einem Verständnis von „Gesellschaft" einhan-
stein 1 9 9 5 b : 1; s . a . Hopkins/Wallerstein 1 9 9 8 / 9 6 ) . Um seine merkwürdige Theoriekonstruktion - Systeme als Trajekte - plausibel zu machen, greift Wallerstein am liebsten zu Metaphern, wie der „analogy of the damaged car going downhill" (Wallerstein 2 0 0 0 b : 2 6 4 , 2 6 5 ) , das von niemandem mehr wirklich gesteuert werden könne; aber dieser defekte Wagen, dessen „Flugbahn" zur Sorge Anlass geben muss, ist eben nicht „das Ganze". Wie sehr Wallersteins Verständnis des Weltsystems changiert, erhellt aus den angestrengten Versuchen - gerade auch wohlwollender Rezipienten - , dessen „Wesen" (nature) genauer zu bestimmen. Korllos unterscheidet zwischen Weltsystem (A) „as social organization", (B) „as perspective", (C) „as theory" und (D) „as ideology" (Korllos 1 9 9 1 : 129ff.) und verweist beiläufig auf die Bestimmung, die Wallerstein selbst immer wieder gegeben hat: „World-systems analysis, . . . , is not a theory, but a protest against neglected issues and deceptive epistemologies" (Wallerstein 2 0 0 0 : X X I I ) . Vgl. auch: „World-systems analysis is not a theory about the social world, or about part of it." Es sei vielmehr ein Protest gegen die Art und Weise, in der sozialwissenschaftliche Untersuchung für uns alle seit ihrem Anfang [inception] in der Mitte des 19. Jahrhunderts strukturiert sei (Wallerstein 1 9 8 7 / 2 0 0 0 : 129). 56
5 7 In der Notwendigkeit, die „Thematisierung" von Globalität nicht nur als globale Ökonomie, sondern auch als „symbolische Konstruktion" zu begreifen, sieht Robertson ( 1 9 9 6 / 1 9 9 2 : 6 6 ) - gegen Wallerstein gewendet - einen wichtigen Beleg für die Bedeutung der kulturellen Dimension.
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delt, das mit nationalstaatlichen Konnotationen belastet ist (s.a. Vol. I: p. 5 / S. 15). Die Folgerungen, die sich daraus ergeben, hat Wallerstein in unterschiedlichen Varianten durchgespielt. Zunächst einmal wurde „Gesellschaft" noch als „relativ homogene nationale" Einheit bestimmt: „A nation-state is a territorial unit whose rulers seek ( . . . ) to make of it a national society - . . . . The affair is even more confusing when we remember that from the 16-th century on, the nation-states of western Europe sought to create relatively homogeneous national societies at the core of the empires, using the imperial venture as an aid, ..., to the creation of the national society" (Vol. I: p. 33). Das ist doppelt problematisch. Zum einen impliziert die Aussage, die Herrscher einer territorialen Einheit könnten „Gesellschaften" - als Ergebnis intentionalen Handelns - „schaffen", eine recht unsoziologische Vorstellung von der Entstehung gesellschaftlicher Strukturen. Zum anderen handelt es sich um ein Beispiel von Rückprojektion „moderner Kategorien" in die Welt des 16. Jahrhunderts. In diesem Zusammenhang verweist Dodgshon auf die Gefahr, die als „aftermindedness" (F. W. Maitland) bezeichnet worden sei, „of allowing future patterns to mold unduly our interpretation of earlier conditions" (Dodgshon 1977: 14). Auch Anfang der achtziger Jahre war noch die Rede von der „Formation national-organisierter Gesellschaften": „the world-economy became basically structured as an increasingly interrelated system of strong ,core' and weak peripheral' states in which inter-state relations - and hence patterns of stateformation and, in that setting, the formation of nationally-organized ,societies' - are continually shaped and in turn continually shape the deepening and expanding world-scale divisions and integration of production" (Hopkins et al. 1982: 43). Zur gleichen Zeit taucht unversehens der Begriff „world social structure" auf, der allerdings nicht weiter erläutert wird. 5 8 Und in einem Text, der nahezu zeitgleich publiziert wurde, bezeichnet Wallerstein die kapitalistische Weltwirtschaft als „unsere einzige Gesellschaft", „auch wenn sie eine nur teilweise vertraglich festgelegte Struktur ist" - und beispielsweise „unsere vielfältigen bedeutungsvollen Gemeinschaften geschaffen hat" (Wallerstein 1984: S. 86). 58
Der Tagungsband zu einem „Colloquium on World Labor and Social Change", das 1980 abgehalten worden war, wurde 1983 publiziert unter dem Titel „Labor in the World Social Structure" (Wallerstein 1983). Später ist vom „world social system" die Rede (Wallerstein 2000b: 251), ohne dass das erläutert würde oder irgendeinen Einfluss auf die Interpretation hätte.
Diesem nicht schlüssigen Versuch, den Gesellschaftsbegriff im Kontext der Weltwirtschaft als eigenständige Kategorie beizubehalten, entspricht auch Balibars Bemühen um Klärung. Mit Bezug auf Wallersteins Bestimmung des „Systems" als „sich selbst versorgende Gemeinschaften" - s. selbstgenügsame „Welten" - schreibt Balibar: „In die marxistische Terminologie übersetzt, würde diese These besagen, daß in der heutigen Welt die einzig wirkliche Gesellschaftsformation die Welt-Wirtschaft selbst ist, weil sie die größere Einheit ist, in der die historischen Prozesse interdependent werden. Mit anderen Worten, die Welt-Wirtschaft wäre nicht nur eine ökonomische Einheit und ein Staatensystem 59 , sondern auch eine soziale Einheit. Folglich wäre die Dialektik ihrer Entwicklung selbst eine globale Dialektik, oder sie wäre zumindest durch den Primat der globalen Zwänge über die lokalen Kräfteverhältnisse gekennzeichnet" (Balibar/Wallerstein 1998/1988: 10). Warum aber soll man „die einzig wirkliche Gesellschaftsformation" gerade „Welt-Wirtschaft" nennen, wenn sie nicht nur eine ökonomische Einheit, sondern zugleich auch ein Staatensystem und eine soziale Einheit ist? Es sei denn, das „Ökonomische" soll als die eindeutig alles Soziale strukturierende Kraft gedacht werden. Wallerstein selbst scheint diesen marxistischen Rettungsversuch nicht aufgenommen zu haben. Gesellschaftsformationen sind und bleiben für ihn ökonomisch strukturierte Einheiten. Folgerichtig hat Wallerstein inzwischen (1987/2000: 139) den Begriff „Gesellschaft" gegen den des „historischen Systems" 60 ausgetauscht: „Die Welt-System-Analyse macht die Analyse-Einheit zum Gegenstand der 59
Kompliziert wird dieses Bild durch die Annahme, es gebe ein „interstate system which forms the political superstructure of this capitalist world-economy" (Wallerstein Vol. Ill: 189). Und: „Incorporation into the world-economy means necessarily the insertion of the political structures into the interstate system" (Wallerstein Vol. Ill: 170). 60 Der Begriff solle der Tatsache Rechnung tragen, dass alle komplexen Phänomene gleichzeitig systemischen und historischen Charakter haben (Wallerstein 1987/2001: 236). Die „soziale Welt" konzipiert Wallerstein jetzt „as a succession and coexistence of multiple large-scale, longterm entities I call historical systems which have three defining characteristics. They are relatively autonomous, that is, they function primarily in terms of the consequences of processes internal to them. They have time-boundaries, that is, they begin and they end. They have spaceboundaries, which, however, can change in the course of their life-history" (Wallerstein 1987/2001: 229f.). In dieser Zeit ist auch die Rede von „geohistorical social systems" (vgl. Wallerstein 1988/2001: 146f.).
Lothar Hack: Auf der Suche nach der verlorenen Totalität
Debatte. Wo und wann existieren die Einheiten, innerhalb deren soziales Leben stattfindet? Sie substituiert den Begriff Gesellschaft' durch den Begriff .historisches System'." Das sei natürlich bloß eine semantische Substitution. Aber sie vermeide die zentrale Konnotation, die „Gesellschaft" an den Staat binde, und damit die Vorannahmen über das „Wo" und das „Wann". Außerdem unterstreiche das „historische System" als Begriff die Einheit [unity] der historischen Sozialwissenschaft. Die Einheit [entity] sei gleichzeitig systemisch und historisch (Wallerstein 1987/2000: 139). Damit hat Wallerstein ein (unangenehmes) Problem eliminiert, zugleich aber hat er auch all das eskamotiert, was damit an relevanten Problemstellungen verbunden war/ist. 61 Mit der Wallersteinschen Konstruktion des historischen Systems sei inzwischen von anderen Autoren auch eine problematische Implikation übernommen worden, die „Eliminierung der Frage nach der inneren Dynamik der Entwicklung" (Poncelet 2002: 60). Wallerstein mache die Annahme, dass „Expansion eine Eigenschaft aller sozialen Systeme" sei; entsprechend definiere er „Kapitalismus als ein System, das sich ausdehnt" (Aronowitz 1981: 511,509). Anders formuliert: Wallersteins SystemModell sei epistemologisch falsch ausgerichtet. 62 Dass Wallerstein mit dem Begriff „Gesellschaft" nichts mehr anzufangen weiß, ist Resultat seines verengten Verständnisses gesellschaftlicher Strukturen und Institutionen, die immer schon auf ihre 61
Als der Essay „ World-Systems Analysis" (1987) in dem Sammelband (2000) erneut publiziert wurde, stellte Wallerstein dem die Bemerkung voran: „1 think this is the clearest piece I have written on this subject" (2000: 129). Immerhin hatte das 1977 gegründete Braudel Center aus dem Untertitel der Annales - „éconoomies, sociétés et civilisations" - bereits den Begriff „sociétés" durch „historische Systeme" ersetzt (Wallerstein 2001b: 22). - Tatsächlich verwendet Wallerstein den Begriff „Gesellschaft" auch weiterhin, z.B. im Kontext politisch-strategischer Überlegungen, wie man - im Rahmen der neuen „antisystemischen Bewegungen" (2002) - zu einer „besseren Gesellschaft" gelangen könne. Die Frage, wie man zu einem „besseren .historischen System"' kommen könne, würde wohl doch zu spröde klingen. 62
„Wallerstein has implicitly adopted a paradigm of society that is close to thermodynamic models of modern systems theory that wishes to ascribe the persistence of physical and biological structures over time to the exchanges of energy and the environment." Wallersteins epistemologische Annahmen seien viel zu sehr auf den Versuch ausgerichtet, „historische Soziologie so rigoros zu machen, wie man es von den Naturwissenschaften vermute" (Aronowitz 1981: 511).
141 Funktion für ökonomische und politische Prozesse reduziert sind. Zwar gibt es in den sozialen Systemen Institutionen, die „die unteren Reproduktionseinheiten" bilden (Imbusch 1990: 29), aber auch diese „institutionellen Strukturen" sind durch das Ganze bestimmt: „The institutional structures of the capitalist world-economy (the states, the classes, the peoples, the households, the movements) have been analyzed as though they were analytically self-contained entities that evolve from historical system to historical system in an evolutionary pattern parallel to that of the system as a whole." Eine solche „konzeptionelle Verirrung" stelle die Rede vom „kapitalistischen Staat" dar, als ob feudaler, kapitalistischer und sozialistischer Staat drei Arten einer Gattung darstellten. „In fact, the i n s t i t u t i o nal structures of the capitalist world-economy are its collective product and cannot be analyzed, cannot even be identified, outside of an explanation of the operations of this particular large-scale whole" (Wallerstein 1983/2001: 36f.). Mit der Auflösung der Marxschen Konzeption der gesellschaftlichen Formbestimmungen in einem verengten Verständnis von Ökonomie und der Eliminierung des Gesellschaftsbegriffs scheint Wallerstein die Tatsache unterlaufen zu wollen, dass auch Theorien in der marxistischen Tradition in irgendeiner Form auf die sehr realen Prozesse der funktionalen bzw. strukturellen Differenzierung reagieren müssen. 63 Eine soziologisch tragfähige Theorie ist die der Ausdifferenzierung „sozialer Felder", mit spezifischer Bedeutung des „ökonomischen Feldes" und der Unterscheidung verschiedener Kapitalsorten (Bourdieu 1997,19 83) 64 , womit zugleich der 63
Tatsächlich gibt es immer wieder Skizzen, in denen Wallerstein sein Konzept der Differenzierung formuliert: „A major premise of the structures of knowledge that have flourished within the system is that it functions in three separate arenas: the political, the economic, and the sociocultural. Or, otherwise stated, the states, the markets, and the civil societies are said to be ontologically autonomous, and to utilize different logics. While this is a self-serving description of the system by its clerics, and does not stand up to a careful epistemological or empirical analysis, it has a certain surface resemblance to the formal structuring of the institutional complex. We shall therefore describe these institutional arrangements under three main headings: production networks, the state and interstate structures, and the geoculture - insisting on their total imbrication one with the other" (Wallerstein 1995b: 3). 64 Bourdieu (1972) hat aber auch an die Arbeiten des „jungen Marx" und dessen Konzept der „sinnlichmenschlichen Tätigkeit" angeknüpft und damit eine reflektierte Akteurs-Perspektive formuliert, für die es bei Wallerstein kein Pendant gibt. Zugleich will Bourdieu
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A n n a h m e R e c h n u n g getragen wird, dass es in kapitalistischen Gesellschaftsformationen eine spezifische Relevanz ö k o n o m i s c h e r Strukturierungen bzw. der strukturellen Ö k o n o m i s i e r u n g gibt, die für die Formation der funktionalen Differenzierung wesentlich ist. In diese Richtung zielte bereits die Konzeption der „Zivilgesellschaft" bei A n t o n i o Gramsci (vgl. Kebir 1 9 9 1 ) . 6 5
4.3 Konzeptionelle Verhärtungen Bei all den vielen - oft kleinteiligen - Veränderungen, die Wallerstein wirtschaftshistorisch nachgezeichnet und aufbereitet hat, entsteht doch insgesamt ein seltsam statisches Bild. Kontinuitäten werden überzeichnet, grundlegende Veränderungen bleiben ephemer. „ T h e only definite dynamics of Wallerstein's capitalist system are market processes: c o m m e r c i a l g r o w t h , worldwide recessions, and the spread o f trade in necessities to new regions o f the globe. . . . In sharp contrast t o the awkwardness and sketchiness in explaning dynamics, Wallerstein is very forceful on the subject o f the stability o f the world capitalist system. In theory, . . . , o n c e the system is established, everything reinforces everything else. And Wallerstein consistently employs not only system-maintenance arguments but also direct analogies between the structure o f the world capitalist system and the typical structure o f political empires [Wallerstein 1 9 7 4 , pp. 3 4 9 f . ] to convey a sense o f stability of the whole" (Skocpol 1 9 7 7 : 1 0 7 8 ) . D e r Eindruck des Statischen hängt vor allem damit zusammen, dass Wallerstein eine Reihe von „säku-
über seine Feldtheorie das „Universum objektiver Beziehungen" bzw. die „Gesamtheit der objektiven Kräfteverhältnisse" berücksichtigen (Bourdieu 1 9 9 8 / 1 9 9 6 : 5 6 ; 60). In der Konsequenz führt das zur „doppelten Konstitution der sozialen Realität" (Hack 1 9 7 2 ) . Wie sehr Wallerstein die eigenständige Bedeutung gesellschaftlicher Strukturierungen ignoriert, wird in seinen Selektionen deutlich. Angesichts der starken Anlehnung an die Arbeiten Polanyis ist sein Desinteresse gegenüber dessen Konzept der „sozialen Entbettung" (disembedding) bemerkenswert, das auf die Notwendigkeit verweist, vermeintlich „rein ökonomische" Prozesse in ihren sozialen Strukturzusammenhängen zu begreifen. Ähnlich selektiv verfährt Wallerstein mit den Arbeiten Thompsons, dessen materiale Darstellungen er häufig heranzieht (vgl. Vol. III: 8 0 , 1 2 0 f . , 1 2 6 , 2 4 6 ) , dessen Konzept der „moral econom y " (Thompson 1 9 8 0 / 1 9 7 1 ) aber ebenso ausgeblendet wird wie dessen vehemente Kritik (Thompson 1 9 8 0 / 1 9 7 8 ) an den funktionalistischen Verhärtungen in der marxistischen Theorietradition (Poulantzas, Althusser, Balibar), die auch auf Wallersteins Arbeiten zutrifft. 65
laren T r e n d s " unterstellt, die über die letzten vier Jahrhunderte eine „strukturale Konsolidierung des Systems" bewirkt haben und vor allem drei grundlegende Entwicklungen einschließen: (1.) die „Kapitalisierung der W e l t - A g r i k u l t u r " , was die effektivere Nutzung der Ressourcen der Welt in größeren produktiven Einheiten mit immer mehr fixem Kapital bedeute; (2.) die Entwicklung von Technologien, die die Fähigkeit m a x i m i e r t e n , die „Ressourcen der Erde auf v e r n ü n f t i g e m ' Kostenniveau in nutzbare Waren zu t r a n s f o r m i e r e n " ; und (3.) die Stärkung aller organisatorischen Strukturen - des Staates, der wirtschaftlichen Unternehmen, der kulturellen Institutionen - gegenüber Individuen und Gruppen; i.e. das „Wachsen der B ü r o k r a t i e n " (Wallerstein 1 9 7 9 : 6 2 f . , vgl. auch G o l d f r a n k 2 0 0 0 : 1 7 5 f . ) . Kurz gefasst bestehen die drei säkularen Trends in (1.) „ E x p a n s i o n " , (2.) „ K o m m o d i f i z i e r u n g " und (3.) „ M e c h a n i s i e r u n g " (Hopkins, Wallerstein 1982: 5 5 f f . ) . Die A n n a h m e , Mechanisierung und Bürokratisierung hätten die gesellschaftlichen Verhältnisse im „langen 1 6 . J a h r h u n d e r t " in gleicher Weise gekennzeichnet wie im 1 9 . und 2 0 . J a h r h u n d e r t , resultiert aus einer kategorialen R ü c k p r o j e k t i o n (vgl. auch Post 1 9 6 6 : 2 0 1 ) . Gleichzeitig behindert sie die Einsicht, dass die technologischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte nicht einfach als „ M e c h a nisierung" und die Organisationsveränderungen nicht schlichtweg als „ B ü r o k r a t i s i e r u n g " zu begreifen sind ( H a c k 2 0 0 2 ) . Die Vorstellung einer über die J a h r h u n d e r t e hinweg geltenden Grundkonstellation ist beabsichtigt. U m seine Vorgehensweise bei der Weltsystemanalyse zu begründen, hat Wallerstein frühzeitig (Vol. I: S. 19ff.) eine explizite Analogie mit der Astronomie in Anspruch g e n o m m e n , die ebenfalls nur ein einziges Universum kenne. Die Logik der Argumente, auf die sich die Astronomen stützten, umfasse „zwei verschiedene O p e r a t i o n e n " : sie verwendeten die Gesetze der Physik, die aus der Erforschung kleinerer physikalischer E n t i t ä t e n abgeleitet sind, und b e h a u p t e n , dass diese Gesetze (mit b e s t i m m ten A u s n a h m e n ) „ a n a l o g für das System als G a n zes g e l t e n " ; zudem argumentierten sie aposteriori (Vol. I: S. 1 8 ) . Diese a u c h später i m m e r wieder in Anspruch g e n o m m e n e theoretisch-systematische O r i e n t i e r u n g an der Vorgehensweise der A s t r o n o m i e / K o s m o l o g i e (s. Wallerstein 1 9 8 7 / 2 0 0 0 : 1 4 0 ) ist als Schritt in R i c h t u n g auf G e s e t z m ä ß i g k e i t e n (s. n o m o t h e t i s c h ) g e m e i n t , wie sie in A n l e h n u n g an die N a t u r w i s s e n s c h a f t e n g e d a c h t werden sollen. G e n a u diese O r i e n t i e r u n g an naturwissenschaftlichen T h e o r i e n und K o n z e p t e n wird von Kritikern als zentrales P r o b l e m der Wallerstein-
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sehen Theoriekonstruktion angesehen: „We get the impression from reading ,The Modern World System' that it is like a gravitational field in which there is a kind of gravitational center towards which nations of both core and periphery are attracted satellites. The system is the kind of deus ex machina of all social life whose ultimate foundation is economic, conceived as a self-reproducing system of change" (Aronowitz 1981: 519). In neueren Arbeiten hat Wallerstein seine Orientierung an den Naturwissenschaften modifiziert, indem er sich an die theoretische Konzeption Prigogines anlehnt (s. Wallerstein 1983/2001, 1998/2000, 2000). Das hat auch zur Folge, dass die in der Weltsystemtheorie zunächst dominante Tendenz zur Systemstabilisierung bzw. zum Gleichgewicht seit den achtziger Jahren in eine Tendenz zum Ungleichgewicht (s. „Chaos", Selbstorganisation) umgebaut wurde (Robertson 1996/92: 70f.). 6 6 Der Eindruck drängt sich immer wieder auf, es handele sich bei den Strukturzusammenhängen des Weltsystems tatsächlich um Konstellationen, ein Begriff, der in manchen Interpretationen wie selbstverständlich benutzt wird (Goldfrank 2000), den Wallerstein aber auch selbst verwendet. So heißt es im Kontext seines Versuchs, sich gegen die Annahme zu wehren, es habe Ende des 18. Jahrhunderts in Großbritannien so etwas wie eine „erste industrielle Revolution" gegeben: „it starts from the premise that what explains British advantage' is a constellation of traits which are absolute when what we need to locate is a constellation of positions which are relational within the framework of a world-economy. It is the world-economy which develops over time and not subunits within i f (Vol. Ill: 33; kursiv von mir, L.H.). Dass sich nur die Weltökonomie entwickele, nicht aber die Untereinheiten, resultiert in einem statischen Grundmuster Zentrale Bedeutung erhält jetzt Prigogines Begriff der „dissipativen Strukturen", der auf der Analyse physikalischer und chemischer Systeme beruht: „Unlike equilibrium structures, they have a ,coherent behavior involving the cooperation of a large number of units' [Prigogine et al. 1 9 7 7 : 2 1 ] . They thus ,appear as a „totality" with dimensions imposed by their own underlying mechanism'. Furthermore, the dimensions are crucial. Small systems are dominated by boundary conditions. Only when the system is sufficiently large, does it .acquire a degree of autonomy with respect to the outside world' [ 1 9 7 7 : 3 1 ] . " Die gleichermaßen wichtige Bedeutung von „Möglichkeit" und „Notwendigkeit" bei der Beschreibung nichtlinearer Systeme „corresponds to the kind of holistic framework using a large-scale unit of analysis" (Wallerstein 1 9 8 3 / 2 0 0 0 : 32). 66
und ist für eine historisch orientierte Darstellung merkwürdig geschichtslos. 67 Indem Wallerstein die Kategorien für eine Periode von 400 Jahren aus der historischen Veränderung herausnimmt, entzieht er sich den Ansprüchen materialistischer Theoretisierungsstrategie. „Bürgerliche Ökonomen haben Arbeitsteilung, Kredit, Geld etc. als fixe, unveränderliche, ewige Kategorien' hingestellt, ,was sie uns aber nicht erklären, ist . . . die historische Bewegung, die sie ins Leben ruft' [MEW Bd. 4: 126]. Proudhon nimmt diese Kategorien (der Ökonomen) als gegeben hin und möchte sie in eine neue logische Abfolgeordnung . . . bringen" (Thompson 1980: 171). Das klingt wie ein Kommentar zu Wallerstein. Gleichzeitig führt dieser Mechanismus der Stillstellung von grundlegenden Kategorien über die „lange Dauer" zu einem sehr unspezifischen Bild des gegenwärtigen Kapitalismus (s.u., „Globalisierung"). Luhmann hat auf eine negative Konsequenz verwiesen, die sich in der Welt-System-Analyse von ChaseDunn (1998/1989) und Wallerstein zeige und die belege, dass man den „Primat von Differenzierungsformen" nicht vernachlässigen dürfe; es komme sonst„z«r Überschätzung der historischen Kontinuität der Folgeprobleme bestimmter Typen" (Luhmann 1997: 612). Die Überschätzung der historischen Kontinuitäten ergibt sich zwangsläufig aus Wallersteins falscher meta-theoretischer Grundsatzentscheidung, dass das Wichtigste dauerhaft sein müsse, resp. gegenläufig, dass das Dauerhafte das Wichtigste sei. Diese Implikationen einer Weltkonstellationsthtorie resultieren wohl daraus, dass im Zentrum von Wallersteins Argumentation tatsächlich geopolitische Interessen stehen (Wallerstein 1997/91, 2003a), die primär ökonomisch definiert sind. 68 In der Darstellung und Interpretation historischer Abläufe wie in den theoretisch-programmatischen Schriften (s. Hopkins/Wallerstein 1979/1977) werChase-Dunn hat das frühzeitig ausgeplaudert: „The capitalist world-system is understood to be a set of structured economic, political and social relations which have expanded, but remain analytically similar since their emergence" (zit. bei Bach 1 9 8 2 : 170). 6 8 Die Kennzeichnung als „Weltkonstellationstheorie" ist keineswegs pejorativ gemeint. Im Gegenteil. Zu bedenken ist dabei nur, dass - neben den „gegebenen" Faktoren bzw. Bedingungen - sowohl die tätige Wahrnehmung der „Akteure" als auch die selektive Thematisierung durch die theoretische Interpretation systematisch kontrolliert werden müssen. Ohne ein reflexives Verständnis sozialer Strukturen, das beide Ebenen zugleich als Bestandteil der „Gegebenheiten" behandelt, ist das nicht zu haben. 67
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den konkrete Formen sozialen Handelns vorgestellt, die sich auch auf der Mikro- bzw. MesoEbene abspielen können. Die zentrale Rolle aber spielen Handlungsformen (s. „Staatshandeln"), die auf der Makroebene stattfinden und ggfs. durch merkwürdige Kollektivakteure vollzogen werden sollen. Im Zusammenhang der Expansion im „langen 16. Jahrhundert" wird z.B. „Europa" immer wieder wie selbstverständlich als handelndes Subjekt vorgestellt. „Nur wenn Europa keine andere Wahl hatte, wenn es innerhalb der eigenen Weltwirtschaft ein Produkt nicht bekommen konnte, wandte es sich der Außenarena zu, um es dort zu höheren Preisen zu kaufen" (Wallerstein: Vol. I: S. 479). Diese Interpretationsfiguren sind immer wieder moniert worden. So würden Monarchen zu Subjekten gemacht, die mit völliger Übersicht ausgestattet seien, was ebenso kritisiert wird wie die damit einhergehende „mechanistische Objektivierung historischer Abläufe" (Imbusch 1990: 135ff.). Und Skocpol verweist auf die „üblichen teleologischen" Argumentationen bei Wallerstein, in denen personalisierte Makroakteure genau das tun (und tun wollen), was das „Systemmodell der kapitalistischen Weltwirtschaft verlangt" (Skocpol 1977: 108 8). 69 Vermeintlich in der Kontinuität Marxscher Interpretationen wird von Wallerstein selbst die Akkumulation des Kapitals als intentionaler Prozess vorgestellt (Wallerstein 1984/1989: 10); die „großen Akkumulateure" sind „Akteure", deren „Aufgabe" es sei zu akkumulieren (Wallerstein 1986: 5,19). Besonders deutlich wird die verwirrende/verwirrte Argumentation bei Wallersteins Versuch, „Intentionalität" explizit mit „ohnehin ablaufenden Prozessen" zu kombinieren: „Obviously intentionality does not have to be expressed always in explicit statements or actions. Intentionality only has to be overtly expressed if it is necessary to express it. If things are, in fact, going along the way one wishes, one does not have to intend to do things. One can allow things to simply occur" (Wallerstein 1982: 69
Vgl. auch die kritische Bemerkung von Giddens/Turner (1987: 9) in ihrer Einleitung: „For Wallerstein, the p o w e r of w o r l d economies and empires to constrain and d o m i n a te the actions of individuals, c o r p o r a t e units and .minisystems' is the most p a r a m o u n t reality of the social universe". Tatsächlich geht Wallersteins Determinismus sehr viel weiter: „the determination of our action is the result of the effective functioning of an ongoing geohistorical social system" (Wallerstein 1988/2001: 147). O d e r : „Basically w h a t I a m arguing is t h a t within a functioning historical system, there is n o genuine free will" (Wallerstein 1987/2001:235).
94). Was Wallerstein als „apparent theoretical symmetry of (the) whole process" (Wallerstein 1982: 93) verstanden wissen möchte, durch den das Funktionieren eines semiperipheralen Staates erklärt werden soll, ist tatsächlich wohl eher ein theoretischer Kurzschluss. Die Abläufe sollen durch den Kontext der Weltwirtschaft und die Rolle der KernStaaten festgelegt sein; dann aber beziehen sich Begriffe wie „Intentionen" oder „Aktionen" auf eben diesen semiperipheralen Staat, also auf eine Einheit, die als Makro-Akteur fungieren soll - formuliert in einer Allgemeinheit, die sich (scheinbar) auf alle Akteure beziehen lassen soll. Diese Interpretationsstrategie, die man„intentionalistischen Funktionalismus " nennen kann, muss als ein Versuch gesehen werden, die Vorteile funktionalistischer Interpretationen - „objektivierte" Abläufe - beizubehalten, sich aber vor dem schwierigen Problem zu drücken, erklären zu müssen, wieso etwas, was ex post als funktional begriffen werden kann, bereits ex ante initiiert wird. Die zahlreichen Argumentationsmuster und Probleme ähnlicher Art haben Wallerstein immer wieder den Vorwurf eingebracht, bedenkenlos eklektisch zu verfahren (vgl. Imbusch 1990: 139). 70 Einen Ausweg meint Wallerstein in neueren Arbeiten (Wallerstein 2002) gefunden zu haben: da das ganze System an sein Ende gelangt sei, entstehe nunmehr eine völlig neuartige Konstellation: das impliziere Handlungsmöglichkeiten, die es fünf Jahrhunderte lang nicht gegeben habe. Was konzeptionell als gleichzeitig zu beachtende Anforderungen zu begreifen wäre, wird in zwei aufeinanderfolgende Systemrealitäten auseinander gefaltet: im kapitalistischen Weltsystem vollziehen die Makroakteure bereitwillig die ihnen vorgegebenen Systemimperative; in der sich (vorgeblich) abzeichnenden neuen Konstellation bestehen Handlungsmöglichkeiten für alle, da das System keine Vorgaben mehr macht. 71 70
Affirmativ gewendet wird d a r a u s das A r g u m e n t , Wallersteins Weltsystemanalyse sei „viel eklektischer als einige Kritiken zugestehen m ö c h t e n " (Forte 1998: 65), lasse sich logisch also nicht so leicht festnageln. Diese geländegängige Auslegung der Arbeiten Wallersteins bzw. die k o m b i n a torische O f f e n h e i t der vielfältigen Interpretationsfiguren scheint für deren breite Rezeption eher von Vorteil zu sein. 71 Ilya Prigogine, auf den Wallerstein sich bei der Begründ u n g dieser Strategie immer wieder beruft, ist ihm in einem kleinen - p o s t h u m (2004) veröffentlichten - Text mit einer höchst destruktiven A r g u m e n t a t i o n zu Hilfe geeilt: „The f u t u r e is not given. Especially in this time of globalization a n d the n e t w o r k revolution, behavior at the individual level will be the key factor in shaping the evolution on the entire h u m a n species. Just as one particle can alter
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4.4 Weltsystem: Binnendifferenzierung, Arenen, Grenzen Systemtheoretisch sind die Anforderungen klar: „Von Form der Differenzierung sprechen wir . . . , wenn von einem Teilsystem aus erkennbar ist, was ein anderes Teilsystem ist, und das Teilsystem sich durch diesen Unterschied bestimmt. Die F o r m der Differenzierung ist also nicht nur eine Einteilung des umfassenden Systems, sie ist vielmehr die Form, mit der Teilsysteme sich selbst als Teilsysteme beobachten können" (Luhmann 1 9 9 7 : 6 1 0 ) . Angenommen wird, Integration sei für die Theorien der Weltgesellschaft kein Problem, die zentrale Frage sei hingegen, nach welchen Gesichtspunkten die Differenzierung der Weltgesellschaft als Innendifferenzierung eines Systems erfolge. Das sei eine begriffsstrategisch instruktive Wendung, da sich der „Widerstand gegen die Idee der Weltgesellschaft" vielfach auf die Vorstellung stütze, die weltweit beobachtbaren extremen Ungleichheiten und Inhomogenitäten ließen es nicht zu, „ein Gesellschaftssystem zu postulieren, das alle diese Ungleichheiten und Inhomogenitäten in sich soll einschließen könn e n . " Demgegenüber bestehe die „eigentliche Herausforderung" für eine/jede Theorie der Weltgesellschaft darin „zu zeigen, daß sich extreme Ungleichheiten als Innendifferenzierung eines Sozialsystems analysieren lassen" (Stichweh 2 0 0 0 : 3 1 ) . Diese Einschätzung gelte für alle drei Weltgesell-
schaftstheorien: für die von P. Heintz und N . Luhmann wie auch für die Wallersteins, der auf den historischen M o m e n t der Emergenz des Systems fokussiere. 7 2 Es überlagerten sich damit zwei Arten von Unterschieden: „Die regionalen Systembildungen werden aus der Sicht des entstehenden Weltsystems zu internen Differenzierungen." Jede vorausliegende Differenz müsse „in eine interne Differenzierung des Systems u m g e f o r m t " werden (Stichweh 2 0 0 0 : 3 2 ) . Strukturen würden nicht einfach übernommen, sondern reproduziert. In mancher Hinsicht stellt sich das Problem in Wallersteins Weltsystemtheorie eher umgekehrt, schon weil „Weltsysteme" hier auch im Plural vorkommen (Wallerstein 1 9 9 3 : 2 9 4 ) . Mit der Ausdifferenzierung von Kern/Semiperipherie/Peripherie sowie Außenarena ist eine grundlegende Bestimmung „extremer Ungleichheiten und Inhomogenitäten" nicht nur vorgesehen, sie ist für Wallersteins Theorie geradezu konstitutiv. Schwierigkeiten entstehen allerdings dadurch, dass die Form der Differenzierung alternierend als „ E b e n e n " und als „ Z o n e n " gesehen wird, jedenfalls i.d.R. nicht als Teil- oder „Subsysteme" (s.u.). Auch dadurch wird der Versuch, Wallerstein ernsthaft systemtheoretisch heimzuholen, unterlaufen. Das Problem der Theorie Wallersteins ist eher, wie die historisch spezifischen Formen des Zusammenhalts (Integration) des Ganzen konzipiert sind. 7 3 M i t der Intention, „Totalitä„Das Weltsystem entsteht in dem Augenblick, in dem die Ökonomie die Identität ihrer Grenzen mit den Grenzen der Politik endgültig hinter sich läßt und erstmals eine Weltwirtschaft und nicht erneut ein Weltreich konstituiert" (Stichweh 2000: 32). Wie gezeigt wurde, ist diese Einschätzung der Leistung der Wallersteinschen Theorie zumindest in dieser Generalisierung - nicht zu halten. 7 3 Eine neuere Variante, Differenzierung und Integration zu verbinden, bietet das Vektor-Konzept, das erstmals Mitte der achtziger Jahre (Hopkins/Wallerstein 1986) vorgestellt und zehn Jahre später ausbuchstabiert wurde. Als „Vektoren" des Welt-Systems gelten „evolving institutional domains ..., meaning complexes of processes that provide the continually evolving structured frameworks within which social action has occurred". Die Autoren nennen sechs solcher unterscheidbarer, aber „nicht trennbarer" Vektoren: „the interstate system, the structure of world production [auch: „world production system"], the structure of the world labour force, the patterns of world human welfare, the social cohesion of the states, and the structure of knowledge" (Hopkins/Wallerstein 1996/1998: 2f.). Damit ist einerseits eine hoch-komplexe Ausdifferenzierung des Konzeptes formuliert, andererseits aber eine Heterogenität - Systeme als „Vektoren" - der Theoriekonzeption aufgebaut, die ihre eigenen Probleme generiert. Da Wallerstein die Transformationsprozesse ignoriert hat, die einen Übergang von den Verteilungsresp. 72
macroscopic Organization in nature, so the role of individuals is more important now than ever in society." Zum einen gibt es Globalisierung für Wallerstein bereits seit 500 Jahren, ermöglicht also keine zeitliche Zuspitzung auf die Gegenwart. Zum anderen impliziert Prigogines Gleichsetzung von individual und particle - mit der Plausibilisierung durch Studien über „ant societies" und „traffic flows" - eine definitive Absage an jede handlungstheoretische Beachtung individueller Akteure, die über eigene Realitätswahrnehmung und praktische Entscheidungsfähigkeit verfügen können. - Den Vergleich mit physikalischen Partikeln hat auch Wallerstein benutzt, allerdings um seine Mini-Systeme zu kennzeichnen, deren „flüchtige" Existenzform impliziere, dass man so gut wie nichts über sie wisse (Wallerstein 1987/2001: 231). Der Vergleich der beiden Analogisierungen zeigt zudem, zu welcher strukturellen Beliebigkeit die leichtfertige Transplantation physikalischer in sozialwissenschaftliche Theoriebausteine führen kann. Beiläufig zeigt der Vergleich auch, wie weit Wallersteins Theorie von der Möglichkeit entfernt ist, individuelle Akteure berücksichtigen zu können. Das aber wäre nötig, wenn Wallerstein seinem Anspruch gerecht werden wollte, historische soziale Systeme seien „die komplexesten Systeme von allen" (Wallerstein 1987/2001:236).
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ten" („wholes") als Plural denken zu können, hat sich Wallerstein Theoretisierungsprobleme (s. Grenzziehung) eingehandelt, denen die Weltsystemtheorie ebenso wenig gerecht wird wie den Anforderungen einer zeitgemäßen Binnendifferenzierung. In der Sekundärliteratur gibt es immer wieder Formulierungen, in denen der Begriff der „Subsysteme" zur Kennzeichnung des Wallersteinschen Weltsystems verwendet wird: „Sich die kapitalistische Produktionsweise als ein System von Relationen vorzustellen, bedeutet - Wallerstein zufolge - , auf der Verbindung [conjunction] von politischen Systemen und Typen der Arbeitsteilung als separater Subsysteme zu insistieren, (auf) Elementen, deren Interaktion das System als Ganzes determiniert" (Aronowitz 1981: 509). Aber bei Wallerstein besteht das einzige wirkliche Sozialsystem - das „Weltwirtschaftssystem" - nicht aus Subsystemen74, sondern aus dem Strukturzusammenhang von Einheiten (units) bzw. „Positionen". Vom System-Charakter dieser Untereinheiten ist m.W. nie die Rede, sie werden vielmehr als Entitäten genommen. Das hat Folgen für das Differenzierungsvermögen. Auch hierauf ist die Feststellung zu beziehen, dass es in Wallersteins Theorie „keine Dynamik der internen Relationen" gebe (Aronowitz 1981: 509). Natürlich ist auch die Weltsystemtheorie darauf ausgelegt, Differenzierungsformen vorzugeben. „Das organisierende Prinzip dieser Arbeit ist die kategoriale Differenzierung der drei Ebenen des Weltsystems: Zentrum, Semiperipherie und Peripherie. Diese Ebenen bzw. Zonen, die sich durch ihre jeweils andere ökonomische Funktion innerhalb der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung sowie durch ihre Klassenstruktur, politische Organisation und die Formen der Arbeitskontrolle voneinander unterscheiden, strukturieren das Ensemble der Produktionsprozesse, welche die kapitalistische Wirtschaft konstituieren." Die „differenzierte Verteilung von Produktionsstukturen" erfolge nicht beliebig, sonZirkulationsproblemen zur Gesellschaftsformation auf der Ebene der Produktionsprozesse implizieren, bleibt die Formel vom „world production system" eher eine Metapher. Nur selten verwendet Wallerstein explizit den Begriff „Sub-System". So heißt es im Editorial zur (neuen) Zeitschrift „Review" unter anderem: „We are interested as well in the workings of concrete historical systems and sub-systems that combine empirical detail with analytic scope, whether they concern the contemporary world, or early modern Europe, or indeed ancient Sumer or Angk o r " (Wallerstein 1 9 7 7 : 7). Nicht gerade ein elaboriertes Verständnis von Systemen und Subsystemen. 74
dem sie sei „systematisch auf die Weltwirtschaftszonen bezogen". Der „differenzierte Charakter weltwirtschaftlicher Produktionsstrukturen" werde demnach „ empirisch (durch) die relative Verteilung von Fabrik- und Plantagensystemen nach Zonen begründet". Solche Produktionsstrukturen „ungleichmäßiger Entwicklung" zeigten „den Aufstieg und Niedergang von Produktionsregionen entsprechend der Ausdifferenzierung des Systems in Zonen" (Hopkins/Wallerstein 1979/1977: 193f.). Die nach/lässige Gleichsetzung von „Ebenen" und „Zonen" der Differenzierung und die anschließende Koppelung von „systematischen" und „empirischen" Begründungsformen geben eine Problemlosigkeit der Kategorien vor, die nur dann gelten würde, wenn die Interpretationen der Weltsystemtheoretiker und „die Realität" sich in einer prästabilierten Harmonie befänden. Grundlegend für Wallersteins Weltsystemtheorie ist das Verhältnis von Ökonomie und Politik. Generell soll sie bestimmt sein durch die Dominanz der kapitalistischen Weltwirtschaft, die auch den Rahmen für die Politik, die Nationalstaaten resp. die „staatlichen Akteure" vorgibt. Relativiert wird diese Grundkonstellation durch die konstitutive Bedeutung „starker Staaten" (Staatsapparate) für die Durchsetzung des „ungleichen Tausches" im Dienste bzw. zum Nutzen der Interessen der Zentralstaaten und ihrer Bourgeoisie. Dabei wird ein sehr weiter Begriff der „Arenen" (s. Hopkins/Wallerstein 1979/1977) eingeführt, der den Handlungsbezug allerdings nur unterstellt: der ungleiche Tausch sei „versteckt" worden, und zwar so gut, dass er 500 Jahre lang nicht entdeckt worden sei (bis Wallerstein kam). „Der Schlüssel zum Versteck dieser zentralen Mechanismen lag gerade in der Struktur der kapitalistischen Weltwirtschaft, der scheinbaren Trennung im kapitalistischen Weltsystem zwischen wirtschaftlicher Arena (eine weltweite soziale Arbeitsteilung mit integrierten Produktionsprozessen, die für die endlose Akkumulation von Kapital arbeiten) und politischer Arena (die vorgeblich aus separaten eigenständigen Staaten bestand ...)" (Wallerstein 1989/1984: 26). 7 5 Diese Verwendung des Begriffs „Arena" ist offenbar deckungsgleich (synonym) mit dem, was „System" genannt wird. Nur dem Begriff der „Außenarena" kommt eine wirk-
Zwei Jahrzehnte später wird Wallerstein ( 2 0 0 2 a ) im Rückblick schreiben, er habe in dem Buch ( 1 9 8 3 ) die drei Arenen diskutiert, in denen das System beobachtet werden könne: die ökonomische Arena (die des Marktes), die politische Arena (die des Staates) und die kulturelle Arena (die der Ideologien und der Wissensstrukturen). 75
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Lothar Hack: Auf der Suche nach der verlorenen Totalität lieh eigenständige Funktion zu, die der Abgrenzung des „Weltsystems". Z u s a m m e n g e h a l t e n werden die Systeme durch die Arbeitsteilung, genauer durch „die Existenz einer einzigen Arbeitsteilung" (Wallerstein 2 0 0 0 / 1 9 7 4 a : 8 2 ) , die ein Netz/Gitter [grid] von Austauschbeziehungen bilde, in dem die „ ö k o n o m i s c h e n A k t e u r e " unter der A n n a h m e operieren, dass die Totalität ihre wesentlichen Bedürfnisse gewährleisten werde. Von den wesentlichen Austauschprozessen [ e s s e n t i ell exchanges] seien jene F o r m e n (Luxusgüter) zu unterscheiden, die keine relevanten R ü c k w i r k u n g e n auf das System hätten; sie fänden mit Regionen statt, die per definitionem „ A u ß e n a r e n e n " seien. Diese Unterscheidung sei natürlich in den - veränderlichen - sozialen Wahrnehmungen der Akteure verwurzelt und damit sowohl in der sozialen Organisation als auch in ihrer Kultur. Die Unterscheidung aber sei ausschlaggebend, wenn m a n nicht in die Falle gehen wolle, „jede Austausch-Aktivität als Evidenz für die Existenz eines Systems zu nehmen. Mitglieder eines Systems (eines Mini-Systems oder Weltsystems) können in begrenzten Austausch/prozess/en mit Elementen verbunden sein, die außerhalb des Systems lokalisiert sind, in der ,externen A r e n a ' des Systems" (Wallerstein 2 0 0 0 / 1 9 7 4 a : 82f.). Für eine präzise Bestimmung des Weltsystems brauche m a n - so ist in der Sekundärliteratur immer wieder moniert worden - Kriterien, die klar die Grenzen definieren. Wallerstein benutze zwei verschiedene Kriterien: die Produktionsweise und den Handel mit Massengütern. Die Produktionsweise lasse sich keineswegs ausschließlich ö k o n o m i s c h begreifen, da sie kulturelle F a k t o r e n enthalte, also nicht ohne Handlungsorientierung interpretiert werden könne ( R o u d o m e t o f / R o b e r t s o n 1 9 9 5 : 2 7 4 , 2 9 3 ) . E b e n s o problematisch sei die Unterscheidung zwischen Massen- und Luxusgütern, da auch letztere vielfältige Rückwirkungen auf die system-internen Prozesse haben k ö n n t e n . 7 6 Wallerstein ist da großzügiger: es sei klar, „ d a ß die Grenzlinie zwischen Peripherie und Außenarena fließend ist sow o h l in dem Sinne, d a ß ein B e o b a c h t e r sie nur unter Schwierigkeiten festlegen k a n n , als auch, d a ß sie
sich leicht verschiebt" (Vol. I: S. 4 5 5 f . ) . Vermutlich als R e a k t i o n auf die vielfältigen Kritiken an dieser unklaren Grenzbestimmung hat Wallerstein ( 1 9 8 9 ) sich bemüht, die Unterscheidung des Handels mit Luxusgütern und mit Massengütern („,bulk goods' or n e c e s s i t i e s ' " ) durch die Einbeziehung des T h o m a s - T h e o r e m s plausibel zu m a c h e n : „If an item is bought on a m a r k e t , it is because s o m e o n e feels subjectively a ,need' for that item, and it would be fatuous for the analytic observer t o assert that the ,need' w a s not real. In the classical expression o f the T h o m a s e s , ,if men define situations as real, they are real in their c o n s e q u e n c e s ' " (Vol. Ill: 1 3 1 ) . Im Vol. I hatte Wallerstein zusätzlich eine funktionalistische E r k l ä r u n g eingeführt, die die rein ö k o n o m i s c h e Interpretation unterstützen sollte. So heißt es im K o n t e x t der Sklaverei über die Auß e n a r e n a : „ A b e r die R e g i o n m u ß t e auch außerh a l b seiner [Europas] W e l t w i r t s c h a f t liegen, so d a ß E u r o p a sich von den m o r a l i s c h e n K o n s e q u e n zen n i c h t betroffen fühlen m u ß t e , die der massenhafte A b t r a n s p o r t von A r b e i t s k r ä f t e n als Sklaven für die Aufzuchtregion hatte. W e s t a f r i k a erfüllte diese Voraussetzungen a m b e s t e n " (Vol. I: S. 1 2 0 ) . Für die systematische Einbeziehung der funktionalen Bedeutung der moralischen Entlastung ist Wallersteins Konzept ebenso wenig ausgelegt wie für eine Interpretation, die die subjektive Definition der Situation als konstitutiv für soziale Folgen begreifen kann. Die vorgebliche Plausibilität lebt davon, dass angebliche M a k r o a k t e u r e ( „ E u r o p a " ) als handelnde Personen gedacht w e r d e n . 7 7 Die Grenzziehung zwischen System und „Außena r e n a " hat für Wallerstein aber argumentationsstrategisch zentrale Bedeutung. Von ihrer Plausibilität hängt es a b , o b seine System-Definition haltbar ist. D a es „Weltsysteme" - Weltwirtschaften, Weltreiche - grundsätzlich im Plural geben kann (und viele Jahrhunderte lang gab), kann Wallerstein die unmittelbare Plausibilität der „globalen E x p a n s i o n " erst für die Z e i t nach dem 1 8 . J a h r h u n d e r t in Anspruch nehmen. Die „ W e l t / e n " , die Wallerstein als seine „ G a n z h e i t / e n " ( „ w h o l e s " ) vorweisen m ö c h t e ,
Solche ad hoc-Interpretationen haben Wallerstein immer wieder den Vorwurf eingebracht, er vertrete letztlich einen schlichten Funktionalismus (Imbusch 1990). Manchmal wird die Kritik grundsätzlicher: Wallerstein bleibe der von ihm kritisierten Modernisierungstheorie verhaftet; deren „national system" sei bei ihm eben zum „world system" geworden. Diese Bindung an das Kritisierte sei die alt-bekannte „,mirror image' trap" (Skocpol 1977: 1089). Robertson kennzeichnet Wallersteins Konzept als „functional-utilitarian approach" (1996: 66). 77
Braudel (1986/1979) hat Wallersteins Kennzeichnung Luxusgüter, „deren Wegfall im Alltagsleben der Bevölkerung keinerlei Lücken entstehen ließe" - ausdrücklich akzeptiert, um dann einzuschränken: dieser Handel zeitige aber „Folgen, die sich bis ins gewöhnliche Alltagsleben erstrecken" (S. 79). Die subtile Differenzierung (Lücken vs. Folgen) mag ihre Berechtigung haben: für die Bestimmung der Grenzen ergeben sich auch dann beträchtliche Schwierigkeiten, wenn es nur um „Folgen" gehen sollte. 76
148 muss/müssen als konstruierte werden können.
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Totalität/en
gedacht
Die Eindimensionalität des Sozialen in Wallersteins Konzeption ist um so auffälliger, als er viele seiner zentralen Kategorien und systematischen Vorentscheidungen von Braudel übernommen hat, bei dem es - im Abschnitt „Die Weltwirtschaft: eine Ordnung neben anderen" - immerhin heißt: „Wie eindeutig die wirtschaftlichen Abhängigkeiten auch immer zutage treten und welche Folgen sie zeitigen mögen, wäre es doch verfehlt, sich die Weltwirtschaft als eine die gesamte Gesellschaft beherrschende und deren andere Ordnungen allein bestimmende Ordnung vorzustellen. Solch andere Ordnungen gibt es durchaus, da eine Wirtschaft niemals isoliert in Erscheinung tritt. Auf dem gleichen Boden und im selben Raum existieren und entfalten sich noch andere Wesenheiten - Kultur, Gesellschaft, Politik - , die sich ohne Unterlaß teils fördernd, teils störend ins Wirtschaftsgeschehen einschalten" (Braudel 1986/1979: 44). Die damit angesprochenen Defizite der Wallersteinschen Theoriekonfiguration zeigen sich besonders deutlich daran, dass die Themenbereiche „Institutionen" und „Organisationen" generell unterbelichtet bleiben. Und je näher Wallerstein mit seinen Interpretationen der Gegenwart kommt, desto unzureichender erscheinen die verfügbaren institutionellen Differenzierungen. In eher verkürzter Form thematisiert wird auch „Kultur", wobei man aber auch bedenken muss, dass die von Wallerstein konzipierte Einheit des kapitalistischen Weltsystems zugleich als „Quelle kultureller Vielfalt" fungieren kann, was die Erzeugung „ideologischen Aufruhrs in peripheren Regionen" einschließe (Forte 1998: 64f.). Was in der anspruchsvollen Programmatik als eine relativ unabhängige Realitätsform vorgestellt wurde (s. Hopkins/Wallerstein 1979/1977), wird in den ad hoc-Interpretationen stark relativiert, vor allem als Verkleidung von politisch-ökonomischen Interessen. So wird - im Kontext der Hegemonie der Niederlande im 17. Jahrhundert die Bedeutung des „kulturellen Bereichs" angesprochen: „Gab es keinen Raum für Ideen, Werte, für Wissenschaft, Kunst, Religion, Sprache, Leidenschaft und Farbe? Doch, natürlich. Denn Kulturen sind die Formen, in die Menschen ihre politischökonomischen Interessen und Triebe kleiden - um sie auszudrücken, zu verstecken, räumlich und zeitlich auszudehnen und die Erinnerung an sie wachzuhalten." Die eigenständige Funktion der Kultur ergebe sich daraus, dass sie „genau jener Ort (ist), wo Hegemonie auf Widerstand stößt, wo die historischen Werte bestehender Zivilisationen' be-
schworen und gegen die zeitweilige Übermacht des Markts ins Treffen geführt werden. Dies trifft auf das 17. Jahrhundert ebenso zu wie auf die Gegenwart" (Wallerstein Vol. II: 72f.). Inzwischen hat Wallerstein versucht, Konsequenzen aus der häufig geäußerten Kritik - auch wenn sie „ungerecht und unfair" sei - zu ziehen, er betrachte Kultur als etwas Sekundäres oder Abgeleitetes und argumentiere ökonomistisch; dabei sollen „Wissensstrukturen" für die Entwicklung des Weltsystems jetzt eine sehr viel größere Rolle spielen als früher (Wallerstein 2 0 0 1 a : 122). Zum einen bewege er sich mit seiner Arbeit mittlerweile im 19. Jahrhundert, womit neue Aspekte ins Spiel kämen, wie moderne Ideologien und die Konstruktion der „Geokultur der kapitalistischen Weltwirtschaft" 7 8 sowie die Erneuerung des Universitätssystems. Zum anderen hätten die Arbeiten Prigogines (s. Wallerstein 1998/2000) die Möglichkeit eröffnet, die harte Konfrontation der beiden Wissenschaftskulturen - nomothetisch vs. idiographisch - aufzubrechen und den Sozialwissenschaften eine eigene Position als zugleich systemische und historische Wissenschaft zuzuweisen (Wallerstein 2 0 0 0 : XVII). 7 9 Neben der „Komplexitätswissenschaft ä la Prigogine" (s. Nicolis/Prigogine 1987) seien dafür auch die „Cultural Studies" (s. King 1997) von großer Bedeutung, deren „ultra-hermeneutischer" Ansatz allerdings zu eng sei. 78 Während Geokultur manchmal als „die Superstruktur dieser Weltwirtschaft" beschrieben werde, zieht Wallerstein es vor, sie als deren „Unterseite" zu denken, als „the part that is more hidden from view and therefore more difficult to assess, but the part without which the rest would not be nourished. I term the geoculture by analogy with geopolitics, not because it is supra-local or supra-national but because it represents the cultural framework within which the world-system operates" (Wallerstein 1 9 9 7 / 1 9 9 1 : 11; kursiv von mir, L.H.). Dass die Geokultur jetzt so etwas wie einen „Nährboden" des Weltsystems darstellen soll, ist sicher eine Aufwertung gegenüber dem Verständnis, für das Kultur nur Teil des „Überbaus" war: wenige Jahre früher hatte Wallerstein noch ganz selbstverständlich am „politisch-kulturellen Überbau der kapitalistischen Weltökonomie" festgehalten (1986: 14). Aber auch als „underside" der Weltökonomie bleibt die Eigenständigkeit von Kultur immer noch beschränkt - auf ihre Funktion für das Weltsystem. 79 Vgl. „Unthinking Social Science" (2001/1991) sowie die Arbeit der „Gulbenkian-Kommission" (Wallerstein et al. 1996). Eine weithin identische Position hat Wallerstein allerdings bereits in seinem Editorial zum ersten Heft der Zeitschrift „Review" bezogen (1977). Die wiederholte Konfrontation von nomothetischen und idiographischen Wissenschaften (vgl. auch Wallerstein 2000a) stellt eine allzu starke Verengung der tatsächlichen Bandbreite sozialwissenschaftlicher Konzepte dar.
Lothar Hack: Auf der Suche nach der verlorenen Totalität Auch in diesem Verständnis aber sei Kultur bei Wallerstein „essentially a reactive force" (King 1997: 16). Die Eindimensionalität bleibe bestehen, die sich besonders deutlich bei der Behandlung kultureller Faktoren „in the constitution of global systemness" zeige (Axford 1996: 63). „The ,culture', that is the idea system, of the capitalist world-economy is the outcome of our collective historical attempts to come to terms with the contradictions, the ambiguities, the complexities of the socio-political realities of this particular system" (Wallerstein 1997: 166). Als derartige Ideensysteme werden dominante Ideologien wie der Liberalismus oder der Marxismus-Leninismus angesehen, deren Bedeutungsverlust Wallerstein immer wieder beschworen hat (vgl. Axford 1996: 64). Auch in der neuen Konzeptualisierung bleibt „Kultur" weitgehend beschränkt auf Wissensstrukturen, auch solche, die der (Selbst-)Reflexion der Sozialwissenschaften dienen und die scheinbar nicht zu ihrem Gegenstandsbereich gehören. Darin liegt allerdings eine Implikation, die den Stellenwert des kulturellen Widerstands gegen das dominierende Weltsystem kennzeichnet: „The growing strategic importance of cultural phenomena can be traced to the fact that they have become the site of both intellectual and phenomenal struggles to deconstruct the false totality and the universalist pretentions of global liberalism" (Axford 1996: 64).
5. Wenn man aufs Ganze geht Inzwischen ist die Weltsystemtheorie, die Wallerstein seit über drei Jahrzehnten immer weiter aus- und umformuliert hat, durch Entwicklungen eingeholt worden, die sich aus den neuen übergreifenden Strukturzusammenhängen „der Welt" ergeben haben. Das belegt immerhin, dass Wallerstein sich sehr früh und konsequent den konzeptionellen Anforderungen gestellt hat, die heute offensichtlich geworden sind. Anhand zweier aktueller Tendenzen lassen sich Reichweite, Engführungen und Ausblendungen der Wallersteinschen Konzeption, die im vorstehenden Text vermerkt wurden, recht gut verdeutlichen.
149 kurse über Globalisierung, mit denen wir seit den 1990er Jahren „überschwemmt" werden, seien tatsächlich „a gigantic misreading of current reality a deception imposed upon us by powerful groups" (Wallerstein 2000b: 249f.). Globalisierung gebe es seit 500 Jahren. Mit Bezug auf den neumodischen Begriff „Globalisierung" heißt es inzwischen kühl: „Neoliberal globalization has had its day, it is now dead. . . . The world is coming out of, not into, a free-trade era" (Wallerstein 2004). 8 1 Heute gehe es um das Ende des kapitalistischen Weltsystems. Amin (2003) nennt das den „senil gewordenen Kapitalismus". Die Frage ist allerdings, ob sich das, was Wallerstein bereits im 16. Jahrhundert als „Weltwirtschaft/en" lokalisiert hat, nicht doch grundsätzlich von dem unterscheidet, was heute den neuen Begriff „Globalisierung" rechtfertigt. Schon die besondere Bedeutung des Finanzkapitals in der gegenwärtigen Formation der Weltwirtschaft (s. Altvater 1987; Gowan 2004) macht den Vergleich mit den Verhältnissen im Amsterdam des frühen 17. Jahrhunderts problematisch. Instruktiv ist in dieser Hinsicht Wallersteins Argumentation, die auf der Bedeutung der „commodity chains" aufbauen soll. „In der wirklichen Welt des historischen Kapitalismus haben fast alle Warenketten, die irgendeine Bedeutung hatten, (die) Staatsgrenzen überschritten". Selbst wenn man das gelten ließe, ist der Zusatz bemerkenswert: „Der Nationen übergreifende Charakter der Warenketten war in der kapitalistischen Welt des 16. Jahrhunderts genauso wahrhaftig beschreibbar wie er es in der des 20. Jahrhunderts ist" (Wallerstein 1989/1984: 26). Es brächte Wallersteins Konzeption der Weltwirt-
Zum einen erhebt die Weltsystem-Theorie nachdrücklich den Anspruch, bereits mit der Analyse des „langen 16. Jahrhunderts" die wesentlichen Strukturbestimmungen dessen präsentiert zu haben, was neuerdings als „Globalisierung" bezeichnet wird: deren Kennzeichen seien spätestens Anfang des 19. Jahrhunderts vollständig vorhanden gewesen (s. Wallerstein 2002a). 8 0 Schärfer noch: die Dis-
achtziger Jahre einen Band mit dem Titel „Dynamics of Global Crisis" (Amin et al. 1986/1982) veröffentlicht. Die „Analyse globaler Wirtschaftsentwicklung", wie sie von Wallerstein vorgeschlagen werde, „ist unseres Wissens niemals von einem solchen globalen Standpunkt aus vorgenommen worden". Eine solche Analyse könnte eine zusammenhängende „Interpretation der vielen scheinbar disparaten sozialen Auseinandersetzungen (unter ihnen Klassenauseinandersetzungen), kulturellen Bewegungen (unter ihnen nationalistische und religiöse)" liefern, „die ausnahmslos Bestandteile einer einzigen Krise in einem einzigen ökonomischen, sozialen und politischen Weltsystem sind" (Frank 1986/1982: 78). Diesen weitreichenden Anspruch nimmt Frank allerdings anschließend zurück: „eine solche globale Analyse des Weltsystems" stehe leider noch nicht zur Verfügung (ebd.).
Immerhin hatten Wallerstein u.a. bereits Anfang der
81 Angesichts der aktuellen Tendenzen (s. „offshoring") ist dieses apodiktische Urteil wohl schlicht falsch.
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schaft in erhebliche Schwierigkeiten, wenn man annehmen müsste, dass das, was im Hinblick auf das ausgehende Mittelalter und die frühe Neuzeit als Weltwirtschaft und Welthandel verstanden werden kann, sich grundlegend von dem unterscheidet, was nach der Konsolidierung von Nationalstaaten darunter begriffen werden muss. Neuere Studien argumentieren da sehr dezidiert gegen Wallersteins Kontinuitätsbehauptung. Für das Ende des 17. Jahrhunderts wird ein Protektionismus konstatiert, der durch die merkantilistische Doktrin unterstützt wurde. Am Anfang des 19. Jahrhunderts jedenfalls hatte der Weltexport einen Anteil von gerade einmal ein bis zwei Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts, „belying notions that an integrated capitalist world economy had emerged through trade in the sixteenth Century", wobei auf die Arbeiten Wallersteins (Vol. I, II) verwiesen wird. Und die Autoren forcieren das Argument (implizit) noch stärker gegen Wallersteins Konzept: „Thus trade was not significant enough by itself to determine patterns of international inequality" (Held et al. 1999: 154). Eine Begründung dafür, dass mit der Entstehung des nationalstaatlich organisierten Merkantilismus eine neue Situation entstand, hätte Wallerstein sich bei K. Polanyi holen können, der großen Wert auf die Unterscheidung von Handel und Markt sowie von lokalem und Fernhandel gelegt hat, für die Marktmechanismen zunächst nur eine sehr eingeschränkte Bedeutung hatten, da es keine freie Preisbildung durch Angebot und Nachfrage gab. Indem er die Barrieren zwischen lokalem und interurbanem Handel beseitigte, habe der Merkantilismus „den überholten Partikularismus" beider Handelsformen zerstört und damit erst den Weg für einen nationalen Markt bereitet (Polanyi 1990/1944: 99). Diese „Befreiung" des Handels habe aber zunächst den Umfang der Reglementierung verstärkt. „Das wirtschaftliche System war in den allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnissen eingebettet; die Märkte waren bloß ein zusätzlicher Faktor eines institutionellen Rahmens, der mehr denn je von der gesellschaftlichen Macht kontrolliert und reguliert wurde" (Polanyi 1990/1944: 101). Das heißt, „der Welthandel" und erst recht „die Weltwirtschaft" treten mit der Durchsetzung nationalstaatlicher Strukturierungen des Marktgeschehens in eine neue Phase, die nicht einfach in der Kontinuität vorgängiger Formen des weltweiten Handels gesehen werden können (vgl. auch Dodgshon 1977). Weitere Belege ergeben sich aus der Analyse der Frühgeschichte der britischen „East Indian Company" (s. Marx 1853) sowie aus Hobsbawms (1970) Dar-
stellung der Durchsetzung der Vorherrschaft des britischen Empire. 82 Zu klären ist auch die spezifische Bedeutung der Organisation für die Prozesse der Globalisierung. „(T)he emergence or re-emergence of forms of economic organization which not only cut across or transcend the boundaries of national economies but compete with them and may be beyond their control, is hardly to be denied. The most striking innovation is perhaps the rapidly developing new international division of labour in the actual process of production" (Hobsbawm 1979: 315). Wichtige Veränderungen seit dem Ende der 1970er Jahre sind anders gar nicht zu verstehen. Held et al. haben das in ihren Definitionsvorschlag aufgenommen: „globalization can be thought of as a process (or set of processes) which embodies a transformation in the spatial organization of social relations and transactions - assessed in terms of their extensity, intensity, velocity and impact - generating transcontinental or interregional flows and networks of activity, interaction, and the exercise of power" (Held et al. 1999: 16). Die Formen des Welthandels und der Weltwirtschaft haben sich jedenfalls im Gefolge nationalstaatlicher Definitionen der wirtschaftlichen Organisationsformen (Zölle, Subventionen; s. Merkantilismus) geändert; jetzt erst kann von transnationalen Organisationsformen der Produktion bzw. des Wirtschaftens die Rede sein. Richtig verstanden impliziert „Globalisierung" zugleich grundlegende Veränderungen der Bmweworganisation von Unternehmen, in Verbindung mit der nationalstaatlichen Definition der Außengrenzen. In diesem Sinne ist „Globalisierung" ein Phänomen der letzten 25 Jahre - allerdings mit wichtigen Vorformen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden. Diese Differenzierung deutet auch Manuel Castells an, wenn er die globale Wirtschaft als eine - von einer Weltwirtschaft zu unterscheidende - „historisch neue Realität" bezeichnet; sie sei eine Wirtschaft mit der Fähigkeit, „als Einheit in Echtzeit oder gewählter Zeit auf globaler Ebene zu funktionieren" Einbeziehen könnte man außerdem Überlegungen, die Stichweh beim Vergleich der akademischen Wissenschaft mit der Industrieforschung angestellt hat. Die „übernationalen res publica literaria der europäischen frühen Neuzeit" seien im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert durch nationale wissenschaftliche Kommunikationszusammenhänge bzw. Institutionen (nationale Akademien, Universitäten) gebrochen und erst danach durch eine schnell fortschreitende disziplinäre Differenzierung erneut weltweit geöffnet, „globalisiert" worden (Stichweh 1999: 29). 82
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(Castells 2001: 108). Dazu aber sei eine Infrastruktur erforderlich, die erst am Ende des 20. Jahrhunderts durch die neue Informations- und Kommunikationstechnologie bereitgestellt wurde. Das ist aber nicht einmal die halbe Wahrheit. Damit die neuen IuK-Technologien „in Echtzeit funktionieren" können, sind eben jene Organisationsstrukturen erforderlich, die erst im Laufe der letzten hundert Jahre aufgebaut worden - ja: denkbar geworden - sind (vgl. auch Skiair 2002: 45). Dann aber - und das sieht Castells ebensowenig wie Wallerstein - wird deutlich, dass die ausschließlich durch Welthandel und Weltmarkt definierte „Weltwirtschaft" eine grundlegend andere Form hatte als die „globale Wirtschaft", die auf neuen Organisationsformen beruht, die sich eben nicht mehr bruchlos in Wallersteins „säkularen Trend" der Bürokratisierung einfügen. Sklair (2002) hat ein Globalisierungskonzept konstruiert, das Formen der Transnationalität von Konzernen etc. in den Mittelpunkt stellt. Nach wie vor dienen die Arbeiten Wallersteins in Darstellungen verschiedenartiger Konzeptualisierungen des „globalen Systems" als wesentliches Referenzkonzept, gegen das neuere Entwicklungen konturiert werden (vgl. Axford 1996). Das gilt auch für die soziologische Globalisierungstheorie von Robertson, die selbstbewußt mit Wallersteins Weltsystemtheorie „rivalisieren" will und die den Begriff „global system" durch „global field" ersetzt, das als soziokulturelles System verstanden wird (Robertson 1996: 26ff.), wobei die ökonomischen Strukturen aber allzu sehr in den Hintergrund gedrängt werden. Frühzeitig (Vol. II) hatte Wallerstein sich festgelegt, dass die USA kein „Weltreich" sein könnten. Auch dieses Thema hat in den letzten Jahren eine neue Aktualität gewonnen. Angesichts der teilweise recht lässigen Manier, in der die Diskussion über die USA als „zweites Rom" oder „neues Empire" geführt wird, hat Wallersteins Zurückhaltung durchaus ihre-Vorzüge. Es zeigt sich aber, dass das Diktum, derartige Prätentionen der USA seien „unmöglich" (s. Wallerstein 2003), Resultat seines Ordnungsschemas ist, das die empirische Analyse der globalen Machtverhältnisse bevormundet. Imperien könne es im Rahmen der kapitalistischen Weltökonomie per definitionem nicht geben. 83 In dezidiert konträr In der gesamten Geschichte des Modernen Weltsystems habe es nur drei nennenswerte Versuche gegeben, ein Weltreich zu errichten: durch die Habsburger (Karl V., Ferdinand II.) im 17. Jahrhundert, Anfang des 19. Jahrhunderts durch Napoleon und Mitte des 2 0 . Jahrhunderts 83
151 gerichteten Interpretationen wird die Frage aufgeworfen, wie man denn das bezeichnen solle, was aus den USA gerade werde - wenn nicht als „Empire": „It means laying down the rules that America wants (on everything from markets to weapons of mass destruction) while exempting itself from other rules (the Kyoto Protocol on climate change and the International Criminal Court) that go against its interests" (Ignatieff 2003). Trotz der Tatsache, dass die meisten Diskussionen über Wallersteins Weltsystemtheorie sich an den historisch ausgerichteten Themenstellungen und Thesen festgemacht haben, waren die Arbeiten zum MWS wohl doch von Anfang an primär auf ein verändertes Verständnis gegenwärtiger Entwicklungstendenzen angelegt (Hopkins/Wallerstein 1979/1977), insbesondere auf eine Neuinterpretation der Rolle der USA im Rahmen der kapitalistischen Weltwirtschaft. So fällt auf, dass Wallerstein im Vol. II bei der Interpretation der „Hegemonialmacht" der Vereinigten Provinzen der Niederlande (VPN) im frühen 17. Jahrhundert immer wieder vorgreifend (vermeintliche) Ähnlichkeiten mit den USA in den beiden Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs notiert. 84 In neueren Texten Wallersteins (1992/1995, 1999a, 2003a, 2003b, 2003c, 2004; vgl. auch das 4. Kapitel in MWS Vol. III) steht die Rolle „Amerikas" denn auch im Zentrum. Dabei wird betont, dass die hegemoniale Phase der USA durch deren unbedingte ökonomische und militärische Überlegenheit gekennzeichnet gewesen sei,
durch Hitler. Alle drei schienen zunächst „wunderbar erfolgreich" zu sein, um dann fürchterlich zu scheitern (Wallerstein 2 0 0 3 ) . Entsprechend bestreitet Wallerstein, dass es je so etwas wie ein „Britisches Empire" gegeben hat; vgl. dagegen Hobsbawm ( 1 9 7 0 ) und Ferguson ( 2 0 0 3 ) . 84 Ein Teil dieser Verweise bleibt implizit, aber nichtsdestoweniger sehr deutlich: „Im besten Fall kann dabei die Kultur einer Hegemonialmacht Modellcharakter erlangen, vor allem in technologischer Hinsicht, doch ist die Kultur genau jener Ort, wo Hegemonie auf Widerstand stößt, wo die historischen Werte bestehender .Zivilisationen' beschworen und gegen die zeitweilige Übermacht des Markts ins Treffen geführt werden. Dies trifft auf das 17. Jhdt. ebenso zu wie auf die Gegenwart. Andererseits erleben Hegemonialmächte in der Regel eine kulturelle Blüte, . . . Zunächst stehen Hegemonialmächte vor der materiellen Notwendigkeit - haben zugleich aber auch die materiellen Mittel - , wissenschaftlich innovativ zu sein und eine solche Produktivität überträgt sich auf die Kunst. Zu dieser kulturellen Eruption trägt eine liberale Politik zum zweiten deshalb bei, weil die damit einhergehende Politik der offenen T ü r oft Gelehrte und Künstler aus anderen Ländern anzieht" (Wallerstein Vol. II: S. 72f.). Erwähnt werden weiterhin „brain drain" etc.
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auch gegenüber der „rivalisierenden Supermacht" (SU). Auch die kulturelle Dominanz der USA sei eindeutig gewesen, mit N e w York als Z e n t r u m der Hochkultur wie der Massenkultur (Wallerstein 2 0 0 3 a : 2 8 f . ) . Für das Ende der US-Hegemonie nach 1 9 6 7 / 7 3 macht Wallerstein ein Bündel von Faktoren verantwortlich. 8 5 „The combination of these three occurrences - the downturn in the world-economy, the upsurge of 1 9 6 8 and US defeat in Vietnam - transformed the geopolitical scene, and marked the onset of the slow decline of American hegemony" (Wallerstein 2 0 0 3 a : 3 0 ) . Von 1 9 6 7 / 7 3 bis 2 0 0 1 habe es dann noch so etwas wie ein N a c h glühen der US-Hegemonie gegeben. Ab 2 0 0 1 - bis 2 0 2 5 oder 2 0 5 0 - gebe es nun eine Phase der „globalen Anarchie", die auch die USA nicht mehr kontrollieren könnten (Wallerstein 2 0 0 3 a : 2 7 , 2 0 0 3 c ) . Die gegenwärtigen Versuche der US-Administration, auf eine Dominanz militärischer Mittel zu setzen, werden - wie immer - negative Auswirkungen haben. „That, of course, is an 85 Ökonomisch gehe es um das Ende der Dollarkonvertibilität des Goldes (s. Bretton Woods), zusammen mit dem wirtschaftlichen Wiederaufstieg Japans und Deutschlands (Europas), und vor allem um das Ende der Periode der trente glorieuses, d.h. den Eintritt der Weltwirtschaft in eine lange B-Phase des Kondratieff-Zyklus, die wie immer gekennzeichnet sei durch abnehmende Profitabilität, Flucht der Industrien in Kernzonen der semiperipheren „Entwicklungs"-Länder und Anstieg der Arbeitslosenzahlen (Wallerstein 2003a: 29f.). Politisch und militärisch sei das Ende der US-Hegemonie bestimmt durch die „Revolution von 1 9 6 8 " , incl. der vier „signifikanten Niederlagen des Imperialismus", die zugleich das Ende der Yalta-Periode einleiteten: Volksrepublik China, Algerien, Kuba und Vietnam, wobei die Tet-Offensive im Februar 1968 das Ende der US-Hegemonie eingeläutet habe, deren Agonie sich bis 1973 hingezogen habe (Wallerstein 2003b: 24f.). Zwischendurch hatte Wallerstein mit der Annahme gespielt, es sei vor allem die von Khomeini geleitete Bewegung gewesen, deren „fundamental otherness" die Hegemonie der USA besonders effektiv unterminiert habe, da sie sich nicht an die Spielregeln gehalten habe, wie es sogar die UdSSR und die nationalen Befreiungsbewegungen getan hätten, die, einmal an die Macht gelangt, in die fortdauernden Strukturen des Systems inkorporiert worden seien (Wallerstein 1992/1995: 189). Die Interpretation deutet die Möglichkeit an, dass Staaten oder Regionen aus dem Weltsystem aussteigen oder herausfallen könnten, was - neben den politischen - weitreichende theoriestrategische Konsequenzen hätte. Die Funktion, die Wallerstein von Khomeinis „fundamental otherness" erwartet hatte, wird inzwischen wohl eher von der „fundamentalistischen Andersheit" erfüllt, die von Osama Bin Laden und seiner AI Qaida praktiziert wird. Die kurzen Hinweise sollten deutlich machen, dass es bei dieser Frage keineswegs um Glasperlenspiele geht.
old story of the decline of hegemonic powers. The others catch up because they don't have to spend on the military" (Nolan 2 0 0 2 : 2 ) . Das kann sich nur auf die beiden hegemonialen M ä c h t e beziehen, die es Wallerstein zufolge im „kapitalistischen Weltsystem" bisher gegeben hatte: die V P N im 17. und G B im 1 9 . Jahrhundert. Auch wenn man davon absieht, dass der Abstieg der V P N - selbst in Wallersteins Interpretation, die mehr als umstritten i s t 8 6 - keineswegs auf deren übermäßig militärische Ausrichtung zurückgeführt wird, bleibt das entscheidende Problem - die Analogie von V P N und USA - undiskutiert. 8 7 Wenn hegemoniale M a c h t nicht einfach in der „Überlegenheit in bezug auf jedweden Aspekt des Marktes" (Hopkins/Wallerstein 1 9 7 9 / 1 9 7 7 : 1 7 7 ) besteht, sondern an die Anerkennung und Zustimmung - zumindest: Akzeptanz - derer gebunden ist, die sich der „ V o r m a c h t " unterwerfen, dann kann auch der Verlust der Akzeptanz zum Ende der Hegemonie führen. Dann gibt es aber die Möglichkeit, dass die Hegemonie in eine historisch völlig neuartige Formation übergeht, in der die „Hyperm a c h t " USA zu einer imperialen M a c h t (Ignatieff 2 0 0 3 ) oder gar zu einem „kapitalistischen Weltreich" im Sinne eines „Empire-System" (Gowan 2 0 0 4 : 4 8 8 f . ) w i r d . 8 8 Das aber kann Wallerstein nicht wahrnehmen, da er sich vorschnell darauf festgelegt hat, es handele sich um die „old s t o r y " . N i m m t man Wallersteins Versuche, seine These von der gegenwärtigen Schwäche der USA zu begrün86 So bestreitet Theda Skocpol (1977) schon die Ausgangsbestimmung, derzufolge die VPN ein „starker Staat" gewesen seien, „since the Dutch government was simply a federation of merchant oligarchies" (1084). Dagegen schreibt Wallerstein (Vol. II), viele Kritiker hätten den Schluss gezogen, der niederländische Staat sei schwach gewesen, aber „genau das Gegenteil scheint mir der Fall zu sein: Im 17. Jahrhundert war der niederländische Staat als einziger in Europa nach innen wie nach außen stark genug, um auf eine merkantilistische Politik verzichten zu können" (S. 66). Hätte es in den VPN hingegen ebenfalls den Merkantilismus als herrschende Ideologie gegeben, hätte eben dies als Beleg für die Stärke des Staates dienen können. 8 7 Die „Theorie der hegemonialen Zyklen" vernachlässige die „radikalen Differenzen" zwischen den drei Hegemonialmächten; das betreffe nicht nur die Sonderrolle der VPN, sondern auch die grundlegenden Besonderheiten der US-Hegemonie im Vergleich zur Stellung Großbritanniens im 19. Jahrhundert (Gowan 2004: 473ff.). 88 Gowans Annahme, er könne seine abweichende Interpetation durch Korrekturen am Hegemonie-Konzept der Weltsystemanalyse erreichen, ohne deren Rahmen zu zerstören, ist sicherlich unzutreffend.
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Lothar Hack: Auf der Suche nach der verlorenen Totalität den, nicht nur als politische Einmischungen, sondern auch als wissenschaftliche Argumentationen ernst, so entsteht ein völlig unterbelichtetes Bild dessen, was den modernen Kapitalismus ausmacht, auf den sich die historisch unvergleichliche Überlegenheit der USA stützt. Wenn die theoretische Konzeption, wie bei Wallerstein, die Strukturen der verschiedenen „Einheiten" bzw. „Positionen" bedingungslos festschreibt, können sich nur die Konstellationen im Weltsystem ändern. M i t der Entscheidung, aufs Ganze zu gehen, hatten Wallerstein und Hopkins wesentliche Anregungen und Herausforderungen gesetzt, denen sich andere Makrokonzepte stellen mussten. Mittlerweile konkurrieren (und kooperieren) zahlreiche Interpretationsstrategien in dem Bemühen, das große Ganze des Weltgeschehens systematisch zu begreifen. Neben den Theorien der Weltgesellschaft (Meyer; Stichweh) und den auch untereinander konkurrierenden Varianten der Weltsystemtheorie (Frank, Amin; Arrighi, Chase-Dunn) gehören dazu die sog. „civilizationists" (Sanderson 1 9 9 5 ) , die an die großen Entwürfe von Spengler, Toynbee, Sorokin und anderen anknüpfen und diese weiterzuentwickeln versuchen. 8 9 Aus Arnold Toynbees „Study of Hist o r y " ( 1 9 3 4 - 1 9 6 1 ) wurde die Idee übernommen, die Menschheitsgeschichte in eine überschaubare Anzahl (ca. zwei Dutzend) von „Zivilisationen" zu unterteilen, i.e. Großgruppierungen, die größer als einzelne Staaten sind und gemeinsame kulturelle Charakteristika aufweisen. Diese Zivilisationen haben Lebenszyklen, die vier Stadien durchlaufen: „genesis, growth, breakdown, and disintegration" (Sanderson 1 9 9 5 : 15f.). Im Zentrum der Arbeiten von Pitrim Sorokin - vor allem der vier Bände von „Social and Cultural Dynamics" ( 1 9 3 7 - 1 9 4 1 ) standen „large-scale structures that change over large periods of t i m e " , wobei er die Vorstellung eines linearen Wandels durch die Idee ersetzte, dass Wandel sich zyklisch oder rhythmisch vollziehe. Als zentrale organisierende Prinzipien gelten dabei Zivilisationen bzw. „cultural supersystems" (Sanderson
8 9 Ein von Sanderson ( 1 9 9 5 ) herausgegebener Band, der aus einer gemeinsamen Tagung im Juni 1 9 9 3 hervorgegangen ist, dokumentiert den Versuch, die Zivilisationisten und Wallerstein miteinander ins Gespräch zu bringen. M i t Ausnahme des Aufsatzes von Roudometof/Robertson ( 1 9 9 5 ) spielen die Arbeiten von Elias ( 1 9 6 9 ) auch in diesem K o n t e x t keine Rolle. Braudels große Sozialgeschichte hat im Original den Titel „Civilisation matérielle, économie et capitalism, X V e - X V I I l e siècle". Wie erwähnt, hat das 1 9 7 6 / 7 7 in Binghampton errichtete Zentrum den Titel „Fernand Braudel Center for the Study o f Economies, Historical Systems, and Civilizations".
1 9 9 5 : 17f.). Sorokin zufolge hatte sich die gegenwärtige westliche Zivilisation seit mindestens 5 0 0 Jahren ausgedehnt und war nun [ 1 9 3 7 - 1 9 4 1 ! ] dabei, an ihre Grenze zu stoßen (Sanderson 1 9 9 5 : 19). Während Zivilisationen bzw. Kulturen im traditionellen Verständnis - von Vico und Herder bis zu Spengler und Toynbee - eher die Bedeutung von Ideen, Religionen etc. betonten, gibt es bei den Weltsystem-Theoretikern eine Dominanz materieller Austauschprozesse, vor allem der Akkumulation von Reichtum bzw. Kapital (McNeill 1 9 9 3 : X I ) . 9 0 Der neue Anspruch der „civilizationists" kommt am pointiertesten in der Variante „Civilizations are World Systems!" (Wilkinson 1 9 9 5 ) zum Ausdruck - gleichsam gegenläufig zu Wallersteins Interpretation des „modern world-system as a civilization" (1986/1997). Als eine Ausweitung des „zivilisationistischen" Ansatzes lässt sich die „World System History" (Denemark et al. 2 0 0 0 ) ansehen, die den Einzugsbereich ihrer „long-term"-Thematisierungen in jeder Richtung noch weiter ausdehnen möchte. Weltsysteme gibt es demnach seit 5 . 0 0 0 Jahren (s. Frank/Gills 1 9 9 3 , 2 0 0 0 ) und sie haben ihren Ausgang im „afroeurasischen" Bereich genommen. 9 1 Nur so könne man wirklich aufs Ganze gehen: „(in order to) study the whole (system), . . . we need a more holistic theory and analysis of the whole world, and not o f just the part that centers around Europe" (Frank 1 9 9 8 : X X V I ) . Erst auf diese Weise lasse sich der Eurozentrismus überwinden, der auch noch die Arbeiten von Braudel und Wallerstein bestimme. 9 2
Es ist schwer zu bestimmen, welche M o t i v e der Klassiker - von Toynbee bis Sorokin - auch von Wallerstein aufgenommen worden sind. M a n c h e Ähnlichkeiten sind jedenfalls frappierend. 90
9 1 Wie F. Braudel bietet auch A . C . Frank eine Reihe von starken Argumenten auf, die Wallersteins zentrale These, die europäische Weltwirtschaft - also das kapitalistische Weltsystem - habe mit einem tiefen System-Bruch im „langen 16. J a h r h u n d e r t " begonnen, nachdrücklich in Frage stellen. Während Braudel das, was Wallerstein an den Vereinigten Niederlanden herausarbeitet, auf Amsterdam - und zuvor Antwerpen - fokussiert (Braudel 1 9 8 6 : 187ff.) und an die italienischen Stadtstaaten im 11. bis 13. Jahrhundert zurückbindet, bringt Frank zahlreiche Belege dafür, dass die Entwicklung der europäischen Weltwirtschaft im 15. Jahrhundert nur zu verstehen ist, wenn man die jahrhundertelangen, vorgängigen Handelsketten O s t asiens beachtet.
M i t dem Vorwurf geht Frank nicht kleinlich um: einen „wirklich ideologischen" Eurozentrismus findet er bei M a r x , Weber, Toynbee, Polanyi, Braudel, Wallerstein „und den meisten anderen zeitgenössischen Sozialtheoretik e r n " (Frank 1 9 9 8 : X V f . ) ; später werden auch Dürkheim, 92
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Die Zielrichtung ist schlicht: „Only a holistic, universal, global, world history - ,as it really w a s ' 9 3 can offer the historiographie basis for a better social theory" (Frank 1 9 9 8 : 3 4 0 ) . Das ist eine Formel für das große Ganze, die sich nur mehr steigern lässt, wenn man den Weltraum einbezieht. 9 4 Neuere Versuche, zwischen „world-systems analysis and social-cultural anthropology" eine Verbindung herzustellen, führen unter anderem zum Konzept einer „world-systems anthropology" (Forte 1 9 9 8 ) , für die insbesondere die Überwindung der fachdisziplinären Verengungen spreche. Andere Konzepte - so die „world environmental history" verlangen geradezu eine Aufwertung der Arbeiten Wallersteins, die sich mit ihren weithin vernachlässigten ökologischen Überlegungen (s. Wallerstein 2 0 0 3 d ) dazu eigneten, das „untertheoretisierte Forschungsfeld" systematisch aufzurichten (Moore 2003). Wallersteins Analyse der Weltsysteme hat in den letzten drei Jahrzehnten entscheidend zur Initiierung der vielfältigen Interpretationen beigetragen, die das Ganze der Weltzusammenhänge einzubeziehen suchen. Für die Durchsetzung einer sozialwissenschaftlichen Thematisierung der Globalisierung wird das ausdrücklich anerkannt: „the institutionalization o f the world-systems approach undoub-
Sombart, Simmel und Spengler genannt (Frank 1 9 9 8 : 9ff.). So fragwürdig (konkretistisch) viele theoriestrategische Einwände sind, so bedenkenswert ist es, Belege und Überlegungen aus Perspektiven einzubeziehen, die in zwei Jahrhunderten europäischer Ignoranz ausgeblendet worden sind, um das angehen zu können, was Frank „the construetion of a truly holistic world economic/systemic model and theory" (Frank 1 9 9 8 : 3 2 ) nennt. Wallerstein hält die Kritik am Eurozentrismus für berechtigt, legt aber Wert darauf, dass die Brauchbarkeit theoretischer Konzepte davon abhänge, welche Fragen beantwortet werden sollen; ihm gehe es um die Frage, wie das „moderne kapitalistische Weltsystem" entstanden sei. Der „zivilisationistische" Ansatz berge die Gefahr, Zivilisationen zu verdinglichen (Wallerstein 1 9 9 5 : 2 4 6 ) . Auch wenn sie durch die Anführungszeichen relativiert werden sollte, verweist die eingefügte Bemerkung auf den naiven erkenntnistheoretischen Realismus, mit dem Frank seine radikale Position fundieren möchte. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass Wallerstein diesen Realismus protegiert hat, den Frank nun gegen ihn ins Feld schickt.
tedly prepared the ground for globalization in the social sciences" (Skiair 2 0 0 2 : 4 0 ) . Ohne den Impetus der Weltsystemanalyse, die den Blick auf die „ganze Welt" gerichtet habe, hätten sich die Ideen der Globalisierungstheorie wahrscheinlich nicht so schnell und so tiefgehend in der Soziologie und verwandten Disziplinen durchgesetzt (Skiair 2 0 0 2 : 4 2 ) . Das Gemeinsame der verschiedenen Richtungen der Globalisierungstheorie liege in deren „commitment to conceptualizing ,the world as a w h o l e ' " wie in der Zurückweisung einer national konstituierten Gesellschaft (King 1 9 9 7 : VIII). Auch Historiker befinden jetzt, „all local, national, or regional histories must, in important w a y s , . . . , be global histories" (Bayly 2 0 0 3 : 2). Gelernt haben die Sozialwissenschaften nicht nur in der „ B r e i t e " , sondern auch in der „ L ä n g e " . Inzwischen ist es durchaus üblich, aktuelle Themenstellungen im Kontext der letzten 5 0 0 Jahre zu interpretieren, wie es Paul Kennedy ( 1 9 9 2 ) - mit zahlreichen Verweisen auf Wallersteins M W S - in seiner Darstellung der Großmachtkonflikte getan hat. W i e sehr die Konstruktion einer globalen Vergangenheit (bis in die graue Vorzeit zurück) ebenfalls in den Fehler unreflektierter kategorialer Rückprojektionen verfällt, ist eine andere Frage. Dennoch wäre es falsch, die Weltsystemtheorie als bloße Vorgeschichte anderer Theoriekonzepte zu sehen, gar als deren Propädeutikum. 9 5 Nachdrücklich vertritt Wallerstein den Anspruch, mit seiner Theorie den paradigmatischen Wandel der Sozialwissenschaften vorzubereiten, der das absehbare Ende des kapitalistischen Weltsystems begleiten und zur Entstehung eines neuen Weltsystems beitragen soll. Dazu gehört, dass sich viele Anhänger der Weltsystemtheorie als Teil der neuen „antisystemischen Bewegung" verstehen, die sie ins 2 1 . Jahrhundert führen wollen (Wallerstein 1 9 8 3 / 2 0 0 1 ; vgl. auch Sonntag 2 0 0 3 ) . Dabei zeigt sich allerdings, dass die Behauptung, gegenwärtig vollziehe sich ein totaler SystemBruch, auch davon lebt, dass Wallersteins Theorie-
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9 4 Da das Weltsystem bei Frank/Gills aber als allumfassende Einheit und damit immer schon - zumindest seit 5 . 0 0 0 Jahren - im Singular gedacht werden muss (Wallerstein 1 9 9 3 : 2 9 5 ) , wird jedes der vielen empirischen Beispiele von Weltregionen, die außerhalb seiner Grenzen lagen, zugleich zu einem Einwand gegen die Brauchbarkeit der Konzeption von Frank/Gills (McNeill 1 9 9 3 : XI).
Anfang der neunziger Jahre hatte es recht überschwengliche Erwartungen gegeben, die Weltsystem-Perspektive biete „eine neue Art der Konzeptualisierung sozialer Strukturen und sozialer Beziehungen" (Korllos 1 9 9 1 : 1 2 8 ) , die erhebliche Auswirkungen auf alle möglichen gegenwärtigen Sozialtheorien - vom Funktionalismus über Konflikt- und Austauschtheorien bis zur Systemtheorie haben werde. Die verbreitete Tendenz, „riesige Vergleic h e " auf der Grundlage von „starken Strukturen" und „großen Prozessen" anzustellen, war allerdings schon früher auf erhebliche Vorbehalte gestoßen (Tilly 1 9 8 4 ) . 95
Lothar Hack: Auf der Suche nach der verlorenen Totalität konzept nicht darauf ausgelegt ist, strukturelle Bestimmungen so zu konstruieren, dass sie in die wie immer geartete neue Welt mitgenommen werden könnten. Der Überbetonung der Kontinuitäten innerhalb des kapitalistischen Weltsystems entspricht die Verabsolutierung der Diskontinuitäten an dessen vorgeblichem Anfang (um 1500) wie auch an dessen vermeintlichem Ende. Wenn es keine immanente Dynamik mit internen Widersprüchen und Strukturbrüchen gibt, dann sind grundlegende Veränderungen nur denkbar als Entstehung einer neuartigen Totalität. (Das Manuskript wurde Ende August 2 0 0 4 abgeschlossen)
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Autorenvorstellung: Lothar Hack, geb. 1940 in Danzig. Studium der Soziologie, Sinologie, Philosophie und VWL in Hamburg, Frankfurt/M. und Berkeley. Soziologie-Diplom in Frankfurt/M., Promotion in Berlin (FU), Habilitation in Frankfurt/M. Nach 1978 Hochschullehrer unter anderem in Frankfurt/M., Osnabrück, Dortmund sowie Leiter mehrerer Forschungsprojekte. Forschungsschwerpunkte: Gesellschaftstheorie, gesamtgesellschaftliche Analysen; Globalisierung, Transnationale Konzerne; Organisationsforschung; Wissenschafts- und Techniksoziologie. Wichtigste Publikationen: Die Wirklichkeit, die Wissen schafft (mit I. Hack), Frankfurt/M. 1985. Vor Vollendung der Tatsachen, Frankfurt/M. 1988. Technologietransfer und Wissenstransformation: Z u r Globalisierung der Forschungsorganisation von Siemens, Münster 1997.
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 159-173
Globale Ordnung und globaler Konflikt: Talcott Parsons als Theoretiker des Ost-West-Konfliktes Eine Anmerkung zur Theoriegeschichte von „Weltgesellschaft"
Global Order and Global Conflict: Talcott Parsons as a Theorist of the Cold War A Contribution to the History of Theories of World Society Bettina Mahlert Universität Bielefeld, Institut für Weltgesellschaft, Fakultät für Soziologie, Universitätsstr. 25, D-33615 Bielefeld E-mail: [email protected] Zusammenfassung: Der Beitrag diskutiert unter wissenschaftshistorischen Gesichtspunkten einige Aufsätze von Parsons, die die weltpolitische Situation des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Krieges kommentieren. Parsons argumentiert in diesen Beiträgen abwechselnd im Rahmen seiner Theorie moderner Grundwerte und mit den Mitteln der Konfliktsoziologie. Weil die west-östliche Wertübereinstimmung, an der für Parsons der Begriff des internationalen oder globalen Sozialsystems hängt, nach Parsons' eigener Einsicht für die Streitenden selber latent bleibt, kommt sie als konfliktdämpfender Mechanismus nicht in Betracht; entsprechend können effektive Mechanismen der Konfliktdämpfung nur in Gegebenheiten des weltpolitischen und schließlich des globalen Sozialsystems liegen, die zu beachten im konfliktstrategischen Interesse des Einzelakteurs liegt. Sowohl die Theorie moderner Grundwerte als auch die Konfliktsoziologie führen Parsons zu zwei Argumenten, die auch heute eine wichtige Rolle spielen, nämlich zum einen zur Hypothese einer Weltkultur und zum anderen zur Einsicht in den globalen Charakter moderner Funktionssysteme. Für beide Themen lässt sich in der Soziologie also eine begriffliche Kontinuität beobachten, die in der Aufgeregtheit der Globalisierungsdebatte vorübergehend aus dem Blick geraten ist. Summary: By drawing from various texts on the political situation during World War II and the Cold War, this article assesses to what extent the theory of Talcott Parsons can be understood as a precursor of today's debate about globalization and world-society. As will be shown, Parsons approaches these issues from two perspectives. On the one hand, he refers to his theory of modern values; on the other hand, he relates his argument to a more general sociology of conflict. With regard to the first dimension he somewhat surprisingly argues that there is a strong consensus of values between East and West. However it is due to the ideological differences that the common values have become invisible. Hence, the quest for mitigating mechanisms must take into account situational constraints. For that purpose the sociology of conflict offers an adequate analytical tool. Finally, both perspectives entail themes which - though relatively unnoticed - have fed into today's theories of world society. These are the idea of a modern world culture and the notion of a global extension of functional sub-systems.
1. Einleitung Viele Beobachter von Globalisierungsprozessen halten diese für vergleichsweise neu. Manche Politikwissenschaftler datieren die entscheidende Zäsur auf das Ende des Ost-West-Konfliktes. Aber auch breiter angelegte Zeitdiagnosen, die neben der Staatenwelt noch andere Bereiche zu thematisieren versuchen, hinterlassen typisch den Eindruck, noch die Generation der heute Vierzigjährigen hätte zunächst in dieser oder jener nationalen Gesellschaft gelebt und erst seit wenigen Jahren beginne man, sich für Globalisierungsprozesse zu öffnen.
* Dieser Aufsatz ist aus Teilen einer Magisterarbeit gleichen Titels hervorgegangen. Bei Themenwahl und Bearbeitung dieser Arbeit war mir André Kieserling eine große Hilfe noch mal danke dafür. Ferner dankt die Autorin zwei anonymen Gutachtern für eine Reihe konstruktiver Hinweise.
Lässt man sich auf solche Datierungen ein, dann kann es eine einigermaßen realistische Theorie des Globalisierungsprozesses vor jener Zeitenwende schwerlich gegeben haben. Solchen Theorien hätte nichts Geringeres gefehlt als ein Gegenstand, und infolgedessen hätten sie bestenfalls den Status einer abstrakten Utopie haben können. Die Datierung der geschichtlichen Zäsur zieht also eine wissenschaftsgeschichtliche Einschätzung nach sich. Dieser Einschätzung kann man - das zeigt der Beitrag von Bettina Heintz und Jens Greve in diesem Band - mit vielen Belegen entgegentreten. Einer von ihnen soll im Folgenden etwas ausführlicher präsentiert werden. Er betrifft das theoretische Werk von Talcott Parsons. In der heutigen Globalisierungsdiskussion ist dieser Autor, so wichtig er in anderen Zusammenhängen geblieben ist, überhaupt nicht präsent, oder wenn doch, dann in der Rolle eines Gegners, von dem man sich abzugrenzen ver-
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sucht. 1 Verständlich ist diese Diskussionslage, wenn man sich allein an den Gesellschaftsbegriff von Parsons hält, der ja bekanntermaßen an Nationalstaaten gebunden blieb: Parsons war kein Theoretiker der Weltgesellschaft.2 Aber Parsons verfügt über mindestens zwei Begriffe, die sich über solche Referenzen hinaus abstrahieren lassen: über den Kulturbegriff und über den Begriff eines sozialen Systems, das aus Gesellschaften besteht, ohne selber Gesellschaft zu sein: „The System of Modern Societies" (Parsons 2000 [1971]). Beide Begriffe fordern einander, da Parsons bei Sozialsystemen ja an kulturell integrierte Gebilde zu denken pflegte (Parsons/Shils 2001: 159ff.). Der Nachweis eines globalen Sozialsystems müsste daher auf den Nachweis einer Art von Weltkultur hinauslaufen, die an den Grenzen von Nationalstaaten nicht aufhört. Wir wollen zeigen, dass Parsons diesen Weg in der Tat beschritten hat. Dabei beziehen wir uns auf eine Gruppe von Aufsätzen, die sich mit der Frage nach einer internationalen bzw. globalen Sozialordnung befassen.3 Einige dieser Arbeiten entstanden vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges und behandeln die weltpolitische Provokation des Nationalsozialismus, andere haben die Situation des Ost-West-Konfliktes vor Augen. Die Texte zum Ost-West-Konflikt datieren aus der ersten Hälfte der 60er Jahre, fallen also bereits in die Phase des „Cold War" (CW: 399) und der gegenseitigen nuklearen Abschreckung. Allerdings abstrahiert Parsons von solchen Einzelheiten des weltpolischen Geschehens und behandelt den 1 Wichtige Einschränkungen dieser These werden im letzten Abschnitt dieser Arbeit gesondert behandelt. 2 Der Gesellschaftsbegriff von Parsons wird denn auch im Folgenden nicht weiter berücksichtigt. Wir verweisen aber auf den Beitrag von Rudolf Stichweh in diesem Band. 3 Es handelt sich um die folgenden Aufsätze: „Order and Community in the International Social System" (Parsons 1 9 9 9 a [1961]), im Folgenden „ O C " ; „Polarization of the World and International Order" (Parsons 1 9 9 9 b [1961]), im Folgenden „ P W " ; „Communism and the West: The Sociology of Conflict" (Parsons 1964), im Folgenden „ C W " ; „Nazis Destroy Learning, Challenge Religion" (Parsons 1 9 9 3 a [1938]), im Folgenden „ N D " ; „Sociological Reflections on the United States in Relation to the European W a r " (Parsons 1 9 9 3 b [vermutlich 1942]), im Folgenden „SR"; „Some Sociological Aspects of the Fascist Movement" (Parsons 1 9 9 3 c [1942]), im Folgenden „ F M " ; „National Socialism and the German People" (Parsons 1993d [1942]), im Folgenden „ N S " ; „Democracy and Social Structure in Pre-Nazi Germany" (Parsons 1 9 9 3 e [1942]), im Folgenden „ D S " ; „The Problem of Controlled Institutional Change" (Parsons 1 9 9 3 f [1945]), im Folgenden „ C C " . Im Text werden die hier eingeführten Siglen verwendet.
Konflikt als eine historische Einheit. Das metawissenschaftliche Interesse dieser Texte liegt in der Frage nach Aussichten auf De-Eskalation und Mäßigung. In ihren wissenschaftlichen Aspekten können die Beiträge aber auch unabhängig davon, und also auch heute noch relevant sein und diskutiert werden. 4 Vor allem mit der zweiten, den Ost-WestKonflikt betreffenden Linie werden wir uns im Folgenden beschäftigen; der Kommentar zum Nationalsozialismus kommt nur als ergänzendes Argument in Betracht. Wie wir noch sehen werden, argumentiert Parsons abwechselnd im Rahmen seiner Theorie moderner Grundwerte und mit den Mitteln der Konfliktsoziologie, ohne die Spannung zwischen diesen beiden Zugängen zum Thema explizit auszutragen: Die Theorie der Grundwerte unterstellt, dass beide Parteien des Ost-West-Konflikts dieselben Werte haben, also auch über ein normatives Motiv verfügen, den anderen nicht einfach mit Tod oder Vernichtung zu bedrohen. Die Konfliktsoziologie dagegen rechnet in der Form, in der Parsons sie handhabt, mit primär strategischen Interessen. Wie ist diese Spannung zu verstehen? Unsere Rekonstruktion lässt sich von der folgenden Zentralthese leiten: Weil die west-östliche Übereinstimmung der Werte, an der für Parsons der Begriff des globalen Sozialsystems hängt, nach Parsons' eigener Einsicht für die Streitenden selber latent bleibt, darum kommt sie als konfliktdämpfender Mechanismus nicht in Betracht (2.); entsprechend können effektive Mechanismen der Konfliktdämpfung nur in Gegebenheiten des weltpolitischen und schließlich des globalen Sozialsystems liegen, die zu beachten im konfliktstrategischen Interesse des Einzelakteurs liegt (3.). Diese normativ-strategische Mischposition lässt sich schon in Parsons' Kommentierung des Nationalsozialismus und insbesondere in seinen Politikempfehlungen an die US-amerikanische Regierung für die Nachkriegszeit finden: Die Einheit einer Wertordnung lässt sich auch in diesem Falle nachweisen, ist aber wiederum durch Ideologien invisibilisiert. Eine Reintegration Deutschlands kann daher nicht allein durch Appelle an die gemeinsamen Werte erreicht werden, sondern vor allem durch eine Politik, die an den sozialstrukturellen Beschränkungen des Handelns ansetzt (4.). Sowohl die Theorie moderner Grundwerte als auch die Konfliktsoziologie führen Parsons zu je eiInteresse fand Parsons' Kommentar zum Nationalsozialismus bisher vor allem hinsichtlich der Frage, ob er Konflikt und sozialen Wandel beschreiben kann; vgl. Alexander 1 9 8 3 : 61 ff., Weingart 1 9 6 9 .
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nem Argument, das auch heute eine wichtige Rolle spielt, nämlich einmal zur Hypothese einer Weltkultur und zum anderen zur Einsicht in die globale Reichweite moderner Funktionssysteme. Für beide Themen lässt sich in der Soziologie also eine begriffliche Kontinuität beobachten, die in der Aufgeregtheit der Globalisierungsdiskussion ihrerseits vorübergehend invisibilisiert worden ist (5.).
2. Wertordnung und Ideologie im Ost-West-Konflikt Um sich nach den Vorgaben seiner eigenen Theorie zum Ost-West-Konflikt äußern zu können, musste Parsons das Verhältnis zwischen Ost und West als ein soziales System in seinem Sinne des Wortes ausweisen. Das führt ihn gegen die politikwissenschaftlichen und sonstigen Spezialisten zu der These, dass es auch in diesem Konflikt Gemeinsamkeiten, und zwar kulturelle und näherhin wertmäßige Gemeinsamkeiten gibt, die die beiden Gegner verbinden und den Konflikt relativieren. 5 Die spezifisch modernen Grundwerte, als welche Parsons dieses Gemeinsame identifiziert, stiften so etwas wie eine west-östliche Konvergenz, die es rechtfertigt, noch den Ost-West-Konflikt selber als einen Globalisierungsprozess zu verstehen, nämlich als einen Prozess der Diffusion spezifisch moderner Strukturen. Um diese Strukturen zu identifizieren, unterscheidet Parsons Werte von Ideologien, und zwar nach dem Muster der Unterscheidung von abstrakt und konkret. Ideologien sind semantische Spezifikationen einer Wertordnung, die Rücksicht nehmen auf die Sonderbedingungen von Teilsystemen. Sie verbinden die Zustandsbeschreibung eines empirischen Teilsystems einer Gesellschaft mit einem Bezug auf die Wertordnung und leiten daraus Handlungsdirektiven ab (vgl. Parsons 1967a). Die abstrakten Gemeinsamkeiten im Bereich der Werte bedeuten zunächst, dass beide Seiten des Konfliktes eine sehr allgemeine Vision von gesellschaftlicher Modernität miteinander teilen, anhand derer sie ihre eigenen Strukturen aufbauen und sich selbst ebenso wie einander bewerten. 6 Parsons hat „We cannot fail to recognize the presence of the primary ingredient of integration as opposed to polarization: common values obtain at a certain level of the general societal system (= global social system, B.M.)" (PW: 258). Soweit nicht anders gekennzeichnet sprechen wir von einer globalen oder weltweiten Sozialordnung in einem nicht politisch-internationalen Sinne. 6 Eine Darstellung dieses Wertbegriffs, die seinen hohen 5
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dieses kulturelle Muster verschiedentlich als instrumenteilen Aktivismus beschrieben. Seinen Verpflichtungsgehalt sieht er in unablässiger Bemühung um eine höherstufige „Organisation" der gesamten Gesellschaft („activism") bei unbestimmt bleibenden Verwendungszwecken der dabei anfallenden Erträge („instrumental"). 7 M a n könnte von der Vision einer Gesellschaft sprechen, die jederzeit zu allen möglichen Handlungen, Projekten, größeren Umbauten ihrer selbst oder auch zu tieferen Eingriffen in die außergesellschaftliche Umwelt in der Lage ist - eine Gesellschaft mit einem Maximum an verwendungsoffenem Handlungspotenzial, die alle Bindungen an Zielvorstellungen konkreterer Art im Bedarfsfalle mobilisieren kann. 8 Eine für Parsons weltweite Folge dieses Wertmusters besteht in der starken Betonung der Autonomie kollektiver Akteure 9 . Auf nationaler Ebene entAbstraktionsgrad besonders gut zur Geltung bringt, findet sich in dem posthum publizierten Aufsatz „A Tentative Outline of American Values" (Parsons 1991 [1989]). Hier versucht Parsons, das Spektrum möglicher kultureller Systeme in Abstraktion von allen sozialen und psychischen Referenzen aus den Schematismen seines Handlungsbegriffs herzuleiten. Kulturelle Systeme können demnach entweder eine konsumatorische oder eine instrumentelle sowie entweder eine externe oder eine interne Orientierung vorgeben. Außerdem müssen sie die Instanz zur moralischen Bewertung von Handlungen lokalisieren; diese kann entweder empirisch oder transzendent sein. Die moderne Kultur kombiniert die Variablen instrumentell/internal/transzendent. „Instrumental activism" ist bereits die Formel für eine erste Respezifikation dieses Musters mit Bezug auf die sozialen Bedingungen seiner Realisation. 7 „Organisation" meint hier einen strukturellen Akzent auf dem Zielerreichungsaspekt in beliebigen sachlichen Zusammenhängen: „The features of Western culture (...) have to do with the development of normative institutional frameworks for the higher-order organization of secular society" (OC: 248). Siehe zu dieser Auszeichnung von goal-attainment als Kriterium reifer Modernität, wenn nicht als Fortschrittskriterium, auch die Kritik bei Niklas Luhmann (1988). 8 In diesem Sinne spricht Parsons von einem „instrumental consensus on the valuation of capacities, at various levels of the organization of the society, to undertake whatever activities may be deemed most important to the welfare of that society" (PW: 257). 9 Man könnte die folgende Liste von Merkmalen gesellschaftlicher Modernität noch ausbauen und Parallelen zu den Modernisierungstheorien der 50er und 60er Jahre zeigen, die ja noch vor Parsons in der nicht-westlichen Welt einen Modernisierungstrend beobachtet haben. Während die Modernisierungstheorien weltweite Konvergenzen allein aufgrund einer Art von ökologischer Notwendigkeit erwarten, setzt für Parsons ein „Zwang" zur Modernität auch entsprechend kulturelle Versionen voraus (vgl. Gre-
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spricht dem die allgemeine Präferenz dafür, die Erfüllung wichtiger Funktionen Organisationen zu übergeben. Deswegen werden in den meisten Staaten (im Osten wie Westen) neben der Ausdifferenzierung einer staatlichen Bürokratie weite Teile von Handlungsbereichen wie Wirtschaft, Bildung, Gesundheit, Wissenschaft etc. mit Organisationen gleichsam überzogen. All dies bildet, da auf kollektiv bindendes Entscheiden bezogen, den im weiteren Sinne politischen Fokus der modernen Wertordnung. Auf globaler Ebene entspricht diesem Wertmuster die Differenzierung des weltpolitischen Systems in „souveräne" Nationalstaaten. „Demand for equal status as societies, with its bearing on political independence" (PW: 254) und „a drive (...) toward the development of a ,modern State'" (OC: 248) sind demnach zwei wichtige zusammengehörige Aspekte des globalen Sozialsystems. Damit ist aber bereits das Potenzial angesprochen, dass unterschiedliche Nationalstaaten (oder schließlich: Blöcke von ihnen) das Wertmuster des instrumenteilen Aktivismus in unterschiedlicher Weise zu realisieren versuchen. In der Beschreibung dieser Unterschiede ist Parsons nicht eigentlich originell. Hier rekonstruiert er bekannte Differenzen mithilfe eines Pluralismusbegriffs, der sich gegen den üblichen Sprachgebrauch nicht ausschließlich auf politische Verbände und Interessengruppen bezieht. Bei Parsons kommt dieser Begriff in zwei verschiedenen Bedeutungen vor (Parsons 1960, 1967b, 1969 [1959]). Als gesellschaftstheoretischer Begriff ist Pluralismus ein anderes Wort für die fortgeschrittene (funktionale) Differenzierung moderner Gesellschaften (vgl. Parsons 1967b: 285). Zum anderen ist Pluralismus ein Begriff der politischen Theorie, der den Tatbestand treffen soll, dass es Macht und kollektiv bindendes Entscheiden auch außerhalb des politischen Systems im engeren Sinne gibt, also auch jenseits von Staat und Parteien. Parsons denkt hier vor allem an nichtpolitische Organisationen. Diesen Begriff des im engeren Sinne politischen Pluralismus hat erstmals wohl H. Laski formuliert, und wie bei diesem so dient er auch bei Parsons dazu, überintegrierte Vorstellungen von staatlicher Souveränität zurückzuweisen. 10 ve/Heintz in diesem Band). D a m i t r u f t er allerdings n u r eine Denkmöglichkeit in Erinnerung, die auch schon vorher verfügbar gewesen ist und die die Modernisierungstheorien bei ihrem Rückgriff auf parsonianische Konzepte „abgeschnitten" haben. 10 Für Laski und die englischen Pluralisten liegt die „ursprüngliche" Souveränität nicht beim Staat, sondern sie liegt in der großen M e n g e kleinerer, intermediärer, freiwilliger Vereinigungen oder K o r p o r a t i o n e n , die es in der Ge-
Der Kommunismus lehnt nun mindestens nach Selbstbeschreibung und offizieller Ideologie beide Arten von Pluralismus ab. An die Stelle einer funktionalen Differenzierung tritt die Politisierung der gesamten Gesellschaft und insbesondere des produktiven Sektors ihres Wirtschaftssystems, und an die Stelle der lokalen Souveränität vieler einzelner Organisationen tritt der Versuch, den Machtgebrauch der gesamten Gesellschaft der Aufsicht durch Staat und Partei zu unterstellen, also andere Organisationen nur nach der Art von Unterabteilungen der politischen Zentralorganisationen aufzufassen. Dass dies nur unter Verzicht auf Rechtsstaatlichkeit und Mehrparteiendemokratie erreichbar ist, liegt auf der Hand. 1 1 Originell ist Parsons vor allem, wo es um den Nachweis von teils offenkundigen, teils verdeckten Gemeinsamkeiten, also um den Nachweis jener west-östlichen Konvergenzen geht, die seinen Begriff der Weltkultur und damit auch des weltweiten Sozialsystems tragen sollen. Als offenkundige und noch an der polarisierenden politischen Semantik ablesbare Übereinstimmung gilt ihm das starke Interesse an Industrialisierung: „Thus, from the communist point of view, the essential immorality of capitalism does not consist in its having abandoned the virtues of preindustrial economic systems; nor, from the other side is it the ,crime' of Soviet Russia to have promoted industrialization. Quite the contrary on both sides, as is evidenced by the continuing stress in Soviet pronouncements on their imminent ,catching up' with the United States and a less obvious, sometimes indeed grudging, Western admiration for soviet achievements" (CW: 391). Zu den eher versteckten Gemeinsamkeiten dringt Parsons vor, indem er die Frage stellt, wie denn die marxistische Ideologie mit ihren eigenen Begriffsmitteln den Verzicht auf politische Merkmale von Modernität rechtfertigt (PW: 260ff.). Wichtig an dieser Ideologie ist für Parsons zweierlei: das nur Vorläufige dieses Verzichtes sowie die individualistischen Züge der anzustrebenden Letztstufe gesellschaftlicher Entwicklung. Nach einer Zwischen-
sellschaft sonst noch gibt. Denn erst in diesen „authentischen" menschlichen Gemeinschaften sahen sie das Individuum frei u n d selbstbestimmt; hier erst, in Kirche, G e w e r k s c h a f t oder „ C l u b " , vermochte es sich in ihren Augen zu realisieren; vgl. Kariel 1969. 11 M a n k ö n n t e vielleicht sagen, dass hier „polity" nicht n u r analytisch, sondern auch konkret ein einziges System ist, w ä h r e n d „politischer Pluralismus" bedeutet: „Polity" ist n u r analytisch, nicht aber auch k o n k r e t ein einziges System.
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phase mit Diktatur des Proletariats soll es bekanntlich zum Absterben des Staates kommen, 12 und nach einer Zwischenphase der autoritativen Vergemeinschaftung zur Aufhebung von Entfremdung schlechthin. Dieser geschichtsphilosophischen Selbstbeschreibung der sozialistischen Staaten entnimmt Parsons den Hinweis, dass auch der Marxismus eine genuin moderne Ideologie ist - nicht anders als der ökonomische Liberalismus, dem er eben nur auf den ersten Blick völlig zuwiderläuft: Ein Kultus des Individuums, gesteigert bis zur Staatsablehnung - dieses Syndrom finde man hüben wie drüben. 13 Für diese vorübergehende Abweisung des gesamtgesellschaftlichen wie auch des im engeren Sinne politischen Pluralismus innerhalb der marxistischen Ideologie findet Parsons eine interessante wissenssoziologische Deutung (CW: 392ff.). Sie beginnt mit der Beobachtung, dass es in den „kapitalistischen" und fortgeschrittenen Industrienationen gelungen ist, die Arbeiter in zunehmendem Maße zu integrieren, so dass gegen die Marxisten davon auszugehen sei, dass dieses Ziel auch ohne eine Vollpolitisierung der Gesamtgesellschaft sich erreichen lasse. Umgekehrt hatte der Marxismus, anders als erwartet, eben nicht hier, in den „pioneering industrial societies" (CW: 393) seine größten politischen Erfolge zu verbuchen. Gelungen sei ihm vielmehr immer wieder die Machtübernahme in Ländern mit einem seinerzeit vergleichsweise geringen Maß an Industrialisierung. An diese Beobachtung schließt Parsons die These an, dass der Kommunismus Rücksicht auf die besondere Lage dieser Länder nimmt und für deren Situation angemessen ist. Man müsse ihn, mit anderen Worten, als Ideologie interpretieren, nämlich als eine semantische Spezifikation der Wertord12 Aus der selbst bescheinigten Vorläufigkeit des sozialistischen Staates folgert Parsons übrigens, der Kommunismus stehe langfristig vor der Alternative zwischen Zerfall und Verwestlichung auch seines eigenen politischen Systems (CW: 396f.). 13 „Presumably, the .withering away of the state' (and also of the party) will bring with it a level of individual freedom - both political and in other contexts as well - which will far exceed the freedom attained by bourgeois societies (...). We can therefore conclude that political freedom at the associational and individual levels - subject, of course, to adequate institutional regulation - constitutes an essential component of the central value complex under discussion, and that the failure of the Communist camp to recognize this component in internal matters represents a basic ideological issue which merits special treatment" (PW: 261; Hervorhebungen von mir, B.M.).
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nung, die Rücksicht nimmt auf die Sonderbedingungen von Teilsystemen oder, und das ist der hier gemeinte Fall, von Regionen innerhalb eines umfassenden Systems. „Durch die Brille" der modernen Wertordnung betrachtet werden Unterschiede zwischen Regionen als Entwicklungsxmtetschiede interpretiert. All diejenigen, die nicht in den Kreis der fortgeschrittenen Industrienationen gehören, werden nun zu „underdeveloped societies" (CW: 392), zu den „have-nots" (PW: 258) des globalen Sozialsystems. Dazu zählt Parsons konsequenterweise auch das Russland der 1920er Jahre. Diese Situation führt zu großer wahrgenommener Dringlichkeit bezüglich Industrialisierung. Und genau hier vermutet Parsons die ideologische Leistung des Marxismus: Er rechtfertige ein unter Modernitätsgesichtspunkten zwar nicht salonfähiges, dafür aber als Industrialisierungskatalysator geeignetes, weil hocheffektives politisches System. Damit habe er so etwas wie ein „role model for the process of new industrialization" werden können (CW: 393f.). Nach Parsons ist der spezifische Erfolg des Kommunismus in den Entwicklungsländern also als Effekt einer globalen Wertordnung zu erklären. Das Verkennen der oben genannten Gemeinsamkeiten schließlich rechnet er darauf zu, dass die Werte mit den Ideologien bis zur Unkenntlichkeit fusioniert werden mit dem Ergebnis, dass der Gegner die Unwerte und man selbst die Werte vertritt (vgl. PW: 258f.): Beide Seiten reklamieren für sich so etwas wie ein Monopol auf Modernität und rufen einander unversöhnlich zu: „We will bury you!" (PW: 258). Unter diesen Umständen kann die Wertordnung selbst nicht mehr mäßigend in den Konflikt eingreifen. Im Gegenteil: Heruntergebrochen auf ein für Akteure instruktives Format, kann sie die politische Polarisierung nur unterstützen. „Thus, the opposition contends that only a rigid formula of socialist organization is morally acceptable; on our own side, ,free enterprise' is said to be the basic moral issue with which there can be no compromise" (PW: 259). Deshalb kommt Parsons zu dem Schluss, dass das weltpolitische System, unter normativen Gesichtspunkten gesehen, bestenfalls schwach integriert ist.
3. Konfliktdämpfende Mechanismen Der Befund, wonach die Wertordnung in Form eines ideologischen Konfliktes respezifiziert wird, hat für die Soziologie des weltpolitischen Konflikts erhebliche Folgen. Eine Entzerrung der beiden Sinnebenen der Wertordnung und der Ideologie ist zwar
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aus einer wissenschaftlichen Beobachterperspektive praktikabel, schwerlich aber für die Konfliktgegner selbst. Parsons empfiehlt zwar nach dem Motto „every little bit helps" 14 den Streitenden und so vor allem der amerikanischen Seite, den Gegner vorsichtig auf die Existenz gemeinsamer Wertgrundlagen hinzuweisen. Allein auf diese Maßnahme mag er sich jedoch offenbar nicht verlassen, da er nach weiteren Möglichkeiten der Mäßigung des Konfliktes sucht. Seiner eigenen Verlautbarung und dem Tenor seiner Formulierungen nach geschieht dies anhand der Frage, ob es außer der Wertordnung noch andere, wie immer rudimentäre Elemente einer internationalen normativen Ordnung gibt. Die folgende Rekonstruktion lässt sich dagegen von der These leiten, dass die Invisibilisierung der gemeinsamen Werte für Parsons' weitere Überlegungen weiter reichende Konsequenzen hat, als es der Duktus seiner Texte erkennen lässt. Konsequenterweise, so unsere These, schließt Parsons nun an die engen Motive der miteinander streitenden Einzelakteure an und sucht nach Beschränkungen, die zu beachten im strategischen Eigeninteresse liegt. In den Texten zum Ost-WestKonflikt lassen sich neben der Wertordnung insgesamt drei integrative Mechanismen erkennen, die genau dies miteinander teilen. Das Suchmuster für Beschränkungen solcher Art bietet eine allgemeine Konfliktsoziologie, die auch ohne wahrgenommene Einheit der Wertbindung formuliert werden kann. Diese konfliktsoziologische Perspektive, die in Parsons' Texten merkwürdig implizit bleibt, müssen wir im Rückgriff auf andere Autoren kurz erläutern. Die verbreitete Kritik an Parsons, er habe sich für Konflikte nicht interessiert und könne dieses Thema mit den Mitteln seiner Theorie auch gar nicht behandeln, ist gewiss nicht zutreffend; allein die hier behandelten Texte belegen dies. Unter Rückgriff auf Konzepte des strukturellen Widerspruchs, der Spannung, des Drucks kann Parsons sich vor allem über Ursachen für die Entstehung von Konflikten äußern (vgl. Lipset 1978). Den Konflikt selbst vermag er sich aufgrund eines an positiv integrierten Sozialbeziehungen abgelesenen Begriffs von Sozialität jedoch nur als unteroptimale Integration vorzustellen. Die allgemeine Konfliktsoziologie, die wir hier heranziehen, versteht Konflikte dagegen als eine eigene Form von Sozialität und geht in dieser Intention 14 Dieses M o t t o entnehmen wir Parsons' weiter unten behandeltem Kommentar des Nationalsozialismus (CC: 321).
auf Simmel zurück. 15 Unter Abstraktion von Ursachen und Gegenständen des Konflikts sucht sie nach einer allgemeinen Begrifflichkeit, die sich dann auf Konflikte jeder Art und Größe vom Ehekrach bis zu gesamtgesellschaftlich relevanten Großkonflikten anwenden lässt. In einer gut ausgearbeiteten Fassung liegt dieser Zugang in der Systemtheorie vor (vgl. Luhmann 1984). Nach Luhmanns präziser Definition können Konflikte entstehen, wenn sich zwei Personen oder Personengruppen in der Form des Widerspruchs kommunikativ aufeinander beziehen: 16 Sie sind unterschiedlicher Meinung, sie haben unterschiedliche Vorstellungen über den gemeinsam zu verbringenden Abend oder unvereinbare Gebietsansprüche in derselben Region etc. und lassen dies den anderen auch wissen. Diese Art der Kommunikation oder Interaktion kann eine Episode bleiben, oder sie kann sich im weiteren Verlauf verselbständigen, so dass nicht mehr das ursprüngliche Thema die Interaktion führt, sondern das Schema der Gegnerschaft. Nach der Logik dieses Schemas nützt mir all das, was dem Gegner schadet, allein deshalb, weil es ihm schadet. Ein Engagement im Konflikt führt bei den Akteuren auf diese Weise zu einer Verengung der Perspektive auf das - konfliktstrategische - Interesse an der Schädigung ihres Gegners. Gerade darin sieht Luhmann den hohen Integrationsgrad dieser sozialen Ordnung: „Hat man sich einmal auf einen Konflikt eingelassen, gibt es kaum noch Schranken für den Integrationssog dieses Systems (...). Ein Wort gibt das andere, jede Aktivität muss und kann mit irgendwelchen anderen beantwortet werden" (Luhmann 1984: 532). 15 Darin unterscheidet sich dieser Zugang übrigens auch von dem, was der soziologische Sprachgebrauch seit Collins als „Conflict Sociology" oder, mit einem Wort von Bernhard Peters, als „strategischen Interaktionismus" vorsieht (Peters 1 9 9 3 : 2 4 7 ) . Hierbei handelt es sich um eine Theorie über die Beziehungen zwischen Großgruppen, sofern sie Mustern von Ungleichheit und Beherrschung folgen. Als „soziale Konflikte" werden die aus diesen Strukturen resultierenden Interessengegensätze behandelt, und von Interesse ist daran weniger der operative Verlauf des Konfliktes als seine Ursachen und die Verteilung von Ressourcen zwischen den Konfliktgegnern; vgl. Peters 1 9 9 3 sowie Kieserling 1 9 9 9 : 2 6 0 . 16 Hier folge ich der Darstellung von André Kieserling ( 1 9 9 9 ) . Ein neuerer Beitrag von Heintz Messmer ( 2 0 0 3 ) behandelt die Frage, ob ein kommunizierter Widerspruch ausreicht, damit es zur Ausdifferenzierung eines Konfliktsystems kommt, oder ob zusätzlich ein zweiter, dem ersten Widerspruch widersprechender Widerspruch erforderlich ist.
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Die Reduktion auf Gegnerschaft schafft eine hohe Offenheit für verwendbare Themen und Handlungsmöglichkeiten: Sie müssen lediglich dem Gegner schaden können. Der Konflikt sieht also keine Mittel zu seiner eigenen Beendigung vor, sondern tendiert im Gegenteil dazu, sich auszuweiten - und zwar nicht nur thematisch, sondern auch im Verhältnis zur sozialen und nichtsozialen Umwelt. Die Konfliktparteien leitet ein expansives Interesse an der Nutzung von Ressourcen und an sozialer Unterstützung gegen den Gegner, und zwar Unterstützung durch unbeteiligte Dritte. An diesen beiden Punkten können Mechanismen zur Dämpfung ansetzen: der Zugang zu Ressourcen und der Zugang zu sozialer Unterstützung können entweder blockiert oder an Bedingungen einer gemäßigten Austragung des Konfliktes gebunden werden. Gegen die damals üblichen Vorstellungen geht Parsons davon aus, dass der Ost-West-Konflikt eine soziale Umwelt hat, die Positionen für Dritte vorsieht und zu besetzen weiß. Als politischer Konflikt ist er eine bloß teilsystemische, in umfassendere Strukturen eingebettete Polarisierung. Dies machen sich die konfliktdämpfenden Mechanismen zunutze, die Parsons zutage fördert.
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nicht nur soziale Systeme, sondern auch Handlung als Interpenetration von Werten und Bedingungen vor: Sie kann nicht zustande kommen, ohne normativ an Zwecken, Normen, Werten orientiert und gleichzeitig an eine Situation gebunden zu sein, die in Gestalt von „constraints" und Mitteln relevant wird. In Abhängigkeit von seiner eigenen Fragestellung kann der wissenschaftliche Beobachter das eine oder das andere in den Mittelpunkt stellen. Weil Parsons sich für eine Mäßigung des weltpolitischen Konfliktes interessiert, die gemeinsamen Werte dafür jedoch ausfallen, wendet er sich nun der Situation zu. Hier findet er in einer allgemeinen Konfliktsoziologie das passende Suchmuster, weil sie zeigt, wie die Handlungssituation für streitende Akteure unter dem Gesichtspunkt von „Mitteln" relevant wird, und wie diese Relevanz für eine Mäßigung des Konfliktes genutzt werden kann.
Parsons vollzieht also einen gewissen Wechsel von einer „normativen" zu einer „systemischen" Perspektive: Erst bilden Werte den Ausgangspunkt und die Grundlage seiner Argumentation, dann treten plötzlich bornierte Eigeninteressen und mit ihnen situative Aspekte an ihre Stelle. Wie ist dieser Umschwung zu verstehen? Häufig wird Parsons als „Idealist" interpretiert, der alle sozialen Sachverhalte ausschließlich mithilfe ihrer Rückführung auf Normen und Werte beschreiben kann. Einer solchen Lesart könnte unsere Rekonstruktion als Bestätigung gelten: Dort, wo die Suche nach gemeinsamen Werten nicht mehr instruktiv ist, so wie sie das noch für die Wissenssoziologie des Kommunismus gewesen sein mag, fällt Parsons' eigene Theorie aus. Der Autor Parsons muss dann auf eine Argumentationsweise ausweichen, die durch seine Theorie nicht gedeckt ist, und deshalb zerfallen seine Texte zum Ost-West-Konflikt in zwei Teile.
Außerdem bietet eine allgemeine Konfliktsoziologie, da auf alle Konflikte anwendbar, den Vorteil eines soziologisch breiteren Zugangs zum Thema. Statt den Ost-West-Konflikt zu isolieren, wird er mit anderen Konflikten vergleichbar. Parsons versucht denn auch, im internationalen Konflikt Elemente von Integration zu finden, die es ihrer allgemeinen Form nach auch anderswo gibt. Sein Kommentar zur Situation des Ost-West-Konfliktes nimmt also im Weiteren die Form eines theoretisch kontrollierten Vergleichs von internationalen mit anderen Konflikten an, und den dafür geeigneten Vergleichsfall findet er in nationalen politischen Systemen, nämlich im Konflikt zwischen den Parteien unter den Bedingungen von Wahldemokratie. An der Polarisierung kann hier so wenig ein Zweifel bestehen wie daran, dass sie mit der Stabilität des politischen Systems sowie mit einer nach anderen Gesichtspunkten differenzierten Gesellschaft voll kompatibel ist (vgl. OC: 246). Hier kann Parsons zudem auch auf eine eigene politische Soziologie des Zweiparteiensystems zurückgreifen, in der er sich die Konfliktsoziologie bereits - ebenfalls stillschweigend - zu eigen gemacht hat (vgl. Parsons 1969 [1959]).
Dagegen könnte man auf die eigentümliche Leichtigkeit hinweisen, mit der Parsons den Perspektivenwechsel vollzieht, und dies als Indiz dafür interpretieren, dass er in beiden Sprachen mit eigener Stimme spricht. Ein wichtiges Argument zugunsten dieser Lesart stammt von Richard Münch (Münch 1988): Nach seiner Rekonstruktion der Parsonsschen Theorie findet sich der Sachverhalt der Interpenetration bereits in der Struktur des frühen Handlungsbegriffs. Demnach stellt sich Parsons
Zu den Mechanismen, die diese nicht-anomische Polarisierung auf nationaler Ebene garantieren und auch in der internationalen Ordnung zu finden sind, gehören Parsons zufolge: unabhängige, aber konfliktstrategisch relevante Dritte (1); Verfahren (2); querstehende Gruppenloyalitäten (3). 1) Unabhängige Dritte sind bekanntlich im Maße der Relevanz ihres Urteils ein attraktiver Bezugspunkt für Strategien der Konfliktgegner (vgl. Giesen 1993: 109f.). So ist es auf nationaler Ebene für
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politische Parteien reizvoll, die Wähler auf die eigene Seite zu ziehen und gegen den Gegner urteilen zu lassen. Auf diese Weise wird die direkte Konfrontation zwischen den Parteien durch einen vorwiegend in den Massenmedien ausgetragenen Wettkampf um die Wählergunst ersetzt. Ganz ähnlich sollen nun Parsons zufolge im internationalen Rahmen die blockfreien Staaten eine Adresse für Bemühungen der beiden Großmächte um soziale Unterstützung abgeben (Luhmann 1983b, Parsons 1969 [1959]). 1 7 Die Enge der Orientierung an der gegnerischen Großmacht und an der Frage, wie man ihr schaden kann, soll aufgebrochen werden durch die Orientierung an den neutralen Ländern und an der Frage, welche Gesichtspunkte sie zur Parteinahme bewegen könnten. Besonderen Wert legt Parsons auf die Feststellung, dass neutrale Länder ihr Interesse an der Stabilität des Gesamtsystems einbringen und damit eine mäßigende Wirkung auf die um ihre Gunst werbenden Gegner ausüben könnten: „(The) uncommitted sector can serve as an important check on tendencies toward extremism on either side, since the effect of such extremism is to alienate the neutral groups, and hence to throw the balance in the direction of the Opposition" (PW: 259f.). 1 8 Das Voraussetzungsvolle dieses Konflikt dämpfenden Mechanismus liegt in der Unabhängigkeit der Position des Dritten. Im nationalen Rahmen gewährleistet die Einbeziehung der Bevölkerung in alle Teilsysteme Mobilität eines erheblichen Anteils der Wähler. Seine Stellung im Wirtschaftssystem mag dem Wähler eine andere Parteipräferenz nahe legen als sein religiöses Bekenntnis, und seine Erfahrung als Opfer von Gewaltverbrechen stimmt ihn nicht notwendigerweise auf dieselbe Partei ein, die ihm in seiner Rolle als Steuerzahler entgegenkommt. In dieser Ordnung ist der Wähler nicht durch feste und irreversible Sozialbeziehungen mit einer bestimmten Partei verbunden, auch wenn er sie faktisch immer erneut wählen mag (vgl. Parsons 1969 [1959]: 215ff.). Ganz ähnlich soll auf internationaler Ebene die effektive Neutralität der block1 7 Die blockfreien Staaten Afrikas und Asiens hatten sich damals bereits seit einigen Jahren zusammengeschlossen, um das weltpolitische Gewicht der so genannten 3. Welt zu erhöhen. 1 8 In diesen Zusammenhang fällt auch der einzige Bezug auf die spezifische Situation der gegenseitigen nuklearen Abschreckung. Ähnlich wie die neutralen Länder soll sie ein erhöhtes Interesse an Sicherheit und Stabilität ins Spiel bringen und so paradoxerweise die Ausgangssituation für eine weitere Institutionalisierung normativer Ordnung verbessern (PW: 2 4 7 ) .
freien Staaten daran zu erkennen sein, dass sie mal mit der einen und mal mit der anderen Seite sympathisieren und deshalb immer neue und wechselnde Koalitionen bilden. Über Koalitionen („combinations") heißt es dann in diesem Sinne: „ . . . that combinations in favor of one policy will differ from those which favor another. For example, it is inevitable that a major unit, such as the United States, will find itself allied with certain nations with respect to certain issues, and that these same allies may become their opponents on other issues" (PW: 265). (2) Die Streitentscheidung durch den Einfluss von Dritten kann ihrerseits als Verfahren ausdifferenziert werden. Als geregelter Konflikt (Luhmann) bietet das Verfahren die Möglichkeit, einen Konflikt zu gewinnen, indem es eine offene Situation mit der Garantie einer verbindlichen Entscheidung am Ende verbindet, die auch der Verlierer zu akzeptieren hat (Luhmann 1983a). Während in den demokratischen Nationalstaaten die Verlierer der Wahl stets zum gewaltlosen Verzicht auf die Regierungsämter bereit sind, werden auf internationaler Ebene viele außenpolitische Aktionen notfalls auch gegen die in den UNO-Verfahren getroffenen Entscheidungen durchgeführt. Darüber hinaus ist hier aufgrund der Vetomöglichkeiten im Sicherheitsrat und mit reichem Anschauungsmaterial gerade aus dem Kalten Krieg schon das Zustandekommen einer Entscheidung prekär. Dennoch wurden die Verfahren der UNO von den Parteien des Ost-WestKonflikts in Anspruch genommen und hält Parsons die UNO für einen wichtigen konfliktdämpfenden Mechanismus in der internationalen Ordnung. Die Attraktivität dieses Verfahrens ist in der Perspektive der allgemeinen Konfliktsoziologie leicht erkennbar: Auch ohne Aussicht auf „endgültigen" Gewinn des Konfliktes lohnt es sich, dem Gegner „ein wenig" zu schaden, indem man ihn auf diesem Forum schlecht dastehen lässt - und damit vor einer Öffentlichkeit, die Parsons als „world opinion" bezeichnet (PW: 262). Auch in diesem Sinne mag das wiederholte „njet" der Sowjetunion im Sicherheitsrat den Kalten Krieg symbolisieren. Was ihre mäßigende Wirkung betrifft, so zwingt zwar wie in anderen Verfahren auch hier die rollenförmige Ordnung zur Anerkennung des Gegners als Gegner; das Recht zum Streit, das die Streitenden einander gerne aberkennen, kann nicht mehr zum Vorwurf gemacht werden. Damit trägt das Verfahren dazu bei, sich aus der Überidentifikation mit dem eigenen Thema zu lösen (vgl. Luhmann 1983). Aufgrund der fehlenden Bindungswirkung der Entscheidungen bleibt diese Mäßigung in der interna-
Bettina Mahlert: Globale Ordnung und globaler Konflikt: Talcott Parsons als Theoretiker des Ost-West-Konfliktes tionalen Ordnung freilich auf die Interaktion des Verfahrens beschränkt. (3) Ein klassisches konfliktsoziologisches Argument findet sich in dem Hinweis auf die mäßigende Wirkung querstehender Loyalitäten - so etwa in Gestalt der Exogamieregel in Stammesgesellschaften (Gluckman 1956). Bezogen auf nationale Ordnungen, ist dieser Mechanismus unter dem Kontrastbegriff der Versäulung diskutiert worden (vgl. Luhmann (1983b: 162f.). Versäulung soll den Zustand einer gesamtgesellschaftlichen Spaltung bezeichnen, der dazu führt, dass dieselben Personengruppen einander in beliebigen Rollenkontexten unter immer denselben Vorzeichen von latenter Gegnerschaft und Misstrauen begegnen. In fortgeschritten modernen, d.h. pluralistischen Gesellschaften dagegen limitiert der hohe Grad an Ausdifferenzierung der Teilsysteme Gegnerschaften auf Rollenzusammenhänge und macht sie mit konfliktfreien Sozialbeziehungen der beteiligten Personen oder Personengruppen in anderen Funktionsbereichen der Gesellschaft kompatibel (vgl. Parsons 1960). Die konfliktdämpfende Funktion dieser pluralistischen Rollenstrukturen ist an einem Beispiel, das Parsons ausführlich analysiert hat, leicht zu erkennen: Das Scheitern der von McCarthy betriebenen Politik des Mobbing gegen den demokratischen Gegner hat nach Parsons auch damit zu tun, dass die unpolitischen Rollen jedem Wähler der Republikaner so reiche und positive Erfahrungen mit den Wählern der Demokraten zugänglich machen, dass diese nicht einfach zu Feinden der Nation erklärt oder sonst wie für moralisch minderwertig erklärt werden konnten (Parsons 1 9 6 7 [1959]): 222L). Aber was ist das internationale Korrelat dieser querstehenden Gruppenloyalitäten? Auch der Makrokonflikt des Kalten Krieges ist nach Parsons in pluralistische Rollenstrukturen eingelassen (OC: 242ff.). Der Konflikt, dessen eine Seite sich durch ein geringes M a ß an Pluralismus auszeichnet, ist seinerseits ein Konflikt innerhalb einer pluralistisch eingebetteten Polarisierung. Parsons versucht dies anhand einer Reihe von Beispielen aus Wirtschaft, Wissenschaft 19 und Religion 2 0 zu belegen. Hier überall beobachtet er ein weit verzweigtes System internationaler Solidaritä19 „Almost all associations built around scientific disciplines have extensive international connections, hold frequent technical meetings and conferences, and, of course, engage in much exchange of information through publications which are mutually available" ( O C : 2 4 3 ) . 2 0 „It is worthwhile to call attention to the extent to which
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ten, Assoziationen, Organisationen. Sie sind jeweils auf einem „field of activity" angesiedelt, „in which there were components of order (Hervorhebung von Parsons, B.M.) which were not a simple function of the political policies of government" (OC: 2 4 2 ; Hervorhebung von mir, B. M.). Aufgrund dieser beobachteten Autonomie im Verhältnis zur Politik kommt Parsons zu dem Schluss, dass nichtpolitische Organisationen oder Akteure auf transnationaler Ebene zwar dem Einfluss von Staaten nicht verschlossen, aber auch nicht einfach für einen politischen Konflikt zu mobilisieren oder zu Gleichschaltungen mit den dort agierenden Parteien bereit seien. Als ein Beispiel dafür nennt er den Anspruch von Wissenschaftlern aus dem Osten, die Überlegenheit des Kommunismus nach wissenschaftlichen Kriterien zu beweisen - und die Bereitschaft, sich unter Umständen nach denselben Kriterien vom Gegenteil überzeugen zu lassen (PW: 267). 2 1 Sogar im Bereich des Rechts sieht Parsons keine Segmentierung entsprechend nationalstaatlicher Grenzen gegeben: Das Common Law sei eine normative Struktur, die Großbritannien, die USA und das britische Commonwealth nicht einfach deswegen miteinander teilen, weil das amerikanische Recht historisch auf das britische Common Law zurückgehe. Entscheidend sei vielmehr, dass aktuelle, d. h. lange Zeit nach der Unabhängigkeit getroffene Entscheidungen britischer Gerichte in den USA als gültige Präzedenzfälle gehandelt würden, wenn Rechtsfragen auf der Grundlage der eigenen Gesetzgebung nicht hinreichend zu klären sind. Angesichts dieses Befunds möchte Parsons das Common Law als einen einzigen Corpus beschrieben wissen, „which is treated as legally valid and subject to legal growth with little reference to national boundaries" (PW: 2 4 3 ) . Parsons interpretiert die Existenz solcher globaler Kommunikationsprozesse in verschiedenen Funktionsbereichen und die Beschränkungen, die von religious adherence and, indeed, formal religious organization transcend national boundaries" ( O C : 2 4 3 ) . 21 Hier noch einmal den Mechanismus im Originalton: „ . . . the tendency toward pluralism of social structures ( . . . ) creates a situation in which governments - and the political parties which compete for power in such governments and which seek support in this competition - tend to represent more o r less integrated combinations of the various interest groups involved, to be dependent on them, and to try to further their interests. The long-run presumption is that the strengthening of private international solidarities should strengthen the interest of governments in protecting o r even extending these solidarities" (OC: 244).
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ihnen ausgehen, nicht, wie viele der heutigen Globalisierungstheorien, als zunehmend krisenhafte Beschneidung staatlicher Autonomie. Ganz im Gegenteil hebt er hervor „the existence, in the nature ofmodern societies, of a nexus of solidary relationships which crosscut the divisions on the basis of „national" interest" (OC: 244, Hervorhebungen von mir, B.M.). Diese nichtpolitischen Strukturen sind von jeher auch im Verhältnis zwischen Nationalstaaten wirksam. Sie fügen sie in eine übergreifende Ordnung ein, die für ihre Kontakte beschränkend wie auch ermöglichend eine Rolle spielt. Weil Parsons kein theoriesystematisches Interesse verfolgt, führt er diese Argumente nicht weiter aus und belässt es auch bei einer eher kursorischen Aufzählung jener querstehenden Loyalitäten. Vor dem Hintergrund seiner (später entwickelten) Evolutionstheorie jedoch ist diese Pluralität internationaler Organisationen, Assoziationen, Loyalitäten oder Ordnungselemente als Folge einer zunehmenden strukturellen Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Funktionen zu interpretieren (vgl. Parsons 1966: 24). So gesehen, steht Parsons in seiner Kommentierung des Ost-West-Konflikts gewissermaßen nur noch einen kleinen Schritt vor der These einer funktionalen Differenzierung nicht nur einzelner Nationalstaaten, sondern des „global systems".
4. Kommentar zum Nationalsozialismus Wir beschließen unsere Übersicht mit einem kurzen Rückblick auf eine zweite Gruppe von weltpolitischen Kommentaren, der zeigen soll, dass Parsons, als er den Ost-West-Konflikt kommentierte, seiner Theorie folgte - und nicht einfach den Evidenzen und Opportunitäten des historischen Augenblicks. Noch ehe es zum Ost-West-Konflikt kam, hatte Parsons bereits einen weiteren weltpolitischen Großkonflikt des 20. Jahrhunderts kommentiert, nämlich den Zweiten Weltkrieg. Auch hier leitet ihn ein starkes Interesse an politisch relevanten Fragestellungen. Wie Uta Gerhardt ausführlich gezeigt hat (vgl. Gerhardt 1991; 1993a), wandte sich Parsons im Zusammenhang mit den Entwicklungen in Deutschland schon sehr früh auch an ein nicht-wissenschaftliches Publikum, und unmittelbar vor Ende des Krieges wurde er dann auch im Rahmen eines Ausbildungsprogramms für die künftige Militärregierung als Deutschland-Experte konsultiert. Parsons konnte hier also, anders als im Ost-WestKonflikt, bereits den absehbaren Sieger adressieren, nämlich die eigene Regierung. Wie wir sehen werden, veranlassen die erheblichen strategischen Dif-
ferenzen zwischen den beiden Situationen ihn keineswegs auch zu unterschiedlichen Argumentationsweisen. 22 Wichtige Komponenten jenes Argumentationsmusters, das später die Kommentare zum Ost-WestKonflikt tragen wird, finden sich nämlich bereits in den Kommentaren zum Nationalsozialismus. Dazu gehört die These, dass es eine gemeinsame Wertordnung gebe, die zwischen den Gegnern vermittele und ihren Konflikt miteinander zur Episode relativiere. Dabei legt Parsons der Sache nach dieselbe Unterscheidung zwischen abstrakten Werten und ihrer Spezifikation zugrunde wie in seiner später verfassten Deutung des Ost-West-Konflikts. Außerdem stellt er auch hier schon das Eigengewicht von Ideologien in Rechnung, die für die darin Befangenen die Einheit der Wertordnung unkenntlich machen, so vor allem auf deutscher Seite. Und schließlich folgt auch hier daraus, dass nicht der unmittelbare Appell an diese Wertordnung, also nicht die Politik einer Re-Education allein, sondern ein kluges Ausnutzen sozialstruktureller Gegebenheiten bzw. Änderungsmöglichkeiten die richtige Strategie sei. Auch hier findet man also, so unsere Interpretation, jenen Übergang von einer normativen zu einer strategischen Perspektive und von einer, um mit Habermas zu sprechen, lebensweltlichen zu einer systemischen Argumentationsweise. Diese drei Parallelen wollen wir im Folgenden kurz aufzeigen. Den besten Zugang zur Situationsdeutung, die Parsons vorschlägt, gewinnt man, indem man sich die Politikempfehlungen ansieht, die er aus ihr ableitet (vgl. CC). Eine Deindustrialisierung Deutschlands, wie der spätere Morgenthau-Plan sie vorgesehen hatte, lehnt er ab. Sie würde eine tief verankerte Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung ausbremsen und damit zu weiterer und massiver Destabilisierung der Situation in Deutschland führen. Auch unter moralischen Gesichtspunkten könne Deutschland schlecht isoliert werden, sondern sei vielmehr in die Gemeinschaft der „Western Society" wiedereinzugliedern. Der Versuch einer Umwandlung Deutschlands in ein Agrarland würde bei den Amerikanern zu einer massiven „guilt reaction" führen. Problematisch sei nicht „modern industrialism as such but its pathology and the incompleteness of its Anhand einer Dokumentation zahlreicher brieflicher Korrespondenzen und anderer Schriftstücke aus den Archiven zeigt Uta Gerhardt ( 1 9 9 1 , 1 9 9 3 a ) ebenfalls, dass Parsons über Jahre hinweg eine eigene und von den Fluktuationen auf dem Markt der Expertenmeinungen unabhängige Auffassung vertreten hat. 22
Bettina Mahlert: Globale Ordnung und globaler Konflikt: Talcott Parsons als Theoretiker des Ost-West-Konfliktes
development" (CC: 314). Eine weiter gehende Modernisierung ist deshalb die Prämisse für die Wahl politischer Maßnahmen gegenüber Nachkriegsdeutschland. Sie soll insbesondere im beruflichökonomischen Sektor vorangetrieben werden: „The essential thing is that there should be a policy of fostering a highly productive, full-employment, expanding economy for Germany" (CC: 314). Dies würde Deutschland im Übrigen die Möglichkeit bieten, ein eigenes „value-attainment" zu zeigen und im internationalen Kontext eine respektierte Position einzunehmen. Nicht zuletzt beruhen diese Empfehlungen auf der Einschätzung, dass die Deutschen nach Kriegsende von ihrer Faszination durch die nationalsozialistische Doktrin wie aus einer Art „hypnotic self-intoxication" (CC: 318) mit einem erheblichen Potenzial an Schuldgefühlen erwachen würden (CC: 320f.). Um für diese Politik zu werben, appelliert Parsons nicht an die unmittelbaren Interessen der Amerikaner. Statt dessen unternimmt er den Versuch, kulturelle Gemeinsamkeiten sowie ihnen korrespondierende Ähnlichkeiten in der Sozialstruktur beider Länder so zu präsentieren, dass der Konflikt als Binnenkonflikt innerhalb einer Weltzivilisation durchsichtig wird, in der am Ende auch das temporäre Ausbrechen Deutschlands, also auch der Zivilisationsbruch selbst, seine Erklärung finde. 2 3 Dazu weist er zunächst auf die europäische Geschichte seit der Renaissance hin, die er als einen schubweise erfolgten Rationalisierungsprozess rekonstruiert (vgl. FM). Die Institutionalisierung von „patterns of rationality" (FM: 209) hat demnach zu einem Spektrum sozialstruktureller Konvergenzen geführt, darunter der wissenschaftlich-technische Komplex, Vertrags- und Marktbeziehungen, Persönlichkeitsrechte sowie ausdifferenzierte Berufsrollen. Es könne kein Zweifel daran bestehen, dass Deutschland in diesen Prozess eingeschlossen und damit Teil einer gewissen Einheit aller der westlichen Zivilisation zugehörigen Länder oder Gesellschaften sei. Ein spezifisch die USA und Deutschland verbindendes Merkmal sieht Parsons in einer besonderen Ausprägung der modernen Wertschätzung technischer und organisatorischer Effizienz und Leistung. Wenige Amerikaner würden den Deutschen ein hohes „rating" (CC: 313) in dieser Hinsicht abstreiten und entsprechend umgekehrt; und nirgendwo anders als in diesen beiden 23
Dass Parsons die gemeinsamen Werte und das Ausscheren der Deutschen nicht, wie oft kritisiert wurde, sozialpsychologisch, sondern mit Bezug auf soziale Systeme interpretiert, betont auch Alexander (1983: 67f.).
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Ländern finde man einen so hohen Grad an „Bürokratisierung" der Wirtschaft, wie Parsons im Anlehnung an Weber sagt, oder einen so ausprägten Industrialismus vom Typus „big business" (DS: 225). Eine letzte wichtige Gemeinsamkeit aller westlichen Länder betrifft die Auswirkungen des „Rationalisierungsprozesses" auf die Lebenssituation der Bevölkerung: Im Laufe des 19. Jahrhunderts haben Urbanisierung, eine Überflutung des Alltagslebens mit den Produkten moderner Technik, ein ständiger Wechsel der Moden, wirtschaftliche Fluktuationen etc. überall zu anomischen Zuständen breiter Bevölkerungsschichten geführt (FM: 204ff.). Für dieses Problem gibt es verschiedene Lösungen, die je von situativen und ideologischen Besonderheiten einer Nation abhängen. Die Besonderheiten der deutschen Situation, die die nationalsozialistische „Lösung" aufgreift, sind hier nicht weiter von Bedeutung; Parsons erwähnt eine Reihe bekannter Aspekte wie beschleunigte nachholende Industrialisierung oder die Niederlage im Ersten Weltkrieg. Wichtig für unseren Zusammenhang ist dagegen der zweite Aspekt der nationalen Ideologie. Hier scheint Parsons zu argumentieren, dass der Nationalsozialismus eine sehr konkrete Situationsdeutung sei und als solche unterschieden werden müsse von der abstrakteren und langlebigeren deutschen Ideologie, einem romantischen Antikapitalismus. Der Nationalsozialismus ist demnach eine Art Zeitdiagnose, vergleichbar etwa mit Galbraights „Affluent Society", die nur eine Weile zu überzeugen vermag - und auch dies nur, indem sie die Ideologie, man könnte sagen: die semantischen „deep roots" einer Nation aufgreift. Anders als die nationalsozialistische Synthese hält Parsons den romantischen Antikapitalismus für eine Größe, mit der auch im Nachkriegsdeutschland noch zu rechnen sei. Diese Einschätzung führt zu Vorbehalten gegenüber einer Politik der Re-Education. Die Befürworter dieser Strategie haben zwar, anders als Morgenthau (und anders auch als die Gegner im Ost-West-Konflikt), die Differenz zwischen Werten und Ideologien verstanden, nicht aber die zweite Differenz zwischen Ideologie und Situationsdeutung. Als einzige Problemgröße sehen sie den Nationalsozialismus, so als würde dessen Zerstörung eine Leerstelle entstehen lassen, die dann mit „demokratischen Werten" oder der liberalen Ideologie der Angelsachsen ausgefüllt werden könnte. Gegen diese Erwartung warnt Parsons vor der fortdauernden Existenz ideologischer Gefahrenzonen, die bei dem Versuch einer Re-Education zu einem „Bumerang-
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effekt" (CC: 309) führen könnten. Eine forcierte Indoktrination mit „demokratischen Werten" könnte Gefühle der Bevormundung bei den Deutschen hervorrufen und auf offenen Widerstand stoßen. Gegenüberstellungen vom Typus „Materialismus" oder „Profitgier" versus „uneigennützige Pflichterfüllung" und „Idealismus" würden aus der Requisitenkiste antikapitalistischer Stereotype hervorgeholt werden, und wiederum wären die Gemeinsamkeiten im Bereich der Werte zwischen den Deutschen und ihren Kriegsgegnern (für die ersteren) invisibilisiert. Um solche Risiken zu vermeiden, setzt Parsons auf Maßnahmen, die sozialstrukturelle Änderungsmöglichkeiten ausnutzen. Eine Ausweitung der Berufstätigkeit dürfte seiner Auffassung nach die alltägliche Lebenssituation der Deutschen so verändern, dass Belastungen, wie sie der Rationalisierungsprozess unausweichlich mit sich bringt, auf lange Sicht unschädlichere Projektionsflächen und Auffangbecken finden. Parsons stützt sich bei dieser Erwartung auf eine komplizierte Kausalkette, die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden kann. Wird diese Kette aktiviert, dann sollen irgendwann - lapidar ausgedrückt - der heroische „fighting man" (Parsons 240) durch den „workaholic" und der Dienst an der historischen Mission des deutschen Volkes durch die Suche nach der großen Liebe ausgetauscht sein. Statt auf den unsicheren Erfolg einer intentionalen Erziehung setzt diese Maßnahme auf Sozialisationseffekte und muss deshalb keinen offenen Widerstand fürchten. Ihre eigentlichen Zwecke müssen nicht mit dargestellt werden, im Gegenteil: Die „ideologische" Beschreibung kann sich auf den Bereich beziehen, in dem sich Amerikaner und Deutsche verstehen, nämlich „admiration for technical and organizational efficiency and achievement" (CC: 313). Sofern man nur das Vokabular von Kapitalismus, Handel und Kommerz vermeidet und statt dessen von Wissenschaft und Technik spricht, so Parsons in seiner Eigenschaft als Planer einer Situationsdeutung 24 , dürfte man bei den Deutschen auf offene Ohren stoßen.
Im Anschluss an Luhmann ( 1 9 7 2 ) , der von „Ideologieplanern" spricht. M a n kann eine gewisse ironische Wendung darin sehen, dass Habermas ( 1 9 7 6 ) , der die Vorstellung einer Planung von Ideologien kritisiert hatte, ausgerechnet dieselbe Semantik, die Parsons hier vorschlägt, also „Wissenschaft und Technik", einige Jahre später „als Ideologie" entlarven sollte. 24
5. Schluss Abschließend wollen wir die Ergebnisse unserer Rekonstruktion im Kontext der heutigen Diskussion um Weltgesellschaft und Globalisierung resümieren und dabei dreierlei hervorheben: erstens die bisherige Rezeption von Parsons, zweitens Kontinuitäten zwischen seinen Überlegungen und der heutigen Diskussion und drittens einen eigenen Beitrag von Parsons, den wir in seiner Konfliktsoziologie sehen und der in dieser Diskussion keine Nachfolge gefunden hat. Parsons wurde bisher vorwiegend als ein Theoretiker wahrgenommen, dessen Denken auf den Rahmen einer nationalstaatlichen Gesellschaft zugeschnitten ist und der sich internationale oder globale Ordnung allenfalls als Interaktion zwischen nationalen Gesellschaften vorstellen kann. Das gilt zunächst für die so genannte Globalisierungsdiskussion, die unter dem starken Eindruck der Massenmedien im ausgehenden 20. Jahrhundert gleichsam aus dem Boden schoss. In dieser Diskussion ging man zunächst überwiegend davon aus, dass die Soziologie bisher wesentlich nationalstaatlich geprägt war, dass aufgrund zunehmender globaler Verflechtung v.a. im Bereich der Wirtschaft der Staat jüngst einen Funktionsverlust als „Container" (Ulrich Beck) der Gesellschaft erleiden musste (oder eben dieser Verlust nicht zu verbuchen war), und dass deshalb auch das soziologische Vokabular revolutioniert werden müsse. Eine soziologische Begrifflichkeit für globale Sozialität, so die verbreitete Auffassung, war erst von neuem und ohne Anschlussmöglichkeiten in der soziologischen „Tradition" - inklusive Parsons - zu erarbeiten (vgl. Beck 1997, Held 2002). Ein zweiter wichtiger Zugang zum Thema, die Systemtheorie Luhmanns, folgt dieser Zeitdiagnose nicht; sie datiert die Ausdifferenzierung von Weltgesellschaft bekanntlich sehr viel früher. Damit wird die gesamte Soziologie ein wichtiger Gegenstand ihrer Wissenssoziologie der Weltgesellschaft. In einem anderen - schwächeren - Sinne hat allerdings auch Luhmann immer eine Diskontinuität hervorgehoben. Richtungweisend für seinen Zugang zum Thema ist nämlich die Überlegung, dass unter modernen Bedingungen eine Pluralität von Gesellschaften nicht konsequent denkbar sei (Luhmann 1975: 60, Stichweh 2000: 10f.). Folglich könne Gesellschaft in der Moderne nur Weltgesellschaft sein. Bei der Suche nach Möglichkeiten des Anschlusses an die soziologische Theorie und so auch in Bezug auf Parsons hat Luhmann sich vorwiegend für diese Frage nach der Referenz des Ge-
Bettina Mahlert: Globale Ordnung und globaler Konflikt: Talcott Parsons als Theoretiker des Ost-West-Konfliktes sellschaftsbegriffs interessiert. In diesem Punkt findet man in der Tat weder bei Parsons noch sonst in der soziologischen Theorie ein Vorbild: Aufgrund seiner Bindung an kollektive Handlungsfähigkeit und die diese ermöglichende „societal Community" der Nation ist Parsons' Gesellschaftsbegriff unstrittig an den Nationalstaat gebunden und kaum darüber hinaus abstrahierbar. 25 Wenn man allerdings stärker von Parsons her fragt, welchen Zugang zum Thema denn seine Theorie des allgemeinen Handlungssystems nahe legt, scheint wichtig zu sein, dass sie einen analytischen Systembegriff voraussetzt. Parsons „abstrahiert" in der Wahl seiner Begriffe an konkreten Systemen „vorbei", und deswegen spielt der Gesellschaftsbegriff bei ihm eine untergeordnete Rolle. Es bereitet Parsons dann keine Probleme, Gesellschaften prinzipiell mit einer nationalen Referenz zu versehen und gelegentlich in einem nicht-technischen Sinne von einer „society of the Western World" oder einer „Great Society" aller der westlichen Zivilisation zugehörigen Länder zu sprechen. Unter diesen Bedingungen ist es nicht sinnvoll, das Globalisierungsdenken von Parsons am Gesellschaftsbegriff festzumachen. Wir sind daher von der Annahme ausgegangen, dass wie im Falle aller sozialen Systeme so auch hier der Begriff einer (kulturellen) Wertordnung zuständig sein müsse, der ja die Minimalvoraussetzungen einer sozialen Ordnung markiert. Wie wir gesehen haben, hat Parsons in einigen seiner wenigen Beiträge zum Thema diesen Zugang auch gewählt, und er ist, so kann jetzt hinzugefügt werden, damit auf zwei „Träger" des Globalisierungsprozesses gestoßen, die auch von heutigen Weltgesellschaftstheorien hervorgehoben werden. Dabei handelt es sich zum einen um die Vorstellung einer globalen Referenz oder Reichweite der modernen Kultur, die heute in ähnlicher Form von John Meyer vertreten wird. Wie Parsons so geht auch er davon aus, dass die ursprünglich europäische Kultur der Moderne nunmehr als Weltkultur die Einheit einer globalen Sozialordnung bilde, und dass eine weltweit zu beobachtende Diffusion von speziEin breiteres Interesse findet man bei Rudolf Stichweh, der sich besonders um die weitere Ausarbeitung einer Systemtheorie der Weltgesellschaft bemüht hat. Er legt den von Luhmann vorgegebenen Begriff der Weltgesellschaft zugrunde und versucht, ihn mit Vorstellungen von Weltkultur zu kombinieren. Dabei hat er auch verschiedentlich Parsons berücksichtigt, so etwa für den Hinweis auf M o dernität („instrumental acitivism") als einer Verpflichtung, der sich Staaten heute weltweit ausgesetzt sähen (siehe z . B . Stichweh 2 0 0 0 , 2 0 0 4 ) . 25
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fisch modernen Strukturen auf eben diese Weltkultur zurückzuführen sei. Zu einem zweiten heute wichtigen Argument führte die Suche nach querstehenden Loyalitäten, die die weltpolitische Polarisierung zwischen Ost und West unterlaufen. In diesem Zusammenhang wurde deutlich, dass Parsons' Denkmöglichkeiten weder auf die internationalen Beziehungen der Politik noch auf die Verflechtungen der Wirtschaft eingeschränkt bleiben, wenn es darum geht, Sozialstrukturen aufzuzeigen, die die Grenzen von Nationalstaaten überschreiten. Auch in den Ordnungen der anderen Teilsysteme, der Wissenschaft und der Religion sowie des Rechts, erkennt Parsons genuin transnationale Bezüge. Diese bei Parsons in Ansätzen ausgeführte Vorstellung globaler Funktionssysteme wird heute von der Systemtheorie beerbt und auf die These einer funktionalen Primärdifferenzierung der Weltgesellschaft zugespitzt. Keinen Nachfolger gefunden hat hingegen Parsons' Idee, die Autonomie der Teilsysteme zugleich auch als Konflikt dämpfenden Mechanismus auf globaler Ebene zu interpretieren. Obwohl die Ubiquität von Konflikten einen beliebten Topos des Nachdenkens über Weltgesellschaft und Globalisierung bildet, haben Parsons' Kommentare zum Ost-West-Konflikt mit ihrer Bezugnahme auf eine allgemeine Konfliktsoziologie daher auch heute noch einen Neuigkeitswert. Literatur Siglen C C = Parsons, T., 1 9 9 3 f [ 1 9 4 5 ] : The Problem of Controlled Institutional Change, S. 2 9 1 - 3 2 4 in: U. Gerhardt (Hrsg.), Talcott Parsons on National Socialism. N e w York: de Gruyter. C W = Parsons, T., 1 9 6 4 : Communism and the West: The Sociology of Conflict. S. 3 9 0 - 3 9 9 in: A. Etzioni/E. Etzioni (Hrsg.), Social Change. Sources, Patterns, and Consequences. New York: Basic Books. DS = Parsons, T., 1 9 9 3 e ( 1 9 4 2 ) : Democracy and Social Structure in Pre-Nazi Germany. S. 2 2 5 - 2 4 2 in: U. Gerhardt (Hrsg.), Talcott Parsons on National Socialism. New York: de Gruyter. F M = Parsons, T., 1 9 9 3 c [ 1 9 4 2 ] : Some Sociological Aspects of the Fascist Movement. S. 2 0 3 - 2 1 8 in: U. Gerhardt (Hrsg.), Talcott Parsons on National Socialism. New York: de Gruyter. N D = Parsons, T., 1 9 9 3 a ( 1 9 3 8 ) : Nazis Destroy Learning, Challenge Religion. S. 8 1 - 8 3 in: U. Gerhardt (Hrsg.), Talcott Parsons on National Socialism. New York: de Gruyter. NS = Parsons, T., 1 9 9 3 d ( 1 9 4 2 ) : National Socialism and the German People, S. 2 1 9 - 2 2 4 in: U. Gerhardt
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Autorenvorstellung: Bettina Mahlert, geb. 1974 in Quierschied. Studium der Politischen Wissenschaft, Soziologie und Ethnologie in M ü n c h e n . Seit 2004 Promotionsstipendiatin in Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Theorien der Weltgesellschaft, Theorien der Schichtung und Klassenbildung.
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 174-185
Zum Gesellschaftsbegriff der Systemtheorie: Parsons und Luhmann und die Hypothese der Weltgesellschaft On the Concept of Society in Systems Theory: Talcott Parsons, Niklas Luhmann and the Hypothesis of World Society Rudolf Stichweh
Universität Luzern, Soziologisches Seminar, Kasernenplatz 3, CH-6000 Luzern 7 E-mail: [email protected] Zusammenfassung: Der Aufsatz untersucht den Gesellschaftsbegriff bei Talcott Parsons und Niklas Luhmann und die Verbindungslinien, die beide jeweils zum Begriff der Weltgesellschaft ziehen. Bei Parsons gibt es eine starke Prädisposition, Gesellschaft in Termini von Territorialität, der territorialen Kontrolle physischer Gewalt und von Nationalität zu sehen. Diese Tendenz wird konterkariert durch die aristotelischen Traditionsbezüge, die interdisziplinären Modelle (Speziesbegriff bei Mayr, die These des einheitlichen Ursprungs oder der psychischen Einheit der Menschheit), durch die sich Parsons anregen läßt, und durch sich aufdrängende empirische Sachverhalte internationaler Systembildung. Luhmann setzt sich gleichfalls mit einem aristotelisch inspirierten Gesellschaftsbegriff auseinander, interpretiert diesen aber konsistent im Sinne von Gesellschaft als des letzthin umfassenden Sozialsystems. Für Luhmann kann dies in der Gegenwart nur noch das System der Weltgesellschaft sein. Der Aufsatz arbeitet heraus, daß drei Referenzen für beide Theoretiker konstitutiv sind: Der Kollektivsingular „Gesellschaft" als Hinweis auf die Emergenz der spezifisch menschlichen Vergesellschaftungsform; die koexistierende Pluralität vieler Gesellschaften als soziologisches Charakteristikum des größten Teils der Menschheitsgeschichte und die Frage nach der einzigartigen Situation der Gegenwart, in der das Wort „Gesellschaft" nur noch im Singular „Weltgesellschaft" sinnvoll gebraucht werden kann. Summary: This essay analyzes the concept of society in Talcott Parsons and in Niklas Luhmann - and it looks for the connecting lines from their respective concepts of society to ideas of world society. In Talcott Parsons there is a strong disposition towards understanding society in terms of territoriality, the territorial control of physical force, and in terms of nationality. These tendencies are partially thwarted by the Aristotelian traditions Parsons looks back to, by the interdisciplinary models he imports into sociology (the concept of species from Mayr, the idea of the single origin or of the psychological unity of mankind), and by some empirical circumstances of international system building which impose themselves. Luhmann, too, considers the Aristotelian concept of society, but he interprets society consistently as the most extensive social system. For Luhmann in present-day society this can only be realized as the system of world society. This essay tries to demonstrate that three references are fundamental for both theoreticians: The collective singular "society" as pointing to the emergence of forms of sociality specific to mankind; the coexistent plurality of many societies as characteristic of the major part of the history of mankind; and finally the question about the extraordinary situation of our times, in which the word "society" can only be made use of in a meaningful way by speaking about a single system of world society.
1. Einleitung D i e f o l g e n d e n Überlegungen versuchen den Gesellschaftsbegriff der Systemtheorie zu rekonstruieren. Sie tun dies aus einem spezifischen B l i c k w i n k e l und mit einem spezifischen Erkenntnisinteresse. Es geht um G e s e l l s c h a f t als Weltgesellschaft und u m die F r a g e , o b der G e s e l l s c h a f t s b e g r i f f bei repräsentativen A u t o r e n der Systemtheorie so g e f a ß t w i r d , daß sich aus ihm die H y p o t h e s e der M ö g l i c h k e i t und der R e a l i t ä t einer Weltgesellschaft mit einer g e w i s sen Z w a n g s l ä u f i g k e i t ergibt. D e r A u f s a t z untersucht Talcott Parsons und N i k l a s L u h m a n n , die in der interessierenden Fragehinsicht diametral entgegensetzt zu sein scheinen. W a r u m ist diese Fragestellung ü b e r h a u p t interessant? Sie dient erstens der K l ä r u n g eines G r u n d -
b e g r i f f s der Soziologie, des G e s e l l s c h a f t s b e g r i f f s , der m a n c h e n B e o b a c h t e r n heute entbehrlich scheinen m a g , weil so w e n i g explizite B e g r i f f s a r b e i t auf ihn v e r w e n d e t w o r d e n ist. D i e Fragestellung ist zweitens ein M o m e n t der historischen Vergewisserung des Faches Soziologie und zugleich der Gesellschaft selbst, einer Vergewisserung, die v o r A u g e n führen kann, w i e schnell eine Hypothese, die der Weltgesellschaft, die v o r wenigen Jahrzehnten fast unbekannt war, unsere spontane Vorstellung v o n G e sellschaft zu bestimmen begonnen hat. Drittens, und dies w i r d der A u f s a t z zu verdeutlichen versuchen, erlaubt ein Interesse a m Gesellschaftsbegriff einen Blick auf die tiefgreifenden Diskontinuitäten der Menschheitsgeschichte: die Herausbildung der vielen Gesellschaften als eine Folge der Besiedlung des ganzen Erdballs durch die M e n s c h h e i t und schließ-
Rudolf Stich weh: Zum Gesellschaftsbegriff der Systemtheorie lieh die „Rückkehr" zu einem einheitlichen - wenn auch in sich ungeheuer diversifizierten - System der Weltgesellschaft in der Gegenwart.
2. Gesellschaftsbegriff bei Parsons: Analytische Theorie und bibliographische Befunde Wenn wir unsere Analyse mit Talcott Parsons beginnen, spricht zunächst vieles für die Vermutung, daß Parsons zu jener Generation von Soziologen gehörte, für die die Fixierung der Beobachtung auf den Nationalstaat die Wahrnehmung globaler sozialer Zusammenhänge weitgehend zurückgedrängt hatte, so daß es zu einer selbstverständlichen Identifizierung von Gesellschaft und Nationalstaat kam. Insofern ist zu fragen, unter welchen Umständen bei Talcott Parsons überhaupt weltweite soziale Zusammenhänge in den Blick kamen, und zweitens, ob dort, wo dies geschah, inhärente Spannungen in Parsons' Gesellschaftsbegriff erzeugt und sichtbar wurden. Bevor wir diesen Fragen nachgehen, ist eine methodologische Vorbemerkung zu machen. Wichtig ist die Unterscheidung von analytischer und konkreter Theorie, die Parsons mit einiger Konsequenz durchhält. Diese hat zur Folge, daß Parsons in der Regel, wenn er von Gesellschaft spricht, ein analytisches System meint. Dieses ist intern differenziert (entlang den vertrauten AGIL-Linien), vor allem aber ist es in eine nichtsoziale Umwelt eingebettet, die aus psychischen Systemen, Kultur, dem Verhaltensorganismus und schließlich den physikochemischen und den telischen Bedingungen von Gesellschaft besteht. 1 Auf dieser Ebene kann von „der Gesellschaft" („society") gesprochen werden, ohne daß damit entschieden wäre, ob es sich um eine Weltgesellschaft oder um eines aus einer Pluralität von nationalen Gesellschaftssystemen handelt. Diese Analyseform invisibilisiert gewissermaßen die Fragestellung, die wir hier verfolgen, und sie erspart es Parsons, sich die Alternative (Weltgesellschaft vs. Nationalgesellschaft) in aller Schärfe vergegenwärtigen zu müssen. 1 Ähnlich auch Robertson ( 1 9 7 6 : 7 1 3 ) " W h e n Parsons speaks of the society as the 'type-case' of his theoretical system, he has not tended to see it as a national entity operating in an environment of other societies. Indeed, in the case of action theory, the environment has been dealt with basically in analytic as opposed to phenomenal terms. That is, the analytic systems, cultural, social-psychological, and biological, comprising a total action system have been taken as the relevant span of systems needing sociological attention."
175 Was versteht Parsons unter Gesellschaft? Wie immer in einem sich über ein halbes Jahrhundert erstreckenden Lebenswerk gibt es mehrere Fassungen dieses Begriffs, deren erste wir in der „International Encyclopedia of the Social Sciences" von 1 9 3 4 in einem Artikel mit dem Titel „Society" finden (Parsons 1934). Dort heißt es, Gesellschaft „ . . . may be defined as the total complex of human relationships in so far as they grow out of action in terms o f the meansend relationship, intrinsic or symbolic" (1934: 231). Interessant ist zunächst die Formel „total complex of human relationships", die an globale Zusammenhänge denken läßt, die alles Handeln auf der Welt in ein System einschließen. In einer Bemerkung drei Jahre später, in der „Structure of Social A c t i o n " , erläutert Parsons, was er unter einem „complex of relationships" versteht. Ein solcher „complex" bestehe nicht aus parallelen Fäden, vielmehr bilde er ein Gewebe ( „ w e b " ) , vielleicht sogar ein Gewirr („tangle") (Parsons 1 9 3 7 : 2 2 9 ) . Die zweite Hälfte des zitierten Satzes von 1 9 3 4 fügt eine Einschränkung hinsichtlich der Ausdehnung von Gesellschaft hinzu: es gehe um die Beziehungen unter Menschen insofern, als sie aus Handeln in Termini einer Ziel-Mittel-Beziehung heraus erwachsen. Darin liegt der Verweis auf ein gemeinsames normatives Bezugssystem, der den später dominierenden Gesellschaftsbegriff Parsons' vorbereitet. Bevor wir diese späteren Formulierungen diskutieren, sei im Vorgriff der bibliographische Befund in Parsons' Werk vor Augen geführt. Der Akzent der ausdrücklichen Bearbeitungen bei Parsons liegt auf den Begriffen „social system" und „societal community". Im Vergleich dazu tritt die explizite Prüfung des Gesellschaftsbegriffs zurück und erfolgt nur an wenigen Verzweigungspunkten der Denkentwicklung. Ein erster dieser Verzweigungspunkte ist am Anfang der sechziger Jahre, in denen Talcott Parsons vier für seine Verhältnisse kurze Aufsätze publiziert hat, die alle auf Fragen der Soziologie politischer Strukturbildungen reagieren und die ihn veranlassen, seinen Gesellschaftsbegriff zu klären. Dies sind „The Principal Structures of Community" ( 1 9 5 9 ) , verfaßt für einen von Carl J . Friedrich herausgegebenen Sammelband über „Community", sowie jene drei Aufsätze, die Parsons über Fragen internationaler Beziehungen publiziert hat - „Order and Community in the International Social System" ( 1 9 6 1 ) , „Polarization of the World and International Order" ( 1 9 6 2 ) 2 und schließlich „Communism and the West. 2 Diese beiden Essays sind jetzt auch in Turner ( 1 9 9 9 ) zugänglich.
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The Sociology of the Conflict" (1964) - , die alle die Frage untersuchen, ob internationale Beziehungen als System zu verstehen sind und die diese Frage in den zeitgenössischen Kontext der Bipolarität und des Konflikts in den Ost-West-Beziehungen stellen. Wenn man die Zurückhaltung registriert, mit der Parsons die Zuspitzungen des Ost-West-Konflikts kommentiert, mit der er Konvergenzen herausarbeitet und den Niedergang des Kommunismus voraussieht, sind diese Analysen nicht anders als weitsichtig zu bezeichnen. Eine zweite unterscheidbare Phase wird durch Parsons' Arbeiten zur Evolution von Gesellschaften markiert, d . h . durch die beiden kleinen Bücher „Societies" (1966) und „The System of M o d e r n Societies" (1971) und den einen umfangreichen analytischen Essay - „Comparative Studies and Evolutionary Change" (1971) - , der in diese Werkphase gehört. Schließlich ist drittens eine Einzelarbeit zu erwähnen. In einem Essay, den Parsons für eine 1975 erschienene Festschrift für Robert K. Merton geschrieben hat - „The Present Position of Structural-Functional Theory" (1975) weist er im Zusammenhang einer Diskussion der potentiellen wissenschaftlichen Fruchtbarkeit von Analogien auf Ernst Mayrs Speziesbegriff und auf die Verwandtschaft dieses Konzepts zum Gesellschaftsbegriff der Soziologie hin. Zwei Jahre später, in einer Einleitung zu der Aufsatzsammlung „Social Systems and the Evolution of Action Theory", erscheint ihm diese Analogie bereits als eine künftige „major contribution to the theoretical generalization of our knowledge" (1977a: 147). Das ist deutlich als Ankündigung künftiger Begriffsarbeit gemeint, und es ist eine vollständigere Publikation von Parsons' nachgelassenen Manuskripten abzuwarten, bevor die Frage beantwortet werden kann, ob Parsons zu einer Ausarbeitung dieser von ihm offensichtlich als wichtig und als neu empfundenen Idee noch gekommen ist.
3. Konstituentien von Gesellschaft: Selbstgenügsamkeit, normative Kultur, territoriale Kontrolle Im nächsten Schritt ist es sinnvoll, die einigermaßen konsolidierte Fassung des Gesellschaftsbegriffs von Parsons vorzustellen, die in den Texten der sechziger und siebziger Jahre beobachtet werden kann. Die vermutlich vollständigste Formulierung findet sich in „ O r d e r and Community in the International Social System". Gesellschaft ist demnach das:
„ highest-order social system, one which fulfills the prerequisites of a level of order that permits a relatively complete and stable development, within its boundaries, of all the important types of structure and process with which the analyst of social systems is concerned. Perhaps the Aristotelian concept of self-sufficiency has served as the fundamental model" (Parsons 1961: 121f.).
Im Vordergrund steht hier der aristotelische Begriff der Selbstgenügsamkeit. „Selbstgenügsamkeit" aber bezieht sich, anders als das Wort vermuten lassen mag, in dieser Formulierung nicht auf die Ebene der Ressourcen, auf deren Verfügbarkeit (als Inputs) das System angewiesen sein mag. Vielmehr geht es darum, so sagt die Definition ausdrücklich, daß alle für ein Sozialsystem relevanten Strukturen und Prozesse als Eigenentwicklungen („within its boundaries") des Systems produziert werden. Viele wird dies an die Definition von Autopoiesis erinnern, die gleichfalls postuliert, daß sich alle für die Strukturbildung im System wichtigen Komponenten der Eigenproduktion des Systems verdanken (insb. Maturana/Varela 1980). Der hauptsächliche Unterschied besteht dann darin, daß nicht die „Autopoiesis" irgendeines jener unzählig vielen Sozialsysteme, die die Definitionsbedingungen von Autopoiesis erfüllen, behauptet wird. Vielmehr geht es eben um jenes Sozialsystem „höchster O r d n u n g " , das alles, was überhaupt einen Analytiker von Sozialsystemen interessieren kann, in sich einschließt. Es existiert noch ein zweites und ergänzendes Verständnis von Selbstgenügsamkeit, das Talcott Parsons vorschlägt. Dieses findet sich in der Definition des Gesellschaftsbegriffs am Anfang von „Societies": „A society is a type of social system, in any universe of social systems, which attains the highest level of self-sufficiency as a system in relation to its environments" (Parsons 1966: 9).
An dieser Stelle ist nicht von Niveaus von Ordnungsbildung, vielmehr von verschiedenen Niveaus von Selbstgenügsamkeit die Rede; und der Begriff der Selbstgenügsamkeit wird - im Unterschied zu dem gerade erläuterten „internalistischen" Verständnis - auf die Kontrolle von System/Umwelt-Relationen bezogen. Fünf durch eine Gesellschaft zu kontrollierende System/Umwelt-Beziehungen werden von Parsons unterschieden: „the criterion of self-sufficiency can be divided into five sub-criteria, each relating to one of the five environments of social systems - Ultimate Reality, Cultural Systems, Personality Systems, Behavioral Organisms, the Physical-Organic Environment. The self-sufficiency of a society is a function of the balanced combination of its controls over its relations with these five environments and of its own state of internal integration" (Parsons 1966: 9).
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Am Ende dieser Definition wird das zunächst vernachlässigte Moment der internen Integration (= Autopoiesis von Struktur und Prozeß) wiedereingeführt. Bis zu diesem Punkt unserer Explikation ist zu notieren, daß die genannten internen und externen Kriterien für Selbstgenügsamkeit noch kein Präjudiz hinsichtlich einer nationalen oder globalen Reichweite von „Selbstgenügsamkeit" etablieren. Parsons führt aber weitere Definitionsbestandteile ein: „The core of a society as a system, is the patterned normative order through which the life of a population is collectively organized" ( 1 9 6 6 : 10).
Normativität und Population sind die beiden hier hinzutretenden Begriffe. Für beide ist die Möglichkeit ihrer semantischen und/oder strukturellen Inklusivität, die eine globale Inklusion verkörpern könnte, nicht prinzipiell auszuschließen; eine Möglichkeit, die Parsons in „The System of Modern Societies" ausdrücklich erwägt: „At one extreme, the principal content of the normative order may be considered more or less universal to all men. However, this raises acute problems of how far such highly universalistic norms can be effectively institutionalized in the actual operations of so extensive a community" (Parsons 1 9 7 1 : 20).
Der globalen Universalität der Normen und der globalen Inklusivität einer als Gemeinschaft interpretierten Weltpopulation steht vor allem der Zweifel entgegen, ob es auf dieser Ebene zu einer effektiven Institutionalisierung kommen könnte. Und die Effektivität der Institutionalisierung ist an der Beobachtbarkeit in laufend aktuell vollzogenen Operationen zu prüfen, ein Kriterium, dem man kaum widersprechen wird. Wie ist diese Institutionalisierung zu prüfen? Für Parsons ist die Frage entscheidend, ob es einen Mechanismus der notfalls auf Zwang gestützten Durchsetzung der normativen Obligationen gibt. Es geht also um die Kontrolle physischer Gewalt, auch wenn diese in der Regel nur als die Potentialität einer angedrohten Sanktion im Hintergrund stehen wird. Die Drohung mit physischer Gewalt aber setzt voraus, daß man den Adressaten dieser Drohung auch an dem Ort, an dem er sich aufhält, erreichen kann: „force must be applied to the object in the place where it is located" (Parsons 1961: 240; Hervorhebung bei Parsons). Und deshalb gewinnt jetzt das Moment der territorialen Verortung der Gemeinschaft (Community), in der die entsprechenden normativen Obligationen institutionalisiert sind, entscheidende Bedeutung. Territorialität schließt die normative Ordnung und die Gemeinschaft in einem räumlichen Sinn ab. Dies ist eines der ältesten Motive in
Talcott Parsons' Überlegungen zum Gesellschaftsbegriff. So wird beispielsweise in „Toward A General Theory of Action", wo Parsons mit Blick auf Gesellschaft noch von einem „self-subsistent system" - statt von „self-sufficiency" - spricht, als erstes der Kriterien für ein solches System angeführt: „Organization around the foci of territorial location and kinship" (1951: 26). Territoriale Verortung ist also das vermutlich konstanteste Denkmotiv, das bei Parsons auf eine Regionalisierung des Gesellschaftsbegriffs hindrängt. Wenn man sich jetzt im nächsten Schritt jene Analogie zu Ernst Mayrs Speziesbegriff ansieht, die Parsons für einen signifikanten Fortschritt theoretischer Generalisierung gehalten zu haben scheint, fällt inhaltlich auf, daß sich auf soziologischer Ebene wenig ändert (siehe Parsons 1975: 110f., mit Blick auf Ernst Mayr 1970). Mayr unterscheidet an einer Spezies drei Aspekte von Gemeinsamkeit oder Gemeinschaft. Die Spezies ist reproduktiv geschlossen, sie ist zweitens territorial definiert (durch eine Nische oder einen Habitat), und sie besitzt drittens einen gemeinsamen genetischen Pool. Diesen drei Aspekten ordnet Parsons mit Blick auf Gesellschaft das Moment der Population (ein Begriff, der in seinen soziologischen Implikationen nicht weiter problematisiert wird), des territorialen Bezugs von Gesellschaft, der mit „politischer Organisation" nahezu bedeutungsidentisch zu sein scheint, und schließlich der Gemeinsamkeit von Kultur zu. Die Theorie läßt sich in diesem Beispiel durch die biologische Analogie ihre Grundentscheidungen bestätigen; sie hat sich offensichtlich kein neues Moment hinzugefügt, was man wissenschaftstheoretisch aber als Bedingung der Instruktivität einer Analogie fordern könnte. Auch die noch kürzere Wiederholung des Arguments im Jahr 1977 (Parsons 1977a: 147) bietet keine weiteren Aufschlüsse. In einem Zwischenresume ist zu sagen, daß einerseits die verschiedenen begrifflichen Momente des Gesellschaftsbegriffs bei Talcott Parsons diesen nicht so eindeutig auf das Paradigma der „Nationalgesellschaft" festlegen, wie dies vielfach vermutet worden ist. Vor allem die Theorie der Gesellschaft als System höchster Ordnung, das als „selbstgenügsames" System die Strukturbildung nach innen und die Regulation nach außen steuert und das sich darin als ein idealer Fall generalisierter Anpassungsfähigkeit erweist 3 , würde einen Beobachter unter Gegenwartsbedingungen normalerweise auf die Diagnose eines globalen GesellschaftssysDieser letztere Punkt findet sich in dem Enzyklopädieartikel „Social Systems" (Parsons 1 9 6 8 : 182). 3
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tems hinführen. Dass Parsons in dieser Hinsicht dann doch immer wieder anders optiert hat, ist einer immer noch politischen Überformung des Gesellschaftsbegriffs zuzuschreiben, die den Autor von dem Postulat einer normativen Kultur auf deren Durchsetzung durch einen Gewaltapparat und die territorial-politischen Prämissen der Stabilisierung dieses Gewaltapparats schließen läßt. 4. Weitgesellschaft als internationales System bei Parsons: Grenzen der Theorie und die Frage der Einheit der Menschheit Am Ende des ersten - auf Talcott Parsons bezogenen - Teils unseres Aufsatzes ist zu fragen, wie Parsons in jenen Überlegungen operiert, in denen er tatsächlich globale - oder, wie er fast immer sagt, „internationale" Zusammenhänge - analysiert. In allen Äußerungen ist deutlich, daß Parsons von einer internationalen Ordnung ausgeht, die er zwar nicht als Gesellschaft versteht, der er aber den Charakter eines eigenständigen Sozialsystems zugesteht. 4 Es handelt sich um eine Mehrzahl von institutionellen Arrangements, die in diesen Überlegungen vorkommen. In dem Essay „Polarization of the World and International Order" von 1962 ist von einer entstehenden weltpolitischen Gemeinschaft die Rede, der fast alle Menschen - mit einer sich schnell verringernden Zahl von Ausnahmen - zuzurechnen seien (1962: 467). In dem fast gleichzeitig erschienenen companion piece „Order and Community in the International Social System" führt Parsons die Figur der Weltöffentlichkeit ein und notiert, daß die UNO-Generalversammlung bewußt als ein Forum der Beeinflussung der Weltöffentlichkeit verwendet werde (1961: 125). In demselben Text findet sich ein fast noch interessanteres - weil für 4
Siehe Parsons 1971: 10, er wolle die internationalen Beziehungen betrachten „as themselves constituting a social system which can be analyzed with the same general concepts as other types of social systems." Nur ein einziges Mal findet sich bei Parsons das Wort „World Society", in dem „Theories of Society" einleitenden Aufsatz „An Outline of the Social System" (1961a), w o mit Blick auf das „highest order concrete system of interaction" von der Möglichkeit einer „emergent world society" die Rede ist. Diese verknüpft er mit der Frage eines „world government", das nicht zwangsläufig auf „world society" hinführen würde, aber doch einen Grad normativer Integration implizieren würde, der die bisher unterstellte Getrenntheit nationaler Gesellschaften als problematisch erscheinen ließe (1961a: 43, und Fn. 14:44).
Parsons im Anschluß an Dürkheim charakteristisches - Argument. Das internationale System müsse eine ihm eigene normative Ordnung aufweisen, weil anders die Möglichkeit von Vertragsschlüssen unter Staaten, die ein konstitutives Moment dieser internationalen Ordnung sind, nicht erklärt werden könne (1961: 125). Schließlich spricht Parsons von Ökumene als einem anderen Aspekt der Herausbildung einer weltweiten Community: „what today is usually called ,ecumenicism': the positive inclusion of plural religious groups in a single .moral community' (in Durkheim's sense) which comprises the societal communities of most of the societies which are members of the modern system. This inclusion has led widely to a process of differentiation whereby ,church' religion has become differentiated from what Robert Bellah, in his very illuminating conception, calls ,civil' religion. The latter can, of course, be shared by members of plural denominational groups" (Parsons 1971a: 295).
Was an allen diesen Beispielen für institutionelle Momente von Globalität auffällt, ist, daß es sich im Kern um politische Begriffe handelt. Das gilt gerade auch für das letzte Beispiel. Parsons diskutiert Ökumene nicht als Kommunikationszusammenhang, in dem sich die verschiedenen Weltreligionen begegnen, sondern unter dem gleichsam politischen Gesichtspunkt der Zivilreligion, der generalisierte Wertorientierungen meint, die viel allgemeiner sind als die Glaubensüberzeugungen, die den einzelnen Religionen zugrunde liegen und die gleichsam ein politisches Band über die Verschiedenheit der Religionen hinweg stiften. Darin wird eine sehr grundsätzliche Limitation von Parsons' Blick auf Weltgesellschaft sichtbar. Er bleibt immer auf die Perspektive des internationalen Systems und der Community, die diesem zugehört, fixiert. Nie hat er (andere) Funktionssysteme jenseits der Politik als globale Funktionszusammenhänge analysiert. Das wird besonders gut in The American University (Parsons/Platt 1974) sichtbar, bei dem es sich um die letzte große theoretische Synthese handelt, die Parsons abgeschlossen hat, also um weit mehr als ein Buch über die Universität. Auch hier aber fehlt jeder analytische Blick auf weltweite Beobachtungsund Kommunikationszusammenhänge von Hochschulerziehung und Wissenschaft, und gerade hier wird die amerikanische Universität nicht in ihrer Zentrumsfunktion für ein weltweites Wissenschafts- und Hochschulsystem analysiert, sondern in ihrer treuhänderischen Verantwortung für die amerikanische societal community. Dieses Argument zur politischen Limitiertheit des Blicks auf globale soziale Zusammenhänge ist in einer allerletzten Hinsicht noch einmal zu korrigieren. Parsons war beeindruckt durch die These, daß
Rudolf Stichweh: Zum Gesellschaftsbegriff der Systemtheorie
die Menschheit nur ein einziges Mal entstanden ist („Single Origin"), eine These, die heute vielfach auch in der verwandten evolutionspsychologischen Formel der psychischen Einheit der Menschheit ausgedrückt wird. Erneut - wie zuvor bei der Anlehnung an Mayrs Speziesbegriff - geht es um eine Einsicht aus der Biologie (und Archäologie), die aber diesmal weit mehr als eine Analogie ist, nämlich einen historisch-genetischen Sachzusammenhang zum Ausdruck bringt. Wenn sich zeigen läßt, daß die „organische" Entstehung der menschlichen Spezies nur ein einziges Mal erfolgt ist, und wenn zugleich gilt, daß Gesellschaft und Kultur an die Potentiale der organischen Evolution des Menschen strukturell gekoppelt sind, dann verändert sich, so Parsons in der ausführlichsten Überlegung zu diesem Punkt 5 , die Frage des Gesellschaftsvergleichs. Es handelt sich dann immer um Vergleiche innerhalb eines einzigen Systems; die gesamte Geschichte menschlicher Gesellschaften wird zur Geschichte der Differenzierung und der Inklusion innerhalb dieses einzigen übergreifenden Systems. Dies ist eine Deutungsmöglichkeit, die Parsons nicht mehr ausformuliert hat, und es ist eine Deutungsalternative, die auch sonst in den Sozialwissenschaften bisher nicht ernsthaft ausprobiert und ausgearbeitet worden ist. In dieser Deutungsalternative liegen vielleicht die am meisten zukunftsweisenden Möglichkeiten des Anschließens an Talcott Parsons.
5. Gesellschaft und ihre Funktionsbestimmungen bei Niklas Luhmann Für Talcott Parsons war der Gesellschaftsbegriff ein Gegenstand schwankenden Interesses. Er steht hinter den beiden Leitfragestellungen, der Theorie des allgemeinen Handlungssystems (action frame ofreference) und der Theorie sozialer Systeme, offensichtlich zurück. In manchen Verwendungen - und darin unterscheidet sich Parsons nicht von vielen anderen Soziologen - wird der Begriff der Gesellschaft fast unaufmerksam oder relativ untechnisch verwendet 6 ; in anderen Passagen erfolgt eine an die 5
Es handelt sich um den Abschnitt „Socio-Cultural Development from a Single Origin" in 1971a: 284ff. Vergleichbare Bemerkungen in Parsons 1966: 2ff., 1971: 2. 6 Siehe in der IESBS 2001 den Artikel „Societies, Types of" von R. Deliege: „While the concept of society is to be found in most sociological writings, it remains ambiguous and relatively ill-defined. Like most of the scientific concepts that are also used in common speech, that of society seems to need no introduction and to reflect reality in a
179 Tradition - insbesondere Aristoteles - anknüpfende und konzeptuellen Klärungsbedarf unterstellende explizite Diskussion. Vor diesem Hintergrund verkörpert Niklas Luhmann den eher ungewöhnlichen Fall eines Theoretikers, der dem Gesellschaftsbegriff von vornherein eine zentrale Stellung eingeräumt hat. Ähnlich wie Talcott Parsons verfolgt Luhmann eine bifokale Theoriestrategie. In dieser nimmt die Theorie sozialer Systeme (Luhmann 1984) gewissermaßen den Status der Grundlagentheorie ein, also jenen Platz, der bei Parsons durch die allgemeine Handlungstheorie besetzt ist. Das Gesellschaftssystem aber verkörpert den prototypischen Gegenstand materialer soziologischer Analyse, rückt also in die Funktionsstelle ein, die bei Parsons die Theorie des sozialen Systems für sich reklamiert. Um so wichtiger wird es für Luhmann, einen einigermaßen präzisen Begriff davon zu entwickeln, was man sich unter Gesellschaft vorstellen kann. Bibliographisch gesehen leitet Luhmann seine Überlegungen zum Gesellschaftsbegriff mit dem Vortrag „Moderne Systemtheorien als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse" ein, den er auf dem Frankfurter Soziologentag von 1968 mit dem Generalthema „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft" gehalten hat. Dieser Vortrag ist 1969 in den Verhandlungen des Soziologentags gedruckt worden, eröffnet zwei Jahre später aber auch das gemeinsame Buch von Jürgen Habermas und Niklas Luhmann „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie?" (Luhmann 1971). Im Jahr 1969 legt Luhmann einen weiteren Artikel „Gesellschaft" in der Enzyklopädie „Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft" vor, und schließlich faßt er das Argument dieser beiden Veröffentlichungen für einen zweiten Aufsatz mit demselben Titel „Gesellschaft" zusammen, der erstmals 1970 in der Aufsatzsammlung rather straightforward, transparent way" (Deliege 2001: 14530). Zu registrieren ist hier auch, dass die IESBS dem Begriff Gesellschaft (im Singular) keinen Artikel widmet. Im Schulzusammenhang von Talcott Parsons in Harvard sind noch die beiden Arbeiten von Mayhew (1968,1971) entstanden, die sich vor allem darin unterscheiden, dass sie dem Gesichtspunkt funktionaler Differenzierung deutlicher Rechnung tragen: „Economic, religious, political, educational, and other types of activity come to cohere into partially independent systems with units, boundaries, and mechanisms of their own. These systems overlap; and when a relatively broad range of such systems cohere around a common population, we may speak of a society" (1968: 583). Es überrascht nicht, wenn Mayhew dann auch von einem „emergent global level of social reality" (ebd.: 585) spricht.
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„Soziologische Aufklärung" (Luhmann 1970) erscheint. Die nächste ausführliche Behandlung des Gesellschaftsbegriffs erfolgt erst 1997 in „Die Gesellschaft der Gesellschaft" (Luhmann 1997). Neben diesen Veröffentlichungen zum Gesellschaftsbegriff steht als eine eigenständige und deshalb systematisch zu vergleichende Reihe die Sequenz von Luhmanns Publikationen zum Begriff und zur Theorie der Weltgesellschaft, die ungefähr gleichzeitig mit den gerade genannten Aufsätzen im Jahr 1971 ihren Anfang nimmt. 7 Luhmann beginnt seine Überlegungen mit einer Rekonstruktion der antiken, insbesondere aristotelischen Situation. Er registriert, daß Aristoteles nicht den eigentlich naheliegenden Weg einer Generalisierung gewählt hat, die von den vielen einzelnen Gemeinschaften (koinoniai) abstrahiert und Gesellschaft als den auf dem Weg dieser Generalisierung zu gewinnenden Oberbegriff bestimmt. Dies wäre der Weg analytischer Theoriebildung gewesen, den viel später Talcott Parsons beschritten hat und der es letztlich schwer macht, Sozialsystem und Gesellschaft voneinander zu unterscheiden. Statt dessen ist es eine unter den vielen Gemeinschaften, die koinonia politike (später societas civilis), die zugleich für das Ganze steht. Damit beginnt die Sozialtheorie mit einer Paradoxie. Gesellschaft ist eine unter vielen Gemeinschaften, aber sie ist zugleich die Gemeinschaft, die alle anderen Gemeinschaften in sich schließt. Gesellschaftstheorie ist in der Folge die Weise des Umgangs mit dieser Paradoxie. Es ist diese Lösung, an die Luhmann systematisch angeschlossen hat und die die Form der Koordination von Theorie sozialer Systeme und Gesellschaftstheorie erzeugt hat, die für das Luhmannsche Werk charakteristisch wird.
Auch in diesem Fall sind es nicht viele Publikationen, vielmehr fällt eine Unterbrechung von fast 2 0 Jahren auf (siehe zuerst Luhmann 1 9 7 1 ; wenig später das Kapitel in der „Rechtssoziologie" von 1 9 7 2 : 333ff.; siehe außerdem das interessante Gutachten Luhmann/Rammstedt/Seyfarth 1 9 7 2 und dann die deutlich späteren Texte Luhmann 1 9 8 2 , 1 9 9 4 , 1 9 9 5 , 1997a.). Vgl. zu den Gründen und Folgen dieser unterbrochenen Arbeit am Thema Weltgesellschaft Stichweh 2 0 0 1 , 2 0 0 2 . Bemerkenswert in ihrer konzisen Kürze sind weiterhin die beiden Texte zu „Gesellschaft" (dort nur zwei Sätze am Anfang von Luhmann - später im Text von Luhmann stammende kurze Bemerkungen zu Parsons - in einem im übrigen von Otthein Rammstedt und Hanns Wienold geschriebenen Artikel) und „Weltgesellschaft", die Luhmann zu der ersten Auflage des „Lexikons zur Soziologie" (Fuchs et al. 1 9 7 3 ) beigesteuert hat. 7
Der nächste Schritt, der Luhmann erforderlich scheint, besteht darin, den Gesellschaftsbegriff von der Bindung an einzelne funktionale Leitgesichtspunkte zu lösen, die in ihm für zweitausend Jahre vorgeherrscht haben. Konkret geht es um die Ablösung von Politik und von Wirtschaft. Gesellschaft ist weder societas civilis noch geht sie in der politischen Ökonomie auf. An dieser Stelle wird das Konzept der funktionalen Differenzierung wichtig, weil es eine überzeugende Alternative bietet. Dies wird auf eine sehr interessante Weise in einer Schlüsselpassage in dem Vortrag von 1968 deutlich. 8 Luhmann diskutiert zunächst das aristotelische Kriterium der Autarkie/Unabhängigkeit, das von Parsons bekanntlich über weite Strecken übernommen wird. Auch Luhmann lehnt das Moment der Autarkie als Definitionsbestandteil von Gesellschaft nicht einfach ab. Aber er verweist darauf, daß diese Definitionsbedingung immer dann erfüllt ist, wenn Systeme im Verhältnis zueinander segmentär differenziert sind. Also erläutert dieses Kriterium vor allem den Fall, in dem eine Mehrzahl von gleichartigen Gesellschaften nebeneinandersteht. Aber was macht diese Gesellschaften zu Gesellschaften? Diejenige Form, in der sie ihre Binnendifferenzierung regeln. Und das ist funktionale Differenzierung.9 Daraus resultiert ein bemerkenswerter Vorschlag: „Gesellschaft ist diejenige Ebene der Systembildung, von der ab es funktionale Differenzierung gibt. Oder noch schärfer: Gesellschaft ist dasjenige Sozialsystem, das die letzterreichbare Form funktionaler Differenzierung institutionalisiert" (Luhmann 1 9 7 1 : 15).
Aus diesem Begriffsvorschlag folgt, daß immer dort, wo Funktionszusammenhänge beginnen, Gesellschaftsgrenzen zu überschreiten, ehedem selbständige Gesellschaften in größere gesellschaftliche Zusammenhänge integriert worden sind. Attraktiv ist eine solche Vorstellung auch deshalb, weil sie unmittelbar auf die Diagnose der Weltgesellschaft hinführt, ohne daß Luhmann dies in den einschlägigen Texten so sagt. Schließlich bezeichnet in der Gegenwart der Begriff der Weltgesellschaft genau diejenige Systemebene, von der aus die Differenzierung der ausnahmslos globalen Funktionssysteme reguliert wird.
8 Luhmann 1 9 7 1 : 14f.; dieser Text macht den Eindruck, daß er im wesentlichen den beim Soziologentag mündlich gehaltenen Vortrag wiedergibt. 9 An dieser Stelle ist zu notieren, daß Luhmann zu diesem Zeitpunkt seiner Theorieentwicklung nur segmentäre und funktionale Differenzierung kennt. So ausdrücklich Luhmann 1 9 7 0 : 1 4 8 : „Es gibt nur diese beiden Typen . . . " .
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Luhmann bleibt bei dieser Bestimmung nicht stehen, zumal es offensichtlich ist, daß von der Systemebene Gesellschaft aus nicht nur die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen geregelt wird, daß vielmehr alle Systeme und alle Typen von Systembildung auf diese Systemebene bezogen werden können und dass sie dies auch müssen. Die Frage, die sich an diesem Punkt stellt, hat Luhmann in jenen Jahren häufiger als die Frage nach der Funktion von Gesellschaft bezeichnet, und er hat wiederholt hinzugefügt, daß Parsons diese Frage nicht angemessen zu stellen imstande sei. An diesem Punkt der Argumentation wird der Charakter von Systemtheorie als System/Umwelt-Theorie und die postulierte Komplexitätsdifferenz zwischen System und Umwelt wichtig (siehe beispielsweise Luhmann 1970: 143 ff.). Das Verhältnis der Gesellschaft zu allen anderen Sozialsystemen wird durch Komplexität und durch Selektivität näher bestimmt. Die Gesellschaft richtet eine erste Stufe der Selektivität ein, die als eine solche die Selektivität aller anderen Sozialsysteme ermöglicht. Man kann sinnvoll auch von der Emergenz von Gesellschaft als einer neuen Ebene der Bildung sozialer Systeme sprechen. Die bündige Definition, auf die Luhmann 1970 im Artikel Gesellschaft schließlich seine Argumentation hinführt, legt dies sehr gut offen: Danach kann „Gesellschaft funktional definiert werden ... als dasjenige Sozialsystem, das im Voraussetzungslosen einer durch physische und organische Systembildungen strukturierten Umwelt soziale Komplexität regelt - das heißt den Horizont des Möglichen und Erwartbaren definiert und letzte grundlegende Reduktionen einrichtet" (Luhmann 1 9 7 0 : 145).10
In den weiteren Ausführungen dieses Aufsatzes variiert Luhmann nur noch diese Motive. Vor allem taucht das Thema der Bestimmbarkeit von Komplexität auf: „Die Funktion der Gesellschaft liegt danach in der Ausgrenzung unbestimmbarer und der Einrichtung bestimmter oder doch bestimmbarer, für ihre Teilsysteme und letztlich für das Verhalten tragbarer Komplexität" ( 1 9 7 0 : 149).
6. Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Gesellschaftsbegriff Luhmanns Die wichtigsten Klärungen oder grundlegendsten Bestimmungen im Gesellschaftsbegriff scheinen damit bereits erfolgt. Wenn man die weitere Entwick1 0 Ähnlich in der Rechtssoziologie ( 1 9 7 2 : 133): „ . . . letzte grundlegende Reduktionen regelt, an die andere Sozialsysteme anknüpfen können."
181 lung des Gesellschaftsbegriffs im Werk von Niklas Luhmann verfolgt, fällt auf, daß sich zwar die verschiedenen Innovationen in der Theorie jeweils auch in den Gesellschaftsbegriff einschreiben, daß aber im Prinzip ein Repertoire von Bestimmungsmöglichkeiten variiert wird, das am Anfang der siebziger Jahre verfügbar war. Drei Kernmotive aus diesem Repertoire seien zusammenfassend noch einmal hervorgehoben: 1. Die paradoxe Konstitution von Gesellschaft: Gesellschaft ist ein Sozialsystem unter anderen, das zugleich alle anderen in sich schließt; derselbe Sachverhalt wird manchmal auch paradoxiefrei formuliert, wenn beispielsweise im „Lexikon zur Soziologie" gesagt wird: „Gesellschaft ist das jeweils umfassendste System menschlichen Zusammenlebens" (Fuchs et al. 1973: 235). 2. Das Gesellschaftssystem als die Ebene, von der her die jeweils umfassendste Form der funktionalen Differenzierung reguliert wird; das kann natürlich auch Rollendifferenzierung als die Form der Funktionsunterscheidung sein, die unter segmentären Verhältnissen vorherrscht. 3. Das Gesellschaftssystem als die Ebene, die letzte grundlegende Reduktionen einrichtet; dies ist einerseits eine Verallgemeinerung von 2., gleichzeitig bedeutet 2. ein Mehr an soziologischer Konkretion und an sachlogischer Hinführung auf Weltgesellschaft, so daß es verfehlt wäre, auf diese Bestimmung als eine eigenständige zu verzichten. Was tritt an Motiven und an Formulierungen hinzu? Das Emergenzmotiv, das darin liegt, daß Gesellschaft „im Voraussetzungslosen" letzte Reduktionen einrichtet, wird dadurch verstärkt, daß Gesellschaft die Fähigkeit zur Elementkonstitution oder zur Selbstspezifikation jener Elemente, aus denen Gesellschaft und alle ihre Teilsysteme bestehen, zugeschrieben wird: „Die Gesellschaft besteht ... aus Elementen, die sie selbst produziert, die sie selbst als emergente Sinneinheiten auf dem Unterbau hochkomplexer Umweltgegebenheiten zur Einheit synthetisiert" (Luhmann 1 9 8 3 : 197).
Die letzten Reduktionen, die Gesellschaft einrichtet, sind natürlich auch erste Reduktionen, weil von ihnen die Erstkonstitution von Sinn abhängt, auf die in der Folge alle Sozialsysteme in ihrem Prozessieren zurückgreifen. Ein weiterer Komplex von Motiven ist gleichfalls schon in den Aufsätzen um 1970 herum präsent. Die regulative Funktion von Gesellschaft beschränkt sich ja nicht auf Elementkonstitution und das Ermöglichen funktionaler Differenzierungen. Sie gilt gleichermaßen für die Frage, welche symbolischen Generalisierungen gesellschaftsweit Bestand haben sollen, und für die Frage, welches ei-
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gentlich das Bezugssystem sein kann, wenn man ernsthaft über soziokulturelle Evolution sprechen will. 11 Gerade dieser letztere Punkt spielte anfangs für Luhmann eine bedeutende Rolle, weil er zunächst Gesellschaft als die einzige Bezugsebene dachte, auf der Evolution vorkommen kann, und weil er deswegen die Möglichkeit einer Teilsystemevolution explizit verneinte.12 Dies ist verwandt mit der Fragestellung, die sich Talcott Parsons einhandelte, als er die These des einheitlichen Ursprungs oder der psychischen Einheit der Menschheit ernst nahm. Die Einbettung von Soziologie und Sozialtheorie in einen evolutionären Bezugsrahmen scheint auf eine dritte Deutungsmöglichkeit für den Gesellschaftsbegriff hinzuführen: Es gibt nicht nur Gesellschaften im Plural (beispielsweise unter Bedingungen segmentärer Differenzierung oder in der Moderne als Pluralität nationaler Systeme, sofern diese letztere Deutung jemals richtig gewesen sein sollte), und es gibt nicht nur „die Gesellschaft" im Singular (als sich historisch herausbildendes und als solches singuläres System der „Weltgesellschaft"). Man muß drittens auch dem Kollektivsingular „Gesellschaft" Rechnung tragen, der die Emergenz der spezifisch menschlichen Vergesellschaftungsform formuliert und damit eine Perspektive einführt, die für jeden Zeitpunkt der Geschichte und natürlich auch der Vorgeschichte menschlicher Gesellschaft mit weltweiten - wenn auch zeitweise unterbrochenen - Interdependenzen rechnet und der erst recht für jeden Zeitpunkt weltweite Vergleichshorizonte zu berücksichtigen bereit ist.
von Erreichbarkeit von Bezugnahme die Rede. Eine Gesellschaft bilden alle die Kommunikationen, die aufeinander Bezug nehmen (z.B. Luhmann 1986: 24). In diesen Äußerungen spiegelt sich zugleich die zunehmende Bedeutung des Kommunikationsbegriffs, ohne daß dieser wirkliche Umbrüche im Verständnis von Gesellschaft induziert hätte. Parallel nimmt die Betonung der Geschlossenheit von Gesellschaft zu. Während zunächst im Vordergrund stand, daß Gesellschaft alle Sozialsysteme umschließt, wird jetzt deutlicher akzentuiert, daß sie sie auch nach außen abschließt. Man kann den Eindruck haben, daß dies in Luhmanns Augen den aristotelischen Begriff der Autarkie stillschweigend rehabilitiert hat. Es ist auffällig, daß in späteren Verwendungen des Gesellschaftsbegriffs der Begriff der Autarkie als eine denkmögliche Fassung mitzitiert wird und daß dies die Möglichkeit suggeriert, daß es sich „nur" um Formulierungsunterschiede handelt, mit denen keine substantiellen Entscheidungen getroffen werden. So z. B. in Das Recht der Gesellschaft wie auch in Die Gesellschaft der Gesellschaft:
7. Autarkie und Geschlossenheit der Gesellschaft
„Theorie des umfassenden sozialen Systems, das alle anderen sozialen Systeme in sich einschließt. Diese Definition ist fast ein Zitat. Sie bezieht sich auf die Einleitungssätze der Politik von Aristoteles, die die städtische Lebensgemeinschaft (koinonia politike) definieren als die herrlichste . . . Gemeinschaft, die alle anderen in sich schließt" (Luhmann 1 9 9 7 : 78).
Welche anderen Sinnmomente werden dem Gesellschaftsbegriff in den folgenden Jahrzehnten hinzugefügt? 1973, in dem wichtigen Aufsatz „SelbstThematisierungen des Gesellschaftssystems" spricht Luhmann von dem ,,umfassendste[n] System kommunikativer Beziehungen zwischen menschlichen Erlebnissen und Handlungen, die füreinander erreichbar sind" (Luhmann 1973: 83). Zentral ist hier der Begriff der „Erreichbarkeit", der eines jener Verbindungsglieder ist, das vom Begriff der Gesellschaft unmittelbar auf die Hypothese der Weltgesellschaft hinführt. In anderen Texten ist statt Siehe Luhmann 1 9 7 0 : 152: „ . . . Vorschlag ist, Gesellschaft als soziales System auf Grund einer Funktionsangabe im Hinblick auf Generalisierung, Differenzierung und Evolution zu erforschen." 1 2 So für den Fall des Rechtssystems Luhmann 1 9 7 0 a . u
„Welchen Begriff der Gesellschaft man auch verwenden will, ob den traditionellen Begriff der Autarkie in den zum perfekten Leben (Glück) des Menschen nötigen Bedingungen, oder den Begriff der Geschlossenheit des kommunikativen Operierens: es kann kein Zweifel daran bestehen, daß unter heutigen Umständen nur noch ein einziges Gesellschaftssystem besteht: die Weltgesellschaft" (Luhmann 1993: 571).
Vier Jahre später in einer Definition von Gesellschaftstheorie: Diese sei die
Bemerkenswert auch, wie hier der früher so prominente Stolz der Distanznahme und die Überbietungsformeln hinsichtlich der alteuropäischen Tradition, die durch abstraktere und funktionale Deutungen überwunden werden sollte, für Luhmann verzichtbar geworden ist und wie problemlos die wechselseitige Vertretbarkeit verschiedener Formulierungsalternativen konzediert werden kann. Eine letzte Frage betrifft die Einheit der Gesellschaft. Sobald man betont, daß das Gesellschaftssystem Soziales nach außen abschließt, drängt sich zugleich die Frage auf, wie es nach innen Heterogenes zusammenzuschließen imstande ist. Gerade wenn man Gesellschaft als die Bezugsebene denkt,
Rudolf Stichweh: Zum Gesellschaftsbegriff der Systemtheorie von der die jeweils umfassendste F o r m funktionaler Differenzierung ihren Ausgang n i m m t , wird diese Frage des Z u s a m m e n h a n g s der voneinander differenzierten Funktionen um so zwingender. L u h m a n n vermeidet von vornherein die Durkheimsche Antw o r t , ein „gemeinsamefs] und sich als gemeinsam wissende[s] B e w u ß t s e i n " (Luhmann 1 9 7 0 : 1 4 7 ) anzunehmen, und er vermeidet auch die Parsonianische Variante dieser A n t w o r t , an die Stelle eines extensiven Kollektivbewußtseins hochgeneralisierte Wertgrundlagen treten zu lassen, die als Resultante von Differenzierungsprozessen abstrakte Einheitsgesichtspunkte verkörpern. Statt dessen, so Luhm a n n , wird „die Einheit der Gesellschaft . . . in der Interdependenz und dem Abstimmungszwang unter den Folgeproblemen stärkerer Differenzierung g r e i f b a r " ( L u h m a n n 1 9 7 0 : 1 4 7 ) . Auch diese Antw o r t , die keine Elemente von Gesellschaft vorsieht, die gewissermaßen für Einheit zuständig sind, ist eine, an der L u h m a n n immer festgehalten hat. Aber ihre Formulierung wird variiert, vor allem in dem M a ß e , in dem deutlicher hervortritt, daß die elementaren Einheiten, aus denen sich Gesellschaft aufbaut, keine Elemente in dem Sinn sind, wie die Naturwissenschaft von Elementen spricht. Vielm e h r haben wir es mit temporalisierten Elementen von minimaler zeitlicher Extension zu tun, die als Ereignisse oder als Operationen beobachtet werden können. W i c h t i g wird jetzt die T h e s e , d a ß m a n sich das Gesellschaftssystem nicht so vorstellen darf, als gebe es eigene O p e r a t i o n e n , die nur dem Gesellschaftssystem und keinem seiner Teilsysteme zugehören und die dann gleichsam jene Operationen wären, mittels deren die Gesellschaft die Einheit produziert, die sie zur Vielheit ihrer Teilsysteme hinzufügt. Für eine solche operative Kontrolle durch das Gesamtsystem gibt es keine argumentative Basis - dies ist eine der Folgen der p a r a d o x e n Konstitution von Gesellschaft - , und insofern führt uns die Argumentation erneut auf die These, „daß das Gesamtsystem sich nicht mehr durch operative Kontrolle, sondern nur noch über strukturelle Auswirkungen ihrer (gemeint ist die moderne Gesellschaft - R.S.) Differenzierungsform auf die Teilsysteme zur Geltung bringt" (Luhmann 1997: 42f.).
8. Z u s a m m e n f a s s u n g : V o n der M i g r a t i o n s g e s c h i c h t e der M e n s c h h e i t zur Theorie der W e l t g e s e l l s c h a f t Parsons und L u h m a n n verhalten sich in einer für unsere Überlegungen zentralen Hinsicht invers zueinander. Bei Parsons gibt es ein starkes, fast vortheoretisches Präjudiz, Gesellschaft als territorial
183 basiert und national limitiert anzusehen. Es ist sicher kein Zufall, d a ß das letzte abgeschlossene Buch, das Parsons publiziert hat, die „amerikanis c h e " Universität zum Gegenstand hatte und d a ß in diesem Buch das eigentlich schwer übersehbare System der Weltwissenschaft keine R o l l e spielt. D a s nächste Buch, an dem Parsons anschließend gearbeitet hat und von dem offensichtlich signifikante Manuskriptteile vorliegen, war der amerikanischen „societal Community" gewidmet. Diese starken empirischen Prädispositionen konfligieren in vielen Hinsichten mit den konzeptuellen und theoretischen Ressourcen, die Parsons importierte. Bereits die aristotelische Tradition oder die Analogie zum Speziesbegriff eines Ernst M a y r oder die Anlehnungen an das Konzept des einheitlichen Ursprungs oder der psychischen Einheit der M e n s c h h e i t transportieren transnationale M o m e n t e in den Gesellschaftsbegriff, so d a ß dessen Präferenz für territorial-nationale Limitation zunehmend brüchig wird. Bei L u h m a n n ist es in vielen Hinsichten umgekehrt. Sein Gesellschaftsbegriff, für den gleichfalls über Jahrzehnte hinweg Aristoteles als Gegenüber fungierte, ist zwar durchaus facettenreich, aber er ist auf theoretischer Ebene zugleich von hoher K o n sistenz und Geschlossenheit, und es kann nie ein Zweifel bestehen, d a ß dieser Gesellschaftsbegriff für die Gesellschaft unserer Z e i t auf die Diagnose der Existenz nur noch eines einzigen Gesellschaftssystems hinführt. So mit einiger Überzeugungskraft formuliert in „Soziale S y s t e m e " : „als Resultat von Evolution gibt es dann schließlich nur noch eine Gesellschaft: die Weltgesellschaft, die alle Kommunikationen und nichts anderes in sich einschließt und dadurch völlig eindeutige Grenzen hat" (Luhmann 1984: 557). Gleichzeitig fällt auf, d a ß in der großen Z a h l von materialen Analysen, die L u h m a n n uns hinterlassen hat, das M o m e n t des „methodologischen N a t i o n a lismus" nicht abwesend ist. Z w a r hat sich Luhmann alles in allem an den von ihm formulierten methodologischen Imperativ, d a ß in der Soziologie Ländernamen nicht v o r k o m m e n sollten (vgl. Luhm a n n 1 9 9 1 : insb. 7 2 ) , gehalten; aber das ändert nichts daran, d a ß in ziemlich vielen seiner Analysen die weltgesellschaftliche Perspektive nicht durchgehalten oder zumindest nicht durchgearbeitet worden ist, w a s man leicht an dem Befund erkennt, der selbst für die „Gesellschaft der Gesellschaft" gilt, d a ß es in seinen Büchern ausgegrenzte Teile gibt, in denen die Fragen der Globalisierung und der Weltgesellschaftlichkeit gesondert behandelt werden. In dieser Hinsicht, d a ß die T h e o r i e n der einzelnen Systeme viel zentraler auf die Frage der Weltgesell-
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s c h a f t h i n g e f ü h r t w e r d e n m ü s s e n , ist g e r a d e a u c h für die S y s t e m t h e o r i e eine U n z a h l s p a n n e n d e r F r a gestellungen u n d A u f g a b e n z u e r k e n n e n . U n d dies v e r b i n d e t sich m i t d e m a n d e r e n D e s i d e r a t , d a s in u n s e r e m A r g u m e n t m i t Blick a u f P a r s o n s w i e a u f L u h m a n n s i c h t b a r w u r d e . E i n e in ihrer h i s t o r i s c h e n und anthropologischen Tiefenschärfe n o c h einmal radikalisierte S y s t e m t h e o r i e h a t sich der d r e i f a c h e n P r o b l e m s t e l l u n g zu k o n f r o n t i e r e n , d a ß sie erstens die E m e r g e n z der spezifisch m e n s c h l i c h e n F o r m der V e r g e s e l l s c h a f t u n g als e t w a s analysiert, d a s i m m e r s c h o n ein einziges g l o b a l e s System h e r v o r g e b r a c h t h a t , in d e m die W e l t r e g i o n e n seit sechzig- bis siebzigtausend J a h r e n durch Migrationen verbunden
miteinander
und dann immer wieder auch
gegen-
e i n a n d e r g e s c h l o s s e n w o r d e n s i n d 1 3 , d a ß die Soziologie z w e i t e n s die Vielzahl u n d die Vielfalt der historischen
Großteil
der
bisherigen M e n s c h h e i t s g e s c h i c h t e a u s m a c h e n ,
Gesellschaften,
mit
e i n e m differenzierteren
die
den
Instrumentarium
zu
ana-
lysieren l e r n t , u n d d a ß sie drittens jenes singuläre 14
S y s t e m d e r W e l t g e s e l l s c h a f t der M o d e r n e u n d die d i e s e m h e u t e bereits eigene „ l o n g u e d u r é e " besser zu v e r s t e h e n lernt u n d die U n w a h r s c h e i n l i c h k e i t e n u n d Risiken, die diesem M o d u s der Vergesellschaft u n g eigen sind, b e o b a c h t e t .
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Autorenvorstellung: Rudolf Stichweh, geb. 1951 in Lemgo/Lippe. Studium der Soziologie und Philosophie in Berlin und Bielefeld; Dissertation und Habilitation für Soziologie in Bielefeld; 1985-89 MPI für Gesellschaftsforschung, Köln; 1987 Maison des Sciences de l'Homme, Paris; 1989-94 MPI für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt a.M.; 1994-2003 Professor für soziologische Theorie, Universität Bielefeld; 2003 - Professor für soziologische Theorie, Univ. Luzern; 2005-6 Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, Theorie der Weltgesellschaft, Soziologie des Fremden, Soziologie der Wissenschaft und der Universitäten, Soziokulturelle Evolution, Historische Makrosoziologie. Wichtigste Publikationen: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Frankfurt a.M. 1984; Der frühmoderne Staat und die europäische Universität. Frankfurt a.M. 1991; Wissenschaft, Universität, Professionen. Frankfurt a.M. 1994; Die Weltgesellschaft. Frankfurt a.M. 2000. Inklusion und Exklusion. Bielefeld 2005.
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 186-204
Der Stellenwert von Organisationen in Theorien der Weltgesellschaft Eine kritische Weiterentwicklung systemtheoretischer und neo-institutionalistischer Forschungsperspektiven
The Significance of Organizations in Theories of the World Society A Critical Extension of Research Perspectives of Systems Theory and New Institutionalism Raimund Hasse Universität Luzern, Soziologisches Seminar, CH-6000 Luzern 7. E-mail: [email protected]
Georg Krücken Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie, Universitätsstraße 25, D-33615 Bielefeld E-mail: [email protected] Z u s a m m e n f a s s u n g : Systemtheorie und Neo-Institutionalismus weisen zwei Gemeinsamkeiten auf: Erstens liegt ihnen ein umfassendes Konzept von Weltgesellschaft zugrunde; zweitens betonen sie die hohe Bedeutung von Organisationen. Vor diesem Hintergrund wird untersucht, wie das Verhältnis von Organisation und Gesellschaft in beiden Theorien konzipiert ist. Auf der Grundlage einer wechselseitigen Brechung von Systemtheorie und Neo-Institutionalismus werden die Schwächen der jeweiligen Konzeptualisierung herausgearbeitet. Zudem werden in kritischer Erweiterung des Neo-Institutionalismus Forschungsperspektiven skizziert, die sich vornehmlich auf die Funktion von Beratungseinrichtungen und staatlichen Instanzen beziehen. Dies erlaubt, Differenzierungen hervorzuheben, die im Programm des Neo-Institutionalismus nicht berücksichtigt werden und die auch für die Systemtheorie neue Forschungsfronten eröffnen. S u m m a r y : Systems theory and new institutionalism are characterized by two similarities: They (1) are based on a c o m prehensive concept of world society, and they (2) emphasize the significance of organizations. Against this background the relation between organization and society is investigated. Conceptional shortcomings of both theories are identified, and a critical extension of the new institutionalist approach is outlined. The main focus is on heterogeneous effects of mediating agencies such as consultants and state institutions. This allows an emphasis on processes of differentiation which are ignored in the new institutionalism and which open up new research perspectives for systems theory as well.
Einleitung
eine eindeutige Tendenz in Richtung Globalisierung hindeutet.
Die gesellschaftliche Selbstbeschreibung ist zu Beginn des 2 1 . Jahrhunderts von der Erfahrung weltweiter Interdependenzen geprägt. Diese Erfahrung spiegelt sich auch in der soziologischen Reflexion wider, deren Gegenwartsdiagnose in weiten Teilen um die Erfassung unterschiedlicher Facetten der Globalisierung kreist. Der vor wenigen Jahren einsetzende Boom soziologischer Arbeiten zum Thema Globalisierung kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass grundlegende Fragen nach wie vor weitgehend ungeklärt sind. So wird die allgemein als gesichertes Wissen geltende Globalisierung der Wirtschaft von Hirst/Thompson (1996) empirisch in Frage gestellt, und Mauro Guillen (2001) verdichtet empirische Befunde zu ganz unterschiedlichen Bereichen sogar zu dem Ergebnis, dass im Unterschied zum raschen Anstieg der sozialwissenschaftlichen Globalisierungsliteratur kein einziger der vermeintlichen Globalisierungsindikatoren auf
Komplementär zur empirischen Hinterfragung kann man theoretische Einseitigkeiten identifizieren. Beiträge zur Globalisierungsdiskussion gehen von territorial gebundenen Einheiten aus, um dann in „bottom up"-Manier die Auflösung ehedem klar definierter Grenzen zu rekonstruieren. Konkret bildet die Annahme nationalstaatlicher Gesellschaftsformationen den weithin geteilten Ausgangspunkt dieser Untersuchungen. Inwiefern sich die Konstitution dieser Einheiten selbst im Rahmen weltgesellschaftlicher Prozesse vollzogen hat bzw. weiterhin vollzieht, bleibt demgegenüber ausgeklammert. Grundlegend anders argumentiert die Systemtheorie, der zufolge Weltgesellschaft eine eigenständige Bezugsebene darstellt. Weltgesellschaft ist also Ausgangspunkt der makrosoziologischen Analyse, nicht deren empirisches Ergebnis. Bereits 1971 stellte Niklas Luhmann heraus, dass die funktional differenzierte Gesellschaft nur als Weltgesellschaft
Raimund Hasse und Georg Krücken: Der Stellenwert von Organisationen in Theorien der Weltgesellschaft zu verstehen ist (Luhmann 1971). Weltgesellschaft wird dabei über die prinzipiell schrankenlose kommunikative Erreichbarkeit definiert (vgl. auch Luhmann 1997: 145ff., Stichweh 2000). Diese wird auf die expansive Dynamik der im Prozess der funktionalen Differenzierung entstehenden Teilsysteme zurückgeführt, die die für stratifizierte Gesellschaften zentralen territorialen Grenzen überschreiten und solchermaßen einen einheitlichen kommunikativen und gesellschaftlichen Bezugsrahmen bilden, dem sich keine Region der Weltgesellschaft auf Dauer entziehen kann. Wenngleich im deutschsprachigen Kontext weniger vertraut, liegt auch dem Neo-Institutionalismus ein Konzept der Weltgesellschaft zugrunde. Dessen „world polity"-Ansatz hat seine Ursprünge ebenfalls in den 1970er Jahren. Seitdem ist er theoretisch entwickelt und empirisch erprobt worden (für einen deutschsprachigen Überblick über neuere Arbeiten vgl. Meyer 2005). Im Kern geht es hier um Prozesse der Rationalisierung als kulturelles Projekt der Moderne. Dabei dehnen sich die kulturellen Prinzipien der „world polity" weltweit aus und kreieren in „top down "-Prozessen Staaten, Organisationen und Individuen als ihre Handlungsträger. Im Unterschied zum systemtheoretischen Interesse an Differenzierungsphänomenen betont der Neo-Institutionalismus dabei weit reichende Strukturangleichungen („institutionelle Isomorphie") innerhalb der Weltgesellschaft. Auffällig ist, dass formale Organisationen in beiden Ansätzen zur Weltgesellschaft einen zentralen Stellenwert einnehmen. Weltgesellschaftliche und organisatorische Prozesse gelten als eng miteinander verzahnt. Durch diese Konzeptualisierung grenzen sich Systemtheorie und Neo-Institutionalismus gleichermaßen von weiten Teilen der soziologischen Globalisierungsdiskussion ab, deren Beiträge oftmals dadurch gekennzeichnet sind, dass sie Organisationen im Globalisierungsprozess entweder keine herausgehobene Bedeutung beimessen (Beck 1997, Giddens 2001) oder mit dem Ende territorial gebundener Einheiten zugleich einen verschwindenden Einfluss großer formaler Organisationen postulieren (Lash/Urry 1987, Castells 1996). Wenngleich das Verhältnis von Organisation und Gesellschaft sowohl für das systemtheoretische als auch für das neo-institutionalistische Verständnis von Weltgesellschaft von zentraler Bedeutung ist, zeigt sich, dass die Konzeptualisierung dieses Verhältnisses in beiden Theorien systematische Schwachpunkte aufweist. Der vorliegende Beitrag zielt deshalb auf eine Identifikation dieser Schwachpunkte und auf Perspektiven ihrer konstruktiven Überwindung. Die
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Argumentation wird in vier Teilen entfaltet. Zunächst werden die Grundzüge des Verhältnisses von Organisation und Gesellschaft in der Systemtheorie (1) und im Neo-Institutionalismus (2) herausgearbeitet. Auf dieser Grundlage werden Vergleichsmöglichkeiten ausgelotet und konzeptionelle Schwächen beider Ansätze identifiziert (3), um im Anschluss hieran Forschungsperspektiven aufzuzeigen, die sich aus einer grundlegenden Erweiterung des neo-institutionalistischen Ansatzes ergeben (4). Bei der systemtheoretischen Rekonstruktion liegt unseres Erachtens das Kernproblem darin, dass das Verhältnis von Organisation und Gesellschaft - seit den 1970er Jahren bis hin zu Luhmanns posthum veröffentlichtem organisationssoziologischem Hauptwerk „Organisation und Entscheid u n g " (2000) - grundlegend und über die Jahre hinweg auf zweierlei Art behandelt wird: Zum einen werden Organisationen gesellschaftlichen Funktionssystemen mehr oder weniger fest zugeordnet, und es wird angenommen, dass sie die Codes und Programme „ihrer" Funktionssysteme als Leitorientierungen verinnerlichen. Zum anderen wird, in Übereinstimmung mit der Kernidee der Autopoiesis sozialer Systeme, Organisation als eine eigenständige Ebene der Systembildung angesehen, und Bezüge zur gesellschaftlichen Umwelt werden hier weniger stark fokussiert. Die Doppelung der Perspektiven ergibt sich daraus, dass das Verhältnis von Organisation und Gesellschaft im Rahmen der Systemtheorie sowohl von der Gesellschafts- als auch von der Organisationsseite her rekonstruiert werden soll. Es handelt sich um zwei Seiten der systemtheoretischen Medaille, nicht um eine in sich konsistente Perspektive des Verhältnisses von Organisation und Gesellschaft. Im Neo-Institutionalismus werden Organisationen gleichermaßen als Vermittlungsinstanzen und als Adressaten gesellschaftlichen Wandels berücksichtigt, und dem Ansatz ist es gelungen, hieraus ein konsistentes Forschungsprogramm abzuleiten. Wie wir zeigen werden, ist aber auch diese Lösung nicht unproblematisch. Verglichen mit der zuvor herausgearbeiteten Zweigleisigkeit der systemtheoretischen Argumentation handelt es sich um ein reduziertes Programm, das der Selektivität und Eigensinnigkeit organisatorischen Prozessierens gesellschaftlicher Erwartungsstrukturen und den damit verbundenen Rückwirkungen - von vorneherein und durchgehend - zu wenig Aufmerksamkeit entgegenbringt. In konstruktiver Weiterentwicklung dieser Kritik wollen wir deshalb zeigen, dass die systemtheoretische Sichtweise der Eigensinnigkeit von Organisationssystemen in der Lage ist, diese unserer Einschätzung nach zentrale Schwachstelle des Neo-Institutionalismus zu kompensieren.
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Im Anschluss an die Kritik werden wir eine Erweiterung des Neo-Institutionalismus vornehmen, die nicht nur f ü r die Weiterentwicklung dieses Forschungsprogramms, sondern auch für die der Systemtheorie folgenreich ist. Dabei geht es einerseits um systematische Unterschiede zwischen Organisationen, andererseits um aktuelle Fragen des gesellschaftlich begründeten Organisationswandels. Beide Aspekte fügen sich nicht bruchlos in den Rahmen einer weltgesellschaftlichen Modernisierungs- oder Differenzierungstheorie ein. Sie erfordern die stärkere Berücksichtigung vermittelnder Instanzen, die sich gleichsam zwischen die weltgesellschaftliche und die organisatorische Ebene schieben. Hier identifizieren wir vor allem Beratungsorganisationen und staatliche Einrichtungen. In der Systemtheorie werden Struktureffekte dieser Vermittlungsinstanzen stark vernachlässigt, während sie im Neo-Institutionalismus ausschließlich im Hinblick auf die Erzeugung von institutioneller Isomorphie diskutiert werden. Die Perspektiven einer Revision dieser Einseitigkeit werden abschließend am Beispiel einer organisatorischen Innovation, dem Prinzip der „Lean Production" und damit verbundenen Formen des Managements, verdeutlicht und auf das Potential beider Theorien für die Globalisierungsdebatte rückbezogen.
1. Systemtheorie: Gesellschaftsbezug versus Eigensinnigkeit formaler Organisation Die Auseinandersetzung mit Fragen formaler Organisation ist im Wesentlichen durch zwei parallele Zugänge gekennzeichnet: Einerseits werden Organisationen und deren Funktion im Kontext makrosoziologischer Betrachtungen erörtert. Im Vordergrund stehen dabei Bezüge zu Prozessen funktionaler Differenzierung, über die sich die moderne Gesellschaft als Weltgesellschaft konstituiert. Andererseits werden Organisationen als eine eigenständige Ebene der Systembildung betrachtet, wobei Überlegungen zur Autopoiesis organisatorischen Entscheidens unmittelbare Bezüge zur gesellschaftlichen Umwelt in den Hintergrund treten lassen.
1.1 Organisation im Kontext funktionaler Differenzierung
Allgemeine Schwerpunkte der Systemtheorie liegen bekanntlich bei der Beschreibung makrosoziologischer Entwicklungen. Das Erkenntnisinteresse gilt Strukturmerkmalen der modernen Gesellschaft, wobei die Herausbildung von Funktionssystemen
als primäre Differenzierungsform angenommen wird. Die funktional differenzierte Gesellschaft tritt dabei per se als Weltgesellschaft in Erscheinung. Zentrale These ist, dass gesellschaftliche Themen und Probleme auf der Grundlage von selbstbezüglichen und an eigenen Relevanzkriterien orientierten Funktionssystemen abgearbeitet werden. So hat Luhmann in „Ökologische Kommunikation" (1986) argumentiert, dass Umweltthemen jeweils nach Maßgabe spezifischer Codes und Programme der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Politik und so weiter „prozessiert" werden und nur insofern gesellschaftlich folgenreich sind, als sie in diesen Funktionssystemen Irritationen und Resonanzen erzeugen. In Bezug auf theoretische Diskussionen um die Konturen der Weltgesellschaft ist nicht zuletzt auffällig, dass in den Arbeiten Luhmanns eine gesonderte Berücksichtigung des Staates entfällt. Fragen zur Funktion staatlicher Gebilde oder zur territorialen Verfasstheit, wie sie ansonsten fast allen Beiträgen zur Globalisierungs- und Weltgesellschaftsdiskussion zugrunde liegen, sind im Rahmen der Systemtheorie deshalb erst seit den 1990er Jahren aufgegriffen worden (vgl. H a h n 1993, Stichweh 2000). Sie haben die Thematisierung des Verhältnisses von Organisation und Gesellschaft allerdings noch nicht erreicht. Hier werden aktuelle organisationssoziologische Fragen ausschließlich unter Prämissen der funktionalen Differenzierung behandelt (Tacke 2001, Kneer 2001). 1 Darüber hinaus ist in historischen Betrachtungen der neuartige gesellschaftliche Bedarf an Organisationen im Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft betont worden (Luhmann 1981: 361). Da zugleich gesellschaftliche Voraussetzungen wie insbesondere Monetarisierung, Verrechtlichung und Professionalisierung (Schulerziehung und Berufswahl) hervorgehoben werden (ebd.: 360f.), ist dieser Argumentation zufolge ein sich selbst verstärkender Mechanismus in Gang gesetzt worden, durch den Organisations- und Gesellschaftsentwicklung untrennbar miteinander verzahnt worden sind. So heißt es bei Luhmann (ebd.: 359): „ N u r unter besonderen, evolutionsmäßig voraussetzungsvollen und daher späten Bedingungen
1
Anknüpfungspunkte hierfür liefert Luhmann (1987: 41), der Organisationen eine den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien vergleichbare Funktion zuschreibt; vgl. hierzu auch Martens (1997: 287ff.), der mit Bezug auf „Funktionssysteme wie Erziehung und Recht, die kein eigenes Medium besitzen", gar die These aufstellt, dass allein „Organisation für die Spezialisierung und Ausdifferenzierung verantwortlich" gemacht werden kann.
Raimund Hasse und Georg Krücken: Der Stellenwert von Organisationen in Theorien der Weltgesellschaft
wirkt Gesellschaft als ein Milieu, das eine massenhaft-spontane Autokatalyse von Organisationen begünstigt und damit Entwicklungen in Gang setzt, die ihrerseits wiederum nur durch Organisationen fortgeführt und in Betrieb gehalten werden können". In Bezug auf Prozesse funktionaler Differenzierung bedeutet dies: Organisationen haben die Herausbildung eines eigenständigen Systems der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Politik etc. vorangetrieben. So ist von Luhmann selbst, aber auch von Seiten anderer Vertreter der Systemtheorie, etwa die zentrale Rolle der Universität für die Ausdifferenzierung der Wissenschaft (Stichweh 1994, Göbel 2001) oder der Banken für das Wirtschaftssystem (Baecker 1991) hervorgehoben worden. Grundlegend gilt: „Die funktional differenzierte Gesellschaft ist nicht zufälligerweise, sondern zwangsläufig auch ,Organisationsgesellschaft'" (Schimank 1997: 312; siehe auch Schimank 2001: 35, Lieckweg 2001: 269). Aus der Einsicht in die zentrale Bedeutung formaler Organisationen für die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme und deren Reproduktion ist darüber hinaus abgeleitet worden, Organisationen seien Funktionssystemen fest zugeordnet oder gar als deren Teilsysteme zu betrachten (Willke 1994: 146ff., Martens 1997: 288). Angenommen wird dabei, dass Organisationen funktionsspezifische Leitorientierungen wie wissenschaftliche Wahrheitssuche, politische Macht oder ökonomisches Gewinnstreben verinnerlichen und genau hierdurch als wissenschaftliche, politische oder wirtschaftliche Organisationen in Erscheinung treten. 2 In theoretischer Hinsicht ist an der Einbeziehung formaler Organisationen in die Gesellschaftsanalyse bemerkenswert, dass für Organisationen eine externe Kommunikationsfähigkeit angenommen wird. Da intersystemische Kommunikation in der Theorie nicht vorgesehen ist, stellen Organisationen einen Sonderfall sozialer Systeme dar, der zugleich als nach außen kommunizierender Akteur in Erscheinung tritt (so zuletzt Kneer 2001: 419f.). Das heißt in der Sprache der Systemtheorie: Organisationen sind - auch - Adressaten der Zuschreibung von Kommunikationsakten. In dieser Funktion, so die Annahme, können Organisationen mit anderen Organisationen in Beziehung treten und dabei über Funktionsgrenzen hinweg kommunizieren (Lieckweg 2001: 273). 2
Vgl. hierzu Luhmann selbst: „Unbestreitbar bilden sich jedoch (...) die wichtigsten und größten Organisationen innerhalb der Funktionssysteme und übernehmen damit deren Funktionsprimate" (1997: 840f.).
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Man kann man in Anlehnung an Kneer (2001: 418) schlussfolgern, das Ergebnis derartiger Kooperationen sei grundsätzlich entweder eine - zwischenorganisatorische - Organisation (wie im Falle von Verbänden) oder es handele sich um Interaktion (wie im Falle informeller Netzwerke). In jedem Fall schreibt man diesen Konstellationen die Fähigkeit einer Vermittlung zwischen Funktionssystemen zu, als deren Repräsentanten einzelne Organisationen angesehen werden. Die Voraussetzung für Funktionsgrenzen überwindende Kommunikation ist dann lediglich: ausreichende Heterogenität, das heißt Zugehörigkeit der beteiligten Organisationen zu verschiedenen Funktionssystemen, sowie die Fähigkeit, sich mit anderen funktionssystemischen Referenzen auseinanderzusetzen, zum Beispiel sich auf Wissenschaft zu wirtschaftlichen Zwecken oder auf Politik zu anderen als politischen Zwecken einzulassen.3
1.2 Organisation als eigenständige Ebene der Systembiidung
Bislang sind Gesellschaftsbezüge rekonstruiert worden, so wie sie von Seiten der Systemtheorie diskutiert werden. Es wurde gezeigt, dass Organisationen - unter bestimmten Bedingungen - zentrale gesellschaftliche Funktionen übernehmen. Darüber hinaus wurde auf die Tendenz aufmerksam gemacht, Organisationen vor allem über diese Gesellschaftsbezüge zu charakterisieren und Funktionssystemen - mehr oder weniger fest - zuzuordnen. Im Folgenden gilt es aufzuzeigen, dass Organisationen in der Systemtheorie zugleich als eine eigenständige Ebene der Systembildung in Erscheinung treten. Damit lässt sich mit systemtheoretischen Argumenten die bislang referierte Sichtweise als einseitig kritisieren, da hier das spezifische und über die Abbildung gesellschaftlicher Strukturmuster hinausreichende Moment formaler Organisation vernachlässigt wird. Anknüpfungspunkte dafür bieten im engeren Sinne organisationssoziologische Beiträge, die vor allem in Luhmanns Frühwerk dominierten. Anfangs steht dabei eine Kritik an Max Webers Bürokratiemodell 3 Zur Beteiligung von Organisationen an mehreren Funktionssystemen vgl. auch die Charakterisierung von Organisationen als sog. Multireferenten (Wehrsig/Tacke 1992, Lieckweg/Wehrsig 2001, Bora 2001). Dabei ist Multireferenzialität mit der Annahme einer identitatsstiftenden Primärorientierung durchaus vereinbar, sofern im Hinblick auf Bezugnahmen auf Funktionssysteme Gleichzeitigkeit, nicht aber Gleichrangigkeit als möglich erachtet wird.
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2 0 0 5 , S. 1 8 6 - 2 0 4
im Vordergrund, wie sie auch viele andere Beiträge der 1950er und 1960er Jahre kennzeichnet (vgl. zusammenfassend Hasse 2003a: 56ff.). Im Anschluss hieran wird die Auseinandersetzung mit Organisationszwecken zugespitzt. Statt Zwecke als handlungs- und entscheidungsleitende Orientierungen aufzufassen, wird im Sinne der funktionalen Analyse gefragt, welche Funktion Zwecksetzungen für das Gelingen von Organisationsprozessen erfüllen (Luhmann 1973: 55ff.). Luhmanns Sichtweise zeichnet sich also vor allem dadurch aus, dass die jeweilige Organisation, um die es geht, als das soziale System gewählt wird, auf das sich die funktionale Analyse bezieht (siehe auch Luhmann 1964). Andere Bezüge, das heißt die zur gesellschaftlichen Umwelt, treten hierbei ganz bewusst in den Hintergrund. Die generelle Präferenz für organisatorische Funktionsbezüge lässt sich exemplarisch am Kardinalproblem formaler Organisationen (aber vielleicht auch: moderner Gesellschaften generell) ablesen: dem der Produktion überschüssiger Information und damit verbundener Erfordernisse der Absorption von Unsicherheit und Komplexität. Dieses Thema begleitet Luhmann während seines gesamten Schaffens (Luhmann 1964: 174ff., 1973: 325f., 1992: 174ff., 1993: 299ff., 2000: 183ff.). Auffällig ist: Unsicherheit erscheint jeweils als Problem der Organisation. Unsicherheitsabsorption schützt die Organisation vor damit verbundenen Schwierigkeiten - nicht die Gesellschaft oder deren nicht-organisierte Teilbereiche. Im Einklang mit seinen organisationssoziologischen Vorläufern weist Luhmann (1992: 175f.) die Annahme einer über die Ebene der formalen Organisation hinausreichenden Unsicherheitsabsorption sogar explizit zurück. 4 Die Eigenständigkeit formaler Organisation ist in Luhmanns einflussreichem Aufsatz „Interaktion, Organisation, Gesellschaft" (Luhmann 1975) zugespitzt, indem sehr grundsätzlich zwischen den im Titel genannten Referenzebenen unterschieden wird. Insgesamt liegt hier die Annahme einer geradezu hermetischen Abgrenzung formaler Organisation zugrunde, der zufolge es sich bei der Entstehung und Ausbreitung des Systemtyps Organisation „um eine voll eigenständige Entwicklung (handelt, d.V.), die ein neuartiges Prinzip der Grenzziehung und Selbstselektion verkörpert und sich weder auf den Typus Interaktion noch auf den Für den darüber hinausgehenden Versuch, über diesen Begriff zur gesellschaftlichen Funktionsbestimmung formaler Organisationen beizutragen, vgl. Krücken 1 9 9 7 : 208ff.
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Typus Gesellschaft zurückführen läßt" (Luhmann 1975: 12). Zur Betonung der Eigenständigkeit formaler Organisation als Referenzebene, die sich zwischen Interaktion und Gesellschaft schiebt, ist vor allem wichtig, dass hier und im Gegensatz zur oben referierten Sichtweise keine Funktionsbestimmung formaler Organisationen in Bezug auf gesamtgesellschaftliche Aspekte vorgenommen wird (siehe auch Kneer 2001: 408). Stattdessen wird betont, dass „keine der zentralen Funktionen des Gesellschaftssystems voll und ganz auf ein einheitliches Organisationssystem übertragen werden kann" (Luhmann 1975: 15). Gegen eine feste Zuordnung bestimmter Organisationstypen zu gesellschaftlichen Funktionssystemen spricht zudem, dass angenommen wird, gesellschaftliche Funktionen könnten auf der Ebene formaler Organisation nicht reflektiert werden (Luhmann 1975: 16). Und schließlich wird für Organisationen der rasche Wechsel ihrer funktionssystemischen Referenzen angenommen, etwa vom Erziehungs- zum politischen System (Luhmann 1975: 19). Damit ist die Anbindung organisatorischer Identität an Programmstrukturen und Codes einzelner Funktionssysteme (Schimank 1997: 314, Tacke 1999: 70f., Lieckweg 2001: 273) stark relativiert. Stattdessen entsteht ein Bild, dem zufolge der Kernbereich einer Organisation ebenso durch Entscheidungen zur Disposition gestellt werden kann wie andere Organisationsmerkmale auch. 5 Für die Entwicklung einer eigenständigen systemtheoretischen Organisationssoziologie ist die Annahme einer organisationsinternen Verknüpfung von Entscheidungen mit vorausgegangenen - eigenen - Entscheidungen zentral. Es ist dieser Aspekt, der in späteren Beiträgen systematisch ausgearbeitet wird, indem Luhmann das Konzept der Autopoiesis auf Organisationen bezieht und Entscheidungen als basale Elemente von Organisationen bestimmt. Organisationen gelten , demnach als selbstreferentielle „Systeme, die aus Entscheidungen bestehen und die Entscheidungen, aus denen sie bestehen, durch Entscheidungen, aus denen sie bestehen, selbst anfertigen" (Luhmann 1988: 166). Von hier aus gelangt Luhmann zu einer sehr allgemeinen Definition von Organisationen, die im Wesentlichen auf an Bedingungen geknüpfte Mitgliedschaft und damit verbundene Personalselektion und Rollendefinition bezogen ist (Luhmann 1988: 171). In „Organisation und Entscheidung" wird dieses Theoriedesign ausbuchstabiert - das Vgl. vertiefend hierzu die Überlegungen zu einem Wandel von Organisationen bei Hasse/Japp 1 9 9 7 . 5
Raimund Hasse und Georg Krücken: Der Stellenwert von Organisationen in Theorien der Weltgesellschaft zentrale Kapitel zu „Organisation als autopoietisches System" entwirft ein Bild formaler Organisation, das diese als vollends selbstbezügliches und sich an eigenen Entscheidungen abarbeitendes Sozialsystem konzipiert (Luhmann 2000: 39ff.). Zusammenfassend betrachtet, steht mit Luhmanns Theorie sozialer Systeme eine Gesellschaftstheorie zur Verfügung, bei der Fragen der formalen Organisation im Allgemeinen und Aspekte des Zusammenspiels von Organisation und Gesellschaft im Besonderen breiten Raum einnehmen. Dabei kann man zwischen zwei Herangehensweisen unterscheiden: Zum einen wird die enge Beziehung zwischen Gesellschaftsentwicklung und formaler Organisation hervorgehoben. In Anlehnung an die Theorie funktionaler Differenzierung rücken dabei Einflüsse von Organisationen auf einzelne Funktionssysteme wie Wirtschaft, Wissenschaft und Politik ins Blickfeld der Analyse. Organisationen erscheinen als Voraussetzung für die Ausdifferenzierung dieser Systeme, und teilweise werden sie den gesellschaftlichen Funktionssystemen sogar fest zugeordnet. Wirtschaftsunternehmen gelten dann als Teil des Wirtschaftssystems, Parteien als Teil der Politik und so weiter. Hinzu kommt, dass im Falle von Organisationen die Möglichkeit externer Kommunikation angenommen wird. Organisationen interagieren demnach mit anderen Organisationen und leisten dem Modell zufolge wichtige Vermittlungsarbeit zwischen und innerhalb von Funktionssystemen. Zum anderen werden Organisationen als eine eigenständige Referenzebene der modernen Gesellschaft fokussiert. Das geschieht anfangs vor allem durch die Hervorhebung der Funktion einzelner Charakteristika formaler Organisation für die jeweilige Organisation selbst. Später wird diese Perspektive zugespitzt, indem Organisationen als entscheidungsbasierte autopoietische Systeme konzipiert werden. Dabei dominiert eine Perspektive, die eine lediglich lose Beziehung zwischen Organisation und Gesellschaft unterstellt.
2. Neo-Institutionalismus: Organisationsanalyse und „world polity" Während der Status der Systemtheorie Luhmanns als umfassende Gesellschaftsanalyse unumstritten ist, wurde der Neo-Institutionalismus bislang weitgehend als Organisationssoziologie rezipiert.6 So ist der 1977 von John Meyer und Brian Rowan verfasste Beitrag zur Theorie der Organisation einer der am häufigsten zitierten Artikel des „American Journal of So6
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Gleichwohl sind die in diesem Kontext entwickelten Organisationsanalysen in einen Bezugsrahmen eingebettet, der weit über das Feld formaler Organisationen hinausreicht (Türk 1997, Hasse/Krücken 1999). Nach neo-institutionalistischer Auffassung beeinflussen Organisationen gesellschaftliche Prozesse zwar maßgeblich, eine hinreichende Erklärung zur Entwicklungsdynamik der modernen Gesellschaft stellen sie jedoch nicht dar. Damit widerspricht der Neo-Institutionalismus prominenten Organisationssoziologen, die das Verhältnis von Organisation und Gesellschaft von der Organisationsseite her rekonstruieren. So gehen für den NeoInstitutionalismus anders als in radikalen organisationssoziologischen Deutungen - wie zuletzt und mit besonderem Nachdruck von Perrow (2002) vertreten - die Impulse für gesellschaftliche Entwicklung nicht ursächlich von Organisationen aus. Organisationseffekte werden stattdessen grundsätzlich über gesellschaftliche Umwelten erklärt, in die Organisationen eingebettet sind. So heißt es bereits sehr früh, „organizations tend to disappear as distinct and bounded units" (Meyer/Rowan 1977: 346). Als Grund hierfür werden allgemeine gesellschaftliche Normen und Werte angeführt, denen sich Organisationen nicht verschließen können. Ein differenziertes Verständnis von gesellschaftlichen Umwelten sowie ihrer Einflussmechanismen auf formale Organisationen entwickeln DiMaggio/ Powell (1983). Ihnen zufolge werden Erwartungen der gesellschaftlichen Umwelt über organisationale Felder vermittelt, von denen anzunehmen ist, dass sie die Vorgaben der gesellschaftlichen Umwelt selektiv aufnehmen und auf spezifische Art weitergeben. Dazu zählen erstens staatliche Regulierungsinstanzen, die Organisationen mit Gesetzen und Auflagen konfrontieren. Regulative Auflagen von Seiten des Staates können im Extremfall mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden, und Organisationen haben in vielen Fällen keine realistische Alternative zur Befolgung dieser Vorgaben. Die Folge ist, dass Organisationen, die mit gleichartigen ciology"; er gilt als Startpunkt der neo-institutionalistischen Organisationsforschung. Diese Gleichsetzung von Neo-Institutionalismus und Organisationsanalyse spiegelt sich darüber hinaus in dem einflussreichen Sammelband von Walter Powell und Paul DiMaggio wider, in dem 1991 unter Berücksichtigung klassischer Studien und neuerer empirischer Arbeiten eine Kanonisierung des Feldes der neo-institutionalistischen Organisationsforschung angestrebt wurde. Seit dem Erfolg von Powell/DiMaggio (1991) gilt der Neo-Institutionalismus auch hierzulande als viel versprechender Ansatz zur soziologischen Organisationsanalyse; grundlegend Walgenbach 1 9 9 5 , 2 0 0 2 .
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Regulierungsvorschriften konfrontiert sind, sich solcherart durch Zwang angleichen. Zweitens sind Standards und Verfahren zu berücksichtigen, die von Professionen verinnerlicht und weitergegeben werden. Beispielsweise adressieren Wissenschaftler, Mediziner, Manager, Consultants oder Wirtschaftsprüfer Erwartungen an Organisationen, wie eine gute Forschungseinrichtung, ein modernes Krankenhaus oder ein erfolgreiches Wirtschaftsunternehmen zu gestalten und zu managen sind. Nicht-Befolgung wäre in diesen Fällen zwar gesetzlich erlaubt, sie würde eine Organisation aber diskreditieren und unter besonderen Rechtfertigungsdruck setzen. Die Befolgung dieser von Professionen verbreiteten normativen Regeln ist deshalb nahe gelegt. Drittens haben Strukturen und Strategien besonders erfolgreicher Organisationen, mit denen man Austauschbeziehungen unterhält oder die als Peers und Konkurrenten in Erscheinung treten, einen starken Einfluss. Mimese, das heißt die Übernahme andernorts bewährter Prinzipien, ist vor allem strategisch begründet. Sie bietet sich zur Orientierung in unübersichtlichen Situationen an und führt dazu, dass gleichartige Organisationen sich aneinander oder an Trendsettern orientieren (Fligstein 1 9 9 6 ) . Die drei genannten Vermittlungsinstanzen zwischen Organisation und Gesellschaft - staatlicher Zwang, normativer Druck und Mimese - begründen allesamt Angleichungen, die von DiMaggio/Powell ( 1 9 8 3 ) als Isomorphie bezeichnet werden. Die hierin zum Ausdruck kommende Vorstellung ist die einer Kanalisierung gesellschaftlicher Erwartungsstrukturen. Hierbei handelt es sich jedoch um Angleichungen innerhalb eines gegebenen organisationalen Feldes. Diese Felder stellen analytische Konstrukte dar, denen Organisationen angehören, in denen dieselben Regulierungsvorgaben, Professionsideale und Trendsetter vorherrschen. M i t dieser Ausrichtung wird der Fokus der Organisationssoziologie zwar erweitert, indem äußere Instanzen als organisationsprägend berücksichtigt werden. Allerdings werden hier gesellschaftliche Umwelten ausschließlich aus der Organisationsperspektive heraus rekonstruiert. Eine eigenständige Konzeptualisierung des Verhältnisses von Organisation und Gesellschaft, die beiden Ebenen gleichermaßen gerecht wird, leistet das Konzept der organisationalen Felder hingegen nicht. Ein derartiger Versuch von Seiten des Neo-Institutionalismus wird ausschließlich im Rahmen der „world polity"-Forschung unternommen. In dem von J o h n Meyer, seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vertretenen „world polity"-Ansatz wird gesellschaftliche Entwicklung als umfas-
sender Rationalisierungsprozess verstanden. 7 Das Forschungsprogramm der „world polity" geht deutlich über die Analyse globaler politisch-institutioneller Faktoren hinaus. Eine Konzentration auf diese Faktoren läge nahe, wenn man den politikwissenschaftlichen „policy"-Begriff, der die institutionelle Dimension der Politik bezeichnet, zugrunde legte. Die „world polity" ist jedoch vielmehr eine überindividuelle Vorstellungswelt, die sich als „broad cultural Order with explicit origins in western society" (Meyer 1 9 8 7 : 4 1 ) verstehen lässt. Der in Meyers Forschungsprogramm breit gefasste Begriff der „world polity" ist im Deutschen folglich am ehesten mit „Weltkultur" oder „Weltgesellschaft" zu übersetzen. Diese hinter dem Rücken der Akteure wirksame Vorstellungswelt beinhaltet Prinzipien, die bereits in M a x Webers Studien zur okzidentalen Rationalisierung herausgestellt wurden. Vor allem geht es dabei um Fortschrittsglauben und die Durchsetzung zweckrationalen Handelns in sämtlichen Gesellschaftsbereichen (vgl. Meyer et al. 1 9 9 4 ) . Darüber hinaus spielen aber auch kulturelle Orientierungsmuster wie universalistische Fairnessund Gerechtigkeitsnormen, freiwillige und selbstorganisierte Handlungsfähigkeit sowie Weltbürgertum eine wichtige Rolle (vgl. Meyer/Jepperson 2 0 0 0 ) . In der Verbindung dieser Orientierungsmuster mit dem, was unter dem Stichwort der „okzidentalen Rationalisierung" gefasst wird, liegt der kulturelle Kern der „world polity". Gesellschaft, verstanden als umfassendes Sozialsystem, beschränkt sich jedoch nicht auf kulturelle Orientierungsmuster. Wenngleich diese den Ausgangs- und Bezugspunkt der Analyse bilden, werden im Rahmen des „world polity"-Ansatzes hierzu komplementäre Strukturformen untersucht. Dem Ansatz zufolge werden im weltgesellschaftlichen Rationalisierungsprozess drei Strukturformen geprägt, die als gesellschaftliche Akteure in Erscheinung treten: Staaten, Organisationen und Individuen. 8 Sie gewinnen im Rationalisierungsprozess an
Z u r theoriehistorischen Herleitung vgl. Hasse ( 2 0 0 3 a : 36ff.), der diesen Ansatz als nicht-funktionalistische Weiterentwicklung der Modernisierungstheorie behandelt, sowie Krücken ( 2 0 0 5 ) , der ihn als makro- und kultursoziologischen Beitrag zur Globalisierungsforschung diskutiert. 7
8 Die Trias „Staat", „Organisation", „Individuum" (letztere werden im Folgenden nicht behandelt, da sie für unsere Argumentation keine Rolle spielen) mag aus einer systemtheoretischen Perspektive wie eine unterkomplexe Version von Luhmanns Systembildungsebenen „Gesellschaft", „Organisation", „Interaktion" erscheinen. Das wäre jedoch ein Missverständnis, da in der Theoriearchitektur des „world polity " A n s a t z e s die „world polity"
Raimund Hasse und Georg Krücken: Der Stellenwert von Organisationen in Theorien der Weltgesellschaft Bedeutung und schwächen damit den prägenden Einfluss anderer, traditionaler gesellschaftlicher Handlungsträger (Gruppen, Familien, Clans etc.). Sie vollziehen Gesellschaft, die als „world p o l i t y " diesen Handlungsträgern einen allgemeinen kulturellen R a h m e n bereitstellt, in dem sie selbst erst ermöglicht werden. Als Verkörperung weltweit wirksamer „world polity"-Prinzipien avanciert der Staat nicht nur zur zunehmend alternativlosen F o r m der Organisierung politischer Prozesse, sondern er dehnt sich auch in immer weitere Bereiche aus (Bildung, Gesundheit, wirtschaftliche Entwicklung etc.). Schon frühe vergleichende Arbeiten k o m m e n zu dem Ergebnis: „States tend to e x p a n d their power and authority within society in all types o f countries through the modern p e r i o d " ( M e y e r / H a n n a n 1 9 7 9 : 1 4 ) . Dieses Ergebnis wird in neueren Studien bestätigt (vgl. D r o r i et al. 2 0 0 3 , M e y e r 2 0 0 4 ) . Es würde jedoch zu kurz greifen, die Vervielfältigung und Ausdehnung staatlicher Akteure mit ihrer Autonomisierung ineins zu setzen. Im Gegenteil: D e r moderne Staat ist weit reichenden Verhaltensstandardisierungen durch die „world polity" unterworfen. Erst indem Staaten sich als „scripted" verhalten, das heißt, dem externen D r e h b u c h der „world polity" entsprechend agieren, werden sie als Akteure gesellschaftlich anerkannt. Die zunehmende Strukturierung des Staates durch die „world polity" führt zu einem Verlust an nationaler Autonomie und Eigenständigkeit. Im Unterschied zur Analyse organisationaler Felder (DiMaggio/Powell 1 9 8 3 ) wird der Staat hier also nicht in seiner verhaltensprägenden Kraft gesehen, sondern vielmehr als durch (welt-)gesellschaftliche Einflüsse selbst vielfältig geprägt. Auch hinsichtlich des Verhältnisses von Organisation und Gesellschaft liegt eine kulturtheoretische Perspektive zugrunde, der zufolge Organisationen selbst Resultat, Träger und Verstärker von gesellschaftlichen Rationalisierungsprozessen sind. Die enge Verknüpfung gesellschaftlicher und organisatorischer Prozesse wird als weltweit diffundierendes Projekt verstanden (vgl. D o b b i n 1 9 9 4 ) . In der k o n kreten Forschung werden Organisationen entweder als Vermittlungsinstanzen oder als Adressaten der „world p o l i t y " untersucht. D a b e i kann es um die Ausbreitung technischer Standards, um Schutzrechte oder um Schulcurricula gehen. D e r Z u s a m m e n -
selbst als übergreifendes kulturelles Bezugssystem diesen drei Strukturformen vorausgeht und diese als Akteure kreiert, während Gesellschaftlichkeit sich bei Luhmann auf die genannten Systembildungsebenen beschränkt, ohne eine dahinter liegende Strukturierungsinstanz anzunehmen.
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hang zwischen Organisation und Gesellschaft zeigt sich vor allem in der Korrelation zwischen der Ausbreitung von formalen Organisationen und der Übernahme der thematisierten Kulturmuster in einzelnen Ländern. Es geht, mit anderen Worten, immer um die organisationsvermittelte Übernahme andernorts generierter Prinzipien und dadurch ausgelöster Prozesse sozialen Wandels. Internationale Organisationen spielen eine herausragende Rolle in der weltweiten Diffusion von „world polity"-Prinzipien, und insbesondere sog. Internationalen Nicht-Regierungsorganisationen ( I N R O s ) - von Greenpeace bis zu internationalen Professionsgemeinschaften - wird ein enormer Einfluss auf staatliche Politik zugeschrieben. B o l i / T h o m a s ( 1 9 9 9 ) haben in einem S a m m e l b a n d verschiedene Studien zusammengefasst, in denen das zahlenmäßige W a c h s t u m von I N R O s und seine strukturellen Folgen für die nationalstaatliche Politik untersucht wird (für einen Überblick vgl. auch B o l i / T h o m a s 1 9 9 7 ) . Im Ergebnis zeigt sich, dass im untersuchten Z e i t r a u m , das heißt von 1 8 7 5 bis 1 9 9 4 , ein deutliches quantitatives Wachstum von I N R O s zu beobachten ist. Dies gilt vor allem nach 1 9 4 5 , dem J a h r der Gründung der Vereinten N a t i o nen ( U N ) . Die U N selbst wird als zentrale Verkörperung von „world polity"-Prinzipien angesehen. In ihrem Gefolge entstanden zahlreiche I N R O s , die an der Peripherie des UN-Systems angesiedelt sind. D o c h die Studien gehen über das Ergebnis eines quantitativen Wachstums hinaus. Für ganz unterschiedliche Bereiche wie Geburtenkontrolle, technische N o r m u n g , Bildung, Umweltschutz und M e n schenrechte wird gezeigt, dass I N R O s einen erheblichen Einfluss auf die staatliche Politik ausgeübt haben. I N R O s verfügen jedoch weder über formale demokratische Legitimation noch über die M ö g l i c h k e i t , rechtlich bindende Entscheidungen durchzusetzen. Z u d e m sind sie vielfach nur mit geringen materiellen Ressourcen ausgestattet. Die Frage, wie es unter diesen Bedingungen trotzdem gelingen konnte, staatliche Politik zu beeinflussen, wird damit erklärt, dass sie als Agenten der „world polity" auftreten. Sie symbolisieren den kulturellen Kern der „world polity" und treten als Träger ihrer Prinzipien (Fortschrittsorientierung, Z w e c k r a t i o n a lität, universalistische Fairness- und Gerechtigkeitsn o r m e n , freiwillige und selbstorganisierte H a n d lungsfähigkeit, Weltbürgertum) auf. Aufgrund dessen sind I N R O s zentrale Instanzen der Legitimierung der Politik in den Staaten, die sich zunehmend den Wertorientierungen der „world p o l i t y " verpflichten. Sie sind zugleich wichtige Instanzen der De-Legitimierung, wenn m a n an die nicht nur in Deutschland gefürchtete Kritik von amnesty international denkt.
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Formale Organisationen werden aber nicht nur als Absender sozialen Wandels berücksichtigt; sie gelten zugleich auch als Adressaten der „world polity". Das heißt, Organisationen sind selbst dem Druck ausgesetzt, sich entsprechend der Vorgaben der „world polity" zu verändern. Dazu zählt vor allem die Inkorporierung von Maßnahmen, denen Rationalisierungseffekte zugeschrieben werden was vor allem eine Frage vorherrschender Glaubensvorstellungen und Grundüberzeugungen, weniger eine der tatsächlich erzielten oder erzielbaren Resultate ist. Ebenfalls ist nahe gelegt, gesellschaftliche und rechtliche Normen (zum Beispiel Frauengleichstellung) und ethische Maßstäbe (zum Beispiel Sustainable Development) zu berücksichtigen, um nicht mit Sanktionen oder nachteiliger Kritik konfrontiert zu werden. Die Gemeinsamkeit dieser Vorgaben ist es, dass sie gesellschaftlich anerkannt sind. Deshalb werden sie in der Formalstruktur moderner Organisationen abgebildet und demonstrativ zur Schau gestellt. So etablieren Organisationen entsprechende Stellen und Stäbe, oder sie veranstalten eine rituelle Inszenierung der Verwendung anerkannter Verfahren (zum Beispiel Total Quality Management oder Kosten-Nutzen-Kalkulationen). Weil in vielen Fällen aufgezeigt worden ist, dass die Berücksichtigung solcher Vorgaben weder zwangsläufig die Effizienz und Effektivität einer Organisation beeinflusst noch auf Funktionserfordernisse zurückgeführt werden kann, wird Rationalität als Mythos der „world polity" betrachtet (Meyer/Scott 1983). Wenn vorherrschende Strukturmerkmale und eingesetzte Verfahren nicht funktional begründet sind und Beziehungen zu verbesserter Effizienz und Effektivität schwach bleiben, so stellt sich die Frage, warum befolgen formale Organisationen diese Vorgaben? Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage lautet, analog zur Erklärung der Anpassung von Staaten an die Vorstellungen von INROs: Legitimität 9 . Die demonstrativ zur Schau gestellte Überein9
Vor allem am Beispiel der demokratisch nicht legitimierten I N R O s wird deutlich, dass der Legitimitätsbegriff im Neo-Institutionalismus sehr offen als gesellschaftliche „taken-for-grantedness" aufgrund der Orientierung an und Vermittlung von „world polity"-Prinzipien zu verstehen ist. Hier besteht ein grundlegender Unterschied zum Legitimitätsbegriff in Webers Herrschaftssoziologie, ebenso wie zur hieran anschließenden Weiterentwicklung in H a bermas' Politik- und Rechtstheorie; selbst eine zumindest rein formale Qualifizierung wie in Luhmanns Verfahrenstheorie entfällt. Damit rückt der neo-institutionalistische Legitimitätsbegriff in die N ä h e eines normativ entschlackten Begriffs von „Zivilreligion", indem für Staaten, Orga-
stimmung mit gesellschaftlichen Erwartungen schützt vor Kritik und Rechtfertigungsnotwendigkeiten, denen insbesondere Organisationen - und auch hier drängt sich eine Parallele zu staatlichen Instanzen auf - als vermeintlich ineffiziente, herrschaftsorientierte und innovationsfeindliche Einrichtungen ausgesetzt sind. Legitimität ist in diesem Zusammenhang also ein wichtiges Zwischenziel, ein Instrument, das die Überlebensfähigkeit jeder Organisation sichern hilft. Dabei ist wichtig hervorzuheben, dass vor allem anfängliche Beiträge eine lediglich symbolische Berücksichtigung gesellschaftlicher Erwartungen unterstellt haben. So haben Meyer/Rowan argumentiert, dass die Auswirkungen konformitätsorientierter Formalstrukturen auf die Aktivitäten im operativen Kernbereich einer gegebenen Organisation schwach sind. 10 Sie behaupten: „The formal structures of many organizations (...) dramatically reflect the myth of their institutional environment instead of their work activities" (1977: 341). Angenommen wird, dass Organisationen zur Konformität mit gesellschaftlichen Erwartungsstrukturen und vorherrschenden Grundüberzeugungen verpflichtet sind, um nicht mit Legitimitätsentzug bestraft zu werden. Die Folge ist eine Angleichung von Organisationen - zumindest hinsichtlich ihrer Formalstruktur. Fasst man die neo-institutionalistischen Arbeiten von Meyer und anderen hinsichtlich des Verhältnisses von Gesellschaftsstruktur und Organisationsanalyse zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: Ausgangspunkt der Analyse sind grundlegende gesellschaftliche Wertorientierungen, denen sich die Entstehung und Ausbreitung der Strukturform „Organisation" verdankt. Die den Organisationen vorgeschalteten Orientierungen werden unter dem Begriffsdach „world polity" konzeptionell gebündelt. nisationen und Individuen als gesellschaftliche Akteure die wechselseitige Unterstellung konsensuell geteilter Wertvorstellungen betont wird, deren quasi-religiöse Geltung sich der reflexiven Überprüfung entzieht. Aus neo-institutionalistischer Sicht ist zu vermuten, dass „gesatzte O r d n u n g e n " und hieraus abgeleitetes „Anweisungsrecht", so die berühmten Formulierungen in Webers Definition rational-legitimer Herrschaft ( f 9 7 2 : 124), gegenüber der unhinterfragten „taken-for-grantedness" ein Übermaß an Sichtbarkeit, Zurechenbarkeit und Konfliktträchtigkeit erzeugen würden. 10 Die Annahme, dass Organisationen sich rituell und symbolisch an gesellschaftliche Umwelterwartungen auf der formalstrukturellen Ebene anpassen, während die tatsächlichen Aktivitäten hiervon weitgehend unberührt bleiben, ist ersichtlicher Weise an Erving Goffmans (1969) interaktionssoziologische Unterscheidung zwischen der Vorder- und der Hinterbühne des Sozialen angelehnt.
Raimund Hasse und Georg Krücken: Der Stellenwert von Organisationen in Theorien der Weltgesellschaft Die Ursprünge der „world polity" liegen in der kulturellen Ordnung der westlichen Gesellschaft, und Organisationen sind das Produkt ihrer weltweiten Ausdehnung. Die besondere Bedeutung von Organisationen für den neo-institutionalistischen „world polity"-Ansatz zeigt sich daran, dass ihnen theoretisch-konzeptionell eine Doppelrolle zugedacht wird. Sie fungieren einerseits als Vermittlungsinstanzen zwischen der Vorstellungswelt der „world polity" und den gesellschaftlichen Handlungsträgern. Andererseits sind Organisationen eine Strukturform, die als gesellschaftlich zentraler Handlungsträger im unabgeschlossenen weltgesellschaftlichen Rationalisierungsprozess entstanden ist. Als Vermittlungsinstanz disponieren sie über die zentrale gesellschaftliche Ressource, nämlich Legitimität, und als Handlungsträger sind sie in erheblichem M a ß e von ihrer Zuweisung abhängig. Diese Argumentation erlaubt es, weltgesellschaftliche und organisatorische Entwicklungen aufeinander zu beziehen. Dennoch lässt auch diese Verknüpfung von Makrosoziologie und Organisationssoziologie Raum für kritische Fragen, die vor allem in der Auseinandersetzung mit der Systemtheorie zugespitzt werden können.
3. Vergleichsmöglichkeiten und Kritik Die Diskussion der beiden Ansätze hat wichtige Parallelen zwischen Neo-Institutionalismus und Systemtheorie hervorgebracht: Beiden Ansätzen liegt eine makrosoziologische Perspektive zugrunde, in der die moderne Gesellschaft als Weltgesellschaft postuliert wird, und jeweils gilt die Ausbreitung formaler Organisationen als integraler Bestandteil der gesellschaftlichen Entwicklung. Vor dem Hintergrund dieser Parallelen ist es nahe liegend, Möglichkeiten eines allgemeinen Theorievergleichs oder gar der Zusammenführung beider Ansätze auszuloten. Allerdings werden diese Möglichkeiten durch die Unterschiedlichkeit zugrunde liegender Ansprüche und Qualitätskriterien stark begrenzt. Für die Systemtheorie gilt vor allem das Ziel der Entwicklung einer konsistenten Theorie der Gesellschaft, bei der Differenzierungen zwischen verschiedenen Ebenen, allgemeine sozialtheoretische Positionen und erkenntnistheoretische Reflexion im Spannungsfeld von Wissenschaft und Gesellschaft im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Demgegenüber zielt der neo-institutionalistische Ansatz auf die systematische Abarbeitung eines Forschungsprogramms, bei dem der Verzicht auf die kontinuierliche Arbeit an den begrifflichen Grundlagen sowie deren erkennt-
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nistheoretische Reflexion bereitwillig eingestanden wird. 1 1 Pointiert könnte man behaupten: Die einen sorgen sich nicht um einen angemessenen Gesellschaftsbegriff, bei den anderen ist die Entwicklung eigenständiger empirischer Forschungsdesigns nur von untergeordneter Bedeutung. 1 2 Aufgrund dieser Differenzen sind die Möglichkeiten der theoretisch-konzeptionellen Integration beider Ansätze begrenzt. Insbesondere erscheint es uns nicht möglich, dem Neo-Institutionalismus eine differenzierungstheoretische Makroperspektive überzustülpen. Die gesellschaftstheoretische Frage nach übergeordneten Strukturprinzipien der modernen Gesellschaft wird schließlich auch im Neo-Institutionalismus gestellt, sie wird allerdings anders als von Seiten der Systemtheorie beantwortet. Im Hinblick auf das Verhältnis von Gesellschaftsstruktur und Organisationsanalyse werden Prozesse der Organisationsbildung und -entwicklung entweder mit funktionaler Differenzierung oder mit dem „world polity"-Script der kulturellen Rationalisierung in Beziehung gesetzt. Während Luhmann die Gesellschaft über die Differenz eigenlogisch operierender Funktionssysteme bestimmt, wird auf neo-institutionalistischer Seite Gesellschaft als umfassender und systemübergreifender Rationalisierungsprozess verstanden, dem ein einheitlicher Komplex kultureller Wert- und Deutungsmuster zugrunde liegt. 13 11 Zur These, dass diese Ausrichtung des Neo-Institutionalismus seiner Verortung im Diskurssystem der amerikanischen Soziologie und den dort vorherrschenden Selbstverständnissen geschuldet ist, in denen umfassende gesellschaftstheoretische Überlegungen, die auf Begriffsarbeit und Erkenntnistheorie basieren, als für die Entwicklung der Disziplin wenig relevante „Meta-Theorie" gelten, ausführlicher Krücken 2002. 12 Kritisch zu Letzterem Schimank (2003: 51), der für die systemtheoretische Organisationssoziologie bemängelt, dass „parasitär auf akteurtheoretisch angeleitete Untersuchungen" zurückgegriffen wird, während „nicht auch schon akteurtheoretisch angedachte Forschungsfragen" fehlen. 13 Bei Klassikern der Soziologie, insbesondere bei Max Weber, wurden beide Aspekte noch als sich wechselseitig bedingend im Rahmen einer Theorie behandelt. Die Differenzierung der modernen Gesellschaft in unterschiedliche „Wertsphären" wird hier als Folge der umfassenden „okzidentalen Rationalisierung" gedacht, aus der weitere Rationalisierungsschübe resultieren; vgl. Schimank 1996: 53ff., sowie Tyrell 1998 zum Zusammenhang von Differenzierung und Integration. Auch wenn wir die Möglichkeiten einer theoretischen Synthese von Kultur- und Differenzierungstheorie skeptisch einschätzen, so fällt doch auf, dass es innerhalb der Systemtheorie Versuche gibt, Kultur über den Status einer systemspezifischen Semantik hinaus zu behandeln; vgl. Baecker 2001. Und ebenso gibt es in den makro-
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Aussichtsreicher als der Versuch einer umfassenden Theoriesynthese ist es deshalb, die beiden Ansätze im Hinblick auf ausgewählte Problemstellungen miteinander in Beziehung zu setzen und durch diese Brechung thematisch fokussierte Irritationen in den beiden Programmen zu erzeugen, die jeweils Anregungen für weitere Forschungen zum Thema „Organisation und Gesellschaft" liefern können. Grundlage hierfür sind konzeptionelle Schwächen, die wir sowohl in der Systemtheorie als auch im Neo-Institutionalismus ausmachen. Im Rahmen der Systemtheorie haben wir im Hinblick auf das Verhältnis von Organisation und Gesellschaft zwei Zugänge identifiziert, je nachdem, ob man dieses Verhältnis gesellschaftstheoretisch oder organisationssoziologisch bestimmt. Hinsichtlich der in diesem Beitrag zentralen Frage nach der Verknüpfung von Gesellschafts- und Organisationsanalyse ist der erstgenannte Zugang folgenreicher. Allerdings ist die Zuordnung von Organisationen zu gesellschaftlichen Funktionssystemen nicht unproblematisch, da sie eine nicht zur Disposition stehende Ausgerichtetheit von Organisationen auf vorgegebene Zwecke suggeriert (so explizit: Luhmann 2000: 406). Einer derartigen Typisierung von Organisationen stehen Einsichten der Organisationsforschung entgegen, zu deren Durchsetzung Luhmann selbst (insbesondere Luhmann 1973) mit dem Nachweis der Nicht-Instruktivität organisatorischer Zielvorgaben für organisatorische Entscheidungsprozesse maßgeblich beigetragen hat. Des Weiteren vernachlässigt die Zuordnung von Organisationen zu Funktionssystemen die organisatorische Diversität innerhalb von Funktionssystemen, die schon deshalb erforderlich ist, weil aus systemtheoretischer Sicht kein Funktionssystem als Einheit organisiert werden kann. 1 4 Und schließlich lässt diese Zuordnung unberücksichtigt, dass zahlreiche Organisationen (wie zum Beispiel Vereine) keinerlei und wichtige andere Organisationen (wie zum Beispiel Universitäten durch ihre Ausrichtung auf Erziehung und Wissenschaft) zugleich mehrere Funktionsbezüge als Leitorientierung verinnerlichen. soziologischen Überlegungen zum Neo-Institutionalismus differenzierungstheoretische Überlegungen, denen zufolge Gesellschaft als „potentially contradictory interinstitutional system" (Friedland/Alford 1991: 240) verstanden wird. 14 Vgl. hierzu: „Es gibt also in einem Funktionssystem stets eine Vielzahl von Organisationen (Parteien und Bürokratien in der Politik, Produktions- Handels- oder Dienstleistungsunternehmen in der Wirtschaft (...) usw)." (Luhmann 1987: 45). Z u r Diversität von Organisationen einzelner Funktionssysteme siehe auch Schim a n k 1997: 314.
Folgt man diesen vier Argumenten, dann bietet gesellschaftliche Differenzierung keine sehr genauen Anhaltspunkte für eine Typisierung unterschiedlicher Organisationsarten (siehe auch Bode/Brose 2001). 15 Im Neo-Institutionalismus werden Organisationen demgegenüber auf den ersten Blick als so bedeutsam für die gesellschaftliche Entwicklung eingeschätzt, dass dieser Ansatz im Kontext makrosoziologischer Themenstellungen vornehmlich als Beitrag zu einer an Bezügen zur gesellschaftlichen Umwelt interessierten Organisationssoziologie diskutiert wird. Auffällig ist zugleich die Dominanz des Themas „Weltgesellschaft", in dessen Rahmen vor allem die Ausbreitung globaler Standards behandelt wird. Unterschieden etwa zwischen wirtschaftlichen und politischen Organisationen kommt hier nur noch ein residualer Stellenwert zu. Im Vordergrund steht eine „top down "-Perspektive, der zufolge Organisationen gesellschaftliche Vorgaben im Prinzip gleichartig und nicht abhängig von verinnerlichten Zwecken oder differenten gesellschaftlichen Funktionen aufnehmen. Wenngleich etwas differenzierter, werden auch im neo-institutionalistischen Konzept der organisationalen Felder vor allem Prozesse der Umweltanpassung und Strukturangleichung betont. Die hier zugrunde liegende bewusste Beschränkung auf mesosoziologische Variablen bietet zwar den Vorteil, Fragen der Übersetzung weltgesellschaftlicher Erwartungen genauer adressieren zu können. Dennoch werden auch hier Selektivität und Eigensinnigkeit des organisatorischen Prozessierens von Umwelterwartungen unterschätzt. Der neo-institutionalistische Verweis auf „lose Kopplung" an dieser Stelle bleibt unbefriedigend, da er das selektive und aktive Moment der Erwartung, Aktualisierung und Prozessierung gesellschaftlicher Vorgaben durch Organisationen ausblendet. Ohnmächtige Anpassung oder die unter dem Stichwort „lose Kopplung" gefassten Widerständigkeiten gegenüber gesellschaftlichen Umwelterwartungen erscheinen in der Organisationsanalyse des Neo-Institutionalismus deshalb als die einzigen Alternativen. Allein dass externe Erwartungen intern erwartet werden müssen, ist jedoch 15 Entsprechend heißt es auch bei Luhmann (1988: 167) sehr grundsätzlich: „Der Begriff des autopoietischen Organisationssystems ist unabhängig von der Frage, wie weit eine Organisation von ihrer Umwelt oder auch von dominierenden Systemen ihrer Umwelt abhängig ist (...) Wir schließen nicht aus, daß Organisationen bestimmte Ziele und bestimmte Regeln (...) benutzt, um sich selbst zu identifizieren. Aber wir überlassen diese Frage der Klärung im Einzelfall" (Herv. v.V.).
Raimund Hasse und Georg Krücken: Der Stellenwert von Organisationen in Theorien der Weltgesellschaft keineswegs ein trivialer Vorgang, für den es ausreichte, diese Erwartungen in den Formalstrukturen der Organisation abzubilden. Vielmehr stellt die Entwicklung von Erwartungserwartungen in Organisationen ein hoch voraussetzungsreiches Unternehmen dar, das sich nur im Rekurs auf die jeweilige Organisationsgeschichte rekonstruieren lässt. Eine derartige Innenperspektive liegt jenseits der neo-institutionalistischen Agenda, bei der eine dezidierte Außenperspektive auf Organisationen vorherrscht. Das reichhaltige Instrumentarium zur Analyse organisationsinterner Prozesse, welches nicht zuletzt von der Organisationsforschung in mehr als vier Jahrzehnten entwickelt wurde, bleibt folglich ungenutzt. Die Folge ist, dass der Neo-Institutionalismus sich in diesem Kontext primär als Ergänzung mit Schwerpunkten im Bereich der Analyse gesamtgesellschaftlicher oder zwischenorganisatorischer Einflüsse etabliert hat und als umfassende Organisationstheorie ausscheidet. Ganz anders Luhmann und seine Nachfolger. Die grundlegende Prämisse zur Analyse sozialer Systeme, der zufolge die konstitutive Eigenleistung und -logik des zu untersuchenden Systems den Startpunkt der Analyse bildet, gilt auch für die systemtheoretische Organisationssoziologie. Indem die Konstruktion und Anwendung gesellschaftlicher Vorgaben als Operation verstanden wird, die innerhalb des Organisationssystems zu verorten ist, ergeben sich unmittelbare Bezüge zu dem von James G. March und Herbert A. Simon begründeten entscheidungstheoretischen Strang der Organisationsforschung. Darüber hinaus ergeben sich auch Anknüpfungsmöglichkeiten an kognitionstheoretische und konstruktivistische Ansätze der Organisationstheorie, wie sie insbesondere von Karl Weick (1979,1995) vertreten werden. Allerdings befindet sich diese genuin organisationstheoretische Lesart von Luhmanns Konzeptualisierung der Beziehungen zwischen Organisation und Gesellschaft in einem deutlichen und unauflöslichen Spannungsverhältnis zu einer ebenfalls möglichen Lesart, die ihren Ausgangspunkt in der Luhmannschen Gesellschaftstheorie hat und Organisationen eng an die Differenzierungstypik der Gesellschaft anbindet. Es ist deshalb wichtig zu betonen, dass uns für die hier thematisierte Weiterentwicklung des Neo-Institutionalismus die erstgenannte Lesart eindeutig folgenreicher zu sein scheint.
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4. Perspektiven: Organisation, Weltgesellschaft und die Frage der institutionellen Vermittlung Vor dem Hintergrund der geleisteten Theoriekritik geht es nun um die Frage, welche weiterführenden Forschungsperspektiven die wechselseitige Brechung von Neo-Institutionalismus und Systemtheorie eröffnet. Im Vordergrund stehen Fragen des Organisationswandels, die in beiden Ansätzen nicht angemessen thematisiert werden. Organisationswandel kann dabei als ein Schlüsselthema verstanden werden, das aufgrund neuartiger Herausforderungen, wie z.B. der informationstechnologischen Revolution oder der Wettbewerbsintensivierung, große Resonanzen in Wissenschaft und Praxis erzeugt. Deshalb hat die Organisationsforschung seit jeher Fragen der Anpassung und des Lernens in den Vordergrund gerückt. Gegenwärtig spiegelt sich dies vornehmlich in der Auseinandersetzung um sog. best practices wider und beschränkt sich, wie beispielsweise die Diskussion um ein sog. new public management verdeutlicht, keinesfalls auf Wirtschaftsorganisationen. Das Thema Organisationswandel ist eng verknüpft mit Fragen der Entstehung und Persistenz von Organisationsunterschieden. Zum einen geht es dabei um Einzelfälle, zum anderen um Organisationstypen zum Beispiel in Abhängigkeit von Selbstverständnis, eingesetzten Verfahren und Umweltbedingungen. Unterschiede verdeutlichen, dass die o.g. Prozesse des Wandels in Form von Lernen und Anpassung nicht abgeschlossen und prinzipiell unabschließbar sind. Hierdurch ist garantiert, dass die Gesamtheit formaler Organisationen dauerhaft mit Anregungen für Lern- und Anpassungsmöglichkeiten versorgt werden kann. Das Gleiche gilt für die Entstehung neuer Organisationsweisen. Die Unterschiedlichkeit zu einem gegebenen Zeitpunkt ist demnach ebenso Voraussetzung für Wandlungsprozesse im zeitlichen Verlauf wie umgekehrt Wandlungsprozesse Unterschiede begründen. Was also ist die Perspektive der beiden thematisierten Ansätze auf das Thema Organisationswandel und auf damit verknüpfte Fragen der Entstehung und Persistenz von Unterschieden? Wie gezeigt worden ist, sind Entstehung und Ausbreitung formaler Organisation im Rahmen der Systemtheorie eng an Prozesse funktionaler Differenzierung angelehnt. Funktionale Differenzierung hat demnach Organisationsbedarf geschaffen, und sie versorgt Organisationen - noch immer - mit Leitorientierungen, nach denen sich nicht zuletzt unterschiedliche Organisationstypen wie zum Beispiel Wirt-
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schaftsorganisationen und Wissenschaftsorganisationen bestimmen lassen. Zugleich lassen sich Organisationsunterschiede auf der Grundlage eines autopoietischen Organisationsverständnisses plausibilisieren. Sie beziehen sich dann auf den Einzelfall jedweder Organisation. Zusammen betrachtet bedeutet dies, dass diejenigen Unterschiede, die über den Einzelfall hinausreichen, aber nur eine Teilmenge an Organisationen eines bestimmten Typs erfassen, nicht in das Blickfeld der systemtheoretischen Analyse geraten. Ebenso wenig ist es möglich, Prozesse des Organisationswandels, die sich dem Schema funktionaler Differenzierung entziehen, gesellschaftstheoretisch herzuleiten. Organisationswandel wird stattdessen als inhärentes Merkmal von Organisationen ausgewiesen, ohne makrosoziologische Ursachen für bestimmte Formen des Organisationswandels einzubeziehen. Für den Neo-Institutionalismus wurde dargelegt, dass Organisationen eine bis heute ungebrochene Ausdehnung - und eine damit einhergehende Verdrängung anderer Formen der Organisierung kollektiver Handlungsfähigkeit - zugeschrieben wird. Zugleich zeichnet sich der Ansatz durch eine hohe Sensibilität gegenüber Veränderungen vorherrschender Organisationsformen aus, sofern diese als Strukturangleichung in Erscheinung treten. Dementsprechend sind Prozesse des Organisationswandels in Form einer Infragestellung traditioneller Zuordnungen und Grenzziehungen herausgearbeitet worden. Auf dieser Grundlage wird empirisch sogar eine tendenzielle Auflösung sektoraler Grenzen zwischen öffentlichen und privaten Organisationen diagnostiziert. Von öffentlichen Verwaltungen, Schulen, Krankenhäusern und Museen werden demnach wirtschaftliche Effizienz und modernes Management erwartet (Sahlin-Andersson/Engwall 2003, Hasse 2003b: 154ff.), während Wirtschaftsunternehmen gesellschaftlich verantwortlich handeln und Ausbildungsaufgaben etwa auch dann übernehmen sollen, wenn sie nicht unmittelbar dem unternehmerischen Kalkül entsprechen (Scott/ Meyer 1994). Man hat es demnach mit allumfassenden Prozessen der Angleichung zu tun. 16
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O b diese Angleichungsprozesse in erster Linie auf der semantischen oder auch auf der organisationsstrukturellen Ebene stattfinden, kann dabei offen gelassen und als empirische Frage behandelt werden. In theoretischer Hinsicht ist es entscheidend, dass auch semantische Variationen auf Entscheidungsprozesse und auf daraus hervorgehende Formen der Organisation einen nachhaltigen Einfluss ausüben können.
Im Vergleich zur Systemtheorie ist der Neo-Institutionalismus noch weniger darauf vorbereitet, Organisationswandel in Form einer Entstehung neuartiger Organisationsstrukturen zu erfassen. Dies gilt zumindest für die hier diskutierte makrosoziologische Theorieperspektive innerhalb des Neo-Institutionalismus, der es um mehr oder weniger weit vorangeschrittene Prozesse der Anpassung an bereits vorhandene und institutionalisierte Standards der „world polity" geht. Die prinzipielle Möglichkeit einer Abweichung kann dann nur mit spezifischen Binnenfaktoren einer gegebenen Organisation begründet werden, die zu dem führen, was im Neo-Institutionalismus als lose Kopplung bezeichnet wird. Entsprechend können zwar Alter und Historizität, mikropolitische Interessenlagen, Grundüberzeugungen und Werthaltungen der Beteiligten, gegebenenfalls auch konkrete Funktionserfordernisse und hierauf bezogene Routinen einer Punkt zu PunktUmsetzung dieser Vorgaben entgegenstehen - allerdings nur im Einzelfall. Demgegenüber ist ein Verständnis für die Entstehung neuartiger Organisationsformen und ebenso für die Persistenz von Organisationsunterschieden, die über Einzelfälle hinausreichen, nur in bewusster Erweiterung des Neo-Institutionalismus zu entwickeln. Dabei gilt es, die strenge Gegenüberstellung von gleichförmigen Strukturvorgaben der „world polity" einerseits und spezifischen Binnenfaktoren einzelner Organisationen andererseits zu überwinden, um einzelfallübergeordnete Veränderungen in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken zu können. 1 7 Dass Organisationswandel eine Folge der Aneignung gesellschaftlicher Vorgaben sein kann, ohne zwingend zu Angleichung zu führen, ist in den Instanzen begründet, die zwischen der Weltgesellschaft (als Absender der „world polity") und Organisationen (als Adressaten) vermitteln. Einerseits ist es eine Gemeinsamkeit dieser Vermittlungsinstanzen, dass sie aus Legitimitätsgründen in besonderer Weise den Vorgaben der „world polity" verpflichtet sind. Man denke an Ansprüche der Neutralität und 17 Die pragmatische Alternative hierzu besteht im Verzicht auf die Herleitung von Organisationsstrukturen und von deren unmittelbaren Einflussfaktoren aus der übergeordneten „world polity". In diesem Fall können organisation a l Veränderungspotentiale auf neuartige externe Rahmenbedingungen zurückgeführt werden, ohne diese makrosoziologisch einzubinden; vgl. hierzu etwa Scott 2001: 181 ff. Die Auseinandersetzung mit dieser Alternative wird im Folgenden nicht weiterverfolgt, da sie für das in diesem Beitrag thematisierte Verhältnis von Organisation und (Welt-)Gesellschaft keine weiterführenden Anknüpfungspunkte eröffnet.
Raimund Hasse und Georg Krücken: Der Stellenwert von Organisationen in Theorien der Weltgesellschaft
Wissenschaftlichkeit im Falle von Beratungsinstanzen oder an gesetzgeberische und politische Erwartungen, die an staatliche Einrichtungen adressiert und von diesen aufgegriffen werden. Andererseits gilt aber auch hier das Organisationsprinzip loser Kopplung. Das heißt diese Vermittlungsinstanzen greifen Vorgaben der „world polity" selektiv, eigensinnig und mit unterschiedlichen Schwerpunkten auf. Anders als im Ausgangsmodell des neo-institutionalistischen Ansatzes vorgesehen, fungieren Vermittlungsinstanzen somit nicht ausschließlich im Sinne eines neutralen Verstärkers der „world polity". So werden rechtliche Standards (etwa auf dem Gebiet der De-Regulierung und akzeptiert durch WTO-Vereinbarungen) oder politische Zielsetzungen (etwa zur Steuer- und Technologiepolitik nach Maßgabe von OECD-Empfehlungen) von staatlichen Instanzen höchst unterschiedlich übernommen und prozessiert, und selbstverständlich nehmen sich Beratungseinrichtungen nur ausgewählter Aspekte der „world polity" an: Die einen konzentrieren sich beispielsweise auf Rationalisierungsthemen oder Aspekte technischer Normierung, die anderen widmen sich Fragen der Gerechtigkeit und zielen auf den Abbau von Diskriminierung. Die unmittelbare - im Neo-Institutionalismus aber nicht berücksichtigte - Folge dieser Vermittlung ist es, dass die hierdurch angesprochenen Organisationen höchst unterschiedlich mit Vorgaben der „world polity" konfrontiert werden, weil sie verschiedenen rechtlichen oder politischen Rahmenbedingungen oder unterschiedlichen Beratungseinflüssen ausgesetzt sind. Konzeptionell ist dabei entscheidend, dass die hieraus resultierenden Unterschiede nicht in spezifischen Binnenfaktoren einer einzelnen Organisation begründet sind und deshalb deutlich über den Einzelfall einer gegebenen Organisation hinausweisen. Sie können zum Beispiel ganze Gruppen und Populationen von Wirtschaftsorganisationen betreffen, aber eben nicht sämtliche Wirtschaftsorganisationen oder gar sämtliche Organisationen. Formen der Vermittlung weltgesellschaftlicher Vorgaben durch Beratungsorganisationen und staatliche Instanzen betreffen nicht nur die Persistenz von über den Einzelfall hinausreichenden Organisationsunterschieden, die im Neo-Institutionalismus stark vernachlässigt werden. Sie sind auch geeignet, Innovationsprozesse anzustoßen und somit institutionalisierte Vorstellungen über erwartete und legitime Organisationsweisen zu verändern. Diese Form des Organisationswandels soll nun anhand eines Beispiels illustriert werden, dessen Ursprünge im Bereich der industriellen Produktion liegen und
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das heute so unterschiedliche Organisationen wie Unternehmen, Krankenhäuser und Schulen zu erfassen scheint - „Lean Production". „Lean Production" und damit verbundene Formen des Qualitätsmanagements sind in den 1990er Jahren zweifellos zu einem zentralen Leitbild rationaler Organisation avanciert. Man kann sie als Managementinnovation bewerten, durch deren Erfolg bisherige Paradigmen der Organisation abgelöst worden sind (Ortmann 1995). Die Anerkennung von „Lean Production" und der damit verbundenen Formen des Qualitätsmanagements als diffusionswürdige Innovation zeigt, dass Vorstellungen über rationale Formen des Organisierens nicht statisch sondern im Laufe der Zeit Veränderungen ausgesetzt sind. Wie ist es zu dieser und im Ausgangsmodell des Neo-Institutionalismus nicht vorgesehenen Form des Organisationswandels gekommen? Das Konzept gilt als japanischen Ursprungs und wird insbesondere auf Organisationsweisen der Automobilproduktion bei Toyota zurückgeführt. In Rahmen einer Fallstudie hat Tolliday (1998) aufgezeigt, dass dort zunächst spezifische Produktionsbedingungen eine Abweichung vom bis dahin vorherrschenden Paradigma fordistischer Industrieorganisation nahe gelegt haben. Diese in historischen Sonderbedingungen der Nachkriegszeit begründete Abweichung hat sich dann im Laufe der Jahre als so außerordentlich erfolgreich erwiesen, dass sich in den 1980er Jahren US-amerikanische Experten verstärkt auf den Weg nach Fernost gemacht haben, um die Praxis nicht-fordistischer Produktionsweisen zu studieren. Die Anerkennung von „Lean Production" und der damit verbundenen Formen des Qualitätsmanagements als einem effizienten und deshalb legitimen Organisationsprinzip erfolgt im Anschluss hieran durch eine der renommiertesten Institutionen der Managementberatung: der Harvard Business School. Insbesondere die in diesem Kontext angesiedelte Studie von Womack et al. (1991) findet weltweite Beachtung. In ihr werden neue Organisationsideale verkündet, und es werden massive Rationalisierungsperspektiven aufgezeigt, die prinzipiell sämtliche Organisationen betreffen. Der außergewöhnliche Erfolg der Studie bewirkt, dass sich Organisationsspezialisten in allen Teilen der Welt mit „Lean Production" beschäftigen und einen Organisationswandel in diese Richtung vorantreiben. Insofern belegt das Beispiel den Einfluss hoch angesehener Vermittlungsinstanzen im neo-institudonalistischen Sinne. Zugleich werden keineswegs etablierte Prinzipien der „world polity" sondern praktische Erfahrungen aufgegriffen und weiterge-
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geben, um so Vorstellungen über rationale Formen der Organisation nachhaltig zu verändern. In dieser Hinsicht weist das Fallbeispiel über das Ausgangsmodell des Neo-Institutionalismus hinaus, da es in diesem Forschungsprogramm ausschließlich um die Diffusion bereits etablierter Organisationsweisen geht und nicht etwa um Fragen der Neuentstehung und Variation von Leitprinzipien der Organisation, die ihren Ursprung in der Entdeckung und Anerkennung konkreter Praktiken haben. Darüber hinaus lässt sich das Fallbeispiel nutzen, um Ursachen der Persistenz von Organisationsunterschieden zu illustrieren. Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung, dass die Umsetzung von Prinzipien der „Lean Production" höchst unterschiedlich verläuft, der allgemeine Trend in Richtung „institutioneller Isomorphie" also vielfältig gebrochen wird (siehe auch Kieser et al. 1998: 55ff.). Teilweise sind dafür die spezifischen Faktoren einzelner Organisationen verantwortlich - also Alter und Historizität, mikropolitische Interessenlagen, Grundüberzeugungen und Werthaltungen der Beteiligten, aber auch Funktionserfordernisse und hierauf bezogene Routinen. Diese Faktoren werden grundsätzlich sowohl im Neo-Institutionalismus als auch in der Systemtheorie anerkannt. Entscheidend ist daher, dass Unterschiede konstituierende Faktoren hinzukommen, die nicht im Einzelfall einer gegebenen Organisation begründet sind und entsprechend nicht mit grundsätzlichen Hinweisen auf Prinzipien loser Kopplung oder auf die Autopoiesis organisatorischen Entscheidens zu erklären sind. Was sind also Ursachen der Persistenz von übergeordneten Organisationsunterschieden? Systematische, auf Organisationsgruppen und -populationen bezogene Unterschiede können sich (1) durch sektorale Besonderheiten ergeben. Dabei geht es um Unterschiede zwischen Organisationen, die verschiedenen Branchen angehören. So sind beispielsweise im Dienstleistungssektor andere Rationalisierungsperspektiven gefragt als in der Industrie, ganz unabhängig davon, dass es sich jeweils um Wirtschaftsorganisationen handelt, und Reformen in der Massenproduktion weisen andere Schwerpunkte auf als in der Qualitätsfertigung. Darüber hinaus spielen (2) regulative Rahmenbedingungen eine Rolle, die vor allem Unterschiede zwischen Organisationspopulationen verschiedener Standorte hervorbringen. Und schließlich ist (3) in Rechnung zu stellen, dass Organisationsspezialisten und Consultants als Repräsentanten der „world polity" sich nicht auf alle Organisationen gleichermaßen beziehen, sondern nur bestimmte Organisationen ansprechen. Zusammen betrachtet ergibt sich
hieraus ein ganzes Bündel an Faktoren, die Brechungen und über den Einzelfall einer gegebenen Organisation hinausreichende Abweichungen von allgemeinen Organisationsprinzipien der „world polity" begründen. Organisationsunterschiede sind demnach weit eher zu erwarten als vereinheitlichende Angleichungsprozesse. Zweifellos zählt die Beschäftigung mit systematischen Varianzen, die durch die institutionelle Vermittlung weltgesellschaftlicher Vorgaben erzeugt werden, nicht zum Kern der neo-institutionalistischen Forschungsagenda. 18 Ebenso wenig stehen Potentiale der Neuausrichtung und des Wandels organisatorischer Leitprinzipien im Zentrum der Aufmerksamkeit, so wie sie anhand der Entdeckung, Anerkennung und Weitergabe von Organisationsidealen der „Lean Production" illustriert worden sind. Zu stark wird der Neo-Institutionalismus von einem Forschungsprogramm dominiert, das die Diffusion von einheitlichen Standards und damit erzeugte Angleichungen fokussiert. Die von uns stichwortartig benannten Möglichkeiten der Analyse von über den Einzelfall einer gegebenen Organisation hinausreichenden Unterschieden, die sich aus spezifischen Einflüssen durch Beratungsinstanzen und staatliche Einrichtungen herleiten, bleiben somit unausgeschöpft. Ebenso eröffnen sich keine Anknüpfungspunkte zu institutionalistischen Ansätzen, die stärker komparativ ausgerichtet sind und in diesem Zusammenhang insbesondere die hohe Prägekraft nationaler Regulationsstile erforscht haben (Hollingsworth/Boyer 1997, Whitley 1999, Hall/Soskice 2001). Dies wäre jedoch lohnenswert, weil dort andauernde Unterschiede zwischen Standorten und Sektoren aufgezeigt und Angleichungsprozesse durch weltgesellschaftliche Rahmenbedingungen ausdrücklich in Abrede gestellt worden sind (vgl. auch Hasse/Leiulfsrud 2002). Für die Systemtheorie gilt demgegenüber, dass die theoretische Auseinandersetzung mit Prämissen und forschungsleitenden Hypothesen des Neo-Institutionalismus den Blick für gegenwärtig zu beobachtende Prozesse des Organisationswandels in Form einer Infragestellung traditioneller Zuordnungen und Grenzziehungen schärft. Ebenso kann diese Auseinandersetzung zur Sensibilisierung für Organisationsunterschiede beitragen, die sich weder auf den Kontext funktionaler Differenzierung noch auf individuelle Organisationsgeschichten zu1 8 Für eine kritische Selbsteinschätzung in diese Richtung vgl. auch Schneiberg/Clemens ( 2 0 0 0 ) , wo vehement für eine Sensibilisierung für divergente Entwicklungen plädiert wird.
Raimund Hasse und Georg Krücken: Der Stellenwert von Organisationen in Theorien der Weltgesellschaft rückführen lassen. In beiderlei Hinsicht wäre verstärkt nach Formen der Vermittlung gesellschaftlicher Erwartungen zu fragen. Die gesonderte Berücksichtigung des Einflusses entsprechender Instanzen, die sich wie Beratungsorganisationen und staatliche Einrichtungen zwischen Organisationsbildung und funktionale Differenzierung „schieben" und beide Merkmale der modernen Gesellschaft zueinander in Beziehung setzen, ist in der Systemtheorie bislang nicht vorgesehen. Sie könnte jedoch genuin systemtheoretische Forschungsfronten eröffnen, die sich nicht zuletzt auf Brechungen der Weltgesellschaft und auf Folgeeffekte des Einflusses von Beratungsinstanzen und staatlichen Einrichtungen beziehen. 19 Die Ausschöpfung der hier angesprochenen Perspektiven steht indes noch aus. Sie könnte im Kontext der Globalisierungsdebatte entscheidend dazu beitragen, Systemtheorie und Neo-Institutionalismus weniger einseitig als „top down"-Ansätze in Erscheinung treten zu lassen, denen eine Vernachlässigung territorialer Einflussfaktoren und anderer Brechungen der Weltgesellschaft vorgehalten werden kann. Stattdessen wäre herausgestellt, dass die Besonderheit der beiden hier diskutierten Theorien in der Verknüpfung makrosoziologischer Problemstellungen mit Fragen des Stellenwertes formaler Organisation begründet ist. Der hier zu führende Nachweis, dass Organisationen gesellschaftlich folgenreiche - und im Mainstream der Globalisierungsdebatte weitgehend vernachlässigte - Unterschiede machen, setzt jedoch voraus, Fragen des Organisationswandels und der Unterschiedlichkeit von Organisationen mit mehr Aufmerksamkeit und höherem Differenzierungsvermögen zu behandeln, als dies gegenwärtig der Fall ist. Kernanliegen dieses Beitrags war es deshalb, Wege in diese Richtung zu diskutieren.
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Autorenvorstellung: Raimund Hasse, geb 1962 in Lippstadt. Studium der Soziologie in Bielefeld (1989 Diplom, 1995 Promotion, 2002 Habilitation). Seit 2004 Ass.-Prof. für Soziologie, Schwerpunkt Organisationen, an der Universität Luzern. Zuvor Hochschulassistent in Aachen (1994-2002) und Aufbaukoordinator der NRW Graduate School „Ruhr Graduate School in Economics" in Essen (2003-2004). Längere Auslandsaufenthalte: 1998-1999: Postdoc an der University of Wisconsin, Madison (als Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung) und 2000-2004: Gastprofessor an der University of Trondheim (jeweils im spring semester). Forschungsschwerpunkte: Sozialer Wandel, Organisationssoziologie, Innovationsforschung, Wohlfahrtsstaat. Publikationen: Organisierte Forschung (Berlin 1996), Neo-Institutionalismus (mit G. Krücken, Bielefeld 1999), Die Innovationsfähigkeit der Organisationsgesellschaft (Opladen 2003), Wohlfahrtspolitik und Globalisierung (Opladen 2003).
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Georg Krücken, geb. 1962 in Bad Honnef/Rhein. Studium der Soziologie, Philosophie und Politikwissenschaften in Bielefeld und Bologna (1989 Diplom, 1996 Promotion, 2004 Habilitation). Seit 2004 Oberassistent an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. 1 9 9 9 - 2 0 0 1 Visiting Scholar am Department of Sociology, Stanford University (DFG-Forschungsstipendiat). Seit 1998 Gastlektor am Institut für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung (jeweils im Wintersemester), Universität Wien. Frühjahr 2005 Gastprofessur am Centre de Sociologie des Organisations, CNRS, Paris. Forschungsschwerpunkte: Hochschul- und Wissenschaftsforschung, Organisationssoziologie, Neo-Institutionalismus. Neuere Publikationen: „Wir sind alle überzeugte Netzwerktäter". Netzwerke als Formalstruktur und Mythos der Innovationsgesellschaft (mit F. Meier), in: Soziale Welt 54, 2003: 71-92; Hochschulen im Wettbewerb - eine organisationstheoretische Perspektive. S. 2 8 6 - 3 0 1 in: W. Böttcher / E. Terhardt (Hrsg.), Organisationstheorie in pädagogischen Feldern, Wiesbaden 2004: VS Verlag für Sozialwissenschaft; Turning the University into an Organizational Actor (mit F. Meier). Erscheint voraussichtlich Sommer 2005 in: G. Drori / J. Meyer / H . Hwang (eds.), World Society and the Expansion of Formal Organization. Oxford, Oxford University Press.
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Weltgesellschaft, multiple Moderne und die Herausforderungen für die soziologische Theorie Plädoyer für eine mittlere Abstraktionshöhe
World Society, Multiple Modernity and the Challenges for Sociological Theory A Plea for an Intermediate Level of Abstraction Thomas Schwinn Lehrstuhl Soziologie I, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, D-85072 Eichstätt E-mail: [email protected] Zusammenfassung: Die Soziologie steht in der aktuellen Theoriediskussion vor der Herausforderung, den Status der Moderne zu überdenken. Die Klassiker des Fachs bieten dafür keine sicheren Leitorientierungen. Eine angemessene Theorie hat dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Moderne heute weltweit als gemeinsamer Kontext verbreitet ist, ohne dass es zu einer Konvergenz von Ordnungsmustern gekommen ist. Hierzu werden verschiedene soziologische Theorien befragt, die sich dieser Problemlage stellen: einerseits Arbeiten zur Weltgesellschaft und andererseits Studien zur Weiterführung modernisierungstheoretischen Denkens. Das Grundproblem besteht darin, das Verhältnis von Divergenz und Konvergenz in den globalen Entwicklungen zu fassen. Das geschieht einmal über den Weltsystembegriff zum anderen über ein erweitertes Verständnis von „Moderne". Der Artikel kommt zu dem Ergebnis, dass man statt der sehr abstrakten und daher analytisch ausgedünnten Begriffe „Weltgesellschaft" und „Moderne" besser Globalisierungstheoreme einer mittleren Abstraktionshöhe herausgreift und überprüft. Es wird das Ebenenproblem (Kommunikation, Referenz und Ordnung), die Reichweite und Qualität der einzelnen Ordnungen (Sinn- und Rationalitätskriterien, Obstruktionsfähigkeit), die Integrations- und Pfadabhängigkeitsproblematik und schließlich das Verhältnis von Kultur und Struktur auf der globalen Ebene thematisiert. Summary: In the current theoretical discussion, sociology is faced with the challenge of having to rethink the status of modernity. The classics of the discipline do not offer any safe guidelines in this respect. An adequate theory has to take into account the fact that today's modernity is distributed worldwide as a common context, yet without a convergence of societal patterns. To this end, this article reviews several sociological theories which tackle this problem: research on the world society, on the one hand; studies in the wake of modernization theory, on the other. The basic problem consists in grasping the relationship between divergence and convergence in global developments. This is done via the concept a of world-system or with the help of an expanded understanding of "modernity." The author concludes that the selection and examination of theoretical approaches to globalization situated on an intermediate level of abstraction should be favored over the very abstract and hence analytically impoverished concepts "world society" and "modernity." The problem of levels (communication, reference, and order), the range and quality of the respective orders (the criteria of meaning and rationality, the capacity for obstruction), the problem of integration and dependency on the path followed, and, finally, the relationship between culture and structure on a global level are addressed in this discussion.
1. Das Problem Soziologie ist der Versuch, die Moderne zu verstehen. Seit den Klassikern des Fachs zielt soziologische Theorie auf die Bestimmung der Grundkoordinaten moderner Gesellschaften. In den letzten beiden Jahrzehnten zeigen sich zunehmende Anstrengungen, diese Grundkoordinaten zu überdenken. Da die Soziologie als Wissenschaft mit dem Gegenstand verbunden ist, den sie erfassen soll, besteht ein enger Zusammenhang zwischen Gesellschaftstheorie und zeitgeschichtlichen Problemlagen und Entwicklungen. Diese haben ein Hinterfragen und Neubestimmen des Modernitätsverständnisses angestoßen. Schlagworte wie „zweite Moderne" oder „multiple
Moderne", „Globalisierung" oder „Weltgesellschaft" zeigen einen gestiegenen Bedarf nach neuen theoretischen Konzepten und Leitlinien in der aktuellen Situation an. Sieht man einmal von den Launen unseres Faches ab, das allzu gerne solche Schlagworte aufgreift, glaube ich aber, dass darin eine Herausforderung steckt, der man sich stellen muss. Die Moderne präsentiert sich heute allen Gesellschaften als globaler Kontext, ohne dass dies zu einer Konvergenz der Ordnungsmuster führt, wie es die ältere Modernisierungstheorie unterstellt hat. In dieser Situation bieten die Klassiker des Fachs keine große Hilfestellung. Werfen wir zuerst einen Blick auf M a x Weber. Bei ihm stand die historische Frage im Mittelpunkt: Warum hat sich die Moderne
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nur im Westen und nirgends sonst entwickelt? Heute geht es dagegen um die Fähigkeit der anderen Kulturen, eine eigene Modernität zu entwickeln. Zwar betonte auch Weber, dass die historisch erstmalige und einzigartige Entstehung der Moderne an ganz andere Bedingungen gebunden ist, als die Fähigkeit zur Übernahme oder der Variation einer bereits existierenden Ordnungsform. Der zweite Aspekt ist bei ihm aber nicht mehr ausgeführt. Wenn man z. B. von einer konfuzianisch geprägten Moderne in Asien spricht kann man den Konfuzianismus nicht als traditional dem Modernen dichotomisch gegenüberstellen, sondern er ist selbst Teil und Ursache dieser Form von Modernität. Gegenüber Webers historischer Fragestellung gewinnen die nichtwestlichen Kulturen in der aktuellen Frage der Übernahme und Variation einen anderen Stellenwert. Wie kreativ haben andere Zivilisationen auf die Herausforderungen des Westens reagiert? Welche alternativen Ordnungsmuster haben sie entwickelt? Primär geht es heute um die Erklärung der Vielfalt der Moderne. Talcott Parsons, ein weiterer Klassiker, hilft uns dabei auch nicht weiter. Nach dem zweiten Weltkrieg vollzog sich mit ihm ein Wechsel gegenüber Webers Sichtweise. Statt die Besonderheit des Westens zu betonen, wurde seine Moderne als Höhepunkt der menschlichen Entwicklung angesehen. Das europäisch-amerikanische Modell wurde zum Paradigma für die Entwicklung aller anderen Gesellschaften erklärt. Parsons' Konvergenzthese ging von einem unilinearen Modernisierungsprozess aus. In der Folge offenbarte sich jedoch die zunehmende Variation von Entwicklungsverläufen. Man behalf sich zunächst mit der Annahme, die Diversität zeige sich nur für die frühen Stadien der Entwicklung, beim Durchbruch von der Tradition in die Moderne, und sie verschwinde dann mit der vollen Ausprägung der Moderne auch in diesen Ländern. Die sich stabilisierende Diversität von Entwicklungsverläufen erschütterte jedoch die Konvergenzthese in zunehmendem Maße. In vielen nicht-westlichen Ländern, die sich modernisieren, ist eine geringe Neigung festzustellen, das westliche Modell komplett zu kopieren. Modernisierung und Verwestlichung sind nicht deckungsgleich. In der aktuellen Diskussion hat sich also die Problemdefinition gegenüber Weber und Parsons verschoben. Der eindeutige Bezugspunkt und die Bestimmung der Moderne ist problematisch geworden. Weder lässt sich die heutige Situation durch Webers genetische Fragestellung erfassen, der eine Divergenzthese zugrunde lag 1 - westliche Moderne
versus Tradition in anderen Kulturen - noch durch Parsons' Konvergenzthese, die einen universalen Modernisierungstrend unterstellt. Die anderen Kulturkreise haben heute eigene Modernitäten entwickelt, die keine bloße Kopie des westlichen Musters sind. Welche neuen Leitorientierungen gibt es in dieser Situation? Auf dem aktuellen Theorienmarkt liegen verschiedene Angebote vor. Zwei Positionen sind über die wissenschaftlichen Grenzen hinaus prominent geworden. Die These vom „Ende der Geschichte" behauptet, dass nach dem Kollaps der sozialistischen Gesellschaften, als alternativer Weg in die Moderne, die Variationsmöglichkeiten moderner Ordnungsmuster erschöpft seien und das institutionelle Arrangement aus politischem Liberalismus und Marktwirtschaft das einzig legitime und Erfolg versprechende Gesellschaftsmodell darstelle. Das ist eine neue Variante der Konvergenzthese, die von der historischen Alternativenlosigkeit von Entwicklungspfaden ausgeht. Spiegelbildlich hierzu stellt die Clash-of-Cultures-These nicht konvergente, sondern divergente Entwicklungen für das 2 1 . Jahrhundert in Aussicht. Kulturelle Lebensformen seien wie geologische Platten, die sich tektonisch nebeneinanderher bewegen und ab und zu gewaltsam aneinander reiben. Zu anderen Schlussfolgerungen kommen Ansätze, die sich der These einer heraufziehenden Weltgesellschaft verschrieben haben. Weitergehend als viele Arbeiten zur Globalisierung, die von gewissen transnationalen und internationalen Interdependenzen ausgehen, wird unterstellt, dass sich diese Wechselwirkungen schon zur Qualität einer Weltgesellschaft arrangiert hätten. Unterschiede bestehen allerdings im verwendeten Gesellschaftsbegriff. Die Forschergruppe um John W. Meyer (2000) in Stanford definiert ihn über gemeinsame Werte und Normen, die weltweit institutionalisiert werden. Für Niklas Luhmann (1997: 145ff.) und die an ihm orientierten Arbeiten 2 sind es dagegen kommunikative Vernetzung und funktionale Differenzierung, die die Entstehung einer Weltgesellschaft erklären. Nicht nur die Ursachen, sondern auch die Resultate werden unterschiedlich gewichtet. Die amerikanische Variante der Weltgesellschaft interessiert sich vor allem für die Isomorphien, die durch die Institutionalisierung gemeinsamer Werte entstehen. Zwar sehen diese Autoren (Meyer et al. 1 9 9 7 : 154ff.), dass oft die faktischen Möglichkeiten und RessourHier ist vor allem Stichweh hervorzuheben. Allerdings greift er immer wieder auf gemeinsame Werte und Normen zurück, z. B. Stichweh 2 0 0 0 : 2 2 f . 2
1
Zu den Konsequenzen für Webers kulturvergleichende
Soziologie vgl. Schwinn 2 0 0 3 .
Thomas Schwinn: Weltgesellschaft, multiple Moderne und die Herausforderungen cen zur Umsetzung der Werte fehlen, was zu unterschiedlichen, meist defizitären Ordnungsformen führt. Der primäre Fokus ist aber auf die konvergenten, nicht die divergenten Mechanismen gerichtet (Heintz et al. 2 0 0 1 : 405ff.). Luhmann verbindet dagegen mit dem Begriff der Weltgesellschaft keine Vorstellungen einer Entwicklung in Richtung Homogenität und Konvergenz globaler sozialer Verhältnisse. Die Entwicklungsunterschiede der einzelnen Regionen des Erdballs werden nicht geleugnet, sondern gerade zu einem zentralen Prüfstein für die Theorie der Weltgesellschaft gemacht. Ihre analytische Leistungsfähigkeit muss sich daran erweisen, „dass es ihr gelingt, Unterschiede im System der Weltgesellschaft als interne Differenzierungen dieses Systems" (Stichweh 2 0 0 0 : 13) zu erklären. Dies kann nicht nach dem Schema Tradition versus Moderne geschehen. In dieser Sichtweise wäre die Moderne das homogenisierende und Tradition das diversifizierende Moment, was zu traditionsbedingten Modernitätspfaden führt. In der Systemtheorie ist dagegen die Weltgesellschaft selbst die Quelle von Entwicklungsunterschieden (Luhmann 1997: 162ff., 806ff.). Ihre Strukturen setzen zwar an den regional gegebenen Bedingungen an, transformieren diese aber dann in interne Differenzen des Weltsystems selbst, z.B. indem sich der ökonomische Weltmarkt in verschiedene Sektoren für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen sowie unterschiedliche Arbeitsmärkte unterteilt. Traditionsbedingte kulturelle Vielfalt wirkt nicht als Determinante ungebrochen aus der Vergangenheit fort, sondern wird in eine interne Differenz des Weltsystems umgeformt (Stichweh 2 0 0 0 : 32). Es wird danach gefragt, wie historische Vorgegebenheiten durch die Weltgesellschaft aufgenommen und durch dieses System transformiert und reproduziert werden. Die Ausgangsthese geht von einer „Einheit des diese Unterschiede erzeugenden Weltgesellschaftssystems" aus (Luhmann 1997: 162). Für die Systemtheorie ist daher weder die These von der „McDonaldisierung" der Welt (G. Ritzer) richtig - die Unterschiede verschwinden nicht durch eine weltweite Homogenisierung - , noch stimmt für sie die Annahme einer „multiplen Moderne", weil hier die Vielfalt moderner Gesellschaften nicht als interne Differenzen eines Weltsystems begriffen werden (Stichweh 2 0 0 1 a : 6). Ein anderer interessanter Vorschlag, das Verhältnis von Divergenz und Konvergenz zu fassen, kommt aus neueren Entwicklungen des modernisierungstheoretischen Denkens. Diese Arbeiten wurden nicht zuletzt durch die Entwicklungserfolge der ostasiatischen Gesellschaften in den vergangenen Jahr-
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zehnten angestoßen. Mit den vorhandenen Theorien konnte dies nicht erklärt werden, weder mit der ökonomischen Weltsystem- und Dependenciatheorie noch mit der klassischen Modernisierungstheorie. Ehemalige Peripherien haben sich entwickelt, ohne allerdings den westlichen Modernisierungspfad einzuschlagen. Die These einer „Vielfalt der Moderne" ist angetreten, dafür ein Theorieangebot zu unterbreiten. 3 Die Vorstellung einer modellhaft eindeutig definier- und fixierbaren Moderne, an der sich alle Fälle vergleichen und messen lassen, wird aufgegeben. Ein solches Modell der Moderne wurde selbst in Europa nur in kurzen Phasen der Geschichte annähernd realisiert und auch hier mit erheblicher Variation von institutionellen Formen und kulturellen Gehalten (Wittrock 2 0 0 0 : 3 6 , 5 8 ) . Die Kritik an der Modernisierungstheorie in den 60er und 70er Jahren, sie fixiere die Beziehungen zwischen den differenzierten Ordnungen theoretisch und bekomme dadurch die unterschiedlichen Entwicklungspfade nicht in den Blick (Wehler 1 9 7 5 ; Lepsius 1977; Bendix 1988), erfährt durch die neueren Arbeiten eine Bestätigung und Weiterführung. Nichtwestliche Modernisierungspfade lassen sich nicht als Abweichung von einem Idealmodell, sondern als alternative Formen der Moderne begreifen. Die westliche Moderne ist zwar die historisch erste und weiterhin eine wichtige Referenzkultur, sie ist aber nicht die einzig authentische Ausprägung der Moderne (Eisenstadt 2 0 0 0 b : 3). So sind internationale Konkurrenzfähigkeit oder die Vorbildlichkeit von Vorreitergesellschaften nicht durch ein eindeutiges Ordnungsmuster festgelegt oder determiniert. Das Forschungsprogramm zur „multiplen Moderne" kommt daher zu anderen Diagnosen und Prognosen als die ältere Modernisierungstheorie. Einmal hinsichtlich der Konvergenzannahme: Die Prozesse der Oktroyierung und Diffusion von, sowie der Adaption an moderne Momente haben die Unterschiede zwischen Ländern und Kulturen nicht verschwinden lassen. Vom westlichen Modell abweichende Entwicklungspfade werden nicht als exotische Fälle behandelt und dadurch in ihrer theoretischen Bedeutung marginalisiert. Die Theorie immunisiert sich nicht gegenüber den vorfindbaren Varianzen, sondern ist bestrebt, sie ernst zu Ideen dazu sind über viele heterogene Arbeiten hinweg verstreut. M a n findet sie vor allem bei Shmuel N . Eisenstadt ( 1 9 8 7 a , 2 0 0 0 a , 2 0 0 0 b , Wittrock 2 0 0 0 , Arnason 2 0 0 1 ; vgl. auch Knöbl 2 0 0 1 ) , aber auch bei anderen Autoren (Giddens 1 9 9 5 , Beck 2 0 0 0 , Robertson 1 9 9 2 , T h e r b o r n 1 9 9 5 , Lepenies 1 9 9 6 , Schmidt-Glintzer 1 9 9 9 , Shinji 1 9 9 9 , Göle 2 0 0 0 , Kaviray 2 0 0 0 , Ben-Rafael/Sternberg 2 0 0 1 ) . 3
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nehmen. Die modellhaft fixierten Zusammenhänge der konvergenztheoretisch angeleiteten Modernisierungsforschung werden aufgelöst. Modernität ist keine kohärente Einheit, sondern kommt in verschiedenen Konstellationen vor, deren Varianz komparativ aufgeklärt werden soll. Diesen Arbeiten stehen allerdings andere, enger an klassischen Modernisierungstheorien orientierte, gegenüber, die stärker konvergenztheoretisch argumentieren (Zapf 1996, Senghaas 1998, Inglehart et al. 2001, differenzierter Inglehart/Baker 2000). Der Blick auf mehrere aktuelle Theorieangebote eröffnet eine heterogene Situation. Die Ansätze zur Weltgesellschaft und jene zur Weiterführung der Modernisierungstheorie versuchen vereinfachende Konvergenz- und Divergenzannahmen zu vermeiden, aber sie tun dies mit unterschiedlichen Argumenten. Die Vielfalt wird in den beiden Ansätzen jeweils anders konzipiert. Werden die Unterschiede in den beiden Theorien zur Weltgesellschaft als Defizite gefasst - unterschiedliche Möglichkeiten, Werte und Normen zu institutionalisieren (Meyer et al. 1997: 154ff.) bzw. das Ordnungsprinzip funktionaler Differenzierung voll zu realisieren (Luhmann 1997: 163) - so in den Arbeiten zur multiplen Moderne als Alternativen, die nicht mehr an einem eindeutigen Wert oder Ordnungsmuster als defizitär oder fortgeschritten verortet werden können. Zudem findet sich weder auf Seiten der Ansätze zur Weltgesellschaft noch auf der des aktuellen modernisierungstheoretischen Denkens ein einheitliches Erklärungsangebot. Meyer und Luhmann heben jeweils andere Momente als konstitutiv für die globalen Vergesellschaftungsprozesse hervor, und der These von einer Vielfalt der Moderne steht die konvergenztheoretische Sichtweise gegenüber. Eine angemessene Theorie muss dem Umstand Rechnung tragen, dass die Moderne heute einen globalen Kontext darstellt, sie aber zugleich verschiedene Ausprägungen aufweist. An diesem Grundproblem arbeiten sich die hier vorgestellten Theorien ab. Es ist aber keine Theorie in Sicht, die in der Lage wäre das Verhältnis von Konvergenz und Divergenz zufriedenstellend zu bestimmen. Das hängt mit der Unbestimmtheit der verwendeten Begriffe zusammen. So wie für Luhmann und Meyer Gesellschaft außerhalb der Weltgesellschaft nicht zu denken ist, so ist auch nach Eisenstadt Kultur und Gesellschaft außerhalb des Rahmens der Moderne nicht möglich. Wenn man die Begriffe „Weltgesellschaft" und „Moderne" so umfassend ansetzt, dann subsumieren sie zu Vieles. Je mehr ein Begriff oder Konzept zu fassen beansprucht, desto stärker nimmt seine analytische Präzision ab. In Ei-
senstadts Arbeiten zur Vielfalt der Moderne führt dies tendenziell zu einer bloß noch enumerativen Beschreibung und Ausweitung von Modernität, bei Luhmann zu einer bloß noch behaupteten (Welt)Systemhaftigkeit der immensen Vielfalt an Strukturund Ordnungsformen. Ich schlage dagegen vor, von dieser abstrakten Ebene auf eine mittlere zurückzugehen und bearbeitbare Globalisierungstheoreme herauszugreifen und sie auf ihre argumentative Stimmigkeit hin zu prüfen. Man bedient dadurch zwar nicht das Bedürfnis nach kompakten Schlagworten und Großdiagnosen, kann dafür aber, so hoffe ich zeigen zu können, analytisch gehaltvollere Aussagen anbieten. Folgenden Aspekten möchte ich dabei nachgehen: dem Ebenenproblem globaler Vergesellschaftungsprozesse: Kommunikation Referenz - Ordnung (2.); der Reichweite und Qualität der einzelnen Ordnungen: Inwieweit sind Ökonomie, Politik, Wissenschaft, Religion etc. überhaupt globalisierungsfähig? (3.); der Integration und Pfadabhängigkeit: Wie wirken sich nationale und kulturkreisspezifische Erbschaften und Bedingungen auf globale Einflüsse und Vergesellschaftungsprozesse aus? (4.); und schließlich dem Problem von Kultur und Struktur (5.): In welchem Verhältnis stehen kulturelle und strukturelle Globalisierungsprozesse ?
2. Das Ebenenproblem: Kommunikation Referenz - Ordnung In der Literatur werden verschiedene Ebenen globaler Vergesellschaftung angesprochen: die weltumspannende kommunikative Vernetzung, die Ausbreitung globaler Referenzverhältnisse und die Etablierung transnationaler Ordnungen. Kommunikation spielt eine prominente Rolle in der neueren Systemtheorie. Beginnend mit dem Buchdruck, über Telegraphie, Telefon, Massenmedien bis hin zum Internet haben moderne Gesellschaften eine enorme Beschleunigung und Vernetzung der Kommunikation erfahren. Die Anzahl der Menschen, die an verschiedenen Stellen der Erde auf einen vergleichbaren Informationsstand gebracht werden, nimmt zu. Große räumliche Distanzen sind keine Kommunikations-, Informations- und Wissensgrenzen mehr. Sozialität löst sich vom Raum und es entsteht eine globale Gleichzeitigkeit von Ereignissen und Informationen (Luhmann 1997: 148ff., Stichweh 2000: 252ff.). So gibt es etwa seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine einheitliche Weltzeit, die die Umrechenbarkeit aller Zeitpunkte von jedem Ort der Erde aus ermöglicht.
Thomas Schwinn: Weltgesellschaft, multiple Moderne und die Herausforderungen Mit den neuen Kommunikationstechniken werden die Voraussetzungen für globale Referenzverhältnisse geschaffen. Ein global präsenter Vergleichshorizont öffnet sich, der eine enorme soziale Dynamik freisetzt, weil Neues gleichzeitig überall auf der Erde als potenziell nachahmenswert zur Verfügung steht. Über Kommunikation ist die „Welt" als Orientierungshorizont präsent und ein beschleunigtes wechselseitiges Sich-Vergleichen und Wahrnehmen setzt ein. Die Orientierung an Referenzgesellschaften ist historisch nichts Neues. Die Moderne hat aber gegenüber den relativ abgeschottet sich entwickelnden Kulturen der Achsenzeit4 nebeneinander stehende Diversitäten in unvergleichbarem Maße in einen konkurrierenden und vergleichenden Bezug zueinander gebracht. Beginnend mit dem Durchbruch einer kleinen Gruppe von Ländern in der Neuzeit als Pioniergesellschaften haben sich in der Folge vielfältige Aufholprozesse von Nachzüglern zunächst innereuropäisch und dann global ergeben. Die Moderne verringert die Chance unbeobachteter, autochthoner Entwicklungen.5 Diese enorme Referenzbezogenheit hat kulturelle und strukturelle Ursachen und ist nicht allein von den sie ermöglichenden kommunikativen Vernetzungen her erklärbar. Wie noch darzulegen, stellt die Moderne kulturell mehr ein Sinnproblem dar, als dass sie genaue Antworten böte. Die damit verbundene Verunsicherung des Bewusstseins und der Identität versucht das moderne Subjekt durch Spiegelung des eigenen Denkens und Handelns am Fremden zu kompensieren (Weber-Schäfer 1990, Kippenberg 1997: 266ff.). Das Sich-Vergleichen mit anderen Kulturen dient der Bestimmung und Verortung der eigenen Existenz durch Relationierung zu anderen Lebensmöglichkeiten. In Webers kulturvergleichenden Studien ist dieses Motiv unverkennbar. Mit der modernen Referenzbezogenheit setzt eine Durchforstung des eigenen kulturellen Bestandes nach bewahrenswerten Elementen ein. Dies ist keine Tradition mehr im Sinne des unreflektierten Akzeptierens, sondern es ist ein Bewusstsein der eigenen kulturellen Werte im Vergleich mit anderen und damit ein Bewusstsein von Alternativen. Der Drang zum Vergleichen verdankt sich nicht nur kulturellen Antrieben, sondern auch strukturellen Zwängen. Die Vergesellschaftung durch den Markt schafft eine Konkurrenzsituation, in der man nur durch ständiges Vergleichen von Marktpreisen und Zu diesen vgl. Eisenstadt 1987b, 1992. Für kleine Staaten sind diese Chancen noch besser als für größere; vgl. Geser 1992.
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Produktionsmethoden bestehen kann. Waren es in der Neuzeit nur einige wenige europäische Gesellschaften, die untereinander in einem Wettbewerb standen, sind heute wesentlich mehr Länder wettbewerbsfähig geworden. Die Wahrscheinlichkeit nimmt zu, dass schneller irgendwo irgendetwas Leistungsfähigeres oder Vorbildliches entwickelt wird: wirtschaftlich, wissenschaftlich, politisch, kulturell etc. Seinen konkreten Ausdruck findet dies etwa in internationalen „Modernitätsskalen", in denen sich jede Nation nach beliebigen Kriterien eingeordnet wiederfinden kann (Säuglingssterblichkeit, Alphabetisierungsquote, Sozialstaatsquote, Qualität der Infrastruktur etc.). Die PISA-Studie zum Bildungsranking verschiedener Nationen ist ein jüngstes Beispiel dafür. Hier wirkt die Moderne als ein für alle Gesellschaften gegebener Konkurrenzkontext. Sich als Vorreiter oder Nachzügler zu verstehen, sich ständig zu vergleichen, nachzuahmen oder auch abzulehnen setzt gewisse Vergesellschaftungsprozesse voraus. Es ist ein soziales Handeln im Sinne der Bezogenheit aufeinander. Diese referenzbetonte Bestimmung der Moderne impliziert keinen übergreifenden Entwicklungssinn und keine notwendige Entwicklungstendenz. Die als „modern" definierten Erwartungsniveaus werden in den Vergleichsprozessen festgelegt und verändert (Lepsius 1977: 22f.). Eine weitere Ebene, über die sich die globalen Vergesellschaftungsprozesse durchsetzen, ist das Ordnungsprinzip der funktionalen Differenzierung (Eisenstadt 2000b: lf., 8). Die Funktionssysteme entfalten eine expansive Tendenz, die nach Luhmann in der Etablierung eines Weltgesellschaftssystems seinen Abschluss findet (Luhmann 1982: 60, Luhmann 1997: 149,809). Die Teilsysteme sind auf einen Universalismus hin angelegt, dessen Eigenlogik und Eigendynamik nicht an nationalstaatlichen Grenzen Halt macht. Am meisten Aufmerksamkeit hat dabei die Dynamik der Wirtschaft gefunden. Sie sucht Gewinnchancen, wo immer sie sich bieten, auf der ganzen Welt. Ebenso entfaltet etwa das Funktionssystem der Wissenschaft eine expansive Dynamik. Die Suche nach Wahrheit und neuen Erkenntnissen macht an Grenzen nicht Halt. Die Funktionssysteme durchbrechen die herkömmlichen territorial markierten Vergesellschaftungen und bringen zuvor abgegrenzte Regionen in einen durch die Teilsysteme geschaffenen Funktionszusammenhang, z.B. über ökonomischen Handel und Arbeitsteilung. Die „Welt" verschafft sich hier nicht nur als Horizont, sondern als Aggregat oder Ordnung Geltung. Mit funktionaler Differenzierung „entfällt die Möglichkeit, die Einheit eines Gesellschaftssystems
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durch territoriale Grenzen oder durch Mitglieder im Unterschied zu Nichtmitgliedern [...) zu definieren. Denn die Funktionssysteme wie Wirtschaft oder Wissenschaft, Politik oder Erziehung, Krankenbehandlung oder Recht stellen jeweils eigene Anforderungen an ihre eigenen Grenzen, die sich nicht mehr konkret in einem Raum oder im Hinblick auf eine Menschengruppe integrieren lassen" (Luhmann 1997: 149, vgl. auch Luhmann 1982: 60). Die Gesellschaftsgrenzen zwischen zugehörigen und nicht zugehörigen Menschen bleiben nicht identisch, wenn man von politischer Aktivität zu wissenschaftlicher Korrespondenz, zu wirtschaftlichen Transaktionen oder zur Anknüpfung einer Liebesbeziehung übergeht. Dieses Handeln orientiert sich jeweils an anderen Einheiten und Grenzen. Nach Luhmann ist die Einheit einer alle Funktionssysteme umfassenden Gesellschaft nur noch in Form der Weltgesellschaft möglich. Mit kommunikativer Vernetzung, der Ausbreitung globaler Referenzverhältnisse und dem Ordnungsprinzip funktionaler Differenzierung sind unterschiedliche globale Vergesellschaftungsprozesse angesprochen. Von der Ebene der Kommunikation über Referenzverhältnisse hin zu globaler Ordnungsbildung vollzieht sich eine zunehmende Spezifizierung und Konkretisierung von Vergesellschaftung. Bloße Kommunikation ist, etwa in Webers Begriffen, soziales Handeln im Sinne des Sich-Aneinander-Orientierens, ohne dass sich damit Handeln schon wechselseitig festlegen, regeln oder ordnen würde. Referenzverhältnisse sind dagegen schon gerichteter. In der Regel ist die Anzahl der Pioniergesellschaften begrenzt.6 Aufmerksamkeit und Vorbildlichkeit sind nicht symmetrisch verteilt. Erst auf der Ordnungsebene erreichen Vergesellschaftungsprozesse aber eine Spezifik, die der Amorphität der vorhergehenden Stufen entgeht. Es ist eine Sache, über Menschenrechtsverletzungen eines Staates zu kommunizieren und sie moralisch zu verurteilen (Referenz), aber eine andere, über die rechtliche Regelung konkreter Eingriffsmöglichkeiten eine internationale Interventionsordnung zu etablieren (Ordnung). Luhmann bestimmt den Gesellschaftsbegriff einmal über Kommunikation und zum anderen über die Ordnungsform funktionaler Differenzierung. Kommunikation und Ordnung liegen aber nicht auf der gleichen Ebene. Kommunikation ist eine sehr einfache Form von Sozialität, die die Akteure wechselseitig nicht bindet, Ordnung ist dagegen eine höherstufige Ebene. Diese Gerhards/Rössel ( 1 9 9 9 ) identifizieren eindeutige Referenzverhältnisse im Sinne von einigen wenigen Vorreitern und vielen Nachzüglern.
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unterschiedlichen Qualitäten des Sozialen alle unter den Weltgesellschaftsbegriff zu subsumieren ist nicht sehr hilfreich und geht mit einem Verlust an analytischer Präzision einher. Neben der Unterscheidung verschiedener Vergesellschaftungsebenen müssen die Beziehungen zwischen ihnen geklärt werden. Meine Annahme ist, dass von Ordnung über Referenz zu Kommunikation die jeweils vorhergehende Ebene die nachfolgende strukturiert. Vorbildlichkeit in Referenzverhältnissen ist ein knappes Gut, das in starkem Maße die kommunikativen Verhältnisse ausrichtet. So gibt es bei der wechselseitigen Wahrnehmung in der Wissenschaft eindeutige Dominanzen bestimmter Regionen und Länder (Gerhards/Rössel 1999). Die Fähigkeit, Vorbildlichkeit in Referenzverhältnissen zu etablieren ist an die Effizienz und Funktionstüchtigkeit von Ordnungsarrangements gebunden. 7 Und diese bestimmen auch über Kommunikationsmöglichkeiten mit, z.B. über die Zurverfügungstellung kommunikativer Infrastrukturen, die global äußerst ungleich verteilt sind. Die kommunikative Dichte wie die Richtung oder die Drift der Referenzverhältnisse hängen in starkem Maße vom Sog der Ordnungsebene ab. Dies ist etwa an der Richtung von Migrationsströmen ablesbar.
3. Die Reichweite und Qualität der einzelnen Ordnungen 3.1 Sinnkriterien und Rationalisierungsfähigkeit
Nicht nur die Vergesellschaftungsprozesse auf den verschiedenen Aggregatebenen sind sehr verschieden, sondern auch jene auf der Ordnungsebene selbst. Mit den einzelnen Ordnungen oder Teilsystemen sind Vergesellschaftungsprozesse von unterschiedlichster Qualität und Reichweite angesprochen. Entsprechend sind sie nicht gleichmäßig globalisiert. 8 So bieten Ökonomie, Technik, WisHier muss man zwischen wertrationaler und zweckrationaler Referenz oder Vorbildlichkeit unterscheiden. Beide gehen nicht unbedingt zusammen. Japanische Organisations- und Produktionsmethoden sind nach Kriterien von Zweckrationalität effizient, Menschenrechte dagegen wertrational fundiert. Die Entstehung von Vorbildlichkeit und die Bereitschaft und Fähigkeit zur Übernahme der jeweiligen Standards geschieht unter jeweils anderen Bedingungen. Beide, zweck- wie wertrationale Momente der Vorbildlichkeit, bedürfen aber für ihre wirksame Umsetzung der Institutionalisierung. 7
8 Zu empirischen Ergebnissen vgl. Beisheim et al. 1 9 9 9 , Held et al. 1 9 9 9 .
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senschaft oder Aspekte des Bildungswesens klare Vergleichsmaßstäbe für Konkurrenzverhältnisse. Über Marktpreise stehen verschiedene Länder in einem direkten ökonomischen Wettbewerb. Hier verschafft sich Globalität als gemeinsamer Kontext in einem harten Sinne Geltung. Auch für Wissenschaft und Bildung gibt es mehr oder weniger eindeutige Vergleichs- und Konkurrenzkriterien. Über den Anteil der Wissenschaftsausgaben am Bruttosozialprodukt, die Anzahl der Nobelpreisträger, die in internationalen Tests erhobenen kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten der Bildungsklienten etc. lassen sich diese Bereiche unterschiedlicher Länder in ein Ranking bringen. Verschiedene institutionelle Formen werden letztendlich an einem gemeinsamen Kriterium gemessen. Diese Dominanz eindeutiger Leitkriterien der Konkurrenz und der daraus sich ableitende enorme globale Vergleichs- und Konkurrenzdruck ist in den anderen Feldern nicht oder weniger vorhanden. So sind politische und rechtliche Prozesse stärker normativ geprägt, wie etwa an der Diskussion um den Status und die Interpretation der Menschenrechte ablesbar ist (Risse et al. 1999). Zwar sind auch mit militärischer Macht, der Qualität und Quantität der Waffen und Streitkräfte, mehr oder weniger eindeutige strukturelle Zwangsmomente und mit Alphabetisierungsquoten, sozialstaatlichen Leistungsniveaus, Qualität der Infrastruktur etc. messbare Wettbewerbs- und Evaluationskriterien vorhanden. Politische Vergesellschaftung vollzieht sich aber anders als die ökonomische stärker über Verhandlungen und Prozesse ideeller und institutioneller Diffusion. Religion verweigert sich dagegen einer solchen Evaluation nach eindeutigen Leistungs- und Rationalitätskriterien. Die Moderne bzw. Globalität verschafft sich hier weniger strukturell als kulturell Geltung, indem Religionen gegenüber moderner Reflexivität und der Pluralisierung von Sinnangeboten Stellung beziehen müssen. Religionen haben aber keinen messbaren Out-Put, über den sie in ein Ranking gebracht werden könnten. Ideelle Auseinandersetzungen zwischen Religionen können nicht wie in der ökonomischen Marktarena nach eindeutigen Kriterien entschieden werden, sondern nur nach expressiven und normativen Präferenzen. Es ist nicht wie in der Ökonomie ein Wettbewerb ums Gleiche, sondern eine Wahl zwischen Alternativen. Versuche, wie etwa der von Hans Küng, im Dialog mit den Vertretern aller Weltreligionen eine Art religiöses Weltethos zu stiften, sind, wenn überhaupt, nur diskursiv verwirklichbar. Die Wahrnehmung von religiöser Über- oder Unterlegenheit ist
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eher eine abgeleitete oder übertragene. Wirtschaftlicher bzw. politischer Erfolg oder Misserfolg kann religiös attribuiert werden und dadurch eine fremdbestimmte Dramatisierung religiöser Orientierungen bewirken. Die globalen Vergesellschaftungsprozesse in den einzelnen Feldern sind also von unterschiedlicher Qualität und Reichweite. Die Gewichtung und das Zusammenwirken von internen und externen Faktoren stellt sich jeweils anders dar. Die Optionen sind dort am stärksten durch globale Strukturen bestimmt, wo es eindeutige Leistungs- und Rationalitätskriterien gibt. Je spezifikationsstärker - in Luhmanns Begriffen: je besser programmierbar - ein teilsystemischer Code oder Wert ist (Schwinn 2001: 348ff.), desto größer ist auch sein globales Vergesellschaftungspotential. Damit lässt sich z. B. die ungleichzeitige Globalisierungsgeschwindigkeit der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen erklären. Die weitergehende Transnationalisierung der Natur- im Gegensatz zu den Sozial- und Geisteswissenschaften verdankt sich ihrer ausgeprägten Standardisierung von Theorien, Methoden und Verfahren, die eine unproblematischere Verständigung über Länder- und Sprachgrenzen hinweg erlaubt (Gerhards/Rössel 1999: 334f.). Die sozial- und geisteswissenschaftlichen Fragestellungen zeigen eine größere Affinität und Nähe zu ihren kulturell eingefärbten Analysegegenständen und sind dadurch weniger gut standardisier- und übersetzbar. Die Rationalisierungsfähigkeit des Sinnkriteriums erklärt noch nicht, warum z.B. die Ökonomie selbst intern ungleiche Globalisierungsgrade aufweist. Arbeits- und Gütermärkte sind in geringerem Maße globalisiert als Finanzmärkte (Fligstein 2000, Gerhards/Rössel 1999). Die Transaktionskosten bei der Verlegung von Produktionsstätten oder der Wanderung von Arbeitskräften sind unvergleichlich höher als jene bei der Transferierung von Aktien. „Gesellschaft" darf eben nicht auf bloße Kommunikation reduziert werden, der „materielle Unterbau" wirkt hier restringierend mit (Schwinn 2001: 85ff.). Weiterhin haben wir keine gleichmäßige ökonomische Globalisierung über alle Regionen hinweg, die Masse ökonomischen Austauschs findet zwischen Europa, USA und Ostasien statt (Fligstein 2000). Auch hier ist nicht Kommunikation und Referenz, sondern die Ordnungsebene ausschlaggebend für das Ausmaß und die Verteilung ökonomischer Globalisierung.
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3.2 Obstruktionsfähigkeit Neben den Sinnkriterien oder Codes der Ordnungen und deren Rationalisierungsfähigkeit ist die Macht- und Sanktionsfähigkeit der einzelnen Ordnungen äußerst ungleich ausgeprägt und auch dies erklärt ihre unterschiedliche Globalisierungsdynamik wie ihre Globalisierungsfähigkeit überhaupt. Die Dynamik der Ökonomie ergibt sich aus dem Umstand, dass hier mit dem Preis ein klares Rationalitätskriterium vorhanden ist und mit dem Markt ein harter Sanktionsmechanismus. Zwar determinieren beide nicht die konkrete Form der Institutionalisierung ökonomischen Handelns, aber unterschiedliche Wirtschaftssysteme werden letztlich an einem gemeinsamen Kriterium gemessen und sanktioniert. Für Politik und Recht fehlen noch und für Religion und Kunst fehlen generell solche eindeutigen Ordnungskriterien und Sanktionsmechanismen auf globaler Ebene. Das Ausmaß, in dem die Binnenteilordnungen der Länder und Regionen zu globalen Teilordnungen zusammenwachsen ist daher äußerst unterschiedlich. Manche werden auch in Zukunft auf der Kommunikations- und Referenzebene verbleiben und keinen Weltordnungsstatus entwickeln. „Welt" existiert hier nur als Horizont, aber nicht als Aggregat oder Ordnung. Dies hat Rückwirkungen auf die nationalen und regionalen Ordnungsmuster. Jene Bereiche mit der größeren transnationalen Dynamik dominieren die anderen. Wir erleben momentan die Mobilmachung gesamter Sozialordnungen im Hinblick auf ihre ökonomische Leistungsfähigkeit. Weltmarktbedingungen setzen nationale institutionelle Arrangements unter ökonomischen Erfolgsdruck und Anpassungszwang. „In such circumstances, comparing social institutions in terms of their economic Performance - their ,efficiency' - is no longer merely an academic concern: It is rather the reality of international Kapitalist development' that increasingly puts entire local and national socioeconomic systems to competitive tests" (Hollingsworth et al. 1 9 9 4 : 10). Über den Konnex des Weltmarktes werden z.B. verschiedenartige nationale Bildungsinstitutionen in einen Leistungsvergleich gesetzt. Prinzipiell ist jedes Ordnungsarrangement im Hinblick auf die Schaffung bestmöglicher Entfaltungschancen für einen Bereich gestaltbar. So ließe sich auch überlegen, wie Politik, Recht, Ökonomie, Religion, Kunst auszusehen hätten, um familialem Leben optimale Möglichkeiten zu bieten. Nicht jede Sphäre hat aber diese Fähigkeit, alle anderen in den Sog ihrer Erfordernisse zu ziehen. Dies gelingt aktuell den Trägern der ökonomischen Ordnung. Bildungsinsti-
tutionen, Politik, Sozialpolitik, Recht, Wissenschaft sollen unter Gesichtspunkten einer effizienten Ökonomie ausgerichtet werden. Selbst vor dem familialprivaten Leben machen diese Forderungen nicht Halt: Gegen eine Freizeitmoral und einen hedonistisch-permissiven Lebens- und Erziehungsstil sollen die der Ökonomie dienlichen Leistungs- und Arbeitsmotive wieder stärker zur Geltung gebracht werden. 9 Bei der Frage, warum die Ökonomie diese privilegierten Einflusschancen hat, stößt man auf die bekannte Einsicht der politischen Soziologie, dass die Machtchancen von sozialen Gruppen mit ihrer Fähigkeit zusammenhängen, ihre Interessen organisieren und im Konfliktfalle dem Gegner oder dem System eine bestandswichtige Leistung entziehen zu können. Die primären Leistungen von Familien, emotionale Regeneration, Reproduktion des Nachwuchses und primäre Sozialisationsleistungen, sind nicht instrumentalisierbar und damit über Organisationsmacht obstruktiv einsetzbar. Diese „Leistungen" der Familie sind eher Nebenprodukte ihres affektuell geprägten Handelns und Erlebens und kein strategiefähiges Interesse. Dort, wo die Leistungen einer Ordnung interessens- und Strategie fähig sind, können sie aber nicht immer obstruktiv eingesetzt werden. Unter diesem Mangel leidet die Wissenschaft. Die Drohung mit dem Entzug einer für andere wichtigen Leistung hat dann die nötige Aussicht auf Erfolg, wenn ein spürbarer Mangel möglichst schnell eintritt. Ein Generalstreik aller Forscher betrifft aber kurz- oder mittelfristig niemanden sonderlich. Wissenschaftler können daher nur warnen, nicht aber drohen. Integrationsprozesse und -belange weisen eher einen kurzfristigen Zeithorizont erwarteter Leistungen auf und benachteiligen jene Bereiche, deren Leistungsentzug längerfristig manifest wird. Es fehlt an einem Sensorium, das für längerfristige Defizite schmerzempfindlich ist. Diese schon im nationalen Rahmen gegebene privilegierte Obstruktionsfähigkeit der Ökonomie wird durch die Globalisierung noch gesteigert. Sie ermöglicht es den ökonomischen Trägergruppen und -Organisationen (der Arbeitgeber-, nicht der Arbeitnehmerseite) jene Sozialordnung aufzusuchen, die am besten ihre Erfordernisse erfüllt. Dies ist eine Variante des thematisierten Leistungsentzugs und der damit verbundenen Konfliktfähigkeit, nur dass hier der Entzug nicht innerhalb des nationalen Rahmens angedroht und vollzogen wird, sondern eine Darstellung und Kritik dieser „Arbeitsmoraldiskussion" bei Bolte/Voß 1 9 8 8 . 9
Thomas Schwinn: Weltgesellschaft, multiple Moderne und die Herausforderungen Leistung in Form von Firmen- und Produktionsverlagerungen völlig einer Sozialordnung entzogen wird. Diese Entzugsmöglichkeiten im globalen Rahmen stehen den Trägern der anderen Bereiche nicht in gleichem Maße zur Verfügung: noch am ehesten für Wissenschaftler, weniger gut für Familien, die sich zwar fragen können, wo die Ordnungsbedingungen am günstigsten für sie sind, für die aber kulturelle, sprachliche und sonstige Hindernisse die Mobilität erheblich einschränken. 1 0 Für Politik und Recht ist der Gedanke einer Auswanderung ihrer Leistungen gar unsinnig. Diese aus ungleichmäßigen Globalisierungsgeschwindigkeiten der einzelnen differenzierten Bereiche sich ergebenden Dominanz- und Prioritätsverhältnisse zugunsten der Ökonomie würden erst dann wieder ausgeglichen, wenn die anderen Ordnungen sich ebenfalls auf der transnationalen Ebene etablierten. Insbesondere einheitliche internationale politische, rechtliche, sozialstaatliche und ökologische Rahmenbedingungen würden den ökonomischen Trägern Drohpotential in Form der Verlagerung ihrer Leistungen entziehen und es ermöglichen, durch mehr oder weniger einheitliche institutionelle Bedingungen den Wildwuchs ökonomischer Ansprüche zurückzuschneiden. Auch auf internationaler Ebene nicht ausgleichbar sind freilich jene prinzipiellen strukturellen Asymmetrien der Sphären, zu denen auch ihre generell unterschiedliche Globalisierungsfähigkeit gehört.
4. Integration, Pfadabhängigkeit und globale Anschlussfähigkeit Wenn man den Gesellschaftsbegriff auf der transnationalen Ebene ansetzt ist man mit dem Integrationsproblem konfrontiert. Differenzierung ist komplementär auf Integration und Koordination der Teilordnungen angewiesen. Ich möchte dabei drei Aspekte hervorheben, die in diesem Zusammenhang eine größere Aufmerksamkeit verdienen: a) Evolution versus Planung, b) Pfadabhängigkeit und Sequenzierung der Institutionenbildung und 1 0 Die Migrationsbewegungen von Süd nach Nord und von Ost nach West sind zwar auch im Sinne eines Aufsuchens von angemessenen Lebensbedingungen zu verstehen, aber sie sind vor allem Armutsbewegungen, die nicht strategisch im Sinne eines Leistungsentzugs motiviert sind. Die mangelnde Strategiefähigkeit von Familien im Vergleich zu ökonomischen Trägergruppen ließe sich auch mit den Unterschieden der Ware „Arbeitskraft" gegenüber Gütern und Dienstleitungen erläutern; vgl. Offe 1 9 8 4 : 44ff.
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c) die Dauerhaftigkeit nationaler Integrationsmuster.
4.1 Evolution versus Planung Luhmann unternimmt keinen Versuch, die Ebene des Weltsystems über den Integrationsaspekt zu bestimmen. Mit der These von einer „Weltgesellschaft" werden keine Homogenitäts- und Einheitsvorstellungen verbunden. Die Minimaldefinition begnügt sich mit der Gesamtheit aller vorhandenen Kommunikations-, Beeinflussungs- und Irritationsmöglichkeiten. Wie der Gesellschaftsbegriff die Differenz von Kommunikation, Referenz und Ordnung konfundiert, so auch die zwischen bloßer Interdependenz oder Wechselwirkung und Integration. Diese Unterscheidung wird innerhalb der Systemtheorie selbst angemahnt. Helmut Willke ( 1 9 9 7 : 9f., 90) stellt ausdrücklich die Tauglichkeit des Weltgesellschaftsbegriffs zum jetzigen Zeitpunkt in Zweifel: „Solange es keine Instanz, kein Verfahren und keine Regeln gibt, welche für die Welt insgesamt verbindliche Normen der Selbststeuerung setzen, macht die Rede von der Weltgesellschaft keinen Sinn". Hier wird der wichtige Unterschied zwischen Interdependenz, die die Teilsysteme erzeugen (nach Luhmann Koevolution) und der von Willke so genannten „organisierten Differenzierung" eingeklagt. Die nationalstaatlichen Entwicklungen haben die Einsicht gefestigt, dass völlig ungesteuerte Differenzierungsprozesse nicht zu stabilisierungsfähigen Ordnungsarrangements führen. Ich würde mit Willke dafür plädieren, eine Sozialtheorie so aufzubauen, dass der Unterschied zwischen bloßer Evolution und gestalteter Entwicklung eine zentrale Rolle spielt. Weder auf der nationalen Ebene noch auf der globalen Ebene setzen sich die Ordnungen automatisch zu einem funktionsfähigen Gebilde zusammen. Hierfür ist eine handlungstheoretische Fundierung erforderlich durch den Einbezug der Trägerguppen und Eliten, die Institutionenarrangements errichten müssen. Mit der Rede von einer „Ausdehnung eines Weltsystems" ist noch nicht geklärt, wie Strukturen übertragen werden. Externe Strukturen determinieren nicht, wie sich Akteure daran anpassen. Sie müssen übersetzt, interpretiert und an vorhandene Strukturen angepasst werden. Zwischen global eintreffenden und regional vorhandenen kulturellen und strukturellen Bedingungen müssen die Akteure konstruktiv vermitteln. So wird in den Arbeiten zur Weltgesellschaft darauf verwiesen, dass Lokales heute nur noch im Kontext
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des Globalen verständlich zu machen ist. Lokale Kulturen profilieren sich vor dem Hintergrund globaler Tendenzen und besinnen sich auf ihre Besonderheit. Das ist sicherlich richtig, aber man hat damit noch nicht verstanden, wie globale Entwicklungen interpretiert, aufgenommen oder abgewehrt werden. Die ganz spezifische Weise der Reaktion auf externe Einwirkungen muss die Deutungsmuster und Strategien der Akteure berücksichtigen. 11 In dieser handlungstheoretischen Sichtweise ist der globale Kontext kein System, sondern eine Arena, in der sich die Beziehungen der Beteiligten als struktureller Kontext fassen lassen, der ein ganzes Spektrum von Handlungs- und Reaktionsmöglichkeiten eröffnet: von innovativer Aneignung und Gestaltung über einfache Nachahmung und Anpassung bis hin zur Ablehnung.
bedeutsam ist die Sequenzierung von Industrialisierung und Demokratisierung. In Europa war im Prozess der Demokratisierung die Landwirtschaft schon weitgehend unbedeutend während in Indien die Demokratie auf einen starken agrarischen Sektor traf und es für Politik unmöglich ist, die Interessen der entsprechenden Trägergruppen zu ignorieren. Institutionenbildungen sind auf die konstitutiven Leistungen der Akteure angewiesen und zuviel Komplexität durch mannigfaltige Probleme kann die Eliten überfordern und angemessene Ordnungsbildungen verhindern. Modernisierungsprozesse verlaufen pfadabhängig (Streeck 2001: 25ff.). Die Ausprägung der spezifischen Ordnungsmuster ist abhängig von vormodernen Erbschaften, dem Zeitpunkt des Eintritts in Modernisierungsprozesse und der Reihenfolge, in der moderne Einrichtungen etabliert werden.
4.2 Pfadabhängigkeit und Sequenzierung Nicht nur für die Wirkungen der globalen Vergesellschaftungsprozesse auf die Binnenordnungen, sondern auch für die Errichtung der länderspezifischen institutionellen Muster erscheint mir eine handlungs- und strukturtheoretische Sichtweise unverzichtbar. Die Modernisierungsforschung hat die Einsicht geliefert, dass die mehr oder weniger große zeitliche Sequenzierung von Institutionalisierungsproblemen eine Bedingung für gelingende Lösungen darstellt (Schwinn 2001: 294). Die Errichtung von unterschiedlichen Institutionen stellt Anforderungen an die entsprechenden Trägergruppen und Eliten, die nur gelöst werden können, wenn ihr Handeln nicht durch zu vielfältige Probleme überfordert wird. Dies zeigt der Vergleich der indischen mit der ostasiatischen und der europäischen Entwicklung. Die zeitliche Sequenz, mit der die Ordnungen institutionalisiert wurden, unterscheidet sich erheblich (Kaviraj 2000: 140, 158f.). Während sich in den ostasiatischen Gesellschaften die Einführung des Kapitalismus ohne Demokratie vollzog und z.T. (China) noch vollzieht (Holzer 2000, Pohlmann 2002) mussten beide Prozesse in Indien parallel bewerkstelligt werden. Auch im Vergleich mit dem Westen stellen sich an die indischen Trägergruppen größere Anforderungen: In Europa trennen sich Politik und Religion historisch lange vor der Demokratisierung, in Indien liefen und laufen beide Prozesse parallel mit der Konsequenz, dass die Frage des säkularen Staates ständig Gegenstand demokratischer Entscheidungsprozesse ist. Ähnlich Vgl. zu so genannten Kreolisierungs- und Hybridisierungstendenzen von Kultur Hannerz 1 9 9 2 . 11
4.3 Institutionenpakete und globale Anschlussfähigkeit Unabhängig von der Frage Evolution versus geplante Ordnungsbildung muss man die Bedingungen der Integrationsfähigkeit auf der länder- und regionalen Ebene stärker gewichten. Die Dauerhaftigkeit länder- und kulturspezifischer Differenzierungsmuster, trotz der Globalisierungstendenzen einzelner Teilsysteme, verdankt sich dem Umstand, dass die Institutionen ineinander verwobene Arrangements mit hoher wechselseitiger Komplementarität bilden. Die ganz spezifische Art und Weise der Koordination der Teilordnungen führt zu länderspezifischen Institutionenpaketen (Biossfeld 2001: 240ff., Hollingsworth 2000, Mayer 2001, Streeck 2001): zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem, zwischen familialen Strukturen, Arbeitsmarkt und Sozialstaat, zwischen Religion, Politik und Recht usw. Diese hohe Komplementarität und Verzahnung national gewachsener Ordnungsmuster hat eine gewisse Rigidität zur Folge, die es den Trägergruppen der einzelnen Bereiche erschwert, völlig flexibel auf externe Anforderungen zu reagieren. Die nationalen Teilordnungen sind keine bloßen Verlängerungen von Weltteilsystemen, deren Veränderungen sich mit einer gleichen Logik in jenen fortpflanzen. Die konkrete Einbettung eines institutionellen Bereichs in ein Ordnungsarrangement bestimmt darüber mit, wie er an globale Prozesse anschließbar ist. Der Faktor „Kultur", insbesondere Religion, verdient in diesem Zusammenhang eine größere Aufmerksamkeit. Es wird auch in Zukunft kein Welt-
Thomas Schwinn: Weltgesellschaft, multiple Moderne und die Herausforderungen religionssystem geben, sondern nur die jeweils regional vorhandenen religiösen Traditionen. Diese müssen sich an die anderen Teilordnungen anpassen wie umgekehrt diese auch wieder durch den spezifischen religiösen Kontext modifiziert werden. Religion verschwindet nicht im Modernisierungsprozess, sie muss sich vielmehr mit einem Teilbereichstatus begnügen. Was dies jedoch im Einzelnen bedeutet, bedarf genauerer Untersuchungen. Wie weit darf der Einfluss von Religion auf andere Bereiche gehen? So zeigt z.B. die Integration der islamischen Wirtschaft in den globalen Finanzmarkt durch einen eigenen islamischen Dow-Jones-Index, der repräsentative Unternehmen aufführt, die den Gesichtspunkten der islamischen Scharia gerecht werden, die Spielräume für die Kombinationsmöglichkeiten institutioneller Bereiche (Kuran 1993, DeLorenzo 2 0 0 0 ) . Auch im westlichen Kontext werden der Ökonomie und den anderen Ordnungen kulturbedingt variierende Schranken auferlegt. Kulturelle Muster und Institutionen haben eine Beharrungskraft, manche Ideen und Bereiche formen massiv die Identitäten der in ihnen involvierten Akteure, andere weniger (Knöbl 2 0 0 1 : 4 4 8 ) . Solche Identitätskerne oder -Zentren kann der Globalisierunsgprozess nicht beliebig übergehen, 12 hier muss mit intensivem Widerstand gegen Wandlungsprozesse gerechnet werden. Modernität ist nicht rein strukturell über die formale Rationalität der Institutionen und ihren funktionalen oder Leistungszusammenhang bestimmbar. Es spielen normative Vorstellungen mit, an denen Ordnungsmuster gemessen werden. Offen wird z.B. die Frage diskutiert, ob gewisse ostasiatische Wege zur Modernisierung mit der Reaktivierung von traditionellen kulturellen Verhaltens- und Wertmustern, Funktionszuwachs von Familienund Clanverbänden, lediglich Ausdruck eines Übergangs zu Formen sind, wie wir sie im Westen kennen (Konvergenzthese) oder ob diese Entwicklung als grundlegend divergierender Modernisierungspfad zu interpretieren ist (Gransow 1 9 9 5 , Zapf 1996). Führende Trägergruppen einiger dieser Länder haben sich gegen das westliche Modernisierungsmodell ausgesprochen und einen eigenen asiatischen Weg postuliert, der sich etwa gegen westlichen Hedonismus und Individualismus richtet. Dies ist nicht unwidersprochen geblieben (Chua 1 9 9 2 , Lee 1995), für die Soziologie ist es aber die Mahnung, sensibel für die Verknüpfungsmöglich-
12 Zu Beispielen vgl. Singer 1 9 7 2 : 383ff. (Indien); Murakami 1 9 8 7 , Robertson 1 9 9 2 : 85ff. (Japan); Geist 1 9 9 6 (China); Kuran 1 9 9 3 , Göle 2 0 0 0 (islamische Länder).
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keiten der Teilbereiche zu sein und ihre am Westen abgelesenen Modernisierungstheoreme (Säkularisierung, Individualisierung 13 , Funktionsverlust der Familie etc.) zu überdenken. Zwar steht mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaften eine empirisch-historisch gesättigte Negativfolie zur Verfügung, die anzeigt, was zu vermeiden ist. Die Institutionenfusion durch Unterordnung aller anderen Bereiche unter die politische Leitidee hat sich langfristig als nicht ordnungstauglich erwiesen. Es ist zu vermuten, dass die Überinstitiutionalisierung der machtgeprägten Sphären, Politik, Ökonomie und Religion 1 4 , Leistungseinbußen erzeugt, die sich mittel- und langfristig als legitimationsgefährdend auswirken. Theoretisch erlaubt diese Einsicht jedoch keine Schlüsse im Hinblick auf Modellvorstellungen einer Vollrealisierung funktionaler Differenzierung. Die auch empirisch wichtigen Fragen des Zusammenhangs mehrerer Ordnungen liegen jenseits oder zwischen der Alternative der weitgehenden Institutionenfusion und einer gleichgewichtigen Differenzierung. 15 Solche Gleichgewichtsannahmen sind eher erkenntnishemmend, um die Zusammenhänge zwischen mehreren Entwicklungsdimensionen wie Wirtschaft, Politik und Kultur aufzuklären. Die „Systemhaftigkeit" der Moderne ist eine offene Frage. Die Arbeiten zur Vielfalt der Moderne und Studien zu Varianten des Kapitalismus (Streeck 2 0 0 1 , Holzer 2 0 0 0 , Pohlmann 2 0 0 2 ) sprechen dafür, dass es verschiedene Kombinationsmöglichkeiten zwischen den Elementen des institutionellen Pools der Moderne gibt. So sind für die Frage des Zusammenhangs von ökonomischer und politischdemokratischer Entwicklung die empirischen Untersuchungen und Ergebnisse nicht eindeutig (Sirowy/Inkeles 1 9 9 1 , Rüland 1 9 9 7 , Inglehart et al. 2 0 0 1 ) . Demokratisierung ist primär ein normatives Ziel. Dies schließt den Gedanken funktionaler Vorzüge von Demokratie zwar nicht aus, aber es käme einem funktionalistischen Fehlschluss gleich, sie daraus ableiten zu wollen. Das Problem normativer Begründung ist nicht identisch mit dem Nachweis
13 Zur Frage, ob z . B . Japan eine dem Westen vergleichbare Individualisierung aufweist vgl. Schubert 1 9 9 2 , Kleinstück 1 9 9 9 . 14 Zur unterschiedlichen Fähigkeit der Sphären, Machtverhältnisse auszuprägen vgl. Schwinn 2 0 0 1 : 170f., 1 8 3 f f „ 196ff. 15 Zum immer nur graduellen und relativen Charakter der Integration von Ordnungen und zur Frage, wie weit die Zusammenhänge zwischen verschiedenen institutionellen Feldern theoretisch überhaupt fassbar sind vgl. Schwinn 2001: 433ff. •
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funktionaler Leistungen. Wie eng und auf welche Weise bestimmte institutionelle Bereiche mit anderen verknüpft sind, hängt auch von normativen Standards ab. So sind z.B. chinesisch-konfuzianische Modernisierungsvorstellungen in hohem Maße ökonomisch geprägt (Gransow 1995: 188, 191, Osterhammel 2002: 83). Die traditionale Legitimation des Herrschers wurde sehr stark an der Sorge für die Wohlfahrt der Untertanen gemessen. Die Moderne ist ein Baukastensatz, der verschiedenartig - nicht beliebig! - zusammensetzbar ist, und verschiedene Ordnungsarrangements sind stabil und in vielfältiger Hinsicht leistungs- und existenzfähig.
5. Kultur: Metaskripte und kulturspezifische Variationen Die Einschätzungen zur globalen Entwicklung der Kultur gehen weit auseinander. Sie reichen vom „Kampf der Kulturen" (S. Huntington) über „Glokalisierung" (R. Robertson) und „Hybridisierung" (U. Hannerz) bis hin zur „McDonaldisierung" (G. Ritzer). Ein interessanter, weil durch vielfältige empirische Studien untermauerter Ansatz stammt von John W. Meyer und seiner Forschungsgruppe in Stanford (Meyer et al. 1997, Meyer 2000, Strang/ Meyer 1993; vgl. auch Wobbe 2000: 26ff., Heintz et al. 2001). Ausgangspunkt ist die Feststellung weltweiter institutioneller Isomorphien: ähnliche Formen und Ausprägungen des Nationalstaates, von Bildungsinstitutionen, des Sozialstaates, des Gesundheitssystems, der Umweltpolitik etc. Mit Bezug auf M a x Webers These einer Ausbreitung formaler Rationalität in der Moderne wird dies mit den global sich durchsetzenden kulturellen Mustern erklärt, die die institutionellen Isomorphien legitimieren. Die Kultur der Weltgesellschaft ist das Ergebnis einer Universalisierung okzidentaler Rationalitätsmuster. Die gemeinsame Kultur wird in internationalen Vereinbarungen kodifiziert, in Programmen operationalisiert und über ein Geflecht von internationalen Organisationen in die einzelnen Länder diffundiert. Die Angleichungsprozesse kommen über drei Mechanismen zustande: durch Zwang, infolge der bindenden Kraft internationaler Verträge und Organisationen (Weltbank; Währungsfond), über die Rechtsnormen und Standards institutionalisiert werden; durch Imitation von institutionellen Mustern oder technischen Standards und schließlich durch normativen Druck über eine medial vermittelte Weltöffentlichkeit und Expertenstäbe, die Rationalitätskriterien festlegen, z.B.
Mediziner für das Gesundheitswesen. Die institutionellen Angleichungsprozesse werden nicht wie bei Luhmann auf die Entfaltung einer inneren Logik und Eigendynamik der Teilsysteme zurückgeführt - gegen diese Vorstellung wendet sich die Stanford-Schule explizit - , sondern auf einen kulturellen Bezugsrahmen des Für-Notwendig-Haltens (Meyer et al. 1997: 149, 156, 174, Strang/Meyer 1993: 506). Die geglaubte Gültigkeit und Bedeutung der kulturellen Skripte und institutionellen Muster und nicht die „funktionalen Erfordernisse" einer Gesellschaft erklären ihre globale Verbreitung. N u r so ist es verständlich zu machen, dass Entwicklungsländer Universitäten errichten und ein überqualifiziertes Personal produzieren, das für ihre Entwicklungserfordernisse dysfunktional ist, oder dass Autobahnen errichtet werden, die im Nichts enden und niemals einen Verkehrsteilnehmer gesehen haben. Gegenüber diesem diffusionistischen Modell stellen Autoren in der Tradition der Modernisierungstheorie die Bedeutung von strukturimmanenten Faktoren für kulturelle Angleichungen in den Vordergrund. Der Grundgedanke dafür ist wohl in Talcott Parsons' Idee evolutionärer Universalien zu suchen (Parsons 1979). Parsons nahm an, dass w o immer Gesellschaften sich entwickeln, sie auch auf gleiche Grundlösungen, die evolutionären Universalien, kommen werden. So wie sich biologischen Organismen gewisse Grundprobleme stellen (Stoffwechsel, Bewegung, Fortpflanzung, Wahrnehmung etc.), für die es parallel und mehrfach entwickelte biologische Universalien gibt, so sind auch Gesellschaften mit bestimmten Aufgaben konfrontiert, für deren Lösung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit soziale Universalien entwickelt würden. Dabei wird angenommen, dass die Hauptmerkmale der Moderne (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Familie etc.), eng miteinander verbunden und die kulturellen Prämissen mit den strukturellen innerlich verflochten sind. Modernisierungsprozesse führen überall zur Wiederholung der westlichen Kultur (Senghaas 1998: 15ff., 142ff.). Die moderne, global sich ausbreitende Kultur wird als „westlich" bezeichnet; in Wirklichkeit ist sie aber Ausdruck bestimmter Grundstrukturen, die, wo immer sie eingeführt werden, zu ähnlicher Kultur führen. So bringe z. B. Industrialisierung überall eine abnehmende Abhängigkeit von den unkontrollierbaren Bedingungen der N a t u r in agrarisch geprägten Gesellschaften mit sich. Die unbeherrschbaren existentiell bedrohlichen Launen der Natur müssen nicht mehr durch religiöse Kontingenzbewältigung aufgefangen werden und entsprechend stellt sich ein kultureller Be-
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deutungsverlust von Religion ein. Mit Tertiarisierungsprozessen schiebt sich dann ein anderer Typus von Arbeit, ein höheres Bildungs- und Einkommensniveau, zunehmende Frauenerwerbstätigkeit etc. in den Vordergrund, was wiederum einen kulturellen Wandel von materialistischen hin zu postmaterialistischen Selbstverwirklichungswerten bewirkt (Inglehart/Baker 2000: 20ff.). Der Ökonomie wird hier gegenüber der Kultur der kausale Primat zugesprochen. Die Bereiche stellen sich in der Reihenfolge ökonomische Entwicklung, daraus resultierende Veränderungen der Werteinstellungen und der politischen Kultur und schließlich Errichtung demokratischer Institutionen ein. Die Zusammenhänge ergeben sich aufgrund endogener Kausalitäten. In dieser Sichtweise verdanken sich die globalen Konvergenzen nicht Diffusionsprozessen auf einer emergenten Ebene der Weltgesellschaft (Wobbe 2000: 6,10), sondern einer impliziten Modernisierungslogik, die überall zu gleichen Resultaten führt. Explizit wendet sich diese Richtung gegen die Annahme, dass etwa Demokratisierungsprozesse und die dafür nötige politische Kultur aus externen Faktoren resultieren und in die Gesellschaften diffundieren würden (Inglehart et al. 2001: 427,435f.). Traut diese Variante des modernisierungstheoretischen Denkens der Kultur zu wenig, so die diffusionistische Schule des Neoinstitutionalismus ihr zuviel Prägekraft zu. Die empirischen Ergebnisse der umfangreich angelegten Studie von Inglehart/Baker (2000) zeigen zweierlei: Einerseits bewegt sich das kulturelle Wertmuster aller sich modernisierender, insbesondere: ökonomisch sich entwickelnder Länder in eine bestimmte, gleiche Richtung. Die Wertorientierungen wohlhabender Länder unterscheiden sich deutlich von denen der ärmeren. Andererseits gleicht sich die Kultur fortgeschrittener Gesellschaften nicht an, wie von der Meyer-Schule angenommen. Die religiösen und kulturellen Erbschaften führen zu Pfadabhängigkeiten. Konfuzianische, protestantische, katholische Gesellschaften weisen trotz vergleichbarem Entwicklungsniveau unterschiedliche Positionen in der kulturellen Wertematrix auf. Eine generelle kulturelle Konvergenz auf der globalen Ebene gibt es offensichtlich nicht wie von der Stanford-Schule vermutet, bzw. genauer: sie gibt es nur auf einer bestimmten Ebene. Die kulturellen Gemeinsamkeiten zeigen sich auf einer sehr abstrakten Ebene. Es sind Metaskripte von Kultur, deren Hauptpfeiler Rationalität, Individualismus, Fortschritt und Gerechtigkeit sind. 16 Über konkrete Kulturinhalte erfährt man in den Arbeiten 16
Zu Kernideen der Moderne und ihrer Dynamik vgl.
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der Meyer-Gruppe jedoch kaum etwas. Für diese interessieren sich mehr die von Eisenstadt angestoßenen Arbeiten zur multiplen Moderne (Ben-Rafael/Sternberg 2001; Sachsenmaier/Riedel 2002). Beide Perspektiven lassen sich sinnvoll kombinieren. So haben z. B. die Arbeiten zur Vielfalt der Moderne das Problem, das Gemeinsame der Moderne, die im Singular angeführt wird, zu identifizieren. Auf einer allgemeinen Ebene wird der Moderne ein neuer zivilisatorischer und kultureller Status zugeschrieben (Eisenstadt 1987: 5f., Ben-Rafael/Sternberg 2001: 5f., Arnason 2001: 134, Eisenstadt 2000b: 3f.). Wie die sogenannte Achsenzeit transformiert auch die Moderne die Weltanschauung grundlegend. Die großen Kultur- und Weltreligionen waren Gedankengebäude umfassender Art, die Antworten auf alle Aspekte des Lebens hatten. Die Moderne liefert dagegen keine präzisen Weltbilder oder Kosmologien mehr. Religionen bieten den Menschen „das Eine was Not tut und richtig ist", die Moderne konfrontiert mit der Einsicht, dass die Welt eben kein gottgeordneter, sinnvoller Kosmos ist. Sie setzt die Menschen in ein Verhältnis der Reflexivität zu ihrem Denken und Handeln. Das InFrage-Stellen, das Suchen nach Alternativen, die aktive Gestaltung der Verhältnisse sind Kernmomente des kulturellen Gehalts der Moderne, die gerade auch Meyer (2000) als zentral für die sich bildende Weltkultur herausstellt. In der Weberschen Perspektive der „Protestantischen Ethik" wird die kulturelle Revolutionierung der inneren Verhältnisse betont. Der Veränderung der äußeren Welt geht historisch eine solche der inneren Welt der Subjekte voraus. Dies ist ein von innen nach außen gewendetes Moment globaler Expansion. Als aktive We/ibeherrschung bezeichnet Weber die typisch moderne Orientierung und Motivlage. Der Neoinstitutionalismus knüpft hier an und sieht in dieser universalistischen Tendenz der Rationalisierung den zentralen Motor der Weltgesellschaft. Das Gemeinsame der Moderne ist eine Art Minimal- oder Metakultur 17 , die die konkreten Kulturinhalte nicht determiniert, aber den Kontext für ihre Entfaltung vorzeichnet. Dieser meta-kulturelle und zivilisatorische Status der Moderne zeigt sich darin, dass an ihr kein Weg vorbei und kein Weg aus ihr heraus führt. Die Moderne hat eine enorme Fähigkeit, Neues zu absorbieren bzw. Lebensformen zu durchtränken und zu prägen. Selbst dort wo sie Opposition gefunden hat können die Gegenauch Münch 1 9 9 1 : 27ff.; auch Hannerz ( 1 9 9 6 : 5Off.) nimmt eine Art „Metakultur" an. 17 Zu ähnlichen Überlegungen vgl. Stichweh 2 0 0 0 : 2 2 f .
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Programme nicht ohne Bezug auf die Ideen oder Metaskripte der Moderne formuliert werden (Meyer et al. 1997: 161, 170, Cigdem 1998: 97, Tezcan 1998: 123, Eisenstadt 2 0 0 0 a : 174ff., Wittrock 2000: 38, 50, Göle 2 0 0 0 , Stichweh 2 0 0 1 b : 121). So ist selbst der religiöse Fundamentalismus eine moderne Bewegung gegen die Moderne. Z u m einen wird religiöses Gedankengut selektiv im Lichte jener Probleme angeeignet und interpretiert, mit denen das Individuum heute konfrontiert ist. Die Hauptträger, Eliten wie Massen, etwa des islamischen Fundamentalismus (Riesebrodt 1998) sind urbanisierte und modern erzogene soziale Gruppen, die moderne politische Idiome, städtische und öffentliche Sphären und moderne Kommunikationsmittel und Technologien verwenden. Die Verwirklichung von angeblich ursprünglichen religiösen Botschaften wird mit den Mitteln der modernen Politik im Hier und Jetzt angestrebt. Der religiöse Fundamentalismus knüpft dabei an moderne Ideen der politischen Revolutionen der Neuzeit an: die Vorstellung, dass Gesellschaft und Geschichte von handelnden, aktiven Subjekten gemacht werden kann und dass dies über Politik geschehen könne. N a c h vormodernem religiösem Verständnis lassen sich Verhältnisse nicht nach Belieben durch politische Handlungen verändern oder herbeiführen. Die Moderne steht also hier nicht in einer Art Nullsummenspiel zur Religion. Sie ersetzt nicht Religion, sondern gibt den Kontext vor, in dem religiöse Trägergruppen agieren müssen. Es gibt eine globale Kultur auf einer abstrakten Ebene, aber sie wird kulturspezifisch gebrochen und mit erheblichen Variationen institutionalisiert. Die Grundideen der Moderne werden in den Ländern und Kulturen nicht auf ein weißes Blatt eingetragen, sondern es ergeben sich Adaptionsprozesse, „mit einem unterschiedlichen Grad an kulturellem ,match' bzw. ,misfit' zwischen internationalen Normen und nationalen Rahmenbedingungen" (Heintz et al. 2 0 0 1 : 406). Dabei müssen die Einsichten des modernisierungstheoretischen Denkens berücksichtigt werden. Die Realisierungschancen der globalen Ideen wie Individualismus und Selbstverwirklichung hängen nicht nur von der Kultur, sondern auch vom strukturellen Modernisierungsniveau der Länder ab, auf die diese Ideen treffen. Eine durch ökonomische Entwicklung entstandene nennenswerte Mittelschicht ist für Menschenrechtsfragen und Individualismus empfänglicher als agrarische Schichten (Senghaas 1998). Weiterhin dominiert in den Meyerschen Arbeiten zur Weltgesellschaft eine kognitionslastige Sicht von Ideen (Wobbe 2000: 39) und eine Unterbelich-
tung ihrer normativ-expressiven Komponenten. Mit der globalen Ausbreitung moderner Errungenschaften sind nicht nur Individualisierung, Selbstverwirklichung und Fortschritt, sondern auch Anomie, Entfremdung, die Erosion traditioneller Bande und sozialer Beziehungen, Arbeitslosigkeit, Drogenprobleme, Umweltzerstörung usw. verbunden. Diese durch ökonomische und politische Maßnahmen wie durch Wissenschaft immer nur begrenzt lösbaren Problemlagen geben den religiösen Trägergruppen expressiv geprägte Deutungschancen (Huntington 1998: 103ff., Giesen 1996: 98ff., Inglehart/Baker 2000: 46ff., Stichweh 2001b: 123). Religion als Kontingenzbewältigung individueller und kollektiver Risiken und daraus resultierender Identitätsprobleme hat eine prinzipielle Überlebenschance in einer sich globalisierenden Welt. Da sie, wie dargelegt, über keine globalen Rationalitätskriterien verfügt, stellt Religion ein Variationspotential dar, das den standardisierenden Effekten der Ökonomie und Politik wie ein unentrinnbarer Schatten folgt.
6. Schluss Die Soziologie steht in der aktuellen Theoriediskussion vor der Herausforderung, den Status der Moderne zu überdenken. Die Klassiker des Fachs bieten dafür keine sicheren Leitorientierungen. Eine angemessene Theorie hat dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Moderne heute weltweit als gemeinsamer Kontext verbreitet ist, ohne dass es zu einer Konvergenz von Ordnungsmustern gekommen ist. Die hier in den Mittelpunkt gestellten Theorien sind sich einig in der Annahme, dass die gegenwärtigen Entwicklungen weder durch einfache Divergenz- noch durch Konvergenzannahmen adäquat erfasst werden können. Die beiden Begriffe „Weltgesellschaft" und „ M o d e r n e " , mit denen versucht wird, die aktuelle Situation zu verstehen, tragen jedoch alle Mängel von unbestimmten Subsumtionsbegriffen, denen man höchst Unterschiedliches zurechnen kann. So lässt sich Modernität nicht umfassend mit einem eindeutigen Modell erfassen. Die mittlerweile über 2 0 0 Länder der Erde lassen sich durch statistisches Ranking in ein nahtloses Kontinuum bringen, je nach Messkriterium: Alphabetisierungsquote, Säuglingssterblichkeit, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, Bruttosozialprodukt pro Kopf, Lebensstandard, Demokratisierung, Qualität der Infrastruktur, Bildungsniveau etc. Hier eine klare Grenze zu ziehen und für alle Länder diesseits der Grenze den Begriff „ m o d e r n " zu reservieren er-
Thomas Schwinn: Weltgesellschaft, multiple Moderne und die Herausforderungen scheint unmöglich - zumal Modernitätskriterien in verschiedenen Kombinationen vorkommen: Wie vergleicht man OPEC-Staaten ohne Demokratie aber mit hohem Lebensstandard mit der indischen Demokratie aber prekären Lebensverhältnissen vieler Menschen in diesem Land? Oder wie ist die Diskussion um einen eigenständigen ostasiatischen Modernisierungspfad mit z.T. ausbleibender Demokratisierung einzuschätzen? Die Bandbreite von Modernität hat zu-, aber die Präzision dieses Begriffs dadurch abgenommen. Vorreiter und Vorbilder lassen sich nicht mit einem Modell erfassen. Die Entwicklungen nicht-westlicher Gesellschaften zwingen die Soziologie, sich von eindeutigen Bestimmungen der Moderne zu verabschieden und offener für Ordnungsformen und -kombinationen zu sein. Vorreitergesellschaften, die neue Standards von Modernität zu setzen vermögen, können dies in der Regel nur in Bezug auf einen oder einige wenige Aspekte und nicht in einem umfassenden Sinne. So war Japan in den 80er und Anfang der 90er Jahre vorbildlich in Bezug auf wirtschaftliche und organisatorische Aspekte, nicht jedoch in politischer, wissenschaftlicher oder kultureller Hinsicht. Die Moderne lässt sich nicht umfassend auf einem Aggregatniveau „Gesellschaft" und damit in allen Einzelheiten bestimmen. Die unterschiedlichen Arrangements der differenzierten Ordnungen in den Ländern bringen Vorteile in Bezug auf jeweils verschiedene Aspekte hervor, aber kein Ordnungsmuster definiert „Modernität" umfassend oder essentialistisch. Bieten die Ansätze zu einem System der Weltgesellschaft die analytisch fruchtbarere Alternative? Skepsis ist angebracht. Fraglich ist, ob es eine „Theorie der Weltgesellschaft" jemals geben wird. 1 8 Die Gesamtheit aller globalen Wechselwirkungen ist theoretisch nicht rekonstruier- und modellierbar. Immer nur bestimmte Seiten und Aspekte des Geschehens werden beleuchtet und zum Gegenstand analytischer Anstrengungen gemacht in Meyers Weltgesellschaft andere als in der Luhmanns. Die Frage ist ferner, ob sich das Verhältnis von globalen Vergesellschaftungsprozessen zu den länder- und kulturspezifischen Variationen von Ordnungsmustern über den Weltsystembegriff aufklären lässt. Luhmann ( 1 9 9 7 : 81 l f . ) argumentiert, „daß die auf der Ebene der Weltgesellschaft durchgesetzte funktionale Differenzierung die Strukturen 18 Zur Kritik am Gesellschaftsbegriff als Ausgangs- und Zielpunkt soziologischer Theorienbildung vgl. Schwinn 2 0 0 1 ; vgl. auch die skeptischen Bemerkungen bei Albert 2002: 352.
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vorzeichnet, welche die Bedingungen für regionale Konditionierungen vorgeben". Zugleich sieht er aber auch, dass die Weltgesellschaft überall nur unter ganz konkreten Bedingungen verwirklicht wird (Luhmann 1997: 811). J e mehr man auf die Details zugeht, desto mehr zeigen sich überall nur Abweichungen von dem, was die Theorie funktionaler Differenzierung erwarten lässt - nicht nur in den Entwicklungsländern, sondern auch in jenen Ländern, die auf eine lange und reiche Erfahrung mit Modernisierung zurückblicken können (Luhmann 1 9 9 7 : 806f., 1087f.). Diese Einsichten haben Eisenstadt und andere veranlasst, von einer „multiplen Moderne" zu reden und die Idee einer modellhaft eindeutig definierbaren Moderne fallenzulassen, an der sich alle Fälle vergleichen lassen. Das Differenzierungstheorem, das wesentlich die These der Weltgesellschaft trägt, ist also nirgends rein verwirklicht. Hält man am Weltgesellschaftsbegriff fest, muss gezeigt werden, dass die länder- und regionalspezifischen Variationen dennoch einer globalen Systemlogik folgen. Das bleibt beim momentanigen Stand der systemtheoretischen Arbeiten eine These, die erst noch bestätigt werden müsste zwingend ist sie jedenfalls nicht. Um den Begriffen „Moderne" und „Weltgesellschaft" einen analytisch präziseren Sinn abzuringen, muss man auf einer niedrigeren Ebene die gemeinten Phänomene spezifizieren. Ich hatte mir verschiedene Globalisierungs theoreme herausgegriffen und einer kritischen Prüfung unterzogen. Für einzelne globale Vergesellschaftungsdimensionen und -prozesse lässt sich das Verhältnis zu den länder- und kulturspezifischen Variationen besser bestimmen. Wir benötigen in Zukunft mehr konkrete Studien, die sich der Frage widmen, inwieweit die vorfindbaren Ordnungsformen partikulare Ausprägungen globaler Strukturen sind und inwieweit sie daraus nicht ableitbare eigenständige Modernitätsvarianten darstellen. Die Multiplizierung der weltweiten Referenzverhältnisse - nicht mehr alle vorbildlichen und nachahmenswerten bzw. unvorteilhaften Entwicklungen vollziehen sich in einer bestimmten Region der Erde - hat die Soziologie ernst zu nehmen und ihre Referenzverhältnisse begrifflich ebenfalls zu erweitern. Galt lange Zeit das westliche als das alleinige Muster, geht es nun darum, seine Besonderheit zu begreifen und die M o dernisierungspfade und -Varianten vergleichend aufzuklären.
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 2 0 5 - 2 2 2
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Autorenvorstellung: Thomas Schwinn geb. 1 9 5 9 in Heidelberg. Studium der Soziologie und Politischen Wissenschaft. Von 1 9 9 3 bis 1 9 9 9 Wissenschaftlicher Assistent und von 2 0 0 0 bis 2 0 0 3 Oberassistent am Institut für Soziologie der Universität Heidelberg. Seit 2 0 0 3 Professor für Soziologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Forschungsschwerpunkte: Divergenz und Konvergenz in den globalen Entwicklungen und die Vervielfältigung der M o derne, Differenzierungstheorie, soziologische Theorie, Mikro-Makro-Problematik, M a x Weber. Ausgewählte Publikationen: Jenseits von Subjektivismus und Objektivismus. M a x Weber, Alfred Schütz und Talcott Parsons, Berlin: Duncker Humblot 1 9 9 3 . „Funktionale Differenzierung - w o h i n ? " , in: Berliner Journal für Soziologie 5, 1 9 9 5 : 2 5 - 3 9 . „False Connections: Systems and Action Theories in Neofunctionalism and in Jürgen H a b e r m a s " , in: Sociological Theory 16, 1 9 9 8 : 7 5 - 9 5 . „Staatliche Ordnung und moderne Sozialintegration", in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 5 3 ( 2 0 0 1 ) : 2 1 1 - 2 3 2 . Differenzierung ohne Gesellschaft. Umstellung eines soziologischen Konzepts. Weilerswist: Velbrück 2 0 0 1 . Kulturvergleich in der globalisierten Moderne, in: G. Albert et al. (Hrsg.), Das Weber Paradigma. Tübingen: M o h r 2 0 0 3 . Zuletzt in dieser Zeitschrift: „Soziale Ungleichheit und funktionale Differenzierung. Wiederaufnahme einer Diskussion", ZfS 2 7 , 1 9 9 8 : 3 - 1 7 .
Differenzierung und Integration der Weltgesellschaft
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2 0 0 5 , S. 2 2 3 - 2 3 8
Politik der Weltgesellschaft und Politik der Globalisierung: Überlegungen zur Emergenz von Weltstaatlichkeit Politics of World Society and Politics of Globalization: Notes on the Emergence of World Statehood Mathias Albert* Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie, Universitätsstraße 25, D - 3 3 6 1 5 Bielefeld E-mail: [email protected] Zusammenfassung: Der Artikel stellt zunächst eine Globalisierungs- und eine Weltgesellschaftsperspektive als vermeintlich unvereinbare Blickrichtungen auf politischen und sozialen Wandel vor und sucht nach Ansatzpunkten, welche Berühungspunkte nahe legen. Trotz einer durch einen „methodologischen Nationalismus" scheinbar markierten Scheidelinie zwischen beiden Ansätzen und ihrer Konzeptualisierung von Politik scheinen sich eine Reihe von Gemeinsamkeiten identifizieren zu lassen. Diese liegen dabei jedoch nicht zuletzt auch in einer gemeinsam geteilten idealtypischen Überzeichnung realhistorischer Entwicklungen, sowie in gemeinsam geteilten, zum Teil möglicherweise im Gesellschaftsbegriff selbst transportierten Restbeständen des „westfälischen Modells" in der Weltgesellschaftsperspektive. Vermittelnd wird vorgeschlagen, den Blick zunehmend auf sich herausbildende weltstaatliche Strukturen zu lenken. Dabei wird die These entwickelt, dass es sich bei der entstehenden Weltstaatlichkeit um eine inklusive Form von Staatlichkeit handelt, die nicht mit exklusiven Souveränitätsansprüchen konkurriert. Die Strukturen der „Global Governance" stellen die Grundlage dieser Weltstaatlichkeit dar, die sich jedoch nur aufgrund der zunehmenden (welt-)rechtlichen Absicherung von Global Governance und dem Entstehen einer Weltöffentlichkeit als Staatlichkeit zu konsolidieren beginnt. Darüber hinaus sind erste Vorläufer einer Semantik von Weltstaatlichkeit zu registrieren. Summary: This article juxtaposes a "globalization" and a "world society" perspective. It demonstrates how both could be read as irreconcilable conceptualizations of political and social change, yet seeks to identify possible points of contact between them. A number of commonalities can indeed be defined, although a "methodological nationalism" divides both approaches and their particular views of politics. Both share an emphasis on ideal types, which distort real historical developments, as well as some residual elements of the "Westphalian model" — possibly inherited from classical understandings of the very concept of "society" itself. It is argued that more substantial common ground could be gained by focusing on emerging structures of world statehood. The thesis is developed that emerging world statehood is a kind of inclusive statehood which does not compete with traditional claims of exclusive sovereignty. While structures of "global governance" provide the basis of world statehood, it starts to consolidate only on the basis of a global governance increasingly grounded in (world) law and the emergence of a world public. In addition, it is possible to register the first harbingers of a semantics of world statehood.
1. Einleitung
F u n k t i o n v o n Politik in e i n e m w e l t w e i t e n gesellschaftlichen K o n t e x t ermöglichen. Vor diesem Hin-
D e r v o r l i e g e n d e B e i t r a g versteht sich als eine e x p l o -
t e r g r u n d w i r d die T h e s e e n t w i c k e l t , dass die sich
r a t i v e Studie zur Politik in der Weltgesellschaft. Sie
h e r a u s b i l d e n d e n S t r u k t u r m u s t e r des Politischen in
g r e i f t insbesondere die einschlägige
der W e l t g e s e l l s c h a f t als E m e r g e n z v o n Weltstaat-
politikwissen-
schaftliche F o r s c h u n g zu G l o b a l i s i e r u n g und zu Formen
des
Regierens
jenseits
des
Nationalstaates
( „ G l o b a l G o v e r n a n c e " ) auf und v e r k n ü p f t sie mit soziologischen Ü b e r l e g u n g e n zur „ W e l t g e s e l l s c h a f t " . G e r a d e angesichts der a m o r p h e n B e g r i f f s l a n d s c h a f ten im U m f e l d v o n „ G l o b a l i s i e r u n g "
und
„Welt-
g e s e l l s c h a f t " s c h l ä g t der B e i t r a g z u n ä c h s t eine R e i he v o n
begrifflichen
Einordnungen
vor,
die
im
F o l g e n d e n eine n ä h e r e B e s t i m m u n g der R o l l e und
lichkeit v e r s t a n d e n w e r d e n k ö n n e n . In der s o z i a l w i s s e n s c h a f t l i c h e n G l o b a l i s i e r u n g s d i s k u s s i o n im w e i t e r e n Sinne kristallisiert sich die F r a ge als zentral h e r a u s , i n w i e w e i t Politik und G e s e l l s c h a f t als v o r r a n g i g in n a t i o n a l s t a a t l i c h e
p r o z e s s e d a n n v o r a l l e m die E n t g r e n z u n g und mithin A u f l ö s u n g dieser F o r m e n aber schrift
* Für wertvolle Hinweise zur Überarbeitung dieses Beitrages danke ich den anonymen Gutachter/-innen der Zeitschrift für Soziologie sowie Herrn Jochen Walter.
Formen
eingebettet zu betrachten sind u n d G l o b a l i s i e r u n g s beschreiben.
u n d d a s v o r l i e g e n d e S o n d e r h e f t der für Soziologie
Oder Zeit-
m a g hier als V o t u m in diese
Richtung gewertet werden - ob Gesellschaft nur n o c h als We/fgesellschaft und Politik als Politik in dieser W e l t g e s e l l s c h a f t zu d e n k e n ist. F ü r d a s K o n -
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zept der Globalisierung bliebe dann entweder noch die Bedeutung einer Geschichte der Entstehung von Weltgesellschaft oder aber die Bestimmung als Prozess fortschreitender weltgesellschaftlicher Binnendifferenzierung übrig. Dabei markiert diese Unterscheidung zwischen einem eher „klassischen" und einem „weltgesellschaftlichen" Globalisierungsverständnis nicht nur einen wichtigen theoretischen Unterschied. Vielmehr verweist sie auch auf eine zentrale politische Frage, insofern hier in gewissem Sinne mit der Semantik auch die Konstruktion des entstehenden politischen Ordnungsrahmens in der Weltgesellschaft verhandelt wird. Gerade aufgrund der überbordenden Verwendung des Globalisierungsbegriffs sieht sich seine Verwendung im sozialwissenschaftlichen Kontext heute mit einer kaum noch erfüllbaren Begründungserwartung konfrontiert. Begriff und Theorie der Weltgesellschaft entziehen sich dieser Erwartung in gewissem Sinne recht elegant, insofern damit von Beginn an auf die These einer emergenten Strukturbildung auf der Ebene eines weltweiten Sozialsystems gesetzt wird. 1 Damit erfolgt eine zunächst scheinbar eindeutige Abgrenzung von einer weitgehend diffus bleibenden Globalisierungsdiskussion, welche globalen Strukturwandel letztlich nur in Abgrenzung von einer im Grunde „westfälischen" 2 Weltordnung zu denken vermag. Es soll jedoch gerade im Kontext dieses Heftes nicht ein weiteres Mal um die Frage gehen, inwiefern der Begriff der „Weltgesellschaft" reichhaltiger und insbesondere gesellschaftstheoretisch anschlussfähiger 1 Vgl. etwa Stichweh 2 0 0 0 , der die Luhmannschen Überlegungen zur Weltgesellschaft konsequent in systemtheoretischer Tradition weiterführt. 2 Die Auseinandersetzung mit d e m „westfälischen M o dell", d . h . der Vorstellung, dass das moderne Staatensystem als ein konstitutiv auf territorial exklusiv voneinander abgegrenzten Herrschaftsräumen a u f r u h t , welches im Friedensschluss von M ü n s t e r und O s n a b r ü c k seinen Ursprung hatte - und dabei vor allem die Frage, o b gegenwärtige Wandlungsprozesse eher als Bestätigungen oder Transzendierungen dieses Modells hin zu einem „post-westfälischen" Modell bzw. internationalen System zu verstehen sind - , bildet einen der Diskussionsstränge, die die politikwissenschaftliche Teildisziplin der Internationalen Beziehungen in den letzten Jahren maßgeblich geprägt haben. Z u r Lesart, dass die „Übertretung" des westfälischen M o dells immer schon die Regel und daher seine normative Leitbildfunktion nicht in Frage stehe, vgl. insbesondere Krasner 1999; z u m Entwurf eines „post-westfälischen" Systems insbesondere Ferguson/Mansbach 2 0 0 4 ; zur Kritik eines in den Internationalen Beziehungen vorherrschenden historischen Zerrbildes des Westfälischen Friedens, Oslander 2001.
ist als der der „Globalisierung". 3 Es scheint in gegenwärtigen Diskussionen weniger an der Auseinandersetzung mit bestimmten Globalisierungsund Weltgesellschaftskonzepten zu mangeln als vielmehr an einer Auseinandersetzung mit einer möglichen Einheit in der Vielfalt dieser Begriffe. Bei der Frage nach einer solchen Einheit in der Vielfalt geht es ausdrücklich nicht darum, einen gemeinsam „Kern", etwa im Sinne eines gemeinsamen Weltbegriffs herauszudestillieren. Vielmehr handelt es sich hier um eine Auseinandersetzung mit Entwicklungen in der Globalisierungs- und Weltsemantik, insofern diese als Indikator für die Strukturevolution der Politik in der Weltgesellschaft gewertet werden können. Es soll an dieser Stelle keine systematische Bestandsaufnahme der Globalisierungs- bzw. Weltgesellschaftsdiskussionen versucht werden. Vielmehr soll im Folgenden eine mögliche Schneise durch diese Diskussionen geschlagen werden, wobei der Schwerpunkt auf der Auseinandersetzung mit der Rolle und Funktion von Politik in der Weltgesellschaft liegt. Zu diesem Zweck werden im folgenden Teil zunächst einige begriffliche Positionsbestimmungen vorgenommen. Während die Diskussionen um Globalisierung und Weltgesellschaft durch eine große Vielfalt von Begriffsbestimmungen geprägt sind, so scheint doch wenigstens die Unterscheidung zwischen einem „methodologischen Nationalismus" und einem „methodologischen Kosmopolitismus" (vgl. Beck 2002) auf den ersten Blick ein verlässliches Kriterium an die Hand zu geben, das es erlaubt, Globalisierung und Weltgesellschaft klar voneinander abzugrenzen: Während die Rede von der Globalisierung ein „Auflösen", „Durchbrechen" und „Entgrenzen" einer nationalstaatlichen Ordnung zu implizieren scheint, setzt die Vorstellung einer Weltgesellschaft einen „vom Ganzen" differenzierungstheoretisch abgeleiteten Status dieser Ordnung voraus. 4 Gleichzeitig zwingen dabei jedoch die mit diesen methodologischen Einstellungen einhergehenden Modellvorstellungen dazu, die Kontinuität gerade hinsichtlich nationalstaatlicher Ordnung überzuinterpretieren und daher den empirischen Regelfall einer „ungleichen Durchstaatlichung" bzw. der Heterogenität des politischen Raumes in den Bereich von theoretischen Nischen, Grauzonen und Übergangsbereichen zu verweisen. Gerade dann jedoch, wenn man die „Ausnahmefälle" der „failed states", der postkolonialen Quasi3
Hiermit habe ich mich ausführlich im ersten Teil von Albert (2002) auseinandergesetzt. 4 Auf den Punkt: L u h m a n n 1998: 352.
Mathias Albert: Politik der Weltgesellschaft und Politik der Globalisierung Staaten und der Herausbildung supra- und transnationaler politischer Ordnungsgefüge als empirischen Regelfall anzuerkennen bereit ist, zerfließt die strikte, methodologisch begründete Trennung zwischen einer weltgesellschaftlichen Perspektive auf der einen und einer Globalisierungsperspektive auf der anderen Seite. Gerade in Bezug auf die R o l l e und Funktion von Politik repräsentieren „ G l o b a lisierung" und „Weltgesellschaft" mithin unterschiedliche Akzentuierungen zentraler Fragen nach gesellschaftlicher Differenzierung und Integration bzw. nach Homogenisierung und Heterogenisierung von Herrschaftsräumen. Unter einer solchen Perspektive erscheint dann die Politik in der Weltgesellschaft als ein Prozess der Strukturbildung, der deutlich eigenständiger vonstatten geht, als es aus der Globalisierungsperspektive den Anschein haben m a g . Zugleich aber erscheint sie auch wesentlich stärker an Vorlagen und institutionellen M u s t e r n des modernen Staates orientiert, als dies aus weltgesellschaftlicher Perspektive vermutet werden k ö n n t e . Gerade dies rechtfertigt es jedoch, die Frage nach der Entwicklung von Politik in der Weltgesellschaft als Frage der H e r a u s b i l d u n g w e l t s t a a t l i c h e r Strukturen zu stellen. Und gerade in letztgenannter H i n s i c h t stellt sich die Frage nach der Art der B e s c h r e i b u n g der sich herausbildenden Strukturen des politischen Systems der Weltgesellschaft als eine politische F r a g e - nicht nur n a c h der Legitimität der S e m a n t i k von Staatlichkeit auf g l o b a l e r E b e n e , sondern insbesondere a u c h im H i n b l i c k auf die zentrale Frage nach der Legitimität politischer H e r r s c h a f t .
2. „Weltgesellschaft" und „Globalisierung" Z w e i grundlegend verschiedene Verständnisse von Weltgesellschaft lassen sich gegenwärtig grob voneinander unterscheiden. Auf der einen Seite steht dabei das vorwiegend in politikwissenschaftlichen Ansätzen diskutierte Verständnis, welches sich einer klassischen Vorstellung von Gesellschaft als vorwiegend normativ integriertem Zusammenhang von Individuen oder aber von Individuen und kollektiven Akteuren verpflichtet fühlt. 5 Auf der anderen Seite steht das vorwiegend - wenn auch nicht ausschließlich - in soziologischen Ansätzen vorzufindende Verständnis von Weltgesellschaft als umfassendem Sozialsystem (vgl. Luhmann 1 9 7 2 , Stichweh 2 0 0 0 ) oder aber als Z u s a m m e n h a n g einer „World P o l i t y " , die So etwa in der Ansätzen der sogenannten „Englischen Schule" (siehe Bull 1977, Brown 2004a, Buzan 2004) oder der Forschungsgruppe Weltgesellschaft (1996). 5
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sich durch die globale N o r m - und Institutionendiffusion mit einer daraus folgenden global einheitlichen Konstruktion der Kategorie des rationalen Akteurs auszeichnet (vgl. M e y e r et al. 1 9 9 7 ; T h o m a s 2 0 0 4 ) . 6 Im Folgenden soll sich die R e d e von „Weltgesellschaft" allein auf das zweitgenannte, „soziol o g i s c h e " , Verständnis beziehen. N u r hier liegt eine auf den ersten Blick scharfe Abgrenzung zu gängigen Globalisierungsvorstellungen vor, insofern hier emergente Niveaus und daran angeschlossene Strukturbildungsprozesse in der Weltgesellschaft nicht auf die Beziehungen im internationalen Staatensystem reduziert werden k ö n n e n . 7 D e r wesentliche Unterschied zwischen
solchen
„Weltgesellschafts-" und „Globalisierungs-" Diagnosen besteht dabei allenfalls nachrangig hinsichtlich der beobachteten Empirie. N i c h t , um nur ein Beispiel zu nennen, die Tatsache eines innerhalb und außerhalb der Welthandelsorganisation entstandenen, umfassenden Streitschlichtungswesens im Welthandel samt zugehöriger N o r m - und Regelbildung ist umstritten. Wohl aber, o b diese Entwicklung eher im Sinne der Herausbildung auton o m e r Eigenstrukturen eines „ W e l t r e c h t s " (vgl. etwa Brütsch 2 0 0 2 , Teubner 1 9 9 7 ) oder aber im Sinne einer „Verrechtlichung" internationaler Beziehungen zu verstehen sei (siehe hierzu A b b o t t et al. 2 0 0 0 ; als Überblick von Bogdandy 2 0 0 3 ) . D e r Unterschied zwischen Weltgesellschafts- und G l o balisierungsperspektiven ist zunächst und vor allem ein konzeptioneller: Auf der einen Seite steht die Vorstellung eines weltweiten sozialen Systems, in welchem Staaten bzw. staatlich verfasste R ä u m e zwar eine wichtige R o l l e spielen m ö g e n , letztendlich aber vor allem als Ausdruck einer Binnendifferenzierung dieses Systems verstanden werden. Auf der anderen Seite steht die Vorstellung des Wandels einer Welt, die sich weiterhin im Kern auf souveräne Nationalstaaten gründet.
Es handelt sich hierbei selbstredend um eine sehr grobe Zweiteilung; zu einer differenzierten Diskussion von Unterschieden und Berührungspunkten zwischen einigen soziologischen und politikwissenschaftlichen Weltgesellschaftskonzeptionen vgl. Jung 2001 und Görg 2002. 7 Damit sei selbstverständlich keineswegs unterstellt, hier handele es sich um undifferenzierte Analysen; ganz im Gegenteil diagnostiziert auch ein Großteil der einschlägigen politikwissenschaftlichen Literatur signifikante Transformationen von Staatlichkeit als Ergebnis von Globalisierungsprozessen; vgl. etwa Holsti 2004, Ferguson/Mansbach 2004. Als undifferenziert ließen sich in diesem Zusammenhang eher neoliberale Globalisierungsvorstellungen vom Primat des Weltmarktes, aber auch eine Reihe von Globalisierungskritiken bezeichnen. 6
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Es ließen sich nun insbesondere in Bezug auf die neuere politikwissenschaftliche Forschung zur Entstehung von Strukturen der „Global Governance" (siehe etwa Zürn 1998), zur Evolution von rechtsförmigen Normen jenseits der Nationalstaaten (siehe etwa Risse et al. 1999), oder zu sich herausbildenden Formen „privat" organisierter Herrschaft („private authority"; siehe etwa Hall/Biersteker 2002) viele Beispiele als Beleg dafür anführen, dass sich diese zentralen Differenz zwischen einer Weltgesellschafts- und einer Globalisierungsperspektive einzuebnen beginnt. Plastisch ausgedrückt scheint der Druck der Ergebnisse empirischer Forschung zu globalen Strukturbildungsprozessen zu groß zu werden, als dass eine Logik dem noch standhalten könnte, die unter Globalisierung primär den Wandel eines internationalen Systems versteht. Deutlich lässt sich diese Annäherung zwischen beiden Perspektiven etwa im Bereich der Diskussionen um globale Konstitutionalisierungsprozesse (siehe Fischer-Lescano 2003) beobachten. Die Grenzen einer solchen theoretischen Annäherung scheinen jedoch weiterhin durch eine grundlegende methodologische Differenz markiert, die Beck (2002) mit dem Unterschied zwischen einem „methodologischen Nationalismus" und einem „methodologischen Kosmopolitismus" auf den Punkt gebracht hat. Mit dem Begriff des „methodologischen Nationalismus" ist dabei der Umstand angesprochen, dass zentrale Kategorien der sozialwissenschaftlichen Analyse fast untrennbar mit der Vorstellung nationalstaatlichen Raums als vorrangiger Bezugsgröße verwoben sind. Insbesondere scheint ein solcher methodologischer Nationalismus schon begrifflich untrennbar mit jedweder Rede von internationalen Beziehungen verbunden zu sein. Aus diesem Grunde wäre offensichtlich nur eine radikale Abkehr vom Begriff inter-nationaler Beziehungen und eine entsprechende Weltgesellschaftsperspektive in der Lage, einem „methodologischen Kosmopolitismus" gerecht zu werden, der von Anfang an konsequent davon absieht, den Nationalstaat zum Hauptbezugspunkt sozialwissenschaftlicher Kategorienbildung zu machen. Freilich kann ein genauerer Blick auf vorliegende Weltgesellschaftsansätze auch Zweifel daran nähren, ob die Umstellung auf eine Weltgesellschaftsperspektive wirklich einen solchen radikalen Bruch mit dem methodologischen Nationalismus vollzieht: gerade der in dieser Hinsicht wohl konsequenteste Ansatz von Niklas Luhmann muss sich fragen lassen, inwieweit nicht die Annahme einer primär segmentären Binnendifferenzierung des politischen Systems der Weltgesellschaft (vgl. Luh-
mann 1998) wenigstens implizit einen solchen methodologischen Nationalismus wiederholt, insofern hierdurch die strukturverändernde Wirkung etwa von internationalen Verregelungs- und Verrechtlichungsprozessen und der Verlagerung von Regierungsfunktionen auf die supranationale Ebene systematisch ausgeblendet wird (vgl. hierzu ausführlich: Albert 2002). Darüber hinaus wurde argumentiert, dass in der Vorstellung des methodologischen Kosmopolitismus ein modernisierungstheoretisches Motiv mitschwingt 8 , welches die mit der Entwicklung des modernen Nationalstaates verknüpfte modernisierungstheoretische Struktur des westfälischen Modelldenkens wiederholt: „In this image of political modernity all events prior to the rise of the new cosmopolitan order seem to reproduce the old Westphalian order. It is as if the old adage, le plus ça change, le plus c'est la même chose, holds absolute sway in this sphere of life. It is an image that in fact mirrors the modernist paradigms that the new cosmopolitanism opposes, by equating the Westphalian order with political modernity" (Fine 2003: 458). Ein methodologischer Nationalismus scheint dabei vor allem in der Vorstellung durch, dass zunehmende Globalität ein historisch vorgängiges „Container"-Modell des Nationalstaates (und ein darauf ruhendes Modell des internationalen Systems) in Frage stellt. Gerade historisch macht es jedoch kaum Sinn, Globalisierung als Hauptcharakteristikum einer dem „westfälischen Zeitalter" nachgelagerten Epoche anzusehen; vielmehr vollziehen sich Globalisierung und die Durchsetzung des Nationalstaatsmodells im 18. und 19. Jahrhundert weitgehend simultan (Osterhammel/Petersson 2003: 69), und es ist gerade die weltweite Durchsetzung dieses Nationalstaatsmodells, welche eine raumgreifende Globalisierung dokumentiert (vgl. Meyer et al. 1997). Letztendlich relativieren sich durch solche Beobachtungen gerade in Bezug auf die Rolle der Politik die vermeintlich radikalen Unterschiede zwischen einer Globalisierungs- und einer Weltgesellschafsperspektive. Die theoretischen oder methodologischen Differenzen sind zwar substantiell, letztendlich handelt es sich hierbei aber genauso wenig um unüberbrückbare Gegensätze, wie sich ein solcher Gegensatz empirisch zwischen einer Weltgesellschaft und einem internationalen System souveräner Nationalstaaten/-gesellschaften beobachten lässt. Wohlgemerkt: dass es sich um radikale Differenzen handelt, wird von beiden Perspektiven selbst 8
Das am deutlichsten in der Rede von einer „zweiten" bzw. „neuen M o d e r n e " zum Ausdruck k o m m t .
Mathias Albert: Politik der Weltgesellschaft und Politik der Globalisierung suggeriert. Auf der einen Seite bezieht sich eine G l o balisierungsperspektive idealtypisch auf einen Z u stand „vor der G l o b a l i s i e r u n g " . Dieser wird wahlweise als Zustand eines internationalen Systems, in welchem die nationalen Bezüge für Politik, W i r t schaft, R e c h t etc. als primär zu gelten hatten, oder aber als historisch vorgängige Koexistenz mehrerer internationaler Systeme mit nicht-systembildenden Interaktionen zwischen denselben gedacht (Buzan/ Little 2 0 0 0 ) . A u f der anderen Seite geht die Weltgesellschaftsperspektive davon aus, dass die Vorstellung eines Primates des nationalen Bezugs aus einer gesellschaftstheoretisch nur noch schwer haltbaren Vorstellung v o m Primat des politischen Systems vor allen anderen Funktionssystemen der Gesellschaft herrührt. Beide Perspektiven enthalten dabei jedoch Überzeichnungen, die k a u m alleine auf die heuristische Nützlichkeit der Überzeichnung von Idealtypen zurückzuführen sind, sondern die Empirie verzerrt darstellen. Die Vorstellung eines „westfälischen Systems" eindeutig territorial voneinander abgegrenzter politischer Herrschaftsräum e , die nach und nach ebenfalls die vorrangigen Bezugsräume für wirtschaftliches und soziales H a n deln sowie für die Konstruktion national gefasster kollektiver Identitäten abgeben, scheint - wenn überhaupt - allenfalls nach dem weitgehenden Ende der Dekolonisierung in den späten 1 9 6 0 e r J a h ren bis zum Ende des Ost-West-Konfliktes eine brauchbare Vorstellung des globalen politischen Systems geliefert zu haben. Schon an der Darstellung der Verknüpfung einer modernen Weltwirtschaft mitsamt ihren vielfältigen Abhängigkeitsstrukturen insbesondere zwischen N o r d und Süd scheitert sie. 9 Den historischen und gegenwärtigen Regelfall stellen unterschiedliche Formen der staatlichen Verfasstheit politischen R a u m e s dar. Z u m einen erscheint der Z e i t r a u m nach der Dekolonisierung bis zum Ende des Ost-West-Konfliktes immer m e h r als ungewöhnlich gleichförmiges Zwischenspiel zwischen den verschiedenartigen Formen der Ausgestaltung kolonialer und heutigen F o r m e n der faktischen Ausdifferenzierung der Formen politischer H e r r s c h a f t . 1 0 Zum zweiten wird deutlich,
Vgl. zu hier einschlägigen Überlegungen im Zusammenhang mit dem Thema der vorliegenden Abhandlung Senghaas 2003. 10 Die Bandbreite reicht hier von „entstaatlichten" Räumen (Somalia), über durch unterschiedliche Intensitäten militärischer Intervention quasi-kolonisierte (z. B. Irak, Elfenbeinküste) und quasi-staatliche (z.B. Kongo) Gebiete, bis hin zur dauerhaften Ausübung von „internationaler Herrschaft" (Kosovo). Vgl. zur Vielfalt gegenwärtiger Formen und zur Dauerhaftigkeit „internationaler Herr9
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dass sich unter dem Modell des „ w e s t l i c h e n " Staats als „demokratischem Rechts- und Interventionsstaat ( D R I S ) " 1 1 eine Vielfalt von Formen der Durchstaatlichung verbirgt. Diese Vielfalt dürfte in Folge der Effizienzschwierigkeiten des Wohlfahrtsstaates mutmaßlich eher noch z u n e h m e n . 1 2 Und zum dritten bilden sich neue F o r m e n von Staatlichkeit aus, sowohl formal im Falle der Europäischen Union als auch faktisch im Z u g e der Verdichtung von Strukturen der G l o b a l Governance, hinsichtlich derer es gerechtfertigt erscheint, von einem „Regieren jenseits des N a t i o n a l s t a a t e s " (Zürn 1 9 9 8 ) zu s p r e c h e n . 1 3 W ä h r e n d diese empirischen Einwände gegen die Brauchbarkeit einer selbst nur modellhaften Vorstellung eines „westfälischen Systems" als Hintergrund einer sich davon dann absetzenden Globalisierung an vielen O r t e n vorgetragen wurden, operiert die weltgesellschaftstheoretische Perspektive in weiten Teilen noch unberührt von solchen Einwänden. Gerade in den Arbeiten Luhmanns markieren die Gesamtheit internationaler Politik und die angesprochene Varianz in der staatlichen Gestaltung des politischen R a u m s eine Leerstelle. Die verschiedenen Formen internationaler Politik und der sich darin wiederfindenden problemfeldspezifischen Herausbildung von G l o b a l G o v e r n a n c e - R e g i m e s werden (unbeachtet oder doch zumindest k o m m e n t a r l o s ) dem Primat segmentärer Binnendifferenzierung des politischen Systems der Weltgesellschaft hintangestellt. Allenfalls noch der systemtheoretische Sekundärmechanismus der Inklusion/Exklusion (vgl. hierzu Stichweh 1 9 9 7 ) hält die Varianz in den Formen von Staatlichkeit ansprechbar. schaft", d. h. vor allem zur Direktadministration von Gebieten durch die Vereinten Nationen Berdal/Caplan 2004. In diesem Zusammenhang wäre insbesondere auch das wiedererstarkte Interesse am Konzept internationaler Treuhandschaft zu registrieren (etwa Bain 2003); vgl. hierzu in Reaktion auf die Zunahme der dauerhaft entstaatlichten weißen Flecken und Konsequenzen für die Entwicklungstheorie auch Menzel 2002; vgl. zu einem neueren konzeptionellen Argument, welches dem Eindruck widerspricht, dass sich die Form moderner Staatlichkeit mit der Dekolonisierung weltweit durchgesetzt habe Maroya 2003. 11 So die zentrale Figur im Bremer SFB 597 Staatlichkeit im Wandel. 12 Zur Herausbildung globaler Sozialstaatlichkeit vgl. etwa Deacon 2003 sowie die Beiträge in der 2001 gegründeten Zeitschrift Global Social Policy. 13 Eine Übersicht über die Global Governance-Literatur übersteigt die Möglichkeiten dieses Beitrages; das konziseste Nachschlagewerk im deutschsprachigen Raum bleiben die regelmäßig erscheinenden Globalen Trends (Hauchler et al. 2003).
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Letztendlich dienen diese Beobachtungen als Hinweis darauf, dass zwischen einer Weltgesellschaftsund einer Globalisierungsperspektive kein radikaler Unterschied zu bestehen scheint. Unbeschadet theoretischer Divergenzen relativiert sich die methodologische Kluft in dem Sinne, dass beide Perspektiven bislang empirische Grauzonen und Schattierungen zwischen ihren idealtypischen Überzeichnungen realhistorischer Extreme vernachlässigen. Was folgt aus dieser Beobachtung für die Konzeptualisierung von Politik unter Bedingungen von Globalisierung bzw. für die Politik in der Weltgesellschaft?
3. Politik in der Weltgeseilschaft und Politik in der Globalisierung Legt man die Annahme einer grundsätzlichen methodologischen Differenz zwischen einer Globalisierungs- und einer Weltgesellschaftsperspektive einmal beiseite, so bleiben doch gerade im Hinblick auf die Sichtweisen von Politik grundlegende, scheinbar kaum überbrückbare Unterschiede bestehen. Auf der einen Seite stehen Konzepte von Politik (mit einer Betonung der Mehrzahl), welche den souveränen Nationalstaat gleichsam als natürlichen Ort des Politischen betrachten. Globalisierung erscheint hier zunächst als Herausforderung der einzel- und zwischenstaatlichen Kompetenz zur effektiven und effizienten Problemlösung. 14 Es geht im vorliegenden Zusammenhang weniger um die möglichen Differentialdiagnosen einer durch zwischenstaatliche Kooperation eher zunehmenden Handlungskompetenz der Staaten oder um die These von kutonomiegewinnen nationalstaatlicher politischer Akteure in Folge von Globalisierungsprozessen (vgl. Wolf 2000). Vielmehr geht es vor allem um die Beobachtung, dass sich die Globalisierungsdiskussion lange Zeit vor allem auf die Herausforderungen für die nationalstaatlichen Orte des Politischen konzentrierte. Reaktionen auf Globalisierungsherausforderungen fanden in den politischen Systemen der Nationalstaaten, in der Koordination einzelstaatlicher Politiken, letzthin auch im Einbezug 1 4 In dieser Hinsicht setzt ein Gros der politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Globalisierung bzw. mit dem Entstehen von Global Governance die Tradition des neoliberalen Institutionalismus bzw. der Regimetheorie in den Internationalen Beziehungen fort, denen es schon immer um die Frage der Bedingung und Dauerhaftigkeit von Kooperation von Staaten im internationalen System zu tun war; vgl. als Überblick Hasenclever et al. 1 9 9 7 .
privater Akteure in entsprechende institutionelle Designs und Normsetzungsverfahren ihren Niederschlag (als Überblick: Slaughter 2004). Deren Beschreibung blieb dabei aber letztendlich einer Vorstellung von Politik verhaftet, welche diese in der Souveränität der Staaten verankert sieht und sie dadurch konstitutiv mit der „westfälischen Modellvorstellung" verbindet. Erst Bemühungen, nicht nur eine formale Verlagerung von Souveränität auf eine supranationale Ebene (EU), sondern auch die Festigung von Strukturen von „Global Governance" als Formen des „Regierens jenseits des Nationalstaates" (Zürn 1998) zu bewerten und neben einer „Verrechtlichung" (Wolf/Zürn 1993) zwischenstaatlicher Kooperationsbeziehungen auch die Entstehung eigener transnationaler, staatenunabhängiger Rechtssysteme, letzthin möglicherweise gar die Herausbildung von Elementen einer Globalverfassung (Fischer-Lescano 2003) im Völkerrecht anzuerkennen, weisen hier über die gängige Modellvorstellung hinaus. Versuche der Beschreibung von Politik ohne Bezug auf ihre Verankerung im Nationalstaat bleiben dabei aber zumeist ein schwieriges Unterfangen, was sich nicht zuletzt in der oftmals bemühten Rede vom „post-westfälischen" System ausdrückt. Auf der anderen Seite steht dem ein Konzept von Politik gegenüber, welches die nationalstaatliche Anbindung des Politischen zumindest theoretisch (nicht empirisch!) als sekundär erachtet und zum Verständnis von Politik einen differenzierungstheoretischen Zugang über die Weltgesellschaft wählt. Nicht das mögliche Entstehen eines weltpolitischen Systems und einer entsprechenden Weltgesellschaft stehen hier im Vordergrund der Überlegungen (so etwa World Society Research Group 2000). Vielmehr erscheint das politische System als ein Funktionssystem einer bereits existierenden Weltgesellschaft, welches unter diesem Blickwinkel und unter der Bedingung der operativen Geschlossenheit autopoietischer Systeme kein Primat gegenüber anderen Funktionssystemen beanspruchen kann (siehe Luhmann 1997: 595ff., 2000: 69ff.). Das politische System stellt hierbei für die Gesellschaft die Kapazität für kollektiv verbindliches Entscheiden bereit. Diese Kapazität bleibt dabei vorrangig an den Staat als Form der Selbstbeschreibung des politischen Systems gebunden, 15 der die Möglichkeit kollektiv verbindlichen Entscheidens über die Figur der Souveränität als Formel zur Paradoxieauflösung
1 5 Auf die bei Luhmann m.E. nur ambivalent beantwortete Frage, ob der Staat selbst als eine Organisation anzusehen ist, sei an dieser Stelle nur verwiesen.
Mathias Albert: Politik der Weltgesellschaft und Politik der Globalisierung absichert. Hierin gründet die aus einer „Weltgesellschafts"-Perspektive zunächst eigentümlich anmutende Annahme des dauerhaften Bestandes einer segmentären Primärdifferenzierung des politischen Systems der Weltgesellschaft in Staaten. Zumindest bei Luhmann scheint sich nirgendwo eine zur Souveränität äquivalente Formel zur Paradoxieauflösung oder aber eine zur binären Codierung politischer Kommunikation entlang der Linien von Regierung/Opposition gleichwertige Codierung jenseits des Nationalstaates herauszubilden. Obwohl gerade in der systemtheoretischen Tradition ebenfalls die Herausbildung emergenter Strukturen des politischen Systems der Weltgesellschaft in Gestalt von global governance-Regimes (etwa Willke 2001) angesprochen und Transnationalisierungsphänomene über die Theoriefigur von Inklusion/Exklusion adressiert werden (Stichweh 1997), so scheinen Beiträge in der systemtheoretischen Tradition bislang nicht über die Annahme eines primär segmentär differenzierten politischen Systems hinauszukommen. Dabei legen eine ganze Reihe von Untersuchungen hier Wege nahe, welche geeignet erschienen, diese Grundfigur der Beobachtung des politischen Systems aus einer Weltgesellschaftsperspektive mit den unterschiedlichsten „Globalisierungs"-Diagnosen zu versöhnen. Insbesondere „Konstitutionalisierungs"-Prozesse verweisen auf eine zunehmende strukturelle Kopplung zwischen unterschiedlichen Funktionssystemen insbesondere unter Berücksichtigung globaler Politikprozesse. „Global Governance" erscheint in diesem Sinne weniger als eine emergente Form der Strukturbildung „jenseits" nationalstaatlicher Politiken, sondern vielmehr als ein „Einnisten" von Politik in die anderen Funktionssysteme und die Übernahme entsprechender Regelfunktionen. Allein die zentrale Funktion des politischen Systems, die Bereitstellung von Kapazitäten zu kollektiv verbindlichem Entscheiden, scheint sich nicht aus dem nationalstaatlichen Kontext zu verlagern - „Global Governance" in diesem Sinne scheint eher diese Kapazitäten zu entlasten, nicht aber zu substituieren. Wie hinsichtlich der Globalisierungs- und Weltgesellschaftsperspektive im Allgemeinen, so gilt jedoch auch hier, dass theoretisch suggerierte Unvereinbarkeiten zu verschwimmen beginnen und Analysen von Global Governance sowie von Konstitutionalisierungsund globalen Verrechtlichungsprozessen eine ganze Reihe von Berührungspunkten nahe legen. 16 16 Es ist in diesem Zusammenhang zu betonen, dass evolutionstheoretische Perspektiven sowie Beiträge, welche sich mit emergenter Strukturbildung im internationalen System auseinandersetzen, schon seit längerer Zeit eine Rolle in
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Was hieraus folgt ist jedoch keine übertrieben optimistische Diagnose einer Annäherung oder gar eines Verschmelzens beider Perspektiven. Was vielmehr folgt ist die Diagnose eines beiden Perspektiven gemeinsamen, anhaltenden Defizits in Form von Restbeständen eines methodologischen Nationalismus hinsichtlich der zentralen Stellung des Nationalstaates im politischen System der Weltgesellschaft. Beiden Perspektiven gemeinsam ist das weitgehende Fehlen einer Perspektive auf die Entstehung von Strukturen im politischen System der Weltgesellschaft, welches nationalstaatliche Strukturen nicht nur zu entlasten und zu ergänzen, sondern auch zu substituieren geeignet schiene. Was, mit anderen Worten, fehlt, ist ein in beiden Perspektiven theoretisch zwar nicht „verbotener", methodologisch aber verstellter Blick auf empirische Tendenzen, welche sich mithin als Indizien der Herausbildung global- bzw. weltstaatlicher Strukturen werten lassen.
4. Politik und Weltstaatlichkeit Sowohl Analysen aus Sicht einer Globalisierungs-, als auch solche aus einer Weltgesellschaftsperspektive legen es nahe, nach der Herausbildung von Eigenstrukturen des politischen Systems Ausschau zu halten, welche die nationalstaatlich abgesicherten Funktionen des politischen Systems auf einer globalen Ebene zu substituieren in der Lage sind. Weltgesellschafts- und Globalisierungsperspektive sind sich bislang weitgehend einig in der Diagnose, dass kein Analogon zum modernen Staat auf globaler Ebene entsteht. Dabei bieten sie in ihren Diagnosen genügend Bausteine an, die es nahe legen, genau einer solchen Möglichkeit nachzugehen, ohne dabei den Ballast eines Gutteils weltstaatlicher Denktraditionen mittransportieren zu müssen. 17 Wenn im Folgenden einige Ansatzpunkte aufgezeigt werden sollen, welche eine intensivere Auseinandersetzung mit der Weltstaatlichkeits-Thematik aus beiden Perspektiven nahe legen, dann geschieht dies allem voran vor dem Hintergrund der Überlegung, dass die vielfach diagnostizierte Herausbildung und Verdichtung von Global Governance-Strukturen letztendlich nicht über eine Verdichtung „internationaler" Kooperationszusammenhänge hinausreicht, der politikwissenschaftlichen Teildisziplin der Internationalen Beziehungen spielen, freilich nie einen zentralen Platz in den Theoriediskussionen des Faches belegen konnten; vgl. z.B. Thompson 2001, Inkeles 1975. 17 Vgl. hierzu einige der Beiträge in Lutz-Bachmann/Bohmann 2002.
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wenn nicht gleichzeitig Strukturbildungsprozesse im politischen System hinzutreten, die dessen segmentäre Primärdifferenzierung aufbrechen. M i t der Rede von Weltstaatlichkeit dezidiert nicht gemeint sind Diagnosen eines „Verschwindens des N a t i o n a l s t a a t e s " als einer relevanten Einheit bzw. wichtigen Figur im politischen System der Weltgesellschaft. Es geht ebenfalls nicht um die Herausbildung einer Art von „ E i n h e i t s - W e l t s t a a t " nach dem Vorbild des m o d e r n e n e u r o p ä i s c h e n N a t i o n a l s t a a t s . M i t der H e r a u s b i l d u n g von „Welts t a a t l i c h k e i t " ist vielmehr die Entstehung von Strukturmustern von S t a a t l i c h k e i t auf g l o b a l e r E b e n e a n g e s p r o c h e n , w e l c h e die N a t i o n a l s t a a t e n teilweise substituieren und durch wesentlich „ m e h r " ü b e r w ö l b e n , als nur durch die Strukturen eines zur „ G l o b a l G o v e r n a n c e " stilisierten dichten Netzwerks vorrangig staatengetragener und -bezogener „internationaler K o o p e r a t i o n " . Wenn daher im Folgenden von Elementen einer entstehenden Weltstaatlichkeit die Rede ist, dann ist dabei zunächst zweierlei vorausgesetzt. Zum einen bildet eine aus internationaler K o o p e r a t i o n unter zunehmendem Einschluss privater Akteure und einer zunehmend auch aus privater N o r m - und Regelsetzung bestehende Gesamtheit institutionalisierter Formen politischer Steuerung jenseits des N a t i o n a l staates (d.h. „ G l o b a l G o v e r n a n c e " ) zwar die Voraussetzung und das Fundament einer sich herausbildenden F o r m von Weltstaatlichkeit bildet. Zum anderen ist die Rede von Weltstaatlichkeit aber nur gerechtfertigt, wenn hier weitere Elemente hinzutreten. Und dabei kann es sich gegenüber einem vorrangig segmentär differenzierten System nur um nicht primär territorial bestimmte Strukturmerkmale handeln, welche diese Differenzierung überlagern.18 Die Anführung des „Weltstaates" führt üblicherweise zu ablehnenden R e a k t i o n e n , da der Begriff die Vorstellung eines totalisierenden Staatswesens mit sich transportiert. Eine solche Vorstellung, wie auch die Vermutung, ein Weltstaat müsse aufgrund innerer Widersprüche sofort nach seinem Entstehen wieder zerfallen, sind jedoch alleine auf ein Staatsverständnis zurückzuführen, welches darunter nur ein territorial abgegrenztes System exklusiver Herrschaft versteht. Ein solches Staatsverständnis lässt
1 8 Es geht hier also ausdrücklich nicht um die These der Herausbildung eines „Globalstaates" (Shaw 2 0 0 0 a ) , die darunter in Anlehnung an die neoinstitutionalistische Denkfigur des World Polity-Ansatzes (Meyer et al. 1 9 9 7 ) vor allem die weltweite Formangleichung eines bestimmten Staatsmodells versteht.
für die gleichzeitige Existenz unterschiedlicher, territorial und nicht-territorial abgegrenzter, vor allem aber sich gegenseitig nicht ausschließender Herrschaftssysteme keinen R a u m . 1 9 Die Tabuisierung des Weltstaatsbegriffs hängt, mit anderen Worten, unmittelbar mit der formalen Souveränitätsvorstellung zusammen, die insbesondere über ihre normative Absicherung in der Charta der Vereinten Nationen (Selbstbestimmungsrecht und Einmischungsverbot) zum bestimmenden Attribut moderner Staatlichkeit geworden ist. Die Rede von der Herausbildung von Weltstaatlichkeit setzt dabei genau an dem Punkt an, an welchem die Diagnose einer „ S c h w ä c h u n g " , „ A u f l ö s u n g " , „Teilung" etc. von Souveränität stehen bleibt, indem sie mit dem M o n o p o l legitimer Gewaltanwendung die vermeintliche Letztverankerung von staatlicher Souveränität auf der Ebene der Nationalstaaten belässt. Gerade das Beispiel der europäischen Integration zeigt eindrücklich, dass eine weitgehende Souveränitätsverlagerung auf eine Ebene jenseits des Nationalstaates mit einem auf nationalstaatlicher Ebene belassenen Gewaltmonopol vereinbar ist. Die Souveränitätsverlagerung liegt dabei im Kern jedoch nicht in der Verlagerung politischer Kontrolle als solcher (vgl. M a r k s et al. 1 9 9 5 ) , sondern in der rechtlich abgesicherten Verlagerung dieser Kontrolle. Aus genau diesem Grund erscheint es heute gerechtfertigt, von emergenten Formen von Weltstaatlichkeit zu sprechen: die Verlagerung politischer Kontrolle von den Nationalstaaten auf globale Governance-Regimes alleine reicht nicht aus. Vielmehr muss diese politische Kontrolle in einen rechtlichen R a h m e n eingebettet sein, um sich als staatlich gefasstes politisches System konsolidieren zu können. Weltstaatlichkeit ist in diesem Sinne als eine F o r m inklusiver Staatlichkeit zu verstehen. Sie entsteht nur dort, w o keine Souveränitätsansprüche exklusiv gegeneinander in Anschlag gebracht werden. Vor allem aber k o m m t eine solche Weltstaatlichkeit ohne die formalen Attribute von Staatlichkeit und (noch) ohne eine nennenswerte Weltstaatssemantik a u s . 2 0 Insbesondere wird dabei zunächst auch keine strukturelle und funktionale Äquivalenz zur N a t i o nalstaatlichkeit unterstellt. Es geht zunächst um die Herausbildung von institutionalisierten Entschei1 9 Ein im Übrigen weitgehend geschichtsblindes Staatsverständnis; zu den Einwänden und möglichen Gegenreden vgl. im Überblick auch Horn 1 9 9 6 . 2 0 Siehe auch unten, Punkt 4 . 3 . Die Vorstellung inklusiver Staatlichkeit meint auch, dass Weltstaatlichkeit nicht nur auf einer Ebene „über" den Nationalstaaten angesiedelt werden kann - so in der Kritik eines „imperialen Globalstaates" von Chimni 2 0 0 4 .
Mathias Albert: Politik der Weltgesellschaft und Politik der Globalisierung dungsprozessen als neuer Ebene von Staatlichkeit. Ob und inwieweit sich dabei eine strukturelle und/ oder funktionale Äquivalenz von Weltstaatlichkeit zur Nationalstaatlichkeit herstellt, Weltstaatlichkeit sich irgendwann mithin doch in die Richtung auf den gefürchteten Welt-Einheitsstaat entwickelt, ist eine andere, letztendlich nur empirisch zu beantwortende Frage. Im hier verwendeten Begriff von Weltstaatlichkeit ist eine solche Entwicklung keineswegs notwendig impliziert. Dies soll gerade auch im Folgenden deutlich werden, wenn mit der Entwicklung von Weltrecht, einer Weltöffentlichkeit und einer Weltstaatssemantik die drei wesentlichen Dimensionen der Entwicklung von Weltstaatlichkeit angesprochen werden. Die Entwicklungen in diesen drei Dimensionen bilden hinreichende Bedingungen für die Entstehung von Weltstaatlichkeit. Die dahinter stehende notwendige Bedingung bildet jedoch das „Regieren jenseits des Nationalstaates", die Entwicklung und Verfestigung der Strukturen von „Global Governance".
4.1 Weltrecht21 Erst die zunehmende rechtliche Absicherung der „Global Governance" macht aus dieser Governance ein kollektiv verbindliches Entscheiden. „Verrechtlichung" erscheint in diesem Sinne nicht einfach als ein „Baustein für Global Governance" (Zangl/Zürn 2 0 0 4 ) , sondern als Indiz für die Herausbildung von Weltstaatlichkeit. Weitgehend unbestritten ist, dass es eine signifikante globale Rechtsevolution gibt. Diese erstreckt sich nicht nur auf die Weiterentwicklung des klassischen Völkerrechts. Vielmehr lässt sich eine Zunahme verbindlicher rechtlicher Entscheidungsinstanzen feststellen. Dies betrifft zum einen die staatlich abgesicherten und reglementierten Rechtsprechungsverfahren im Bereich des europäischen Rechts (Europäischer Gerichtshof), der verbindlichen Streitschlichtung im Bereich der Welthandelsorganisation, sowie selbstverständlich vor allem auch im Bereich der neu entstandenen internationalen Strafgerichtsbarkeit (Internationaler Strafgerichtshof). Es betrifft zum anderen aber auch die Entstehung und Durchsetzung vielfältiger transnationaler Rechtsnormen, die sich weitgehend ohne
Einige der Thesen dieses Abschnittes habe ich in einer tagespolitisch etwas zugespitzten Form zuerst dargelegt in: „Die Erde auf dem Weg zur Weltstaatlichkeit?" (Albert 2004).
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oder nur mit nachrangiger Beteiligung staatlicher Akteure vollzieht. Die sogenannte „lex mercatoria" als Sammelbegriff für die Normen und Streitschlichtungsverfahren, die sich im internationalen Handel herausgebildet haben, stellt hier das sicherlich herausragendste Beispiel dar. Der Begriff der „Verrechtlichung" vermag diese Entwicklungen nur ungenügend zu erfassen, da insbesondere ein Großteil der einschlägigen politikwissenschaftlichen Literatur wenigstens implizit unterstellt, dass es sich hierbei um eine Art rechtlicher „Nachführung" von bereits vorgängig institutionalisierten politischen Kooperationszusammenhängen handelt. 2 2 Demgegenüber erscheint es sinnvoller, hier einen in weiten Teilen eigendynamischen Prozess einer globalen Rechtsevolution zu diagnostizieren (siehe ausführlich Albert 2 0 0 2 ) , der mit den verschiedenen Funktionssystemen der Weltgesellschaft in unterschiedlicher Dichte und Intensität verknüpft (oder, im systemtheoretischen Jargon, „strukturell gekoppelt") ist. Die Annahme einer solchen Eigendynamik globaler Rechtsevolution ist dabei nur konsequent, wenn man die Umstellung der Souveränitätsvorstellung von der Letztbegründung im Monopol legitimer Gewaltanwendung auf die Faktizität kollektiv verbindlichen Entscheidens vom politischen System auch auf das Rechtssystem überträgt (vgl. in ähnlichem Sinne auch Schulte 2 0 0 3 ) . So wenig Weltstaatlichkeit als Herausbildung einer globalen Ebene von Staatlichkeit im Sinne eines „einheitlichen" Weltstaates zu verstehen ist, so wenig bildet sich im Weltrecht ein einheitlicher Rechtsraum heraus. Für das globale Rechtssystem ist vielmehr eine fortgesetzte Pluralität von Rechtsnormen und -formen kennzeichnend, in der sich das Weltrecht als emergente Rechtsebene zunehmend einprägt (siehe Günther/Randeria 2 0 0 3 , Teubner 1 9 9 6 ) . Es bleibt dabei selbstverständlich vor allem eine empirische Frage, welche Bereiche des Weltrechts sich in Kopplung mit unterschiedlichen Funktionssystemen am stärksten ausprägen, ob sich mithin insbesondere globale „Wirtschafts-"
Die Debatte wurde international zusammengefasst und wesentlich befördert durch Abbott et al. 2 0 0 0 ; vgl. zu einer moderaten Kritik Finnemore/Toope 2 0 0 1 ; man kann in Bezug auf dieses Verständnis von Verrechtlichung argumentieren, dass es sich hier um einen deutlichen Ausdruck eines „methodologischen Nationalismus" handelt, insofern der Primat der Nationalstaaten als den Garanten der Rechtsgeltung nicht angezweifelt wird. Besonders deutlich wird dies bei Slaughter ( 2 0 0 4 ) , w o vorrangig zwischen-nationale Kooperationsbeziehungen in unterschiedlichen Foren (Bürokratien, Gerichte etc.) als M o t o r von überstaatlicher Verrechtlichung ausgemacht werden. 22
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oder „Sozialverfassungen" (vgl. Teubner 2 0 0 0 ; Cass 2 0 0 1 ) stärker ausbilden als eine (politische) „Globalverfassung" (Fischer-Lescano 2 0 0 2 ) . Die Intensität des Prozesses der rechtsförmigen Ausgestaltung politischer Prozesse im intergouvernementalen und transnationalen Bereich, insbesondere die Rechtsentwicklung durch und in überstaatlichen Organisationen (vgl. insbesondere einige der Beiträge in Coicaud/Heiskanen 2 0 0 1 ) , sowie der zunehmend unmittelbare Durchgriff globaler Menschenrechtsn o r m e n lassen jedoch k a u m Zweifel daran zu, dass es sich bei der gleichzeitigen Entwicklung von Global G o v e r n a n c e und Weltrecht um den Konstitutionalisierungsprozess einer Weltstaatlichkeit handelt.23
4.2 Weltöffentlichkeit/weltöffentliche M e i n u n g Die Entstehung einer „Weltöffentlichkeit" bzw. einer „weltöffentlichen M e i n u n g " stellt ein Indiz für die Herausbildung weltstaatlicher Strukturen dar. Gerade insofern eine als einheitlich repräsentierbare öffentliche M e i n u n g nur auf der Grundlage der Zentralisierung und Konsolidierung der Staatsgewalt im absolutistischen Staat möglich wird, so lässt sich die Entstehung eines entsprechenden globalen Pendants auf die Entstehung von zumindest symbolisch den Weltstaat präjudizierenden Strukturen im V ö l k e r b u n d zurückführen: „the virtuous circle of ,world opinion' and the catalytic m o m e n t o f Paris opened a space for the emergence o f ,world opinion' as a medium o f international governance . . . . ,world opinion' became possible at the m o m e n t when authority was symbolically centralized at the international level" (Jaeger 2 0 0 4 : 1 4 9 ; auch Charnovitz 2 0 0 3 ) . Bei einer Weltöffentlichkeit handelt es sich in diesem Sinne um eine Reflexivwerdung von Weltstaatlichkeit, die sich in der Referenz auf eine weltöffentliche M e i n u n g vollzieht. D a b e i geht es hier ausdrücklich nicht um die Vorstellung einer für nationale politische Systeme typischen Konstruktion einer „öffentlichen M e i n u n g " über einen gemeinsamen M e d i e n g e b r a u c h bzw. eine gemeinsame Medienlandschaft. Es würde dem hier ver-
Parallelen lassen sich hier zur Entwicklung der Verfassung der Europäischen Union ziehen. Während der Entwurf eines Verfassungsiextes bekanntermaßen jüngerer Natur ist, existiert bereits seit einiger Zeit eine mittlerweile kaum mehr überschaubare Literatur, welche der rechtlichen Flankierung des politischen Integrationsprozesses den Charakter eines Konstitutionalisierungsprozesses zuschreibt, auf den sich eine neue Form von Staatlichkeit gründet; vgl. Weiler/Wind 2003. 23
wendeten inklusiven Begriff von Weltstaatlichkeit geradezu widersprechen, wollte m a n über diese Reflexivwerdung in F o r m einer weltöffentlichen M e i n u n g ein nationalstaatliches Strukturäquivalent gleichsam durch die Hintertür wieder hineinmogeln. Insofern politische Öffentlichkeit und öffentliche M e i n u n g der ständigen medialen Aktualisierung bedürfen, erscheint die Weltöffentlichkeit als Indiz für die F o r m von Weltstaatlichkeit - relativ schwach ausgeprägt. Die trotz der M ö g l i c h k e i ten globaler Berichterstattung, der wenigstens teilweisen Globalisierung der M e d i e n (zumindest auf Eigentümerseite) und der globalen Reichweite des Internet weiter bestehende Diskrepanz zwischen den Vernetzungmöglichkeiten und -realitäten einer Weltöffentlichkeit dürfen nicht zu der A n n a h m e verleiten, dass sich Weltöffentlichkeit nur als Auflösung und Globalisierung nationaler Öffentlichkeiten herstellen k a n n . 2 4 Die „Weltöffentlichkeit" steht auf dem soliden Fundament einer oftmals mit dem Begriff einer „globalen Zivilgesellschaft" belegten, insbesondere seit dem Ende des Z w e i t e n Weltkrieges sprunghaft gewachsenen Population von internationalen Regierungs- und Nichtsregierungsorganisationen (Boli/ T h o m a s 1 9 9 7 , Stichweh 2 0 0 2 ) . Diese schaffen zusammen mit den erwähnten Vernetzungsmöglichkeiten der globalen Netzwerkgesellschaft die Voraussetzung für die Bildung einer weltöffentlichen M e i n u n g . 2 s M ö g l i c h wird ihre Entstehung und R e präsentation dann jedoch nur in Bezug auf geeignete Referenzpunkte. Diese Referenzpunkte bestehen in der Regel weiterhin vor allem aus der Symbolisierung von bestimmten Ereignissen als „Weltereignissen", sei es in der F o r m positiver R e ferenz auf einen gemeinsam geteilten Erfahrungshorizont (von der M o n d l a n d u n g bis zu den O l y m pischen Spielen, von der gemeinsamen natürlichen U m w e l t bis zu den M e n s c h e n r e c h t e n ) , sei es in Bezug auf bedrohliche Ereignisse (Kriege, Massenvernichtungswaffen, Terroranschläge). Gerade die Tat-
Vgl. zu den Vernetzungsmöglichkeiten an prominenter Stelle insbesondere Castells 1999; es handelt sich bei der Erwartung, dass es zur Konstruktion einer „großräumigeren" Öffentlichkeit der Integration der nationalstaatlichen Öffentlichkeiten in dieselbe bedarf m.E. um einen Fehler, der auch das Gros der Literatur zur Entstehung einer europäischen öffentlichen Meinung durchzieht. Selbstverständlich schließt dies jedoch nicht aus, dass sich auch, zumindest punktuell, mehr oder weniger „homogene" Diskursräume einer Weltöffentlichkeit bilden, wie dies etwa Martin Shaw (1999, 2000b) nachgewiesen hat. 2 5 Vgl. auch Archibugi 2004 zum eng damit verbundenen Diskussionszusammenhang der globalen Demokratie. 24
Mathias Albert: Politik der Weltgesellschaft und Politik der Globalisierung sache, dass es sich hier im Gegensatz zur Inszenierung von Weltöffentlichkeit in den „Weltliteraturen" und „Weltausstellungen" des 19. Jahrhunderts um spontane politische Skandalisierungen handelt, lässt es plausibel erscheinen, hier nicht von der Öffentlichkeit einer globalen Elite, sondern von einer Weltöffentlichkeit zu sprechen, in der sich eine Art von „globalem Bewusstsein" aktualisiert (vgl. Osterhammel/Petersson 2003: 44; auch Clark 2002). Es sei dabei noch einmal betont, dass es irreführend wäre, hier von der Vorstellung einer nationalstaatlich getragenen Integration politischer Öffentlichkeit auszugehen und eine Gleichförmigkeit kommunikativer Bezüge einzelner Personen und Gruppen als Grundlage einer solchen „Öffentlichkeit" anzusehen.26 Die Weltöffentlichkeit zeigt sich in gewissem Sinne vor allem im Umkehrschluss: gerade das Funktionieren bestimmter Symbole, also etwa die Tatsache, dass Weltereignisse als solche erscheinen, verweist auf das Vorhandensein einer Weltöffentlichkeit. Eine Weltöffentlichkeit ist demnach auch nicht durch eine starke transnationale oder globale „kollektive Identität" (Kaelberer 2004) gestützt, insofern hierunter ein hoher Grad an Gleichförmigkeit einzelner identifikatorischer Bezüge verstanden wird. Wie in Bezug auf eine vieldiskutierte „europäische Identität" ist auch und gerade in Bezug auf die einer Weltöffentlichkeit zugrundeliegende kollektive Identität zu erwarten, dass sie sich in einer „Geschichte der politischen Diskontinuität, des Synkretismus, der Übersetzungen und der Zusammenbrüche" (Giesen 2002: 73) herausbildet.
4.3 Weltstaatssemantik Wie zuvor beschrieben ist eine die Weltöffentlichkeit stützende kollektive Identität im globalen Maßstab nur schwach ausgeprägt. Das „globale Bewusstsein" (Osterhammel/Petersson 2003: 44) scheint mehr Wunsch als Realität. Aus dieser BeobVor dem Hintergrund der Beobachtung, dass Öffentlichkeit nur deshalb zum politischen System bzw. zu dessen Umwelt gehöre, weil sie Hinweise auf zukünftige Machtverteilungen liefere, formulierte ein/e Gutachter/in die bedenkenswerte Nachfrage, o b sich dies auch für ein solche Weltöffentlichkeit behaupten ließe. Wie auch aus der kurzen abschließenden Argumentation in Punkt 5 . ersichtlich wird, erscheint mir die Weltöffentlichkeit in ihrer gegenwärtigen Ausprägung dies nicht zu leisten - und auch nicht leisten zu müssen; sie gehört aber trotzdem zum politischen System bzw. dessen Umwelt, da sie aufgrund ihrer punktuellen Form zwar keine direkten Hinweise auf zukünftige Machverteilungen, wohl aber auf zukünftig relevante M a c h t / o r m e n zu geben vermag. 26
233
achtung ließe sich weiterführend ein starkes Argument gegen die Rede von einer entstehenden Weltstaatlichkeit entwickeln. Versteht man jedwede Form von Staatlichkeit als eine mögliche Selbstbeschreibung des politischen Systems, dann kommt auch eine Weltstaatlichkeit nicht ohne die Herausbildung einer entsprechenden Semantik aus. Und die Voraussetzungen für diese Herausbildung erscheinen ungünstig, wenn sie sich, wie geschildert, weder in einem starken Diskurs von Weltöffentlichkeit herausbilden und stabilisieren kann noch empirisch bereits in nennenswertem Umfang vorzufinden ist. Gerade an dieser Stelle verläuft jedoch selbstverständlich die Trennlinie zwischen der Analyse des Bestehenden und der Prognose des möglicherweise Entstehenden. Und gerade hier gilt es sich des Umstandes zu erinnern, dass die heute vorherrschende Form der Nationalstaatlichkeit sich nicht als Selbstbeschreibung des politischen Systems gleichsam im luftleeren Raum etablierte, sondern vielmehr einer Reihe vorbereitender Semantiken bedurfte. 27 Bewusst grob vereinfachend 28 erscheint dabei insbesondere die Konstruktion von Semantiken einer nationalen Gemeinschaft sowie einer gemeinsamen Geschichte als Voraussetzung für eine erfolgreiche Durchsetzung der (national-)staatlichen Selbstbeschreibung des politischen Systems. Und genau in diesem Sinne lässt sich das Fehlen einer ausgeprägten Weltstaats-Semantik nicht als Nachweis einer ausbleibenden Herausbildung von Weltstaatlichkeit werten. Ganz im Gegenteil wäre es überraschend, wenn ein solch naszenter Status von Weltstaatlichkeit bereits eine umfangreiche Semantik ausgebildet hätte. Bedeutsam erscheint jedoch, dass sich eine nennenswerte „Gemeinschafts"-Semantik jenseits des Nationalstaates sowie eine zunehmende Prominenz „weltgeschichtlichen" Denkens feststellen lassen, die als vorbereitende Semantiken für eine entsprechende Weltstaats-Semantik fungieren können. Dabei ist mit dem Verweis auf die „vorbereitenden" Semantiken von „Gemeinschaft" und „Weltgeschichte" nicht unterstellt, dass sich eine Weltstaats-Semantik notwendig herausbilden und konsolidieren wird. Das vorliegende Argument setzt sich in dieser Hinsicht von der teleologischen Argumentation Wendts (2003) ab. Was die Entstehung einer „Gemeinschafts"-Semantik anlangt, so ist damit ausdrücklich keine Vorstel27
Wegweisend hier weiterhin Anderson 1 9 8 3 .
Und insbesondere die umgekehrte Wirkung der Herausbildung und Konsolidierung von Staatlichkeit auf die weitere Entwicklung der angesprochenen Semantiken ausblendend! 28
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 223-238
lung einer notwendigen „substantiellen", normativen Integration einer Gemeinschaft als Voraussetzung für die Entstehung von Staatlichkeit in der Weltgesellschaft unterstellt (vgl. ähnlich Herborth 2004). Es geht allein um die Beobachtung, dass die „Gemeinschafts"-Semantik jenseits des Nationalstaates zunehmend an Bedeutung gewinnt. Diese Gemeinschaftssemantik findet sich heute vor allem in der symbolischen Inszenierung und Institutionalisierung von Reziprozitäts- und Solidaritätserwartungen hinsichtlich der Durchsetzung von Menschenrechtsnormen, denen in diesem Sinne ein für die Weltgesellschaft „einheitsstiftender" Charakter zukommt (siehe Bonnacker 2003: 122f). Aber auch innerhalb der „Staatenwelt" scheint die Gemeinschaftssemantik an Bedeutung zu gewinnen. „Internationale Gemeinschaften" (vgl. Cronin 1999) oder „Sicherheitsgemeinschaften" (vgl. Adler/Barnett 1998) verweisen auf einen deutlich dichteren Grad an verfestigten Selbstbeschreibungen 2 9 gegenseitiger Erwartungen unter Staatengruppen, als dies vor allem im Hinblick auf den genauso abstrakten wie folgenlosen Appell an die „internationale Gemeinschaft" im politischen Sprachgebrauch über lange Zeit der Fall war. Hinsichtlich des geschichtlichen Denkens lässt sich aus der Beobachtung der einschlägigen geschichtswissenschaftlichen Literatur der letzten Jahre durchaus die Vermutung ableiten, dass Tenbrucks (1989) in konzeptioneller Absicht gestellte Frage nach „Gesellschaftsgeschichte oder Weltgeschichte" zunehmend empirisch zugunsten der Zweitgenannten entschieden wird. Dabei geht es vor allem um die zunehmende Reflexion der vorliegend für Politikwissenschaft und Soziologie mehrfach angesprochenen methodologischen Begrenzungen der national konzentrierten Geschichtsschreibung (vgl. etwa Osterhammel 2001) sowie um ein daraus resultierendes Bemühen, Weltgeschichte nicht nur als Ge-
29
Vor diesem H i n t e r g r u n d ist eine entstehende Welt-„Gem e i n s c h a f t " - u n a b h ä n g i g von den damit einhergehenden Abgrenzungsproblemen einer entsprechenden kollektiven Identitätskonstruktion - nicht im Sinne einer entstehenden „globalen N a t i o n " , einer universalen Werte- oder aber einer idealen universalen Diskursgemeinschaft zu verstehen. Im Hinblick auf die hier einschlägigen Universalismus/Partikularismus-Debatten gewinnen in der letzten Zeit Stimmen an Bedeutung, welche das integrative Element einer solchen Weltgemeinschaft eher in einer pragmat(ist)ischen Praxis problemlösungsorientierten H a n d e l n s vermuten (vgl. Brassett/Higgott 2 0 0 3 ; auch Albert/Kopp-Malek 2 0 0 2 ) oder aber auf die empirische Herausbildung von Universalnormen (also nicht deren universalistische Begründung!) verweisen; vgl. etwa Brown 2004b).
schichte vieler Nationalgeschichten, sondern als Geschichte der Entwicklung globaler Strukturen und Zusammenhänge zu schreiben. 3 0 Zusammenfassend kann das Fehlen einer umfassenden Semantik von Weltstaatlichkeit nicht an sich als Indiz für eine nicht stattfindende Herausbildung weltstaatlicher Strukturen gewertet werden. Rein analytisch besteht in dieser Hinsicht kein Problem (vgl. Buzan 2004: 92): Eine Selbstbeschreibung als „Weltstaat" muss den politischen Diskurs keineswegs durchdringen, um als Indiz für eine wenngleich erst schwach ausgeprägte Emergenz von Weltstaatlichkeit gewertet zu werden. Hier bietet sich eine direkte Analogie zum Fall der europäischen Integration an, in dem sich in der Zwischenund Nachkriegszeit eine Semantik europäischer Staatlichkeit herausbildet, welche politisch erst wieder mit der Herausbildung entsprechender Strukturen in der Gegenwart im Diskurs über eine „Staatswerdung Europas" aufgegriffen wird. In Hinblick auf weltstaatliche Strukturen ließe sich in diesem Sinne ableiten, dass eine noch mangelnde Reaktualisierung einer Weltstaats-Semantik keinen Hinweis auf eine fehlende Evolution entsprechender Strukturen bietet.
5. Zur Politik der Weltgesellschaft: „Weltstaatlichkeit" oder „Weltinnenpolitik" Im Hinblick auf die anscheinend noch auf unsicheren Füßen stehende Diagnose der Herausbildung von „Weltstaatlichkeit" stellt sich die Frage, w a r u m man es sich nicht einfacher macht und sich damit begnügt, die entstehenden Strukturen des politischen Systems der Weltgesellschaft als eine Art „Weltinnenpolitik" zu beschreiben. 3 1 Auf den ersten Blick scheint es so, als ob sich damit der relative Bedeutungsverlust nationalstaatlicher Grenzen für die Binnenstruktur des politischen Systems und die angesprochenen Tendenzen der Herausbildung eines Weltrechts sowie einer Weltöffentlichkeit ebenso gut beschreiben ließen, ohne sich den zusätzlichen Ballast des Staatsbegriffes aufzuladen. Gegen eine solche Option spricht zweierlei: zum einen die Tatsache, dass Unschärfen im Begriff der Weltstaatlichkeit zwar zuzugeben, im Hinblick auf die Offenheit ihres Entstehungsprozesses letzthin 30
Vgl. etwa M a n n i n g 2 0 0 3 und Crossley et al. 2 0 0 4 . Als konsequentesten gegenwärtigen Vertreter der Perspektive einer Weltinnenpolitik erachte ich H e l m u t Willke (zuletzt 2 0 0 3 ) . 31
Mathias Albert: Politik der Weltgesellschaft und Politik der Globalisierung wohl auch unvermeidlich sind - dass jedoch der Begriff der „Weltinnenpolitik" aufgrund seines fehlenden Pendants einer „Weltaußenpolitik" entweder inhaltsleer bleibt, oder aber mit der globalen Expansion binnen staatlicher Verhältnisse nichts anderes als die Entstehung von Weltstaatlichkeit bezeichnet. Zum anderen gerade die damit angesprochene Gefahr, dass mit der Rede von der Weltinnenpolitik Vorstellungen eines nationalstaatlichen Ordnungsrahmens idealtypisch auf die globale Ebene übertragen werden. Der Begriff der Weltstaatlichkeit sucht aber genau dem entgegenzuwirken. Er reflektiert, dass Funktionen von Staatlichkeit nicht mehr individuell oder kollektiv auf nationalstaatliche Adressen zurechenbar sind, sondern in Strukturen von Global Governance eingelagert werden, welche zunehmend rechtlich abgesichert und im Licht der Weltöffentlichkeit reflektiert werden. Es geht hierbei in der Gegenwart selbstverständlich empirisch um nicht mehr - aber auch um nicht weniger! - als eine minimale Form von Weltstaatlichkeit, eine Art Weltstaatlichkeit „im Werden". Bedeutsam ist dabei vor allem, dass es sich hier um einen Strukturbildungsprozess im politischen System der Weltgesellschaft handelt, der nicht als ein „principle of the modern State writ large" (Fine 2 0 0 3 : 4 6 5 ) beschrieben werden kann. Gerade theoretisch verlässt man vielmehr eine Reihe zentraler Annahmen in der Analyse des politischen Systems, die einer nicht zuletzt auch über den Gesellschaftsbegriff transportierten Engführung einer Vorstellung von nationalstaatlichen „Container"-Räumen auf der einen und Modernisierungsvorstellungen auf der anderen Seite geschuldet ist (vgl. Tenbruck 1989).32 Die Entstehung von Weltstaatlichkeit ist allem voran Ergebnis und Indikator eines durchgreifenden Umbruchs im politischen System der Weltgesellschaft. Die Gesamtheit der angesprochenen Globalisierungs- und Global Governance-Diagnosen beschreibt eine nachlassende Wirkmächtigkeit der bislang primär segmentären Differenzierung des politischen Systems der Weltgesellschaft in Nationalstaaten. Die Entstehung von Weltstaatlichkeit beschreibt ein neues Strukturmuster in diesem Umbruchprozess. Daneben stehen andere, wie insbesondere am Beispiel der Europäischen Union als Nur unter der Bedingung des Aufbrechens dieser Engführung wird es möglich, die Vorstellung einer „ungleichzeitigen" Entwicklung nationalstaatlicher politischer Systeme aufzugeben und konsequent durch ein für die Analyse der Entwicklung des politischen Systems der Weltgesellschaft eher geeignetes Modell „ungleicher Entw i c k l u n g " zu ersetzen (vgl. Brock 2 0 0 0 : 2 9 2 ) . 32
235
neuer Form von Regionalstaatlichkeit deutlich wird. Dass sich Staatlichkeit, den normativen Ansprüchen der Nationalstaaten zum Trotz, in diesem Prozess wandelt und sinnvoll nur noch als Sammelsurium inklusiver Formen von Staatlichkeit im politischen System der Weltgesellschaft beschrieben werden kann, 3 3 gibt vor allem die Warnung mit auf den Weg, analytische Kategorien und Instrumente, die dem Primat der Nationalstaaten angemessen gewesen sein mögen, nicht umstandslos auf andere Formen von Staatlichkeit zu übertragen. Dies gilt auch und gerade für das Vokabular der Systemtheorie in der Tradition Luhmanns. Diese operierte bislang unter der weitgehend unhinterfragten wenngleich vor dem Hintergrund der Globalisierungsdiskussion eher unplausiblen - Annahme eines fortbestehenden Primats segmentärer Differenzierung des politischen Systems der Weltgesellschaft. Während jedoch die spezifische Ausprägung des Codes Regierung/Opposition im nationalstaatlichen politischen System dazu dient, alle Sachgesichtspunkte unter einem positiven und einem negativen Wert zu disziplinieren, 34 so erscheint es höchst unwahrscheinlich, dass sich im politischen System der Weltgesellschaft der Code ähnlich eindeutig und einheitlich gestaltet. Schon für „traditionelle" Formen der internationalen Politik greift diese Ausprägung des Codes in der Form Regierung/Opposition nicht mehr. Umso mehr erscheint es plausibel, im globalen Kontext eine Vielzahl von Ausprägungen vorzufinden - von klassischen Formen machtpolitischer Allianzbildung über neue Konfliktlinien im viel beschworenen „clash of civilizations" bis hin zu rudimentären Formen von Regierung/Opposition im weltstaatlichen Kontext. Die Frage erscheint hier nicht, ob, sondern welche parteilichen oder anderen „Cleavages" die Ausprägungen des Codes politischer Kommunikation jenseits des Nationalstaates formen werden. 3 5
D e m entspricht auch gut die Vorstellung der neueren Souveränitätsdebatte, in welcher der Wandel von Souveränität nicht mehr als „Verlust" oder „Übertragung" nationalstaatlicher Souveränität, sondern als Herausbildung einer „komplexen Souveränität" verhandelt wird; vgl. Grande/Pauly i.E. 33
Ich lehne mich hier lose an die Formulierung einer Gutachterin/eines Gutachters an. 3 5 In loser Anlehnung an Luhmann ( 2 0 0 0 : 18ff.) ließe sich hier formulieren, dass es sich beim Code Regierung/Opposition nicht nur um eine historisch, sondern insbesondere auch regional und strukturell spezifische Ausformung des Codes machtüberlegen/machtunterlegen handelt (siehe Luhmann 2 0 0 0 : 18ff.); vgl. weiterführend auch Wagar 1 9 9 9 , Patomäkki/Teivainen 2 0 0 4 , Aksu/Camilleri 2 0 0 2 . 34
236
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 2 2 3 - 2 3 8
D i e V o r s t e l l u n g einer „ E i n h e i t l i c h k e i t " m u s s d e m zufolge scheitern, w e n n hierunter ein a n a l o g zur N a tionalstaatsvorstellung weltweit irgendwie
„homo-
g e n e r " H e r r s c h a f t s r a u m v e r s t a n d e n w i r d . Sie m u s s e m p i r i s c h s c h e i t e r n , insofern jede B e h a u p t u n g einer solchen
Homogenität
unmittelbar
mit
denselben
Einwänden realer Heterogenität konfrontiert wäre, w e l c h e a u c h a u f jeden einzelnen N a t i o n a l s t a a t bez o g e n w e r d e n k ö n n e n . U n d sie m u s s m i t h i n a n der eigentümlichen
Unabschließbarkeit
dem
über
Weltstaat
den
k o m m t . I n s b e s o n d e r e Kant
scheitern,
Weltbegriff
selbst
die zu-
h a t in diesem Sinne d a -
r a u f hingewiesen, dass die W e l t z w a r als „Inbegriff aller E r s c h e i n u n g e n " ( K a n t 1 9 7 4 : 3 3 6 ) gelten k a n n , a b e r g e r a d e d e s h a l b d a s W e l t g a n z e „ n u r im Begriffe, keineswegs (als G a n z e s ) in der
Anschauung"
( e b d . : 4 7 9 ) existiert. G e r a d e in B e z u g a u f d e n W e l t s t a a t scheint zuzutreffen, dass der W e l t b e g r i f f v o r a l l e m als „ r e g u l a t i v e Idee der b l o ß
spekulativen
V e r n u n f t " ( K a n t e b d . : 5 9 ) fungiert. D i e A u s b i l d u n g w e l t s t a a t l i c h e r S t r u k t u r e n ist kein zielgerichteter Prozess. Sie w i r d nicht zuletzt a u c h d a v o n m i t b e s t i m m t , w i e sie beschrieben w i r d : o b a u f der einen Seite als e v o l u t i o n ä r e r P r o z e s s m i t einem
damit
zum
Teil v e r b u n d e n e n
Beharren
auf
d e m F o r t b e s t a n d v o n Teilen n a t i o n a l s t a a t e n g e s t ü t z ter O r d n u n g e n und H e r r s c h a f t s m o d e l l e ; o d e r a u f der a n d e r e n Seite als z u m i n d e s t implizit m i t e i n e m H a u c h der U t o p i e u m g e b e n e r E n t w u r f einer Politik in der
Weltgesellschaft,
die in der D i a g n o s e e m e r -
g e n t e r S t r u k t u r e n der W e l t g e s e l l s c h a f t d a s Versprec h e n einer g ä n z l i c h n e u e n O r d n u n g des Politischen e n t h ä l t . In diesem Sinne s t ü n d e zu hoffen, dass eine Diskussion über w e l t s t a a t l i c h e S t r u k t u r e n als F o r m der
Ordnungsbildung
Weltgesellschaft Referenzpunkt
im politischen
sich als geeigneter für
die
Vielfalt
von
System
der
gemeinsamer Weltgesell-
schafts- u n d G l o b a l i s i e r u n g s d i a g n o s e n in verschied e n e n Disziplinen erweisen k ö n n t e .
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Autorenvorstellung: Mathias Albert, geb. 1967 in Wasserlos i. Ufr. Studium der Politikwissenschaft in Frankfurt/M., Washington, DC und Canterbury. 1996 Promotion in Frankfurt/M., 2000 Habilitation in Darmstadt. Seit 2001 Professor für Politikwissenschaft und Mitglied im Geschäftsführenden Vorstand des Instituts für Weltgesellschaft an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Weltgesellschaft, Internationale Beziehungen. Letzte Buchpublikationen: Observing International Relations (Hrsg. mit L. Hilkermeier), London 2004. Die Entgrenzung der Politik (Hrsg. mit B. Moltmann und B. Schoch), Frankfurt/M. 2004.
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 239-259
Die Welt der Patente Eine soziologische Analyse des Weltpatentsystems
Patent World Towards a Sociological Analysis of the World Patent System Christian Mersch* Institut für Weltgesellschaft, Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld, Universitätsstraße 25, D-33615 Bielefeld E-mail: [email protected] Zusammenfassung: Patente gewinnen in der modernen Gesellschaft zunehmend an Relevanz. In der industriellen Forschung und Entwicklung kommt einem effizienten Patentmanagement immer größerer strategischer Wert zu, in der akademischen Forschung müssen Patentlizenzen als zusätzliche Geldeinnahmequellen verstärkt berücksichtigt werden und auch in den Massenmedien wird ethisch-moralischen Dimensionen des Patentschutzes wachsende öffentliche Resonanz verliehen. Der Beitrag setzt sich daher zum Ziel, das Patent als soziologisches Forschungsobjekt zu erschließen und lässt sich von der These leiten, dass das moderne Patentsystem in Analogie zu anderen funktionalen Teilsystemen als Weltpatentsystem begriffen werden muss. Wie alles staatliche Recht unterliegt auch das Patentrecht einem strikten Territorialitätsprinzip. Aufgrund der nationalstaatlichen Fragmentierung des Rechts könnte die Annahme eines Weltpatentsystems aus einer konventionellen globalisierungstheoretischen Perspektive daher problematisch erscheinen. Dieser scheinbare Widerspruch zwischen Nationalstaatlichkeit und Globalität lässt sich im Rahmen eines weltgesellschaftstheoretischen Ansatzes auflösen. Aus der Sachspezifik des Patents erwächst ein partikularer Universalitätsanspruch: Ein Patent kann nur dann erteilt werden, wenn der Erfindungsgegenstand absolut neu ist, d. h. nie zuvor der Weltöffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Jede Beobachtung von Patentrechten rückt damit in einen globalen Vergleichszusammenhang technischen Wissens ein: die Welt der Patente. Ungeachtet der territorialen Differenzierung und Fragmentierung des Patentrechts lässt sich das Patentsystem daher soziologisch nur als Weltpatentsystem beschreiben. Summary: Patents are becoming increasingly important in modern society. This holds, on the one hand, for the economy, where broad patent portfolios are of growing strategic value for research-intensive multunational enterprises. On the other hand, this is true of the academic realm, where selling patent licenses is becoming an increasingly vital part of many scientists' everyday business. For this reason, this article intends to explore the patent as a sociological object of investigation. The paper is guided by the assumption that the modern patent system can be described as a global communication system. Taking into account that patent rights are nation-state-bounded rights (the principle of territoriality), this hypothesis could appear counterintuitive when arguing from a conventional globalization-theoretical point of view. It is maintained that this seeming contradiction between territoriality and globality can be resolved within a world society theoretical framework. Universalism and globality are analytically differentiated. Whereas patent rights are only valid within national boundaries, they can only be granted after a universal examination of the requirement of novelty. Inventions will only be protected legally if the underlying technical knowledge was not publicly accessible before the application date. As a consequence, each observation of the patentability requirements is inevitably incorporated into the global context of a comparison of documents of technical knowledge: the patent world. Sociologically, the patent system must be analysed as a world system, notwithstanding the persisting national fragmentation of patent law.
1. Soziologische Patentabstinenz und die Theorie der Weltgesellschaft „The very first official thing I did in my administration and it was on the very first day of it too - was to start a patent office; for I knew that a country without a patent office and good patent laws was just a crab and couldn 't travel anyway but sideways and backwards."
Das von Mark Twains Romanhelden, dem „Connecticut Yankee" Hank Morgan bei der Beschreibung seiner ersten ministerialen Amtshandlung emphatisch formulierte Plädoyer für Patente enthält eine bemerkenswerte Aussage. 1 Eine Gesellschaft, die über keinen angemessenen rechtlichen Schutz für die wirtschaftliche Auswertung technischer Erfindungen („good patent laws") verfügt, muss frü-
* Für instruktive Hinweise und Anregungen bedanke ich mich bei zwei Gutachtern und den Herausgebern der Zeitschrift für Soziologie. Tobias Werron danke ich für viele wertvolle Kommentare sowie für permanenten juristischen Beistand.
1 Siehe Stein 1 9 7 9 : 119. Beim Connecticut Yankee handelt es sich um einen amerikanischen Fabrikarbeiter, der in ein Zeitloch fällt, und im sechsten Jahrhundert an König Artus' H o f zum Minister ernannt wird.
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 2 3 9 - 2 5 9
her oder später zur strukturellen Stagnation, wenn nicht sogar evolutionären Regression tendieren („couldn't travel anyway but sideways and backwards"). Wollte man diese zunächst überraschend klingende These soziologisch aufgreifen, wäre das Patent also im gleichen Atemzug mit anderen bahnbrechenden evolutionären Errungenschaften wie dem Buchdruck oder der formalen Organisation zu nennen und theoretisch zu würdigen. 2 Keine Weltgesellschaft ohne Patente? Keine Theorie der Weltgesellschaft ohne Theorie des Weltpatentsystems? Dieser Beitrag stellt nicht den Anspruch, erschöpfende Antworten auf diese Fragen zu geben, sondern präsentiert zunächst den Versuch der Entwicklung eines Vokabulars, mit dessen Hilfe diese Fragen überhaupt angemessen gestellt werden könnten. Eine Suche nach soziologischer Literatur zum Patent ergibt nämlich den ernüchternden Befund, dass sich die Soziologie einer profunden Auseinandersetzung mit Patenten bzw. mit gewerblichem Rechtsschutz im Allgemeinen bis heute diszipliniert und systematisch enthalten hat. Soziologische Arbeiten, die das Patent als eine partikulare, eigensinnige Kommunikationsform analysieren liegen nicht vor. Dasselbe gilt für im engeren Sinne gesellschaftstheoretisch interessierte Arbeiten. 3 Lediglich in der Wissenschaftssoziologie und Innovationsforschung werden Patente in den letzten Jahren verstärkt zum Thema. Die vor allem im Bereich der biotechnologischen Forschung signifikant gestiegenen akademischen Patentanmeldezahlen und Lizenzeinnahmen werden dort als Indikator für einen institutionellen Wandel der Universität hin zu verstärkter wirtschaftlicher Wettbewerbsorientierung verwendet (vgl. Schmoch 2003: 222ff.). Das Verdienst dieser Arbeiten ist vor allem darin zu sehen, die strukturelle Relevanz des Patents bzw. von Intellectual Property im Allgemeinen für die moderne Gesellschaft aus Sicht der Wissenschaft zu reflektieren. 4 Aber auch die wissenschaftssoziologi-
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Die These Mark Twains in ihrer Radikalität ernst nehmend ließe sich etwas voreilig und mit einem Augenzwinkern fragen, ob das „Patent der Gesellschaft" in denselben theoretischen Rang wie etwa das „Recht der Gesellschaft", die „Wissenschaft der Gesellschaft" oder die „Wirtschaft der Gesellschaft" gehoben werden müsste, um sich dann darüber verwundern zu müssen, warum Luhmann neben dem Sport ausgerechnet auch dem Patent nicht die ihm gebührende soziologische Ehrerbietung entgegengebracht hat. 3 Vgl. als Ausnahme Hutter 1989; für eine Soziologie der Marke siehe Hellmann 2 0 0 3 . 4 Die zunehmende Nutzung von Patentierungsmöglichkeiten durch akademische Forschungseinrichtungen (vgl. Po-
sche Analyse beschränkt sich auf eine Beobachtung der wissenschaftlich-akademischen Beobachtung des Patents bzw. auf eine Analyse struktureller Kopplungen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft (vgl. aktuell Heinze 2005), ohne selbst Ambitionen auf eine theoretische Erklärung der Spezifik des Patents als Kommunikationsform eigener Art anzumelden. Kurzum: einer ernsthaften gesellschaftstheoretischen Auseinandersetzung mit Patenten könnte sich die Soziologie zur Zeit schon in Ermangelung eines präzisen Patentbegriffs überhaupt nicht stellen. Diese soziologische Abstinenz gegenüber dem Patent überrascht nun um so mehr, vergegenwärtigt man sich den strukturellen Relevanzgewinn, den der rechtliche Erfindungsschutz nicht nur im wissenschaftlich-akademischen Funktionsbereich, sondern vor allem auch im Wirtschaftssystem in den letzten Jahren erfahren hat. Nachdem sich das Patent in Form eines positivierten Patentrechts erst vom Ende des 19. Jahrhunderts an in vielen Staaten endgültig durchzusetzen begann - im Deutschen Reich zum Beispiel 1877 mit der Verabschiedung des Reichspatentgesetzes kann heute von einer nahezu ausnahmslosen weltweiten Verbreitung des Patentrechts ausgegangen werden. Während es zur vorletzten Jahrhundertwende weltweit kaum mehr als einige Tausend Patente gab, waren im Jahr 2002 weltweit knapp 4,7 Millionen Patente in Kraft. 5 Der weitaus größte Teil der Patentrechte wird von multinationalen Unternehmen gehalten, die viele ihrer Erfindungen nicht nur bei den Patentämtern ihres Stammlands anmelden, sondern im Rahmen internationaler Patentportfolio-Strategien zunehmend auch in anderen Staaten Patentrechte suchen. Im Jahr 2000 wurde für eine Erfindung im Durchschnitt weltweit bei neun verschiedenen Patentämtern Patentschutz beantragt; die Siemens AG meldete beispielsweise im Jahr 2001 weltweit über 6000 Erfindungen, davon weit über tausend beim amerikanischen Patentamt zum Patent an (Siemens AG 2001: 23, Siemens Corporate Technology 2002: 3). Internationale Patentrechte werden heute indes nicht nur viel häufiger well/Owen-Smith 1998 für den Bereich der Biotechnologie) wird in diesem Forschungsgebiet häufig als Verletzung klassischer Handlungsnormen wie dem Mertonianischen Wissenschaftsethos beobachtet (Eisenberg 1987). Hohe Patentanmelderaten und gestiegene Lizenzeinnahmen akademischer Institutionen und Forscher werden häufig als Einbruch des nutzenorientierten „entrepreneurial paradigm" (Etzkowitz et al. 2000) in den einst primär grundlagentheoretisch orientierten „ivory tower" (kritisch) aufgefasst. 5 European Patent Office 2 0 0 4
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Christian Mersch: Die Welt der Patente beantragt, sie werden, wie zum Beispiel die signifikante Z u n a h m e von Patentstreitigkeiten an USamerikanischen Gerichten belegt, in den letzten J a h r z e h n t e n im Fall von Patentverletzungen vor allem von G r o ß u n t e r n e h m e n immer konsequenter zur Geltung g e b r a c h t . 6 D e r ö k o n o m i s c h e Bedeutungsgewinn von Patentschutz lässt sich nicht nur quantitativ belegen, sondern auch an qualitativen Indikatoren wie der zunehmenden Thematisierung des Patentsystems durch Unternehmen und in massenmedialen Diskursen ablesen. In den Selbstbeschreibungen von technologieintensiven multinationalen Unternehmen stößt m a n häufig auf kriegerisch-militärisch klingende T ö n e . Semantiken wie global patent races, aggressive Patentierungsstrategien und Lizenzgefechte illustrieren die Verschärfung des K a m p f e s um wichtige Patentrechte, denen als „ M a r k t h e b e l " (Siemens C o r p o r a t e Information 2 0 0 4 ) wirtschaftlich entscheidende Bedeutung im K o n k u r r e n z k a m p f um M a r k t a n t e i l e auf internationalen technologischen M ä r k t e n z u k o m m t . Auch in der öffentlichen M e i n u n g lässt sich in den letzten J a h r e n eine zunehmende R e s o n a n z auf ethisch-moralische Dimensionen des Patentschutzes b e o b a c h t e n . Vor allem die besonders signifikant steigende Anzahl an Patenten für biotechnologische Erfindungen ( D P M A 2 0 0 1 : 2 8 ) und tierische und menschliche Gensequenzen (,Patente auf L e b e n ' ) zieht massiven Protest durch Organisationen wie Greenpeace oder Attac auf sich. Besonderes weltöffentliches Aufsehen erregte vor einigen J a h r e n der zwischen westlichen Pharmakonzernen und der südafrikanischen Regierung ausgetragene Konflikt um Patentrechte für AidsM e d i k a m e n t e . Bei dieser Auseinandersetzung wurde multinationalen Unternehmen wie Pfizer und Boehringer-Ingelheim neben anderen der Vorwurf gemacht, aufgrund ihrer monopolistischen Preispolitik Aidskranken den Z u g a n g zu M e d i k a m e n t e n effektiv zu verwehren. N a c h einem langjährigen Konflikt verzichteten die Unternehmen schließlich insbesondere aufgrund des von internationalen Nichtregierungsorganisationen ausgeübten weltpolitischen D r u c k s auf einen Teil ihrer patentrechtlichen Ansprüche und sahen aus legitimatorischen (nicht rechtlichen) Gründen auf Patentklagen gegen günstigere Generika a b . 7 Im Elektrotechnik- und IT-Bereich ist in den USA zwischen 1995 und 1998 die Anzahl von Patentstreitfällen um 5 0 % auf über 1500 pro Jahr gestiegen (Brachmann 2001). 7 Vgl. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 4.11. 2001 (Nr. 44: 35): „Sagen wir, da ist ein Hauch Erpressung". Boehringer-Ingelheim-Chef Krebs über Bio-Terror,
Schon diese wenigen D a t e n weisen deutlich darauf hin, dass es sich beim Patent um ein k o m m u n i k a t i ves P h ä n o m e n mit globaler Relevanz und bei der Geschichte des Patentsystems im 2 0 . Jahrhundert um eine globale „success s t o r y " handelt. Die evolutionäre Karriere des Patentsystems steht in unmittelbarem strukturellem Z u s a m m e n h a n g mit der Globalisierung der W i r t s c h a f t und der Genese des forschungsintensiven multinationalen Unternehmens. Dessen Geschäftsstrategien verfolgen eine möglichst weit reichende globale wirtschaftliche Auswertung proprietärer Technologien, um einen m a x i m a l e n return on investment für aufwendige Forschungs- und Entwicklungsarbeiten ( F & E ) zu erzielen. 8 Unternehmen sehen sich allerdings bei der Durchsetzung ihrer globalen F & E - S t r a t e g i e n mit dem Sachverhalt konfrontiert, dass für eine Erfindung in jedem Land, für dessen M a r k t Patentschutz profitabel erscheint, ein neues Patent beantragt werden muss. Denn bei Patenten handelt es sich, wie grundsätzlich bei rechtlicher K o m m u n i k a tion, um ein Rechtsinstitut mit nationalstaatlich begrenzter normativer W i r k u n g . Ein deutsches Patent gilt von Kiel bis Passau, aber in Linz schon nicht mehr. Kein Patentrichter kann stellvertretend für Kollegen in anderen Ländern R e c h t sprechen, kein Patentprüfer ein Patent mit W i r k u n g für die Anrainerstaaten erteilen. Es gibt kein Weltpatentamt, das ein Weltpatent für die gesamte Staatenwelt, gleichsam für den gesamten G l o b u s gewähren k ö n n t e . Patente unterliegen einem strikten „Territorialitätsprinzip" (Andermann 1 9 7 5 ) . Im Gegensatz zu wissenschaftlichen Publikationen, wirtschaftlichen Zahlungen oder Kunstwerken etc. sind die Sinnbezüge des Patents demnach kategorisch mit einem nationalstaatlichen Index versehen. In A n b e t r a c h t dieser räumlich-territorialen K o n ditionierung des R e c h t s drängt sich unmittelbar die Frage nach der Q u a l i t ä t des Patentsystems als globalem System auf. R e c h t zeichnet sich durch eine territoriale Segmentierung in Nationalstaaten aus und unterscheidet sich hierin von K o m m u n i k a tionszusammenhängen wie Weltwirtschaft und Weltwissenschaft, für die transterritoriale K o m munikationsnetzwerke (scientific communities, internationale Finanzmärkte etc.) strukturprägend sind. Unter
Rechtswissenschaftlern
und
Rechts-
6
Aids und Patente. Zum politischen Hintergrund der Auseinandersetzung siehe Ostergard 1999. 8 Zu „global exploitation of technology" siehe Archibugi/ Michie 1995. Die Siemens AG wandte beispielsweise im Jahr 2004 fünf Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung auf (Siemens AG 2004: 3).
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 239-259
Soziologen lautet angesichts der räumlichen Fragmentierung des Rechtssystems die herrschende Meinung somit, dass sich Weltrecht, solange es keinen Weltstaat gibt, „nicht im Zentrum nationalstaatlicher oder internationaler Institutionen" (Teubner 1996: 229), sondern nur jenseits von Staatlichkeit entwickeln könne. Als prototypisches Beispiel für die Herausbildung einer nichtstaatlichen globalen Rechtsordnung gilt die lex mercatoria, welche als „de facto staatsautonomes transnationales Wirtschaftsrecht" (Mertens 1992: 226) ein privatrechtlich organisiertes, staatsunabhängiges globales Rechtsregime darstellt. 9 Diese skeptische Haltung gegenüber der Globalität staatlich verfassten Rechts findet Bestätigung bei einer Durchsicht von Arbeiten zum internationalen Patentrecht, in denen zwar durchgängig ein „strong drive toward a world patent system" (Barton 2004: 341) diagnostiziert, die Existenz eines Weltpatentsystems aber explizit negiert wird, da noch keine internationale politische Einigung über ein einheitliches Weltpatent erzielt wurde: „To put it briefly, the world patent is an ideal and like every ideal it will be unobtainable - at least in the foreseeable future" (Haertel 1965: 9). „Weltpatentsystem" ist kein theoretischer Begriff, sondern ein politisches Projekt. Ähnlich wie viele Globalisierungsanalyen den Begriff der Weltgesellschaft zur Beschreibung eines utopischen zukünftigen Zustands benutzen, wird also auch der Begriff des Weltpatentsystems nicht zur Bezeichnung eines systemischen Realzustands eingesetzt, sondern lediglich als „Limesbegriff" (Nassehi 2000: 262) mitgeführt. Der Diskussion zur Globalisierung des Patentrechts bzw. des Rechts im Allgemeinen liegen indes zwei fragwürdige theoretische Prämissen zugrunde, die einer Kritik unterzogen werden müssen, bevor wir mit den eigenen Beobachtungen des Patents beginnen können. Erstens fällt die substantialistische Bestimmung des Weltbegriffs auf. Mit Welt wird eine Vorstellung von weltweiter struktureller Isomorphie und der Überwindung der Heterogenität nationalstaatlicher, räumlich gebundener Rechtsordnungen assoziiert. Homogenität wird zum analytischen Kriterium dafür, sinnvollerweise von einem weltweiten Kommunikationszusammenhang, ja überhaupt von einem Patentsystem sprechen zu können: „The international patent system as we know it today consists of a complex structure of national laws and customs, international private agreements and practices, and 9 Siehe zur lex mercatoria aus weltgesellschaftstheoretischer Sicht Lieckweg 2 0 0 3 : 17ff.
intergovernmental conventions and arrangements regarding patents of invention. This network of patent laws can be called a ,system' only in a very loose sense" (Penrose 1951: 1, Herv. i.O.). Gleichförmigkeit wird zum Kriterium für Systemhaftigkeit und Globalität. Mit einem verwandten Argument ist zum Beispiel auch gegenüber der Theorie der Weltgesellschaft (Heintz 1982; Luhmann 1971a, 1997a: 145ff.; Meyer et al. 1997; Stichweh 2000) 1 0 häufig der Vorbehalt geäußert worden, dass angesichts der persistierenden Entwicklungsunterschiede und massiven Ungleichheiten zwischen verschiedenen Regionen der Welt die theoretische Annahme eines singulären Gesellschaftssystems an den tatsächlichen gesellschaftlichen Realitäten vorbeigeht: „The idea that globalisation is creating a single world society is contentious, for it masks the forms of ethnic and cultural fragmentation that are increasingly becoming a feature of global reality" (Smart 1994: 152). 11 Ähnlich wie in der Debatte zur Globalisierung des Rechts wird also auch hier aus der Beobachtung von Ungleichheit und Heterogenität auf die Unmöglichkeit der Existenz eines umfassenden, regionale Disparitäten in sich einschließenden Gesamtsystems geschlossen. Die systemtheoretische Weltgesellschaftstheorie hat auf diese Kritik mit der so nahe liegenden wie überzeugenden Antwort reagiert, dass regionale Differenzen kein Argument gegen Weltgesellschaft sind, da die Perzeption von Differenzen immer schon die Selektion eines übergeordneten Vergleichsmaßstabs voraussetzt, der Unterschiede überhaupt erst als Unterschiede wahrzunehmen und damit aufeinander zu beziehen erlaubt. Ungleichheiten werden damit „kein Argument gegen, sondern für Weltgesellschaft" (Luhmann 1997a: 162). 12 In der neo-institutionalistischen Variante der Weltgesellschaftstheorie wird das Ungleichheitsargument mit einer ähnlichen Argumentationsstrategie entkräftet. Auch dort werden kulturelle Differenzen zwischen verschiedenen Staaten nicht als Beleg gegen, sondern für die Annahme einer „Weltkultur" (Meyer
10 Vgl. als Überblick über Weltgesellschaftstheorien u n d ihre modernisierungstheoretischen Vorläufer in diesem Band Greve/Heintz. 11 Siehe neben a n d e r e n Tudyka 1989 u n d Wagner 1 9 9 6 als Kritik am soziologischen Konzept der Weltgesellschaft. 12 L u h m a n n 1995a: 38, bezeichnet die Kultur des Vergleichs in diesem Sinne als „dreistellige O p e r a t i o n [...], weil nicht n u r das Verglichene unterschieden werden m u ß , sondern auch noch ein Vergleichsgesichtspunkt gewählt werden m u ß , der die Selbigkeit des Verschiedenen, also Ähnlichkeit trotz Differenz g a r a n t i e r t . "
Christian Mersch: Die Welt der Patente 2005) interpretiert. Staaten sind „exogenously constructed entities" (Meyer et al. 1997: 150), deren kulturellen, ökonomischen etc. Unterschiede erst vor dem Hintergrund einer universellen „world culture" zu wahrnehmbaren Differenzen werden: „The world system has moved towards a single stratification system, in which all nations compare their progress on the same scales. Differences among societies are seen more as inequalities and distributional inequities within a single system, rather than as the result of independent evolution of discrete units" (Meyer/Hannan 1979: 301, Herv. C.M.). Um es noch einmal zu betonen: Der Haupterklärungsanspruch der Theorie der Weltgesellschaft besteht darin, zeigen zu können, dass sich jenseits traditionaler Grenzziehungsmuster eine übergeordnete weltgesellschaftliche Systemebene herausgebildet hat, die alle strukturellen Unterschiede erst als interne Differenzierungen vor dem Hintergrund eines singulären Vergleichshorizonts aller Kommunikationen begreifbar und interpretierbar werden lässt: Weltgesellschaft - bzw. in neo-institutionalistischer Lesart: „world culture" - wird als gesellschaftlicher Realzustand vorausgesetzt und dient als konstruktives Orientierungsschema für das vergleichende Beobachten regionaler Partikularismen. 13 Zweitens wird in der Diskussion zum Weltpatent eine auch für weite Teile der Globalisierungsdebatte charakteristische räumliche Konnotation des Globalitätsbegriffs (stillschweigend) mitgeführt, indem die transterritoriale Gültigkeit von Patentrechten zum Kriterium für die Existenz eines globalen Patentsystems gemacht wird. Globalisierung wird häufig als Prozess der (zunehmenden) kommunikativen Verknüpfung über (große) räumliche Distanzen hinweg gedacht und als „intensification of worldwide social relations which link distant localities in such a way that local happenings are shaped by events occuring miles away and vice versa" (Giddens 1990: 64) definiert.14 Diese für die meisten Globalisierungstheorien charakteristische begriffliche Ineinssetzung von Globalität und Räumlichkeit ist der Theorie der Weltgesellschaft fremd. In weltgesellschaftstheoretischer Perspektive werden Funk-
1 3 " B u t a sociological theory that wants to explain these differences, should not introduce them as givens, that is, as independent variables; it should rather start with the assumption o f a world society and then investigate, how and why this society tends to maintain or even increase regional inequalities" (Luhmann 1 9 9 7 b : 7 3 ) . 14 Als kritischen Überblick zur Globalisierungsdebatte vgl. Wimmer 2 0 0 3 .
243 tionssysteme - wie soziale Systeme schlechthin kommunikationstheoretisch grundlegend als sinnhaft geschlossene gesellschaftliche Sphären aufgefasst. Systemgrenzen sind Sinngrenzen, die aufgrund der Universalität von Sinn schon per definitionem nicht (ausschließlich) durch Räumlichkeit symbolisiert werden können. 15 Dieser Universalismus resultiert aus der sachthematischen Spezifikation funktionaler Systeme, die sich operativ an einem, d.h. ausschließlich an diesem einen Problemgesichtspunkt (Funktion) abarbeiten. 16 Im Patentsystem als Subsystem des Rechtssystems geht es nur darum, Patentrechte für Erfindungen zu haben oder nicht, ganz unabhängig von anderen Fragestellungen wie der ökonomischen Profitabilität dieser Erfindungen. Sachspezifik und Universalität sind demnach sich wechselseitig bedingende Sachverhalte. Wenn es gelingt, einen partikularen Modus der Sinnreduktion von anderen Kommunikationsformen dauerhaft abzugrenzen und damit einen kommunikativen Möglichkeitsraum eigener Art auf Dauer zu stellen, wird es dann ,von der Sache her' (zunehmend) begründungspflichtig, Restriktionen hinsichtlich der konkreten Umstände zuzulassen, auf welche Art und Weise es, wann und wo und unter Berücksichtigung von wem es um dieses bestimmte Bezugsproblem gehen könnte. Universalität eines Funktionssystems meint demnach die „selbsterzeugte Erwartung einer räumlichen, zeitlichen, sachthematischen und sozialen Uneingeschränktheit" (Stichweh 2003a: 3). ,Welt' wird in dieser systemtheoretisch fundierten weltgesellschaftstheoretischen Perspektive von einem primär räumlich-physikalisch zu einem phänomenal verstandenen Begriff und bezeichnet den universellen Möglichkeitsund Vergleichshorizont eines Funktionssystems. 17
1 5 „Das Problem, die Grenzen des Systems der Gesellschaft anzugeben - seien es territoriale Grenzen, Grenzen personeller Zugehörigkeit, Grenzen der integrierenden Kultur oder was immer als Kriterium angeboten worden ist - , ist bis heute nicht befriedigend gelöst worden. Es ist deshalb notwendig, sich vor Augen zu führen, daß es sich nur um Sinngrenzen handeln kann, nicht, wie bei Dingen oder Organismen, um physische Grenzen; und Sinngrenzen sind nichts anderes als Selektionshilfen" (Luhmann 1 9 7 1 b : 7). Als ausführlichen Überblick zum systemtheoretischen Sinnbegriff siehe Schützeichel 2 0 0 3 .
Zu funktionsspezifischem Universalismus siehe Parsons 1 9 6 0 , Luhmann 1 9 9 0 a : 3 0 1 f . 1 7 Die Welt als Sinnkorrelat ist hier also nicht mehr die Gesamtheit der Dinge, die „ganze W e l t " (plenitudo entis), sondern „der Gesamthorizont alles sinnhaften Erlebens, mag es sich nach innen oder nach außen richten und in der Zeit voraus oder zurück. Sie ist nicht durch Grenzen 16
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Globalisierung oder Globalität kann dann - zunächst in radikaler Abstraktion von inhaltlichen Konkretionen - als der vor dem Hintergrund dieser Welt Konturen gewinnende soziale Strukturaufbau begriffen werden. Globalität ist insofern kein rezentes, etwa erst mit dem Internet oder GPS zu funktionaler Differenzierung hinzutretendes Phänomen, sondern dem sachspezifischen Universalismus eines jeden Funktionssystems strukturell immanent. 1 8 Ganz grundsätzlich verfügt jedes Funktionssystem über einen, jeweils unterschiedliche soziale Formen, verschiedene Verbreitungsmedien und Verkehrstechniken verarbeitenden strukturellen Drang zum Globalen. 19 Der Raum und seine zunehmende „soziale Kontrolle" (Stichweh 2003b) bleibt ein wichtiges und strukturprägendes, aber eben nur noch ein Moment von Globalität neben anderen zeitlichen, sachlichen und vor allem auch sozialen Aspekten wie der zunehmenden kommunikativen Inklusion personaler und organisationaler Adressen in den Relevanzbereich des Systems. 20 Aus dieser multidimensionalen Bestimmung des Globalen folgt, dass regional-territoriale Differenzierung nicht mehr plausibel als anti-globales Merkmal, sondern als (eine) spezi-
geschlossen, sondern durch den in ihr aktivierbaren Sinn. Die Welt will nicht als Aggregat, sondern als Korrelat der in ihr stattfindenden O p e r a t i o n e n verstanden sein" (Luhm a n n 1997a: 153). Z u Welt in begriffsgeschichtlicher Perspektive siehe Braun 1992; vgl. auch T h o m a s 1992 z u m Weltbegriff der Systemtheorie. 18 Bei der Umstellung des gesellschaftlichen Differenzierungsprimats auf funktionale Differenzierung und der Emergenz von Weltgesellschaft handelt es sich in weltgesellschaftstheoretischer Perspektive daher u m denselben Prozess: „The inclusion of all communicative behavior into one societal system is the unavoidable consequence of functional differentiation. Using this f o r m of differentiation, society becomes a global system. For structural reasons, there is n o other choice" (Luhmann 1990b: 178). Vgl. hierzu auch Stichweh 2 0 0 4 . N a c h diesen Prämissen k a n n eine Theorie der m o d e r n e n Gesellschaft heute nur noch als Theorie der Weltgesellschaft geschrieben w e r d e n . 19 W ä h r e n d zum Beispiel Erziehung in seiner strukturellen Angewiesenheit auf räumliche Ko-Präsenz im Interaktionssystem Schulklasse d u r c h die Erfindung der Télégraphié k a u m direkt b e r ü h r t w u r d e , zeitigte der Fernschreiber in der Wirtschaft unmittelbare Globalisierungseffekte; vgl. zur Bedeutung des Börsentickers für Inklusionsprozesse auf Finanzmärkten Stäheli 2 0 0 4 . 20 Siehe Werron 2 0 0 5 für den a m Beispiel des Weltsports entwickelten Vorschlag, den Begriff der Globalisierung auf alle Sinndimensionen zu beziehen. K o m m u n i k a t i o n s theoretisch muss dies grundsätzlich überzeugen. Wenn es ein funktionssystemspezifisches H i n d r ä n g e n zur Globalität gibt, d a n n muss sich dieser Prozess auch in allen Dimensionen von Sinn a u s m a c h e n lassen.
fische Form der Konditionierung der Globalität eines Funktionssystems analysiert werden muss. Die Möglichkeit und Emergenz von Weltrecht hängt demnach in diesem weltgesellschaftstheoretischen Verständnis weder von der transterritorialen räumlichen Geltung von Rechtsnormen noch von der materiellen Homogenität verschiedener Rechtsordnungen ab; von Weltrecht lässt sich vielmehr schon dann sprechen, wenn alle Rechtskommunikationen, unabhängig von ihrem Geltungsbereich, sich auf eine Welt als Gesamtheit der aus der spezifisch rechtlichen Modalisierung von Sinn erwachsenden Möglichkeiten beziehen. Insofern müsste also auch für das Patentsystem als Subsystem des Rechtssystems gelten, was Niklas Luhmann dem „Recht der Gesellschaft" attestiert hat, nämlich sich als Weltsystem ausdifferenziert zu haben, „in dem man in allen Regionen Rechtsfragen von anderen Fragen unterscheiden kann, in dem Übersetzungsregeln von einer Rechtsordnung in andere existieren, vor allem in der Form des internationalen Privatrechts, und man normalerweise beim Betreten eines Gebietes, in dem man nicht zu Hause ist, nicht damit rechnen muß, als rechtloser Fremder behandelt zu werden" (Luhmann 1993: 573). Der vorliegende Aufsatz lässt sich in diesem Sinne von der Behauptung führen, dass sich Patentrecht als spezifischer Fall von Weltrecht beschreiben lässt, und versucht, diese These im Rahmen einer systemtheoretischen Analyse des Patents zu plausibilisieren. Ein erster Teil widmet sich der Sachspezifik des Patents und arbeitet einen soziologischen Begriff des Patents aus (2.). Im Anschluss daran wird untersucht, wie sich die spezifische Universalität des Weltbezugs, die aus der funktionalen Spezialisierung des Patents resultiert, fassen lässt (3.). In diesem Abschnitt werden die patentrechtlichen Begriffe der Neuheit und des Stands der Technik als konstitutiv für die Universalität des Systems entfaltet. In einem letzten Schritt möchte der Beitrag anhand der Diskussion transnationaler patentrechtlicher Harmonisierungsprozesse Licht auf das für das Weltpatentsystem charakteristische Spannungsverhältnis von Universalität und Globalität werfen (4.). Der Beitrag endet mit einem Resümee, das mögliche Denkanschlüsse und Forschungsperspektiven für eine vertiefende soziologische Analyse des Patentsystems sichtbar macht (5.).
Christian Mersch: Die Welt der Patente
2. Zur Sachspezifik des Patentsystems 2.1 Patentbegriff, Individualrecht, Funktion Bei allen Unterschieden zwischen verschiedenen Fassungen von Patentrecht, der materiellrechtliche Kern der Definition des Patents ist in den meisten Patentgesetzen nahezu identisch. Im folgenden sei der Begriff des Patents am Beispiel des deutschen Patentgesetzes entfaltet. Dort heißt es im ersten Artikel (§ 1 Abs. 1 PatG) zu „patentfähigen Erfindungen": „Patente werden erteilt für Erfindungen, die neu sind, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sind." 2 1 Bei einem Patent handelt es sich um ein Individualrecht, das auf Beantragung durch einen Privatanmelder oder ein Unternehmen bei Erfüllung spezifischer rechtlicher Prüfkriterien („materieller Schutzvoraussetzungen") für einen begrenzten Zeitraum von zwanzig Jahren gewährt wird. Unter einem Patent ist also die „nach Maßgabe des Patentgesetzes erteilte Rechtsstellung zu verstehen" (Weiss 1973: 3). Unter einer Erfindung verstehen Patentrechtskommentare üblicherweise eine „Lehre zum technischen Handeln", „um beherrschbare Naturkräfte zur Erzielung eines kausal übersehbaren Erfolges einzusetzen, ohne menschliche Verstandestätigkeit dazwischenzuschalten, wobei der kausal übersehbare Erfolg die unmittelbare Folge des Einsatzes beherrschbarer Naturkräfte i s t . " 2 2 Von entscheidender, den Erfindungsbegriff von anderen Wissensformen abgrenzender Bedeutung ist demnach das Erfordernis der Technizität. Damit Wissen patentrechtlich überhaupt als Erfindung beobachtet und grundsätzlich patentfähig werden kann, muss es sich um technisches Wissen handeln, also um Wissen, das zur Lösung eines konkreten technischen Konstruktions- oder Anwendungsproblems benutzt wird. 2 3 Vor dem Patentgesetz geht es darum, zeigen zu können, was durch eine Erfindung technisch gelernt wurde bzw. verändert werden kann, und nicht darum, welche theoretische Einsicht hinter diesem Lernerfolg steckt. Eine Erfindung kann im Sinne des Patentgesetzes demnach nicht die Entdeckung eines Naturgesetzes, also eines auch unabhängig von einem technischen Schöpfungsakt existierenden' natürlichen Sachverhalts
Vgl. hierzu und zum Folgenden www.patentgesetz.de. Siehe www.patentgesetz.de/kommentar/erfindung.htm. 2 3 Für einen systemtheoretischen Technikbegriff vgl. Japp 1998. 21
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245 sein (Straus 1 9 8 7 ) . 2 4 Patentrechtlich gesehen ist es primär nicht relevant, auf welchen (möglicherweise falschen) theoretischen Prämissen das zum Schutz beantragte technische Wissen aufruhen könnte. Es handelt sich dementsprechend bei Erfindungen nicht um genuin wissenschaftliches Wissen. 2 S Der erste Paragraph des Patentgesetzes formuliert eine rechtliche Konditionalnorm: Wenn die materiellen Schutzvoraussetzungen erteilt werden, d. h. wenn die Erfindung patentfähig ist, dann muss diesbezügliches subjektives Recht entstehen, (zunächst und prinzipiell) ungeachtet der wirtschaftlichen, technischen, ethisch-moralischen etc. Folgen, die aus der Entstehung des Patentrechts resultieren könnten. Wir begreifen demzufolge in Anlehnung an die Konzeptualisierung des zweiwertigen Schemas von Recht und Unrecht als binärem Operationscode des Rechtssystems (Luhmann 1986) die Unterscheidung von patentfähig/nicht patentfähig als Leitdifferenz des Patentsystems. Immer wenn Kommunikationen mit dieser „distinction directrice" (Luhmann 1987) geformt werden, wird das Patentsystem als Einheit aller Patentkommunikationen reproduziert. Dieses operative Prinzip gilt universell, also zum Beispiel unabhängig davon, ob diese Beobachtungen im deutschen Patentamt, im Forschungslabor bei Toyota, in einem National Institute of Health oder anderswo gemacht werden. Patentkommunikationen erhalten ihren spezifischen Sinn im Hinblick auf die Möglichkeit, dass die Frage der Patentierbarkeit rechtlich verbindlich entschieden und das Resultat ggf. durch eine Patentklage angefochten werden kann. Der Entscheidungsfindungsprozess ist institutionalisiert in Form eines behördlichen Patentierungsverfahrens, das überprüft, ob der Anspruch des Patentanmelders zu patentrechtlicher Geltung gebracht werden kann oder nicht. Unter Patentierungsentscheidungen werden diejenigen Kommunikationen verstanden, die unter dem rechtlichen Erwartungsdruck einer endgültigen Festlegung auf einen der beiden Codewerte, also unter Entscheidungszwang operieren. Diese Entscheidungen werden von Patentämtern angefertigt und im Falle einer berechtigten Klage von gerichtlichen Entscheidungen (in der Regel des Patentgerichts) zu abschließender Geltung oder Nichtgeltung gebracht. Konstruktivistische Kontroversen darüber, ob auch wissenschaftliche „Entdeckungen" immer eine spezifische, theoretisch-methodische „Erfindung" darstellen, sind hier nicht unser Thema. Siehe hierzu nur von Foerster 1 9 8 5 . 2 5 Hierzu auch Mes 1997: 5: „Gegenstand eines Patents ist eine konkrete Lehre zum technischen Handeln, nicht die dazu gegebene theoretische Begründung. Ein Irrtum des Erfinders über die Wirkungsursachen ist unschädlich." 24
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Im Gegensatz zu den im frühneuzeitlichen Europa verbreiteten Patentprivilegien 2 6 handelt es sich bei modernen Erfindungspatenten nicht um wirtschaftliche Benutzungsrechte, da eine wirtschaftliche Nutzung einer nicht rechtlich geschützten Erfindung grundsätzlich überhaupt keiner gesonderten rechtlichen Erlaubnis bedarf. D a s Patent versetzt seinen Inhaber gegenüber Dritten (in strategischer Hinsicht: gegenüber der wirtschaftlichen Konkurrenz) vielmehr aufgrund seines Ausschlusscharakters in eine exklusive rechtliche Stellung. Das Patent ist eine wirtschaftliche Ausschlussnorm.27 Es wirkt diskriminierend, indem es den wirtschaftlichen R a u m in einen Berechtigten, nämlich den Patentinhaber, und Unberechtigte unterteilt. Die Erteilung von zwei Patenten für dieselbe Erfindung an verschiedene Personen k ä m e einem Rechtsirrtum gleich: „ D o p p e l p a t e n t i e r u n g e n " sind rechtlich ausgeschlossen. Die Funktion des Patentsystems kann damit in Spezifikation der allgemeinen Funktion des R e c h t s als kontrafaktische Stabilisierung der Erwartung, exklusive wirtschaftliche Auswertungsrechte für technisches Wissen zu besitzen, begriffen werden: „Gegenstand des Anspruchs und des Eigentums des Patentnehmers [ist] lediglich das erwartete Verhalten anderer Leute infolge der erwarteten Beschränkung des Wettbewerbs und der Kontrolle über das A n g e b o t " ( C o m m o n s 1 9 2 4 : 2 7 9 ) . W i r ziehen damit einen vorrangig an der Konditionalität der Patentnorm orientierten Funktionsbegriff einer primär zweckorientierten funktionalen Bestimmung vor. D a m i t soll selbstverständlich nicht gesagt werden, dass das Patentrecht frei von Zwecküberlegungen entstanden sei. Das Gegenteil ist der Fall. Die Etablierung von Patentrechten wird seit den Ursprüngen des Systems mit dem Wettbewerbs- und forschungsfördernden Effekt, der von der Inaussichtstellung eines temporären Wirtschaftsmonopols ausgehen soll, begründet. 2 8 Die Wirkung des Patents
Als ausführlichen geschichtlichen Überblick vgl. Silberstein 1961. 2 7 Siehe § 9 PatG zur „Wirkung des Patents": „Das Patent hat die Wirkung, daß allein der Patentinhaber befugt ist, die patentierte Erfindung zu benutzen. Jedem Dritten ist es verboten, ohne seine Zustimmung 1. ein Erzeugnis, das Gegenstand des Patents ist, herzustellen, anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken entweder einzuführen oder zu besitzen". 28 In der US-amerikanischen Verfassung (Article 1, Section 8, Clause 8) liest man seit 1787: „...to promote the Progress of Science and useful Arts, by securing for limited Times to Authors and Inventors the exclusive Right to their respective Writings and Discoveries . . . " (zitiert nach Kurz 2000: 273; Herv. C.M.). 26
lässt sich daher diesen Einschätzungen zufolge nicht nur auf die Ermöglichung lernaversiver Erwartungsstrukturen reduzieren, sondert dient auch als effektiver Mechanismus der Steuerung und faktischen Erzeugung spezifischen wirtschaftlichen Verhaltens. 2 9 Hierbei handelt es sich allerdings - zumindest nach systemtheoretischen Begriffen von R e c h t - um eine rechtliche Leistung (Luhmann 1 9 9 3 : 156ff.), die im Gegensatz zur ausschließlich durch das R e c h t betreuten Funktion der Erwartungsstabilisierung auch durch rechtsexterne funktional äquivalente Anreizstrukturen wie Geheimhaltung oder first-to-marketStrategien erbracht werden kann (Nelson 1 9 9 0 , Harabi 1 9 9 5 ) .
2.2 Öffentlichkeit, Inklusion, Reflexion Eine formale Vorbedingung für die Aufnahme eines Patentprüfungsverfahrens ist die Mitteilung ( „ O f f e n b a r u n g " ) der Erfindung gegenüber dem Patenta m t . Die Patentanmeldung muss eine detaillierte D o k u m e n t a t i o n des zum Schutz b e a n t r a g t e n W i s sens e n t h a l t e n , die bei Erteilung des Patents zus a m m e n m i t den rechtlichen P a t e n t a n s p r ü c h e n in F o r m der Patentschrift v o m P a t e n t a m t veröffentlicht wird (vgl. ausführlich W a l k e r 1 9 9 5 : 1 3 5 f f . ) . Die Veröffentlichungspraxis lässt sich in E n g l a n d bis in das 1 8 . J a h r h u n d e r t zurückverfolgen. Die P u b l i k a t i o n der Erfindung in der „ L o n d o n G a z e t t e " hatte d a m a l s allerdings im G e g e n s a t z zu heute n o c h nicht dem Z w e c k der öffentlichen Wissensdiffusion gedient, sondern stellte p r i m ä r eine Werb e m ö g l i c h k e i t für den P a t e n t i n h a b e r dar (Kurz
2000: 200).
Im historischen R ü c k b l i c k lässt sich konstatieren, dass in der im 1 8 . Jahrhundert zuerst in England anlaufenden strukturellen K o m b i n a t i o n von normativ gewährtem Schutz für Erfindungen und öffentlicher Dokumentierung und Diffusion der kognitiven Anstrengungen des Erfinders das autokatalytische M o m e n t der Ausdifferenzierung des Systems gesehen werden m u s s . 3 0 Erst mit Hilfe einer
Allgemein zur Unterscheidung zwischen Erwartungssicherung und Verhaltenssteuerung siehe Luhmann 1981. Die Behauptung einer positiven Korrelation zwischen Patentschutz und Erfindungs- und Innovationstätigkeit ist im Übrigen (bis heute) umstritten geblieben und lässt sich wahrscheinlich nicht pauschal, sondern nur branchenspezifisch bestätigen oder widerlegen. Als Blick über die Bandbreite diesbezüglicher Lehrmeinungen vgl. Machlup 1962 und Mazzoleni/Nelson 1998. , 0 Roger Hahn (1971: 67) sieht hierin mit Blick auf die Entstehung des ersten französischen Patentgesetzes im Zu29
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Christian Mersch: Die Welt der Patente ständigen schriftlichen D o k u m e n t i e r u n g und Archivierung des Systemgeschehens und der Ausbildung eines eigenen schriftlichen (buchdruckgestützten) Gedächtnisses kann sich eine eigene Realität des Vergleichens von Patentschriften und Patentansprüchen ausdifferenzieren und endgültig von äußeren, sachfremden Kriterien wie etwa hierarchischen Schichteinflüssen a b s e t z e n . 3 1 M i t der Umstellung auf Schriftlichkeit und Öffentlichkeit beginnt das System, sich im M o d u s von Beobachtungen zweiter O r d n u n g zu organisieren, die über einzelne funktional spezifizierte Situationen und Interaktionsepisoden hinweg textförmig verknüpft werden. In Analogie zum Wissenschaftssystem, das als laufender Z i t a t i o n s z u s a m m e n h a n g von P u b l i k a t i o n e n mit wissenschaftlichen W a h r h e i t s a n s p r ü c h e n begriffen werden k a n n , lässt sich auch das Patentsystem als ein sich p e r m a n e n t fortschreibender Verweisungsz u s a m m e n h a n g von veröffentlichten Patentschriften beschreiben. Z w a r kann das Patentsystem e b e n s o wenig wie das Wissenschaftssystem als ausschließlich schriftlich und öffentlich operierendes System begriffen w e r d e n , denn auch ein G e spräch über die Patentfähigkeit einer Erfindung ist P a t e n t k o m m u n i k a t i o n . R e c h t l i c h verbindliche R e levanz und dauerhaften systemischen Erinnerungsw e r t gewinnen j e d o c h nur öffentlich verfügbare und eindeutig zurechenbare I n f o r m a t i o n e n . J e d e K o m m u n i k a t i o n , sei es in m ü n d l i c h e r Verhandlung vor dem Patentgericht oder im G e s p r ä c h zwischen Patentprüfer und -anmelder, wird erst dann zu P a t e n t k o m m u n i k a t i o n , wenn sie auf Patentschriften und andere schriftliche D o k u m e n t e wie P a t e n t a n m e l d u n g e n oder N i c h t i g k e i t s k l a g e n Bezug n i m m t . M i t der Umstellung auf Schriftlichkeit und Öffentlichkeit entwickelt sich ein struktureller Bedarf für
ge der französischen Revolution die „embryonic idea of the modern patent system, by which a limited monopoly is granted in exchange for placing the invention in the public domain." 3 1 Begründet wurde die Notwendigkeit der Einrichtung eines öffentlichen Archivs für Patentschriften in Frankreich mit der Statusdifferenz zwischen einem „Old Regime bureaucrat [...] anxious to demonstrate his superiority" und dem „simple inventive genius [...] unable to express himself clearly", die viele Erfinder derart einschüchtern würde, dass sie ihre Erfindungen nicht persönlich anmelden würden. Diese entmutigend wirkende Ungleichheit und der damit verbundene Verlust vieler Erfindungen („loss of countless inventions") könne nur durch die Einrichtung eines „impersonal registry of inventions open equally to all claimants" institutionell verhindert werden. Vgl. hierzu Hahn 1 9 7 1 : 1 8 8 .
organisatorische und professionelle Spezialisierung. Es entstehen die ersten Patentämter als ausschließlich zum Z w e c k der Annahme, Prüfung und Archivierung von Patentanmeldungen und -Schriften gegründete B e h ö r d e n . 3 2 Darüber hinaus kristallisieren sich autonome Berufsbilder und Professionen (Leistungsrollen) wie der Patentprüfer und der Patentanwalt aus, die sich auf das Beobachten und Prüfen der R e c h t m ä ß i g k e i t von Patentansprüchen spezialisieren. Das Ineinandergreifen von Öffentlichkeit, Professionalisierung und organisationaler Spezifikation erzeugt einen zusätzlichen Inklusionsschub. K o m plementär zu den Leistungsrollen und ihren O r g a nisationen differenzieren sich abstrakte Publikumsrollen mit einem professionellen Interesse a m systematischen Rezipieren und Vergleichen von Patentschriften und dem Patentieren und Lizenzieren eigener Erfindungen a u s . 3 3 Es entsteht die Figur des Berufserfinders, der ein Interesse an technischen Neuheiten und deren wirtschaftlicher Verwertung kombiniert und zu diesem Z w e c k permanent Patente für seine Erfindungen beantragt. Besondere Prominenz haben Erfinder wie T h o m a s A. Edison, Alexander G . Bell oder Werner von Siemens erlangt, die eigene Unternehmen zur wirtschaftlichen Auswertung ihrer Erfindungen und Patentrechte gründeten. Die von Edison gegründete Edison General Electric Company, die Vorläufergesellschaft von General Electric, dem heute größten Elektronikkonzern der Welt, w a r eines der ersten Unternehmen, die für das Führen von Patentprozessen und das Überwachen eigener Patente eine eigene Patentabteilung einrichtete (Josephson 1 9 5 9 : 3 5 4 f f . ) . Spätestens von der zweiten Hälfte des 2 0 . Jahrhunderts an wird die systemische Inklusionsdynamik von multinationalen Unternehmen geprägt, die in F o r m von Patentportfoliomanagement interne Expertise für die systematische Beantragung, Überwachung und Geltendmachung eigener Patente und die B e o b achtung konkurrierender Patentierungsstrategien („patent m o n i t o r i n g " ) ausbilden. Das System reflektiert auf die in der K o m b i n a t i o n von privatem R e c h t und öffentlichem Wissen begründete systemische Einheit mit der semantischen Formel des Vertrags. Die von der Idee des c o n t r a t social entlehnte Vertragstheorie beschreibt das Patent als Tausch von R e c h t e n der Kontrolle über die Erfindung zwischen dem Patentanmelder und der
Zur Geschichte des deutschen Patentamts siehe Hallmann/Ströbele 1 9 7 7 . 13 Zur Inklusion in Funktionssysteme und zur Unterscheidung von Leistungs- und Publikumsrollen siehe grundlegend Stichweh 1 9 8 8 , Lehmann 2 0 0 2 : 147ff. 32
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Öffentlichkeit (Beier 1970: 4). Das Unternehmen offenbart proprietäres, möglicherweise sehr kostenintensiv entwickeltes und marktsensibles Wissen gegenüber der Umwelt (aus Sicht des Gesetzgebers: der „Öffentlichkeit", aus der Perspektive des Unternehmers: den Kompetitoren) und erhält bei Erfüllung aller materiellrechtlichen Kriterien als Gegenleistung das Patent. Mit anderen Worten: der Patentanmelder tauscht kognitive gegen normative Kontrolle seines Wissens, beliebige Dritte (die „Allgemeinheit") gewinnen im Umkehrschluss kognitive Verfügungsgewalt und verlieren vorübergehend das Recht auf die wirtschaftliche Verwertung dieses Wissens. Die Vertragstheorie ist eng verwandt mit der sogenannten „Anspornungstheorie" (incentive theory of patents), die angesichts des Marktversagens beim Handel mit Wissen und Informationen (Arrows) in der Inaussichtstellung eines Wirtschaftsmonopols den effizientesten rechtlichen Anreiz (Ansporn) für die Produktion und Diffusion technologischen Wissens sieht. Ohne diese Leistung des Patentsystems - so die Einschätzung vieler Volkswirtschaftler - verfügte ein privater Unternehmer nicht über genügend Anreize für umfangreiche F&E-Investitionen und die Offenbarung seines Wissens, da seine Produkte nach dem Markteintritt direkt von Konkurrenten imitiert und aufgrund der eingesparten Entwicklungskosten zu einem weitaus attraktiveren Preis angeboten werden könnten. 3 4
2.3 Absolute Neuheit und der Stand der Technik Das Patentsystem teilt mit den meisten Funktionssystemen eine Präferenz für Neuheit. So wie für altes Wissen in der Wissenschaft kaum Reputation erworben werden kann, dominiert auch im Patentsystem das „kognitiv-temporale Interesse am Neuen" (Luhmann 1990a: 217). 3 5 Für altes Wissen sind keine Patente zu haben. Schon das erste „Patentgesetz", das gegen Ende des 15. Jahrhunderts vom venezianischen Senat erlassen wurde, sah die Erteilung Zur Illustration der Anspornungsidee vgl. Scherer 1 9 5 8 : 4 4 : „The basic theory of the patent grant is simply this: the patent system must promise the prospective inventor or innovator that, if his venture is successful, he will be able to appropriate for himself enough of the increased social benefit to compensate him fully for the costs and risks to be borne. In other words, the lure of a potential but uncertain reward must be sufficient to make the decisionsmaker witting to invest his time and money." 34
Dies gilt natürlich vor allem für die Massenmedien. Dort ist der „neurotische Z w a n g " zum Neuen (Luhmann 1 9 9 6 : 4 4 ) besonders ausgeprägt.
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zehnjähriger Patentprivilegien für das gewerbliche Inverkehrbringen neuer Erfindungen vor (Berkenfeld 1949). Die politische Förderung technischer Innovationen musste indes im späten Mittelalter und der frühen Neuheit zunächst gegen die seit Jahrhunderten etablierte, von den Handwerkskorporationen dominierte wirtschaftliche Ordnung durchgesetzt werden. Insbesondere die Zünfte bemühten sich, in Frankreich noch bis in das 18. Jahrhundert, um die Abwehr von technischen Neuheiten, die im Nachhinein lässt sich sagen: zu Recht - als Gefahr für die zünftische wirtschaftliche Ordnung wahrgenommen und gebrandmarkt wurden. 36 Diese Aversion gegenüber technischen Neuheiten ist indes spätestens mit der Verabschiedung der ersten Patentgesetze endgültig abgeschüttelt worden. Bei allen fortdauernden patentrechtlichen Unterschieden, das materielle Schutzrechtskriterium Neuheit wird heute ausnahmslos von allen Patentgesetzen geteilt (vgl. überblickend Loth 1988). Die patentrechtliche Forderung nach neuen Erfindungen legt die zunächst kontraintuive Interpretation nahe, dass es auch alte Erfindungen geben kann. 3 7 Patentrechtlich ist diese „Tautologie" (Mintz 1903: 372) dahingehend zu verstehen, dass eine Erfindung für den Erfinder subjektiv neu sein kann, objektiv allerdings als alt zu kennzeichnen ist, wenn sie zum Zeitpunkt der Patentanmeldung bereits in Form anderer Patentschriften oder sonstiger Publikationen öffentlich bekannt sein konnte und somit ein anderer für sie Priorität beanspruchen kann: „Eine Erfindung gilt als neu, wenn sie nicht zum Stand der Technik gehört" (§3 Abs. 1 PatG). In Analogie zu Wissenschaft fungiert also auch im Patentsystem öffentliche Priorität als Bedingung von Neuheit: „Als neu zählt, was erstmals publiziert ist - gleichgültig ob jemand und wer es vorher schon gewußt hat" (Luhmann 1990a: 296). 3 8 In der viel zitierten „Thorner Zunfturkunde" von 1 5 2 3 liest man: „Kein Handwerksmann soll etwas Neues erdenken oder erfinden oder gebrauchen, sondern jeder soll aus bürgerlicher und brüderlicher Liebe seinem Nächsten folgen und sein Handwerk ohne des nächsten Schaden treiben." Im Rückblick lassen sich diese Abwehrsemantiken als involutionäre Reaktionen auf einen tief greifenden Wandel zu einer gesamtgesellschaftlichen Um- und Positivwertung von Neuem beschreiben, der spätestens seit der Erfindung des Buchdrucks in Europa nicht mehr aufzuhalten war; vgl. hierzu auch Luhmann 1995b, 1 9 9 7 : lOOOff. Zum „Ende der Zünfte" in Europa siehe Haupt 2002. 36
Zum Topos „neuer Erfindungen" siehe in technikgeschichtlicher Perspektive auch Popplow 1 9 9 8 : 177ff. 3 8 Diese Prioritätsregelung wird first-to-file-Prinzip ge37
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Christian Mersch: Die Welt der Patente Die Schutzvoraussetzung „erfinderische Tätigkeit" stellt eine mittlerweile von den meisten Patentgesetzen berücksichtigte Verschärfung des Neuheitsanspruchs dar. Auch dieses Kriterium klingt zunächst redundant: um patentfähig zu sein, muss eine Erfindung erfinderisch sein. Mit einem anderen, juristisch häufig gebrauchten Begriff: sie muss „Erfindungshöhe" aufweisen (Beier 1985). Das Patentgesetz formuliert hier, dass dann von einer erfinderischen Tätigkeit auszugehen ist, wenn sich die Erfindung „für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt" ( § 4 PatG). Mit dieser etwas umständlichen Wendung ist gemeint, dass eine patentfähige Erfindung nicht lediglich „literarisch neu" sein bzw. aus einer unmittelbar nachvollziehbaren Kombination früherer Erfindungen bestehen darf, sondern auf kreative und überraschende Art und Weise vom bekannten technischen Wissen, dem „Stand der Technik" abheben muss. Sie muss auf eine originelle individuelle Leistung, einen „flash of creative genius" (USamerikanisches Patentgesetz) zurechenbar sein. 39 Die Schutzkriterien Neuheit und erfinderische Tätigkeit haben gemeinsam, dass sie von der Erfindung eine (hinreichende) Differenz im Vergleich zum „Stand der Technik" (state of the art) verlangen. Dieser Begriff bezieht sich auf alles jemals öffentlich zugänglich gemachte technische Wissen: „Der Begriff ,Stand der Technik' ist allumfassend, Beschränkungen in gegenständlicher, räumlicher oder zeitlicher Hinsicht bestehen nicht" (Held/Loth 1995: 220). In den State of the art fließen alle Veröffentlichungen, insbesondere andere Patentschriften und wissenschaftliche Artikel ein, die vor dem Zeitpunkt der Anmeldung, dem „Prioritätstag", Dritten zugänglich gewesen sein konnten. Es ist danannt. Die Vereinigten Staaten verfügen dagegen über das first-to-invent-Prinzip, das grundsätzlich dem Ersterfinder die Priorität einräumt. Diese Prioritätsregelung führt manchmal zu komplizierten Prioritätsstreitigkeiten zwischen Anmelder und Erfinder (interference-Verfahren); dazu etwa Nicolai 1973. 3 9 An dieser patentrechtlichen Erwartung von Neuem und Überraschendem wird zugleich eine zunächst vielleicht überraschende strukturelle Verwandtschaft zwischen dem Patent- und einem weiteren Funktionssystem, nämlich der Kunst deutlich. Ähnlich wie Erfindungen müssen auch Kunstwerke nicht nur neu, sondern auch auf eine originelle individuelle Leistung zurechenbar sein, um sich in der Kunstkommunikation durchsetzen zu können: „Es liegt im Sinn des Neuen und Überraschenden, daß es nicht als Regelanwendung definiert werden kann. Die Kriterien müssen also entsprechend unbestimmt bleiben. Der Verweis auf die Sozialdimension ersetzt die fehlende Spezifikation in der Sachdimension" (Luhmann 1989: 203).
bei unerheblich, ob jemand effektiv Kenntnis von der Veröffentlichung genommen hat und in welcher Sprache eine Veröffentlichung abgefasst wurde; patentrechtlich entscheidend ist lediglich die abstrakte Möglichkeit der Kenntnisnahme: „Der einzige Umstand, daß die Beschreibungen und Zeichnungen des fremden Patents in dem Archiv oder einem öffentlichen Ort, wo sie zu jeder Zeit eingesehen werden konnten, dem Publikum zugänglich waren, genügt zum Begriff der Veröffentlichung." 40 Neuheits- und damit patentschädlich kann also jede technische Information werden, die der Öffentlichkeit vor der Patentanmeldung zugänglich sein konnte, unabhängig davon von wem, wann und wo sie veröffentlicht worden war. Die patentrechtliche Neuheitsnorm gilt universell, bei Neuheit handelt es sich um einen absoluten Begriff.
3 . Universalität Die Prämisse absoluter Neuheit läuft bei allen Operationen des Systems mit. Jede patentrechtliche Beobachtung von Erfindungen reiht sich damit in einen allumfassenden Vergleichshorizont von Patentschriften (und weiteren Dokumentationsformen technischen Wissens) ein. Die Welt der Patente kann demnach als der universelle, von allen Beobachtern geteilte Möglichkeitsraum begriffen werden, der sich mit jeder an Patentfähigkeit orientierten Beobachtung des weltweiten Stands der Technik eröffnet. Dieser Vergleichshorizont ist unausschöpfbar, jede neue Patentschrift (Erfindung) verweist zum Zweck der Abgrenzung vom Stand der Technik auf frühere Patente (altes Wissen) und konditioniert gleichzeitig den bisher geltenden Weltzugriff aller Beobachter neu, indem mit ihrer Veröffentlichung der für die Neuheits- und damit Patentfähigkeitsbeurteilung maßgebliche State of the art variiert wird. Es ist damit weder eine neue Patentierung möglich, die sich nicht vor dem Hintergrund dieses für alle anderen Patentkommunikationen gleichermaßen relevanten, singulären Möglichkeitshorizonts bewähren müsste, noch kann es im Umkehrschluss irgend eine patentierte oder anderweitig publizierte Erfindung geben, der man ihre informationelle Relevanz, d. h. ihre möglicherweise neuheitsschädliche Bedeutung für die Beobachtung neuer Patentansprüche absprechen könnte. In systemtheoretischen Termini: In jeder Kommunikation des Systems wird diese Welt als operative Einheit
So schon ein französisches Grundsatzurteil von 1865; vgl. hierzu Pouillet 1896: 6.
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der Unterscheidung von normativer Schließung (Selbstreferenz) und kognitiver Ö f f n u n g (Fremdreferenz) neu aufgespannt. Als Einheit von System und Umwelt begleitet sie jede Systemoperation als unentrinnbare Hintergrundsunbestimmtheit (unmarked space). Wie jeder Horizont lässt sich auch die Welt der Patente nicht endgültig markieren, erschöpfend bezeichnen, da jedes Patent in seiner aktuellen Selektivität ein Auch-Anders-Möglich-Sein appräsentiert und damit auf ein infinites „und-soweiter" (Stichweh 2000b: 239f.) zukünftiger Patentierungsmöglichkeiten (Possibilität) verweist. Die universalistische Selbstauffassung des Patentsystems als eines singulären Systems ist selbst nicht invariabel, historisch immer schon gegeben, sondern ein voraussetzungsvolles Produkt soziokultureller Evolution. Dies gilt schon für den allgemeinsten denkbaren Fall, die Welt der modernen Gesellschaft. Die Auffassung von Welt als einem singulären H o r i z o n t kommunikativer Erreichbarkeit ließe sich ohne die Entstehung neuer Verkehrstechniken, Verbreitungsmedien und internationalen Konventionen (Schifffahrt, Druck, Télégraphié, Vollkartographierung und Zeitzoneneinteilung des Globus etc.) k a u m vorstellen (Luhmann 1997a: 148ff.). Erst diese infrastrukturellen Innovationen ließen (und lassen) eine unbegrenzte Verknüpfung von K o m m u n i k a t i o n e n und deren Fernsynchronisation tatsächlich möglich werden, so dass in der Folge jede Kommunikation nur noch als kontingente Auswahl aus diesem universellen Möglichkeitsraum beobachtet werden kann. In Analogie zur Emergenz von Welt als Horizont weltgesellschaftlicher Kommunikation hat sich auch die Projektion eines umfassenden Vergleichshorizonts von technischen Informationen erst unter der Voraussetzung spezifischer, insbesondere kommunikationstechnischer Rahmenbedingungen durchsetzen können. Der Patentprivilegienpolitik der frühen Neuzeit waren universelle Neuheitskriterien noch völlig fremd; das Verständnis von Neuheit w a r territorial „eng lokalisiert" (Wehr 1936: 36). Patente wurden häufig als gewerbepolitisch motivierte Belohnung im Ausgleich für den (riskanten) Import ausländischer Techniken in den Hoheitsbereich des politischen Souveräns erteilt: „Patents were grants of royal m o n o p o l y Privileges to individuals w h o promised to establish a hitherto foreign or unk n o w n trade within the realm" (Mossoff 2001: 1320). O b eine (importierte) Erfindung im Ausland schon bekannt war, hatte d e m n a c h keine Bedeutung; die Beurteilung der Patentfähigkeit wurde auf die Frage reduziert, o b eine Erfindung vorher im Inland schon gewerblich in Gebrauch gewesen w a r
(Silberstein 1961: 100). Auch die ersten Patentgesetze verwandten zunächst noch diese territoriale Definition des Neuheitskriteriums, sie wurde in vielen Staaten noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts aufrechterhalten. So lehnte beispielsweise die mit Patentprüfungen beauftragte Technische Deputation in Preußen noch Mitte des 19. Jahrhunderts einen regelmäßigen Austausch von Patentschriften mit dem amerikanischen Patentamt strikt ab (Heggen 1975: 52f.). Das in unserem Kontext Interessante sind hieran allerdings weniger die Gründe wie zeitliche Überlastung oder die vor allem in Preußen beobachtbare zunehmende Skepsis gegenüber Patenten überhaupt (Heggen 1975: 69ff), 4 1 sondern der Akt der Ablehnung selbst. Aus diesem konnte geschlossen werden, dass eine Umstellung auf eine international abgestimmte Neuheitsprüfung in kommunikationstechnischer Hinsicht schon möglich und vorstellbar geworden war, sich also phänomenal schon als ,nahe liegend' aufgedrängt hatte. Das wenige Jahrzehnte später verabschiedete Reichspatentgesetz definierte Neuheit dagegen schon nicht mehr ausschließlich über inländische Vorbenutzung, sondern darüber hinaus über „Beschreibung in öffentlichen Druckschriften" (Kohler 1878: 37) und verfügte damit bereits über einen (nahezu) absoluten Neuheitsbegriff. 4 2 Es liegt nahe zu vermuten, dass die bis zum Beginn des letzten Jahrhunderts für fast alle Staaten beobachtbare gesetzliche Durchsetzung des absoluten Neuheitsbegriffs vor allem auf tief greifende Transformationen in den Verkehrs- und Kommunikationstechniken zurückzuführen ist. Hier ist insbesondere an die Eisenbahn zu denken, deren weitflächige Verbreitung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für eine massive Beschleunigung und Erleichterung des intrakontinentalen Transports von Gütern und Post sorgte (Sasse 1959). Darüber hinaus hatte die Entwicklung der Dampfschifffahrt zu einer Ausweitung und Beschleunigung des inter-
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In einigen Staaten wie z. B. den Niederlanden und J a p a n w u r d e der Patentschutz im Z u g e der sich a b der Mitte des 19. J a h r h u n d e r t s zuspitzenden „ p a t e n t controversy" (Machlup/Penrose 1950) vorübergehend abgeschafft. 42 Die Beschränkung auf inländische Vorbenutzung als neuheitsschädlichen Akt ist mittlerweile in den meisten Patentgesetzen fallen gelassen w o r d e n . Diese Einschränk u n g w u r d e schon in einem K o m m e n t a r von 1878 kritisiert: „Dieses Erforderniß [inländische Vorbenutzung, C.M.] ist nicht gerechtfertigt; die technischen Industriekreise lassen sich nicht nach Landesgränzen abscheiden; die in d e m einen Lande o f f e n k u n d i g benutzte Erfindung gehört der ganzen industriellen Welt a n " (Kohler 1878: 41f.).
Christian Mersch: Die Welt der Patente
kontinentalen Verkehrs zwischen Europa und den USA geführt (vgl. aktuell Borscheid 2004). Von letztlich bahnbrechender Bedeutung für die Durchsetzung der Vorstellung einer synchronisierten weltweiten Vergleichbarkeit von Wissen und Informationen dürfte allerdings vor allem die Entwicklung des Telegrafen gewesen sein: „Die Bedeutung der Telegraphie liegt in ihrer globalen Anwendbarkeit: hatte sich durch die Einführung der Dampfschifffahrt die Regelmäßigkeit und Schnelligkeit auch der Beförderung der Post weltweit wesentlich verbessert, so blieb es der elektrischen Telegraphie vorbehalten, wahrhaft weltweit funktionierende Verbindungen zu schaffen" (Werner 1990: 60). Die Erfindung und zunehmende wirtschaftliche und nachrichtentechnische Nutzung der elektrischen, später auch elektromagnetischen Telegrafienetze wurde häufig als „Kommunikationsrevolution" (vgl. etwa North 1995) bezeichnet; die Telegrafie ermöglichte zum ersten Mal eine von menschlicher und tierischer Fortbewegung entkoppelte Echtzeitkommunikation. 4 3 Resümierend sei also festgehalten, dass die seit Beginn des 19. Jahrhunderts über die Gesellschaft hereinbrechenden kommunikations- und transporttechnischen Neuerungen den entscheidenden Schwellenbruch zur Emergenz eines nurmehr als singulär zu denkenden Horizonts des Wissensvergleichs provoziert haben müssen. Dieser Universalisierungsdruck ließ letztlich auch patentrechtlich das Festhalten an einem territorial begrenzten Neuheitsverständnis zu einem nicht länger tragbaren Anachronismus werden, wie auch in einschlägigen juristischen Stellungnahmen zur patentrechtlichen Modifikation des Neuheitsbegriffs betont wurde: „Von einer Beschränkung der [neuheitsschädlichen, C.M.] Veröffentlichung auf das Inland ist mit Rücksicht auf die Entwicklung der Verkehrsverhältnisse Abstand genommen" (Mintz 1903: 375). Es wäre an dieser Stelle reizvoll, würde uns aber im Rahmen dieses Beitrags überfordern, die Emergenz 43
„Before the telegraph there existed no separation between transportation and communication. Information travelled only as fast as the messenger who carried it. The telegraph dissolved that unity and quickly spread across the land to form the first of the great communication networks" (Czitrom 1982: 3). In kommunikationstheoretischen Termini: die Telegrafie ermöglichte zum ersten Mal das räumliche Auseinanderziehen von Mitteilung und Verstehen, ohne auf die vorher nur in der Interaktion garantierte Gleichzeitigkeit („instantaneousness") verzichten zu müssen. Mit Anthony Giddens: Die Telegrafie ermöglichte als erstes Verbreitungsmedium die Erfahrung von „TimeSpace-Distantiation" (Giddens: 1990: 17ff.).
251 absoluter Neuheit in einer detaillierteren evolutionstheoretischen Skizze nachzuzeichnen. Zum Abschluss dieses Absatzes sei daher noch einmal die weltgesellschaftstheoretische Auffassung der Universalität des Patentsystems präzisiert. Seit der patentrechtlichen Durchsetzung des absoluten Neuheitsbegriffs müssen sich die zuvor eher regional isolierten nationalen Patentrechtsordnungen auf einen permanenten wechselseitigen Informationsaustausch ein- und umstellen. Die ehedem regional beschränkten Vergleichshorizonte brechen auf und fließen zu einem universellen Möglichkeitshorizont zusammen. Unter dem Regime des absoluten Neuheitsbegriffs kann weder ein Patentprüfer, noch ein Privaterfinder oder Unternehmen für sich das Recht beanspruchen, Vorgänge in anderen Regionen des Weltpatentsystems ignorieren zu dürfen. Dies gilt allerdings, und das impliziert der weltgesellschaftstheoretische Begriff der Universalität, „nur" prinzipiell. Das heißt, dass die Beobachtung und Prüfung von Patentfähigkeit nie einen allumfassenden und erschöpfenden Vergleich aller theoretisch öffentlich verfügbaren Informationen realisieren müsste, geschweige denn könnte (dies war schon im 19. Jahrhundert undenkbar geworden). Der universelle Charakter von Patentkommunikation ist vor allem darin zu sehen, dass jeder beliebige Dritte die Rechtmäßigkeit von Patentrechten anzweifeln und sich im Einspruchs- oder Klageverfahren auf jede zugängliche Information stützen kann, völlig unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt, an welchem Ort und vom wem sie publiziert worden war. Absolute Neuheit ist eine „legale Fiktion" und kann nicht objektiv bewiesen werden. Die Rechtmäßigkeit eines Patentanspruchs lässt sich demnach wie etwa auch die Validität eines wissenschaftlichen Wahrheitsanspruchs nur widerlegen (Beweislastumkehr). Unter diesen Umständen wird jede einzelne Patentkommunikation zu einem globalen Geschehen, da sie, wie .lokal begrenzt' einzelne Beteiligte wie der Patentprüfer oder der Patentanwalt auch immer (psychisch) beobachtet und verglichen haben mögen, von Anschlussbeobachtungen rekursiv mit einem unbegrenzten Vergleichszusammenhang ,verlinkt' wird. Der penetrierenden Wirkung dieser universellen Hintergrunderwartung kann sich keine Kommunikation mehr entziehen, ohne ihren spezifischen Sinn als Patentkommunikation zu verlieren. In Analogie zur weltgesellschaftstheoretischen Präsupposition, dass es sich unter Bedingungen universeller kommunikativer Erreichbarkeit bei jeder Kommunikation um „Weltkommunikation" (Stichweh 2005) handelt, ist seit der Durchsetzung des absoluten Neuheitsverständnisses
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jede Patentkommunikation als Weltpatentkommunikation zu verstehen. Da die strukturelle Einheit aller Patentkommunikationen also in jeder Kommunikation mit der phänomenologischen Projektion einer einheitlichen Patentwelt konvergiert, gibt es nur noch ein Patentsystem, das alle Patentkommunikationen innerhalb eines umfassenden Vergleichs- und Beobachtungszusammenhangs prozessiert.
4. Globalisierung: Transnationale Harmonisierung des Patentrechts Wir haben im letzten Abschnitt gezeigt, wie aus der strukturellen Bindung an absolute Neuheit ein spezifischer Universalismus des Patentsystems resultiert, der keine regional-territorialen Grenzen für die Beobachtung der Patentfähigkeit einer Erfindung zulässt. Neuheitsschädlich ist im Prinzip jede technische Information, gleichgültig, wann, w o und vom wem sie publiziert worden ist. In diesem kognitiv-phänomenologischen Sinn gibt es ein deutsches Patent ebenso wenig wie US-amerikanische oder japanische Patente. Es gibt nur noch Weltpatente. Gleichzeitig ist jedoch evident, dass jedes Patent dem Territorialitätsprinzip unterliegt und demnach nur nationalstaatlich begrenzte Rechtsgeltung entfaltet. In Differenz zu Funktionssystemen wie Wissenschaft oder Wirtschaft entspricht dem universellen Weltentwurf des Systems also keine Globalität in Form eines einheitlichen und global, d. h. für jeden Adressaten gleichermaßen verbindlichen unit acts: Es gibt kein global geltendes Weltpatent. Die Diskrepanz zwischen dem Territorialitätsprinzip des Patents und den sich globalisierenden technologischen Gütermärkten hatte schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Forderungen nach einer internationalen Anpassung der verschiedenen Patentrechte hervorgerufen. Dieses Postulat lässt sich als prototypisch für einen allgemeinen strukturellen Trend zu transnationaler Harmonisierung begreifen. Die durch Dampfschifffahrt, Eisenbahn und Telegrafie massiv ausgeweitete transnationale Diffundierbarkeit von Informationen und Gütern hatte in allen funktionalen Bereichen einen internationalen Regulierungsbedarf erzeugt, auf den politisch durch die Verabschiedung multilateraler Harmonisierungsabkommen reagiert wurde. Die in den sechziger und siebziger Jahren entstehenden internationalen Verbände wie der Weltpostverein und der Welttelegrafenverein oder die Standardisierung der Eisenbahnspurbreite sind hierfür ein Beispiel.
Diese internationalen Abkommen setzten Standards für den transnationalen Verkehr und schufen somit die für eine grenzüberschreitende Verbreitung von Gütern und Informationen erforderliche technische Interoperabilität und Rechtssicherheit (Wieczorek 1975: lf.). 4 4 Wie die Analyse des Neuheitsbegriffs gezeigt hat, kollidierte der wirtschaftliche Drang zu internationaler Mehrfachpatentierung zunächst mit dem patentrechtlichen status quo. Das Prinzip absoluter Neuheit verhinderte es de iure, in mehreren Rechtsräumen hintereinander für dieselbe Erfindung Patente anzumelden, da die erste Patentanmeldung eine neuheitsschädliche und damit patentverhindernde Wirkung auf die darauffolgenden Patentanmeldungen ausgeübt hätte. Es wäre notwendig gewesen, eine Patentanmeldung in der entsprechenden Übersetzung bei mehreren Patentämtern gleichzeitig einzureichen, eine in der damaligen, noch nicht durch multinationale Unternehmen heutigen Typs geprägten wirtschaftlichen Welt logistisch kaum zu bewältigende Aufgabe. Diese Diskrepanz zwischen dem wirtschaftlichen Interesse, internationalen Patentschutz für eine Erfindung beantragen zu können, der Prämisse absoluter Neuheit und dem Territorialitätsprinzip, wirkte daher als Auslöser für internationale politische Verhandlungen, die als primäres Ziel die Verabschiedung einer internationalen Einigung über Fragen des Patentschutzes proklamierten. Auf einem anlässlich der Weltausstellung in Wien 1873 einberufenen internationalen Patentschutzkongress (Manegold 1971) wurde angesichts dieses strukturellen Problems der folgende Grundsatzbeschluss gefasst: „In Anbetracht der großen Ungleichheit der bestehenden Patentgesetzgebungen und in Anbetracht der veränderten internationalen Verkehrsbeziehungen der Jetztzeit liegt das Bedürfnis für Reformen vor, und es ist dringend zu empfehlen, daß die Regierungen sobald wie möglich eine internationale Verständigung über den Patentschutz herbeizuführen versuchen" (zitiert nach Kurz 2000: 470). Auf der Basis dieser politischen Willensbekundungen wurde die diplomatische Arbeit an einem multilateralen Harmonisierungsvertrag initiiert, der ein Jahrzehnt später als „Pariser Verbandsübereink u n f t " (PVÜ) in Kraft trat (vgl. Bodenhausen 1971, Beier 1983). Die Pariser Konvention kann als bahnbrechendes Ereignis im Prozess der Globalisierung des Patentrechts angesehen werden, weil mit ihr zum ersten Mal die Möglichkeit der internationalen 44
Allgemein zu Standardisierung als Mechanismus sozialer Koordination siehe Brunsson/Jacobsson 2002.
Christian Mersch: Die Welt der Patente Mehrfachpatentierung auf eine multilaterale rechtliche Grundlage gestellt und somit in Ansätzen ein funktionales Substitut für ein Weltpatent geschaffen wurde. Sie ist „nicht nur die Wiege des internationalen gewerblichen Rechtsschutzes, sondern seine fortbestehende und fortwirkende Klammer" (Straus 2003: 805). Die Hauptwirkung des noch heute geltenden Unionsvertrags bestand in der Einführung einer sechs-, später zwölfmonatigen Prioritätsfrist für die Anmeldung von Patenten (Art. 4). Der wesentlichste Effekt dieser „Unionspriorität'''' besteht darin, einem Anmelder eines nationalen Patents innerhalb der Vertragsstaaten ein Jahr Zeit für die Anmeldung weiterer Patente für dieselbe Erfindung zu gewähren. Für die Dauer dieses Jahres entfaltet die Erstanmeldung keine neuheitsschädliche Wirkung für darauffolgende Applikationen, alle Folgeanmeldungen genießen den Zeitrang der Erstanmeldung. Die Unionspriorität stellt somit eine Durchbrechung der Absolutheit des Neuheitskriteriums zugunsten einer „fiktiven Neuheit" (Wieczorek 1975: 200) dar. Die Universalitätserwartung wurde also aufgrund der nationalstaatlichen Segmentierung des Systems in zeitlicher Hinsicht gesetzlich modifiziert, um die wirtschaftlich motivierte Erweiterung der Patentgeltung auf mehrere Rechtsräume faktisch zu ermöglichen. Die Verabschiedung des „Grundsatzes der Inländerbehandlung" (Art. 2) stellte darüber hinaus einen zweiten entscheidenden Schritt in der internationalen Harmonisierung des Patentrechts dar. Das Inländerprinzip kodifizierte den Anspruch eines Patentanmelders, in jedem der Verbandsländer dieselben Patentrechte wie jeder Staatsangehörige reklamieren zu können: „Die Angehörigen eines jeden der Verbandsländer genießen in allen übrigen Ländern des Verbandes in bezug auf den Schutz des gewerblichen Eigentums die Vorteile, welche die betreffenden Gesetze den eigenen Staatsangehörigen gegenwärtig gewähren oder in Zukunft gewähren werden" (Bodenhausen 1971: 20). Die katalytische Bedeutung der Unionspriorität und des Inländerprinzips für die Dynamik internationalen Patentierens kann kaum überschätzt werden. Beide Harmonisierungsnormen schufen (und schaffen) die rechtlichen Voraussetzungen und Sicherheiten für die systematische wirtschaftliche Nutzung intellektuellen Kapitals auf internationalen Märkten. Im zwanzigsten Jahrhundert wurden auf der Grundlage des Pariser Unionsvertrags eine Reihe weiterer zwischenstaatlicher Konventionen verabschiedet, die vor allem in formalrechtlichen Hinsichten eine Erleichterung internationalen Patentierens bedeuteten. Hier hat vor allem der in den
253 siebziger Jahren in Kraft getretene Patent Cooperation Treaty (PCT) zentrale Bedeutung erlangt. Dessen wesentliche Innovation besteht in der Einführung eines international vereinheitlichten Patentanmeldeverfahrens, das es erlaubt, mit einer standardisierten Patentanmeldung Priorität für alle Verbandsstaaten (z.Z. alle wirtschaftlich dominierenden Staaten mit Ausnahme Taiwans) geltend zu machen und ein vorläufiges internationales Rechercheverfahren zu beantragen (vgl. Preu et al. 1995). Auch bei der internationalen Patentanmeldung nach den Statuten des PCT handelt es sich nicht um transnational geltendes Patentrecht, sondern um ein vereinheitlichtes Anmelde- und vorläufiges Patentprüfungsverfahren. Die rechtlich verbindliche Prüfung auf Patentfähigkeit kann nach wie vor lediglich in Form nationaler Patenterteilungsverfahren realisiert werden, und geltende Patentrechte können jeweils nur vor nationalen Gerichten angefochten werden. 45 Es wird deutlich, dass die Bestimmungen der Pariser Union und der sich anschließenden Harmonisierungsabkommen keine Überwindung des patentrechtlichen Territorialitätsprinzips zur Folge hatten, sondern vielmehr auf dem Territorialitätsprinzip beruhen und es als Prämisse jeder Patentkommunikation bestätigen. Es handelt sich demzufolge bei der PVÜ und beim PCT um klassisches internationales Kollisionsrecht und insofern dezidiert nicht um transnationales Recht „jenseits des Staates". Das patentrechtliche Territorialitätsprinzip ist bis heute nur durch drei überstaatlich gültige Regionalpatente durchbrochen worden. Neben zwei afrikanischen Regionalverbänden 46 ist hier vor allem die europäische Patentübereinkunft (EPÜ) zu nennen. Das Europäische Patentamt erteilt auf Grundlage der EPÜ im Rahmen eines vereinheitlichten Patenterteilungsverfahrens ein Patent für maximal 36 Staaten. Es handelt sich beim europäischen Patent zwar insofern um die Etablierung materiellen supranationalen Patentrechts, als die „Verbandsstaaten den für die Patenterteilung erforderlichen Handlungen dieser Behörde selbst Wirkung für ihr Territorium" (Wieczorek 1975: 253) zuerkennen. Gleichzeitig Es handelt sich somit lediglich um einen „Schritt zum Weltpatent" (Bernhardt 1974: 37) und nicht mehr. Dies sei auch deswegen noch einmal betont, weil viele Unternehmen im Internet zu Selbstdarstellungszwecken mit dem Besitz eines „Weltpatents" (d. h. meistens: eines nach PCT-Statuten angemeldeten Patents) für ihre „Weltneuheit" werben. 4 6 Organisation Africaine de la Propriété Intellectuelle (OAPI), African Regional Industrial Property Organization (ARIPO). Vgl. überblickend Kurz 2000: 562f. 45
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gilt jedoch auch hier, dass die nationalstaatlichen Patentgesetzgebungen nicht von einem transnationalen Regime ersetzt werden. Denn das europäische Patent zerfällt nach der Erteilung wieder in nationale Einzelpatente. Diese „Nationalisierung" hat zur Folge, dass gegen das Patent jeweils nur innerhalb und für den Bereich eines der Vertragsstaaten geklagt werden kann. Es gibt kein europäisches Patentgericht, das eine endgültige, für alle Mitgliedsstaaten verbindliche Entscheidung treffen könnte. Diese inhomogene Patentstreitregelung stellt insbesondere für die mit der europäischen Rechtsprechung weniger vertrauten außereuropäischen Unternehmen eine permanente Quelle neuer Rechtsunsicherheit dar (Smith 2002). Z u r Behebung dieser Defizite wird innerhalb der Europäischen Union seit den 1970er Jahren über die Einführung des Gemeinschaftspatents verhandelt (vgl. Davis 2001). Dieses Gemeinschaftsabkommen, das die EPÜ um eine vereinheitlichte Patentgerichtsbarkeit ergänzen soll und das insofern die erste (faktisch massiv genutzte) Vollrealisierung eines überstaatlichen Patentrechts darstellen würde, ist indes bis heute von den Vertragspartnern noch nicht ratifiziert worden (Artelsmair 2004). Die Diskussion transnationaler Harmonisierungsprozesse hat verdeutlicht, dass das dem sachspezifischen Universalismus des Wirtschaftssystems inhärente Drängen zu einer umfassenden globalen wirtschaftlichen Auswertung von Patentrechten mit der nationalstaatlichen Fragmentierung des Weltrechts kollidiert. Dieser strukturelle Konflikt wurde durch eine Reihe von internationalen Harmonisierungsverträgen entschärft, deren Hauptfunktion darin besteht, die rechtliche Kollision zwischen universeller Neuheitsprämisse und Territorialitätsprinzip zu regulieren. Da Patentgesetze heute ubiquitär verbreitet sind, ist es aufgrund der Vereinbarungen der PVÜ und des PCT möglich, sowohl einen nahezu vollständigen globalen Patentschutz für eine Erfindung zu erhalten als auch weltweit jedes Patent durch Nichtigkeitsklagen zu Fall zu bringen. Z u r Erosion der territorial-segmentären Struktur des Systems würde jedoch erst die Verabschiedung eines weltweit materiellrechtlich vereinheitlichten Patentschutzes führen. Eine internationale politische Einigung auf ein global, d. h. für jeden wirtschaftlichen Akteur gültiges Weltpatent ist jedoch derzeit, wenn auch immer wieder gefordert (Sherwood 1993), politisch nicht realisierbar (Bardehle 1998, Kober 2001).
Es sei allerdings abschließend noch einmal betont, dass diese Nichtexistenz eines materiellen Weltpatents kein Argument gegen die Annahme eines
Weltpatentsystems ist. Versteht man unter Globalisierung eine systemspezifische, operativ-strukturelle Formung eines universellen Anspruchs, dann ist jedes Patent ein globales Patent, da es nur innerhalb eines unentrinnbar globalen Vergleichszusammenhanges von Patentschriften (und anderen Informationsquellen) Rechtsgeltung erlangen kann. Seit der rechtlichen Kodifizierung des universellen Neuheitsverständnisses gibt es faktisch nur noch einen, weltweit integrierten Beobachtungs- und Vergleichszusammenhang von Patenten. Fortdauernde Heterogenität zwischen verschiedenen Patentrechtskulturen kann vor diesem Hintergrund kein Argument mehr gegen die Annahme eines Weltpatentsystems sein. Im Gegenteil. Gerade der Trend zur zunehmenden transnationalen Harmonisierung des Patentrechts lässt sich als strukturelle Reaktion auf den universellen Anspruch des Systems beschreiben, und er zeigt, dass sich alle Beobachtungen von Patentrechten nur noch auf einen gemeinsamen kommunikativen Bezugshorizont, die Welt der Patente beziehen. Auch wenn es kein einheitliches globales Patentrecht gibt: die Existenz eines Weltpatentsystems kann nicht mehr sinnvollerweise in Zweifel gezogen werden.
5.
Resümee
Dieser Beitrag hat versucht, einige Anstöße für ein soziologisches Nachdenken über das Patent zu geben und der Soziologie damit einen bisher kaum thematisierten Forschungsgegenstand für weitere Analysen zu erschließen. Das programmatische Ziel war weiterhin, dem Patent als einem Sozialphänomen von globaler Relevanz theoretisch Rechnung zu tragen. Es ging mit anderen Worten also darum, die Analyse der spezifischen Kommunikationsform Patent mit einer globalisierungstheoretischen Perspektive auf das Patentsystem zu verknüpfen. Hierbei hat sich die heuristische Fruchtbarkeit einer systemtheoretisch orientierten weltgesellschaftstheoretischen Perspektive erwiesen, die den Zusammenhang zwischen dem spezifischen Sinnentwurf eines Funktionssystems (Sachspezifik), dessen unbegrenztem Möglichkeitsraum (Universalität) und konkreten Strukturen der Realisierung dieser Möglichkeiten (Globalität) erklären hilft. Indem zwischen kommunikativen Möglichkeitshorizonten und der selektiv realisierten Nutzung dieser Möglichkeiten, mithin zwischen Welt und Gesellschaft, Universalität und Globalität, differenziert wird, vermag die Theorie plausibel zu zeigen, dass - unter der heute voraussetzbaren Prämisse weltweiter kommunikati-
Christian Mersch: Die Welt der Patente ver Erreichbarkeit - die Welt und damit die globale Verweisungsstruktur des Gesamtsystems in jeder einzelnen K o m m u n i k a t i o n reproduziert wird. D e r Aufsatz hat sich auch angesichts des M a n g e l s an soziologischen Vorarbeiten weitest gehend auf die Beschreibung der strukturellen Eigentümlichkeiten des globalen Patentsystems beschränkt und auf detailliertere Überlegungen zu Ausdifferenzierung, strukturellen Kopplungen, Evolution etc. verzichten müssen. Abschließend seien jedoch drei mögliche Leitgesichtspunkte einer Soziologie des Patentsystems angedeutet. 1. Für eine tiefenscharfe Analyse der Geschichte und Ausdifferenzierung des Systems bedürfte es historisch-semantischer Studien, die schon bei den ersten M o n o p o l e n und königlichen Prärogativen im Mittelalter ansetzen müssten. Eine der diesbezüglichen Leitfragen wäre es herauszufinden, wie die Denkfigur der Belohnung von Erfindern für innovative Tätigkeiten entstanden ist, um dann weiterzufragen, welche Faktoren im Einzelnen die Umstellung von einer kasuistischen Privilegienpraxis zu einem positivierten R e c h t beeinflusst haben. W i e k o m m t es zur semantischen und strukturellen Positivwertung technischer Neuheiten im Übergang zur modernen Gesellschaft in der frühen Neuzeit? Lässt sich die Entstehung der Patentprivilegien und Patentgesetze als Symptom eines allgemeineren, mit der Durchsetzung des Buchdrucks zusammenhängenden, strukturellen Trends e r w e i s e n ? 4 7 2 . D a s Patentsystem ist über intellektuelles Eigentum eng an die Funktionssysteme Wirtschaft und Wissenschaft-Technologie gekoppelt. Eine vertiefte Rezeption wirtschaftswissenschaftlicher und auch wissenschaftssoziologischer Literatur könnte hier instruktive Aufschlüsse über die B e o b a c h t u n g und Nutzung dieser Kopplungen aus Sicht von W i r t schaft und Wissenschaft ermöglichen. Im Hinblick auf W i r t s c h a f t wäre es lohnenswert, Gründe für die hohe D y n a m i k aufzuspüren, die in den letzten J a h r zehnten von der gezielten wirtschaftlichen Auswertung intellektuellen Kapitals durch das Patentmanagement multinationaler Unternehmen auf das Patentsystem ausgeht. Diese D y n a m i k scheint insbesondere mit einer Umstellung im Patentmanagement von ,defensiven' zu ,offensiven' Patentstrategien zusammenzuhängen, die nicht nur auf den Eine genauere Analyse des strukturellen Zusammenhangs zwischen Buchdruck und der Entstehung gewerblicher Schutzrechte fordert auch Elisabeth Eisenstein: „Laws pertaining to licensing and privileges have been extensively studied. But they have yet to be examined as byproducts of typographical fixity" (Eisenstein 1979: 120).
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255 Imitationsschutz eigener Innovationen setzt, sondern verstärkt, mitunter ausschließlich, auf das direkte, .aggressive' Blockieren von K o m p e t i t o r e n , um dann in Lizenzverhandlungen wirtschaftliche G e w i n n e zu erzielen (Granstrand 1 9 9 9 : 2 1 4 f f . ) . Z u m anderen werden Patentierungsmöglichkeiten im Z u g e der „third academic m i s s i o n " (Krücken 2 0 0 3 ) wie einleitend schon erwähnt auch in akademischen Forschungsorganisationen verstärkt w a h r g e n o m m e n . Insbesondere im Bereich der ,Life Sciences' muss selbst die Grundlagenforschung in zunehmenden M a ß e Patentierungsmöglichkeiten und Lizenzeinnahmequellen erschließen. D e r traditionell auf möglichst schnelle Wissensdiffusion und wissenschaftlichen Reputationserwerb spezialisierte Wissenschaftler muss dort aus Prioritätsgründen lernen, Forschungsergebnisse unter Umständen zunächst zurückzuhalten, um sich nicht mit einer neuheitsschädlichen Publikation einer kommerziellen Auswertungsmöglichkeit für seine Erfindung zu begeben.48 3 . Schließlich lassen sich in den letzten Jahrzehnten Verschiebungen in den Patentierbarkeitskriterien der Patentgesetze b e o b a c h t e n , die von wesentlicher Bedeutung für die zukünftige Entwicklung des Systems sein dürften. Dies trifft insbesondere auf C o m putersoftware zu, die in Europa im Gegensatz zu den USA bis in die achtziger J a h r e kaum patentiert wurde, bevor es dann in den letzten Jahren zu einer massiven Zunahme von Patentgesuchen für Software k a m (vgl. M c Q u e e n / O l s s o n 2 0 0 3 ) . An dieser Öffnung des Patentschutzes für computerimplementierte Erfindungen entzünden sich indes intensive Debatten zwischen Verfechtern des Patents und den Vertretern der open-source-Bewegung, die in Softwarepatenten ein illegitimes wirtschaftliches Machtinstrument der multinationalen Unternehmen und einen Missbrauch des Patentrechts sehen. Im Z e n t r u m dieser Auseinandersetzungen steht die Frage nach der Tech-
Zur Unterscheidung von Patent und Publikation siehe ausführlich Mersch 2002. Der Relevanzgewinn von Patenten in der Akademie lässt sich entgegen einer verbreiteten Einschätzung jedoch nicht als Symptom einer Erosion der wissenschaftlichen Systemgrenzen interpretieren. Aus den polyreferenziellen Inklusionsbezügen wissenschaftlicher Akteure folgt keine Überschneidung der funktionalen Leitprobleme von Wissenschaft und Wirtschaft: Wahrheit und Reputation lassen sich nicht kaufen, Zahlungsfähigkeit lässt sich nicht durch Zitationen regenerieren. Der Diskurs vom „blurring of the boundaries" (etwa Gibbons et al. 1994) übersieht den Unterschied zwischen wissenschaftlicher Kommunikation und wissenschaftlicher Forschung, mithin zwischen Wissenschaftssystem und wissenschaftlichem Akteur. 48
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nizität von Software. Handelt es sich bei Software um Ideen und somit um einen Gegenstand des Urheberrechts oder in vielen Fällen auch um technisches und damit patentierbares W i s s e n ? 4 9 Der Trend zur Ausweitung des sachlichen Inklusionsbereichs des Patentsystems ist allerdings nicht auf Software begrenzt, sondern lässt sich, wie eingangs dieses Artikels schon angedeutet, vor allem auch im Bereich biotechnologischer Erfindungen beobachten. ,Patente auf Leben' sind seit den 1 9 8 0 e r Jahren zu einem hoch kontrovers diskutierten politischen T h e m a geworden. Widerspricht es den „guten Sitt e n " ( § 2 Abs. 1 PatG), Patente für gentechnisch manipulierte DNA-Sequenzen oder tierische Gene zu erteilen, also private Rechte für gemeinhin als öffentlich verstandene Güter zu ermöglichen? Befürworter der Genpatentierung entgegnen diesen moralisch-ethisch motivierten Einwänden, dass die industrielle biotechnologische Forschung diesen wirtschaftlichen Investitionsanreiz benötigt, um mehr Erkenntnisse über das menschliche Erbgut zu produzieren und damit die Chancen zur Bekämpfung bisher unheilbarer Krankheiten zu erhöhen (vgl. überblickend Baumgartner/Mieth 2 0 0 3 ) . Diese Forschungsagenda ist alles andere als erschöpft und müsste in vielen Hinsichten ergänzt werden. Auf jeden Fall sollte mit der Beschreibung dieser Forschungsperspektiven nochmals verdeutlicht werden, dass sich ein soziologisches Nachdenken über die Welt der Patente lohnen könnte.
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Autorenvorstellung: Christian Mersch, geb. 1976 in Paderborn. Studium der Soziologie in Bielefeld und Bilbao. Seit Sommersemester 2003 Promotionsstipendiat im Graduiertenkolleg „Weltbegriffe und globale Strukturmuster. Ausdifferenzierung und funktionale Diversifikation der Weltgesellschaft" am Institut für Weltgesellschaft der Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld. Forschungsinteressen: Soziologische Theorie, Theorie der Weltgesellschaft, Intellektuelles Eigentum, Wissenschaft, Sport.
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 260-289
Der Weltsport und sein Publikum Weltgesellschaftstheoretische Überlegungen zum Zuschauersport
World Sports and Their Publics Spectator Sports through the Lenses of World Society Theory Tobias Werron* Institut für Weltgesellschaft, Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld, Universitätsstraße 25, D-33615 Bielefeld E-mail: [email protected] Zusammenfassung: Der Beitrag will - am Beispiel des Sports - zeigen, dass sich der Blick auf Globalisierungsprozesse in weltgesellschaftstheoretischer Perspektive schärfen lässt. Er geht aus von der Diagnose, dass der Globalisierungsforschung präzise Begriffe des Sports und seines Publikums fehlen. Der Globalisierungsbegriff selbst bleibt entsprechend unscharf und das spezifisch Sportliche des Sports droht hinter großflächigen Thesen wie „Amerikanisierung", „Kommerzialisierung", „Televisualisierung", „Glokalisierung" etc. zu verschwinden. Der Beitrag fragt daher gezielt nach den Eigentümlichkeiten des Zuschauersports als einem globalen Kommunikationszusammenhang eigener Art. Er macht sich die Kernthese der systemtheoretischen Fassung der Theorie der Weltgesellschaft zu eigen, wonach die Entstehung der Weltgesellschaft und die Durchsetzung funktionaler Differenzierung als ein und derselbe Vorgang aufgefasst werden können. Diese These exemplifiziert er am Sport und überprüft sie in drei Schritten. Zunächst werden unter dem Leitbegriff „Weltsport" Eigentümlichkeiten des Zuschauersports beschrieben, an denen der postulierte Zusammenhang zwischen funktionaler Differenzierung und Globalisierung plausibel werden soll. Der zweite, inklusionstheoretische Abschnitt vertieft und erweitert diese Analyse mit Begriffsvorschlägen zum Publikum des Sports. Der Schlussabschnitt greift schließlich zentrale Problemkreise der Globalisierungsdebatte zum Sport wieder auf, um an ihnen exemplarisch das empirische Erklärungspotenzial der unterbreiteten Begriffsvorschläge zu demonstrieren. Summary: This article argues that a system theoretical version of world society theory can deepen the understanding of globalization processes. The advantages of this approach are discussed with reference to the role of sports and their spectators in world society. It sets out from the assumption that the current globalization literature lacks precise concepts of sports and the various sports publics. The structural specifics of sports remain undertheorized if described only as processes of Americanization, commodification, televisualization, globalization, etc. As in the globalization literature in general, globalization is typically used as a buzz word rather than as a theoretical concept. In contrast to such approaches, this article focuses on sports as a global communication system in its own right. This analysis combines a differentiation-theoretical thesis (functional differentiation as the primary form of internal differentiation of world society) with a globalization-theoretical thesis (functional differentiation and emergence of world society as closely interrelated processes). The article applies these assumptions to sports: First, the concept of "world sports" is introduced to illustrate the interrelation between functional differentiation and globalization. Second, this analysis is deepened by introducing a conceptualization of the various publics which sports have. The final section shows the empirical merits of the proposed theoretical concepts by applying these concepts to some of the central issues in the current debate on the globalization of sports.
1. Globalisierung, buzz words und Theorie der Weltgesellschaft „Sport Matters" hat Eric Dunning eine Aufsatzsammlung betitelt, die vor wenigen Jahren erschienen ist (1999). Der Ausruf war an das soziologische Fachpublikum gerichtet. Das Publikum des Sports kann er nicht gemeint haben: 2 8 , 8 Milliarden Fernsehzuschauer sollen sich zur letzten Fußball-Welt-
* Ich danke zwei Gutachtern und den Herausgebern der Zeitschrift für Soziologie für Kritik und wertvolle Anregungen sowie Stephan Stetter und Christian Mersch für zahlreiche sachliche und weniger sachliche Sportgespräche.
meisterschaft eingeschaltet haben, 1,1 Milliarden allein zum Endspiel (Fifa 2002). Angesichts solcher und ähnlicher Zahlen wird von sportlichen Weltereignissen auch als „first truly global ritual(s)" gesprochen (Real 1989: 223) und der Sport insgesamt mit den Etiketten eines „most universal aspect of populär culture" oder einer „global culture industry par excellence" versehen (Miller et al. 2001: 1,13). 1 Beides, Zahlen wie Formulierungen, deutet auf eine nahezu konkurrenzlose Prominenz des Sports als globaler Kommunikationszusammenhang. Aber was 1
Überblick zur TV-Verbreitung bei Miller et al. 2001: 63f.; methodisch geprüfte Daten zu den Olympischen Spielen bei de Moragas Spä et al. 1995.
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macht ihn für seine Zuschauer attraktiv? Und was macht seine globale Prominenz aus? Der vorliegende Beitrag folgt der Vermutung, dass, wer die globale Prominenz des Zuschauersports erklären will, präzisere Begriffe des Sportpublikums benötigt, als sie bisher zur Verfügung stehen. Zur Überprüfung dieser Vermutung wird das Problem hier aus weltgesellschaftstheoretischer Perspektive aufgegriffen, als inklusionstheoretische Fragestellung reformuliert und mit Begriffsvorschlägen zum Publikum des Sports beantwortet. Damit versteht sich der Aufsatz auch als Beitrag zur Sportsoziologie, in erster Linie aber als Versuch, die Erklärungskraft der systemtheoretischen Fassung der Theorie der Weltgesellschaft am Beispiel des Sports zu illustrieren. Dieser primären Fragerichtung entsprechend beginnt er mit der Exposition zweier zentraler Problemkreise aus der Globalisierungsforschung zum Sport, an denen sich die Begriffsvorschläge am Schluss des Beitrages exemplarisch beweisen sollen. Der Beitrag wird seine Ziele erreicht haben, wenn er zeigen konnte, dass sich über das Publikum des Sports Genaueres sagen lässt, wenn man es als Publikum des Weltsports beschreibt. Die vor allem in den Cultural Studies und von Vertretern der Figurationssoziologie geführte Debatte zur Globalisierung des Sports hat in den letzten Jahren mit wachsender Produktivität auf die Prominenz des Zuschauersports reagiert. Die Zahl der Einzelstudien v. a. zu lokalen und nationalen Zuschauerkulturen ist kaum noch zu überschauen (z.B. Cronin/Mayall 1998, Finn/Giulianotti 2000, Armstrong/Giulianotti 2001, Whannel 2002). Was die theoretische Deutung und die begriffliche Anleitung weiterer Forschung betrifft, hat der Diskurs aber offenbar mit ähnlichen Unklarheiten zu kämpfen wie die Globalisierungstheorie im allgemeinen. Die Schwierigkeiten werden wissenssoziologisch greifbar, wenn sie reflexiv werden und in Unzufriedenheit umschlagen, etwa wenn globalization als „all purpose buzz-word" (Rowe 2003: 282) verächtlich gemacht wird - freilich ohne auf seinen Gebrauch zu verzichten. Für den Sport scheint zu gelten, was Andreas Wimmer der gesamten Globalisierungsdebatte attestiert hat: „No global understanding has been reached, however, as to the exact meaning and implications of ,globalization'" (Wimmer 2 0 0 1 : 4 3 5 ) . Der in solchen Einschätzungen mitschwingende Verdacht, in einer Literatur mit theoretischem Anspruch häufig eher auf Schlagworte statt Theoriebegriffe zu stoßen, verstärkt sich mit einem Überblick über die in der sportsoziologischen Globalisierungsliteratur gebräuchlichen Leitbegriffe. Sie fallen
261 zunächst durch ihre Vielzahl auf, dann dadurch, dass es sich meist um Versuche handelt, gegenwärtige, seltener historische evolutionäre Dynamiken in die Form von Prozessbegriffen zu bringen. Man könnte sie in drei Gruppen aufteilen, zunächst (1) Begriffe, die ein Interesse an Diffusionsprozessen signalisieren, darunter das gängige Americanization (z.B. Miller et al. 2001: 14ff.), aber auch Europeanization, Orientalization, Africanization, Hispanicization und Japanizatioti (vgl. Maguire 1999: 41, 59ff.); dann (2) Begriffe, die Beziehungen des Sports zu anderen Gesellschaftsbereichen akzentuieren (v. a. governmentalization, commodification, vgl. Miller et al. 2001: 9ff.); schließlich (3) Begriffe, die Veränderungen der Kommunikationsbedingungen oder der Beziehungen des Sports zu den Massenmedien hervorheben, entweder pauschal, wie in global media-sport complex (Maguire 1999: 144) bzw. media sports cultural complex (Rowe 1999), oder bezogen auf einzelne Medien wie in televisualization ^Miller et al. 2001: 60ff.) und Cybersport (Rowe 1999: 167ff., Schwier/Fritsch 2003). Was angesichts der Vielzahl der Begriffe und des Umfangs der Forschung jedoch merkwürdig unterbelichtet bleibt, ist die Frage, worin der Eigenbeitrag des Sports zu diesen Prozessen besteht. So fehlen z.B. Begriffe, die verständlich machen könnten, worin sich televisualization im Sport von televisualization in der Wissenschaft oder in der Kunst oder in der Wirtschaft unterscheidet. Wo genau die begrifflichen Probleme liegen, wird an zwei Hauptproblemkreisen der Debatte noch deutlicher. (1) Folgt man der Diskussion auf ihre vorläufig höchste Abstraktionsstufe, verdichtet sich das Interesse an Prozessen in dem Interesse an einer Unterscheidung: einer „key dichotomy" (Bairner 2001: 8) - wie global/local, homogenization/heterogenization, sameness/difference, universalism/particularism oder diminishing contrasts/increasing varieties - in der Prozesse zusammengefasst und auf ihre Konsequenzen befragt werden (vgl. Maguire 1999, Bairner 2001; auch dies in Parallellage zur allgemeinen Globalisierungsdiskussion, vgl. Guillen 2001, Wimmer 2001). Dass beide Seiten dieser Unterscheidungen irgendwie zusammengehören, wird in Roland Robertsons glocalization auf den Begriff gebracht - und jetzt auch in der Anwendung von Robertsons Globalisierungs-Phasentheorie auf den Fußball deutlich (vgl. Giulianotti/Robertson 2002). Wie immer die Begriffswahl, stets geht es um die Gleichzeitigkeit von Homogenisierungstendenzen und persistierender oder neu entstehender Heterogenität, und der weit überwiegende Teil der Aufmerksamkeit richtet sich auf nationale Identitäten
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und deren angebliche „resistance to globalization" (Bairner 2001: 175, Miller et al. 2001: 27ff.). Aber auch hier bleibt der Konsens, dass mit Leitunterscheidungen dieser Art gearbeitet werden muss, in seltsamem Widerspruch zur Unklarheit, was damit unterschieden wird. Auf diese Dialektik passt eine Einschätzung, mit der David Rowe (2003) die Debatte kürzlich zusammengefasst hat. Rowe diagnostiziert einerseits einen „emerging consensus in the sociology of sport that cultural nationalism and (g) localism resist globalizing processes"; vermutet aber andererseits, „that the social institution of sport is so deeply dependent on the production of difference that it repudiates the possibility of comprehensive globalization while seeming to foreshadow its inevitable establishment" (Rowe 2003: 281f.). Wer an diese Vermutung anknüpfen will, ist offenbar auf verfeinerte Begriffe der „social institution of sport" und der „possibility of comprehensive globalization" angewiesen. Entsprechend folgt die begriffliche Fehlanzeige (ebd.: 292): „Deeper consideration might be given to the lineaments of the institutional formation of sport itself, and to the analytical possibility that sport may do more than exhibit and resist different elements of globalization." Das kommt einer Selbstbezichtigung gleich, die man auch so zusammenfassen könnte: Man müsste wissen, wie Sport und Globalisierung zusammenhängen; dazu müsste man wissen, wie im Sport Differenzen produziert werden; und dazu müsste man genauer wissen, was man meint, wenn man von Sport spricht. (2) Eine verwandte Leerstelle findet sich in einem für die Suche nach Gründen der globalen Popularität des Sports besonders interessanten Diskussionszusammenhang, in der Debatte um media events (vgl. Real 1989, Dayan/Katz 1992, Roche 2000, Couldry 2003). In diesem Zusammenhang ist bemerkt worden, dass sportliche Weltereignisse, wie insbesondere Fußballweltmeisterschaften und Olympische Spiele, andere Ereignisformen, v. a. Weltausstellungen, von der Spitze globaler öffentlicher Aufmerksamkeit verdrängt haben: Als mega-events (Roche 2000) sind media events offenbar in der Regel sport mega-events (Roche 2003: 106) oder, der Vollständigkeit halber, global megamedia sports events (Rowe 2003: 281). Beim Versuch, diese Weltereignis-Prominenz des Sports zu erklären, fällt auch das Stichwort, dass der Sport besondere „opportunities for dramatic experience" biete (Roche 2003: 110). Aber wiederum bleibt offen, worin genau das spezifische Drama des Sports besteht. 2 2
Jedenfalls reicht die Feststellung nicht aus, der Sport bie-
Wie könnte ein Zwischenfazit dieses Diskussionstandes lauten? Es geht um zwei Fehlanzeigen, die offenbar eng miteinander verflochten sind: Die Beobachtung der Gleichzeitigkeit von homogenization/heterogenization (sameness and difference, global and local etc.), aufgefangen in Schlagworten wie glocalization, artikuliert mittelbar das Bedürfnis nach einer Theorie, mit der die (Re-)Produktion von Differenzen nicht als Widerstand gegen, sondern als Moment von Globalisierung erklärt werden. Und die Feststellung, dass sportliche mega-events andere Ereignistypen hinter sich gelassen haben, fragt indirekt nach den Eigentümlichkeiten, die diese Sportereignisse gegenüber jenen anderen Ereignissen auszeichnen. Implizit nachgefragt werden also (1) eine Theorie, die Globalisierungsbedingungen als Differenzierungsbedingungen beschreibt, und (2) präzise Begriffe des Sports, die den systematischen und historischen Vergleich mit anderen globalen Strukturen erlauben. Auf eben diese Nachfrage antwortet die systemtheoretische Fassung der Theorie der Weltgesellschaft. Sie nimmt an, dass es nur noch eine Gesellschaft gibt und nennt diese Gesellschaft Weltgesellschaft. Sie analysiert globale Strukturen folglich als Eigenstrukturen der Weltgesellschaft: nicht nur als globalisiert, sondern als intern differenziert (grundlegend Luhmann 1975, Stichweh 2000). In dieser Perspektive werden Strukturen zu internen Kommunikationsstrukturen des allgemeinsten Kommunikationssystems Gesellschaft und das Forschungsinteresse richtet sich auf Genese, Autonomie und Interdependenzen globaler Strukturmuster in der Weltgesellschaft. 3 Dabei wird im Einklang mit der soziologischen Tradition von funktionaler Differenzierung als primärer Differenzierungsform der Weltgesellschaft ausgegangen, zugespitzt in der These, dass „die Entstehung der Weltgesellschaft und die Durchsetzung funktionaler Differenzierung ein und derselbe Vorgang" seien (Stichweh 2004: 4). Wer diese Perspektive wählt, verpflichtet sich auf die präzise Beschreibung der Eigentümlichkeiten jener
te „forms and occasions, both through live events and TV spectatorship, through which many people, particularly males, attribute meaning to their lives" (Roche 2000: 167). Denn das ist zwar leicht zuzugeben, aber k a u m eine Eigenschaft, durch die er sich von anderen Formen und Gelegenheiten unterscheidet. 3 Aus einer verlängerbaren Liste in Frage kommender globaler Strukturmuster: Formale Organisationen, Netzwerke, M ä r k t e , epistemische Gemeinschaften und Weltereignisse, vgl. Stichweh 2001; speziell zu Funktionssystemen, Organisationen und Kommunikationstechniken als „Innovationen der Weltgesellschaft" Stichweh 2000a.
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Tobias Werron: Der Weltsport und sein Publikum Strukturen, von denen er vermutet, dass sie zur Entstehung und Verfestigung der Weltgesellschaft beitragen. Zugleich rücken die Eigentümlichkeiten von Funktionssystemen in den Vordergrund des Interesses. Zu diesen Funktionssystemen gehört der Sport. Diese theoretischen Grundentscheidungen machen sich die folgenden Überlegungen zu eigen und verpflichten sich damit auf den Versuch, die strukturellen Eigentümlichkeiten des Sports als Funktionssystem zu bestimmen. Sie unternehmen diesen Versuch mit zwei wichtigen Einschränkungen: Erstens wird es nicht um den Sport als Ganzen gehen, sondern um Publikums- bzw. Zuschauersport. Zweitens wird ein „asketisches" Argumentationsverfahren gewählt, das sich ganz auf die autonomen Sinnbezüge des Zuschauersports konzentriert, während Interdependenzen mit anderen Funktionssystemen (wie z.B. Massenmedien und Wirtschaft), Organisationen und anderen Strukturmustern allenfalls vereinzelt und am Rande kommentiert werden. Diese Einschränkung leugnet nicht die Bedeutung einer Analyse dieser Interdependenzen; sie soll vielmehr eine solche Analyse an anderer Stelle gerade vorbereiten. Hier soll sie aber helfen, die Präzisierungschancen weltgesellschaftstheoretischen Denkens so klar wie möglich hervortreten zu lassen und so zu einer Korrektur der Begriffsdefizite beizutragen, die eingangs diagnostiziert wurden. Der Aufbau der Argumentation folgt diesen Vorgaben: Ein erster Abschnitt (II.) entfaltet Facetten des Begriffs „Weltsport", um den postulierten Zusammenhang zwischen funktionaler Differenzierung und Weltgesellschaft am Beispiel des Sports plausibel zu machen. Der zweite Abschnitt (III.) konkretisiert diese Analyse, indem er sie mit Begriffsvorschlägen zum Publikum des Sports erweitert. Schließlich greift der Beitrag (IV.) die eingangs skizzierten Fragen aus der Globalisierungsdebatte wieder auf, um zu zeigen, wie sie sich mit Hilfe der hier eingeführten Begriffen präziser stellen und beantworten lassen könnten.
hang an jedem einzelnen Funktionssystem müsste ablesen können. „Weltsport" bringt diese beiden Thesen auf einen Begriff, der hier in drei Schritten entfaltet werden soll: Im ersten Schritt wird nach der sachlichen Spezifität des Sports als Kommunikationszusammenhang eigener Art gefragt, dann danach, welcher Universalitätsanspruch sich mit dieser Spezifität verbindet, um schließlich Aspekte von Globalität zu beschreiben, die sich diesem sachspezifischen Universalitätsanspruch verdanken.
2.1 Spezifität: Leisten als Leisten Mit anderen Funktionssystemen hat der Sport gemeinsam, dass er einen Kommunikationszusammenhang unter sachspezifischen Gesichtspunkten ausdifferenziert. Zur Bestimmung der spezifisch sportlichen Sachgesichtspunkte werden in der Literatur zwei unterschiedliche Lösungen angeboten. Die erste sieht Sieg/Niederlage als leitenden binären Code und versteht das Leistungsprinzip als evaluatives Programm, das der Spezifikation dieser Leitunterscheidung diene. Die Frage nach der Funktion des Sports bleibt hier ausdrücklich unbeantwortet und dem Sport wird der Sonderstatus einer „autotelischen Aktivität" zugeschrieben, die ihr Systembildungspotenzial ausschließlich aus Leistungsbeziehungen zu anderen Funktionssystemen beziehe (Schimank 1 9 8 8 : 198, zustimmend Bette 1989). Die zweite Position geht umgekehrt vor: Sie bestimmt Leisten/Nicht-Leisten als leitenden Code und betont damit u.a., dass der moderne Sport die Praxis
kontinuierlich
wiederholbaren
Leistungsvergleiches
an die Stelle symbolträchtiger Bestimmung von Siegern und Verlierern gesetzt hat, die den antiken bzw. vor- und frühmodernen Sport bestimmt hat (Stichweh 1 9 9 0 , 1 9 9 5 ) . 4 Gemeinsamer Nenner ist, dass es im Sport um Kommunikation körperlicher Leistungsfähigkeit geht. Der zweite Vorschlag geht aber einen Schritt weiter, indem er Kommunikation körperlicher Leistungsfähigkeit zur Funktion des Sports und die Kommunikation von körperlicher Leistungsfähigkeit und über körperliche Leistungs-
2. Weltsport: Begriffsfacetten Hahn ( 2 0 0 2 : 3 1 ) betont die Bedeutung des systemeigenen Gedächtnisses zusätzlich, indem er auf Rekord/NichtRekord als Leitunterscheidung abstellt. Einen Mittelweg wählen Riedl/Cachay ( 2 0 0 2 : 2 1 ) , die einerseits feststellen, dass „bislang theoretisch noch nicht geklärt ist, ob das Sportsystem eine ihm spezifische Funktion erfüllt", zugleich aber betonen, dass von Leisten/Nicht-Leisten als Primärcodierung auszugehen und eine Analyse des Sports mit dem für Funktionssysteme entwickelten Vokabular fruchtbar sei. 4
Die Hypothese, dass die Durchsetzung funktionaler Differenzierung und die Entstehung der Weltgesellschaft zwei eng verflochtene oder gar identische Prozesse seien, lenkt den Blick auf die Frage, inwiefern Differenzierung nach Funktionen die Globalität der differenzierten Systeme erzwingt, impliziert oder sonst nahe legt. Außerdem enthält sie die weitere These, dass man den postulierten Zusammen-
264 fähigkeit zu den Operationen (Stichweh 1990).
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des Systems erklärt
Die zweite Alternative ist aus grundsätzlichen Erwägungen vorzuziehen. Ihr entscheidender Vorteil ist, dass sie den Weg zu einer kommunikationstheoretischen Analyse des Sports öffnet, indem sie die Reduktion auf eine autotelische Aktivität meidet und die für den Sport spezifischen Operationen ben e n n t / Erst die Differenz der beiden Operationsformen „von/über Leistung" macht verständlich, dass und wie Verhalten in der Kommunikation selbstsimplifizierend als Leistungshandeln konstituiert wird (zur Selbstsimplifikation auf Handeln vgl. Luhmann 1984: 191ff.; zum Kommunikationsbegriff näher Fuchs 1993). Sie betont, dass beide Operationsformen in ihrer Unterschiedlichkeit aufeinander angewiesen sind: ohne sprachlich verfasste Kommunikation über Leistung keine Simplifikation (körperlicher) Bewegungen auf Leistungshandeln, ohne (körperliche) Kommunikation von Leistung kein Reden und Schreiben über sie. Beide Formen bestimmen sich wechselseitig. Sie setzen einander voraus, insofern sie sich unterscheiden. Nur über Semantiken und Strukturen der Kommunikation über Leistung lässt sich daher nachvollziehen, wie sich im Wechselspiel beider Formen vormoderne „Körperkulturen", Erziehungspraktiken oder Spiele in Kommunikation von Leistung verwandelt haben (für eine historische Studie in diesem Sinne Eichberg 1974). Wenn „Leistung" das Spezifische des Sports bezeichnen soll, drängt sich die Frage auf, welcher spezifische Begriff von Leistung damit vorausgesetzt wird - zumal den Leistungsbegriff im allgemeinen gerade die Vielfalt von Nuancen auszeichnet, die er in seinem Bedeutungshof sammelt 5
O b mit „Kommunikation körperlicher Leistungsfähigkeit" bereits eine befriedigende Funktionsbestimmung vorliegt, ist eine andere Frage, die hier nicht vertieft werden kann. Eine Schwierigkeit dieser Lösung ist, dass damit Praktiken wie Schach, die in erster Linie geistige, nicht körperliche Leistungsfähigkeit kommunizieren, aus dem Sport verbannt werden (so ausdrücklich Stichweh 1995, 17; vgl. auch Hitzler 1991: 482). Das ist problematisch, weil man sich damit mindestens teilweise in Widerspruch zum Selbstverständnis des Systems setzen müsste, da z. B. der Deutsche Schachbund dem Deutschen Sportbund angehört und Schach eine anderen Sportarten vergleichbare Wettkampforganisation pflegt. Z u r Vermeidung solcher Schwierigkeiten könnte es sich anbieten, noch abstrakter anzusetzen und von „Kommunikation bzw. Visualisierung von Leistungsfähigkeit" als Bezugsproblem auszugehen und auf dieser Grundlage umso genauer nach der Rolle des Körpers im Sport zu fragen.
(vgl. instruktiv Schlie 1988). Im Kern ist das Spezifische der Leistungsidee des Sports, dass sie eine Steigerungsidee ist: eine Idee nicht der Pflichterfüllung (nicht der Zuverlässigkeit, nicht des Gutseins, nicht der Angemessenheit etc.), sondern des Besserseins (oder Besserwerdens). 6 So gesehen, ist gerade der Kontrast zwischen der möglichen Vielfalt der Sinnbezüge von Leistung und den spezifisch sportlichen Sinnbezügen dieses Begriffes von besonderem Interesse. Dieser Kontrast lässt sich in gesellschaftstheoretischen Begriffen von „Werten" rekonstruieren: Während Werte als „mobile Gesichtspunktmenge" gerade durch ihre Vielzahl, ihre Unverbindlichkeit und ihren Unterstellungscharakter auffallen, als „Ballons, deren Hüllen man aufbewahrt, um sie bei Bedarf aufzublasen" (Luhmann 1997: 342), werden sie in Funktionssystemen als Präferenzwerte verbindlich und handlungsrelevant. Im besonderen Fall des Leistungswerts bietet sich eine dreifache Unterscheidung an, die schrittweise auf die Eigentümlichkeiten des sportlichen Leistungswerts hinführt: (1) Leistung ist zunächst ein Wert unter Werten, insofern er die Eigenschaft aller Werte teilt, Teil einer mobilen und unverbindlichen Gesichtspunktmenge zu sein. In diesem Sinne tritt der Leistungswert auf, wenn es heißt „Leistung muss sich wieder lohnen" und jeder für sich entscheiden kann, wessen Leistung und welcher Lohn gemeint sind. (2) Leistung ist darüber hinaus ein infrastruktureller Wert, insofern er als Präferenz für Handeln für beliebige Gütemaßstäbe in Anspruch genommen werden kann. Diese Bedeutung spiegelt sich in Begriffen wie underachiever, die das aktive Ausschöpfen persönlicher Talente anmahnen, aber auch in einem Theoriebegriff wie dem der „Leistungsrolle" selbst. Leistung in diesem Sinne entspricht einem aktivistischen Wertmuster, das allgemein zur Aktivität („Neuheit"; „Produktion" etc.) verpflichtet, aber auf externe Referenzen als Gütemaßstäbe des Leistens angewiesen bleibt (vgl. Parsons/Platt 1973: 41: „instrumenteller Aktivismus"; Stichweh 1991: 143ff.: „institutionalisierter Aktivismus"). (3) Schließlich ist Leistung ein Präferenz- oder Designationswert, insofern er den Leistungsgedanken von externen Referenzen befreit und ihn als Systembildungsprinzip des Sports inthronisiert. Im Sport, könnte man mit Blick auf diese aufeinan6
Z u weiteren Aspekten des modernen sportlichen Leistungsverständnisses vgl. Eichberg (1984: 97f.), der nennt: Wettkampfprinzip, Resultat- und Rekordorientierung, Quantifizierung, unbegrenzte Steigerung, Egalisierung der Chancen (bei gleichzeitiger Re-Hierarchisierung). Auf einige dieser Aspekte wird zurückzukommen sein.
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der verweisenden Dimensionen des Leistungswerts auch sagen, realisiert sich die „Prominenz des Leistens als Leisten" (Stichweh 1990: 3 8 7 ) 7 Diese Prominenz lässt sich bis in die Alltagssprache verfolgen: „Leistungssport"/„achievement sport" sowie sportliche „Höchstleistungen" sind selbstverständlich und allgegenwärtig, während von „Hochleistungspolitik" selten zu lesen und von „Höchstleistungssingen" selten zu hören ist. Die Differenz der Operationsformen (von/über Leistung) wiederum findet komprimierten Ausdruck in der von Sportlern häufig verwendeten Redewendung „Wir müssen Leistung sprechen lassen". Denn das ist eine Sprache, die sich auch und gerade darüber definiert, kein Reden zu sein (und erst recht kein Schreiben): „Wir haben den Trainingsplatz und das Stadion. Dort können wir alles zeigen, was wichtig ist." 8 Diese Formulierung verweist auf eine Unterscheidung, die sich ebenfalls als Unterscheidung zweier Operationsformen fassen lässt: Trainingsplatz und Stadion, Training und Wettkampf, obgleich beides Gelegenheiten, Leistung sprechen zu lassen, sind gleichwohl streng zu unterscheiden. Während sich beim Training selbst der berühmtesten Sportler selten mehr als ein paar hundert Neugierige tummeln, können Wettkämpfe ein Milliardenpublikum auf sich ziehen. Vor allem als Zuschauerattraktion ist der Sport folglich angewiesen auf die Veranstaltung von Wettkämpfen, und auch seine kontinuierliche Präsenz in den Massenmedien hängt ab von regelmäßig stattfindenden Wettkampfereignissen. Dass es gelungen ist, Wettkampfregeln zu entwickeln, diese Regeln organisatorisch verbindlich zu machen und damit kontinuierlichen wettkampfförmigen Leistungsvergleich unter konstanten, einer „Sportart" oder „Disziplin" zuzurechnenden Bedingungen zu ermöglichen, erscheint daher rückblickend als die wichtigste strukturelle Innovation des modernen Sports. 9 Ein mit diesen Innovationen eng verbundener Aspekt der Modernität des modernen Sports ist der hierarchische Unterbau, der bei dieser Art der Wettkampforganisation wie von selbst zu entstehen scheint, je mehr Teilnehmer in den LeisWomit zugleich Auffassungen zurückgewiesen sind, die (wie z.B. Gebauer 1998) den Sport pauschal als Mimesis von Gesellschaft beschreiben. 8 So der Stuttgarter Profi-Fußballer Zvonimir Soldo (Zorn 2004). Dasselbe Motiv in einer häufig zitierten, der Fußball-Ikone Adi Preißler zugeschriebenen Formulierung: Reden kann jeder, „maßgebend is' auf dem Platz." 9 Korrespondierend mit einem exponentiellen Wachstum der Gründung formaler Organisationen, hier v. a. in Form von Vereinen und Verbänden. Vgl. z.B. für Großbritannien Tranter 1998; für Deutschland Eisenberg 1999. 7
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tungsvergleich einbezogen werden. So etablieren sich dauerhafte Leistungshierarchien, die dem Leistungsvergleich der Besten einen stufen- oder pyramidenförmigen Unterbau der Fast-Besten, Guten und weniger Guten unterlegen (z.B. dem Weltcup im Biathlon den Europacup; z. B. der Bundesliga im Handball die 2. Liga, die Regionalliga etc.). Nur auf dieser Grundlage konnte sich auch das Zuschauerinteresse schrittweise lösen von der Verankerung in externen Referenzen, etwa traditionellen Dorfrivalitäten (zur Übergangsphase um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vgl. Laurans 1990). Auf diese und andere Innovationen wird daher noch mehrfach zurückzukommen sein. Aber was genau geschieht, wenn Leistung in Wettkampfform kommuniziert wird? Die Wettkampfform bringt „Sieger und Besiegte oder aber Bessere und Schlechtere durch Konfrontation zur Unterscheidung" (Eichberg 1984: 97). „Konfrontation" heißt, das mindestens zwei Teilnehmer benötigt werden; und „zur Unterscheidung bringen" impliziert die Kriterien eines Vergleichs, durch den Leistungen mehrerer Teilnehmer vergleichbar und als verglichene unterscheidbar werden (zur Bedeutung des Vergleichsprinzips vgl. auch Krockow 1972). Vergleichsarrangements Wettkämpfe sind demnach mit einer Besonderheit, die sportliche Wettkämpfe von anderen Vergleichsarrangements unterscheidet: Sie arrangieren den Vergleich von Leistungen, indem sie auf einer raum-zeitlichen Sinninsel (von 10 Sekunden beim 100-Meter-Lauf bis zu mehreren Tagen bei einem Cricket-Spiel) eine Leitunterscheidung (Leistung/Nicht-Leistung) in eine andere (Sieg/Niederlage) überführen. 10 Die Reduktion des Handlungssinns auf Leistung, die den Sport auszeichnet - Leisten als Leisten - wird durch die Wettkampfform also gleichsam perfektioniert oder technisiert, indem der Leistungssinn zusätzlich auf den Sinn des Siegens reduziert wird. 11 Die Wettkampf10 Für die Abgrenzung von verwandten Formen wie Gesellschaftsspielen, Gesangswettbewerben oder FernsehQuizsendungen, wo ja ebenfalls Leistungen und bisweilen auch körperliche Leistungen verglichen sowie Sieger ermittelt werden, ist hier kein Raum. Der Grundgedanke ist aber stets, dass sich nur sportliche Wettkämpfe in den Kontext kontinuierlicher Leistungsvergleiche und Leistungshierarchien fügen und damit auf Mittel der Sinnreduktion auf Leistung, insbesondere evaluative Kriterien von Höchstleistung, zurückgreifen können, die den Alternativformen nicht zur Verfügung stehen. Zur Unterscheidung von Sport und Spiel unter diesem Gesichtspunkt pointiert Hahn (2002: 31): „Man kann Fußball spielen oder ihn als Sport betreiben." " Riedl/Cachay (2002: 31) schlagen daher vor, von Sieg/ Niederlage als „Zweitcodierung" zu sprechen - eine
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form verbindet dabei extreme programmatische Wiederholung (der Regeln; der Taktiken/Strategien; der Bewertungskriterien etc.) mit der Garantie der Einmaligkeit (Neuheit, Informativität) jedes einzelnen Wettkampfes - des Wettkampfereignisses. Zur Vervollständigung des Bilds von der Spezifität des Sports lohnt sich ein Seitenblick zur Kunst. In genauer Parallele zur Unterscheidung seiner zwei Operationsformen teilt der Sport mit der Kunst die Eigenart, primär auf Wahrnehmungsmedien für die Selbstdarstellung zurückzugreifen: Sehen und Hören im Fall der unterschiedlichen Kunstarten, Sehen im Fall des Sports. Jede kommunikative Beobachtung, Bewertung und Kritik sportlicher Wettkämpfe muss den Umweg über die visuelle Wahrnehmung des Leistungshandelns nehmen. Man kann durchaus hörend und lesend - etwa über Radioübertragungen, über Zeitungslektüre - Sport erleben, aber immer nur vermittelt über einen Dritten, der hinsieht und darüber spricht und schreibt. 12 Dass die primäre Rezeption über Wahrnehmung, nicht Sprache, läuft, eröffnet in beiden Fällen, der Kunst wie dem Sport, eine Form der Kommunikation über Kunstwerke bzw. über Leistung, die nicht auf Reden und Schreiben reduziert werden kann: das gemeinsam-objektzentrierte Wahrnehmen (vgl. zur Kunst Luhmann 2001: 210), mit dem man anderen auch ganz ohne Worte signalisieren kann, dass das Kunstwerk/der Wettkampf Aufmerksamkeit, Interesse oder Begeisterung verdienen. Insgesamt ergibt sich damit folgendes kursorisches Bild der sachspezifischen Sinnbezüge des Sports. Immer geht es um Leistungskommunikation unter Verzicht auf externe Referenzen: um „Leisten als Leisten". Operativ vollzieht sich diese Leistungskommunikation in zwei Formen mit jeweils zwei Abwandlungen: als (1) Kommunikation von Leistungsfähigkeit, meist mit dem Körper, entweder (a) wettkampfförmig oder (b) außerhalb von Wettkämpfen; sowie als (2) Kommunikation über Leistungsfähigkeit, entweder als (a) Reden und Schreiben über Leistung oder als (b) gemeinsam-objektzentriertes Wahrnehmen von Leistung. Für den Sport als Zuschauerattraktion ist entscheidend, dass er auf die Wettkampfform und auf Formen der Wettkampforganisation zur Plausibilisierung von Leistungsunterschieden zurückgreifen kann. Die Wettkampfform und ihre strukturellen Weiterungen Formulierung, die übrigens den Versuch nahe legt, den Wettkampfsport selbst als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium zu analysieren. 1 2 Was die mediale Vermittlung auch des Hinsehens nicht ausschließt, so z. B. durch das Fernsehen; vgl. näher IV.
muss folglich in erster Linie analysieren, wer die globale Prominenz des Zuschauersports erklären will. 2.2 Universalität: Die W e l t des Weltsports
Inwiefern kann von „Universalität" des Sports die Rede sein, und wie hängen Universalität und Globalität zusammen? Eine erste Fassung ergibt sich mehr oder weniger direkt aus den soeben erläuterten sachspezifischen Sinnbezügen: Wenn das Leistungsprinzip das Systembildungsprinzip des Sports ist und wenn der Leistungsgedanke des Sports ein Steigerungsgedanke ist, dann muss der Universalitätsanspruch des Sports ein Steigerungsanspruch sein. Die Konzentration auf sachliche Gesichtspunkte impliziert dabei die Möglichkeit von Universalität unter anderen (sozialen, zeitlichen, räumlichen) Gesichtspunkten. Ganz allgemein könnte man den daraus resultierenden Anspruch, verteilt auf unterschiedliche Sinndimensionen, so beschreiben: Jeder kann seine Leistungsfähigkeit verbessern (sozial), kann es jederzeit (zeitlich) und überall (räumlich). An diesen Formulierungen lässt sich schon ablesen, dass die Universalität, um die es hier geht, die phänomenologische Form eines Möglichkeitsraums bzw. Horizonts annimmt, d.h. eines Verweises auf nicht aktualisierte, aber prinzipiell gegebene Möglichkeiten. Definiert man, wie in der soziologischen Systemtheorie üblich, Welt als unerreichbaren Letzthorizont (vgl. Luhmann 1975), gilt demnach für den Sport, dass seine Welt ein Leistungshorizont ist. Was folgt daraus für den Wettkampf- und Zuschauersport? Da die Wettkampfform im Kern ein Vergleichsarrangement ist und die Welt des Sports ein Leistungshorizont, ist die Welt des Wettkampfsports ein Leistungsvergleichshorizont. Die Kurzfassung des Universalitätsanspruches lautet entsprechend: Der Beste von allen soll ermittelt werden (sozial); der Beste auf der ganzen Welt wird gesucht (räumlich); und der Beste aller Zeiten auch (zeitlich). Sport ist demnach Weltsport, wenn er über seine Wettkampforganisation (seine Leistungshierarchien, seine Ligensysteme, seine Großereignisse, seine Weltranglisten etc.) einen Höchstleistungshorizont erschließt, auf Dauer stellt und soweit ausdehnt, dass er nur an den Grenzen kommunikativer Erreichbarkeit, nicht an territorialen oder sozialen Grenzen, halt macht. Diesem Anspruch entspricht, dass „die Welt" als Letzthorizont des Leistungsvergleiches im Sport weitgehend selbstverständlich geworden ist. Olympische Spiele, Weltmeisterschaften, „offene" Turniere etc. in sämtlichen Sportarten
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Tobias Werron: Der Weltsport und sein Publikum
und Disziplinen erschließen den Horizont und kontinuierliche Wettkampfformen wie Ligen und Serien sorgen zugleich dafür, dass er als Hintergrundvorstellung auch bei Wettkämpfen auf lokaler bzw. regionaler Ebene stets mitläuft. Kaum eine Wettkampf- und Zuschauersportart kommt ohne einen solchen Horizont aus. So gesehen, als „Weltleistungsvergleichsarrangement", ist fast jede Sportart Weltsport. Zur Beschreibung dieses Universalitätsanspruches stößt man im Sport auf skurrile Sonderfälle von Weltbegriffen, die den Vorrang des Leistungsgedankens reflektieren, darunter Begriffe, die wie erfunden zu sein scheinen zur Illustration der phänomenologischen Bestimmung von Welt als Projektion eines Horizonts (für weitere instruktive Beispiele „projektiver Weltbegriffe" vgl. Stichweh 2000b). So wird in den Profiligen der amerikanischen Mannschaftssportarten eine „World Series" (Baseball) ausgespielt bzw. der „World Champion" (Basketball) ermittelt, obwohl ausschließlich nordamerikanische Profimannschaften zum Spielbetrieb zugelassen sind. Was wie Weltignoranz erscheinen mag, sind Weltentwürfe in Form von Leistungsanmaßungen, mit denen behauptet wird, dass es unter den ausgeschlossenen Mannschaften der alten und sonstigen Welt keine gibt, deren Leistungsfähigkeit zum Erreichen der Finals bzw. zum Gewinn des Titels ausgereicht hätte. Historisch mag diese Semantik auch mit der traditionellen Selbstgenügsamkeit des amerikanischen Profisports zusammenhängen (vgl. Markovits/Hellerman 2002). In der Welt des Weltsports erscheint sie zugleich wie eine funktionsspezifische Heimat des amerikanischen Isolationismus nach dem Motto: Die USA sind in der Welt, aber die National Basketball Association (NBA) ist eine Leistungswelt für sich. In Begriffen wie diesen, mit denen der Weltleistungsvergleichshorizont benannt und bisweilen auch umkämpft wird, 1 3 berühren sich Universalität und Globalität und gehen ineinander über. Vielleicht am deutlichsten werden die Berührungspunkte an dem geläufigen Attribut „Weltklasse". Das ist einerseits ein Begriff, der den Höchstleistungshorizont der jeweiligen Sportart benennt und vergegenwärtigt (was er mit „Weltmeisterschaften" oder „Weltrekorden" oder auch dem „wichtigsten Tennis13 Etwa zwischen unterschiedlichen „Weltmeistergürteln" unterschiedlicher Weltverbände im Boxen. Das kann beständige Unklarheit über den Status des weitbesten Boxers und den Ruf nach „Vereinigungskämpfen" zur Folge haben, aber auch eine subtile evaluative Einstufung der Gürtel/Verbände nach Wichtigkeit.
turnier der Welt" gemeinsam hat). Seine Verwendung ist aber nicht auf Wettkämpfe beschränkt, bei denen tatsächlich die Weltbesten ermittelt oder Weltbestleistungen erzielt werden. Er kann vielmehr auch bei Wettkämpfen, deren Weltbezug auf den ersten Blick nicht einleuchten mag (etwa einem Spiel einer deutschen Fußball-Bezirksliga), zu den ehrenvollsten Attributen gehören, die sich ein Sportler verdienen kann - wenn er hier auch wahrscheinlich auf einzelne Leistungshandlungen (etwa einen gelungenen „Fallrückzieher" oder einen „Sonntagsschuss") beschränkt bleiben wird. „Weltklasse" ist also ein Begriff, der den Höchstleistungshorizont (als Möglichkeits-, Selektions- oder Relevanzraum) bei jeder „lokalen" Gelegenheit vergegenwärtigen kann und zugleich daran erinnert, dass dieser Maßstab umso plausibler ist, wenn er keine territorialen Grenzen akzeptiert. 14 Mit solchen und verwandten Begriffen ist auch schon ein erster Aspekt der Globalität des Weltsports bezeichnet - die Selbstbeschreibung des Weltsports als Weltsport - , der unterstreicht, dass die Globalität des Sports nur vor dem Hintergrund seines sachspezifischen Universalitätsanspruches angemessen zu verstehen ist.
2.3 Globalität
Wie hängen Universalität und Globalität zusammen? Wie lassen sie sich überhaupt sinnvoll unterscheiden, wenn sie doch in den Selbstbeschreibungen des Sports zusammenfallen? Eine fruchtbare Fassung der Unterscheidung könnte lauten: Universalität verhält sich zu Globalität wie ein Anspruch zu seiner Wirklichkeit. Damit wird natürlich nicht dem Anspruch seine Wirklichkeit abgesprochen, die ja soeben am Beispiel von Weltbegriffen eigens belegt werden sollte. Vielmehr wird zwischen zwei Dimensionen systemspezifischer Realität unterschieden: Während Universalität die Projektion eines globalen Möglichkeitshorizonts bezeichnet, meint Globalität die strukturelle Konkretisierung dieser Projektion. Die folgende Sammlung von Aspekten von Globalität sol! diese Unterscheidung und den Zusammenhang beider Begriffe veranschaulichen und zugleich Ausgangspunkte für die
14
Eine laufende semantische Bestätigung für diese Begriffsverwendung bietet das Sportmagazin „Kicker", das zwei Mal im Jahr die besten Spieler der Fußball-Bundesliga ihrer „Klasse" nach einteilt: Die höchste, selten erreichte Klasse ist die „Weltklasse", die zweithöchste die „Internationale Klasse" - wie um eigens zu dokumentieren, dass Höchstleistungskriterien auf Grenzenlosigkeit angewiesen sind.
268 publikumsinklusionstheoretischen markieren.
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 260-289 Überlegungen
2.3.1 Sachliche Aspekte: Horizont und Diversität Ein erster sachlicher Aspekt von Globalität ist, wie der Höchstleistungshorizont (globale Relevanzraum) des Wettkampfsports erschlossen und unterhalten wird. Dabei kann von einem Horizont nur eingeschränkt die Rede sein. Zwar werden bisweilen Listen von den „größten Sportlern aller Zeiten" erstellt, „Weltsportler des Jahres" (Laureus-Award) oder auch kontinentale, nationale und lokale „Sportler des Jahres" ausgezeichnet. Der Sport kennt also durchaus eine Ebene, auf der Leistungen disziplinübergreifend verglichen werden. Aber als sportlicher Leistungshorizont taugen solche Listen, Preise und Auszeichnungen kaum, wie auch daran deutlich wird, dass nicht, wie sonst üblich, Tore, Zeiten oder Kampfrichter, sondern das Publikum oder Journalisten entscheiden müssen, ob z. B. der Tour de France-Sieg eines Radfahrers höher zu bewerten sei als drei olympische Medaillen einer Schwimmerin. Es fehlen auf dieser Vergleichsebene Mittel der Sinnreduktion auf Leistung, auf die der Sport als sachspezifischer Kommunikationszusammenhang angewiesen ist und die offenbar nur durch den Vergleich von Wettkampfleistungen nach einheitlichem Regelwerk durchgesetzt werden können. Die zentrale Vergleichsebene ist folglich nicht „der Sport", sondern sind einzelne Sportarten und Disziplinen mit ihren je eigenen evaluativen Kriterien. Anders formuliert: Die Welt des Sports ist differenziert in eine Vielzahl von Welten, und diese Teilwelten sind es, die den Höchstleistungshorizont bestimmen. Drei gemeinsame Merkmale, die unterschiedlich ausgeformt und inszeniert werden können, scheinen dabei für alle Sportarten unverzichtbar zu sein: Die interne Differenzierung in (1) Leistungshierarchien (z.B. im Fußball von der UEFA-Champions-League über Fußballbundesliga, zweite Bundesliga, Regionalligen bis hinunter zur Vielzahl der Kreisligen), (2) kontinuierlicher Leistungsvergleich in Wettkampfserien und/oder LigaSystemen, sowie das Herausragen von (3) Weltund Großereignissen (z.B. Olympische Spiele, die für viele Sportarten zentrale Höhepunkte des Leistungsvergleichs der Weltbesten sind, aber auch Weltmeisterschaften oder Grand Slam-Turniere im Tennis oder Major-Turniere im Golf). 15 Erst die Summe dieser Horizonte ergibt die Welt des Sports.
15
Was die Kontinuität des Leistungsvergleichs betrifft, ist eine A u s n a h m e vielleicht für das Profi-Boxen zu konzedieren, das sich v. a. auf unregelmäßige Titelinhaber-Heraus-
Im Verhältnis des Sports zu seinen Sportarten dokumentiert sich erneut und in doppelter Hinsicht die zentrale Bedeutung der Wettkampfform. Zunächst in dem oben schon hervorgehobenen Sinne, wonach das Prinzip, Leistungs- und Siegescode in der Wettkampfform aufeinander zu beziehen, in allen Sportarten aufgegriffen und realisiert wird; dann insofern, als dieses Arrangement in unterschiedlichen Regeln und Wettkampforganisationen realisiert wird, auf die unterschiedliche Trainingsprogramme bzw. Wettkampfstrategien und unterschiedliche evaluative Kriterien reagieren müssen. Damit ist bereits eine erste, grundlegende Aussage zu den „key dichotomies" der oben skizzierten Globalisierungsdebatte formuliert: Ausgehend von der Sachspezifität des Sports wäre von „Homogenität" (Universalität, Sameness, diminishing contrasts, Unifizierung etc.) zunächst insofern zu sprechen, als allen Sportarten gemeinsam ist, auf wettkampfförmige Leistungsvergleichsarrangements und entsprechende Organisationsformen zurückzugreifen. Zugleich ist „Heterogenität" (Partikularität, Differences, Diversifizierung etc.) zu konstatieren, insofern alle Sportarten diese Formen unterschiedlich ausfüllen und offenbar erst auf diese Weise (durch unterschiedliche Reglements, unterschiedliche Taktiken/Strategien, unterschiedliche Körperbilder und Stile, durch je eigene Rekorde, Statistiken, Legenden etc.) jene Sinnreduktion auf Leistung realisieren, die der Welt des Sports als eigener Welt Konturen gibt. Dabei zeigt sich, dass, wenn das Wettkampfprinzip und seine Formen organisatorischer Perpetuierung erst etabliert sind, der Erfindung und weltweiten Verbreitung neuer Sportarten im Prinzip keine Grenzen gesetzt sind. Die Welle immer neuer, häufig „Modesportarten" genannter Disziplinen und die immer neu aufflammende Diskussion um die Zulassung neuer Sportarten zu bzw. die Entfernung alter Sportarten aus den Olympischen Spielen bietet eine empirische Bestätigung für dieses Prinzip. 16 Mit Blick auf den Sport kann man die vorsichtige Prognose Rudolf Stichwehs, dass unter Bedingungen funktionaler Differenzierung weder mit Vereinheitlichung noch mit prinzipieller Divergenz, sondern mit „progressiver Diversifizierung" zu rechnen sei (Stichweh 2004), daher nur unterstreichen. Sie wird mit einer Kontrollfrage noch plausibler: Wie hätte
forderer-Duelle stützt, freilich auf der Grundlage von Weltranglisten, eines hierarchisierten Titelsystems sowie geregelter Pflichtverteidigungen. 16 Die bei entsprechender Popularität und zügiger Professionalisierung auch schnell zur A u f n a h m e unter die O l y m pischen Sportarten f ü h r e n k a n n , so z.B. im Fall von Beachvolleyball oder M o u n t a i n b i k e .
Tobias Werron: Der Weltsport und sein Publikum man sich Bedingungen vorzustellen, unter denen die Zahl der Sportarten klein und überschaubar und konstant bliebe? Es wäre wohl eine Art zentrale Weltsportregierung vorauszusetzen, etwa ein Globales Olympisches Komitee (GOK), das sich auf einige wenige zulässige Sportarten und Disziplinen festlegte, die Ausübung aller anderen verböte, diese Festlegungen mit eigener Polizeigewalt durchsetzte, andere Sport-Weltverbände als Unterverbände behandelte und im übrigen sorgfältig darauf achtete, dass andere, konkurrierende Organisationen mit ähnlichen Ansprüchen nicht entstünden. Von solchen hegemonialen Verhältnissen sind wir so weit entfernt, dass Überlegungen wie diese fast absurd erscheinen. Statt dessen ist funktionsspezifische Diversifizierung zu beobachten oder, wie Stichweh an anderer Stelle formuliert, „Dezentralisierung in Funktionssystemen" (Stichweh 2000a). Diese These, mit der die in der Globalisierungsdebatte mehr umkreiste als beantwortete Frage nach der Gleichzeitigkeit von Vereinheitlichungsund Diversifizierungstendenzen in eine begrifflich präzise und empirisch überprüfbare Form gebracht wird, lässt sich in einer Analyse einzelner Sportarten weiterverfolgen. Das kann hier nur angedeutet und mit einigen Beispielen illustriert werden. Der Ausgangsgedanke ist: Alle Sportarten sind auf Regeln angewiesen, durch die Leistungen unter sportarttypischen Gesichtspunkten vergleichbar werden. Jeder Wettkampf vollzieht diese Regeln mit. In diesem präzisen Sinne könnte man wiederum von Homogenisierung oder gar Standardisierung sprechen, 17 deren Funktion jedoch darin besteht, Leistungsunterschiede sichtbar zu machen, also Diversität zu produzieren (vgl. auch Brunsson 2000: 148). Wiederum ergibt sich ein Verhältnis der Vereinheitlichung und Diversifizierung von Sinnbezügen, jetzt konkretisiert auf einzelne Sportarten und deren globale Vergleichszusammenhänge. 18 Für Regeln der Verbände, Taktiken/Strategien
17 Eine ganz andere Frage ist, ob auch Zentralisierung der Regelsetzung, z.B. über einen „Weltverband", erforderlich ist. Das ist empirisch meistens, aber nicht ausnahmslos der Fall, nicht z. B. im Golf, wo sich der Amerikanische Golfverband und ein alter schottischer Golfclub (St. Andrews) die Überwachung der Regeln teilen. Die organisatorische Zentralisierung scheint entbehrlich, solange hinreichende Verbindlichkeit der Regeln gewährleistet und der weltweite Vergleichszusammenhang gesichert ist. 18 Damit ist nicht gesagt, dass alle in den Regeln vorgesehenen Vergleichskriterien sich allein aus dem Leistungsprinzip deduzieren ließen. Die Unterscheidung von Gewichtsklassen im Gewichtheben oder Boxen mag z. B. unter Leistungsgesichtspunkten einleuchten oder auch die
269 der Sportler und Kriterien der Evaluation (zu dieser Dreiteilung vgl. Cachay/Thiel 2000: 137ff.) gilt dabei gleichermaßen, dass sie im Moment, da sie zu Strukturelementen des globalen Vergleichszusammenhangs werden, unter Sachgesichtspunkten, hier: Leistungsgesichtspunkten beobachtet werden und Fragen der Herkunft einzelner Innovationen wie von selbst in den Hintergrund treten. Und anders als anderen Erfindern stehen den Sportlern, Vereinen oder Verbänden nicht einmal Patente zur Verfügung, um strategische Vorteile dauerhaft gegen Imitation abzusichern. Entsprechend verschwimmt in den Geschichten, die der Sport über sich selbst erzählt, häufig die „wirkliche" Herkunft von Innovationen, wird z.B. das 4 - 2 - 4-System im Fußball in der Regel den Brasilianern zugeschrieben, die mit ihm 1958 ihre erste Weltmeisterschaft gewannen, während es tatsächlich wohl von Paraguay beim Gewinn der Südamerika-Meisterschaft 1953 eingeführt worden ist. 19 Gilles Deleuze hatte daher guten Grund zu der Bemerkung, der Sport lege „eine bemerkenswerte Undankbarkeit gegenüber den Erfindern an den Tag" (Deleuze 1993: 92). In Theoriesprache formuliert: Der dezentralisierende Effekt, der von sachspezifischen Kommunikationszusammenhängen ausgeht und zur Folge hat, dass „Variation von überallher kommen" kann (Stichweh 2000a: 262), lässt sich hier prototypisch beobachten. 20 Die Geschwindigkeit, in der sich der Aufstieg des Sports und die Diffusion einzelner Sportarten, Taktiken
Unterscheidung nach Geschlechtern in der Leichtathletik. Aber warum bedarf es geschlechterspezifischer Konkurrenzen in Schießwettbewerben, wenn im Reiten darauf verzichtet werden kann? Und warum gibt es Leichtgewichtsrudern, aber kein Basketball für Kleinwüchsige? Letztlich verweisen die Regeln jeder Sportart auf eine Geschichte der Berücksichtigung/Nichtberücksichtigung von Leistungskriterien, deren Verständnis immer auch ein für Zufälle sensibles historisches (evolutionstheoretisches) Interesse voraussetzt. 19 Vgl. Giulianotti (1999: 137), der auch im übrigen die Benachteiligung des erfinderischen Paraguay in den Annalen des Fußballs bemängelt. 20 Dass dieser dezentralisierende Effekt auch mit einer Verschiebung der organisatorischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse zu Ungunsten der sog. westlichen Welt verbunden sein kann, wird an neueren Entwicklungen im Cricket deutlich; vgl. dazu Gupta 2004, der von einem „Rise of the Non-West" spricht. Wer dennoch an einer raumoder machtbezogen verstandenen Zentrum/Peripherie-Differenz mit „dem Westen" als Zentrum des Sports festhalten wollte, müsste mit Mut zur Paradoxie behaupten, dass das Zentrum des Cricket in der Peripherie des Sports angesiedelt ist. .
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und Evaluationskriterien im 20. Jahrhundert vollzogen hat, lässt zudem darauf vermuten, dass „Konvertibilitätsschranken" wie Sprachen und Währungen, auf die Alois Hahn (1993) als historische Bedingung der Globalität von Funktionssystemen aufmerksam gemacht hat, im Fall der primär nonverbal artikulierten und wahrnehmend rezepierten Leistungssprache des Sports eine untergeordnete Rolle spielen - und dass dieser Umstand zur heutigen globalen Sichtbarkeit des Sports entscheidend mit beigetragen hat (im Sinne der „Kontingenz des Globalen Populären", vgl. Stäheli 2000). 2.3.2 Soziale Aspekte: Inklusivität Dass der Universalitätsanspruch des Sports zur Globalität hindrängt, lässt sich an sozialen Aspekten von Globalität - an Inklusivitätsfragen - besonders anschaulich zeigen. Denn für sachspezifische Kommunikationszusammenhänge „hängt viel davon ab, wo sie Inklusionsadressen vermuten, die sie als relevante Andere wahrnehmen und deshalb zu erreichen versuchen" (Stichweh 2004: 4). Im Wettkampf- und Zuschauersport meint die Suche nach relevanten Adressen zunächst Suche nach leistungsfähigen oder potenziell leistungsfähigen Athleten, also Inklusivität auf Seite der Leistungsrollen. Von „Suche" kann dabei häufig in einem ganz wörtlichen Sinn die Rede sein: Talentspäher der Nordamerikanischen Profiligen z. B. fahnden den Globus nach begabten Spielern ab, um sie in amerikanischen High Schools, Colleges oder „Farm Teams" für den Ligabetrieb auszubilden. Viele Sportvereine und so gut wie alle Profivereine unterhalten eigene Jugendabteilungen und „Scouts", die ausschwärmen, um Talente oder fertige Sportler für den eigenen Wettkampfbetrieb zu finden, abzuwerben und unter Vertrag zu nehmen. Je nach sportlichen, wirtschaftlichen oder sonstigen Anreizen kann diese Suche eine eigene, funktionsspezifische Form der „talent migration" („leg drain") nach sich ziehen (vgl. Bale/Maguire 1994). Erfolg und Misserfolg bei der Suche nach geeigneten Leistungsadressen stehen in enger wechselseitiger Beziehung mit Projektion und Realisierung des Höchstleistungshorizonts. Der Anspruch z. B. von Weltmeisterschaften, Olympischen Spielen oder amerikanischen Profiligen, weltweit das höchste Leistungsniveau zu repräsentieren, wird einerseits auf Dauer davon abhängen, dass es gelingt, die als weitbeste anerkannten Spieler in das Ereignis oder den Ligaverband zu inkludieren. Umgekehrt dient aber auch die Projektion ihrerseits als Inklusivitätsanreiz. Denn solange die Projektion plausibel ist, gilt: wer zu den besten Spielern der Welt zählen
will, muss in der amerikanischen Profiliga spielen, und wer die besten Mannschaften der Welt sehen will, muss sich die Spiele dieser Liga anschauen. 21 Dieser zirkuläre Zusammenhang von Weltprojektion, sachlicher und sozialer Globalität ist verallgemeinerungsfähig: Ein sich „Weltmeisterschaft" nennendes Sportfest, an dem ausschließlich Bielefelder Soziologen teilnähmen, hätte kaum Chancen, mit seinem Höchstleistungsanspruch Ernst genommen zu werden - und fände kaum ein Publikum, das bereit wäre, es als sportliches Weltereignis wahrzunehmen. Der letztgenannte Aspekt leitet zur Inklusivität des Publikums über. Ihr wird sich der zweite Hauptteil des Beitrages ausführlich widmen. Eine grundsätzliche Bemerkung sei jedoch mit Blick auf den hier erörterten Zusammenhang von Universalität und Globalität schon vorangeschickt. Sie betrifft wiederum eine typische Eigenschaft von Sportwettkämpfen, nämlich ihre Offenheit bzw. Zugänglichkeit für das Publikum. Von „Geheimtraining" hört man häufig, von „Geheimwettkämpfen" dagegen selten. 22 Die Ideen des Sports - die Kommunikation von Leistungsfähigkeit, die Prominenz des Leistens als Leisten - implizieren offenbar die Öffentlichkeit der Leistungshandlungen. Wenn einer seine Leistungsfähigkeit geheim halten will: weshalb sollte er sie auch kommunizieren wollen? 23 Mit dieser prinMan könnte daher annehmen, dass sich im Fall der NBA (und ähnlich auch im Eishockey [NHL], Baseball [MLB] und Football [NFL]) über den Umweg der Inklusion der weitbesten (auch nicht-amerikanischen) Spieler in nordamerikanische Profi-Mannschaften bereits eine globale Liga etabliert hat. Eine ähnliche Konstellation ist im Sumo-Ringen zu beobachten, wo das Weltniveau von der höchsten Japanischen Liga (Makuuchi-Division) vertreten wird, sowie der Tendenz nach auch in der europäischen „Champions League" im Fußball. 2 2 Soweit man von „geheimen" Sportveranstaltungen hört, scheint es um Geheimhaltung nicht vor dem Publikum, sondern vor der Polizei zu gehen, etwa bei verbotenen Kampfsportarten wie „Ultimate Fight". Ausnahmsweise wird der Ausschluss des Stadionpublikums angeordnet, aber nicht als umfassender Ausschluss von Öffentlichkeit, sondern als Strafmaßnahmen für vorangegangenes Fehlverhalten der Fans einzelner Vereine. Deshalb können solche Spiele auch im Fernsehen übertragen und als Ausnahmesituation bemerkt werden („Geisterspiele"). 2 3 Man könnte sich solche Fälle vorstellen, z.B. einen Langstreckenläufer, der seine Bestzeit verbessern möchte, und dem es peinlich ist, nicht schneller zu sein, als er noch ist, daher nachts allein im Wald trainiert und kommunikative Anschlüsse nur dadurch ermöglicht, dass er Freunden unter dem Siegel der Verschwiegenheit von seinen einsamen Runden erzählt. Auch dieser Fall ergibt aber nur einen sporttypischen Sinn, wenn man unterstellt, dass der 21
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zipiellen Offenheit der Wettkämpfe für ihr Publikum hängt auch zusammen, dass sportliche Wettkämpfe, ähnlich wie Kunstwerke, ohne Publikum kaum vorstellbar sind, ja, nimmt man den erstaunten Unterton in einem Begriff wie „Geisterspiel" zum Maßstab, nicht einmal ohne körperliche Kopräsenz eines Teils des Publikums. Und je mehr Zuschauer, je größer das Publikum, desto besser.24 Das Hindrängen zur globalen Inklusivität, das für die Leistungsrollenseite konstatiert wurde, gilt also umso mehr für das Publikum. 2.3.3 Zeitliche Aspekte: Ereignisse, Ereignisreihen und Gedächtnisse Zeit hat in den vorangegangenen Ausführungen schon mehrfach explizit oder implizit eine Rolle gespielt. Von Globalität zeitlicher Aspekte kann dabei insofern gesprochen werden, als der globale Selektionshorizont, der den Sport als Weltsport konstituiert, eine eigene Zeitlichkeit einschließlich eigener Begriffe von Zeit hervorbringt, ohne die er nicht angemessen zu verstehen wäre. Drei zentrale Aspekte dieser sportspezifischen Zeitlichkeit seien noch einmal hervorgehoben. (1) In der Ereignishaftigkeit der Wettkampfform liegt ein spezifischer Gegenwartsbezug begründet. Von früheren Erfolgen „kann man sich heute nichts mehr kaufen." „Weltklasse" lässt sich bei vielen Gelegenheiten andeuten, muss sich aber letztlich „im entscheidenden Moment", „wenn es darauf ankommt", v. a. anlässlich von Weltereignissen, immer neu beweisen. (2) Die Wettkampfereignisse formen sich auf der Basis kontinuierlichen Leistungsvergleiches in Ligasystemen oder Wettkampfserien zu Ereignisreihen, deren EinzelereigLäufer irgendwann, wenn er seine Zeiten für akzeptabel hält, den Wald zu verlassen und öffentlich seine Leistungsfähigkeit zu demonstrieren gedenkt - wie ja auch sonst „Geheimtraining" nur als Vorbereitung auf öffentliche Wettkämpfe zu verstehen ist. Kurz: Esoterischer Sport ist keiner. 2 4 Grundsätzlich also ist für den Sport jedes Publikum gutes Publikum bzw. nur Nicht-Publikum schlechtes Publikum. Daneben stellt sich aber auch aber die ständige Aufgabe der Unterscheidung eines sich richtig verhaltenden von einem sich unangemessen verhaltenden Publikum (vgl. historisch Guttmann 1986: 159ff.), die auf einen stets mitlaufenden Prozess der Bestimmung einer sporteigenen Publikumsakteursfiktion verweist; zu diesem Begriff vgl. Stäheli 2003. Er scheint gegenwärtig vor allem damit beschäftigt, gewalttätige oder aggressive Zuschauer, die einzelne Sportarten wie den Fußball in Verruf zu bringen drohen, als „Hooligans" zu identifizieren, ihnen den Status „echte Fans" abzusprechen, sie mit „Fanbeauftragten" sozial zu therapieren und notfalls mit Hilfe von Stadionverboten, Reise- und Einlasskontrollen ganz auszuschließen.
nisse rekursiv aufeinander verweisen. Deutlichster Ausdruck dieser Rekursivität ist die Saisonförmigkeit der Wettkampforganisation („Verbandsrunde", „Spielzeit", „regulär Season" etc.). Aus der Kontinuität dieser Vergleichspraxis folgt: Der nächste Wettkampf kommt bestimmt und „das nächste Spiel ist immer das schwerste." Das relativiert Siege, aber auch Niederlagen. Erfolg und Scheitern sind gleichermaßen immer neu auf dem Prüfstand, und es ist diese - bei Irreversibilität der Ergebnisse - gesicherte Revisibilität des Leistungsvergleiches, die einen zentralen Aspekt der Modernität des modernen Sports bezeichnet. (3) Jede Weltsportart ist auf ein eigenes Gedächtnis angewiesen, denn der kontinuierliche Leistungsvergleich ist abhängig von Leistungskriterien, die er der Vergangenheit entnimmt, um die Zukunft in der Gegenwart oszillieren zu lassen. „Rekorde" sind dabei nur eine und bei Weitem nicht die wichtigste der verfügbaren Gedächtnisformen, zumal Rekorde im engeren, Messbarkeit implizierenden Sinn nur in wenigen Sportarten zur Verfügung stehen. Dagegen ist es für alle Sportarten, vor allem für solche mit einem Massenpublikum, unverzichtbar, auf eine eigene Geschichte von Leistungen und Fehlleistungen verweisen zu können, an denen sich die Gegenwart messen kann: auf legendäre Mannschaften, große Athleten, ihre Namen, Körper und großen Szenen, ihre Duelle, Titel und Triumphe, ihre Niederlagen und Leiden. In diesem weiteren Kontext sind in einem ursprünglichen Sinn des Wortes dann auch Rekorde wichtig: in Form von Statistiken (Tabellen, Zweikampfwerten, Wurfquoten etc.), die benötigt werden, um auch die Vergangenheit des Sports auf Leistungen zu reduzieren.25 Diesen sportspezifischen Sinn für Geschichte machen sich auf der Publikumsseite auch Fandogmatiken zu nutze, wenn sie aus einer Vielzahl von Wettkämpfen rückblickend Identifikationsanlässe ziehen, die aus den Einzelwettkämpfen allein nicht verständlich wären. 2.3.4 Räumliche Aspekte: Ubiquitätund Lokalität An räumliche Aspekte wird man vielleicht zuerst denken, wenn man „Globalität" hört. Hier werden sie nicht zufällig als letzte behandelt. Denn wenn man einen Kommunikationszusammenhang als sachspezifisch beobachtet, kommen räumliche Aspekte nur in zweiter Linie und nur insofern in Betracht, als sie für sachspezifische Kommunikation relevant werden. 26 Zwei räumliche Aspekte von Vgl. als typisches Beispiel für diese Art Geschichtsschreibung: http://www.nba.com/history 2 6 Die Nachrangigkeit räumlicher gegenüber sachlichen und sozialen Aspekten an zwei Beispielen: Wessen Sportler 25
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Globalität könnte man im Fall des Wettkampfsports unterscheiden: Zunächst (1) Ubiquität, wenn es um die räumliche Verbreitung von Sinngehalten (beispielsweise die Austragung von Fußballspielen nach Fifa-Regeln in einem Land bzw. einer Region, wo zuvor nur Strand- oder Straßenfußball gespielt wurde) geht oder um die räumliche Ausweitung von Inklusivität (z.B. die Übertragung und Rezeption von „Champions League"-Spielen in China). In diesen beiden Hinsichten sind Räumlichkeitsaspekte eher derivative Aspekte, die sachliche oder soziale Globalität mit einem zusätzlichen räumlichen Index versehen. Ubiquität in diesem Sinne informiert letztlich nur darüber, inwiefern für die Verbreitung von Sinngehalten oder die Ausweitung von Inklusivität auch Raum (in Form von Stellen/Orten bzw. Plätzen, Städten, Landstrichen etc.) in Anspruch genommen werden muss. (2) Lokalität meint dagegen den Sachverhalt, dass der Wettkampfsport auch als globaler Vergleichszusammenhang auf die räumliche - und in diesem präzisen Sinn „lokale" - Situierung von Wettkämpfen angewiesen ist und auf diese Notwendigkeit eigener räumlicher Verortung mit eigenständigen Formen der Strukturbildung reagiert. In diesem zweiten Sinn, Lokalität, gewinnt Räumlichkeit eine eigenständigere Bedeutung, freilich nicht im Sinne eines Gegensatzes zu Globalität (bzw. Globalisierung), sondern als räumliches Strukturmerkmal von Globalität (bzw. eines sich globalisierenden Kommunikationszusammenhangs). Lokalität in diesem explizit räumlichen Sinn geht wiederum von einer Eigentümlichkeit der Wettkampfform aus, nämlich der, die Austragung des Wettkampfes an einem bestimmten Ort und die körperliche Anwesenheit der Wettkampfparteien an diesem Ort zwingend vorauszusetzen.27 Zwei Konsequenzen dieser Eigentümlichkeit sind zu unterscheiden. Lokalität erscheint zunächst als (1) körperlich-räumliche Kopräsenz der Sportler untereinander, häufig in Form von Interaktionssystemen (verstanden als Kommunikation unter Anwesenden, z.B. in Ballspielen wie Tennis oder Fußball) oder in Form „präkommunikativer Sozialität" (Kieserling 1999: 118ff.), wenn es - wie etwa beim
100-Meter-Lauf oder einem Rad-Zeitfahren - an wechselseitigen Anschlüssen der sportlichen Kommunikationen fehlt. 28 In beiden Fällen ist vorausgesetzt, dass die Sportler sich zur selben Zeit am selben Ort aufhalten müssen. In diesem Sinne verweist Lokalität auf die Abhängigkeit des Vergleichszusammenhangs von modernen Personentransportmitteln, vor allem für die Institutionalisierung kontinuierlichen Leistungsvergleichs auf Weltniveau: Ohne Flugzeug keine „ATP-Tour" und keine „UEFAChampions League", ohne Bahn und Automobil nicht einmal nationale Ligen. Schon deshalb hätte man sich einen von körperlicher Kopräsenz abhängigen globalen Vergleichszusammenhang wie den Sport vor Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts kaum vorstellen können. Zweitens, und für unser Interesse am Publikumsinteresse noch wichtiger, realisiert sich Lokalität als (2) körperlich-räumliche Kopräsenz der Sportler mit dem Publikum, genauer: mit demjenigen Teil des Publikums, das die Wettkämpfe in Stadien, Hallen oder an anderen Wettkampfschauplätzen „live vor Ort" verfolgt. Es liegt auf der Hand, dass diese räumliche Kopräsenz eigene Formen der Publikumsinklusion ermöglicht, von denen zu fragen ist, wie sie sich zu anderen, von Verbreitungsmedien wie Tagespresse, Radio, Fernsehen oder Internet ermöglichten Inklusionsformen verhalten. Was lässt sich aus dieser Skizze zum Weltsport über sein Publikum lernen? Zunächst, dass Begriffe des Sportpublikums aus einer Analyse des globalen Kommunikationszusammenhangs des Sports heraus entwickelt werden müssen. Dann, dass beide Analyseschritte das Verständnis der Wettkampfform und ihrer organisatorischen Weiterungen voraussetzen. Unser Versuch, diese Analyse in verfeinerte Begriffe des Publikums zu verlängern, beginnt daher mit einer Rückblende auf die Kernelemente der Wettkampfform - jetzt bezogen auf das Erleben des Publikums.
3. Publikum: Inklusionsvarianten 3.1 Erlebniswerte
nicht qualifiziert sind, dessen Land kommt nicht auf die Landkarte der Leichtathletik-Weltmeisterschaften; wessen Verein absteigt, dessen Stadt verschwindet von der Landkarte der Bundesliga. 2 7 Eine Ausnahme wäre nur zuzugeben, wenn man Fernschach o.ä. unter die sportlichen Wettkämpfe rechnete. Dann freilich wäre umso instruktiver, dass alle Sportarten, die auf ein größeres Publikum rechnen können, auf die körperliche Anwesenheit der Wettkampfparteien gerade nicht verzichten.
„Erleben" deutet, in der hier verwendeten Begriffsfassung, auf eine weitere instruktive Gemeinsamkeit von Sport und Kunst. Für den Wettkampfsport Wobei fehlende Interaktion im Wettkampf Interaktion vor und nach den Wettkämpfen nicht ausschließt, z. B. in Form von Einschüchterungsversuchen, Begrüßungen oder Gratulationen.
28
273
Tobias Werron: Der Weltsport und sein Publikum Kontingenzwert
Leistungswert Hierarchien
Serien/Ligen
Fandogmatiken
Großereignisse
Identifikationswert
gilt wie für die Kunst, dass seine Trennung von Leistungs- und Publikumsrollen mit der Unterscheidung von Handeln und Erleben weitgehend zusammenfällt 29 : Künstlern wird Handeln, dem Kunstpublikum Erleben zugerechnet, ebenso handeln was Leistung betrifft - die Sportler, während Sportzuschauer erleben. Die Verantwortung ist, dieser attributiven Ordnung nach, zunächst eindeutig verteilt, und die Interaktion in den Stadien wie auch die Berichterstattung in den Massenmedien wird erst als Ausdruck dieser Verantwortungsverteilung angemessen interpretierbar, von kultischer Verehrung über wohlwollende Unterstützung und skeptisches Interesse bis zur beißenden Kritik. Wenn hier von „Erlebniswerten" die Rede ist, liegt diese attributionstheoretische Einsicht zugrunde. Gemeint sind folglich nicht psychisches Erleben, „Gefühle" oder „Erregungen", sondern soziale Erlebniswerte, die sich auf die Grundform der Wettkämpfe beziehen und daher als spezifische Erlebniswerte des Sports gelten können. Damit zurück zur Grundform der Wettkämpfe. Sie lässt (1) Leistungshandlungen durch Arrangement eines (2) Vergleiches mindestens zweier Leistungsparteien (3) ereignishaft auf die (4) offene Unterscheidung von Siegern und Verlierern zulaufen. Wenn Zuschauer hinzukommen, wird aus dieser Grundform eine Triade (vgl. Bette/Schimank 2000: 308): Mindestens zwei Wettkampfparteien steht mindestens ein Zuschauer gegenüber. Das Erleben dieses Zuschauers kann sich, der Grundform entsprechend, beziehen auf: (1) Leistungsfähigkeit, die in der Wettkampfform mitgeteilt wird {Leistungswert); (2) Ungewissheit, ob und wie die Leistungsintention sich im Ergebnis erfüllt (Kontingenzwert); (3) Mit-Triumphieren (und Mit-Leiden), wenn und soweit er sich mit einer der Seiten des Leistungsvergleiches identifiziert (Identifikationswert); (4) Ereignishaftigkeit, die mit Startschuss oder Anpfiff beginnt und auf der Ziellinie oder mit dem Abpfiff endet (Präsenzwert). Es ergibt sich folgende Übersicht von Erlebniswerten und zugehörigen evolutioZum attributionstheoretischen Hintergrund der Unterscheidung Handeln/Erleben vgl. Luhmann 1981; zur Unterscheidung von Leistungs- und Publikumsrollen grundlegend Stichweh 1988. 29
Abb. 1 Erlebniswerte und Stabilisierungsmechanismen des Wettkampfsports
Präsenzwert
nären Stabilisatoren, die in den folgenden Absätzen knapp erläutert werden soll: 30 3.1.1 Leistungswert Dass der Leistungswert auch als Erlebniswert wirksam wird, ist leicht daran zu erkennen, dass es in der Regel nur dem Spitzensport gelingt, ein größeres Publikum für sich zu interessieren. Das kann man selbstverständlich finden, macht aber deutlich, dass nur Höchstleistungen mit globalem Interesse rechnen können, und zwar unabhängig davon, ob und wie diese Leistungen sich im Einzelnen objektivieren, messen oder sonst quantifizieren lassen (es gilt für die Leichtathletik ebenso wie für Ballsportarten oder Eiskunstlaufen).31 Auch bei Sportarten, die auch auf unteren Leistungsebenen Zuschauer finden, steigen die Zuschauerzahlen an, je höher man auf der Leiter der Wettkampfhierarchie aufsteigt (im Fußball z.B. von engen Bekannten und Verwandten der Sportler in den untersten Klassen über 200 Besucher und einigen Zeitungslesern bei einem Bezirksligaspiel über 50.000 Stadionbesuchern zuzüglich einigen Millionen Fernsehzuschauern bei einem Bundesligaspiel bis hin zum Milliardenpublikum eines WM-Finales). Mit Blick auf das Bezugsproblem des Sports könnte man vom Leistungswert auch als dem „Urerlebniswert" des Sports sprechen: demjenigen Erlebniswert, der mit dem Problem des Sports, Leisten als Leisten zu kommunizieren, unmittelbar korrespondiert. Im Kern ist es der Wert, nicht die Guten, sondern die Besten zu sehen. 32 Das ist nicht parsonianisch-analytisch gedacht. Dass es vier (nicht drei, nicht fünf) Erlebniswerte sind, folgt nicht aus theorieimmanenten Annahmen, sondern aus der Analyse tatsächlicher Wettkampfformen. 31 Bei vielen sog. Randsportarten ist der Höchstleistungswert bestenfalls eine Mindestvoraussetzung für ein breiteres Publikumsinteresse. Viele dieser Sportarten, wie z.B. Sportschießen oder Ringen, kommen in den meisten Ländern fast ausschließlich bei Olympischen Spielen in den Blickpunkt einer breiteren Öffentlichkeit. 32 Ein weiteres Indiz für die Unverzichtbarkeit des Höchstleistungswerts als Erlebniswert ist die in den 1980er Jahren begonnene und heute (mit Ausnahme einiger Zweikampfsportarten wie Boxen) weitgehend vollzogene Öffnung der Olympischen Spiele für Profis. 30
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Dass der Leistungswert als eigenständiger Erlebniswert gelten muss, zeigt sich auch an Formen, durch die er mitgeteilt werden kann, sowie an der feinen Sensibilität von Publikumserwartungen für solche Formen. Auch der Leistungsvergleich der Besten interessiert ja nicht immer im gleichen M a ß . Von entscheidenden Wettkämpfen werden „Vorbereitungsspiele" und „Freundschaftsspiele" streng unterschieden, auch schon unabhängig davon, wer an ihnen teilnimmt oder wie der Wettkampf verläuft. Es muss „um etwas gehen", und innerhalb des ernsten Wettkampfrahmens sind weitere Unterscheidungen üblich, die eine Steigerung der Leistungsernstes suggerieren - so in playoffs, die in amerikanischen Major Leagues und anderen Ligasystemen an „preseason" und „regulär season" anschließen - bis es schließlich in den Endspielen „um alles gehen" kann. Nicht Leistungsfähigkeit allein, sondern auch Grade der Leistungsintentionalität entscheiden folglich über das Publikumsinteresse mit, was sich in Anfeuerungsformeln wie „Kämpfen!" ebenso ausdrückt wie in der Betonung von „Siegeswillen" (gnac, grinta etc.) als Primärtugend von Sportlern. Der Leistungswert wird von einem Stabilisierungsmechanismus abgesichert, der uns bereits mehrfach begegnet ist: Leistungshierarchien, die in allen Sportarten den Leistungsvergleich der Besten mit einem stufen- oder pyramidenförmigen Unterbau der weniger Guten ausstatten. Mit Blick auf das Publikum ist eine doppelte Funktion dieser Hierarchien zu vermuten: (1) Sie machen die Unterscheidung der Besten von den weniger Guten erst plausibel und stellen sie auf Dauer. (2) Sie stellen sicher, dass die Besten nur auf ihresgleichen treffen und garantieren damit ein M a ß an Ausgeglichenheit („competitive balance"), das es erlaubt, Leistungs- und Kontingenzwert produktiv aufeinander zu beziehen.
3.1.2 Kontingenzwert Dass „Spannung" in irgendeinem Sinne des Wortes den Reiz des Sports als Zuschauerattraktion bestimmt, ist ein Gemeinplatz, der eine genauere Analyse verdient. In der Literatur wird die Nachfrage nach sportspezifischer Spannung in einer Theorietradition, die sich häufig auf Norbert Elias' und Eric Dunnings Wort vom „excitement in unexciting societies" bezieht (Elias/Dunning 1986: 63), meist mit Kompensationsbedürfnissen bzw. Verlusterfahrungen moderner Individuen in Verbindung gebracht (so z.B., mit unterschiedlicher Gewichtung, Krockow 1980: 45ff., Bette/Schimank 1995,2000). H a t man sich erst auf solche oder andere psychische Kompensationseffekte festgelegt, liegt es nahe, Spannung als „positiv bewertete Ungewissheit" zu defi-
nieren, der die „negativ bewertete Ungewissheit" (= Sorge) gegenübergestellt werden kann (Schimank 1988: 196, Bette 1989: 174). Die Vielzahl heterogener Motive, die in diesem Zusammenhang genannt werden, lässt jedoch vermuten, dass es hier an einer zureichenden Klärung von Begriffen wie „Erregung" oder „Verlusterfahrung" fehlt. 3 3 Allgemein bleibt unerklärt, wie psychische Verlusterfahrungen sozial gespeichert und kompensiert werden können. Jedenfalls belasten sich diese „Ausgleichshypothesen" (Krockow 1980: 45) mit weitreichenden psychologischen und/oder anthropologischen Hintergrundannahmen, für die es empirisch eher wenige Anhaltspunkte gibt - weder sozialpsychologisch mit Blick auf positive Bewertung (vgl. Sloan 1989: 208) noch anthropologisch im historischen Vergleich (vgl. Eichberg 1978: 290ff.). In einer genuin soziologischen Perspektive kann auf solche problematischen Hintergrundannahmen verzichtet werden. Daher wird der Spannungswert hier Kontingenzwert genannt, um hervorzuheben, dass die Andersmöglichkeit des Ausganges sportlicher Wettkämpfe als ein sozialer Erlebniswert verstanden wird, der mit einem gesellschaftlichen „Eigenwert Kontingenz" (Luhmann 1992) korrespondiert: Beide Male geht es um soziale selbsterzeugte Ungewissheit, hier sportlich, dort gesamtgesellschaftlich. Historisch scheint ein wesentlicher Aspekt der Stabilisierung des Publikumsinteresses in der Stabilisierung des Kontingenzwertes gelegen zu haben. Die großen Mannschaftsballsportarten haben z. B. Ligaverbände institutionalisiert, teils mit, teils ohne Abstiegsregelungen, immer jedoch mit dem Ziel, ein Mindestmaß an competitive balance sicher zu stellen. Z u r Bewahrung dieses Gleichgewichts werden in den Profiligen neben Auf- und Abstiegsregelungen auch finanzielle Ausgleichsbestimmungen (z. B. Verteilung von Fernsehgeldern), Gehaltsobergrenzen (salary caps) oder sog. draft-Systeme eingesetzt, die den erfolglosesten Mannschaften des Vorjahres den Zugriff auf die besten Nachwuchsspieler sichern. 3 4 Funktionale Äquivalente finden sich in Wettkampfserien, v. a. den „Weltcup"- oder Turnier-Zirkeln nahezu sämtlicher Sportarten, die es erlauben, minimale Leistungsunterschiede immer 33
Die wohl ausführlichste Aufzählung bei Bette/Schimank (2000: 316f.): Routinisierung, Langeweile, Urbanisierung, Globalisierung, Massenkommunikation, Bürokratisierung, Verwissenschaftlichung, undurchschaubar gewordene Wirkungsketten, Affektdämpfung, Entzauberung, Gemeinschaftsverlust. 34 Aus der umfangreichen Forschung zu competitive balance und uncertainty of outcome vgl. nur Dobson/Goddard 2001.
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Tobias Werron: Der Weltsport und sein Publikum wieder neu dem Vergleich auszusetzen, wobei sich kompetitives Gleichgewicht und Kontinuität des Leistungsvergleiches als Aspekte der Inszenierung von Kontingenz offenbar ideal ergänzen. Eric M. Leifer hat darauf hingewiesen, dass mit dieser Art der Stabilisierung - vor allem in Ligasystemen - auch eine Relativierung des Leistungswerts verbunden sein kann, so dass „Dream Teams", „All Star Teams" oder „Weltauswahlen", wie die Namen schon sagen, zur Ausnahme werden. Man kann den langfristigen Haupteffekt solcher Systeme daher auch in der Gewöhnung an Niederlagen und in der Ermöglichung von dauerhaften identifikatorischen Bindungen des Publikums auch mit Verlierern sehen (Leifer 1995). Spätestens diese Beobachtung macht deutlich, dass der Kontingenzwert nicht auf (psychische) „Spannung" reduziert werden kann und dass es nicht das (psychische) „Erlebniskorrelat" ist, das Kontingenz als spezifisch sportlichen Erlebniswert auszeichnet (so aber Bette 1989: 174), sondern die reguläre Erwartbarkeit einer Vielzahl von Kontingenzmomenten.i$ Auf dieser Grundlage leuchtet dann auch ein, warum es Sportarten mit einer „kontingenzfreundlichen" Ästhetik, die für Täuschungen (z. B. zwischen Gegnern bei Ballspielen), Missverständnisse (z.B. zwischen Mannschaftsmitgliedern), natürliche Zufälle (z.B. Platzfehler), technische Defekte (z.B. „Motorplatzer") und andere Unvorhersehbarkeiten (z.B. Rennunfälle im Straßenradsport, Schläge ins „Rough" beim Golf) offen ist, am erfolgreichsten gelingt, die Aufmerksamkeit des Publikums dauerhaft in Beschlag zu nehmen. 3.1.3 Identifikationswert Die Grundform des (beobachteten) Wettkampfes gibt die Möglichkeit zur Parteinahme: für die eine oder andere Seite des Leistungsvergleiches. Formen der Parteinahme, nicht beliebige Formen kollektiver „Identitätsbildung" oder „Vergemeinschaftung", sind daher gemeint, wenn hier von „Identifikationswert" als einem spezifisch sportlichen Erlebniswert die Rede ist. Die konstitutive Bedeutung des Identifikationswertes kommt eloquent und komprimiert in einer Beschreibung zum Ausdruck, die der Journalist Christoph Biermann von seiner Initiationserfahrung als Fußballfan gegeben hat (Biermann 1995: 14): „Was dort auf dem Rasen geschah, bedeutete ihnen etwas. Während ich vom Platz auf der Tribüne aufmerksam und neugierig 3 5 Dieses Motiv kommt auch in der Formulierung zum Ausdruck, die Moderne feiere im Sport „die Mysterien ihrer Kontingenz." (Seel 1993: 98).
diese fremde Welt beobachtete, versuchte ich zu verstehen. Und sei es nur, indem ich meinen Vater und die anderen ringsum kopierte. Als Versuch, das Geheimnis ihrer Erregung zu verstehen, musste ich eine Entscheidung fällen: Ich musste Partei beziehen." Und weiter (Biermann 1995: 15): „,Das ist doch nur ein Spiel!' gehört deshalb auch zum Verlogensten, was man im Stadion hören kann. Nur ,Möge die bessere Mannschaft gewinnen' ist noch schlimmer. Wer so etwas sagt, will sich vernünftig verlieben, geschützt vor der Möglichkeit der Enttäuschung." Diese Formulierungen, so überspannt sie wirken mögen, konterkarieren wirksam die Auffassung, diese identifikatorisch erlebte Ungewissheit sei stets oder typischerweise „positiv bewertet". MitSiegen ist vielmehr nur als potenzielles Mit-Leiden erhältlich. Allgemeiner und zugleich präziser ist der Identifikationswert daher als Erschließen eines Zeitraumes zu beschreiben, von dem zunächst offen bleibt, ob er als positiv oder negativ zu bewerten sein wird. Parteinahme ist, so gesehen, eine gepflegte Gefahr, die aus dem Risiko des Scheiterns anderer Intensität zu gewinnen sucht. Jeder Wettkampf produziert die Möglichkeit der Parteinahme und in der Vielfalt möglicher Identifikationswerte scheint die aus inklusionstheoretischer Sicht interessanteste Quelle von Diversität im Sport zu liegen. Die Pluralität der Identifikationsmöglichkeiten folgt zum Teil bereits aus der Vielzahl der Teilnehmeradressen, die in den hierarchisch organisierten Leistungsvergleich einbezogen werden, denn jeder Teilnehmer ist ein potenzielles Identifikationsobjekt. Die Parteinahme kann als positive Identifikation Kontinentvertretungen (z.B. Ryder-Cup im Golf), nationalen Auswahlmannschaften bei Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften ebenso gelten wie Bezirksliga-Dorfclubs oder Profivereinen (inklusive franchises im US-Profisport), individuellen „Weltstars" ebenso wie nationalen oder lokalen Helden (vgl. Andrews/Jackson 2001, Whannel 2002). Ein besonders beliebtes Identifikationsobjekt sind nationale Vertreter, deren Leistungsvergleiche bei den meisten Großereignissen des Sports im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Parteinahme kann aber auch primär negativ sein und sich aufs Dagegensein stützen, z.B. in Form der ad hoc-Parteinahme gegen Favoriten bzw. für Außenseiter. Man kann aus vielen weiteren, etwa lokalen, ethnischen und ästhetischen Gründen Partei ergreifen und diese vielfältigen Identifikationsmöglichkeiten sind anlässlich einzelner Wettkämpfe ihrerseits vielfältig kombinierbar. 36 Auch in ,6
Neutralität
dagegen ist in diesem Arrangement - außer
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dieser Hinsicht ist es also die Kontingenz der Form, die ihre Stärke ausmacht. Auch an diese Überlegungen lässt sich evolutionstheoretisch anknüpfen. Die Gewöhnung an Niederlagen durch competitive balance ist ja zugleich die Kultivierung der Hoffnung, immer mal wieder zu den Siegern zu gehören (z. B. nach dem Abstieg zu den Aufsteigern; z.B. zu den Außenseitern, die überraschend den Tabellenführer bezwingen etc.). Mit Fandogmatiken bilden Identifikationswerte ein eigenes Gedächtnis aus, das diese Hoffnung perpetuieren hilft und das sich vor allem in der Umdeutung einer Reihe von Wettkämpfen in dauerhafte Rivalitäten bewährt. So werden „Lokalderbys" (etwa zwischen Celtic und den Rangers in Glasgow) ebenso konstruiert wie nationale Rivalitäten (etwa zwischen Deutschland und Holland im Fußball). 37 Den Identifikationswert in seiner dogmatischen Fassung könnte man daher auch als stabilisierten Hoffnungswert bezeichnen, der in Allianz mit Hierarchien sowie Ligen/Serien dazu beiträgt, die Gefahren der Parteinahme auf Dauer zu stellen. 3.1.4 Präsenzwert Sämtliche Erlebniswerte sind von der Realisierung in Wettkampfereignissen abhängig. Die Ereignisform sportlicher Wettkämpfe ist zugleich die Grundlage eines eigenständigen Erlebniswertes, der hier Präsenzwert genannt wird. Denn das Erleben der Präsenz des Wettkampfes (= Ereignishaftigkeit) setzt die zeitliche Kopräsenz des Erlebenden voraus. Der Präsenzwert ist damit zugleich das Korrelat der Gleichzeitigkeit von Leistungswert und Kontingenzwert. 38 Dieser Zusammenhang der Erlebniswerte untereinander erhellt neben weiteren Gemeinsamkeiten sportlicher und künstlerischer Inszenierungen (v. a. Angewiesenheit auf Primärrezeption durch Wahrnehmung; Körperbewegungen bei Schiedsrichtern - in keiner denkbaren Hinsicht ein Wert. So gesehen, überrascht es nicht, wenn David Rowe feststellt, dass nur wenige der holländischen Fernsehzuschauer der Fußballweltmeisterschaft 2002 (deren Nationalmannschaft nicht qualifiziert war) die Gelegenheit wahrnahmen, „to adopt a position of neutrality in the role of global cultural citizen" (Rowe 2003: 289). 3 7 Für eine Beispielsammlung im globalen Maßstab vgl. Armstrong/Giulianotti 2001. 3 8 Einen Präsenzbegriff, in dem sich Kontingenz- und Präsenzaspekte mischen, schlägt daher Hans Ulrich Gumbrecht vor (1999: 359): „Perhaps the convergence of an event-effect with an embodied form is precisely what we call ,presence'" - mit der Ergänzung, dass sich dieser Begriff mehr in Richtung Zufall/Kontingenz oder Ereignishaftigkeit/Verkörperung betonen lasse.
im Raum wie im Tanz; selbsterzeugte Ungewissheit wie in Film und Roman) nun auch die Unterschiede: Das Vergleichsarrangement des Sports vergleicht, anders als die Kunst, nicht Fiktionen, sondern Leistungsintentionen, die sich wechselseitig dem Risiko des Scheiterns aussetzen. Während die Ungewissheit z. B. in Film, Theater oder Roman darauf angewiesen ist, dass ein Erfinder die Fäden in den Händen hält, also davon, dass mindestens einer weiß, wie es ausgeht, weiß es bei Sportwettkämpfen niemand - die Erfinder und Hüter der Regeln eingeschlossen. 39 Diesem Zeitraum potenziellen Scheiterns verdankt sich der spezifische Präsenzwert des Sports, der entsprechend nur über „Live-Übertragungen" verlustfrei vervielfältigt werden kann. Auch für den Präsenzwert hat sich ein Stabilisierungsmechanismus ausgebildet, von dem schon mehrfach die Rede war: Groß- und Weltereignisse, die den Erlebniswert von Leistungsvergleichen an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit noch einmal gesondert exponieren. Zwei Varianten könnte man unterscheiden: (1) Originäre Großereignisse (wie Olympische Spiele, Weltmeisterschaften, Europameisterschaften, Commonwealth Games etc.) 4 0 und (2) Highlights, die den Attraktionswert kontinuierlicher Leistungsvergleiche in Ligen und Serien ereignishaft zuspitzen (v. a. in der Form von Endspielen und playoffs, wie z.B. der Football-„Super Bowl", der Baseball-„World-Series" oder den „NBA-Finals"; aber auch Golf Major-Turniere, Tennis Grand Slam-Turniere, „Weltcupfinals" etc.). Die Evolution folgt offenbar diesem doppelten Muster, und für die Theorie der Weltgesellschaft ist von besonderem Interesse, dass sich die prominentesten dieser Großereignisse entweder von Beginn an ausdrücklich als Weltereignisse konstituiert haben (Olympische Spiele; FußballWeltmeisterschaften) oder trotz nationalem bzw. kontinentalem Teilnehmerkreis über die Inklusion der weitbesten Spieler einen globalen Höchstleistungshorizont projizieren (z.B. Super Bowl; NBA-Finals). 41 Der Publikumserfolg dieser GroßSepp Herbergers, des ehemaligen deutschen Reichsund Bundestrainers, berühmte (angebliche) Antwort auf die Frage, warum die Leute ins Stadion gehen („Weil sie nicht wissen, wie's ausgeht."), ließe sich im Vergleich zur Kunst daher wie folgt präzisieren: „Weil niemand weiß, wie's ausgeht." 4 0 Die Bedeutung Olympischer Spiele zeigt sich vor allem bei sog. „Randsportarten", die nicht einmal mit ihren sonstigen Groß- und Weltereignissen eine breitere Öffentlichkeit erreichen, wohl aber bei Olympischen Spielen. 4 1 Zum Weltereignisbegriff vgl. Stichweh (2001,2003), der (1) räumlich-temporale Begrenzung, (2) globale Kon39
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Kontingenzwert Opportunisten
Experten
Fans
Eventhusiasten Präsenzwert
Identifikationswert
ereignisformen spiegelt sich in Zuschauerzahlen, Einschaltquoten und massenmedialer Präsenz und hat Folgen für die Leistungskriterien des Publikums, die in Widerspruch geraten können zu mehr an Konstanz orientierten Kriterien der Sportler. 4 2 Jeder Wettkampf produziert sämtliche ihm zugehörigen Erlebniswerte. Zum Verhältnis der Teilwerte untereinander sei daher betont: Sie treten stets gemeinsam auf, stützen, ergänzen, relativieren sich aber auch bisweilen, und die historisch wie differenzierungstheoretisch interessante Frage ist, wie sie sich stützen, ergänzen und relativieren. Ein genauerer Eindruck des Zusammenspiels lässt sich gewinnen, indem man nach Publikumsrollen fragt, die sich auf Basis der Erlebniswerte herausbilden können.
3.2 Publikumsinklusionsfiguren Vom Publikum des Sports kann zunächst allgemein die Rede sein, wenn Wettkampfleistungen von Beobachtern beobachtet werden, die nicht zugleich Wettkämpfer sind, d. h. dann, wenn die kommunikationstheoretische Unterscheidung von Handeln und Erleben in die differenzierungstheoretische Unterscheidung von Leistungsrollen und Publikumsrollen übergeht. Publikum in diesem Sinne umfasst zunächst sämtliche Möglichkeiten, auf der Erlebensseite in das Sportsystem inkludiert zu sein, ob vor Ort oder am Fernseher zuschauend, Spielbe-
figuration von Teilnehmern, (3) Adressierung an ein weltweites Publikum und (4) Selbstzuschreibung von Weltbedeutsamkeit als Begriffsmerkmale nennt. O b man in Fällen wie der „World Series" oder „Super B o w l " von Weltereignissen in diesem Sinne sprechen kann, wäre unter dem Gesichtspunkt der globalen Konfiguration von Teilnehmern problematisch - und dann je nach Akzent zu verneinen, wenn man auf die Wettkampforganisation (Inklusion von Mannschaften bzw. Clubs), und zu bejahen, wenn man auf Leistungsgesichtspunkte (Inklusion der besten Spieler) abstellt. Vgl. z . B . eine Aussage des Bobfahrers André Lange: „ D u kannst den Weltcup zwanzigmal gewinnen, ein Weltmeisterschaftstitel steht immer drüber. Das muss man akzeptieren" (Hecker 2 0 0 4 ) . 42
Abb. 2 Publikumsinklusionsfiguren des Sports
richte lesend, Ligakonferenzen hörend, Siege feiernd oder Leistungen kritisierend. Dieser allgemeine Publikumsbegriff soll nun durch eine Typologie idealtypischer Publikumsinklusionsfiguren angereichert werden, um Motive für das Erleben der Wettkämpfe differenzierungstheoretisch (wiederum: nicht psychologisch) beschreibbar zu machen. Diese Typologie schließt eng an einen Vorschlag Eric M . Leifers an, der in seiner Studie zur Geschichte der US-Major-Leagues drei Publikumstypen unterschieden hat (vgl. Leifer 1 9 9 5 : 20): (1) „Cranks" nennt er frühe Zuschauer unabhängiger Profimannschaften Mitte des 19. Jahrhunderts, die vor allem durch ein Interesse an Siegern motiviert schienen, sei es, weil sie auf Sieger wetteten, sei es, weil für sie nur Sieger Interesse verdienten. 43 (2) „Fans" nennt er dagegen die treuen, einheimischen Anhänger lokal verankerter Profimannschaften in einem frühen, aber bereits von Kontinuität („sameness and repetition") gekennzeichneten Ligabetrieb, und (3) „Enthusiasts" jenes Sportpublikum, das, vor allem vermittelt durch das Fernsehen, nicht nur am Schicksal einzelner Mannschaften, sondern am Spielbetrieb ganzer Ligen intensiv Anteil nimmt. Dass es hier vier, nicht drei, Typen sein werden, ist als Versuch zu verstehen, Leifers Typologie auf diesem Weg zu vervollständigen und zu verfeinern.
3.2.1 Opportunisten Mit Opportunisten ist, weitgehend deckungsgleich mit Leifers „Cranks", ein Publikum gemeint, das sich für Sport in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der Ermittlung von Siegern interessiert. Der Akzent liegt hier auf dem Leistungswert und kann, analog zur Unterscheidung der Codierungen („Leistung/Nicht-Leistung"; „Sieg/Niederlage"), stärker an Höchstleistung oder an Ergebnissen orientiert sein. Im ersteren Fall könnte man vielleicht auch von „Snobs" sprechen, deren Interesse für den Sport bevorzugt dann anspringt, wenn herausragende Leistungen zu würdigen sind (z.B. mit ständigem Blick M i t der Folge, dass vier Niederlagen (nach 7 6 Siegen) zur Auflösung einer unabhängigen M a n n s c h a f t führen konnten - so 1 8 6 9 im Fall des Baseballteams der Cincinnati Red Stockings (Leifer 1 9 9 5 : 4 ) . 43
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auf den Medaillenspiegel bei Olympischen Spielen), im zweiten Fall von „Gamblern", für deren Wettinteresse hauptsächlich die nackten Ergebnisse relevant sind. Beide Varianten sind als Erlebende inkludiert, schöpfen ihr Interesse aber weniger aus den Wettkämpfen bzw. Wettkampfverläufen selbst als aus dem wirtschaftlichen oder sonstigem Mehrwert, der den Ausgängen der Wettkämpfe zugeschrieben wird. Zahlreiche Sportarten scheinen vorwiegend auf diese Art Interesse angewiesen (wie z.B. Pferderennen) oder gewinnen nur über diese Art Interesse anlässlich von Großereignissen vorübergehend breite öffentliche Aufmerksamkeit (z.B. sog. Randsportarten bei Olympischen Spielen). Die Leistungserwartungen von Opportunisten sind tendenziell kognitiv (lernbereit) stilisiert, also nicht darauf ausgerichtet, auch über Niederlagen hinweg stabil zu bleiben. Sie erlauben daher keine dauerhaften oder allenfalls lose Bindungen an einzelne Sportler, Mannschaften oder Vereine.
3.2.2 Fans Bei den Fans liegt der Akzent auf dem Identifikationswert, auf Parteinahme, und, entsprechend dem hierfür eingerichteten „dogmatischen" Stabilisierungsmechanismus, auf einer normativen Haltung, die auf langfristige Bindungen zu bestimmten Sportlern, Mannschaften oder Vereinen eingestellt ist und sich auf Nationalmannschaften bei Olympischen Spielen ebenso beziehen kann wie auf einen Bundesligaverein oder auf den Bezirksligaclub um die Ecke. Zur Selbstbeschreibung der Fans gibt es aufschlussreiche literarische Erfahrungsberichte, auf die an dieser Stelle verwiesen werden kann (vgl. v. a. Hornby 1992). Als soziale Praxis ist sie am eingehendsten wohl von dem französischen Ethnologen Christian Bromberger (1995) am Beispiel von Fußballanhängern in Turin, Neapel und Marseilles beschrieben worden. Bromberger betont einerseits Parallelen zu kultischen Praktiken, die er in stereotypen Glaubensbekenntnissen, generationsübergreifender Traditionspflege, Schlachtgesängen (näher Kopiez/Brink 1998), im Außerkraftsetzen sonst geltender sozialer Hierarchien, schließlich auch in der Verwendung fundamentaler Antagonismen („Wir" vs. „Die Anderen"; Leben oder Tod; das Böse vs. das Gute etc.) verkörpert sieht, hebt dann aber auch die Eigentümlichkeit dieser von ihm „religiosité footballistique" genannten Praktiken ausdrücklich hervor („mode bien particulier", Bromberger 1995: 347). 4 4
Der Unterschied zu „ e c h t e n " religiösen Praktiken liege v. a. in ironischen Elementen: „Transzendenz ist nur ganz
44
Für einen detaillierten Vergleich mit religiösen Kulten oder eine differenzierte Beschreibung verschiedener Identifikationsgrade und Erscheinungsformen der Fans ist hier kein Raum. 4 i Aus weltgesellschaftstheoretischer Sicht interessieren zunächst vor allem zwei Aspekte: (1) Die dogmatische Haltung der Fans wird mit zunehmender Identifikationsbereitschaft zu einer wechselseitig normativen Haltung, die einerseits von den Sportlern verlangt, immer ihr Bestes zu geben, möglichst zu gewinnen oder wenigstens „bedingungslos zu kämpfen", andererseits von „echten Fans" verlangt, auch und gerade in schlechten Zeiten Treue zu beweisen und dann „erst recht" Unterstützung zu gewähren. Je fanatischer der Fan, desto verpflichtender das Fan-Sein. Diese aktive, doppelt normative Beziehung unterscheidet die echten Fans von solchen mit einseitig normativer Haltung, z.B. Fernsehzuschauern, die bei Olympischen Spielen nur mitfiebern, wenn ihre nationalen Vertreter Medaillenchancen haben. (2) Die Kommunikationspraxis dieser idealtypischen, „echten" Fans profitiert in mehrfacher Hinsicht von räumlicher Nähe. Das gilt nicht nur für eigenwillige, auf die „spezielle örtliche Konfiguration" (Bromberger 1998: 296) verweisende Kulte wie das Aufbewahren heimischer Stadionerde im Wohnzimmer, sondern auch und vor allem für Formen der Interaktion der Fans (Schlachtgesänge, Buhrufe, Transparente, rhythmisches Klatschen etc.) mit Sportlern bzw. Trainern (offensive Aufstellungen bei Heimspielen, gestische Aufforderungen zum Anfeuern, Begrüßen vor dem Spiel, Abklatschen nach dem Spiel etc.), die beidseitige Anwesenheit voraussetzen und sich auch auf entsprechende Selbstbeschreibungen wechselseitiger Einflussnahme stützen können. Auf diese Weise machen sich die Fans für die Leistungen der unterstützten Sportler partiell mitverantwortlich.46 Beide Aspekte gemeinsam erhellen einen Zusammenhang zwischen Lokalität und Kontinuität des matt vorhanden; Praxis ist weit verbreiteter als wahrer Glaube; die Losgelöstheit von Ritualen ist auch Teil der R i t u a l e " (Bromberger 1 9 9 8 : 2 9 8 ) . 4 5 Vgl. aber Giulianotti ( 2 0 0 2 ) für einen Versuch, Formen und Grade der Identifikation von Fußballfans mit einer kreuztabellierten Typologie von „Supporters", „Follow e r s " , „ F a n s " und „Flaneurs" zu unterscheiden. Empirischer Beleg dazu bei Schwenzer ( 2 0 0 2 : 9 2 f . ) , die eine Internetdebatte von Fans des (damaligen) Fußball-Regionalligisten 1. F C Union Berlin resümiert: „Diese Diskussion macht deutlich, wie das Verhältnis zwischen den Spielern auf dem Feld und den Zuschauern auf den R ä n gen von den Fans selbst gedeutet wird: Es ist als ein interaktives Verhältnis konzipiert. Beide Seiten stehen zueinander in Beziehung und beeinflussen sich gegenseitig." 46
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Tobias Werron: Der Weltsport und sein Publikum Leistungsvergleiches, dem Sportpsychologie und Sportsoziologie eines ihrer spannendsten Rätsel verdanken: den sog. Heimvorteil, wie er sich für sämtliche populäre Mannschaftssportarten in unterschiedlichen Ligasystemen mit graduellen Unterschieden zuverlässig nachweisen lässt. 47 Soziologisch interessant ist er auch deshalb, weil er sich psychologisch-experimentell gerade nicht erklären lässt (Strauß 1999; zum Diskussionsstand vgl. Strauß 2002, Smith 2003). Mit der Beschreibung der „Fans" kommt eine Lösung des Rätsels in Sicht: (1) Der Vorteil erscheint als Effekt einer wechselseitig normativen Erwartungsfigur, eines Deutungsrahmens, der die relativ größere Wichtigkeit der Heimspiele vorschreibt und in den sich die Leistungskommunikation auf dem Spielfeld einfügt. 48 (2) Die hervorgehobene Bedeutung der Heimspiele wiederum stützt sich auf spezifische Kommunikationsformen, die nur bei wechselseitiger Anwesenheit, also nur „lokal", also von der Mehrheit der Fans nur „zu Hause" praktiziert und perpetuiert werden können. Der Heimvorteil ist, so gesehen, ein Erwartungsprodukt, das von den lokalen Fans abhängt, und mit dessen Nachlassen zu rechnen ist, wenn und soweit die Relevanz dieser Inklusionsfigur nachlässt (vgl. auch unten IV.)
3.2.3 Experten Der Begriff des Experten ist verwandt mit Leifers „Enthusiasten", betont aber das Wissen, das für eine am Kontingenzwert orientierte Publikumsfigur typisch ist, um sich die in Ligen und Serien stabilisierte Vielzahl möglicher Kontingenzmomente zu erschließen. Fans und Experten sind eng verwandt und werden häufig in einzelnen Personen verschmelzen, aber soziologisch ist die Unterscheidung aus mindestens zwei Gründen wichtig: Erstens emanzipiert Wissen teilweise von Identifikation, indem es auch Wettkämpfe interessant erscheinen lassen kann, an denen man selbst nicht oder kaum identifikatorisch beteiligt ist. Zweitens kann Wissen teilweise auch vom Leistungswert emanzipieren - wie sich an dem Interesse ablesen lässt, das Experten, anders als das breite Publikum, auch anlässlich
Zahlen aus den europäischen Fußball-Profiligen bei Dobson/Goddard 2 0 0 0 : 1 5 0 f f . , aus den amerikanischen Profiligen im Baseball, Basketball, Eishockey und (American) Football bei Leifer 1 9 9 5 : 2 3 7 f f . ; Smith 2 0 0 3 . 4 8 Derselbe Gedanke in anderem theoretischen Rahmen: „Publics don't make teams better or worse; rather, they alter the framework in which competition is interpreted and in so doing affect the course o f the competition itself" (Leifer 1 9 9 5 : 2 4 5 ) . 47
von „Vorbereitungsspielen", 7„Freundschaftsspielen" etc. mobilisieren können. 49 Das Wissen, das die Experten im Publikum zu Experten macht, ist nicht in erster Linie Fachwissen, nicht die Art Wissen, die zu einer sachgerechten Einschätzung von Leistungen befähigt und die man typischerweise Trainern oder erfahrenen Sportlern zuschreiben würde. Vielmehr kommt auch und gerade Umfeldwissen als Expertenwissen in Betracht, solange es nur dazu beiträgt, die bevorstehenden Wettkämpfe mit Kontingenzmomenten anzureichern. 5 0 Überspitzt könnte man sagen: Was diese Experten zu Experten macht, ist gerade die Bereitschaft, auch scheinbar überflüssiges Wissen, z. B. in Form von Statistiken, anzusammeln und den möglichen Verlauf zukünftiger Wettkämpfe darin oszillieren zu lassen. Da in Stadien und Hallen kaum Wissen dieser Art erzeugt wird, das sich nicht auch über Fernsehen, Presse oder Internet beschaffen ließe, hat man sich Experten primär als ein Massenmedienpublikum vorzustellen, das auf ständige Nachlieferung von Informationen seitens der Massenmedien angewiesen ist (wie auch umgekehrt die Massenmedien auf die kontinuierliche Nachfrage der Experten). In diesem Sinne kann ein „Biathlonexperte" sein, wer Schnee ausschließlich aus dem Fernsehen kennt. Daher profitieren Experten auch weniger von räumlicher Nähe zum Wettkampfgeschehen als die auf Identifikation beruhende Rolle der Fans. Mangels Identifikation fehlt es auch an (doppelt) normativen Beziehungen zu einzelnen Sportlern, Mannschaften oder Vereinen. Man kann sich aber leicht geteilte Rollen in einer Person vorstellen: Als Fan geht man jeden zweiten Samstagnachmittag ins heimische Stadion, als Experte schaut man sich im Fernsehen die Spiele der anderen Vereine an.
Vgl. dazu folgende programmatische Feststellung: „ D a s Spannende am Ligapokal ist nicht das Ergebnis des Spiels, sondern der Ausgang des Interpretationswettbewerbs. Wer zieht die besten Schlüsse aus neunzig Minuten Fußball für die bevorstehenden 3 4 Spieltage der Bundesliga?" (Teuffei 2 0 0 3 ) . 49
s o Z . B. das Wissen, dass der Trainer X wahrscheinlich entlassen wird, wenn seine M a n n s c h a f t Y das nächste Spiel nicht gewinnt, so dass sich jetzt die Frage stellt: spielt die M a n n s c h a f t für oder gegen den Trainer? Z . B. das Wissen, dass einem bevorstehenden Spiel zweier Tennisspieler bereits eine Serie „legendärer D u e l l e " vorangegangen ist, so dass jetzt umso interessanter erscheint, wer diesmal gewinnen wird.
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3.2.4 Eventhusiasten Die hier sog. Eventhusiasten (Kompositum aus Event und Enthusiasten) bezeichnen eine Publikumsrolle, für die ein ausschließliches oder hauptsächliches Interesse an Groß- und Weltereignissen typisch und die daher primär dem Präsenzwert der Wettkämpfe zuzuordnen ist. Dass die Großereignisorientierung einen erheblichen Teil des Publikumsinteresses trägt, lässt sich schon an dem sprunghaften Anstieg von Besucherzahlen und Einschaltquoten sowie an dem Umfang massenmedialer Berichterstattung anlässlich solcher Ereignisse ablesen. Ein weiteres Indiz ist das in den letzten Jahrzehnten zunehmend zu beobachtende Verhalten des VorOrt-Publikums, mit dem sich das Publikum nicht primär in der Rolle einer parteiergreifenden Instanz, sondern als Produzent von Atmosphäre zu erkennen gibt. Wie die Fans für die Leistung der unterstützten Sportler machen sich die Eventhusiasten für das Gelingen des Gesamtereignisses aktiv mitverantwortlich, und wie die Fans streifen sie damit zugleich einen Teil der Passivität ab, die der Publikumsrolle prinzipiell anhaftet. Empirisch äußert sich das Bewusstsein, aktiver Teil eines events zu sein, z.B. in der 1986 bei der Fußball-WM in Mexico aufgekommenen „La Ola" (die Welle), die in unterschiedlichsten Sportarten zur weltweiten Übung geworden ist. Auch der gegenwärtig vorangetriebene Neubau „reiner Fußballstadien", das Festhalten der Veranstalter von Leichtathletik-Sportfesten an kleinen, aber atmosphärisch dichten Stadien (z.B. Züricher Letziggrund) oder neue Formen der Kultivierung der Vor-Ort-Publikumsrolle bei Straßenradrennen (z.B. Bergetappen der Tour de France) deuten darauf hin, dass die Pflege der Atmosphäre zunehmend als tragender Pfeiler eines Gesamtereignisses aufgefasst wird, das die Rolle des Vor-Ort-Publikums als atmosphärische Attraktionsquelle eigener Art immer schon mitreflektiert. Die Operationsform der Kommunikation über Leistung mittels gemeinsam-objektzentrierten Wahrnehmens verdichtet sich dabei zum festen Bestandteil einer Inklusionskette, die über Fernsehen und andere Verbreitungsmedien in Richtung globaler Inklusivität verlängert werden kann (zu entsprechenden Formen des gemeinsamen Fernsehens bei Olympischen Spielen vgl. Rothenbuhler 1988). Auch diese verdichtete, verschachtelte, synchronisierte Form von Öffentlichkeit, vorzugsweise bei Groß- und Weltereignissen, bleibt nicht ohne Wirkung auf die Leistungsrollenseite - wie ein Ausspruch eines Betreuers des Profi-Radrennstalles Gerolsteiner anlässlich der Tour de France 2004 bezeugt (Seele 2004): „,Hier geht man an die Grenze
wie sonst nirgendwo', sagt Holczer, ,hier wird reingehalten, weil die Weltöffentlichkeit zuschaut.'" Die zunehmende quantitative Relevanz der Eventhusiasten steht in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur Intensität ihrer Erforschung. Auch fehlen Selbstbeschreibungen nach dem Vorbild der „Fans". Vorbehaltlich weiterer Forschung könnte man sich die idealtypische Verkörperung eines Eventhusiasten aber wie folgt vorstellen: Eventhusiasten schätzen „den besonderen Moment" und verfügen über die Fähigkeit, aus der Vielzahl der Sportangebote nur die „Highlights" herauszupicken. Neben Ereignisorientierung wäre die Haupteigenschaft eines idealtypischen Eventhusiasten demnach Selektivität, die ihm zwischen Ereignissen und Großereignissen zu unterscheiden erlaubt. Einzelne Sportinteressierte, die alle Publikumsfiguren - (1) Ehrfurcht vor Höchstleistungen und/oder Wetten auf Ergebnisse, (2) treue Parteinahme, (3) ständig aktualisierte Detailkenntnisse und (4) selektiv zunehmendes Interesse anlässlich von Großereignissen - in sich vereinigen, könnte man übergreifend auch als Sportfanatiker bezeichnen. Von ihnen gibt es viele, aber ihre Zahl entscheidet - wie sich aus der Vielzahl möglicher gradueller Differenzierungen sowie möglicher Überschneidungen zwischen diesen Figuren schließen lässt - nicht allein über die Prominenz des Sports. Vielmehr sollten mit Hilfe dieser Begriffe gerade auch Verschiebungen des Publikumsinteresses für historische Analysen zugänglich werden. Welche Analysechancen sich dabei ergeben, kann hier nicht im Detail dargestellt, soll aber zumindest noch andeutungsweise deutlich werden. Zu diesem Zweck werden die eingangs skizzierten Problemkreise der Globalisierungsdebatte (key dichotomies; media events) noch einmal aufgegriffen und einer Zweitbetrachtung unterzogen.
4. Publikum des Sports als Publikum des Weltsports: Erklärungsgewinne (1) Zu den „key dichotomies" - global/local, homogenization/heterogenization, sameness/difference etc. - der Globalisierungsdebatte wurde oben berichtet, dass sich in der Sportsoziologie ein Konsens abzeichne, wonach „cultural nationalism and (g)localism resist globalizing processes" (Rowe 2003: 281). Was wird aus dieser These, wenn man sie aus der Weltsport-Perspektive betrachtet? Die These setzt sich, näher betrachtet, aus zwei Teilthesen zusammen: (a) Die erste These ist, dass von der Gleichzeitigkeit und wechselseitigen Ab-
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Tobias Werron: Der Weltsport und sein Publikum hängigkeit beider Seiten dieser Dichotomien auszugehen sei („Glokalisierungsthese"). (b) Die zweite These ist, dass die jeweils zweite (lokale, heterogene, diverse, partikulare etc.) Seite der Unterscheidung als die „widerständige" Seite identifiziert werden könne („Widerstandthese"). Beide Thesen sind sorgfältig zu unterscheiden und getrennt zu bewerten: Die Glokalisierungsthese ist zutreffend, wenn auch präzisierungsbedürftig. Die Widerstandthese ist theoretisch unhaltbar, wenn auch wissenssoziologisch aufschlussreich. Zur Begründung dieser Einschätzung hilft vor allem der Rückblick auf die sachlichen Aspekte der Globalität des Weltsports sowie auf die Produktion von Identifikationswerten als spezifischen Erlebniswerten des Sports, (a) In sachlicher Hinsicht ergab sich oben folgendes Bild von Globalität: Der Weltsport ist differenziert in Sportarten und Disziplinen, die einen je eigenen globalen Vergleichshorizont aufspannen. Jeder Wettkampf und jede Beobachtung von Wettkämpfen, die in diesen Vergleichszusammenhängen beobachtet werden, nehmen an Globalität teil. Da die hierarchische Struktur den Vergleichszusammenhang mitbegründet und da hierarchieübergreifende Regeln diesen Vergleichszusammenhang zusammenhalten, setzt dieser Begriff von Globalität insbesondere nicht voraus, dass in diesem Sinne „globale" Wettkämpfe stets auf höchster Leistungsebene angesiedelt sind oder gar ein weltumspannendes Publikum auf sich ziehen. Auch die Austragung und Beobachtung eines BezirkligaFußballspiels können in diesem Sinne Globalität realisieren, weil sie Regeln vollziehen, Taktiken/ Strategien zur Anwendung bringen und Kriterien für die Evaluation von Leistungen mitführen, die weltweite Geltung beanspruchen (z. B. die Regeln der Fifa, das Taktikschema 4-4-2, die durch ein dichtes Netz wechselseitiger Beobachtung gesicherten Leistungskriterien bis hin zur „Weltklasse"). 5 1 Der Hauptcharakterzug dieser sachlich akzentuierten Globalität ist ein funktionsspezifisches Verhältnis der Vereinheitlichung und Diversifizierung bei gleichzeitiger Dezentralisierung von Sinnbezügen, das den Sport als Diversitätsproduzenten eigener Art auszeichnet und auf der Publikumsseite in der Vielfalt möglicher Erlebniswerte seine Entsprechung hat.
Der Diagnose, dass beide Seiten der „key dichotomies" in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis stehen, kann angesichts dieses Verhältnisses vereinheitlichender und diversifizierender Sinnbezüge nur zugestimmt werden. Gegenüber den gängigen Fassungen der Unterscheidungen ist gleichwohl eine Präzisierung nötig: Man wird beiden Seiten nur gerecht, wenn man sie als konstitutive Momente eines globalen Vergleichszusammenhangs begreift, der einen eigenen sachspezifischen Universalitätsanspruch (hier: einen Leistungsanspruch) und einen eigenen Welthorizont (hier: eine Leistungswelt) immer schon voraussetzt. Die Gleichzeitigkeit von Vereinheitlichung und Diversifizierung und die Abhängigkeit beider Begriffe von einem gemeinsamen Vergleichszusammenhang impliziert zugleich, dass diese Gegenbegriffe nicht plausibel auf ein Verhältnis von „Globalisierung/Widerstand gegen Globalisierung" reduziert werden können. Eher wäre ein Verhältnis abstrakter Generalisierung von Sinnbezügen und deren diversifizierter Konkretisierung zu beobachten, also ein Verhältnis wechselseitiger Ermöglichung nicht im Sinne eines Homogenisierungsprozesses und seiner Widerstände, sondern im Sinne eines Diversifizierungsprozesses und seiner Voraussetzungen.52 Was danach in keinem Fall gemeint sein kann, wenn von Widerständen sportlichkultureller Identitäten vs. Globalisierung (vgl. u.a. Bairner 2001: 175, Hargreaves 2002) oder des Sports vs. Globalisierung (Rowe 2003) gesprochen wird, ist Widerstand gegen jede Art der Globalisierung. Denn die Differenzproduktion des Sports verdankt sich ja selbst einem globalen Vergleichszusammenhang, produziert also Globalisierung immer schon mit. Aber was kann mit der Widerstandthese dann noch gemeint sein? (b) Eine jetzt noch sinnvolle Fassung der These setzt offenbar zwei Globalisierungsbegriffe voraus. Die erste Globalisierung ist die Globalisierung des Sports und entspricht jenem „glokalisierenden", Diversität produzierenden Verhältnis von Sinnbezügen, von dem eben die Rede war. Die zweite Globalisierung ist Globalisierung, die David Rowe meint, wenn er von „comprehensive globalization" oder „globalization in its füllest sense" spricht (Rowe 2003: 281). Das ist eine nicht näher präzisierte Vorstellung von Globalisierung anderswo, von der zu vermuten ist, dass sie eng verwandt ist mit unter-
S1 Den empirischen Gehalt dieser Feststellung kann man z. B. daran erkennen, dass der erfolgreichste Torjäger der deutschen Nationalmannschaft bei der W M 2002, Miroslav Klose, noch zwei Jahre zuvor in der Bezirksliga gespielt hatte, wo er „entdeckt" (= unter Höchstleistungsgesichtspunkten beobachtet) wurde.
52
Ob und wie dabei räumliche Aspekte dieser Differenzproduktion hervorgehoben werden müssen, wird dann ebenfalls zu einer funktionsspezifischen Frage, die davon abhängt, wie Raum für die je eigene Differenzproduktion in Anspruch genommen wird (im Fall des Sports z. B. die oben erläuterte „Lokalität" der Wettkämpfe).
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schiedlichen Varianten der in der Globalisierungsliteratur postulierten Homogenisierungsthese zumal „americanization", „commodification" etc. Begriffe sind, die im Umfeld der Widerstandthese häufig auftauchen. Der Widerstand, um den es dann noch ginge, wäre sportliche Globalisierung vs. sonstige (z.B. ökonomische, politische, massenmediale) Globalisierung, setzte dann aber voraus, dass sich Globalisierung im Sinne dieses zweiten, Homogenisierung akzentuierenden Begriffes tatsächlich beobachten lässt. Dabei lebt die Anfangsplausibilität der konstruierten Widerstände offenbar maßgeblich von der Intuition, dass die Persistenz kultureller, v. a. nationaler Identifikationswerte mit Blick auf diese Art von Globalisierung als Anachronismus aufgefasst werden muss. Beides ist, weltgesellschaftstheoretisch gesehen, unzutreffend. Die These, dass funktionale Differenzierung die primäre Differenzierungsform der Weltgesellschaft sei, schließt die Beobachtung ein, dass das Bedingungsverhältnis von Vereinheitlichung und Diversifizierung von Sinnbezügen ein Verhältnis ist, das für alle Funktionssysteme gilt - Politik, Wirtschaft und Massenmedien eingeschlossen. 53 Statt von zwei wäre von einer „polykontexturalen" Vielzahl sachspezifischer Globalisierungsprozesse zu sprechen, die alle gemeinsam haben, nicht auf Homogenisierung zuzulaufen. Zugleich wird zweitens - auch die intuitive Neigung, kulturelle und insbesondere nationale Differenzen als Globalisierungsanachronismen wahrzunehmen, unplausibel. Vielmehr wird kulturelle Differenzproduktion selbst als etwas beobachtet, was sich in Funktionssystemen abspielt, und Kultur als ein Begriff verstanden, der sich selbst der Tendenz funktionaler Kommunikationszusammenhänge verdankt, alles und jeden ihren sachspezifischen Vergleichskriterien zu unterwerfen (vgl. Luhmann 1995, Esposito 2002: Kap. 4, Stichweh 2004). Wenn aber Durchsetzung funktionaler Differenzierung und Entstehung der Weltgesellschaft (= „Globalisierung") ein und derselbe Prozess sind, und wenn Differenzproduktion das für Funktionssysteme typische Differenzierungsprinzip ist (= „Kultur"), dann ist kulturelle Differenzproduktion konstitutiv für Globalisierung - „in its füllest sense". Nationale Differenzen sind davon nicht ausgenommen. Sie können - als Nationalste«? - eine zentrale Ebene der Binnendifferenzierung des weltpolitischen Systems darstellen (vgl. Stichweh 2000c), als Publi-
53
Wobei der Generalisierungsgrad mit der Spezifität der Sinnbezüge wechseln k a n n - z. B. im Fall der Religion eher niedrig ausfällt (vgl. L u h m a n n 2 0 0 0 : 341ff.).
kumsausschnitt ein Orientierungsmerkmal für die Massenmedien sein oder eben als Identifikationswerte ein in vielerlei Hinsicht konstitutiver Erlebniswert des Sports (vgl. historisch Dyreson 2003). S 4 In allen Fällen vollziehen sie Weltgesellschaft mit. In keinem Fall können sie plausibel als Widerstände beobachtet werden. 5 5 Was bleibt dann noch von der Widerstandthese? Als theoretisches Argument wird sie unplausibel. Wissenssoziologisch wird sie interessant als ein Fall des Gebrauchs der global/lokal-Unterscheidung, mit der die Sinnbezüge eines Funktionssystems (des Sports) gegen Sinnbezüge anderer Funktionssysteme (v. a. Wirtschaft, Politik und Massenmedien) in Stellung gebracht werden. Dieser Unterscheidungsgebrauch steht häufig im Dienst einer „kritischen Absicht" (so ausdrücklich Miller et al. 2001, Hargreaves 2002): Die Globalisierung des Sports ist gute Globalisierung, die auf der Seite des lokalen kulturellen Widerstands steht; die Globalisierung im übrigen ist schlechte Globalisierung, die von homogenisierenden („rationalistischen", „amerikanisierenden", „modernistischen" etc.) Kräften getrieben wird. Globalisierung wird so zu einem Platzhalter für Ablehnenswertes, etwa für eine als zu eng wahrgenommene Beziehung von Sport und Wirtschaft („commodification"), ohne dass näher begründet würde, warum das Gute für die lokale und das Schlechte für die globale Seite reserviert bleibt. Dieses Verfahren muss offenbar weitgehend im Unklaren belassen, was mit Formulierungen wie „comprehensive globalization" oder „globalization in its füllest sense" bezeichnet wird, um mit diesen Formulierungen eine Homogenitätsbedrohung evozie54
Letzteres k o m m t in der W o r t s c h ö p f u n g 90 minute nationalism (Goksoyr 1996: 142) pointiert z u m Ausdruck: Als sportliche Identifikationswerte sind auch nationale Identitäten auf einen Platz im Vergleichsarrangement des Sports angewiesen und erlangen d o r t nur den R a u m , die Zeit und die Bedeutung, die ihnen als spezifisch sportliche Erlebniswerte g e w ä h r t werden. 55 Ein Versuch, die Widerstandthese zu retten, k ö n n t e traditionelle und weltgesellschaftliche Strukturen zu unterscheiden versuchen u n d von Widerstand d o r t sprechen, w o sich traditionelle gegen überlagernde weltgesellschaftliche Strukturen zur Wehr setzen, also als Widerstand der überlagerten gegen die überlagernden Strukturen. Das aber w ä r e W i d e r s t a n d , der sich vielleicht in Form des radikalen Ausstiegs aus weltgesellschaftlichen K o m m u n i k a tionszusammenhängen denken ließe (z. B. als selbstgewählte k o m m u n i k a t i v e Isolation) oder als aggressive Form der Ablehnung funktionaler Differenzierung (z.B. als fundamentalistischer Terrorismus), sicher nicht als Produktion von Identifikationsmöglichkeiten in einem globalen K o m m u n i k a t i o n s z u s a m m e n h a n g wie d e m Sport.
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ren zu k ö n n e n , die es abzuwehren gilt. So wird die Evokationskraft des buzz words genutzt und mit begrifflicher Unscharfe bezahlt - und eben diese Unschärfe beklagt, wenn globalization als „all purpose buzz w o r d " verurteilt wird. D e r Verweis auf diese begrifflichen Unschärfen und ihre p a r a d o x e n Konsequenzen ist nicht als Pauschalablehnung solcher Kritik zu verstehen, aber als Hinweis darauf, dass Abstraktionsgrad und Präzision des V o k a b u lars solcher Kritik offenbar nicht ausreichen, um neben der Kritik auch eine adäquate Beschreibung des Gegenstands zu leisten. Die Vermutung liegt nahe, dass dieser Z u s a m m e n h a n g zwischen kritischer Absicht und konstitutiver Unklarheit auch in anderen W i n k e l n der Globalisierungsdebatte aufzufinden sein könnte. Globalisierung, hieße das, hätte auch als buzz word noch eine Funktion: die Funktion, Globalisierungsforscher zur Kritik zu ermächtigen. (2) Auf die zweite Ausgangsfrage, wie die Prominenz sportlicher mega-events zu erklären sei, kann aus der Beschreibung des Weltsports und seines Publikums nun eine erste, tentative A n t w o r t entwickelt werden. D a sich der Aufstieg eines events zu einem media event und schließlich megaevent über seine mediale Verbreitung und öffentliche Aufmerksamkeit definiert, 5 6 reiht sich die Frage hier in einen allgemeinen F r a g e n k o m p l e x von Bedingungen und Folgen erweiterter Publikumsinklusivität ein. Die T h e s e wird sein, dass (a) sich die Prominenz sportlicher mega-events auf eine doppelte Wahlverwandtschaft von Sport- und Weltereignisstruktur stützt; dass (b) die spezifische Inklusivität sportlicher mega-events auf einer engen Allianz von Sport und Fernsehen beruht; und dass (c) die infolge der Einführung und Ausweitung des Fernsehens erweiterte Publikumsinklusivität mit evolutionären D y n a m i k e n verbunden ist, die auf einen relativen Bedeutungsverlust der „ F a n s " hinauslaufen, (a) Weltereignisse wurden hier - als eine F o r m von „ G r o ß e r e i g n i s s e n " - an zwei zentralen Stellen eingeführt. Z u n ä c h s t als sachlicher Aspekt von G l o b a lität, insofern Weltereignisse in allen Sportarten zur Unterhaltung des Höchstleistungshorizonts
mit bei-
tragen. W e r C h a n c e n haben will, als „schnellste Frau der W e l t " oder „Weltfußballer des J a h r e s " zu gelten, muss seine Leistungsfähigkeit daher auch und gerade bei G r o ß - und Weltereignissen unter BeFür eine entsprechende Definition vgl. Roche 2 0 0 0 : 1: ,„Mega-events' are large-scale cultural (including commercial and sporting) events which have a dramatic character, mass popular appeal and international significance." 56
weis stellen. Zweitens als ein Stabilisator des Präsenzwerts: Die zeitliche und räumliche Begrenzung der W e t t k ä m p f e setzt sich in der zeitlichen-räumlichen Begrenzung von Weltereignissen fort. Dabei profitieren die W e t t k ä m p f e von der Integration in die Weltereignisstruktur ebenso wie umgekehrt die Weltereignisstruktur vom Präsenzwert einzelner W e t t k ä m p f e - meist so, dass der Erlebniswert einer M e h r z a h l von W e t t k ä m p f e n durch Einbindung in die Struktur des Weltereignisses stabilisiert wird (z. B . einzelne Spiele der Fußball-Weltmeisterschaft; z . B . die Leichtathletikwettkämpfe im R a h m e n der Olympischen Spiele), seltener so, dass W e t t k a m p f und Weltereignis weitgehend zusammenfallen (z. B. Super Bowl). Es ist diese doppelte Wahlverwandt-
schaft
zwischen
Sport- und
Weltereignisstruktur,
die sportliche Weltereignisse gegenüber anderen Ereignisformen auszeichnet. Entsprechend fiele es schwer, sich einen Sport vorzustellen, der ohne Weltmeisterschaften auskäme, während man sich andere Funktionssysteme wohl o h n e Weltausstellungen und die Wirtschaft ohne das Weltwirtschaftsforum in D a v o s denken könnte. R e c h n e t man die prinzipielle Offenheit/Zugänglichkeit der zentralen Operationen, der W e t t k ä m p f e , für ihr Publikum hinzu (die den Sport mit den M a s s e n m e dien, der Kunst und vielleicht der Wissenschaft verbindet, aber z. B. von der W i r t s c h a f t unterscheidet), lässt sich schon eine Reihe struktureller Vorteile aufzählen, die sportlichen Weltereignissen einen Inklusivitätsvorsprung gegenüber anderen Ereignistypen verschaffen k ö n n t e . (b) Z u m mega-event wird ein Sportweltereignis jedoch erst, wenn es ihm gelingt, diese Vorteile über Verbreitungsmedien in Publikumsinklusionserfolge u m z u m ü n z e n . 5 7 Insofern trifft zu, dass der W e g
vom event zum mega-event
nur über das media
event führt. Z u r Analyse dieses Z u s a m m e n h a n g s ist es, anders als in der Globalisierungsforschung üblich, hilfreich, den Medienbegriff differenziert zu verwenden und zwischen Verbreitungsmedien und Massenmedien zu unterscheiden: W ä h r e n d unter Verbreitungsmedien (nur) Kommunikationstechniken *bzw. Verbreitungstechnologien zu verstehen sind, bezeichnen Massenmedien (auch) ein Funk5 7 Nicht jedes sportliche Weltereignis ist „mega-event" in diesem Sinne. Die Weltmeisterschaften der Sportschützen z.B. erfüllen alle Begriffskriterien eines Weltereignisses, aber ihre Publikumsinklusivität erscheint zu gering, ihr medialer Auftritt zu unspektakulär, um ihnen das „mega"-Attribut zuzuschreiben. Ob sich aus solchen Intuitionen scharfe begriffliche Kriterien von „mega-events" entwickeln lassen, ist freilich eine andere Frage, die hier nicht geklärt werden kann.
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tionssystem, das sich auf Basis dieser Technologien ausdifferenziert (vgl. Luhmann 1996). Als Kommunikationszusammenhang eigener Art ist der Sport von den Massenmedien - als einem Kommunikationszusammenhang anderer Art mit den für die Massenmedien typischen Selektoren und Inszenierungsformaten - zu unterscheiden, aber nicht ohne die Kommunikationstechniken zu beschreiben, die er einsetzt, um sein Publikum zu erreichen. 58 Wie und mit welchen Folgen das geschehen kann, soll hier kurz am Fernsehen illustriert werden. Vom Fernsehen ist häufig behauptet worden, dass es das „Leitmedium" des Sports sei und dass es mit dem Sport ein „global love-match" (Rowe 1996) bilde. 5 9 Diese Einschätzungen erscheinen umso plausibler, wenn man die körperliche, jedenfalls visuell wahrnehmbare Kommunikation von Leistungsfähigkeit als Funktion des Sports bezeichnet, da das Fernsehen als visuelles Echtzeitmedium zur Erfüllung dieser Funktion unmittelbar beiträgt. Die zu erwartenden „katastrophischen" Konsequenzen der Einführung des Fernsehens für den Sport lassen sich historisch gut nachvollziehen, ohne sie hier vertiefen zu können (vgl. z.B. Barnett 1990: 5ff., Miller et al. 2001: 60ff.). 6 0 Systematisch sind drei Aspekte zu unterscheiden. Die ersten beiden betreffen die Verbreitung bzw. Zugänglichkeit von Information: (1) Über das Fernsehen kann der Sport sein Publikum von entfernt stattfindenden Wettkämpfen regelmäßig mit visuellen Informationen versorgen, jenen Primärinformationen also, durch die ein ei-
Bei der Beobachtung von Sport-Fernsehübertragungen sind demnach (mindestens) zwei zeitgleich prozessierte Sinnzusammenhänge zu unterscheiden: des Sports und der Massenmedien. Diese Unterscheidung betont (gegen Luhmann 1 9 7 5 a : 2 7 ) , dass der Sport auch dann, wenn er im Fernsehen vorkommt, nicht auf „Unterhaltung" reduziert werden sollte, beharrt also auf der Frage, wie Sport als Sport unterhält. Umgekehrt bestreitet sie natürlich nicht, dass zwischen Sport und Massenmedien vielfältige Abhängigkeiten bestehen, die in Begriffen der Koevolution bzw. strukturellen Kopplung analysiert werden können (vgl. die Ansätze bei Horky 2 0 0 1 ) . 58
Eine „histoire d ' a m o u r " ist dem Sport auch schon mit der Presse angedichtet worden, vgl. Seidler ( 1 9 6 4 : 5). Es ist aber wohl mehr als ein Zufall, dass erst beim Fernsehen von einer globalen Liebesaffäre die Rede ist. 59
Die enge, fast symbiotische Beziehung äußert sich auch darin, dass dem Sport von Medienhistorikern umgekehrt ähnliche grundlegende Bedeutung für das Fernsehen zugeschrieben wird, vgl. etwa Hackforth ( 1 9 7 5 : 2 1 0 ) : „Die Übertragungen von der Fußball-Weltmeisterschaft 1 9 5 4 sind gleichbedeutend mit dem Aufbau des europäischen Fernsehnetzes."
genständiges Urteil über Wettkampfverläufe und einzelne Wettkampfleistungen erst möglich wird. (2) Ein weiterer Aspekt ist die in „Live-Übertragungen" realisierte Gleichzeitigkeit von übertragenen und übertragenden Informationen, mit der die Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung von Gleichräumlichkeit entkoppelt werden kann. Der dritte Aspekt schließlich bringt neben der Verbreitungswirkung auch die spezifische Medialität (zur Unterscheidung Zugänglichkeit/Medialität vgl. näher Stäheli 2004) des Fernsehens zur Geltung: (3) „medial vermittelte Nähe" (Eisner et al. 1994: 186), die das Fernsehen erzeugt, indem es die Atmosphäre entfernter Ereignisse, einschließlich der Atmosphäre, die das Vor-Ort-Publikum erzeugt, in Wohnzimmern, Kneipen oder vor Großbildleinwänden „überträgt". Nicht nur mit der Weltereignisstruktur, auch mit dem Verbreitungsmedium Fernsehen verbindet den Sport demnach eine besonders enge Beziehung. Sportliche Weltereignisse machen sich diese Beziehung in allen drei Hinsichten, vor allem aber in der zweiten Hinsicht zunutze. Denn erst mit dem Fernsehen wird es, bei stets beschränkten Stadien- und Hallenkapazitäten, möglich, ein globales Publikum gleichzeitig mit der Austragung der Wettkämpfe zu erreichen - im Extremfall verbunden mit einer weltweiten Synchronisierung der Wahrnehmung. 61 Diese Gleichzeitigkeit globaler Inklusivität und weniger die Inklusivität als solche dürfte auch Anlass der eingangs zitierten Einschätzung sein, bei den erfolgreichsten unter den sportlichen Weltereignissen wie Fußball-Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen handele es sich um die ersten „truly global rituals" (Real 1989: 223). Wie aber hat man sich dieses weltweit synchronisierte Publikum vorzustellen? Folgt, wenn alle das Gleiche sehen, auch, dass alle das Gleiche erleben? Wäre in diesem anspruchsvollen Sinn von einem Ritual zu sprechen? Unsere Überlegungen deuten auf das Gegenteil: auf Diversität. Die Vielfalt möglichen Publikumserlebens lässt sich häufig schon aus der Teilnehmerkonfiguration ableiten, die ja z.B. bei Olympischen Spielen fast sämtliche Länder als „Teilnehmernationen" umfasst und damit insbesondere zur Produktion einer Vielzahl nationaler Identifikationswerte bei den Wettkämpfen einlädt. Auch die Massenmedien reagieren mit einer diver-
60
Zur Bedeutung der Synchronisierungsfunktion vgl. Bartz ( 2 0 0 3 : 41f.), die an deutschen Mediensemantiken der 6 0 e r Jahre zeigt, wie die Inklusivitätserfolge des Sports und die Synchronisierungsfunktion des Fernsehens sich in den Formeln zunächst der „Nation am Fernsehschirm" und dann einer „globalen TV-Gemeinde" verbinden. 61
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sifizierten, an nationale Publika adressierten Berichterstattung. Und die Diversität der Parteinahme ist nicht auf Spiegelung des nationalen Indexes der Wettkampforganisation beschränkt. Von den etwa eine Milliarde Zuschauern etwa, die sich das Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft ansehen, lassen sich die wenigsten nach nationaler Staatsangehörigkeit der einen oder anderen Seite zuordnen. Sie müssen andere Gründe finden, Partei zu ergreifen, z. B. Awi/'-Identifikation, wie das im Fußball beliebte „gegen die Deutschen" (zu diesem und weiteren Beispielen vgl. Rowe 2003) oder auch für einzelne Weltstars (zum weltweiten Einfluss von Weltstars auf die durchschnittlichen Einschaltquoten bei Olympischen Spielen vgl. Moragas Spä et al. 1995: 218). Es gibt zahlreiche weitere, z.B. ästhetische oder ethnische Gründe, bei Weltereignissen Partei zu ergreifen oder Interesse an Höchstleistungen und Wettkampfverläufen zu finden - man muss nur wissen, welche Gründe sich für die Zwecke eigenen Erlebens eignen. Das „Weltpublikum", das sich anlässlich von mega-events versammelt, muss man sich daher selbst im Extremfall globaler Synchronisierung der Wahrnehmung als ein diversifiziertes Publikum vorstellen, das weltweit gleichzeitig das Gleiche sieht, aber unterschiedlich erlebt. (c) Einige abschließende Überlegungen sollen nun andeuten, wie sich die Prominenz der mega-events in eine Analyse evolutionärer Dynamiken im Weltsport einfügen könnte. Vieles muss hier aus Raumgründen und mit Blick auf die Literaturlage offen bleiben. Eines aber lässt sich aus einer Analyse der Möglichkeiten, die das Fernsehen für die Ausweitung des Publikums bietet, mit einiger Sicherheit schließen: Dass die idealtypische Inklusionsfigur der „Fans" relativ zur Gesamtheit des Publikums an Bedeutung verliert. Ausgangsüberlegung ist, dass der Sport mit dem Fernsehen in die Lage kommt, sich ein eigenes, spezifisches „Distanzpublikum" zu schaffen. Das gilt grundsätzlich für alle Verbreitungsmedien. Aber erst mit den bewegten Bildern des Fernsehens wird ein Distanzerleben der Wettkämpfe möglich, dass mit den Evidenzen der Vor-Ort-Wahrnehmung Schritt halten oder sie sogar übertreffen kann. 62 Davon proDamit sind hier natürlich keine voraussetzungslosen, „aus sich heraus scheinenden" Evidenzen gemeint, sondern diskursiv erzeugte, historisch variable, von Sportart zu Sportart variierende. Dass dem Fernsehen dabei häufig auch das Potenzial zur Steigerung von Wahrnehmungsevidenzen zugeschrieben wird, zeigen z. B. die im Fußball üblichen, wiederkehrenden Diskussionen um den „Fernsehbeweis". 62
fitieren alle Erlebniswerte: Leistung wird anschaulich (Leistungswert), die Andersmöglichkeiten der Wettkampfverläufe werden visuell wahrnehmbar (Kontingenzwert), zeitgleiches Mit-Leiden (Identifikationswert) und Präsenzerleben (Präsenzwert) über große Distanzen hinweg werden möglich. 63 Entsprechend profitieren grundsätzlich alle Inklusionsfiguren, jedoch mit erheblichen graduellen Unterschieden, die sich theoretisch ableiten und empirisch bestätigen lassen: Am meisten profitieren die „Eventhusiasten". Zunächst schon deshalb, weil Welt- und Großereignisse bessere Chancen haben, überhaupt im Fernsehen übertragen zu werden: Selektivität des Fernsehens und Selektivität der Eventhusiasten passen zueinander. Dann auch deshalb, weil die Gleichzeitigkeit der Bilder für ein am Präsenzwert orientiertes Publikumsinteresse von besonders elementarer Bedeutung ist: Mit dem Fernsehen kann man „live dabei" sein, ohne anwesend zu sein. Schließlich deshalb, weil die medial vermittelte Nähe des Fernsehens die Basis für ein an Atmosphäre orientiertes Publikumserleben verbreitert, indem es die Bilder und Geräusche des Vor-Ort-Publikums immer mitliefert und umgekehrt dem Vor-Ort-Publikum die Möglichkeit verschafft, gesehen und gehört zu werden. Atmosphäre wird so zu einem Eigenwert, der vor Ort kultiviert und vor dem Fernseher miterlebt werden kann, und zu einer eigenständigen Quelle von Gründen, ins Stadion zu gehen oder den Fernseher einzuschalten. Empirisch äußert sich diese atmosphärische „Inklusionskette" auch darin, dass die bei Einführung und Ausweitung des Fernsehens verbreiteten Befürchtungen, dass die Stadien bei parallelen Live-Übertragungen leer bleiben würden (dazu Barnett 1990: 11 ff., Mikos 2002), heute als weitgehend überholt gelten und einem Verhältnis wechselseitiger Ergänzung von Live-Live-Ereignis und Fernseh-Live-Ereignis gewichen sind. 64 Im Die Folgen lassen sich v. a. an der Popularität „reiner Zuschauersportarten" wie Skispringen oder Biathlon ablesen, bei denen einer winzigen Zahl von Athleten ein Millionenpublikum gegenübersteht, das diese Sportarten nie ausgeübt oder vor Ort erlebt hat, sich aber allein über TVBilder das Interesse an den Wettkämpfen und die Fähigkeit zur Beurteilung der Leistungen aneignet (bzw. anzueignen meint). 6 4 Vgl. z.B. Schwier/Fritsch (2003: 18), mit einer Gegenüberstellung der Anzahl übertragener Spiele mit den (Stadion*) Zuschauerzahlen von Fußball-Bundesligaspielen: parallel steigend von Anfang bis Ende der 90er Jahre. Als Hinweis darauf, dass v. a. Großereignisse profitieren, vgl. Markovits/Hellerman (2004), die von einem speziellen „World Cup Bewusstsein" des nordamerikanischen Fußballpublikums sprechen. 63
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Kontext einer Typologie der Vermittlung zwischen Leistungs- und Publikumsrollen (vgl. Stichweh 1988: 278ff.) könnte man den Vor-Ort-Zuschauern von Sportveranstaltungen daher auch die Funktion einer ereigniskonstituierenden Publikumsrolle zuschreiben, die auch in anderen Kommunikationszusammenhängen eine Rolle spielt (z. B. Popkonzerte, Parteitage u. ä.), aber nur im Sport schlechthin konstituierende Bedeutung angenommen hat. Die Semantik jedenfalls reagiert explizit, ja emphatisch auf die Bedeutung dieser Rolle: Fehlt sie, ist es ein „Geisterspiel". Weniger profitieren die „Fans". Die Fernsehbilder eröffnen zwar durchaus zusätzliche Möglichkeiten der Distanzidentifikation (vgl. z. B. zu Stars Whannel 2002). Die idealtypischen, „echten Fans" aber sind auf Kommunikationsformen angewiesen, die räumliche N ä h e und körperliche Kopräsenz mit den Sportlern voraussetzen. „Echte Fans" müssen daher ohnehin ins Stadion gehen, um ihr wechselseitiges Treueverhältnis zu Vereinen oder Sportlern zu pflegen. „Echte Fernsehfans" gibt es nicht. Hinter der Einschätzung, dass traditionelle „supporter"-Einstellungen tendenziell durch weniger verbindliche Identifikationsformen abgelöst werden („post-fan"-mentality, vgl. Giulianotti 1999: 148, 2002), steckt vermutlich maßgeblich dieser negative Zusammenhang zwischen Fernsehdistanz und fanspezifischen Kommunikationsformen. Und auch für diesen Zusammenhang gibt es ein etwas verstecktes, aber umso interessanteres empirisches Indiz: In den letzten Jahrzehnten ist ein „long term erosion of the importance of home advantage" registriert worden - über Kontinentgrenzen hinweg in den europäischen Fußball-Profiligen wie in den nordamerikanischen M a j o r Leagues. 6 5 Für diesen globalen Trend kommt nun eine Erklärung in Reichweite. Wenn, wie oben behauptet, der Heimvorteil an eine wechselseitig normative Erwartungsfigur gebunden ist, die von den lokalen Fans vertreten wird, dann ist mit seinem Nachlassen zu rechnen, wenn diese Erwartungsfigur gegenüber anders stilisierten Publikumserwartungen in den Hintergrund tritt. Und eben davon wäre auszugehen, wenn die soeben formulierte These zu Verschiebungen von den Fans hin zu (groß-) ereignisorientierter Publikumsinklusion nach Einführung des Fernsehens zutrifft. Die über das Fernsehen ermöglichte Inklusivität der Wettkämpfe, wäre zu schließen, ist
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So Goddard/Dobson (2001: 150) für die europäischen Fußball-Profiligen, Smith (2003) für die amerikanischen Basketball- und Eishockey-Profiligen (nicht Baseball, wo der Heimvorteil traditionell schwach ausgeprägt ist).
ein Gegner des Heimvorteils, und es ist eine mittelbare Bestätigung dieser These, dass der Heimvorteil im Zuge der Einführung und Ausweitung des Fernsehens teilweise erodiert ist. 6 6 An dieser Analyse, die auf weitere Verbreitungsmedien ausgedehnt, in Sportarten differenziert und vor allem historisch vertieft werden müsste, lässt sich beispielhaft sehen, dass sich der Sport als globaler Kommunikationszusammenhang in Allianz mit neuen Verbreitungsmedien neue Publikumsfiguren schafft, die auf die Leistungskommunikation in Stadien und Hallen selbst zurückwirken. Damit bestätigt sich empirisch, dass das Publikum des Sports nur als Publikum des Weltsports angemessen beschrieben werden kann - wie auch umgekehrt der Weltsport nur, wenn Begriffe seines Publikums zur Verfügung stehen.
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Dass es dabei um Einflüsse des Publikums, nicht lediglich die Emanzipation der Leistungsfähigkeit von äußeren Einflüssen geht, wird auch an einem Detail deutlich, das D. Randall Smith berichtet (2003): Der Heimvorteil lässt zusätzlich signifikant nach, wenn die Vor-Ort-Zuschauerzahlen, etwa bei einem Gastspiel einer Spitzenmannschaft oder eines Starspielers, bei einzelnen Spielen sprunghaft ansteigen.
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Autorenvorstellung: Tobias Werron, geb. 1970 in Heidelberg. Studium der Rechtswissenschaften in Heidelberg, Rechtsreferendariat in Berlin. Anwaltstätigkeit in Berlin. Seit Wintersemester 2 0 0 3 / 2 0 0 4 Promotionsstipendiat im Graduiertenkolleg „Weltbegriffe und globale Strukturmuster. Ausdifferenzierung und funktionale Diversifikation der Weltgesellschaft" am Institut für Weltgesellschaft in Bielefeld. Forschungsinteressen: Soziologische Theorie, Theorie der Weltgesellschaft, Rechtssoziologie, Sportsoziologie.
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 290-313
Die Konstruktion des Welthandels als legitime Ordnung der Weltgesellschaft The Construction of World Trade as Legitimate Order of World Society Richard Münch Universität Bamberg, Lehrstuhl Soziologie II, Lichtenhaidestraße 11, D-96045 Bamberg E-mail: [email protected] Zusammenfassung: Die funktionale Ausdifferenzierung der Weltwirtschaft aus dem segmentär differenzierten System der Nationalstaaten ist in einen fundamentalen institutionellen und kulturellen Wandel eingebettet, der von nationaler Solidarität und Gerechtigkeit weg- und zu transnationaler Solidarität und Gerechtigkeit hinführt. Die Inklusion der Nationen in die Weltwirtschaft verringert die Ungleichheit zwischen den Nationen und erhöht sie zugleich innerhalb der Nationen. Aus der zwischenstaatlich paktierten Welthandelsordnung geht eine transnationale Ordnung als Kern der sich herausbildenden Weltgesellschaft hervor, die den Handlungsspielraum der Staaten neu absteckt und tief in die nationalen Gesellschaften hineingreift. Dieser Prozess soll im Folgenden im Anschluss an Emile Dürkheims Studie zur Arbeitsteilung am Beispiel der Grundprinzipien der Welthandelsordnung, der zentralen Streitobjekte des Welthandels und der Frage der Inklusion der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft untersucht werden. Es gilt nicht einfach, die funktionale Ausdifferenzierung eines autopoietisch operierenden Systems der Weltwirtschaft zu erklären, sondern auch die Herausbildung einer legitimen Welthandelsordnung, die einerseits die Nationalstaaten bindet, andererseits in ihre innere Ordnung hineinwirkt. Summary: The functional differentiation of the world economy from the segmentally differentiated system of nationstates can only be adequately conceived of if we abandon the dual thought pattern of economy/politics. This process is embedded in a fundamental institutional and cultural change which is moving away from national solidarity and justice toward transnational solidarity and justice. The inclusion of nations in the world economy has decreasing effects on inequality between nations and increasing effects on inequality within nations. From the world trade order as agreed upon by states a transnational order is emerging which is forming the core of an evolving world society, which itself sets limits to the latitude of freedom in decision-making which states have. This article tries to point out this process of change starting from Emile Durkheim's study on the division of labor. The process is explored with regard to the fundamental principles of the world trade order, to central points of controversy in world trade, and to the inclusion of developing countries in the world economy.
1. Einleitung Die Welthandelsordnung ist das zentrale Konfliktfeld, in dem sich die Kämpfe um die Abstimmung zwischen der sozialen Integration der Nationalstaaten und der funktionalen Integration der Weltwirtschaft abspielen. Es wäre jedoch falsch, diese Abstimmung allein nach der Unterscheidung zwischen Systemintegration und Sozialintegration zu untersuchen. Die funktionale Integration der Weltwirtschaft kann nämlich nicht ohne eine korrespondierende Umstellung des Verhältnisses zwischen nationaler und transnationaler Solidarität voranschreiten. Ich gehe von der Grundannahme aus, dass funktionale Integration ohne damit einhergehende soziale Integration nicht möglich ist, d . h . nicht stabilisiert und gegen opponierende Kräfte durchgesetzt werden kann. Die funktionale Integration der Weltwirtschaft ist auf Dauer nur als legitime Ordnung möglich. Ohne diese Grundlage ist sie ständig vom Rückfall in den nationalen Protektionismus bedroht.
In den folgenden Abschnitten sollen die Voraussetzungen und Begleiterscheinungen der Herausbildung einer legitimen Ordnung der Weltwirtschaft untersucht werden. Soweit eine solche legitime Ordnung entsteht, kann davon gesprochen werden, dass die Weltwirtschaft konkret mehr ist als die funktionale Ausdifferenzierung eines autopoietisch operierenden Systems jenseits des segmentär differenzierten Systems der Nationalstaaten (Luhmann 1 9 8 8 ) . Sie bildet die Keimzelle einer Weltgesellschaft, die sich über das System der Nationalstaaten legt und in diese hineingreift. Die Ordnung des Welthandels ist zwar zwischen souveränen Nationalstaaten paktiert, sie lässt deren innere Ordnung aber nicht unberührt, sondern schafft die Grundlage für einen Solidaritätswandel, der sich in den Begriffen Emile Dürkheims ( 1 9 7 7 ) als ein Wandel weg von nationaler „mechanischer" Solidarität und hin zu transnationaler - nicht nur internationaler „organischer" (besser gesagt: netzwerkartiger) Solidarität begreifen lässt. Damit geht eine Annäherung zwischen den Nationen durch transnationale Ver-
Richard Münch: Die Konstruktion des Welthandels als legitime Ordnung der Weltgesellschaft flechtung und innere Differenzierung sowie Pluralisierung einher. Ebenso verändert sich das Kollektivbewusstsein in die Richtung der Abschwächung im Verhältnis zum Individualbewusstsein und in die Richtung der Abstraktion. Dieser Wandel zeigt sich in der Ablösung des Gerechtigkeitsprinzips der möglichst weit gehenden Resultatsgleichheit innerhalb nationaler Kollektive bei gleichzeitiger Chancen- und Resultatsungleichheit zwischen nationalen Kollektiven durch das Prinzip der äußeren und inneren Chancengleichheit und Fairness. Während die Ungleichheit zwischen den Nationen zurückgeht, nimmt sie innerhalb der Nationen zu. Dieser Solidaritäts- und Gerechtigkeitswandel soll in den folgenden Abschnitten durch eine an Emile Dürkheims (1977) Studie zur sozialen Arbeitsteilung anschließende funktionalistische und institutionalistische Erklärungsstrategie nachgewiesen werden. Dabei wird die Herausbildung einer legitimen Welthandelsordnung einerseits als funktionale Anpassung an gewachsene Interdependenz (materielle Dichte) durch Spezialisierung und internationale Arbeitsteilung begriffen, andererseits als ein Ergebnis normativer Diskurse in einem sich transnationalisierenden diskursiven Feld. Der Schwerpunkt der empirischen Analyse liegt in dem Nachweis, dass sich anhand zentraler Konfliktgegenstände die Herausbildung einer in die Nationalstaaten hineingreifenden legitimen Welthandelsordnung erkennen lässt. Das zeigt sich im wachsenden Gewicht der Prinzipien der Welthandelsordnung (Reziprozität und Meistbegünstigung), im Antidumpingrecht, im Antisubventionsrecht, im Streitbeilegungsverfahren der W T O und in der Öffnung der Märkte der Industrieländer für Importe aus den Entwicklungsländern.
2. Internationale Arbeitsteilung als funktionale Anpassung an wachsende materielle Dichte Emile Dürkheim (1977) hat in seiner Studie zur Arbeitsteilung ein theoretisches Instrument entwickelt, das sich für eine genuin soziologische Erklärung der Ursachen, Begleiterscheinungen und Konsequenzen der internationalen Arbeitsteilung verwenden lässt, die nicht nur als wirtschaftliches Phänomen zu begreifen ist, sondern als umfassendes soziales Phänomen insbesondere mit einer moralischen Dimension. Zunächst können wir mit Dürkheim (1977: 297ff.) die Ursache der fortschreitenden internationalen Arbeitsteilung im Schrumpfen der Distanzen zwischen den Menschen erken-
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nen. Die Distanzen schrumpfen auf Grund von Populationswachstum, Verstädterung und/oder dichteren und schnelleren Transport- und Kommunikationswegen und -mittein. Die entsprechend gewachsene materielle Dichte erhöht die Konkurrenz um knappe Ressourcen. Dieser verstärkte Konkurrenzdruck kann auf verschiedenen Wegen (funktionale Alternativen) bewältigt werden (Dürkheim 1961: 179): • erhöhte Selbstmordrate (über Dürkheim hinaus verallgemeinert: Sterberate) • Emigration • Verbrechen (über Dürkheim hinaus auch Krieg) • Spezialisierung In der modernen Geschichte sind bis heute alle funktionalen Alternativen präsent geblieben. Allerdings hat die vierte Alternative - die Spezialisierung - zunehmend an Raum gewonnen, und je mehr sie das weiterhin tut, um so mehr verlieren die drei anderen Alternativen an Bedeutung. Dietrich Rueschemeyer (1982: 582ff; vgl. auch 1985: 170ff.) wendet gegen Dürkheims Erklärung des Fortschreitens der Arbeitsteilung durch die mit der materiellen Dichte wachsende Konkurrenz um knappe Ressourcen ein, dass sie auf einer falschen Anwendung von Darwins Theorie der natürlichen Selektion beruhe. Während Darwin Spezialisierung in der Tierwelt durch Konkurrenz von „Konsumenten" um Nahrung erkläre, der durch Spezialisierung der Nachfrage auf unterschiedliche Nahrungsmittel ausgewichen wird, spreche Dürkheim von der Spezialisierung von miteinander konkurrierenden „Produzenten". Diese Konkurrenz könne jedoch durch Produktivitätsfortschritte und/oder wachsende Nachfrage ausgeglichen werden, so dass keine Notwendigkeit der Spezialisierung bestünde. Ich halte Rueschemeyers Argument nicht für schlagend. Es muss beachtet werden, dass Produzenten etwas anbieten, um wiederum den Erlös in Konsum oder erneute Produktion umzusetzen. Finden sie keine Abnehmer, dann fehlen ihnen die Einnahmen, um ihren Lebensstandard sichern zu können. Produzenten konkurrieren demgemäß in ähnlicher Weise um knappe Ressourcen (die Ausgaben von Konsumenten) wie die Tiere um knappe Nahrungsmittel. Insoweit besteht kein grundsätzlicher Unterschied. Außerdem sind alle Menschen Produzenten als Anbieter von Leistungen, also auch Arbeitnehmer, die ihr Arbeitsvermögen auf dem Arbeitsmarkt anbieten. Wachsendes Angebot an einfacher Arbeitsqualifikation auf dem globalen Arbeitsmarkt beispielsweise drückt deren Entlohnung - wenn nicht Arbeitsmarktregulierungen dagegen wirken -
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und übt einen Druck in die Richtung der Spezialisierung durch Höherqualifizierung, Zusatzqualifizierung und Spezialkenntnisse aus. Natürlich kann ein Nachfrageschub nach einfacher Produktionsarbeit auf dem Weltmarkt für Entlastungen sorgen, z.B. steigende Nachfrage in bevölkerungsreichen Ländern wie China, soweit dort nicht alle Nachfrage durch heimische Produktion befriedigt werden kann. Das kann jedoch nur eine vorübergehende Entlastung sein. Würde Rueschemeyers Argument greifen, dann müsste sich die Nachfrage nach gleichartigen Produkten oder Dienstleistungen beliebig steigern lassen. Diese Annahme widerspricht aber der Gesetzmäßigkeit des abnehmenden Grenznutzens. Jenseits der Sättigung findet kein Angebot einen Abnehmer. Auch steigende Produktivität stößt an diese Grenzen der wirksamen Konkurrenzminderung. Das damit wachsende Angebot derselben Produkte findet mit sinkendem Grenznutzen immer weniger Abnehmer. Wachsende Nachfrage und steigende Produktivität können demgemäß nur für eine begrenzte Dauer Konkurrenz mildern und Spezialisierung erübrigen. Das ist im übrigen für lange Zeit der Weg stark exportorientierter, hochproduktiver Industrienationen wie Deutschland gewesen, wo inzwischen gelernt wird, dass dieser Weg an seine Grenze gestoßen ist und nun das Ausweichen vor der Konkurrenz durch Nationen mit niedrigeren Lohnstückkosten zu neuer Spezialisierung auf Spitzentechnologie zwingt. Rueschemeyers Argument gegen Dürkheim wird durch diese Entwicklung widerlegt. In diesen Zusammenhang gehört auch Dürkheims Argument, dass das Fortschreiten der Arbeitsteilung nicht durch das wachsende Glück der Menschen erklärt werden könne, weil dies von den Menschen gar nicht vorausgesehen werden kann und weil sogar im Gegenteil die Belastungen des Aufgebens alter Gewohnheiten und des Erlernens neuer Tätigkeiten im Vordergrund stünden. Damit sagt Dürkheim, dass die Arbeitsteilung ein hohes Maß von Transaktionskosten verursacht, aufgrund derer sich die meisten Akteure eher gegen sie stemmen. Dürkheims Argument impliziert, dass von dem von Adam Smith (1776/1992) formulierten Gesetz der aus der internationalen Arbeitsteilung folgenden Kostenvorteile für alle beteiligten Nationen und auch von dem von David Ricardo (1817/1977) eingeführten Gesetz der komparativen Kostenvorteile nicht auf die tatsächliche Nutzensteigerung im Gefolge der internationalen Arbeitsteilung geschlossen werden kann. In der klassischen wie auch später in der neoklassischen Welt der Ökonomie kommen Transaktionskosten nicht vor.
Diese entscheiden jedoch grundsätzlich über das tatsächliche Geschehen. Es bedarf deshalb eines besonders starken Drucks der Konkurrenz und der Ausschaltung funktionaler Alternativen, um einen neuen Schub der Spezialisierung und Arbeitsteilung in Gang zu setzen. Diese (ökonomische Theorien in Frage stellende) Einsicht Dürkheims geht wieder verloren, wenn argumentiert wird, dass die Nachfrage nach entsprechenden spezialisierten Produkten zum Angebot zwecks Nutzenmaximierung motiviert. Mit diesem ökonomischen Argument gerät aus dem Blick, dass zwar Innovationen durch Chancen der Nutzenmaximierung initiiert werden können, gerade dadurch aber anderen Anbietern bisherige Chancen verschlossen werden, was sie schlichtweg zu einer Anpassung durch neue Spezialisierung zwingt, obwohl sie dabei Belastungen auf sich nehmen müssen, die sie vor der Veränderung der Situation nicht übernommen hätten. Die entscheidenden Bausteine der Erklärung sind deshalb äußere Veränderungen (zunehmende materielle Dichte), die die Konkurrenz erhöhen, die ihrerseits einen äußeren Zwang zur Abkehr von alten Traditionen ausübt und die Kräfte der Beharrung schwächt. Auch ein weiteres Argument, das Rueschemeyer (1982: 584ff.) gegen Dürkheim vorträgt, kann nicht richtig überzeugen. Er greift Dürkheims These auf, dass sich die Arbeitsteilung nur im Schöße einer Gesellschaft entwickeln kann. Dagegen stellt er Max Webers Erkenntnis, dass der Markttausch ursprünglich zwischen Fremden stattfindet, dass sich daraus aber allmählich eine normativ geregelte Marktordnung entwickeln könne. Im wesentlichen handelt es sich dabei um einen Weg von der Habitualisierung zur Institutionalisierung und zur Legitimation einer Ordnung im Sinne von Berger und Luckmann (1970). Das wird jedoch von Dürkheim überhaupt nicht ausgeschlossen, wie seine Aussagen zur internationalen, insbesondere europäischen Arbeitsteilung belegen (Dürkheim 1977: 316ff.). Dürkheim (1977: 317) sagt, dass der „materielle Zusammenhang" allein schon „Bande" moralischer Art erzeuge, „wenn er nur dauerhaft ist". Das ist nichts anderes als der Weg von der Habitualisierung zur Institutionalisierung und zur Legitimation. Woran Dürkheim jedoch besonders gelegen ist, das ist die Feststellung, dass es sich dabei keineswegs um einen automatisch verlaufenden Prozess handelt, der sich nach funktionalem Erfordernis oder nach daraus folgender allseitiger Nutzensteigerung vollzieht, sondern dass eine explizite zwischenstaatliche Institutionengründung und damit transnationale Vergesellschaftung erforderlich ist, wenn die
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internationale Arbeitsteilung auf stabile Beine gestellt werden soll: „Damit sich ein Volk von einem anderen durchdringen läßt, muß es aufgehört haben, sich in einem exklusiven Patriotismus einzuschließen; es muss einen anderen, verständnisinnigeren gelernt haben. Im übrigen kann man diesen Sachbezug am überraschendsten Beispiel der internationalen Arbeitsteilung beobachten, das uns die Geschichte bietet. Allerdings kann man sagen, daß es sich nur in Europa und zu unserer Zeit ereignet hat: Es hat sich am Ende des letzten und zu Beginn unseres Jahrhunderts ein Kollektivbewußtsein der europäischen Gesellschaften gebildet" (Dürkheim 1977: 321f.). Gewissermaßen in „weiser" Voraussicht des Zusammenbruchs der internationalen Arbeitsteilung nach dem New Yorker Börsencrash im Oktober 1929 schreibt er: „Umgekehrt hat jede Rückkehr zu einem engen Nationalismus immer zur Folge die Entwicklung des protektionistischen Geistes, d.h. die Tendenz der Völker, sich wirtschaftlich und moralisch untereinander zu isolieren" (Dürkheim 1977: 322). An dieser Aussage ist zu erkennen, welches Gewicht Dürkheim auf die Feststellung legt, dass aus dem bloßen punktuellen wirtschaftlichen Austausch nicht quasi automatisch durch „funktionalen Spillover" eine institutionell geordnete internationale Arbeitsteilung entsteht. So betont es Dürkheim ausdrücklich in den dem obigen Zitat folgenden Zeilen. Während Rueschemeyers Argument dieser funktionalen Dynamik viel mehr Raum gibt, macht Dürkheim deutlich, dass sie nicht ausreicht, um eine institutionell geordnete internationale Arbeitsteilung hervorzubringen. Wie Dürkheim in den Regeln der soziologischen Methode (1961: 195) ausdrücklich betont, besteht tendenziell eine Kongruenz zwischen der materiellen Dichte von Transport- und Kommunikationsnetzen auf der einen Seite und der dynamischen Dichte des „moralischen Zusammenrückens" im „gemeinschaftlichen Leben", das ein gemeinsames Teilen moralischer Überzeugungen beinhaltet; ohne materielle gibt es keine dynamische Dichte. Dennoch kann prinzipiell die materielle Dichte der dynamischen Dichte vorauseilen, ohne dass das Erreichen von Kongruenz im Ausdehnungsgrad den materiellen Dichte vorausgesagt werden kann: „Denn da die rein wirtschaftlichen Beziehungen den Menschen äußerlich bleiben, kann man wirtschaftliche Beziehungen unterhalten, ohne darum an derselben sozialen Existenz teil zu haben. Die wirtschaftlichen Beziehungen, die sich über die die Völker trennenden Grenzen knüpfen, bewirken nicht, daß
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diese Grenzen zu existieren aufhören. Das soziale Leben kann also nur durch die Zahl derjenigen beeinflußt werden, die wirklich daran teilnehmen" (Dürkheim 1961: 195f.). Die internationale Arbeitsteilung - deren Entwicklung Dürkheim (1977: 321f.) registriert - schafft die Möglichkeit, aber noch nicht die Tatsächlichkeit transnationaler Solidarität. Letzterer steht entgegen, dass solidarische Beziehungen national organisiert sind. Angesichts des prekären Charakters dieser Solidarität in der industriellen Klassengesellschaft hat Dürkheim (1977: 63ff.) im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Studie über die Arbeitsteilung den Berufsgruppen als Mittlern zwischen Staat und Individuum eine tragende Rolle bei der Gestaltung dieser Solidarität zugewiesen. Was sich später als neokorporatistische Zusammenarbeit zwischen Staat, Arbeitgeberschaft und Gewerkschaften herausgebildet hat (Streeck 1999), liegt ganz auf der Linie von Dürkheims Idee von kollektiv organisierter Solidarität. In seinen eigenen Begriffen wird die organische Solidarität der arbeitsteiligen Industriegesellschaft von der mechanischen Solidarität der Zusammenarbeit von Staat, Arbeitgeberschaft und Gewerkschaften eingerahmt. Dem Staat kommt die Rolle zu, den über seine Grenzen hinausweisenden Universalismus der Menschen- und Bürgerrechte zu repräsentieren und in internationaler Kooperation auch zur globalen Verbreitung zu verhelfen (Dürkheim 1973a, 1973b; ferner 1973c: 124ff., 1991: 106ff.). Eine darüber hinausgehende Internationalisierung von Solidarität ist für Dürkheim zunächst nur in Gestalt einer europäischen Gesellschaft denkbar: „Möglich ist aber, daß sich die Gesellschaften einer selben Gattung zusammenfinden, und in diesem Sinn scheint sich unsere Evolution zu bewegen. Wir haben schon gesehen, daß sich heute über die europäischen Völker hinweg in einer spontanen Bewegung eine europäische Gesellschaft zu bilden beginnt, die schon jetzt ein Gefühl ihrer selbst und den Beginn einer Organisation hat" (Dürkheim 1977: 446, auch 321f.). Angesichts der Tatsache, dass die europäischen Nationen noch durch zwei Weltkriege hindurchgehen mussten, um tatsächlich auf den von Dürkheim vorausgesehenen Weg zu gelangen, muss man diese Worte als kurzfristig übertrieben optimistisch bezeichnen; langfristig sind Dürkheim jedoch seherische Qualitäten zu bescheinigen. In Bezug auf die Herausbildung einer globalen Gesellschaft ist Dürkheim jedoch vorsichtig. Was sich nach Dürkheims Theorie jedoch klar und eindeutig bestimmen lässt, ist der Weg, der allein zu einer solchen Gesellschaft führen kann: „Das Ideal der menschlichen
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Brüderlichkeit kann sich nur in dem M a ß erfüllen, in dem die Arbeitsteilung fortschreitet" (Dürkheim 1977: 47; vgl. auch 1981: 568ff.). Damit ist die Aufgabe der weiteren Untersuchung gestellt. Es gilt zu klären, ob, weshalb und wieweit heute mehr als an der Wende zum 20. Jahrhundert gesagt werden kann, dass sich aus der vom freien Welthandel vorangetriebenen internationalen Arbeitsteilung eine Weltgesellschaft mit einer eigenen, die nationalen Solidaritäten überlagernden Solidarität entwickelt, d.h. auf globaler Ebene die dynamische Dichte der materiellen Dichte auf dem Fuße folgt. Dabei muss auch die Frage beantwortet werden, welche Gründe uns eine solche Entwicklung heute eher vermuten lassen, als Dürkheim zu seiner Zeit annehmen konnte. Immerhin hatte ja der Welthandel schon an der Wende zum 20. Jahrhundert ein Ausmaß erlangt, das nach dem Zusammenbruch des Weltmarktes mit Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 und dann erst recht in der Folge des New Yorker Börsenkrachs im Oktober 1929 erst wieder in den 1970er Jahren erreicht wurde. Über den Welthandel hinaus gab es auch Ansätze seiner institutionellen Absicherung und Einbettung durch internationale Vereinbarungen, wie z.B. die Internationalisierung des Patentrechts und den Weltpostverein (Murphy 1994). Die sozialistische Internationale hätte auf die globale Ausbreitung von Sozialstandards als solidarische Einbettung des Welthandels hinwirken können. Dennoch ist die internationale Kooperation zur Regulierung des Welthandels nicht weit genug entwickelt gewesen, um den Rückfall in den nationalen Protektionismus verhindern zu können. Genau dies macht den Unterschied der Situation nach dem Zweiten Weltkrieg aus. Gerade die entwicklungshemmenden Konsequenzen des nationalen Protektionismus haben darauf hingewirkt, dass unter der hegemonialen Führung der Vereinigten Staaten, beginnend mit Bretton Woods 1944, ein im weiteren Verlauf ausgebautes Gefüge internationaler Institutionen 1944 Internationaler Währungsfonds (IWF), 1944 Weltbank und 1947 General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) - geschaffen wurde, das maßgeblich zur Stabilität und Entwicklung der Weltwirtschaft beigetragen hat; es tat dies auch noch nach dem Ende des Systems fester, am US-Dollar orientierter Wechselkurse und der damit verbundenen Schwächung der hegemonialen Stellung der USA im Jahre 1973 (Cohn 2002). Für die Entwicklung „moralischer Beziehungen" aus der wachsenden internationalen Arbeitsteilung gibt es im Vergleich zur Epoche von 1870 bis 1914 im Sinne von Emile Dürkheim wesentlich handfestere institutio-
nelle Grundlagen. Wie im Verlaufe dieser Untersuchung gezeigt werden soll, können das GATT und die aus ihm hervorgegangene Welthandelsorganisation/World Trade Organisation (WTO) als Keimzelle einer sich aus dem Welthandel herausbildenden Weltgesellschaft und einer entsprechenden Überlagerung nationaler Solidaritäten durch transnationale Solidarität betrachtet werden. Von Überlagerung ist hier in dem Sinne zu sprechen, dass die transnationale Solidarität wie auch die transnationale Ordnung die nationale Solidarität und Ordnung nicht vollständig beseitigt und ersetzt, sondern sich in einer Mehrebenenordnung auf höherer Ebene herausbildet, wodurch die nationale Solidarität und Ordnung in ihrer Bedeutung und Geltung relativiert werden. Letztere verlieren Ausschließlichkeit und Vorrangigkeit. Mit der zunehmenden internationalen Arbeitsteilung wird die mechanische Solidarität der Nationalstaaten von einer transnationalen organischen Solidarität überlagert, die wir jedoch besser als Netzwerksolidarität mit offenen Enden von der mechanisch eingebetteten organischen Solidarität der Wohlfahrtsstaaten als relativ geschlossenen solidarischen Einheiten unterscheiden. Wie Dürkheim (1977: 324ff.) festgestellt hat, wird das Kollektivbewusstsein in diesem Transformationsprozess abstrakter, der Spielraum für das Individualbewusstsein und für die Entfaltung von Individualität durch Spezialisierung wächst. Die segmentär voneinander getrennten, in sich homogenen Nationen nähern sich durch zunehmende grenzüberschreitende Arbeitsteilung und damit einhergehende innere Differenzierung einander an (Dürkheim 1977: 177,341). Mit Max Weber (1923: 303-304) können wir sagen, dass die Trennung von Binnen- und Außenmoral auf einer neuen Entwicklungsstufe - jenseits des Systems der segmentär in Nationalstaaten differenzierten Weltgesellschaft - tendenziell aufgehoben wird. Die Paarung von interner nationalstaatlicher Brüderlichkeit und zwischenstaatlicher Unbrüderlichkeit wird von einer Angleichung von inner- und zwischenstaatlicher Netzwerksolidarität und Chancengleichheit abgelöst. Mit der transnationalen Vergesellschaftung wächst die Universalisierung von Solidarität und Gerechtigkeit, die zugleich einen Individualisierungsschub mit sich bringt. Im Zentrum der universellen Netzwerksolidarität und Chancengleichheit steht das einzelne Individuum, unabhängig von nationaler Zugehörigkeit. In diesem Sinne ist die Weltgesellschaft in der Tat in zunehmendem Maße eine Gesellschaft der Individuen (Elias 1988) und in abnehmendem Maße eine Gesellschaft der Nationalstaaten. Maßgebliche Träger der trans-
Richard Münch: Die Konstruktion des Welthandels als legitime Ordnung der Weltgesellschaft nationalen Vergesellschaftung sind die internationalen Organisationen und die Nichtregierungsorganisationen, die das Ferment der sich entwickelnden transnationalen Zivilgesellschaft bilden (Boli/Thomas 1999, O'Brien et al. 2000, Kean 2003). Die transnational operierenden zivilgesellschaftlichen Vereinigungen sind seit den 1970er Jahren in ihrer Zahl und Mitgliedschaft exorbitant gewachsen. Spiegelbildlich dazu verlieren die etablierten großen nationalen Verbände Mitglieder und damit auch an Einfluss auf das gesellschaftliche Leben. Solidarität wird demgemäß in wachsendem M a ß transnational und in abnehmendem M a ß national organisiert. Die transnationalen zivilgesellschaftlichen Vereinigungen dienen als maßgebliche Vehikel der Herauslösung des einzelnen Individuums aus nationaler Umklammerung und seiner Ö f f n u n g für transnationale Kooperation. Wenn wir sagen, dass die Weltgesellschaft tendenziell die internationale Familie von Nationen durch eine transnationale Vereinigung von Individuen überlagert, dann muss gerade die Rolle der transnationalen zivilgesellschaftlichen Vereinigungen als M o t o r dieser Bewegung herausgehoben werden, ohne die sich die Individuen nicht aus nationaler Umklammerung lösen könnten. Es ist zwar richtig, dass Staaten die Vertragspartner bzw. Streitparteien von Abkommen bzw. Streitbeilegungsverfahren der W T O sind. Daraus aber abzuleiten, dass die Welthandelsordnung nichts anderes sei als eine Regierung „von Regierungen für Regierungen durch Regierungen" (Rieger/Leibfried 2001: 161), lenkt den Blick von den daraus hervorgehenden Effekten ab, die auf eine zunehmende Überlagerung des segmentär differenzierten Systems der Nationalstaaten durch das funktional differenzierte System einer sich herausbildenden Weltgesellschaft hinausläuft. Der von der wachsenden Globalisierung beschleunigte wirtschaftliche Strukturwandel setzt nationale Regierungen in der Tat unter den Druck, im Interesse ihrer Machterhaltung mit Blick auf die Wählermehrheit Unsicherheit durch sozialpolitische M a ß n a h m e n zu reduzieren. Soweit kann der entsprechenden Argumentation von Rieger und Leibfried (2001: 93ff.) zugestimmt werden. Mit der wachsenden transnationalen Verflechtung werden jedoch die Spielräume für Protektion, Transferzahlungen und desaktivierende Sozialpolitik enger, während der Z w a n g zur weiteren M a r k t ö f f n u n g und zu einer komplementären aktivierenden Sozialpolitik größer wird. Nach der bisher dargestellten Argumentationslinie können wir im Schrumpfen von Distanzen sowie in der entsprechenden Zunahme der materiellen Dichte durch das weltweite Populationswachstum (kon-
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zentriert auf die Entwicklungsländer) und die Verringerung von Transport- und Kommunikationskosten die wesentliche Ursache für die fortschreitende Spezialisierung und nationale Grenzen überschreitende Arbeitsteilung sehen. Dieser Prozess kann aber nur in dem M a ß e stabilisiert werden, in dem sich eine weltweit als legitim respektierte Welthandelsordnung herausbildet, also auch die dynamische bzw. moralische Dichte wächst. Diese Welthandelsordnung wird zum Träger des weiteren Wachstums von Welthandel und internationaler Arbeitsteilung. Es entwickelt sich eine funktionale Dynamik des wechselseitigen Aufschaukeins von Welthandel und Welthandelsordnung. Die Handel treibenden wirtschaftlichen Akteure beeinflussen als Interessenten die staatlichen Verhandlungspartner des GATT und seit 1995 der W T O in die Richtung von handelserleichternden Abkommen (Whalley/Hamilton 1996). Die Entwicklung des Welthandels und die Herausbildung der Welthandelsordnung sind unmittelbar miteinander verknüpft. Mit dem zunehmenden Anteil des Welthandels am weltweiten Bruttoinlandsprodukt ist auch die Zahl der multilateralen Welthandelsabkommen gewachsen und umgekehrt. Dazu ist auch die Zahl von GATT- bzw. WTO-Beitritten, die Zahl von aktiven N G O s (Boli/Thomas 1999) und die Zahl von ILO-Ratifikationen im Zeitraum von 1960 bis 2002 deutlich gestiegen. Diese Fakten belegen, dass der Welthandel nicht in einem normfreien Raum stattfindet, sondern in einen breiteren Prozess der transnationalen Vergesellschaftung eingebettet ist (Abb. 1).
3. Welthandel als Konstruktion einer legitimen Ordnung Der Prozess der transnationalen Vergesellschaftung wird zwar von einer funktionalen Dynamik vorangetrieben, in seinem tatsächlichen Verlauf wird er aber durch die Austragung von Konflikten in einem von der Überlagerung nationaler Entwicklungspfade durch transnationale Entwicklungspfade geprägten diskursiven Feld bestimmt. In dieser Hinsicht müssen wir das funktionalistische Argument durch ein institutionalistisches und konflikttheoretisches Argument ergänzen, wie schon Dürkheim (1961: 176ff.) mit der Unterscheidung von funktionaler und ursächlicher Erklärung gelehrt hat. Die Expansion des Welthandels erzeugt erhebliche Konflikte, die sich Ende der 1990er Jahre zugespitzt haben, was sich am Niveau der Mobilisierung der internationalen Bewegung der Globalisierungskritiker und
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Quellen: W T O (Hrsg.): The 128 countries that had signed GATT by 1994, http:// www.wto.org/english/thewto_e/gattmem_e.htm, am 19.08.03; W T O (Hrsg.): Trading into th1e future, http:// www.wto.org/english/thewto_e/whatis_e/tif_e/org6_e.htm, am 19.08.03; UIA (Hrsg.): International organizations by year and type, http:// www.ula.org/statistics/organizatlons/ytb299.php, am 19.08.03; ILO (Hrsg.): Ratifications of the last twelve months, http://webfusion.ilo.org/public/db/standards/normes/appl/appl-lastyearratlf.cfm?Lang= EN, am 19.08.03; ILO (Hrsg.): Possible Improvements in the standard-setting activities of the ILO, Addendum: statistics on the ratification of Conventions, Genf 2000; World Bank (Hrsg.): WDI (World Development Indicators) Database, Washington, D.C. und London (diverse Jahrgänge); eigene Berechnungen. Abb. 1 Entwicklung 1 v o n Welthandel, N G O s 2 , Ratifikationen von ILO-Konventionen 3 , und Beitritten zu G A T T und W T O 4 1960-2002 Anmerkungen: 1 Alle vier Entwicklungsstränge bilden den Bestand ab. 2 Für die Entwicklung der NGO's liegen Daten für die Jahre: 1956, 1964, 1972, 1978, 1985, 1987, 1989, 1991, 1993, 1995, 1997 bis 1999 vor. Um eine lineare Entwicklung darstellen zu können, sind für die Zeiträume: 1956-64, 1964-72,1972-78, 1978-85,1985-87, 1987-89, 1989-91, 1991-93, 1993-95, 1995-97 die jeweiligen mittleren Steigungsraten berechnet worden, so dass sich eine gleich bleibende Stelgerung Innerhalb der Zeiträume ergibt. 3 Für die Ratifikationen von ILO-Konventionen liegen die Daten für die Jahre 1959, 1964, 1969, 1974,1979,1984, 1989, 1993 bis 2003 vor. Um eine lineare Entwicklung darstellen zu können, sind für die Zeiträume: 1959-64, 1964-69, 1969-74, 1974-79, 1979-84, 1984-89, 1989-93 die jeweiligen mittleren Steigungsraten berechnet worden, so dass sich eine gleich bleibende Steigerung innerhalb der Zelträume ergibt. Die Angabe für das Jahr 2003 bezieht sich auf den Zeltpunkt 18.08.2003. 4 Von 1994 zu 1995 ging das Gatt In die W T O auf; nicht alle Länder, die 1994 noch Mitglied im GATT waren, traten 1995 der W T O bei. Die Angabe für das Jahr 2003 bezieht sich auf den Zeltpunkt 18.08.2003.
-gegner ablesen lässt ( D a n a h e v / B u r b a c h 2 0 0 0 , M i t -
a u c h ein erhebliches M a ß des L o b b y i s m u s , der auf
t e l m a n 2 0 0 2 , Ayres 2 0 0 3 ) . D e r d u r c h transnationale
den
Vergesellschaftung
Wirtschaftssektoren
forcierte
Strukturwandel
von
Schutz
der
vom
Strukturwandel
zielt.
Schwäche
gefährdeten
Insbesondere kann
sich
in
Zeiten
Wirtschaft, Solidarität u n d Gerechtigkeit mobilisiert
wirtschaftlicher
eine
jedoch nicht n u r eine Speerspitze von transnationa-
Stimmung gegen den globalen Freihandel
breite
len P r o t e s t g r u p p e n , s o n d e r n i n d e n I n d u s t r i e l ä n d e r n
d i e b i s in d i e S c h i c h t e n g u t v e r d i e n e n d e r A r b e i t n e h -
wenden,
Richard Münch: Die Konstruktion des Welthandels als legitime Ordnung der Weltgesellschaft
mer reicht, die befürchten, ihr Job könnte ins Ausland verlagert werden, was insbesondere in den Vereinigten Staaten zu beobachten ist, wo die Protektion gegen Importe als funktionales Äquivalent für Sozialpolitik traditionell eine politische Forderung der Arbeitnehmer darstellt (Rieger/Leibfried 2001: 277ff., Hujer 2004a, 2004b). Unabhängig von konjunkturellen Schwankungen stellt sich die Lobby der von billigen Importen bedrohten Wirtschaftszweige gegen den globalen Freihandel; insbesondere tut dies die Lobby der der internationalen Konkurrenz ausgesetzten Sektoren der landwirtschaftlichen und der arbeitsintensiven industriellen Produktion. Neue Handelsabkommen sind immer Kompromisse zwischen den Veränderungskräften, die in erster Linie vom wachsenden Welthandel profitieren, und den Beharrungskräften, die neuen, preisgünstigeren Anbietern den Platz räumen und neue, profitable Tätigkeitsfelder finden müssen, und zwar Arbeitgeber und Arbeitnehmer in gleicher Weise. Der Ausbau des Welthandels ergibt sich demgemäß aus Machtverschiebungen in den Wirtschaftssektoren, und er unterstützt diese Machtverschiebungen im weiteren Verlauf. Die multinationalen Unternehmen der exportorientierten Wirtschaftssektoren gewinnen an Macht und sind die treibenden Kräfte der Senkung von Handelsbarrieren. Die auf nationale Märkte konzentrierten und innovationsschwachen Wirtschaftssektoren und Unternehmen (Arbeitgeber und Arbeitnehmer), die dem Wettbewerb durch preisgünstigere Importe ausgesetzt sind, verlieren an Macht und wirken als Kräfte der Beschränkung von Welthandel und internationaler Arbeitsteilung. Neben der funktionalen Anforderung der Anpassung an die gewachsene materielle Dichte durch Spezialisierung und nationale Grenzen überschreitende Arbeitsteilung sind es also Interessens- und Machtverschiebungen in den Wirtschaftssektoren, die auf die Herausbildung der Welthandelsordnung als institutionelle Basis des Welthandels einwirken. Der Kampf um Gerechtigkeit im transnationalen Raum wird insbesondere mit dem Begriff der Fairness geführt (Bhagwati/Hudec 1996, Dam 2001: 73ff., 148ff., Charnovitz 2002: 39ff.). Er wird verwendet, um gleiche Chancen im Wettbewerb einzuklagen. Als unfair gilt, sich Vorteile im Wettbewerb mit Methoden zu verschaffen, die Konkurrenten den Zugang zu Märkten versperren. Unfair ist auch, bestimmte Handelspartner durch bilaterale Abkommen mit günstigeren Zolltarifen gegenüber anderen zu bevorzugen. Ebenso gilt als unfair, Zollsenkungen von Handelspartnern nicht gleichwertig auszugleichen. Aus der Sicht der Entwicklungsländer
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sind die Zollbarrieren und Subventionen, die ihre Produkte von den Märkten der Industrieländer fernhalten, unfair. Die dadurch geschützten Wirtschaftssektoren in den Industrieländern sprechen im Gegenzug von unfairem Handel, weil die Produkte aus den Entwicklungsländern wegen der mangelnden Institutionalisierung von Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards zu niedrigeren Kosten als in den Industrieländern hergestellt werden. „Fairness" ist deshalb zu einem Kampfbegriff geworden, mit dessen Hilfe die eine Seite Zugang zu den Märkten der Industrieländer begehrt und die andere Seite eben diese Märkte vor Billigimporten zu „Dumpingpreisen" schützen will. Weil es nicht nur um ein Machtspiel geht, müssen die Kontrahenten ihr Handeln in Begriffen rechtfertigen, die ihm eine respektierte Legitimität verleihen. Wenn damit auch zunächst nichts anderes getan wird, als Protektionismus zu delegitimieren bzw. Protektionismus in ein besser klingendes Wort zu kleiden, also Interessen in legitime Begriffe zu packen, so entfaltet der einmal in Gang gesetzte Diskurs jedoch seine ureigenste Kraft (Bhagwati 1988, Franck 1995, Dam 2001: 151ff., Moellendorf 2002: 55ff.). Das heißt, dass Maßnahmen nicht einseitig verhängt werden können, sondern einerseits vor einer insbesondere von INGOs geschaffenen Weltöffentlichkeit zu rechtfertigen sind, in Verhandlungsrunden kompromissfähig sein und gegebenenfalls in einem WTO-Schiedsgerichtsverfahren als allgemein gerechtfertigt anerkannt werden müssen. Die Herausbildung der Welthandelsordnung ist deshalb nicht nur ein Prozess, der von funktionalen Imperativen angestoßen und von Machtverschiebungen vorangetrieben wird, sondern auch ein Prozess, dessen inhaltliche Ausgestaltung der Logik des Argumentierens in einem zunehmend globalisierten Diskurs folgt. In den folgenden Abschnitten wird es darum gehen, gerade dieser Ebene normativer Diskurse besondere Aufmerksamkeit zu schenken, ohne dabei zu vergessen, dass sie nur auf der Basis der funktionalen Ebene der zunehmenden internationalen Arbeitsteilung als Antwort auf die gewachsene materielle Dichte wirksam wird, diese aber auch von ihrer Seite aus formt. Normative Diskurse werden in einem diskursiven Feld geführt, in dem die maßgeblichen Akteure um die Durchsetzung einer Leitidee („conception of control") (Fligstein 2001: 67ff.) bzw. eines Paradigmas (Kuhn 1967, Hall 1993) ringen, mit dessen Hilfe die Beibehaltung bzw. die Änderung von sozialen Institutionen gerechtfertigt wird. Im Zuge der Globalisierung verändert sich das diskursive Feld der Austragung von Kämpfen über das herr-
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sehende Verständnis von Gerechtigkeit. Das bislang national eingerahmte Feld wird in ein transnationales Feld eingebettet, in dem sich den bisher dominierenden Akteuren neue Akteure hinzugesellen und sich die Machtverhältnisse ändern. Nehmen wir das deutsche Modell des Korporatismus zum Ausgangspunkt, dann bedeutet die inzwischen gut dokumentierte Auflösung der Deutschland AG (Streeck/Höpner 2003, Höpner 2003), dass die Kooperation zwischen Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften, Unternehmen und Staat unter neue Vorzeichen gestellt wird. Die Gewerkschaften und die Vertreter der Arbeitnehmer verlieren an Macht. Die transnational operierenden Unternehmen handeln als Protagonisten des Solidaritätswandels weg vom nationalen Kollektiv und hin zu transnationalen Wertschöpfungsketten. Dazu kommen global agierende humanitäre Organisationen, die für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in bislang vom Wohlstand der reichen Industrienationen ferngehaltenen Regionen der Welt eintreten. Im Expertendiskurs verdrängen die ökonomisch denkenden Consultants die Arbeits- und Sozialrechtler und die Sozialpolitiker traditioneller Couleur. In diesem erweiterten diskursiven Feld verliert das ohnehin durch Anomalien wirtschaftlicher Schwäche und hoher Raten der Dauerarbeitslosigkeit in Bedrängnis geratene traditionelle Paradigma der nationalen Brüderlichkeit bei gleichzeitiger internationaler Unbrüderlichkeit an Legitimität und Rückhalt. An dessen Stelle zeichnet sich im neuen Feld ein neues Paradigma der Solidarität und Gerechtigkeit ab, das innere und äußere Solidarität und Gerechtigkeit in den Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit, Chancengleichheit und Fairness einander angleicht. Die bisherigen Inhaber der entscheidenden Machtpositionen im diskursiven Feld - die miteinander kooperierenden Vertreter der Arbeitgeberschaft und der Arbeitnehmerschaft sowie die Arbeits- und Sozialrechtler und Sozialpolitiker - haben das alte Feld mit dem Paradigma der nationalen Sozialpartnerschaft als Leitidee („conception of control") (Fligstein 2001: 67-98) beherrscht. Die entscheidenden Machtpositionen im transnationalen Feld werden vom Management transnational operierender Unternehmen, von Consultants, Rating-Agenturen und Analysten, Ökonomen der Weltbank und des IWF und global vernetzten humanitären Organisationen besetzt, während die klassischen, national gebundenen Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften an Macht verlieren und im transnationalen Feld nicht in gleicher Stärke von Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaftsverbänden und von der ILO vertreten werden. Das neue Paradigma der transnationalen
Leistungsgerechtigkeit, Chancengleichheit und Fairness dient den neuen Inhabern der entscheidenden Machtpositionen im transnationalen diskursiven Feld als Leitidee, d.h. als Grundlage ihrer Definitionsmacht und als Instrument der Legitimation der von ihnen propagierten Reformprogramme (Abb. 2). Hier schneidet sich die funktionale Anpassung der Sozialpolitik an die veränderten Solidaritätsstrukturen in der Weltwirtschaft mit den darüber ausgetragenen Kämpfen um die herrschende Leitidee und das herrschende Paradigma der Sozialpolitik im transnational gewordenen diskursiven Feld. „Funktionale Anpassung" und „historische Kämpfe maßgeblicher Akteure" sind keineswegs einander ausschließende, sondern einander ergänzende Perspektiven. „Funktionale Anpassung" zeigt die längerfristig wirkenden Ursachen für die wachsenden Anomalien des alten Paradigmas und die Chancen der Anpassung eines neuen Paradigmas an die Solidaritätsstrukturen der Weltgesellschaft auf. „Historische Kämpfe" beschreiben die Machtveränderungen im diskursiven Feld, aus denen die Ablösung eines alten durch ein neues Paradigma hervorgeht. Da die Machtveränderungen nicht zufällig stattfinden, sondern mit den strukturellen Änderungen der globalen Vergesellschaftung zusammenhängen, ist der aus ihnen hervorgehende Paradigmenwandel nicht beliebig änder- und umkehrbar. Historische Kämpfe können nicht gegen die Strukturveränderungen der globalen Vergesellschaftung gewonnen werden. Die soweit entwickelte theoretische Argumentationslinie soll in den folgenden Abschnitten am Beispiel der Grundprinzipien der Welthandelsordnung und einiger exemplarischer Streitpunkte empirisch konkretisiert werden. Im ersten Schritt soll zunächst die in der Welthandelsordnung zum Tragen kommende Idee der Gerechtigkeit als Fairness und Chancengleichheit im transnationalen Raum anhand der beiden Grundprinzipien der Reziprozität und der Meistbegünstigung herausgearbeitet werden. Im zweiten Schritt werden mögliche Strategien der Bewältigung des von der globalen Wirtschaftsintegration erzwungenen industriellen Strukturwandels und der damit einhergehenden nationalen Desintegration und Anomie hinsichtlich ihrer funktionalen Tragfähigkeit und hinsichtlich ihrer Rechtfertigbarkeit im globalen Diskurs diskutiert: Antidumping- und Antisubventionsmaßnahmen und Verfahren der Streitbeilegung im Rahmen der WTO. Im dritten Schritt wird erörtert, wie weit sich die Präferenzbehandlung der Entwicklungsländer oder ihre weitere Inklusion in den Weltmarkt durch Zollsenkungen der Industrieländer im Bereich landwirtschaftlicher und arbeitsintensiver in-
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C Schritt 3: Zunehmeride transnationale Entwicklungsdynamik durch Expansion des internationalen Handels: Ausbau des Welthandels vs. Bestandsschutz für nationale Industrien Transnationale Entwicklungsdynamik vs. nationale Entwicklungspfade
A
- Expansive Dynamik der Marktöffnung vs. restringierende Trägheit der Protektion nationaler Industrien - Transnationale vs. nationale Solidarität - Angleichung vs. Trennung von Binnenund Außenmoral
Schritt 4: Konfliktaustragung durch Mobilisierung von Macht: Globale vs. nationale Integration Maßgebliche Akteure. Macht und Konflikte im diskursiven Feld: WTO, nationale Regierungen, EU, organisierte Interessengruppen, INCOs Macht und Kompetenzen der Akteure im diskursiven Feld Repräsentation nationaler Interessengruppen durch nationale Regierungen Konflikte zwischen Industrieländern Konflikte zwischen Industrie- und Entwicklungsländern
Schritt Durchsetzung einer transnationalen Leitidee
Schritt 5: Langfristiger Paradigmenwechsel nach Diskursverlauf
Die Leitidee der WTO:
Paradigmatischer Kern:
- Prinzip der Reziprozität - Prinzip der Meistbegünstigung
Transnationale und nationale Leistungsgerechtigkeit auf der Basis von Chancengleichheit und Fairness
Schritt 1: Transnationale Macht generierende institutionelle Basis für den Paradigmenwechsel Transnationale Macht generierende institutionelle Regel - WTO Streitbeilegungsverfahren
Dominante Leitidee Institutionelle Regeln
V
Programme: - Antidumpingrecht - Antisubventionsrecht - Präferenzbehandlung und Sonderabkommen für Entwicklungsländer vs. Marktöffnung der Industrieländer zugunsten der Entwicklungsländer
Kulturelles Paradigma
Anmerkungen: Jeder Schritt bestimmt, wie der nächste Schritt ausgeführt wird, aber jeder Schritt trägt seinen eigenen prägenden Effekt für den ganzen Prozess bei. Die einzelnen Komponenten sind interdependent, die untersuchte Hauptrichtung des Prozesses verläuft von Schritt 1 bis Schritt 5 und ist durch einen starken Pfeil markiert. Umgekehrte und diagonale Einflussrichtungen sind durch einen schwachen Pfeil angezeigt.
Abb. 2 Das Feld der normativen Konstruktion des Welthandels
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dustrieller Produktion als Weg der Aufhebung von Binnen- und Außenmoral in der sich herausbildenden Weltgesellschaft im transnationalen diskursiven Feld der miteinander verschränkten Handels-, Entwicklungs- und Sozialpolitik durchsetzt (Charnovitz 2002). Wieder ist in diesem Zusammenhang zu betonen, dass zwar Staaten die Vertragspartner der Welthandelsordnung sind und bei entsprechenden Verhandlungen und Streitbeilegungsverfahren als Akteure auftreten (Rieger/Leibfried 2001), von dieser zwischenstaatlichen Ordnung jedoch eine wachsende transnationale Ordnung der Arbeitsteilung, Solidarität und Gerechtigkeit geschaffen wird, deren alltägliche Träger die in das transnationale Netzwerk eingespannten transnational operierenden Unternehmen, Organisationen und zivilgesellschaftlichen Vereinigungen sowie die von ihnen aktivierten Individuen sind. 4. Die Welthandelsordnung: Grundprinzipien, Konflikte und Streitbeilegung Die internationale Wirtschaftsordnung wird durch die Vereinbarungen der Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation (WTO) bestimmt (Jackson 1997, Thomas/Meyer 1997). Ein erster Versuch zur Gründung einer Internationalen Handelsorganisation (ITO) auf der Basis der Havanna Charta von 1948 hatte nicht zum Erfolg geführt. Statt dessen erfüllte das General Agreement on Tariffs and Trade von 1947 (GATT 1947) bis zur Gründung der Welthandelsorganisation im Jahre 1994 die Funktion der Ordnung des Welthandels. Auf der Basis des GATT 1947 wurde in mehreren Handelsrunden die Liberalisierung des Welthandels vorangetrieben. Die sieben Jahre dauernde Uruguay-Runde mündete schließlich in die Gründung der WTO. In Marrakesch (Marokko) unterzeichneten am 15.4.1994 insgesamt 111 Staaten das Abkommen. Das GATT 1947 wurde in seinen wesentlichen Bestandteilen in das GATT 1994 der WTO-Vereinbarungen übernommen und um 12 Sonderabkommen ergänzt. Neu hinzu kamen das General Agreement on Trade in Services (GATS) und das Agreement on TradeRelated Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS), das Streitbeilegungsverfahren, d.h. das Dispute Seulement Understanding (DSU), sowie das Verfahren zur Überprüfung von Handelspolitiken, d.h. der Trade Policy Review Mechanism (TPRM). Die zwei Grundprinzipien, denen das GATT 1947 und das GATT 1994 folgen, sind das Prinzip der Reziprozität und das Prinzip der Meistbegünstigung. Sie sollen im Folgenden in ihrem Sinngehalt erläutert werden.
4.1 Das Prinzip der Reziprozität Das Prinzip der Reziprozität verlangt von den Handelspartnern, dass die eine Seite für ihre eigenen Zugeständnisse jeweils Zugeständnisse auf der anderen Seite erwarten darf. Umgekehrt darf auf tarifäre oder nichttarifäre handelsbeschränkende Maßnahmen der einen Seite mit eben solchen Maßnahmen auf der anderen Seite geantwortet werden. Das Prinzip der Reziprozität findet sich an mehreren Stellen des GATT-Abkommens formuliert. Absatz 3 der Präambel des GATT in den Fassungen von 1947 und 1994 zielt auf den Abschluss von Vereinbarungen „auf der Grundlage der Gegenseitigkeit und zum wechselseitigen Nutzen". Auch Art. XXVIII Abs. 1 verweist auf diesen Grundsatz hinsichtlich weiterer Zollsenkungen. Nach Art. X X X V I Abs. 8 verlangen die entwickelten Handelspartner von ihren weniger entwickelten Partnern für ihre Handelserleichterungen keine Gegenleistungen. Art. X I X Abs. 3 lit. a und Art. XXVIII Abs. 3 bieten die Erlaubnis zu im „wesentlichen gleichwertigen" Schutzmaßnahmen bzw. Rücknahmen von Zugeständnissen. Weiterhin wird das Reziprozitätsprinzip nach Art. XXIII allgemein beim Schutz von Zugeständnissen und sonstigen Vorteilen und nach Art. X X X I I I beim Beitritt neuer Vertragsparteien angewandt. Über diese schon in der Fassung von 1947 im GATT enthaltenen Verweise hinaus wird das Reziprozitätsprinzip in Abs. 3 der Präambel des WTO-Abkommens erwähnt. Dort ist von „gegenseitigen und wechselseitig vorteilhaften Übereinkünften" die Rede. Art. XI Abs. 2 bestätigt die für die Entwicklungsländer geltende Regel, Erleichterungen des Marktzutritts zu den Industrieländern nicht durch eigene Erleichterungen erwidern zu müssen. Auch die neuen Teilabkommen, etwa Abs. 3 der Präambel und Art. X I X Abs. 1 des Abkommens zu den Dienstleistungen (GATS) enthalten Aussagen im Sinne des Reziprozitätsprinzips (Lennard 2002). Das Prinzip der Reziprozität verpflichtet die Vertragspartner des GATT bzw. der WTO zu gegenseitiger Verständigung (Brösskamp 1990: 63ff., Langer 1995: 85ff.). Sie sollen nicht einseitig und ohne Verhandlung und Abstimmung Maßnahmen treffen, die einen Einfluss auf die Exportchancen ihrer Handelspartner haben. Um dieser Verpflichtung Geltung zu verschaffen, ist es den Vertragsparteien des GATT bzw. der WTO erlaubt, auf Schutzmaßnahmen mit einer entsprechenden Gegenmaßnahme zu reagieren. Für daraus resultierende Streitigkeiten verfügt die WTO über ein Verfahren der Streitbeilegung. Die Hauptleistung der Anwendung des Reziprozitätsprinzips im GATT und noch mehr in der WTO besteht darin, den internationalen Handel aus dem
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Naturzustand des strategischen Handelns kommunikationsunfähiger Akteure herauszuheben und einer gegenseitigen Verständigung nach gemeinsam getragenen normativen Maßgaben zugänglich zu machen. Die „Anarchie" des strategisch geführten Wettbewerbsverhaltens wird durch ein Element der kommunikativen Vernunft in normativ strukturierte Bahnen gelenkt. Das Reziprozitätsprinzip hat einen formalen Charakter und lässt sich nur in konkreten Situationen mit materieller, die Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung definierender Bedeutung füllen. Es kann sektoral, d. h. auf beiden Seiten einer Vertragspartnerschaft innerhalb ein und desselben Handelssektors Anwendung finden, oder sektorenübergreifend; letzteres entweder so, dass ein Zugeständnis in Sektor A durch ein Zugeständnis in Sektor B kompensiert wird, oder so, dass auf einer Seite oder auf beiden Seiten Zugeständnisse in mehreren Sektoren in die Vereinbarungen einbezogen werden. Das Prinzip der Reziprozität beinhaltet ein Recht auf Entgegenkommen und ein Recht auf Gegenmaßnahmen ohne deren genaue Gleichwertigkeit zu verlangen, zumal die Gleichwertigkeit in der Regel kaum genau bestimmt werden kann. Noch wichtiger ist jedoch, dass das Prinzip häufig zwischen ungleichen Partnern Anwendung finden muss. Es kommt deshalb weniger auf eine objektiv bestimmbare materielle Gleichwertigkeit der Zugeständnisse bzw. Maßnahmen an als auf die Fairness eines Abkommens. Das Prinzip der Fairness erlaubt einem schwachen Handelspartner ein kleineres Zugeständnis als Ausgleich für ein größeres Zugeständnis eines starken Handelspartners. Ebenso gebietet es dem starken Partner, eine handelsbeschränkende Maßnahme des schwachen Partners nicht im gleichen Umfang zu vergelten. Diese flexible Auslegung des Reziprozitätsprinzips im Sinne der Fairness ist von besonderer Bedeutung für den Handel zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Es weist einen Weg des Ausgleichs von Handelszugeständnissen und -beschränkungen nach Maßgabe der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit der Handelspartner. Die Entwicklungsländer müssen ihre Grenzen für Importe nicht im gleichen Umfang öffnen, wie ihnen die Industrieländer für ihre Exporte offenstehen. Es wird ihnen dadurch ermöglicht, am Welthandel teilzunehmen, ohne dabei von der hereinbrechenden Importflut erdrückt zu werden. Zumindest ist das die Intention, die hinter der Interpretation des Reziprozitätsprinzips als Ausgleich steckt. Dieser formale Charakter des Reziprozitätsprinzips schließt nicht aus, dass als Ergeb-
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nis von Vereinbarungen konkrete Listen von als „gleichwertig" betrachteten Zugeständnissen oder Schutzmaßnahmen aufgestellt werden. Es handelt sich dabei um materielle Konkretisierungen des formalen Prinzips. Dadurch wird nichts daran geändert, dass die Handelspartner bei diesen Festlegungen bestimmen, was sie intersubjektiv als fairen Ausgleich betrachten. Und es bleibt möglich, dass die Handelspartner einen je spezifischen, als fair betrachteten Ausgleich nach Maßgabe ihrer Wirtschaftskraft finden. Dabei ist es leichter, zu beiderseits akzeptierten Ergebnissen zu gelangen, wenn die Verhandlungen über einzelne Sektoren hinausgehen, also sektorenübergreifend geführt werden. Zugeständnisse an einen Handelssektor müssen dann nicht in demselben Sektor ausgeglichen werden, was unter Umständen schwerfällt, sondern können auch in anderen Sektoren, wo es leichter fällt, einen Ausgleich finden. Die sektorenübergreifende Reziprozität erlaubt insbesondere, die Besonderheiten der jeweiligen Sozialordnung im wirtschaftlichen Austausch zu berücksichtigen. Es muss nicht alles über einen Kamm geschert werden. Fairness als Auslegungsregel für das Reziprozitätsprinzip erlaubt es, die funktionale Integration der internationalen Wirtschaft als eine Staaten übergreifende Einheit mit der Pluralität (national)staatlicher Sozialordnungen zu vereinbaren (Langer 1995: 93ff., Charnovitz 2002: 39ff.). Die eine Weltwirtschaft wird mit der Pluralität souveräner Staaten so gekoppelt, dass das eine das andere nicht ausschließt. Die souveränen Staaten verpflichten sich gegenseitig zur Öffnung ihrer Handelsgrenzen nach dem Prinzip des fairen Ausgleichs, gleichzeitig gestehen sie sich gegenseitig zu, ihre Zugeständnisse auch auf ihre Verträglichkeit mit ihrer inneren Sozialordnung einzustellen. Zugeständnisse, die eine wie auch immer konkret zu bestimmende - Grenze des sozial verträglichen Strukturwandels der Wirtschaft überschreiten, können nicht erwartet werden (Rieger/Leibfried 2001: 104ff., 133ff.). Es ist nur fair, dass die für die eigene Sozialordnung weniger einschneidenden großzügigen Zugeständnisse der einen Seite von der anderen Seite nicht im gleichen Umfang bzw. im gleichen Sektor ausgeglichen werden müssen, wenn davon sozial unverträgliche Strukturveränderungen der Wirtschaft verursacht würden. Dabei nehmen die Staaten im Außenverhältnis eine funktional spezifische Rolle der Integration der Weltwirtschaft in einer Welt souveräner Staaten wahr, während sie nach innen die zwar ebenso funktional spezifische Rolle der territorialen Ordnungssicherung spielen, an die aber zugleich die Verantwortungszurechnung für das aufeinander
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abgestimmte Funktionieren der (national)staatlichen Teilordnungen und ihre Integration zu einer als legitim geltenden Sozialordnung geknüpft ist. Der Staat kann zwar direkt keine Nobelpreise, keine Bildungsqualifikationen, keine Patente und keine Wohlfahrt mittels Machteinsatz produzieren, wenn er aber seine Macht nicht so einsetzt, dass von den darauf spezialisierten Organisationseinheiten eine von den Bürgern als ausreichend betrachtete Menge dieser Güter bereitgestellt wird, dann verliert er an Unterstützung, Kooperations- und Folgebereitschaft und an Legitimität. Weltwirtschaftliche funktionsspezifische systemische Integration und (national)staatliche funktionsübergreifende soziale Integration können durch die Anwendung des Prinzips der Reziprozität als fairer Ausgleich in den Handelsbeziehungen zwischen den Staaten auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Durch fairen Ausgleich können einerseits der internationale Handel und das Wachstum der Weltwirtschaft durch die internationale Nutzung des von David Ricardo klassisch explizierten Gesetzes der komparativen Kostenvorteile ausgebaut und andererseits der damit einhergehende Strukturwandel der einzelnen Volkswirtschaften sozialverträglich gestaltet werden. Anderenfalls würde zu schneller Strukturwandel zu tief greifenden sozialen Krisen führen.
4.2 Das Prinzip der Meistbegünstigung Das Prinzip der Meistbegünstigung und das korrespondierende Diskriminierungsverbot verlangen, dass Erleichterungen des Marktzutritts, die einem bestimmten Handelspartner gewährt werden, auch für alle anderen tatsächlichen und potentiellen Handelspartner unbedingt und unverzüglich gelten sollen (Brösskamp 1990: 68ff., Langer 1995: 107ff., Pahre 2001). In Art. I Abs. 1 des GATT von 1947 und 1994 wird dieses Prinzip an prominenter Stelle formuliert. Die Vertragsparteien verpflichten sich darin, jede Vergünstigung, die bilateral ausgehandelt wird, zugleich und ohne jegliche Bedingung allen anderen Vertragsparteien des GATT zukommen zu lassen. Ergänzt wird diese vertragliche Verpflichtung durch das Prinzip der Inländerbehandlung. Ausländische Waren sollen denselben Abgaben und Rechtsvorschriften unterworfen werden wie inländische. Dadurch soll verhindert werden, dass ausländische Waren trotz formaler Gleichstellung im M a r k t z u g a n g dennoch durch unterschiedliche Abgaben und Rechtsvorschriften materiell einen schlechteren Zugang zu einem M a r k t haben als inländische. Das bedeutet nicht,
dass ausländische Waren grundsätzlich einen unbeschränkten Z u g a n g zu einem nationalen M a r k t haben sollen. Durch Zulassungsbeschränkungen können inländische Waren vor ausländischer Konkurrenz geschützt werden, solche Beschränkungen müssen aber für alle ausländischen Waren gleich gelten. Sind sie zugelassen und auf einem nationalen M a r k t käuflich, müssen sie in den Abgaben und Rechtsvorschriften jedoch gleich und wie inländische Waren behandelt werden. Im Wesentlichen geht es bei diesem Prinzip d a r u m , dass die äußere Befolgung des Meistbegünstigungsprinzips nicht durch innere Differenzierungen unterlaufen wird. Auch das Prinzip der Meistbegünstigung hat wie das Reziprozitätsprinzip einen formalen Charakter. Es zwingt nicht zu einem bestimmten materiellen Niveau der Senkung von Handelsbarrieren, sondern knüpft die Verpflichtung zur Gewährung einer Vergünstigung gegenüber allen Vertragsparteien des GATT an die Bedingung, dass sie einem bestimmten Handelspartner zugestanden wurde. Worin die Vergünstigung besteht und welches Niveau sie materiell hat, ist Sache der konkreten Aushandlung im Einzelfall. Es gibt dafür keine von außen herangetragenen materiellen Maßstäbe der Gerechtigkeit. Dieser formale Charakter des Meistbegünstigungsprinzips lässt die Souveränität der Staaten als Vertragsparteien unberührt. Sie können an Verhandlungen teilnehmen oder auch nicht, und sie können sich ausländischen Waren öffnen oder auch nicht. Was immer sie tun, müssen sie jedoch gegenüber allen Vertragsparteien gleich tun. Die entscheidende Wirkung dieses formalen Prinzips besteht darin, dass - abgesehen von der Sonderbehandlung von Entwicklungsländern - eine Privilegierung eines Partners oder einer begrenzten Zahl von Partnern auf Kosten anderer grundsätzlich nicht möglich ist. Der Partikularismus der ungleichen Behandlung von Handelspartnern muss dem Universalismus der Gleichbehandlung aller Platz machen. Damit wird keine materielle Gleichheit zwischen den Vertragsparteien hergestellt. Unterschiedliche Wirtschaftskraft wird dadurch nicht ausgeglichen. Was aber gewährleistet wird, ist die formale Gleichheit des Zugangs zu den einzelnen nationalen Märkten, was immer sie aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit daraus auch materiell machen mögen. Das Prinzip der Meistbegünstigung führt in die an sich anarchische Welt konkurrierender Staaten einen Z w a n g zur Beachtung der Konsequenzen ein, die einzelne M a ß n a h m e n in einem partikularen Zusammenhang von Abmachungen zwischen einzelnen Staaten für alle anderen, nicht unmittelbar in
Richard Münch: Die Konstruktion des Welthandels als legitime Ordnung der Weltgesellschaft die Abmachungen einbezogenen Staaten zeitigen: Die bilaterale Vereinbarung von Handelserleichterungen kann ja andere, nicht unmittelbar an den Verhandlungen beteiligte Staaten vom M a r k t verdrängen und diesen erhebliche Einbußen bringen. Außerhalb des G A T T gibt es dagegen keinen Schutz, innerhalb des G A T T besteht ein solcher Schutz. Die strategische Nutzung von Marktchancen wird gemeinsam vereinbarten normativen Maßstäben unterworfen, die Grundregeln der Fairness festlegen. Was immer die Vertragsparteien tun, das können sie souverän entscheiden, wie immer sie aber handeln, wird von ihnen ein faires Verhalten gegenüber den unmittelbaren Partnern einer Vereinbarung (Reziprozität) und gegenüber nicht beteiligten, aber betroffenen Dritten verlangt (Meistbegünstigung). Schließen sie sich nach außen ab, dann gegenüber allen in gleicher Weise und nicht so, dass sie sich durch Schließung gegenüber den einen und Öffnung gegenüber den anderen Vorteile auf Kosten Dritter verschaffen, und nicht so, dass sie bilateral ihren Nutzen steigern und davon andere ausschließen oder gar anderen dadurch ausdrücklich Schaden zufügen. Fairness ist eine Regel, die uns dazu verpflichtet, uns keine Vorteile auf Kosten anderer zu verschaffen und allen gleiche Chancen des Zugangs zum Wettbewerb auf dem M a r k t zu bieten. Die Verpflichtung zur gegenseitigen (Reziprozität) und allseitigen (Meistbegünstigung) Rücksichtnahme stellt keine materielle Gleichheit her. Die Leistungsfähigeren können daraus mehr Profit schlagen als die Leistungsschwächeren. Letztere bekommen aber mehr Chancen der Teilhabe am vorteilhaften Warenaustausch als ohne solche grundlegenden Regeln der Fairness. Das gilt gerade auch für die leistungsschwachen Entwicklungsländer. Wegen mangelnder reziproker Attraktivität stehen sie bei Vereinbarungen oft im Abseits, sie können die leistungsstarken Industrieländer aus eigener Kraft nicht zu Zugeständnissen bewegen. Um so mehr sind sie auf die Inklusion in Abmachungen durch das Prinzip der Meistbegünstigung angewiesen. Die von diesem Prinzip verlangte Fairness gleicht ihre fehlende Verhandlungsmacht aus. Das Prinzip der Meistbegünstigung trägt zur Inklusion der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft bei, ohne dass es dazu einer Sonderbehandlung bedarf. Dass darüber hinaus den Entwicklungsländern ein Sonderstatus eingeräumt wird, der sie von der Reziprozitätspflicht befreit, hilft ihnen gar nicht so effektiv wie das Prinzip der Meistbegünstigung. Das liegt ganz einfach daran, dass die Zahl der Abkommen, von denen sie durch das Meistbegünstigungsprinzip
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profitieren, weitaus größer ist, als die Zahl der Abkommen, in die sie unmittelbar involviert sind und ihr Sonderstatus zum Tragen kommt. Die Vereinbarungen zwischen starken Handelspartnern sind eben zahlreicher als die Vereinbarungen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Es ist naheliegend, zu vermuten, dass das Prinzip der Meistbegünstigung zum Trittbrettfahren einlädt, weil Staaten von Vereinbarungen profitieren, ohne daran teilnehmen zu müssen und ohne eigene Zugeständnisse machen zu müssen. Im Einzelnen ist dieser unerwünschte Effekt des Prinzips zwar immer wieder gegeben, aber es ist nicht so, dass es auf ganzer Linie massiv die Abstinenz bei Vereinbarungen fördert. Sonst hätte es nicht den Erfolg der Handelsrunden des G A T T mit Einbeziehung einer großen Zahl von Handelspartnern gegeben. Erklärt werden kann dieser Erfolg dadurch, dass das Prinzip der Meistbegünstigung die nach Handelsliberalisierung strebenden Staaten zu Anstrengungen zwingt, die starken Partner an den Verhandlungstisch zu bekommen, um ihnen keine unausgeglichenen Vorteile zu gewähren. Erleichtert wird diese Einbeziehung der wichtigsten Wirtschaftsmächte mittels Bündelung der Verhandlungen durch die Handelsblöcke. Dadurch wird eine Vielzahl von unterschiedlichen Interessen gebündelt und die Aushandlung von Ergebnissen erleichtert. Gerade weil die Gefahr des Trittbrettfahrens droht, übt das Meistbegünstigungsprinzip einen Druck auf die Einbeziehung möglichst aller relevanten Handelspartner in die Verhandlungen aus. Das Prinzip der Meistbegünstigung wirkt deshalb als ein M o t o r der Vergesellschaftung des internationalen Wirtschaftsverkehrs. Strategisches Wettbewerbsverhalten im transnationalen Raum wird einer zwischen den Vertragsparteien ausgehandelten gemeinsamen Ordnung unterworfen. Der transnationale Wirtschaftsraum wird aus dem rechtsfreien Zustand der Anarchie in einen rechtlich geordneten Zustand des zivilisierten wirtschaftlichen Austauschs überführt und der gegenseitigen Verständigung nach Prinzipien der Fairness in Gestalt von Reziprozität, Meistbegünstigung und nicht-diskriminierender Inländerbehandlung zugänglich gemacht.
4.3 Antidumpingrecht Eine auf den Schutz der nationalen Wirtschaftssysteme und der nationalen Sozialordnungen vor zu hohem, nicht mehr zu verkraftendem Anpassungsdruck ausgerichtete Strategie will vor allem Konkurrenz von außen abwehren, bei der man v e r mutet, dass sie auf Preisdumping beruht. Im
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Rahmen des GATT und der W T O gibt es dafür das Antidumpingrecht nach Art. VI des GATT von 1947 und 1994, das 1967, 1979 und schließlich 1994 für alle Mitglieder der W T O verbindlich durch einen Antidumping-Kodex konkretisiert wurde (Bael/Bellis 1990, Finger 1993, Langer 1995: 224ff., Messerlin/Reed 1995, Miranda/Torres/Ruiz 1998, Lindsey 2000, D a m 2001: 151ff., Durling 2003). Das wesentliche Kriterium für die Feststellung von Dumping ist die Differenz zwischen dem Ausfuhrpreis einer Ware und ihrem sogenannten Normalwert. Unter dem Ausfuhrpreis wird der Preis einer Ware in einem Importland verstanden. Als Normalwert gilt der Preis einer identischen oder vergleichbaren Ware auf dem M a r k t des Exportlandes oder auf dem M a r k t eines anderen Importlandes, w o ein höherer Preis verlangt wird. Alternativ kann der Normalwert aus der Addition von Produktionskosten und zugemessener Gewinnspanne ohne Berücksichtigung von Einfuhrzöllen, Transport- und Versicherungskosten errechnet werden. Wird eine Preisdifferenz und eine dadurch verursachte bedeutende Schädigung eines Wirtschaftszweiges im Importland nachgewiesen, dann ist es dem Importland erlaubt, die Ware mit einem Zusatzzoll (Antidumpingzoll) zu belasten, der jedoch unterhalb der ermittelten Dumpingspanne (Differenz zwischen Normalwert und Ausfuhrpreis) zu bleiben hat. Gegen dieses Verfahren kann der Einwand erhoben werden, dass ein an sich für die Erhaltung des Wettbewerbs vorgesehenes Instrument allzu leicht für protektionistische Zwecke missbraucht werden kann und dass dies auch tatsächlich geschieht. Schon die Definition von Dumping durch die Differenz zwischen dem sogenannten Normalwert und dem Ausfuhrpreis einer Ware wirft Probleme auf. Die Schwierigkeiten bei der Ermittlung des Normalwertes öffnen der Manipulation Tür und Tor. Ein noch gravierenderer Mangel besteht darin, dass die Differenzierung des Preises einer Ware nach den Gegebenheiten unterschiedlicher nationaler Märkte an sich dem Wettbewerb nicht schadet, diesem sogar förderlich sein kann, wenn heimische Anbieter dadurch zu einem für die Verbraucher besseren Preis-Leistungsverhältnis gezwungen werden. Der Antidumpingzoll unterbindet gerade diesen Wettbewerb. Es wird infolgedessen immer wieder festgestellt, dass Antidumpingzölle in vielen Fällen hoch konzentrierte Industrien auf ihrem heimischen M a r k t vor missliebiger ausländischer Konkurrenz schützen, d. h. sich in Wirklichkeit als versteckter Protektionismus darstellen, der den Wettbewerb behindert. Eine OECD-Studie bestätigt die Vermutung. Danach bestand bei 90 Prozent der von den Vereinigten Staaten und der
Europäischen Union angewandten AntidumpingM a ß n a h m e n nur eine geringe oder sogar gar keine Gefahr für ihre Industrien. N a c h einer Schätzung wurden zwischen 1989 und 1994 AntidumpingM a ß n a h m e n verdoppelt (Woods 1999: 19, U N D P 1997, Messerlin/Reed 1995: 1567, Hindley/Messerlin 1996). Das bedeutet, dass sich bislang keine als allseits legitim akzeptierte Praxis des Antidumpingrechts entwickelt hat.
4.4 Antisubventionsrecht Ein weiterer Gegenstand von Konflikten sind Subventionen für Industriezweige, die vom internationalen Wettbewerb unter Druck gesetzt werden. Sie werden geleistet, um die Industrie am Leben zu halten, um sie im eigenen Land zu halten und nicht auf Einfuhren angewiesen zu sein und um Arbeitsplätze zu erhalten. Für die Weltwirtschaft bedeutet dies eine Verzerrung des Wettbewerbs und damit eine Abweichung vom Pfad der ökonomischen Vernunft und der Steigerung des Weltsozialprodukts. Für die nationale Gesellschaft handelt es sich um Maßnahmen, die im Interesse der Vermeidung eines zu abrupten Strukturwandels mit den von ihm verursachten sozialen Desorganisationserscheinungen (Unsicherheit, Arbeitslosigkeit, Vertrauensverlust, Kriminalität) meist eine breite mehrheitliche Zustimmung erfahren (vgl. Entorf/Spengler 2002). Für eine Regierung ist es in der Regel leichter, öffentliche Unruhe durch Subventionszahlungen an wettbewerbsschwache Industrien bzw. an akut von Konkurs bedrohte Unternehmen zu vermeiden, als durch den leicht als Untätigkeit denunzierbaren Verzicht auf solche Subventionen. Auf dem Weltmarkt wirken Subventionen jedoch wettbewerbsverzerrend und benachteiligen unter Gesichtspunkten der Fairness Anbieter, die nicht auf solche Subventionen zurückgreifen können (Hufbauer/ Shelton Erb 1984, Adamontopoulos 1988, Langer 1995: 251ff., Evans/Oye 2001). Dieser Verletzung von Standards der Fairness im internationalen Handel steht das Interesse nationaler Regierungen entgegen, Subventionen zur Abfederung des Strukturwandels einzusetzen. Darüber hinaus können Subventionen auch genutzt werden, um gezielt technologische Innovationen zu fördern oder um neue ausländische M ä r k t e zu erschließen. Demnach können z.B. folgende Arten von Subventionen unterschieden werden: langfristige Beihilfen, um bedrohte Wirtschaftszweige oder -regionen am Leben zu halten, kurzfristige Beihilfen um akute Zahlungsschwierigkeiten von Unternehmen zu überbrücken, innovationsfördernde Subventionen
Richard Münch: Die Konstruktion des Welthandels als legitime Ordnung der Weltgesellschaft und Ausfuhrsubventionen. Wegen der Bedeutung von Subventionen f ü r die staatliche Gestaltung der Sozialordnung und ihrer gleichzeitig wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen auf die Wirtschaft besteht über ihre Legitimität und die Art ihrer rechtlichen Behandlung ein starker inner- und zwischenstaatlicher Dissens. Die international relevanten rechtlichen Bestimmungen finden sich in Art. XVI (materiell-rechtliche Zulässigkeit von Subventionen), Art. VI Abs. 3 - 7 (Erhebung von Ausgleichszöllen) und Art. XXIII (Schutz der Zugeständnisse und sonstigen Vorteile) des GATT von 1947 und 1994. Für das GATS enthält Art. X V die Feststellung, dass Subventionen wettbewerbsverzerrende Wirkungen haben. Die materielle und sanktionsrechtliche Ausgestaltung bedarf jedoch weiterer Verhandlungen. Z u r Konkretisierung der GATT-Bestimmungen wurde 1979 ein Subventions-Kodex eingeführt und 1994 erneuert sowie in das W T O - A b k o m m e n integriert. Materiell-rechtlich geht es um die Unterscheidung zwischen zulässigen und nichtzulässigen Subventionen. Nach dem Subventions-Kodex von 1994 wird zwischen verbotenen, anfechtbaren und nichtanfechtbaren Subventionen unterschieden. Verboten sind Exportsubventionen und Einfuhrhinderungssubventionen. Anfechtbar sind Subventionen, die bestimmte nachteilige Auswirkungen haben. Das ist dann der Fall, wenn sie (1) einem Wirtschaftszweig eines anderen Staates Schaden zufügen, (2) Vorteile aus dem GATT zunichte machen oder schmälern oder (3) die Interessen eines anderen Staates ernsthaft schädigen. Was unter diesen allgemeinen Bestimmungen zu verstehen ist, wird in weiteren Erläuterungen exemplarisch zu präzisieren versucht. Nicht anfechtbare Subventionen sind solche, die keine der genannten Auswirkungen haben, sowie im einzelnen (1) Beihilfen für die industrielle Forschung, (2) die Förderung benachteiligter Regionen im Rahmen allgemeiner Entwicklungsprogramme und (3) der Ausgleich von Beschränkungen und finanziellen Lasten, die Unternehmen durch die Einführung neuer Umweltstandards auferlegt werden (Langer 1995: 260-61).
4.5 Verfahren der Streitbeilegung Im Rahmen der W T O werden M a ß n a h m e n zur Abwehr „illegitimer" Handelspraktiken in einen global ausgerichteten rechtlichen Diskurs gezwungen, in dem sie sich als konsensfähig erweisen müssen. Der Harmonisierung von transnationaler und nationaler Integration jenseits partikularer Interessen wird dadurch ein Weg bereitet (Croley/Jackson
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1996, Goldstein/Martin 2000, Charnovitz 2001, Iwasawa 2002). Die Sanktionierung von Verstößen gegen die Bestimmungen der W T O kann auf zwei, frei wählbaren Wegen erfolgen, und zwar durch die Erhebung von Ausgleichszöllen (Track I) oder durch ein Streitbeilegungsverfahren (Track II). Im Unterschied zur materiell-rechtlichen Seite spielt bei den Sanktionen nur noch das Kriterium der „Schädigung eines inländischen Wirtschaftszweigs" eine Rolle, um einen Ausgleichszoll bzw. die Einleitung eines Streitbeilegungsverfahrens zu rechtfertigen. Die materiell-rechtliche Differenzierung von Kriterien wird infolgedessen bei der Anwendung von Sanktionen nicht ausgeschöpft. Ein Importland darf einseitig einen unter der errechneten Subventionspreisspanne liegenden Ausgleichszoll erheben, wenn es ihm gelingt, in einem förmlichen Verfahren nachzuweisen, dass in einem bestimmten Fall eine verbotene oder zu Recht angefochtene Subvention vorliegt (Hufbauer/Shelton Erb 1984: l l l f f . , Adamantopoulos 1988: 46 ff., BaelyBellis 1990: 1001 ff., Langer 1995: 264ff.). Wählt das Importland das Streitbeilegungsverfahren, dann erfolgt dies unter dem Subventions-Kodex von 1994 in folgendem Ablauf: Es muss zunächst versucht werden, durch wechselseitige Konsultationen eine einvernehmliche Lösung zu finden. Gelingt dies bei verbotenen Subventionen nicht innerhalb von 30 Tagen, bei anfechtbaren Subventionen nicht innerhalb von 60 Tagen, dann kann der Fall dem Streitbeilegungsgremium zwecks Einrichtung eines Untersuchungsausschusses vorgelegt werden. Bei verbotenen Subventionen kann der Untersuchungsausschuss die bindende Stellungnahme einer Ständigen Sachverständigengruppe einholen. Der Untersuchungsausschuss fertigt für die Streitparteien einen Schlussbericht an und stellt diesen innerhalb von 90 bzw. 120 Tagen allen Mitgliedstaaten zu. Wird der Einsatz einer verbotenen Subvention festgestellt, dann empfiehlt der Ausschuss deren Rücknahme innerhalb einer festgesetzten Frist. Das Streitbeilegungsgremium macht sich den Bericht des Ausschusses binnen weiterer 30 Tage zu eigen, wenn nicht eine der Streitparteien beim Ständigen Berufungsgremium Einspruch erhebt. Das Streitbeilegungsgremium kann jedoch auch selbst einstimmig den Bericht zurückweisen. Die Entscheidung des Berufungsgremiums erfolgt innerhalb 30 bzw. 60 Tagen, in Ausnahmefällen binnen 60 bzw. 90 Tagen. Das Streitbeilegungsgremium und die Streitparteien müssen den Bericht des Berufungsgremiums akzeptieren, es sei denn, das Streitbeilegungsgremium votiert einstimmig auf Ablehnung. Wenn die auf den dargestellten Wegen
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zustande gekommenen Empfehlungen des Streitbeilegungsgremiums nicht innerhalb der festgesetzten Frist von dem betroffenen Staat umgesetzt werden, kann das Streitbeilegungsgremium den Klage erhebenden Mitgliedstaat zu angemessenen Gegenmaßnahmen ermächtigen. Das Streitbeilegungsverfahren könnte in erheblichem Maße zur rechtlich geordneten Beilegung von zwischenstaatlichen Konflikten im internationalen Handel hinführen, es wird bislang allerdings weit weniger genutzt als das Verfahren der einseitigen Erhebung von Ausgleichszöllen (Durling 2003: 127, Table 1, Park/Umbricht 2001, Park/Panizzon 2002, Leitner/Lester 2003). Sowohl die Vereinigten Staaten mit der See. 301 des Trade Act von 1974 als auch die EG mit dem Neuen Handelspolitischen Instrument (VO Nr. 2641/84) haben sogar eigenmächtig ihr diesbezügliches Repertoire erweitert und behalten sich vor, vereinbarte Zugeständnisse zurückzunehmen oder auszusetzen (Langer 1995: 272). Es kommt darin zum Ausdruck, dass die Mitgliedstaaten noch nicht genügend Vertrauen in das Streitbeilegungsverfahren entwickelt haben, dessen Vorteil darin liegt, die zwischenstaatliche Konfliktaustragung in rechtsförmig besser ausgearbeitete Bahnen zu lenken, mit der Chance, dass beiderseitig akzeptable Lösungen zustande kommen (Messerlin/Reed 1995). Die stärkere Nutzung und die Stärkung des Streitbeilegungsverfahrens wäre ein Fortschritt in der Zivilisierung des transnationalen politischen Raumes (Rosas 2001, Carmody 2002). In inhaltlicher Hinsicht kommt es darauf an, die funktionale Integration der Weltwirtschaft und die soziale Integration der nationalen Sozialordnungen miteinander in Einklang zu bringen. Die zum Zwecke der nationalen Sozialintegration erforderlichen Subventionen können nicht von vornherein nach einem Kriterienkatalog in zulässige oder nicht zulässige differenziert werden. Ein auf die Lösung dieses Problems zielender Reformvorschlag geht dahin, die Zulässigkeit von Subventionen allein danach zu beurteilen, ob sie die ausgehandelte Ordnung von listengebundenen bi- oder multilateralen Zugeständnissen unterlaufen (Langer 1995: 274ff.). Ist das der Fall, dann bringen sie das System der in den Verhandlungen erfolgten bi- bzw. multilateralen Abstimmung der sozialen Integration der nationalen Sozialordnungen mit der funktionalen Integration der Weltwirtschaft aus dem Gleichgewicht. Ein solcher Ansatz erkennt die Berechtigung von Subventionen zur Erhaltung der nationalstaatlichen Sozialintegration an, verlangt aber, dass sie in die Vereinbarung von Zugeständnissen im Interesse der
funktionalen Integration der Weltwirtschaft einbezogen werden. Während bei der einseitigen Erhebung von Ausgleichszöllen nur die Schädigung eines einzelnen Wirtschaftszweiges in Anschlag kommt, geht es bei der sektorenübergreifenden Vereinbarung von Zugeständnissen um die Ausbalancierung von nationalen Sozialordnungen im Rahmen der funktionalen weltwirtschaftlichen Integration als Gesamtheit. Dieser grundlegenden Zielsetzung der Weltwirtschaftsordnung entspräche am ehesten eine Beurteilung der Zulässigkeit von Subventionen nach dem Kriterium der Störung einer ausgehandelten Ordnung von Zugeständnissen, und zwar unabhängig von inhaltlichen Merkmalen und sonstigen Konsequenzen von Subventionen. Die Erhebung von Ausgleichszöllen als Gegenmaßnahme zum Unterlaufen von vereinbarten Zugeständnissen durch neue Subventionen wäre ein Korrektiv, mit dessen Hilfe das Gleichgewicht der vereinbarten Ordnung wiederhergestellt würde. Der Grund für die Erhebung von Ausgleichszöllen wäre nicht das partikulare Kriterium der Schädigung eines einzelnen Wirtschaftszweiges, sondern die Abweichung von einer vereinbarten Ordnung von Einfuhrschranken. Ziel der Ausgleichsmaßnahme wäre nicht der partikulare Schutz eines einzelnen Wirtschaftszweiges, sondern die Wiederherstellung einer vereinbarten Ordnung, in der die soziale Integration nationaler Sozialordnungen und die funktionale Integration der Weltwirtschaft in ihrem Verhältnis zueinander ausbalanciert wurden. Im Rahmen einer solchen Konzeption des Antisubventionsrechts ist eine vorgängige inhaltliche Unterscheidung von zulässigen oder nicht zulässigen Subventionen nicht förderlich, sondern eher hinderlich. Das zeigt sich auch darin, dass unter spezifischen Umständen selbst Ausfuhrsubventionen zulässig sein können, und zwar dann, wenn sie dazu dienen, gegenseitig vereinbarte Handelsvorteile gegen nachträgliche Subventionen eines Einfuhrstaates durchzusetzen. An dem skizzierten Reformvorschlag ist zu erkennen, dass der juristische Diskurs darauf hinwirkt, das strategische Spiel konkurrierender Akteure in einen transnational legitimierten Rahmen einzubetten. Je mehr dies geschieht, um so mehr geht aus der zwischenstaatlich paktierten Welthandelsordnung eine transnationale, die Staaten unter Rechtfertigungszwänge setzende Ordnung hervor. Das Streitbeilegungsverfahren der WTO beinhaltet einen deutlichen Schritt weg von klassischen zwischenstaatlichen Verfahren der Konfliktbeilegung und hin zu einem stärker verrechtlichten transnationalen Verfahren. Im ersten Fall behalten die
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Staaten das Heft vollständig in der Hand, im zweiten Fall unterwerfen sie sich einer unabhängigen, transnationales Recht anwendenden Gerichtsbarkeit. Der UN-Sicherheitsrat auf der einen Seite und der Europäische Gerichtshof der Europäischen Union auf der anderen Seite repräsentieren die einander entgegengesetzten Extreme zwischenstaatlicher und transnationaler Streitbeilegung. Das Streitbeilegungsverfahren der W T O befindet sich etwa in der Mitte zwischen diesen beiden Extremen. Das kann an drei Kriterien gezeigt werden (Keohane/Moravcsik/Slaughter 2000): (1) Die Unabhängigkeit des W T O Panels erreicht im Vergleich zu den beiden genannten Extremfällen ein mittleres Niveau. Gruppen von Staaten stellen eine Liste von Experten zusammen, aus der die Streitparteien und das WTO-Sekretariat von Fall zu Fall eine für einen Fall verantwortliche Gruppe auswählen. Der Einfluss der Streitparteien auf die Zusammenstellung des Panels wird durch dieses zweistufige Verfahren gebrochen. Die Aufgabe des Panels ist nicht die Aushandlung eines Kompromisses, sondern die Entscheidung über Recht und Unrecht. (2) Der Zugang zum Verfahren für private Interessenten kann als schwach bis mittel ausgeprägt betrachtet werden. Einerseits können nur Staaten als Kläger auftreten, andererseits können private Akteure ihre Regierung um so mehr zu Klagen veranlassen, je direkteren Zugang sie zur Regierung mittels Lobby haben, was z.B. in erheblichem Umfang für die USA gilt. Formell treten demgemäß zwar Staaten als Streitparteien auf, materiell sind es aber nicht selten Industriesektoren oder Unternehmen, die dahinter stehen und ihre Regierung mit Hilfe ihrer Anwälte mit der notwenigen Munition für das Verfahren versorgen. (3) Die rechtliche Bindung der Staaten durch das Ergebnis des Streitbeilegungsverfahrens ist auf mittlerem Niveau angesiedelt. Es gibt zwar keine direkte innerstaatliche Umsetzung. Insofern kann ein Staat einen WTO-Schiedsspruch ignorieren. Das berechtigt aber die siegreiche Partei zur Anwendung von Zollerhöhungen zu Ungunsten der unterlegenen Partei, was auf eine von der W T O gedeckte Sanktionierung hinausläuft. Es kann demgemäß festgestellt werden, dass das WTO-Streitbeilegungsverfahren die Welthandelsordnung ein erhebliches Stück von einer rein zwischenstaatlichen O r d n u n g entfernt und einer transnationalen Ordnung angenähert hat. Diese These wird in quantitativer Hinsicht durch die erhebliche Steigerung der Nutzung des Streitbeilegungsverfahrens der W T O im Vergleich zum GATT gestützt. Während im Rahmen des GATT jährlich durchschnittlich 4,4 Fälle abgehandelt wurden, sind es
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im Rahmen der W T O 30,5 Fälle (Keohane/Moravcsik/Slaughter 2000: 475). Gehen wir davon aus, dass der Welthandel und die von ihm forcierte internationale Arbeitsteilung den Kern einer die nationalen Solidaritäten überlagernden transnationalen Solidarität in sich trägt, und berücksichtigen wir, dass Solidarität den Kern von Gesellschaft ausmacht, dann sind wir angesichts der konstatierten Bewegung in die Richtung weg von einer zwischenstaatlichen und hin zu einer transnationalen Welthandelsordnung durchaus berechtigt, in der Welthandelsordnung den harten Kern einer Weltgesellschaft in statu nascendi zu erkennen. In dieser Hinsicht ist der Auffassung von Rieger und Leibfried (2001: 133ff.) zu widersprechen, die argumentieren, dass die Welthandelsordnung noch ganz ausschließlich als eine zwischenstaatliche O r d n u n g zu betrachten sei. Die Position von Rieger und Leibfried führt zu einer systematischen Überschätzung des Handlungsspielraums der nationalen Regierungen. Das gilt sowohl im Hinblick auf die bindende Kraft von WTO-Prinzipien und WTO-Streitbeilegung, als auch im Hinblick auf den Zwang zum wirtschaftlichen Strukturwandel, der sich aus der wachsenden Einbeziehung in den Welthandel ergibt.
4.6 Inklusion der Entwicklungsländer in die Welthandelsordnung Die negativen Konsequenzen der selektiven sektoralen Regulierung des Handels zwischen den Industrie- und den Entwicklungsländern für die Industrie- und die Entwicklungsländer sowie für die funktionale Integration der Weltwirtschaft lassen sich gut am Beispiel des Textilmarktes beobachten (Keesing/Wolf 1980, Langer 1995: 302ff., Kim/Reinert/Rodrigo 2002). Auf diesem M a r k t haben insbesondere asiatische Entwicklungsländer aufgrund ihrer wesentlich niedrigeren Lohnkosten schon in den 1950er Jahren die amerikanischen und die europäischen Hersteller unter Konkurrenzdruck gesetzt. Wegen der hohen Arbeitsintensität dieser Produkte machen die Lohnkosten einen erheblichen Teil der Gesamtkosten aus. Bis heute hat der Textilhandel mit 10 % einen großen Anteil am gesamten Welthandel und mit 25 % einen noch größeren Anteil an den Exporten der Entwicklungsländer. Bangladesch und Sri Lanka erzielen 50 % ihrer Einnahmen aus dem Textilexport. Für Afrika südlich der Sahara umfasst der Textilhandel 24 % aller Exporte, für Asien 14 %, für Lateinamerika und die Karibik 8 % (Woods 1999: 18, U N D P 1997). Schon 1961 und 1962 wurden die ersten Abkommen zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern getroffen,
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1974 wurde dann ein umfassender Rahmenvertrag für Selbstbeschränkungsabkommten geschlossen, das Arrangement Regarding International Trade in Textiles, das als Welttextilabkommen (WTA) oder als Multifaserabkommen (MFA) abgekürzt wird. Dieses Abkommen widerspricht eigentlich dem Geist des GATT, weil es nicht sektorenübergreifend angelegt ist und statt der für alle Anbieter gleich wirkenden Einfuhrbeschränkung durch Zölle eine Kontingentierung bzw. Quotierung von Importen beinhaltet. Trotzdem wurde es als Sonderrechtsordnung in das GATT integriert. Die Festlegung von Importquoten für bestimmte Länder und bestimmte Produkte hat zunächst zur Folge gehabt, dass die Warenströme verstärkt in quotenfreie Länder und in quotenfreie Produkte gelenkt wurden. Darauf haben die Industrieländer mit einer ständigen Erweiterung der Liste von vereinbarten Quotierungen reagiert, so dass ein perfekter Schutz ihrer heimischen Textilindustrie erreicht wurde. Interessanterweise haben sich die Entwicklungsländer ohne großen Widerstand auf die Quotierungsabkommen eingelassen, und zwar deshalb, weil ihnen dadurch ein bestimmtes Handelsvolumen auf den jeweiligen Absatzmärkten garantiert war und sie gegen mögliche Konkurrenz neuer Anbieter geschützt waren. Als privilegierte Inhaber von Quoten ohne Konkurrenz von Seiten anderer, nachstrebender Entwicklungsländer konnten sie ihre Preise sogar an das Preisniveau der teuren heimischen Hersteller auf dem Markt der Industrieländer angleichen. An die Stelle des Preiswettbewerbs zwischen Entwicklungsländern trat deshalb ein ausgeprägtes „rentseeking" durch die Sicherung von Privilegien in Gestalt von vereinbarten Importquoten. Die Öffnung des Textilhandels verschärft die Konkurrenz unter den Entwicklungsländern und erzwingt dort selbst Maßnahmen der Produktivitätssteigerung (Elbehri/Hertel/Martin 2003). Bisher privilegierte Entwicklungsländer geraten unter Druck und können von aufholenden Entwicklungsländern vom Markt verdrängt werden, wenn es ihnen nicht gelingt, ein höheres Produktivitätsniveau zu erreichen (Klein 2004). Die Industrie der Industrieländer wurde durch dieses Quotensystem für eine längere Zeit vor der Notwendigkeit der Verlagerung von der Textilproduktion in neue konkurrenzfähigere Produktionszweige geschützt. Der Prozess ist verzögert worden, konnte aber auf Dauer nicht verhindert werden. Es wird darüber gestritten, ob die Industrieländer dadurch vor einem sozial unverträglichen Strukturwandel bewahrt wurden oder ob dieser Strukturwandel nur zeitlich verschoben wurde und man dadurch für längere Zeit die
Chance verpasst hat, die Investitionen und Qualifikationen in wettbewerbsfähigere Industriezweige zu verlagern. Unbestritten ist jedoch, dass die Industrieländer auf diese Weise die Integration der Entwicklungsländer in den Weltmarkt behindert und deren Entwicklung gebremst haben. Das Argument, dass die Industrieländer den Entwicklungsländern dadurch mehr geschadet haben als sie durch Transfers der Entwicklungshilfe gutgemacht haben, gewinnt im entwicklungspolitischen Diskurs zunehmend an Unterstützung und stellt deshalb die Weichen für die weitere Öffnung der Industrieländer für Produkte aus den Entwicklungs- und Schwellenländern. Das offizielle Ziel des Multifaserabkommens war an sich ein fairer Ausgleich zwischen dem Interesse der Entwicklungsländer an wachsenden Anteilen am Weltmarkt und dem Interesse der Industrieländer, abrupten Strukturwandel durch „Marktzerrüttung" mit entsprechenden Anpassungskrisen zu vermeiden. Laut Präambel Abs. 4, Art. 1 Abs. 2, 3 und 4 des Multifaserabkommens soll den Entwicklungsländern der Zugang zum Welthandel erleichtert und ihre Entwicklung gefördert werden, die Industrieproduktion der Industrieländer soll in wettbewerbsfähigere Branchen verlagert, gleichzeitig sollen aber ihre Märkte vor Zerrüttung geschützt werden. Es wird jedoch zunehmend bezweifelt, ob diese Ziele tatsächlich erreicht wurden oder ob die Integration der Entwicklungsländer in den Weltmarkt und damit ihre Entwicklung und ebenso der unvermeidliche Strukturwandel in den Industrieländern nur zeitlich verzögert wurden. Demnach war der Meinung zufolge, die sich im diskursiven Feld der miteinander verschränkten Handelsund Entwicklungspolitik durchsetzte, der wesentliche Effekt dieses Abkommens, dass die Industrieländer für etwa zwei bis drei Jahrzehnte länger als ohne Abkommen Privilegien auf Kosten der Entwicklungsländer genießen konnten. Diese inzwischen weit gehend als ungleich betrachteten Bedingungen des Handels zwischen Industrie- und Entwicklungsländern sind im Bereich des Textilhandels selbst nach dem Auslaufen des Multifaserabkommens Ende 2004 nicht völlig beseitigt. Immer noch werden auf die überwiegend aus den Entwicklungsländern importierten Textilien im Durchschnitt Zolltarife von 12 Prozent erhoben. Das ist der dreifache Wert der Zolltarife für Importe von ganz überwiegend aus den Industrieländern importierten Industriegütern (Woods 1999: 18). Für diese sich im diskursiven Feld durchsetzende Einschätzung der Situation sprechen auch die Ergebnisse einer jüngst veröffentlichten Untersuchung der Weltbank, die ihrerseits Druck in die Richtung
Richard Münch: Die Konstruktion des Welthandels als legitime Ordnung der Weltgesellschaft der weiteren Handelsliberalisierung ausübt. Demnach hat sich der Lebensstandard in den 2 4 Staaten, deren Wirtschaft in den zwei Jahrzehnten vor der Jahrtausendwende stärker geöffnet und in die Weltwirtschaft integriert wurde, spürbar verbessert. Damit einher ging auch eine Verbesserung der Lebensverhältnisse der Ärmsten, der Schulbildung, der Gesundheitsvorsorge und nicht zuletzt der Luftqualität. Zu diesen Ländern gehören z . B . China, Indien, Vietnam, Uganda und M e x i k o . Im Vergleich dazu haben sich die Lebensverhältnisse in denjenigen Ländern, die in sich abgeschlossen blieben und weniger in den Weltmarkt integriert wurden, nicht verbessert, sondern eher verschlechtert. Das gilt insbesondere für die Länder in Afrika südlich der Sahara, für die aus der Sowjetunion hervorgegangenen Staaten und für die Länder des Mittleren Ostens. In den 1 9 9 0 e r Jahren sind die in den Weltmarkt einbezogenen Volkswirtschaften der Entwicklungsländer um durchschnittlich fünf Prozent gewachsen, die vom Weltmarkt abgeschotteten jedoch um ein Prozent geschrumpft. Ein Beispiel für die entwicklungsfördernde Inklusion in den Weltmarkt ist Vietnam, wo es nach einer Feldstudie 98 Prozent der Ärmsten inzwischen besser geht, die Kinderarbeit zurückgegangen und die Partizipation an der Schulbildung gestiegen ist. Ein anderes Beispiel ist Uganda, wo in den 1 9 9 0 e r Jahren die Zahl der Armen um 4 0 Prozent verringert, die Zahl der Schüler dagegen verdoppelt wurde. Nach einer Untersuchung zeigt sich auch, dass starkes wirtschaftliches Wachstum eher mit einer Verbesserung als mit einer Verschlechterung der Luftqualität einhergeht. Durch die Inklusion in den Weltmarkt leben nach der Weltbankstudie drei Milliarden Menschen in besseren Verhältnissen als vor 2 0 Jahren, dagegen haben sich die Lebensverhältnisse der zwei Milliarden Menschen in den vom Weltmarkt weitgehend abgekoppelten Volkswirtschaften verschlechtert. Die Studie weist auch darauf hin, dass die Industrieländer die Integration der Entwicklungsländer bisher stark behindert haben, weil sie ihre Zölle für genau diejenigen Waren hochhalten, bei denen die Entwicklungsländer besonders konkurrenzfähig sind: landwirtschaftliche und arbeitsintensive Produkte. Die Belastung der Entwicklungsländer durch Zölle liegt bei 1 0 0 Milliarden pro Jahr, eine höhere Summe, als ihnen an Entwicklungshilfe zufließt (World Bank 2 0 0 2 ; siehe auch Mandle 2 0 0 3 : 9ff.). Die Veröffentlichung solcher Forschungsergebnisse setzt die Industrieländer unter Druck, ihre Märkte für die Entwicklungs- und Schwellenländer zu öffnen. Neben dem schon erwähnten Textilhandel ist der Handel mit landwirtschaftlichen Produkten der
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zweite große Bereich, in dem die Industrieländer nach der im diskursiven Feld inzwischen herrschenden Meinung ihre eigene Wirtschaft zu Lasten von Importen aus den Entwicklungsländern in hohem M a ß e , in diesem Fall insbesondere durch Subventionen, schützen. Nach einer Schätzung machen Subventionen ungefähr die Hälfte des Wertes landwirtschaftlicher Produkte in den Vereinigten Staaten und in der Europäischen Union aus. Dieser Protektionismus der reichen Industrieländer hat nach der sich durchsetzenden Auffassung für die Entwicklungsländer drei fatale Folgen, wie Woods ( 1 9 9 9 : 18) herausstellt: (1) die Preise für landwirtschaftliche Produkte werden auf ein Niveau unterhalb des ohne Subventionen erzielbaren Marktpreises gedrückt; (2) den Entwicklungsländern wird der Zugang zu den Märkten der Industrieländer versperrt; (3) die landwirtschaftlichen Betriebe der Entwicklungsländer leiden unter dem Dumping durch subventionierte Produkte der Industrieländer. Die Regierungen der Industrieländer betreiben ihre Subventionspolitik unter dem Einfluss einer sehr schlagkräftigen Industrie- und Landwirtschaftslobby und aus der Furcht vor Wahlstimmenverlusten bei den Bauern, aber auch bei anderen, insbesondere einkommensschwachen Bevölkerungsschichten, die bei einer Verteuerung der landwirtschaftlichen Produkte spürbare Kaufkraftverluste hinnehmen müssten. Ein in der jüngeren Vergangenheit hinzugetretenes Motiv ist der Umweltschutz. Die Z a h lung der Subventionen erfolgt auch für die von den Bauern betriebene Landschaftspflege und im Interesse einer Versorgung der Verbraucher mit landwirtschaftlichen Produkten aus ihrer unmittelbaren Umgebung, um auf diese Weise unnötige Umweltbelastung durch lange Transportwege zu vermeiden. Hier besteht ein elementarer Konflikt zwischen dem insbesondere von den Industrieländern vertretenen Interesse an einer ökologisch nachhaltigen Landwirtschaft der kurzen Versorgungswege und dem Interesse der Entwicklungsländer an einer Verbesserung ihrer Lebensbedingungen durch die Gewährung von Chancengleichheit beim internationalen Handel mit landwirtschaftlichen Produkten (vgl. Wolfe 1 9 9 8 , Redclift/Sage 1 9 9 9 ) . Ein nach herrschender Auffassung weiterer Nachteil für die Entwicklungsländer ist die unterschiedliche Höhe der Zolltarife auf Rohstoffe auf der einen Seite und Fertigprodukte auf der anderen Seite. Die Zolltarife für Fertigprodukte sind 8 bis 2 6 Prozent höher angesetzt als die Tarife für die entsprechenden Rohstoffe, etwa Leder oder Textilfasern. Dadurch wird es den Entwicklungsländern erschwert, zu Herstellern von Fertigprodukten zu werden und
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damit zu den Industrieländern aufzuschließen. Sie bleiben auf den Export von Rohstoffen fixiert, deren Preis auf dem Weltmarkt starken Schwankungen unterworfen ist und mit der Vergrößerung der Zahl von Anbietern erheblich gesunken ist. Die Nachfrage nach Rohstoffen auf dem Weltmarkt steigt nicht zwangsläufig mit Einkommenssteigerungen oder Preissenkungen (Woods 1999: 19). Schließlich beschränken nach verbreiteter Auffassung die Hindernisse für den Technologie-Transfer von den Industrieländern zu den Entwicklungsländern die Aufstiegschancen der Entwicklungsländer. Die GATT-Vereinbarungen der Uruguay-Runde haben die Geltungsdauer von Patenten und anderen Rechten an geistigem Eigentum sogar noch verlängert und deren Schutz verstärkt. Dadurch wird die Technologie-Kluft zwischen den Industrieländern und den Entwicklungsländern noch vergrößert und auf längere Dauer festgeschrieben. Um am Wachstum der Weltwirtschaft einen größeren als den bisher nur sehr bescheidenen Anteil zu erhalten, wären die Entwicklungsländer jedoch darauf angewiesen, den Sprung in die Wachstumsmärkte der Hochtechnologie zumindest in ersten Ansätzen zu schaffen. Wenn sie keinen Zugang zu neuen Technologien haben, bleiben sie von den Wachstumsmärkten ausgeschlossen. Das Beispiel Japans bestätigt diese These nachdrücklich. Ohne Zugang zu den westlichen Technologien hätte sich der wirtschaftliche Aufstieg Japans nicht so schnell vollziehen können, wie es tatsächlich der Fall war. Angesichts der offensichtlich negativen Effekte des Systems der Präferenzbehandlung der Entwicklungsländer wird mit zunehmender Zustimmung im diskursiven Feld argumentiert, dass der Inklusion der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft durch die stärkere Ö f f n u n g der Märkte der Entwicklungsund der Industrieländer füreinander eine maßgebliche, über die gezielte Entwicklungshilfe sogar hinausgehende Entwicklungsfunktion zukommt. Der Abbau sektoraler Regulierungen, wie das Multifaserabkommen, und die konsequentere sowie breitere Anwendung der grundlegenden Strukturprinzipien der Welthandelsordnung - Reziprozität und Meistbegünstigung - versprechen demnach eine Zunahme der Inklusion der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft und eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse (Krueger 1995, Schwarz/Sykes 1997, Josling 2000, Watal 2000, Stiglitz 2000, Moore 2003). Die bisherige Differenzierung von Binnen- und Außenmoral im Verhältnis der Industrieländer zu den Entwicklungsländern soll sich einen Schritt weiter in die Richtung einer O r d n u n g bewegen, die für beide Seiten als fair gelten kann. Funktionale welt-
wirtschaftliche Integration und die zwischenstaatliche sowie innerstaatliche Ausbalancierung des wirtschaftlichen und sozialen Strukturwandels sollen auf diese Weise besser ineinander verzahnt werden (Langer 1995: 320ff.). In der Verteilung des weltweit wachsenden Wohlstands äußert sich die Angleichung von innen und außen darin, dass die Ungleichheit zwischen den nationalen Gesellschaften auf lange Sicht abnimmt, während sie innerhalb der nationalen Gesellschaften wächst. Das zeigen in der Tat neuere empirische Untersuchungen (Goesling 2001, Firebaugh/Goesling 2004). Das gilt sowohl für die Industrieländer als auch für die Entwicklungsländer. Für die Industrieländer heißt das insbesondere, dass gering Qualifizierte mehr marginalisiert werden als zuvor. Für die Entwicklungsländer bedeutet es, dass sich die Schere zwischen Reich und Arm öffnet, weil ihre Weltmarktintegration den Privilegierten einen größeren Nutzen bringt als den Benachteiligten. Trotzdem profitieren auch die Armen von der Anhebung des Lebensstandards, wenn auch nicht im gleichen Maße wie die Reichen. Dass Afrika von dieser Entwicklung weit gehend ausgeschlossen ist, falsifiziert nicht die These der langfristigen Angleichung von innen und außen durch die Weltmarktintegration und damit einhergehende innere Differenzierung der nationalen Gesellschaften, weil in Afrika die Anfangsbedingung der Weltmarktintegration am wenigsten gegeben ist, dementsprechend dort auch der geringste Angleichungseffekt zu erwarten ist (World Bank 2002: Fig. 1.17) (Abb. 3).
5. Schlussbemerkungen Unsere Analyse hat gezeigt, dass die funktionale Ausdifferenzierung der Weltwirtschaft aus dem segmentär differenzierten System der Nationalstaaten nicht adäquat als Herauslösung der Ökonomie aus jeglicher Art der normativen Strukturierung zu begreifen und zu erklären ist. Eine Erklärung dieses Vorgangs verlangt vielmehr die Erfassung des sich vollziehenden fundamentalen Strukturwandels von Solidarität und Gerechtigkeit, der die Aufhebung des Dualismus von innerer Brüderlichkeit und äußerer Unbrüderlichkeit, Binnen- und Außenmoral impliziert. Die Weltgesellschaft bildet sich auf dem Boden der Welthandelsordnung als oberste Ebene in dem Mehrebenensystem von lokaler Gemeinde, subnationalen Regionen, Nationalstaat, supranationalen Zusammenschlüssen und globaler Vergesellschaftung heraus. Der Sinn der globalen Ordnung findet maßgeblich in den Prinzipien der
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Richard Münch: Die Konstruktion des Welthandels als legitime Ordnung der Weltgesellschaft Abb. 3 Ungleichheit von Haushaltseinkommen globalisierter Entwicklungs- und Schwellenländer 1975- 1995 Quelle: World Bank 2002, Fig. 1.17
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0,4
Q
zwischen den Ländern
•
innerhalb eines Landes
0,2
1985
Reziprozität u n d M e i s t b e g ü n s t i g u n g seinen Ausd r u c k . Der von ihrer H e r a u s b i l d u n g e n t f a c h t e K o n flikt zwischen globaler u n d n a t i o n a l e r Integration k a n n a m ehesten zur weltweiten R e s p e k t i e r u n g einer legitimen O r d n u n g f ü h r e n , w e n n er im R a h m e n der W e l t h a n d e l s o r d n u n g , insbesondere im R a h m e n des Streitbeilegungsverfahrens der W T O ausgetragen w i r d . Als L ö s u n g des K o n f l i k t s zwischen den Industrie- u n d d e n E n t w i c k l u n g s l ä n d e r n u m die Teilhabe a m W e l t w o h l s t a n d zeichnet sich die k o n sequente U m s e t z u n g der Prinzipien der W e l t h a n d e l s o r d n u n g z u s a m m e n mit d e m Platz s c h a f f e n d e n wirtschaftlichen S t r u k t u r w a n d e l der Industrieländer im Z u g e ihrer Ö f f n u n g f ü r l a n d w i r t s c h a f t l i c h e u n d arbeitsintensive P r o d u k t e aus den Entwicklungsländern a b . Von den I n d u s t r i e l ä n d e r n verlangt diese i n t e r n a t i o n a l e K o n f l i k t b e w ä l t i g u n g die innere Umstellung v o n der desaktivierenden auf eine aktivierende Sozialpolitik. Auf diesem Wege gleichen sich innere u n d äußere Solidarität u n d Gerechtigkeit in der transnationalen Netzwerksolidarität sowie in den Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit, Chancengleichheit u n d Fairness einander a n . Die Ungleichheit zwischen den in die Weltgesellschaft inkludierten N a t i o n e n n i m m t ab, w ä h r e n d sie innerhalb der N a t i o n e n z u n i m m t . Die Marginalisierung der gering Qualifizierten wird zu einem zentralen Problem der Industrieländer. D e r beschriebene Wandel ist als Par a d i g m e n w e c h s e l zu begreifen, bei d e m Prozesse der f u n k t i o n a l e n A n p a s s u n g a n die g e w a c h s e n e m a terielle Dichte d u r c h Spezialisierung u n d internationale Arbeitsteilung u n d M a c h t v e r s c h i e b u n g e n im diskursiven Feld d e r n o r m a t i v e n K o n s t r u k t i o n einer legitimen O r d n u n g des wirtschaftlichen H a n d e l n s zusammenwirken.
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Autorenvorstellung: Richard Münch, geb. 1945 in Niefern. Professor für Soziologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Er ist gegenwärtig Mitherausgeber der Soziologischen Revue und der Zeitschrift für Soziologie und Mitglied im Fachbeirat des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln. Sein Forschungsinteresse gilt der Gesellschaftstheorie und komparativen Makrosoziologie. Neue Veröffentlichungen sind Offene Räume (2001) und Soziologische Theorie, 3 Bände (2002-2004).
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 314-329
Vom globalen Dorf zur kleinen Welt: Netzwerke und Konnektivität in der Weltgesellschaft From the Global Village to the Small World: Networks and Connectivity in World Society Boris Holzer Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, Konradstraße 6, D-80801 München E-mail: [email protected] Zusammenfassung: In einem weltweiten Kommunikationszusammenhang sind soziale Beziehungen zunehmend unabhängig von räumlichen Fixierungen. Die These, dass Netzwerke auf dieser Basis an Bedeutung gewinnen, kann mit m e h r oder weniger großer Plausibilität für verschiedene gesellschaftliche Teilsysteme belegt werden. D o c h wie steht es u m soziale Netzwerke im engeren Sinne, also u m Kontaktnetzwerke, die sich nicht auf die Operationen globaler Funktionssysteme stützen? Dieser Artikel diskutiert globale soziale Netzwerke, die insbesondere durch die small world-Forschung in den Mittelpunkt des Interesses gerückt wurden. Das small world-Theorem macht nachvollziehbar, wie große soziale Netzwerke zwei scheinbar widersprüchliche M e r k m a l e kombinieren können: lokale Verdichtung („Clusterbildung") und globale Erreichbarkeit („Konnektivität"). Die eher modelltheoretischen Interessen dieses Forschungsprogramms werden mit einer soziologischen Interpretation von Kontaktnetzwerken kombiniert, u m deren Rolle in der Weltgesellschaft zu bestimmen. Die durch soziale Netzwerke begründete globale Konnektivität verdient Aufmerksamkeit innerhalb einer Theorie der Weltgesellschaft, weil sie eine Alternative zu schwer einlösbaren Einheits- und Integrationsvorstellungen bietet. Summary: Social relationships in world society are increasingly deterritorialized, i.e. they go beyond spatial boundaries and the confines of face-to-face-interaction. M a n y observers characterize the contemporary organization of social relationships as networks that constitute a form of global interconnectedness. Examples f r o m various societal subsystems appear to corroborate this hypothesis. But w h a t about social networks in general, i.e. contacts that are not based o n the operations of subsystems? This paper discusses global social networks and draws on recent research on the small worldphenomenon, i.e. the property of large networks to combine a high degree of local clustering with a relatively low average path distance between nodes. The rather abstract interests of this research program are combined with social network theory in order to analyse the role of social networks in world society. It is argued that the network concept of "connectivity" provides a viable alternative to restricted concepts of world society that presuppose too much unity and integration.
Einleitung Grenzüberschreitende Vernetzung gilt als ein Schlüsselaspekt der Globalisierung. Eine „Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen" drückt sich darin aus, dass räumliche N ä h e kein verlässlicher Indikator f ü r die Relevanz von Ereignissen und die Anschlussfähigkeit von Kommunikationen mehr ist (Giddens 1990: 64). Globalisierung bedeutet demnach ein „linking of localities" (Robertson 1995: 34f.). Auf der Grundlage dieses allgemeinen Begriffs der Vernetzung, der nicht explizit zwischen sozialen und physikalischen oder technologischen Aspekten unterscheidet, k a n n m a n auch spezifischer nach den Netzwerken zwischen Staaten, Organisationen und Personen fragen. Geht man davon aus, dass nicht geographische R ä u m e per se vernetzt werden, sondern soziale Einheiten aller Art, stößt m a n auf eine Vielzahl von Bereichen, in denen eine zunehmende „interconnectedness" zu beob-
achten ist (Held et al. 1999). Inter- und transnationale Netzwerke lassen sich in praktisch allen gesellschaftlichen Teilbereichen zum Gegenstand der Untersuchung machen, z.B. in der internationalen Politik (McGrew 1992, Sikkink 1993, Keck/Sikkink 1998) oder in der Produktion und im H a n d e l (Dicken 1998, Held et al. 1999: Kap. 3-5, ChaseD u n n et al. 2000). M a n muss aus solchen Ergebnissen nicht den Schluss ziehen, die zeitgenössische Gesellschaft sei nur noch als „Netzwerkgesellschaft" zu verstehen (Castells 2 0 0 0 a , 2000b). Auf jeden Fall ist es bemerkenswert, dass sich der Netzwerkbegriff zur Beschreibung von Globalisierungsp h ä n o m e n e n geradezu aufzudrängen scheint. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, w e n n m a n die zunächst von der Globalisierungsdiskussion unabhängige Entwicklung und Verbreitung des Begriffs in den Sozial- und Naturwissenschaften berücksichtigt. Die sozialwissenschaftliche Netzwerkanalyse hat seit den 1960er Jahren d a r a n gearbeitet, soziale
Boris Holzer: V o m globalen Dorf zur kleinen Welt: Netzwerke und Konnektivität in der Weltgesellschaft
Netzwerke gegenüber konkurrierenden Beschreibungen für soziale Aggregate wie Gruppe, Gesellschaft oder System zu profilieren (Mitchell 1969, Leinhardt 1977, Scott 1991, Jansen 2003). Nach eher metaphorischen Versuchen, das Vernetzungsparadigma auch in den Naturwissenschaften zu etablieren (Capra 1996), haben Netzwerke und graphentheoretische Verfahren dort mittlerweile einen festen Platz gefunden, insbesondere in der Physik und in der Biologie (Barabäsi 2002, Dorogovtsev/Mendes 2002, Newman 2003). Der Erfolg des Themas weckte schnell das Interesse daran, auch andere Netzwerke mit den Methoden der „neuen" Netzwerkwissenschaft (Watts 2004), die sich weitgehend unabhängig von den soziologischen Vorläufern etabliert hat, zu untersuchen. Ein nahe liegender Kandidat war die Hypertext-Struktur des Worldwide Web (WWW) (Yook et al. o.J., Barabasi 2002: 143ff.), aber auch sexuelle Kontakte gerieten so ins Blickfeld der Netzwerkforschung (Liljeros et al. 2001). Angesichts solcher Vorlagen ist es nicht verwunderlich, dass der Begriff auch außerhalb der Wissenschaft breite Resonanz findet. Netzwerke gelten hier nicht nur als eine mögliche Beschreibung sozialer (und physikalischer) Sachverhalte, sondern sind zu einem erstrebenswerten Attribut geworden (Krücken/Meier 2003). Dass in all diesen unterschiedlichen Kontexten von Netzwerken die Rede ist, indiziert eine „seltene Konvergenz" der ansonsten keineswegs deckungsgleichen Beschreibungssprachen für die technologische Infrastruktur von Kommunikation, ihre sozialen Strukturen und die sich darauf stützenden alltäglichen Erfahrungen (Stichweh 2000: 225). Genau diese Kombination macht sich eine Anwendung der Netzwerkanalyse zunutze, die sich mit dem so genannten small world-Phänomen befasst. Sie bezieht sich nicht auf internationale oder technologische Verflechtungen, sondern auf im engeren Sinne soziale Netzwerke zwischen Personen. Das small tforW-Theorem macht nachvollziehbar, wie große interpersonale Netzwerke zwei scheinbar widersprüchliche Merkmale kombinieren können: lokale Verdichtung („Clusterbildung") und globale Erreichbarkeit („Konnektivität"). Dies ist insofern ein relevanter Befund für eine Theorie der Weltgesellschaft, als er auf eine soziale Struktur (bzw. ein Ensemble von Strukturen) hinweist, die globale oder zumindest transnationale Reichweite mit lokaler Heterogenität kombiniert. Diese Eigenschaft verbindet eine Reihe von Phänomenen, die man als „Eigenstrukturen" der Weltgesellschaft bezeichnen kann (Stichweh 2003). Gemeinsam ist ihnen, dass sie nicht zu einer Homogenisierung oder „McDonaldisie-
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rung" (Ritzer 1996) beitragen, sondern Quellen sich ständig reproduzierender Diversität sind. Im Folgenden stelle ich zunächst das small worldProblem und seine experimentelle Anwendung auf globale soziale Beziehungen vor. In Ergänzung zu den eher modelltheoretischen Interessen dieser Forschung versuche ich zweitens zu zeigen, warum Kontaktnetzwerke im Sinne der small worlds ein Spezifikum der modernen Gesellschaft sind und inwiefern sie als Indikatoren und Kanäle transnationaler sozialer Beziehungen verstanden werden können. Daran schließt sich drittens die Frage an, welche Rolle derartige interpersonale Kontaktnetzwerke in der Weltgesellschaft spielen. Die in der small world-Forschung hervorgehobene globale Konnektivität allein ist wohl kein Beleg für eine globale „Sozialintegration", wie sie etwa mit der Metapher des „globalen Dorfs" verbunden wird. Statt auf eine einheitliche Weltgemeinschaft weist sie hin auf die zunehmend deterritorialisierte Inklusion in persönliche Netzwerke, die aber sehr wohl die Grundlage abgibt für einen diffusen Zusammenhalt jenseits territorialer Grenzen und funktionaler Differenzen. Diese über Netzwerke hergestellte Kohäsion bleibt allerdings weitgehend latent und wird nur unter bestimmten Bedingungen zum manifesten Inhalt von Kommunikation.
1. Kleine Welt(en): Netzwerke und das world-Phänomen
small
Dass die Welt irgendwie kleiner ist, als es die schiere Unübersichtlichkeit weltweiter Kontaktmöglichkeiten nahe legt, ist keine Neuigkeit. Wem ist es noch nicht passiert, dass er zusammen mit einer Zufallsbekanntschaft einen gemeinsamen Bekannten, Freund oder Kollegen entdeckt hat? Die daran anschließende Hypothese der six degrees of Separation besagt, dass sich zwischen zwei beliebigen Menschen auf der Erde eine- Verbindung über persönliche Bekanntschaften konstruieren lässt, die im Durchschnitt nicht länger als sechs Zwischenschritte ist. 1 In den 1960er Jahren versuchte der Sozialpsychologe Milgram, diese Hypothese empirisch zu überprüfen. Durch ein Experiment sollte die Länge der Kontaktwege von mehreren Gruppen zufällig ausgewählter Amerikaner zu einem festgelegten Endpunkt ermittelt werden (Milgram 1967, TraDer im englischsprachigen Raum geläufige Ausdruck „six degrees of Separation" für die small worW-Hypothese wurde mit dem gleichnamigen Broadway-Stück populär (Guare 1 9 9 0 ) . 1
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vers/Milgram 1 9 6 9 ) . 2 Einwohner des Mittleren Westens wurden aufgefordert, einen Brief auf den Weg zu einem Broker in Boston zu bringen, ihn dazu aber lediglich an jemanden weiterzuleiten, der ihnen selbst persönlich bekannt war und von dem sie vermuteten, dass er „näher" am Gesuchten sei als sie selbst. Dieser nächste Bekannte wurde wiederum darum gebeten, analog vorzugehen, usw. Es stellte sich heraus, dass die Länge der „Wegstrecke" tatsächlich im Durchschnitt bei weniger als sechs Stationen lag - die small world-These schien also bestätigt. 3 War dies überhaupt ein überraschendes Ergebnis? Schließlich erreicht man über eine Kette von sechs Zwischenschritten sehr viele Personen: Mit durchschnittlich hundert Bekannten pro Person käme man bereits im zweiten Schritt auf zehntausend Bekannte von Bekannten; spätestens nach fünf Stationen hätte man einen Kontaktpool, der größer wäre als die Erdbevölkerung. 4 Diese simple Rechnung übersieht aber eine wesentliche Eigenschaft sozialer Netzwerke: die durch überlappende Bekanntenkreise (clustering) entstehende Redundanz (Watts 2 0 0 3 : 39f.). Da sich viele der friends of friends gegenseitig kennen, ist es praktisch unmöglich, in jedem Schritt hundert neue Kontakte zu erreichen. Es ist also in sozialen Netzwerken keineswegs zu erwarten, dass man bereits in wenigen Schritten jeden Knoten erreichen kann. Das Milgram-Experiment illustriert somit eher ein „Paradox sozialer Netzwerke" (Watts Woher Milgram seine Inspiration bezog, ist unklar. Nach Auskunft Barabásis ( 2 0 0 2 : 2.5ff.) ist die erste schriftliche Quelle eine 1 9 2 9 veröffentlichte Kurzgeschichte des ungarischen Schriftstellers Frigyes Karinthy; zu dieser Zeit war der Begründer der modernen Graphentheorie, der Ungar Paul Erdös, siebzehn Jahre alt und lebte in Budapest. Milgram selbst war, wie es der Zufall will, Sohn eines ungarischen Vaters und einer rumänischen Mutter. Vielleicht, so Barabási, kannten sie oder andere Verwandte das Werk Karinthys und erwähnten es am Mittagstisch? 2
3 Die von den schließlich angekommenen Briefen zurückgelegte Strecke schwankte zwischen zwei und zehn Stationen; der Median lag bei einer Länge von fünf. Diese Zahl unterschätzt die „tatsächliche" Länge, da in ihr keine abgebrochenen Ketten enthalten sind, die oft allein aufgrund ihrer zunehmenden Länge irgendwann versandeten. Auf der anderen Seite sind die meisten Ketten ohnehin suboptimal, da die Erstabsender in derartigen Experimenten selten die „beste" Wahl für die nächste Kontaktstelle treffen. Kleinfeld ( 2 0 0 2 ) äußert allerdings Vorbehalte gegenüber Milgrams Datenauswertung.
Die tatsächliche Anzahl direkter Bekanntschaften ist schwierig zu bestimmen; experimentelle Ergebnisse und Schätzungen ergeben Durchschnitte zwischen 5 0 0 und 4
6 0 0 0 (de Sola Pool/Kochen 1 9 7 8 , Bernard et al. 1 9 8 9 , Freeman/Thompson 1 9 8 9 ) .
2 0 0 3 : 41): Obwohl sie lokal hoch verdichtet und redundant sind, ist jeder Kontakt in wenigen Schritten erreichbar. Seit Milgrams Experiment gehört die small worldThese zum Standardrepertoire der Netzwerkanalyse (Kochen 1989, White 1 9 9 2 : 70ff.). Es wurden aber lange Zeit keine größeren Versuche unternommen, die Versuchsanordnung wesentlich auszuweiten. 5 Erst im Sog des verstärkten interdisziplinären Interesses an Netzwerken wurde das Problem reaktiviert, vor allem durch Physiker und Mathematiker, die in den unterschiedlichsten Kontexten darauf gestoßen waren, dass bestimmte Netzwerke trotz einer großen Zahl von Elementen eine überraschend geringe Distanz zwischen einzelnen Knoten aufweisen. Einer Erklärung dieser Tatsache kam man näher durch die graphentheoretische Beschreibung von small worW-Netzwerken (Watts/ Strogatz 1998). Das Watts-Strogatz-Modell beruht auf der Unterscheidung von regulären und zufälligen Graphen. Im regulären Graphen sind die Knoten nach dem Vorbild einer Gitterstruktur (lattice) nach einem klaren Ordnungsprinzip miteinander verbunden: Zum Beispiel kann jeder Knoten genau vier „Nachbarn" haben, von denen wiederum zwei direkt miteinander verknüpft sind; da die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Knoten direkt miteinander verbunden sind, dadurch mit der geteilten Nachbarschaft zu einem dritten Knoten zusammenhängt, gibt es im regulären Graphen eine Art lokale Struktur: Die eigenen Bekannten kennen sich auch untereinander. Im Gegensatz dazu sind die Knoten eines zufälligen Graphen ohne jede Systematik miteinander verbunden. 6 Bildet man einen regulären Graphen (mit periodischen Grenzbedingungen) und einen Zufallsgraphen kreisförmig ab, so ergeben sich
Das anhaltende Interesse schlug sich eher in kleinformatigen Anwendungen nieder, z. B. in Studien zu Kommunikations- und Freundschaftsnetzwerken in Organisationen (Lundberg 1 9 7 5 ) oder Wohnanlagen (Bochner et al. 1 9 7 6 a , Bochner et al. 1 9 7 6 b ) sowie Modifikation des experimentellen Settings (Guiot 1 9 7 6 ) . Eine interessante Studie verwendet eine Modifikation des Milgram-Experiments, um die These im Rahmen der Lehre an Universitäten zu überprüfen (Stevenson et al. 1 9 9 7 ) . Eine andere 5
Variante, das reverse small world experiment, arbeitet mit fiktiven Adressen, um Kriterien sozialräumlicher Verortung experimentell zu bestimmen (Killworth et al. 1984). Obwohl die von Erdös und Renyi entwickelte Theorie zufälliger Graphen sich anerkanntermaßen nicht besonders gut zur Repräsentation empirischer Netzwerke eignet, blieb sie lange Zeit der zentrale Bezugspunkt, da es nur über diese Klasse von Graphen beweisbare Theoreme gab; vgl. Bollobäs 1 9 8 5 . 6
Boris Holzer: Vom globalen Dorf zur kleinen Welt: Netzwerke und Konnektivität in der Weltgesellschaft Abb. 1 Regulärer Graph, Smallworld-Graph und Zufallsgraph
Regular
Small-world
317
Random
Quelle: Watts (1999a: 68)
p =0
die Darstellungen in der linken und rechten Hälfte von Abbildung 1. Im regulären Graphen sind Kanten systematisch den direkten und indirekten „Nachbarn" auf der Kreisgeometrie zugeordnet, im Zufallsgraphen herrscht dagegen Entropie. Das hat die Konsequenz, dass es im ersten Fall sehr lange dauern kann, von einem Knoten zu einem beliebigen anderen zu gelangen. Sähen Bekanntschaftsnetzwerke so aus, wäre das Milgram-Experiment schwer zu erklären. Dessen Ergebnisse wären zwar mit dem Modell eines Zufallsgraphen vereinbar, da in diesem die durchschnittliche Distanz zwischen zwei Knoten vergleichsweise gering ist; es ist aber nicht möglich, empirische soziale Netzwerke mit den Eigenschaften zufälliger Graphen zu vereinbaren. Die Klasse der small world-Graphen liegt deshalb zwischen diesen beiden Extremen: Sie sind leicht modifizierte reguläre Graphen, in denen lediglich einige „Brücken" zwischen entfernt liegenden Punkten existieren. Sie weisen eine Struktur auf, in der Verbindungen überwiegend nach dem Muster eines regulären Graphen angeordnet sind und bilden damit die oft beobachtete lokale Verdichtung sozialer Netzwerke ab; einige Verbindungen sind jedoch „neu verdrahtet" und bilden nun Abkürzungen (shortcuts) zu zuvor weit entfernt liegenden Regionen. 7 Es lässt sich mit diesem Modell zeigen, dass mit nur einigen shortcuts die durchschnittliche Pfaddistanz eines small world-Graphen wesentlich unter der eines regulären Graphen mit ansonsten
7 Ein Wort zum Begriff der „Entfernung", der hier relational verstanden wird. Das heißt: Die „Distanz" zwischen zwei Punkten bezieht sich nicht auf eine externe Metrik (z. B. räumliche Entfernung), sondern ausschließlich auf die Netzwerkpfade. „Entfernt" ist ein Punkt A von einem anderen Punkt B insofern, als Zwischenschritte über die Punkte C, D, ..., N nötig sind. Im diskutierten Beispiel stellt der reguläre Graph allerdings eine Art „Substrat" zur Distanzmessung dar; siehe hierzu Watts 1 9 9 9 a : 2 1 f.
Increasing randomness
p =1
gleichen Parametern liegt. Bereits wenige Querverbindungen genügen, um aus einem regulären Graphen ein Netzwerk mit small tfor/J-Eigenschaften zu machen, das heißt: ein großes, nicht besonders dicht geknüpftes Netzwerk, das dennoch relativ kurze Pfade zwischen beliebigen Knoten aufweist. Diese niedrige durchschnittliche Pfaddistanz ist kompatibel mit einer hohen lokalen „Verdichtung" (clustering): Die Regionen des Netzwerks sind nicht gleichmäßig verknüpft, sondern zeigen typische Muster; z.B. ist eine Verbindung zwischen zwei Knoten dann wahrscheinlicher, wenn sie bereits einen anderen Kontakt gemeinsam haben. Ein Zufallsgraph hat praktisch keine lokalen Cluster und daher einen sehr niedrigen Verdichtungskoeffizienten, ein regulärer Graph dagegen einen relativ hohen, da die direkt erreichbaren Knoten beinahe dieselben Nachbarn haben. Das Watts-StrogatzModell steht zwischen diesen Extremen, und ist sicherlich das realistischere Modell für soziale Netzwerke. Die durchschnittliche Pfaddistanz ist aufgrund einiger shortcuts gering, ohne dass deshalb das Merkmal lokaler Verdichtung berührt würde (Watts/Strogatz 1998: 440f., Watts 1999b: 508). Wenige Querverbindungen genügen, um die globale Konnektivität drastisch zu erhöhen. Dies erklärt den bekannten Überraschungseffekt, an dem sich das Interesse an der kleinen Welt entzündet hatte: Verdichtungen sind eine lokale Eigenschaft, die als Kontaktierbarkeit von „Nachbarn" auch als solche von jedem Punkt des Netzwerks erfasst werden kann. Die durchschnittliche Pfaddistanz jedoch ist eine globale Eigenschaft eines Graphen, die sich nicht unbedingt in den lokalen Strukturen eines Graphen widerspiegelt. Das Watts-Strogatz-Modell löst das „Paradox" gleichzeitiger lokaler Verdichtung und globaler Konnektivität in eine Struktureigenschaft bestimmter Netzwerke auf: Die shortcuts etablieren hohe Konnektivität in der Globalstruktur, bleiben aber für die lokale Struktur weitgehend folgenlos.
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Das Modell geht von regulären Graphen mit uniformer Verteilung der Kantenzahl einzelner Knoten (ihrem so genannten Degree) aus. Indem Verbindungen lediglich neu „verdrahtet" werden, ergeben sich Graphen, in denen alle Knoten eine ähnliche Zahl von Kanten aufweisen. Die Degree-Verteilung ist also in gewissem Maße „egalitär" bzw. in der zunehmenden Annäherung an einen Zufallsgraphen letztlich poissonverteilt (Abb. 2). Eine derartige „Normalverteilung" 8 der Kontakte impliziert, dass es einen charakteristischen Mittelwert gibt und dass jeder Knoten nur mit einem Bruchteil des gesamten Netzwerks verknüpft ist. Die Annahme, dass sich soziale Netzwerke - und insbesondere Bekanntschaftsnetzwerke - so charakterisieren lassen, ist nicht unplausibel. Löst man sich von ihr, gewinnt man jedoch die Möglichkeit, nach anderen, eventuell funktional äquivalenten Netzwerkstrukturen zu suchen. In der Tat lässt sich zumindest ein Mechanismus der Netzwerkbildung angeben, der zu keiner Normalverteilung der Degrees führt und gerade deshalb ebenfalls die Merkmale einer „kleinen Welt" produzieren kann: das „verzerrte" Wachstum so genannter scalefree networks (Barabasi/Albert 1999). 9 Solche skalenfreie Netzwerke entstehen durch einen preferential attachment-Prozess: Neue Verbindungen werden nicht zufällig zugewiesen, sondern abhängig vom Degree bestehender Knoten. Je mehr Kanten ein Knoten bereits hat, desto wahrscheinlicher ist es, dass neue Knoten mit ihm verknüpft werden. Einzelne Knoten können so einen Großteil aller Kanten „monopolisieren", und die Degree-Verteilung nähert sich daher nicht einer bell curve an, sondern folgt einem Potenzgesetz (power law). Im Gegensatz zur Normalverteilung, in der ein charakteristischer Mittelwert existiert, ist es in skalenfreien Netzwerken also nicht unwahrscheinlich, dass die meisten Knoten keine oder nur sehr wenige Kanten haben, einige hubs aber eine immense Zahl von Verbindungen (Abb. 3). Ein einschlägiges Beispiel ist die Hyperlink-Struktur des WWW, in dem auf persönliche Homepages allenfalls eine Hand voll Seiten von Freunden verweisen, auf Google, Yahoo 8 Die Unterschiede zwischen der G a u ß s c h e n N o r m a l - und der Poisson-Verteilung sind für unsere Diskussion nicht von Belang. D a h e r verwende ich die Begriffe äquivalent, auch w e n n das nicht ganz richtig ist. 9 Für die Anregung, in diesem Z u s a m m e n h a n g die Diskussion über skalenfreie Netzwerke einzubeziehen, d a n k e ich einem a n o n y m e n Gutachter der ZfS - auch w e n n ich der Einschätzung, dieses Konzept mache das Watts-StrogatzModell überflüssig, a u f g r u n d der im Text dargelegten Argumente nicht folgen möchte.
ii Anz. Knoten mit k Kanten
Anz. Kanten k Abb. 2 werk
Normalverteilung der Degrees in einem Netz-
oder andere prominente Seiten aber Millionen von Hyperlinks. Die Analogie zu bestimmten sozialen Prozessen, die nach dem Matthäus-Prinzip (vgl. Merton 1968) funktionieren, liegt auf der Hand. Aber auf Bekanntschaftsnetzwerke (und wohl interpersonale Netzwerke generell) ist dieses Modell nicht direkt anwendbar. Im Gegensatz zu Netzwerken, die keinen physikalischen, technologischen oder kognitiven Schranken unterliegen (wie z.B. reine Massenmedien-„Prominenz" ohne Interaktionsmöglichkeit) können interpersonale Netzwerke nicht beliebig wachsen. Es macht wenig Sinn anzunehmen, dass die meisten Personen nur ein bis zwei persönliche Bekannte haben, einige wenige dafür aber Millionen. Dies wäre aber notwendig, um von einem skalenfreien Netzwerk sprechen zu können. Nur dann wäre zu erwarten, dass es mehr Personen gibt, die keine Kontakte haben, als Personen, die einen Kontakt haben, die wiederum häufiger sind als Personen mit zwei Kontakten etc. Demgegenüber ist die Annahme einer „verzerrten" Normalverteilung mit Ausreißern in beide Richtungen (d.h. kontaktarmen und -reichen Personen) nicht nur anspruchsloser, sondern stimmt auch besser überein mit verfügbaren Daten über persönliche Kontaktnetzwerke. 10 Auch wenn deshalb nicht alle Netzwerke mit small worldEigenschaften im engeren Sinne skalenfrei sind, ist eine gewisse Verzerrung der Normalverteilung, also die Existenz einiger gut vernetzter hubs, weit verbreitet. Viele Netzwerke liegen deshalb zwischen den extremen Polen der gleichsam „demokratischen" Degree-Verteilung im Watts-Strogatz-Modell und den
10 Das zeigen beispielsweise die Vergleiche unterschiedlicher N e t z w e r k e in Amaral et al. (2000) und Strogatz (2003), die insbesondere im Hinblick auf Bekanntschaftsnetzwerke zu einem anderen Ergebnis k o m m e n als Barabasi (2002: 55f.).
Boris Holzer: V o m globalen Dorf zur kleinen Welt: Netzwerke und Konnektivität in der Weltgesellschaft
schen N e t z w e r k f o r s c h u n g bezogen sich auf N e t z w e r k e reziproker und reflexiver B e k a n n t s c h a f t , also auf wechselseitige Beziehungen und auf Beziehungen, die sich erst über die B e k a n n t e n von B e k a n n t e n erschließen. Im Folgenden m ö c h t e ich an diese Fragestellung a n k n ü p f e n und näher ausloten, w e l c h e Folgerungen sich für die Analyse persönlicher K o n t a k t n e t z w e r k e in der Weltgesellschaft ergeben.
Anz. Knoten mit k Kanten
Anz. Kanten k Abb. 3
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Degree-Verteilung in einem „scale-free network"
„aristokratischen" scale-free Netzwerken (Barabäsi/ Bonabeau 2 0 0 3 , Urry 2 0 0 4 b ) . 1 1 Die breite A n w e n d b a r k e i t der beiden M o d e l l e a u f soziale, biologische, t e c h n o l o g i s c h e und I n f o r m a t i o n s n e t z w e r k e (vgl. N e w m a n 2 0 0 3 ) legt die Vermutung n a h e , es handele sich um universale Struktureigenschaften selbstorganisierter Netzwerke. D o c h die Ä h n l i c h k e i t e n über unterschiedliche Bereiche hinweg sollten nicht d a r ü b e r hinwegtäuschen, dass mitunter sehr verschiedene M e c h a n i s men der N e t z w e r k b i l d u n g zugrunde liegen. Dies wird bereits deutlich, wenn m a n sich a u f soziale N e t z w e r k e k o n z e n t r i e r t . Es m a c h t dann einen großen Unterschied, o b m a n N e t z w e r k e reziproker persönlicher Beziehungen (also K o n t a k t - oder Bek a n n t s c h a f t s n e t z w e r k e im engeren Sinne) b e t r a c h tet oder episodische K o n t a k t e in Berufsrollen, wie z . B . K o a u t o r s c h a f t e n und Z i t a t i o n s n e t z w e r k e in Fachzeitschriften - o d e r das N e t z w e r k derjenigen H o l l y w o o d - S c h a u s p i e l e r , die z u s a m m e n in einem Film m i t g e w i r k t h a b e n . 1 2 M i l g r a m s E x p e r i m e n t und das anschließende Interesse der soziologi" Für einen Versuch, die Eigenschaften des Watts-Strogatz-Modells und des scale-free-Modells zu kombinieren, siehe Barabäsi 2003. 12 Vgl. Newman (2001) zu Kollaborationsnetzwerken und Price (1965) zu Zitationsnetzwerken. Das aus der Internet Movie Database (IMDB) gewonnene Schauspielernetzwerk wurde durch das Oracle of Bacon populär gemacht, das die Pfaddistanz beliebiger Schauspieler zum Hollywood-Schauspieler Kevin Bacon berechnet (siehe http:// oracleofbacon.org). Bei solchen Affiliationsnetzwerken, die auf gemeinsamer Mitgliedschaft, Mitwirkung o.ä. basieren, ist allerdings fraglich, in welchem Sinne sie überhaupt „soziale Netzwerke" sind. Wenn zwei Schauspieler in ein und derselben Großproduktion mitgespielt zu haben, muss das beispielsweise nicht heißen, dass zwischen ihnen Kommunikation stattgefunden hat. Ähnliches gilt für Organisationsnetzwerke, die aus so genannten interlocking directorates gefolgert werden; siehe hierzu grund-
2. Kontaktnetzwerke in der Weltgesellschaft Die suggestive Formel der „kleinen W e l t " bezog sich ursprünglich nicht explizit auf Netzwerke in der Weltgesellschaft. D a b e i ist das srnall world-Phänomen gerade in dieser Hinsicht interessant. Schließlich lässt sich k a u m ein größeres soziales Netzwerk vorstellen als das globale Bekanntschaftsnetzwerk. U m es zu untersuchen, entwickelten Watts und seine Mitarbeiter eine Variante von M i l g r a m s Experiment: Diesmal ersetzten Emails die Briefe, die Zielpersonen befanden sich in 1 3 unterschiedlichen Ländern, und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden über eine Website rekrut i e r t . 1 3 M i l g r a m s Ergebnisse konnten - nunmehr auf internationaler Basis - weit gehend bestätigt werden. Die Email-Nachrichten der Teilnehmer des Experiments fanden tatsächlich zügig ihren Weg zu den unterschiedlichsten Zielpersonen: zum amerikanischen Professor ebenso wie zum Polizeimann in Australien. D o c h von den insgesamt über 2 4 0 0 0 Kettenbriefen erreichten nur 3 8 4 ihren Bestimmungsort. Der Rest versandete im N i r w a n a ungezählter elektronischer Briefkästen. Es scheint, als sei der Segen der modernen K o m m u n i k a t i o n s t e c h nologie für das small worW-Experiment zum Fluch geworden. Unsensibel gegenüber den Bedürfnissen soziologischer Forschung haben viele potentielle Teilnehmer die Email aus dem L a b o r sogleich dem elektronischen Papierkorb überantwortet. Im für die abgebrochenen Ketten berichtigten Durchschnitt waren etwa sieben Zwischenstationen bis zur Zielperson nötig, wobei es nur einen geringen Unterschied machte, o b diese im eigenen oder in einem anderen Land zu finden w a r (Dodds et al. 2003). Die small tforW-Forschung kann somit zwar das M e r k m a l globaler Konnektivität auf der Basis von Bekanntschaft theoretisch wie empirisch plausibel legend Windeler 2001 und als Anwendung des world-Theorems Kogut/Walker 2001. " Siehe http://smallworld.columbia.edu
small
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machen; den Zusammenhang mit einer Theorie globaler Vergesellschaftung hat sie allerdings bisher nicht ausgeführt. Dies läge insofern nahe, als die nahezu grenzenlose Erreichbarkeit von Kontakten ein wichtiges Kriterium globaler Sozialität ist. „Konnektivität" gehört - neben der planetaren Begrenztheit der Erde - nicht nur nach der Einschätzung von Therborn (2003: 295) zum zeitgenössischen Verständnis von „Globalität". Begreift man Gesellschaft darüber hinaus als „Gesamtheit der Berücksichtigung möglicher Kontakte" (Luhmann 1984a: 33), dann müsste eine (Netzwerk-)Theorie über die Struktur dieser Kontakte auch gesellschaftstheoretisch instruktiv sein. Im Folgenden möchte ich dementsprechend der Frage nachgehen, inwiefern Netzwerke mit small world-Eigenschaften als ein spezifisches Strukturmuster der modernen Weltgesellschaft verstanden werden können. Dazu ist es nötig, dem Zustandekommen solcher Netzwerke stärkere theoretische Aufmerksamkeit zu widmen, als dies die Netzwerkforscher selbst in aller Regel tun. Diese verstehen unter Struktur meist das konkrete Selektionsmuster sozialer Beziehungen, anstatt dieses selbst als Produkt sozialer Strukturen zu konzipieren. Netzwerke werden dementsprechend immer noch häufig definiert als „actually existing relationships" (Radcliffe-Brown 1940: 4). Damit wird der Anspruch, in der Tradition eines „strukturalistischen" Forschungsprogramms zu stehen (Wellman 1988), aber nur bedingt eingelöst. 14 Dies muss nicht weiter irritieren, wenn das Ziel der Analyse der Vergleich von Netzwerken oder die Korrelation von Netzwerk-Formen mit anderen Daten ist. Im Fall der vor allem modellorientierten small world-Forschung wird dadurch aber die wichtige Frage verdeckt, welche gesellschaftlichen Strukturen das Auftauchen von small worW-Netzwerken - in „egalitärer" wie „aristokratischer" Form - überhaupt wahrscheinlich machen.
Es ist allerdings fraglich, ob eher ad hoc eingeführte protosoziologische Konzepte wie „Gruppenstruktur" (ebd.: 114ff.) weiterhelfen. Netzwerke entstehen nicht in einem sozialen Vakuum, sondern sind selbst bereits vorstrukturiert durch gesellschaftliche Vorgaben dafür, welche Kommunikationen und welche Adressen überhaupt relevant werden können. Im Folgenden möchte ich deshalb der Frage nachgehen, welche Bedingungen es wahrscheinlich machen, dass small world-Netzwerke entstehen und auch kommunikativ in Anspruch genommen werden. Zwei Aspekte sollen dabei unterschieden werden: Erstens die zunehmende Befreiung persönlich-selektiver Kontaktnetzwerke von gesellschaftlichen und technologischen Kommunikationsbarrieren; zweitens die Bedingungen, unter denen solche Netzwerke tatsächlich zu einer relevanten Infrastruktur der Kontaktsuche und Erreichbarkeit werden.
2.1 Universalisierung und Deterritorialisierung persönlicher Beziehungen
Die „neue soziale Physik" (Urry 2004b) der Netzwerkforschung kämpft daher mit bekannten Problemen: Ihr gelingt es nur sehr bedingt, den Anforderungen mathematischer Präzision und soziologischer Tiefenschärfe gleichzeitig gerecht zu werden. Selbst unter den Beteiligten setzt sich die Einsicht durch, dass „mathematical and computational muscle" wohl doch nicht ausreichen, um eine Theorie sozialer Netzwerke voranzutreiben (Watts 2003: 113).
Die grundlegende, keineswegs triviale Vorbedingung ist, dass die möglichen Kontakte für Kommunikation gesellschaftlich weitgehend freigegeben sind. Die moderne Weltgesellschaft ist - im Gegensatz zu früheren Gesellschaften - gekennzeichnet durch universelle Adressabilität: die Vorgabe, dass jede(r) prinzipiell Adressat (und Quelle) von Kommunikation werden kann (vgl. Fuchs 1997). In dieser Hinsicht ist die moderne Gesellschaft eine Singularität, da sie grundsätzlich allen Menschen kommunikative Anschlussfähigkeit zuerkennt. Die Griechen konnten die Äußerungen der Barbaren noch als unverständliches „Gestammel" werten; viele archaische Gesellschaften sprachen Stammesfremden allenfalls Kampfestauglichkeit oder Essbarkeit zu, nicht aber Kommunikationsfähigkeit (Stichweh 1994). 15 In der modernen Gesellschaft hingegen ist bei Verständigungsschwierigkeiten zunächst einmal das Fremdsprachenlexikon zu konsultieren. Statt mit prinzipiellem Unverständnis reagieren wir mit Übersetzungsbemühungen auf die „fremde" Kultur. Es kommen also alle Menschen als mögliche Partner einer sozialen Beziehung, als Adresse für und Quelle von Kommunikation in Frage. Eine Einteilung der sozialen Welt in solche Menschen, die wir verstehen, und jene, die wir nicht nur
14 Dies trifft auf weite Teile der soziologischen Netzwerkanalyse zu, auch w e n n sich d o r t mittlerweile eine intensivere theoretische Diskussion entwickelt hat (vgl. White 1992, Emirbayer 1997, Emirbayer/Goodwin 1997).
15 D a f ü r w a r e n sie auf der Seite nichtmenschlicher Adressen mitunter sehr viel großzügiger, was d a n n durch entsprechende Stabilisierungsroutinen kompensiert werden musste (Fuchs 1996).
Boris Holzer: Vom globalen Dorf zur kleinen Welt: Netzwerke und Konnektivität in der Weltgesellschaft
akzidentell, sondern prinzipiell nicht verstehen, ist nicht vorgesehen. Daran ändert selbstverständlich die Aufteilung der Welt in Nationen nichts. Ganz im Gegenteil. Es gehört zum Bedeutungsgehalt der Nation, dass sie begrenzt ist, und das heißt: abgegrenzt gegenüber anderen. Bei allem nationalstaatlichen Chauvinismus stellt sich keine Nation vor, dass sie selbst deckungsgleich mit der Menschheit sei (Anderson 1991: 7). Die Aufmerksamkeit für die „Probleme" interkultureller Kommunikation zeigt vielmehr, dass diese für lösbar und lösenswert gehalten werden. Es mag zeitliche und andere Beschränkungen dafür geben, mit wem eine soziale Beziehung möglich ist. Diese sind aber keine spezifisch gesellschaftlichen Beschränkungen der möglichen Reichweite sozialer Beziehungen. Erst vor diesem Hintergrund kann der Wegfall technologischer Beschränkungen für grenzüberschreitende Kommunikationen richtig begriffen werden. Man muss hier nicht sogleich an Mobiltelefon und Internet denken. Schriftlichkeit der Kommunikation, etwa in Form des zunächst regionalen, später globalen Briefverkehrs, ist die primäre Grundlage für raumunabhängige soziale Kontakte - auch wenn dadurch der Kreis potentieller Kommunikationspartner auf die Schriftkundigen beschränkt wird. Gleiches gilt für die moderne Telekommunikation, die räumliche Beschränkungen dahingehend noch weiter auflöst, dass sie auch Kommunikation in Echtzeit ermöglicht. 16 Kontakte über den Kreis regelmäßig persönlich angetroffener Personen hinaus können nur aufrechterhalten werden, wenn verlässliche Möglichkeiten der Kommunikation unter Verzicht auf Anwesenheit vorhanden sind. Die Trennung der Kommunikation von physischer Kopräsenz, die Lübbe (1996) als zentrales Merkmal der modernen Kommunikationsinfrastruktur hervorgehoben hat, macht Netzwerke möglich - und erforderlich. Sie wären schwer vorstellbar und wahrscheinlich auch unnötig ohne die Möglichkeit, verlässlich und kostengünstig unter Absehung von räumlichen Distanzen oder Grenzen zu kommunizieren. In Fällen, in denen diese Voraussetzungen fehlen, dominieren die durch Nachbarschaft her16 Wenn ich hier und im Folgenden die Deterritorialisierung herausstelle, heißt dies natürlich nicht, alle sozialen Kontakte seien raumunabhängig. Wichtig ist nur, dass Raumunabhängigkeit zu einer Option wird vor dem Hintergrund einer nach wie vor nicht abzustreitenden Relevanz des Raums: "the idea of a shared experience of a place as the foundation of the link, [is] probably one of the most deep-rooted assumptions of our representations of sociability" (Licoppe 2004: 139).
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gestellten, gleichsam „natürlichen" Verbindungen. Wer sich ohnehin jeden Tag auf der Straße oder im Wirtshaus trifft, der benötigt auch keine „Netzwerke". Die Entlastung von Kopräsenz ist eine entscheidende Vorbedingung für die Differenzierung sozialer Beziehungsformen nach Intimität, Frequenz und Intensität. Solange alle gesellschaftliche Kommunikation in Interaktionen erfolgen muss, begrenzen die damit verbundenen Aufmerksamkeits- und Mobilisierungserfordernisse nicht nur die Zahl, sondern auch die Variationsbreite möglicher Kontakte. Das betrifft insbesondere die Unterscheidung von starken und schwachen Bindungen, die in der Netzwerkforschung zur Erklärung der shortcuts in Anspruch genommen wird (Watts 1999a: 14, Barabäsi 2002: 41ff.). Nach Granovetter (1973) beruht die Brückenfunktion schwacher Bindungen zwischen sozialen Kreisen gerade darauf, dass sie A mit B und C verbinden können, ohne dass daraus notwendigerweise eine direkte Verbindung zwischen B und C folgt. Strong ties sind dagegen „transitiv", d. h. eine Verbindung zwischen A und B und A und C impliziert auch eine Verbindung zwischen B und C - und zwar deshalb, weil die Kriterien für eine starke Bindung (Kontakthäufigkeit, Multiplexität etc.) es extrem unwahrscheinlich machen, dass A sie mit B und C erfüllen kann, ohne dass zugleich ein Kontakt zwischen den beiden gestiftet wird. Wenn aber nur Interaktion zur Verfügung steht, ist das Entstehen dichter Beziehungsnetzwerke unvermeidlich: Sobald A, B und C in Situationen gemeinsamer Kopräsenz verwickelt werden, lässt sich nur schwer verhindern, dass Beziehungen zwischen allen drei in Zukunft erwartet und genutzt werden können. 1 7 Persönliche Beziehungen sind, insofern sie dyadische Interaktion implizieren, in der Regel „multiplex", d . h . nicht auf eine spezifische Beziehungsart festgelegt. Um Aufmerksamkeit für globale ties freizusetzen, müssen die diffusen und schwer abzuweisenden Kommunikationserwartungen der Interaktionsordnung zeitweise außer Kraft gesetzt werden können. Diese Phänomen wird von Giddens als „disembedding" (Giddens 1990: 21ff.), von Luhmann als Differenzierung zwischen Interaktion und Gesellschaft diskutiert (Luhmann 1984b, 1987). 18 Das small world-Theorem ist auf 17
Ein entsprechendes Modell der Evolution von small iforM-Netzwerken auf der Basis transitiver Bekanntschaftsbeziehungen entwickeln Davidsen et al. (2002). 18 Jeder wissenschaftliche Text ist insofern ein Beleg für Dekontextualisierung, als er seine Problemstellung aus
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die dadurch m ö g l i c h e „ D e k o n t e x t u a l i s i e r u n g " sozialer Beziehungen angewiesen (Stichweh 2 0 0 0 : 1 7 f . , 2 5 8 f . ) . D a m i t ist g e m e i n t , dass das „Und-sow e i t e r " der g l o b a l e r r e i c h b a r e n K o n t a k t e nur dann relevant werden k a n n , w e n n die K o m m u n i k a t i o n zumindest teilweise von lokalen R e l e v a n zen entlastet wird. D u r c h die D e k o n t e x t u a l i s i e rung sozialer Beziehungen wird es m ö g l i c h , ties über lokale K o n t e x t e hinweg zu stabilisieren. Erst wenn die T r e n n u n g verschiedener I n t e r a k t i o n s und N i c h t - I n t e r a k t i o n s k o n t e x t e institutionalisiert ist, k a n n es dann auch n o r m a l werden, persönliche Beziehungen mit für andere U n b e k a n n t e n zu unterhalten. D i e persönlichen Kontaktnetzwerke sind deshalb i m m e r weniger k o n g r u e n t ; es k o m m t g e w i s s e r m a ß e n zu einer Individualisierung persönlicher N e t z w e r k e , in deren Folge es n o r m a l wird, dass K o n t a k t e sich nicht a u f das geographische Nahfeld beschränken.
2.2 Kontaktsuche und Erreichbarkeit
M i t zunehmender sozialer Differenzierung steigt die C h a n c e , dass sich unter den heterogenen Elementen neue Verbindungs- und Gruppierungsmöglichkeiten ergeben (Simmel 1 9 5 8 [ 1 9 0 8 ] : 5 2 7 f f . ) . Dies kann sich z . B . auf die Ausdifferenzierung sozialer Positionen beziehen, die dann untereinander verstärkte Affinitäten pflegen. Die Rolle räumlicher N ä h e für die Kontaktaufnahme sinkt in dem M a ß e , in dem Differenzierung „das Band mit den Nächsten (lockert), um dafür ein neues - reales und ideales zu den Entfernteren zu spinnen" (ebd.: 5 3 0 ) . Dies lässt sich einerseits an den vielfältigen Formen grenzüberschreitender Interessengemeinschaften ablesen, sei es in der Internationale der Arbeiter, der Transnationale der Tierschützer oder der kleinen (Lebens-) Welt der Internet-Chatter. Andererseits tragen natürlich auch die globalen Funktionssysteme wie Wissenschaft, W i r t s c h a f t und Religion dazu bei, dass grenzüberschreitende Kontakte gesucht werden. Innerhalb von Funktionsinteraktionsfernen Quellen bezieht - und dabei die durchaus nahe liegende Anschlussmöglichkeit an die Kommunikationen einer räumlich, zeitlich und sozial „ n a h e n " Adresse ausblenden kann. Genau dadurch wird erst der R a u m für unwahrscheinliche Anschlüsse an andere Kommunikationen (z. B. von mehr oder weniger obskuren Theoretikern) eröffnet. In diesem Sinne auch Luhmann ( 1 9 8 4 a : 5 8 1 ) : „Schrift und Druck ermöglichen es, sich aus Interaktionssystemen zurückzuziehen und trotzdem mit weitreichenden Folgen gesellschaftlich zu kommunizieren."
systemen ist geographische N ä h e kein Indikator für das Entstehen oder Ausbleiben sozialer Beziehungen. Die Spezialisierung innerhalb von Funktionssystemen führt dazu, dass oft geographisch weit entfernte K o n t a k t e gesucht werden müssen, um thematisch naheliegende K o n t a k t e zu finden: „A scholar o f Ugric languages wishing to discuss his latest paper on the structure of conditional clauses c a n n o t go n e x t door: like the lonely whales o f Antarctica searching for a mate, he must seek a suitable partner for his task widely through the seas o f s o c i e t y " (Barth 1 9 7 8 : 1 6 8 ) . M a n kann in dieser Hinsicht von durch Funktionssysteme etablierten „globalen R e l e v a n z r ä u m e n " sprechen, welche die Suche nach ähnlich interessierten oder kompetenten Adressaten motivieren und anleiten (Stichweh 2 0 0 4 b ) . Insofern vorhandene Prominenz die Erfolgswahrscheinlichkeit derartiger Suchprozesse erhöht, dürfte hier ein wesentlicher Ansatzpunkt für die Herausbildung von besonders gut vernetzten hubs liegen. Typisch ist für solche Prozesse, dass die sachlich spezifizierte M o t i v a t i o n der Kontaktsuche nichts darüber aussagt, o b der K o n t a k t selbst funktional spezifisch bleibt oder zu einer diffuseren persönlichen Beziehung wird. Letzteres wird nicht immer der Fall sein. So bleibt der K o n t a k t mit anderen Fachspezialisten, z. B . auf Konferenzen, m a n c h m a l folgenlos. Sofern sich aber eine dauerhafte soziale Beziehung entwickelt - und dafür genügt oft das F a k t u m wiederholten Treffens oder dauerhafter gemeinsamer Interessen - , erwarten die Beteiligten, dass die dadurch etablierte „persönliche" Beziehung von den professionellen Rollen unterschieden werden kann (und z . B . das Interesse an zukünftigen Begegnungen nicht ausschließlich davon abhängt, o b m a n sich für die neuesten Forschungsergebnisse des anderen interessiert). Aus den zuletzt genannten Punkten ergibt sich ein wichtiges Argument dafür, dass sich die k o m m u n i kative Relevanz von Kontaktnetzwerken erst im Zusammenspiel mit anderen Eigenstrukturen der Weltgesellschaft erschließt. O h n e einen weltgesellschaftlichen Bezugsrahmen wäre es unwahrscheinlich, dass die K o m m u n i k a t i o n s w e g e kleiner Welten überhaupt in Anspruch g e n o m m e n würden. N i c h t nur beruht, wie geschildert, die Motivation zur Kontaktsuche häufig auf den Relevanzräumen globaler Funktionssysteme. Auch die Möglichkeit, dass ein weiter entfernter K o n t a k t gefunden wird, hängt nicht allein von der Struktur des K o n t a k t n e t z w e r k s und der Z a h l möglicher shortcuts ab. Dass es kurze Pfade in einem Netzwerk gibt, bedeutet n o c h nicht, dass diese auch von einem beliebigen Punkt aus auf der Basis lokaler Information über benachbarte
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Kontakte - gefunden werden können. Wie Kleinberg (2000) in einem interessanten Aufsatz zur „Navigierbarkeit" kleiner Welten zeigt, ist dies nur unter bestimmten Bedingungen zu erwarten. Wenn shortcuts (wie im Watts-Strogatz-Modell) von einem Knoten zu allen anderen eines Netzwerks gleich wahrscheinlich sind, geben sie zum Beispiel keine Information über die überbrückte Distanz. Nur wenn shortcuts in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zur Distanz zwischen zwei Knoten stehen, enthalten sie „latent navigational ,cues' embedded in the underlying social network" (Kleinberg 1999: 3). Das heißt jedoch, dass das Netzwerk eine Metrik jenseits der Pfaddistanz, also eine zugrunde liegende „geographische Struktur" haben muss. Die bisherigen Experimente ergaben, dass es in der Tat eine solche Metrik von Kontaktnetzwerken gibt, die von den Befragten genutzt wird, um kurze Pfade relativ zielsicher zu finden. Diese beruht auf einer „kognitiven Landkarte" der sozialen Welt, in der insbesondere zwei Kriterien zur Lokalisierung von Zwischenkontakten eine entscheidende Rolle spielen: der geographische Ort und der Beruf (Watts et al. 2002). 1 9 Es ist keine große Überraschung, dass neben zwei anscheinend global bekannten Parametern sozialer Verortung (Organisationsmitgliedschaft und Leistungsrollen in Funktionssystemen) auch eine gewisse Vorstellung von der geographischen Aufteilung des Erdballs zum nötigen Grundwissen gehört, mit dem sich Kontaktnetzwerke erschließen lassen. Dass diese Information genutzt werden kann, sagt allerdings etwas aus über die Struktur der ego-zentrierten, persönlichen Netzwerke der Befragten. Diese organisieren offenbar ausreichende soziale Diversität - d. h. sie setzen sich aus Bekannten unterschiedlicher „Entfernung" zusammen - , um die benötigten Informationen über globale Netzwerkstrukturen lokal verfügbar zu machen. In manchen Netzwerken gibt es keine Alternative zu dieser voraussetzungsvollen Form der Suche nach Kontakten (z.B. in Peer-to-peer-Netzwerken im Internet). Aber trifft dies in jedem Fall auf Kontaktnetzwerke zu? Unter welchen Umständen wird man überhaupt in die Verlegenheit kommen, einen Brief an einen amerikanischen Professor über fünf Zwischenstationen zu leiten - statt im Telefonbuch oder Internet die Adresse ausfindig zu machen? In vielen Fällen ermöglichen gedruckte und elektronische Adressverzeichnisse eine direktere und effizientere Adressierung (vgl. Stichweh 2000: Kap. 12). Aus diesem Blickwinkel erscheint die small 19 So das Ergebnis der älteren „reverse small world"-Studien (Killworth et al. 1984, Bernard et al. 1988).
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world-Forschung beinahe als eine Art „Krisenexperiment" (vgl. Garfinkel 1967): Sie demonstriert gewissermaßen, wie Kommunikation ohne die Möglichkeit direkter Adressierung (und ohne moderne Massenmedien) noch möglich wäre. Im Normalfall wäre es allerdings wenig effektiv, wollte man Nachrichten über eine derart angelegte „Flüsterpost" an den Empfänger bringen. Es stellt sich deshalb die Frage, wann Zwischenstationen im Netzwerk überhaupt aktiviert werden, um entfernte Kontakte zu erreichen. Es gibt Fälle, in denen dies wahrscheinlich ist. Zum Beispiel könnte man einen Vermittler in die Kontaktaufnahme mit einer besonders prominenten Adresse einschalten wollen, um so die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass das eigene Anliegen überhaupt gehört wird. Dann ist man mitunter darauf angewiesen, dass man „jemanden kennt, der jemanden kennt" (Luhmann 1995: 251), und erwägt deshalb auch indirekte Wege ans Ziel. Allerdings sind der Suche nach Kontakten Schranken gesetzt. Es ist wenig wahrscheinlich, dass eine aktive Suche nach Kontakten oder Informationen sich weiter erstrecken wird als auf die „friends of friends", also die Kontakte zweiten oder vielleicht noch dritten Grades (vgl. Boissevain 1974). Unter alltagspraktischen Gesichtspunkten dürfte die Navigierbarkeit von sozialen Kontaktnetzwerken über ein bis zwei Kontakte hinaus deshalb nur von begrenztem Interesse sein. Ohnehin sollte man sich vom Forschungsdesign der Studien nicht dazu verleiten lassen, die Relevanz von Netzwerken auf die Perspektive des potentiellen Senders einer Nachricht zu reduzieren. Gerade für die Analyse von Globalisierungsprozessen ist dies vielleicht gar nicht instruktiv. Wichtig ist vielmehr, dass globale Erreichbarkeit es sehr wahrscheinlich macht, dass jeder Kontakt über relativ wenige Zwischenschritte - mitunter unvorhergesehen und ungewollt - zum Empfänger werden kann. Das ist eine wichtige Voraussetzung für Diffusionsprozesse, die ein klassischer Gegenstand der Netzwerkforschung sind (Coleman et al. 1957, Valente 1995). Erreichbarkeit heißt aber auch, dass dabei nicht nur erwünschte Übermittlungen stattfinden. Nicht umsonst besteht eine wichtige Anwendung der Netzwerktheorie darin, die Verbreitung von Infektionskrankheiten (Barabäsi 2002: 123ff, Watts 2003: 162ff.) und, als deren informationstechnologische Pendants, von Computerviren zu erklären (Lloyd/May 2001). Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass gerade solche Phänomene grenzüberschreitender Übertragungsprozesse zum Kern des Globalisierungssyndroms gehören. Es stellt sich deshalb auch in kommunikativer Hinsicht die Frage, ob Erreichbarkeit in globalen Netz-
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werken nicht sehr viel stärker von der Empfängerperspektive zu konzipieren wäre. N i c h t immer werden Netzwerke zur Erklärung von Diffusionsprozessen ausreichen. Sie fungieren mal äquivalent, mal k o m p l e m e n t ä r zu anderen Verbreitungskanälen, wie zum Beispiel Massenmedien; außerdem k ö n n e n sie allein keine Diffusion garantieren, wenn sich keine entsprechend empfangsbereiten Akteure bzw. Prozessoren finden - auch dies verweist auf die Tatsache, dass Netzwerke in der K o m b i n a t i o n mit anderen M e c h a n i s m e n der Weltgesellschaft gesehen werden müssen, die Empfangsbereitschaft überhaupt erst sicherstellen (Strang/Meyer 1 9 9 3 ) . Auf jeden Fall wäre aber die T h e s e zu überprüfen, dass für das gerne beschworene „intensivere Bewusstsein der Welt als G a n z e s " ( R o b e r t s o n 1 9 9 2 : 8) weniger die recht anspruchsvolle eigene Initiative zu einer Aktivierung entfernter K o n t a k t e entscheidend ist als die sehr viel leichter zu bestätigende und deutlich schwerer zu kontrollierende - passive Erreichbarkeit.
3. V o m Dorf z u m Netzwerk Die kleine Welt persönlicher N e t z w e r k e wird offenbar vor allem dann zum Gegenstand expliziter Suchstrategien oder zum manifesten T h e m a von K o m m u n i k a t i o n , wenn außergewöhnliche Ereignisse die Aufmerksamkeit auf den ansonsten recht fernen H o r i z o n t reflexiver K o n t a k t e lenken. In dieser Hinsicht scheinen die strategische Ausbeutung von K o n t a k t e n zweiter und dritter Ordnung bei der Informationssuche, die K o n f r o n t a t i o n mit sich unerwünscht ausbreitenden K o m m u n i k a t i o n e n oder biologischen Gefahren und, nicht zu vergessen, Anfragen von Sozialwissenschaftlern durchaus äquivalente Anlässe zu s e i n . 2 0 Schon durch ihre in diesem Sinne „ k r i s e n h a f t e " Aktualisierung unterscheidet sich globale Konnektivität deutlich von Vorstellungen einer globalen Einheitlichkeit und H o m o g e n i tät, die anderen Interpretationen globaler Sozialität zugrunde liegen. Unter den „ M e c h a n i s m e n " der Weltgesellschaft betonen diese nämlich in der Regel nicht den netzwerktheoretisch relevanten Befund globaler Interrelation, sondern entweder die Rolle
Diese Situation könnte sich eventuell dadurch verändern, dass die Informationstechnologie mehr und mehr Hilfsmittel anbietet, Netzwerke indirekter Kontakte zu explorieren. Mit social networking-Diensten wie Orkut, Friendster oder MeineFreunde wird es möglich, die Netzwerke der eigenen Bekannten und - bei entsprechenden Zugriffsrechten - auch der Bekannten von Bekannten einzusehen und die vorhandenen Adressen zu nutzen. 20
von Funktionssystemen oder die Konsequenzen massenmedialer Diffusion (vgl. Stichweh 2 0 0 0 : 2 5 4 f f . ) . W ä h r e n d Funktionssysteme erst durch die neuere Systemtheorie ins Spiel gebracht wurden, ließen sich Globalisierungstheorien schon sehr früh von den Diffusionsmöglichkeiten der modernen Massenmedien faszinieren. Am nachhaltigsten wirkt das von M c L u h a n ( 1 9 6 4 ) geprägte Bild des „globalen D o r f s " nach, das wie kein anderes geeignet schien, die Unwahrscheinlichkeit der durch moderne Verbreitungsmedien ermöglichten globalen Synchronizität zu betonen. W e n n wir M c L u h a n s Wahl der D o r f - M e t a p h e r einen soziologischen Sinn abgewinnen m ö c h t e n , dann scheint er darin zu liegen, dass die Frage nach globalen Formen der „Sozialintegration" positiv beantwortet wird, während viele Globalisierungstheorien eher den Aspekt der „ S y s t e m i n t e g r a t i o n " hervorheben. 2 1 D o c h das globale D o r f M c L u h a n s basiert auf dem recht einfachen und restriktiven Sozialmodell einer „ G e m e i n s c h a f t " , in der das nicht mehr vorauszusetzende „Kollektivbewussts e i n " durch die massenmediale „Sofort-Integrat i o n " (Luhmann 1 9 8 1 : 3 1 9 ) ersetzt wird. M a n mag bereits Zweifel haben, ob dieses M o d e l l auf den modernen N a t i o n a l s t a a t a n w e n d b a r ist. Zumindest scheint es hier noch einigermaßen realistisch, eine relativ h o m o g e n e Massenmedien-Rezeption ohne Übersetzungsprobleme als Basis einer „imaginierten G e m e i n s c h a f t " (Anderson 1 9 9 1 ) aufzufassen. Für die Weltgesellschaft ist dies wenig plausibel. 2 2 Sie erfüllt nicht die Kriterien, die seit T ö n n i e s ( 1 9 7 9 [ 1 8 8 7 ] ) immer wieder, in wechselnder K o m b i n a t i o n und Gewichtung, als Unterscheidungsmerkmale zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft verwendet wurden, wie zum Beispiel: weit gehende H o m o g e n i tät der Interessen, Lebensstile und Glaubensinhalte; geringe Größe; regelmäßige, intensive und affektiv Siehe zur Terminologie Lockwood (1964) und Schimank (1999). Vor allem Habermas' Theorie steht für den Versuch, diese nicht unumstrittene Unterscheidung gesellschaftstheoretisch zu nutzen (Habermas 1981: 225ff., 1998: 125f., Peters 1993). Zur Sozialintegration der Weltgesellschaft siehe auch Münch (2001). 22 Die vergleichende Medienforschung hat eine Menge Belege dafür gesammelt, dass sich die Angebote globaler Massenmedien zu lokal sehr verschiedenen Interpretationen und Anschlusskommunikationen eignen, die mit der Vorstellung globaler Einheitlichkeit kollidieren. Die klassische Studie zur Rezeption der US-amerikanischen Serie „Dallas" von Liebes/Katz (1993) zeigt dies eindrücklich. Weitere Belege finden sich z. B. in den Sammelbänden von Silverstone/Hirsch (1992) und Armbrust (2000). Für theoretisch orientierte Überblicke siehe Tomlinson 1991 und Thompson 1995. 21
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besetzte face-to-face-Begegnungen (vgl. Calhoun 1980, Brint 2001). Das ist auch nicht weiter problematisch - es sei denn, man folgte dem Vorschlag Parsons' (1971), die Gemeinschaft - in Form der societal community - zu einem Definitionskriterium der Gesellschaft zu machen. Andernfalls gibt es eben eine (Welt-)Gesellschaft, die keine Gemeinschaft ist. Eine solche „Weltgesellschaft ohne Gemeinschaft" wird in der Soziologie prominent von Luhmann vertreten, der sich von Anfang an gegen die Idee sozialer bzw. normativer Integration der Weltgesellschaft wandte. In einem radikalen Gegenentwurf zur Vorstellung einer Weltgemeinschaft argumentiert er, gerade die globale Gesellschaft stütze sich nicht auf normative, sondern auf kognitive Erwartungsmuster (Luhmann 1975). Auch wenn diese These nicht mehr explizit weiterverfolgt wurde, kommt die spätere Fassung der Weltgesellschaft als dem Sozialsystem, das „alle Kommunikationen und nichts anderes in sich einschließt" (Luhmann 1984a: 557, auch 1997: 145ff.), grundsätzlich ohne die Idee normativer Integrationsmechanismen aus. Es ist jedoch fraglich, ob eine strikt „nicht-normative" Integration der Weltgesellschaft theoretisch plausibel ist - und vielleicht entscheidender: ob sie überhaupt zur Empirie passt. Selbst wenn man strukturellen Vernetzungen, z. B. in Form ökonomischer Transaktionen, eine historische Vorreiterrolle zugesteht, werden diese zunehmend begleitet von „gemeinschaftsbildenden Semantiken" und anderen normativen Elementen (Stichweh 2004c). Es wäre demnach ebenso falsch, die Weltgesellschaft frei von Aspekten der Vergemeinschaftung zu konzipieren, wie es offensichtlich nicht weiterführt, sie als Ganzes am Modell einer solidarischen Gemeinschaft zu messen. Auch wenn die Weltgesellschaft als solche sich nicht als Gemeinschaft konstituiert, bietet sie Raum und Anlass für vielfältige Gemeinschaften. In Ergänzung zu dem Vorschlag, die Kombination von Gesellschaft und Gemeinschaften durch die Unterscheidung von Struktur und Semantik in den Griff zu bekommen, lässt sich aus netzwerktheoretischer Sicht eine weitere Option formulieren. Wenn die Konturen von Gemeinschaften anhand ihrer charakteristischen Beziehungsformen bestimmt werden, wird regelmäßig das Merkmal des „ganzheitlichen" Zugriffs auf Personen hervorgehoben - in der Terminologie der Parsons'schen pattern variables also der diffusen und partikularistischen Handlungsorientierung.23 Genau diese „personale InkluEine oft zitierte Zusammenfassung dieses Punktes lautet: „Community is founded on man conceived in his wholeness rather than in one or another of the roles, taken 23
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sion" wird auch als eine zentrale Funktion von Netzwerken gesehen. Es war eine zentrale Innovation der Netzwerkforschung der 1970er und 1980er Jahre, diesen Aspekt traditioneller Gemeinschaften zu fokussieren und daraus das Konzept der personal community zu entwickeln. Die Inklusion von Personen hängt demnach nicht mehr von einem bestimmten sozialräumlichen Setting ab, das beispielsweise regelmäßige face-to-face-Kontakte induziert, sondern von Netzwerken persönlicher Beziehungen (Fischer 1982, Wellman et al. 1988). Diese Netzwerke überlappen und verdichten sich zu Formen der „Gemeinschaft ohne Nähe" (Webber 1963, Calhoun 1998), die sich nicht auf räumliche Nachbarschaft und die daraus resultierenden Zufallsinteraktionen stützen. Vielmehr erfordern sie aktives „Netzwerken" durch technisch vermittelte Kommunikation oder occasioned encounters (Urry 2004a). Kleine Welten entstehen aus der Verknüpfung einer Vielzahl derartiger persönlicher Gemeinschaften durch schwache Bindungen und einzelne besonders gut vernetzte Konnektoren. Im Hinblick auf ein aggregiertes Kontaktnetzwerk kann man deshalb nicht von einer „Gemeinschaft" sprechen. Durch Vernetzung lokal verdichteter Cluster in Kontaktnetzwerken entsteht vielmehr ein lose gekoppelter Zusammenhang heterogener Gemeinschaften. Netzwerke sind nicht deckungsgleich mit einer wohl integrierten Gemeinschaft, aber auch nicht mit den System/Umwelt-Differenzen von Funktionssystemen, Organisationen oder Interaktionen. Sie verknüpfen Adressen über Systemgrenzen und territoriale Segmentierungen hinweg. Vor diesem Hintergrund kann man nicht sagen, dass für small world-Netzwerke „ihre enorme interne Differenzierung entlang vielfältigen funktionalen Unterscheidungen" entscheidend sei (Stichweh 2004a: 9). Dies träfe nur dann zu, wenn man Netzwerke weit gehend auf die Benutzung bestimmter Kommunikationsmedien eingrenzen könnte. Dies ist aber nicht der modus operandi von Netzwerken, schon gar nicht von Bekanntschaftsnetzwerken. Dauerhafte Kontaktnetzwerke organisieren polykontexturale Adressen, die nicht einem einzigen Funktionssystem zuzuordnen sind (Tacke 2000). Kontaktnetzwerke, die sich ausschließlich an den globalen Relevanz-
separately, that he may hold in a social order" (Nisbet 1 9 6 7 : 47f.). Siehe zu dieser Tradition auch Calhoun ( 1 9 8 0 ) sowie Oevermann ( 2 0 0 0 : 5 2 ) mit der ähnlichen Formulierung, Gemeinschaften zeichneten sich aus durch „social relationships between integral whole persons in their totality".
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räumen von Funktionssystemen orientieren, sind eine mögliche empirische Realisierung von small tforW-Netzwerken. Es ist sicherlich richtig, dass man sich zum Beispiel die scientific Community besonders gut als eine recht kleine Welt vorstellen kann (Garfield 1979: 8f.). Daraus folgt aber keineswegs, dass es nur um Kommunikation in Funktionssystemen geht. Wissenschaftler kennen nicht nur Wissenschafter. Relevant für die Theorie der Weltgesellschaft ist die small world-Forschung gerade deshalb, weil sie auf eine Form der Inklusion von Personen in Kontaktnetzwerke hinweist, die nationalstaatliche Grenzen ebenso transzendiert wie die Grenzen funktionaler Teilsysteme, da sie weder auf Staatsbürgerschaft noch auf funktional spezifizierte Rollen allein zu reduzieren ist. 2 4 Die lose Kopplung heterogener sozialer Kreise durch Kontaktnetzwerke macht es plausibel, die soziale Kohäsion der Weltgesellschaft nicht als homogene Vergemeinschaftung und auch nicht als mehr oder weniger gelungene soziale Integration, sondern als strukturierte Vernetzung von Heterogenität zu konzipieren. Das Merkmal globaler Erreichbarkeit, wie es von der small world-Forschung herausgearbeitet wurde, wird erst vor dem Hintergrund lokaler Verdichtung informativ. Es geht nicht darum, dass alle tatsächlich mit allen in Kontakt träten, sondern um die lokale Verfügbarkeit globaler Anschlussmöglichkeiten. Die Tatsache, dass lokale ties genügend Informationen liefern, um entfernte Regionen schnell zu erreichen, spricht dafür, dass Bekanntschaftsnetzwerke in sich hinreichend heterogen sind, um Anschlussmöglichkeiten offen zu halten (Kleinberg 2000). Interrelation bedeutet nur schrittweise Verknüpfungen, die allenfalls den in direkten Beziehungen stehenden Adressen wechselseitige Integration abverlangen. Auch wenn die Differenzen und Modulationen von Information zwischen zwei benachbarten Kontakten gering sein mögen, werden diese mit jedem Schritt entlang des Netzwerks akkumuliert. 2 5 Eine solche Interpreta24
Dass umgekehrt berufliche und andere Kontexte natürlich zu einer „focused Organization of social ties" (Feld 1981) führen, ist unbestritten - nur sind diese ties, sofern sie als persönliche Beziehungen aufzufassen sind, schwerlich auf funktional spezifizierte Kommunikation einzuschränken. 25 So argumentiert Stichweh (2004b), dass bei der Weitergabe von Informationen in einem Netzwerk Sinnverschiebungen und damit eine Anreicherung mit Differenzen auftreten. Das legt es nahe, Netzwerke als „Eigenstrukturen" der Weltgesellschaft zu begreifen, zu denen auch Funktionssysteme, formale Organisationen, epistemic communities, M ä r k t e und Weltereignisse zu zählen sind (Stich-
tion globaler Interrelation steht Ideen wie „Glokalisierung" (Robertson 1995), „Hybridisierung" (Nederveen Pieterse 1995) oder „Kosmopolitisierung" (Beck 2004) näher als der Vorstellung, Vernetzung sei ein linearer Prozess der Ausweitung und Verdichtung von Beziehungen (Held et al. 1999). Mehr Aufmerksamkeit für diese Eigenschaften globaler sozialer Netzwerke könnte ein Hindernis der gegenwärtigen Globalisierungsdiskussion zu überwinden helfen, das darin besteht, dass der Gesellschaftsbegriff häufig immer noch mit der Notwendigkeit kompakter und dauerhafter Formen der Integration assoziiert wird. Die Netzwerktheorie gibt Anlass, sich von Einheitsvorstellungen, die an traditionellen Sozialkonstellationen abgelesen sind, nachhaltig zu verabschieden und weniger voraussetzungsvolle Formen der Kohäsion der Weltgesellschaft in den Blick zu nehmen. Eine auf Konnektivität abstellende Charakterisierung hat den Vorteil, dass sie der vagen Vorstellung, dass alles mit allem zusammen hängt, einen soziologisch interpretierbaren Sinn gibt, ohne schwer einzulösende Erwartungen an die Einheit, kollektive Handlungsfähigkeit und Selbstbeobachtung der Weltgesellschaft zu wecken. Netzwerke sind nicht ständig Thema, sondern zunächst einmal Strukturen der Kommunikation. Dies ändert sich allerdings in dem Moment, in dem besondere Kommunikationserfordernisse oder -Zumutungen, wie etwa die Partnersuche oder von Soziologen in Gang gesetzte Experimente, die Exploration der in kleinen Welten verborgenen Kontaktmöglichkeiten anregen.
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Autorenvorstellung: Boris Holzer, geb. 1970 in München. Studium der Soziologie, Psychologie und Informatik in München; Promotion an der London School of Economics and Political Science. Von 2000 bis 2002 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 536 „Reflexive Modernisierung" in München; seit 2002 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Globalisierung und Theorie der Weltgesellschaft, Modernisierung und Entwicklung, nichtstaatliche Akteure in der Weltpolitik. Wichtigste Publikationen: Die Fabrikation von Wundern: Modernisierung, wirtschaftliche Entwicklung und kultureller Wandel in Ostasien, Opladen 1999; Rethinking subpolitics: beyond the "iron cage" of modern politics? (mit M.P. Sorensen) Theory, Culture & Society 20, 2003: 79-102.
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 3 3 0 - 3 4 7
Demokratie in der globalen Rechtsgenossenschaft Einige Überlegungen zur poststaatlichen Verfassung der Weltgesellschaft
Democracy in the Global Legal Community Reflections on the Post-Statist Constitution of the Global Society Hauke Brunkhorst* Universität Flensburg, Institut für Soziologie, Auf dem Campus 1, D - 2 4 9 4 3 Flensburg E-mail: [email protected] Zusammenfassung: Täglich wächst die Menge der N o r m e n , die nicht mehr staatlicher Rechtsetzung zugerechnet werden können. Das staatlicher Kontrolle entglittene, globale Rechtssystem ist heute so komplex, dass die spontane Bildung funktionaler Verfassungsregime unvermeidlich geworden ist, soll das System nicht kollabieren. Aber die strukturelle Kopplung von Recht, Politik und Wirtschaft, die in regionalen und globalen Kontexten durch eine neue Gewaltenteilung zwischen überstaatlicher Rechtserzeugung und staatlicher Umsetzung ermöglicht wird, ist nicht schon als solche eine Garantie von Rechtsstaatlichkeit (Rule of Law) und Demokratie. Um die neue Verfassungsfrage der Weltgesellschaft, ihrer Subsysteme und Regionen angemessen darstellen zu können, muss deshalb auf die ältere Unterscheidung zwischen herrschaftsbegrenzender Konstitutionalisierung bestehender Regime und der herrschaftsbegründenden Konstitution neuer Regime zurückgegriffen werden. Es zeigt sich dass die wichtigsten globalen Verfassungsregime durch eine tiefgreifende Spannung zwischen diesen beiden Verfassungstypen geprägt sind. Verfassungsregime wie W T O , UN, oder EU deklarieren verbindliche egalitäre Rechte, die aber den nicht-egalitären Formen der Repräsentation und Entscheidungsbildung dieser Regime klar widersprechen. Dadurch wird das von ihnen erzeugte Recht hegemoniales Recht und stellt, da die internationalen N o r m e n eine täglich wachsende Bindungskraft für die Nationalstaaten haben und tief in die Rechte ihrer Bürger einschneiden, eine wachsende Gefahr für eine Demokratie dar, die nach wie vor an den Staat gebunden ist. Aber es gibt auch Anzeichen von Gegenbewegungen, die von Ansätzen zur Demokratisierung supranationaler Organisationen bis zur wachsenden M a c h t einer heterogenen, aber hegemoniekritischen Weltöffentlichkeit reichen. Summary: One most important aspects of globalization is the enormous increase in legal norms which no longer can be ascribed to a single nation-state. The evolving global legal system transcends all state borders, and the complexity of this system producing the need for higher-level regulations which are constitutional on a first level of functional constitutionalization (funktionale Verfassung). A new separation of powers between post-statist legislation and state-based implementation and enforcement of law is making the structural coupling of law, politics, and possible in the European Union as well as in the international community or in relation to global functional systems. But the structural coupling of law, politics, and economy is only a poor and not at all sufficient answer to the new constitutional questions. It is here that the older distinction between the Rule-of-Law-constitutionalization of already existing regimes (herrschaftsbegrenzende V.) and the democratic constitution of new regimes (herrschaftsbegründende V.) comes into play. Global and regional constitutional organizations like the EU, the W T O or the U N reveal a deep tension between these t w o concepts of a constitution. the egalitarian rights which are explicitly declared in all these constitutions contradict the non-egalitarian principles of representation which structure the daily production of norms. The structural violation of egalitarian representation causes a hegemonic structure of global law, and the non-egalitarian production of more and more norms which are binding for states and their citizens poses a growing threat for national democracy. O n the other hand, there are some developments towards democratizing the supranational organizations, and there is some evidence for the growth of power of a heterogenous but antihegemonic global public.
D i e G e s c h i c h t e w i e d e r h o l t sich n i c h t , u n d w e n n , k ö n n e n w i r n i c h t w i s s e n , o b sie es g e r a d e t u t . W a s wir aber h a l b w e g s verlässlich e r k e n n e n u n d w o r ü ber w i r z u m i n d e s t sinnvoll streiten k ö n n e n , sind die strukturellen Voraussetzungen einer gesellschaftlic h e n F o r m a t i o n . S o s c h e i n t d i e G e s e l l s c h a f t , in d e r * Ich danke Andreas Fischer-Lescano für Kritik, Kommentare und juristische Beratung.
wir leben, i m m e r n o c h die m o d e r n e Gesellschaft zu sein, u n d d i e v e r s c h i e d e n e n V o r s c h l ä g e , d i e M o d e r n e als p o s t - , s p ä t - , r e f l e x i v o d e r g a r z u m z w e i t e n M a l m o d e r n z u b e s c h r e i b e n , b e s t ä t i g e n d a s . D i e Sem a n t i k - früher sagte m a n gelegentlich: der Überb a u - bleibt allen A n s t r e n g u n g e n der I m a g i n a t i o n zum Trotz am Wort „ m o d e r n " haften, und m a n d a r f v e r m u t e n , d a s s d a s s o ist, w e i l die S t r u k t u r ( f r ü h e r : Basis) d e r G e s e l l s c h a f t sich n i c h t g e ä n d e r t ,
Hauke Brunkhorst: Demokratie in der globalen Rechtsgenossenschaft
sondern allenfalls globalisiert hat. Alle müssen jetzt in einer individualisierten Gesellschaft mit funktionaler Differenzierung leben, und ihre sehr unterschiedlich verteilten Lebenschancen sind überall von Markt- und Schulerfolg abhängig - ob die Akteure das nun wissen und wollen oder nicht. Es scheint so, als sei das in der politischen Verfassung dieser Gesellschaft nicht anders. Trotz der vielen und blutigen Versuche, Alternativen nicht nur auszudenken, sondern auch auszuprobieren, ist uns bis heute nichts wirklich besseres eingefallen als die Ideen von 1789 zu bieten haben (Brunkhorst 2002a). Die strukturellen Ergebnisse der Verfassungsrevolutionen des 18. Jahrhunderts konnten auch während der Restauration des 19. Jahrhunderts nicht revoziert werden (Sellin 2001). Immer noch hängt das Schicksal der Staaten und Staatenverbindungen von ihrer Verfassung ab. Ob sie nur auf dem Papier steht oder normativ wirksam ist, ob sie eine demokratische Gesellschaft oder ein autoritäres Regime verfasst, macht immer noch einen Unterschied ums Ganze. Das 19. Jahrhundert war durch den Gegensatz von ständischer und repräsentativer Verfassung, von parlamentarischer Republik und konstitutioneller Monarchie zerrissen. So opponierte der junge Marx im Namen der egalitären Republik gegen die konstitutionelle Form bürokratischer Herrschaft, die sein Lehrer Hegel in der berühmten Rechtsphilosophie entworfen hatte (Marx 1972: 203ff.) Und das europäische Revolutionsjahr von 1848 begann überall mit Parolen radikaler Demokratie und endete überall mit konstitutionellen Formen bürokratischer Herrschaft. Hegel behielt gegen Marx recht, aber das änderte sich im Verlauf der nächsten einhundertfünfzig Jahre zugunsten des demokratischen Rechtsstaats. Im Zuge der Globalisierung ist dieser Staat jedoch in eine strukturelle Krise geraten. Sowohl Demokratie wie Rechtsstaat sind durch die schiere Masse inter- und supranationaler Normproduktion massiv unter Druck geraten. Der Anteil rechtlicher Regelungen, den die Bürger eines Landes sich noch selbst zuschreiben können, wird immer geringer, und die Entstehung der Normen, die hier und heute gelten, immer undurchsichtiger. Das hat aber keineswegs zum Verschwinden des strukturellen Problems der politischen Verfassung der Gesellschaft geführt. Die Verfassungsfrage ist nicht verschwunden, sie ist nur dem Trend zur Weltgesellschaft gefolgt. Dabei scheint der Verfassungsbegriff sich aus den Grenzen der Staatsverfassung fortzubewegen. Die Versuche, die Europäischen Verträge in eine Verfassung umzubenennen und umzuwandeln, sind
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ebenso wenig vom Himmel gefallen wie die mittlerweile inflationäre Zuschreibung des Verfassungsbegriffs zu inter-, trans- und supranantionalen Organisationen, zu Weltregionen und Funktionssystemen. Aber bewegt sich die von vielen Autoren unterstellte Konstitutionalisierung der Weltgesellschaft (Tomuschat 1995, Fassbender 1998, Frowein 2000, Oeter 2000, Teubner 2000, 2002, 2003, Brunkhorst 2002a, Fischer-Lescano 2002a, 2002c, Walker 2002) noch in den Bahnen des demokratischen Projekts der Moderne, das aus den Verfassungsrevolutionen des 18. Jahrhunderts hervorgegangen ist? An dieser Stelle scheint die Alternative, die die Verfassungskämpfe des 19. Jahrhunderts geprägt hat, eine überraschende Aktualität zu gewinnen. Denn strukturell ging es damals bei der Frage „ständisch" oder „repräsentativ", parlamentarische Demokratie oder konstitutionelle Monarchie nicht um die Alternative zwischen vormodernem Ständestaat und moderner Demokratie, zwischen alter Monarchie und neuartiger Republik, sondern um den der politischen Moderne immanenten Gegensatz zwischen hertschaksbegrenzenden und herrschaftsbegründendett Verfassungen (Möllers 2003). Es ist die These dieses Textes, dass dieser strukturelle Gegensatz auch die Verfassungsfragen und möglichen Verfassungskämpfe (Teubner 2003) der Gegenwart, in der es nicht mehr (nur) um die Staatsverfassung, sondern um die der Weltgesellschaft geht, bestimmt. Ich beginne mit der Frage der Dissoziation von Staat und Verfassung (1), um anschließend drei Modelle oder Ideen einer Verfassung zu diskutieren. Die Anwendung des ersten, funktionalistischen Modells auf den globalen Konstitutionalismus erweist diesen als evolutionäre Innovation (2). Aber erst das zweite und dritte, das rechtsstaatliche und das revolutionäre Verfassungsmodell erlauben eine angemessene Analyse des normativen Gehalts des globalen (am Beispiel UN), regionalen (am Beispiel der EU) und sektoralen (am Beispiel der WTO) Konstitutionalismus. Dabei werden die inneren Widersprüche zwischen demokratischen Rechten und hegemonialen Organisationsnormen als gemeinsames Charakteristikum der neuen Verfassungsregime hervortreten (3). An ihnen entzünden sich die Verfassungskämpfe in den sich „ausweitenden" „Kampfzonen" (Teubner 2003: 7) der Weltgesellschaft. Sie stellen, so die abschließende These, einen ersten Ansatz zur „bestimmten Negation" (Hegel/ Marx) des demokratischen Defizits poststaatlicher Verfassungsregime dar (4).
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 330-347
1. G l o b a l e r K o n s t i t u t i o n a l i s m u s Aus den Verfassungsrevolutionen des 1 8 . J a h r h u n derts ist der demokratische Rechtsstaat hervorgegangen. Die historische Verbindung von Staat und Verfassung w a r in den letzten 2 0 0 J a h r e n so eng, dass die Grenze zwischen selbst- und fremdbestimmter Verfassung bis heute von vielen Verfassungsrechtlern und Politikwissenschaftlern mit der Grenze zwischen Staat und supranationaler Organisation identifiziert wird: „ D e n n zwischen Fremdbestimmung und Selbstbestimmung hinsichtlich der rechtlichen Grundordnung verläuft die feine Grenze zum S t a a t " ( G r i m m 2 0 0 3 : 3 5 ) . „Staat und normative Verfassung verbinden s i c h " demzufolge im demokratischen Rechtsstaat unauflöslich „zur Einh e i t " (Isensee 1 9 8 5 : 1 5 0 ) . D e r Staat erscheint in dieser, im deutschen Staatsrecht immer noch einflussreichen Lehre als eine notwendige - und deshalb auch dem Verfassungsgeber indisponible (Art. 7 9 Abs. 3 G G ) - Verfassungsvoraussetzung (Böckenförde 1 9 9 1 b : 1 6 8 ; kritisch: M ö l l e r s 2 0 0 0 : 2 6 0 f f . , 3 7 6 f f . ) . „ O n t o l o g i s c h " , „(mit Vorbehalt) r e c h t l i c h " wie „ i . d . R . historisch" soll gelten: „ D e r Staat ist vor der Verfassung" (Isensee 1 9 8 5 : 1 5 0 , Forsthoff 1 9 7 1 : 4 6 f . , 5 5 , 1 0 5 f . ) . Aber diese These stimmt nur unter der Voraussetzung eines sehr spezifischen Staats- und Verfassungsverständnisses (Schönberger 1 9 9 7 , M ö l l e r s 2 0 0 0 : 9ff., Brunkhorst 2 0 0 3 ) , in dessen Zentrum die Lehre Jellineks von der Selbstbindung bzw. „Selbstverpflichtung" des Staats durch R e c h t und Verfassung steht (Jellinek 1 9 2 2 : 3 6 7 f f . , Jellinek 1 9 7 9 : 1 9 5 f f . ) . Souverän ist dieser Lehre zufolge der Staat als herrschendes Subjekt, das sich seinen Untertanen gegenüber verpflichtet, sie als freie und gleiche Bürger zu achten und mit R e c h t e n auszustatten. Es ist hier (wie schon bei Hegel) in letzter Instanz der Staat, der die bürgerliche Gesellschaft konstituiert. 1 D a s ideengeschichtliche M o d e l l ist der Unterwerfungsvertrag, in dem sich die Dialektik von Herr und Knecht spiegelt (Hegel 1 9 7 0 : 1 4 5 f f . ) . Historische Paradigmen einer Verfassungsgebung als Selbstverpflichtung des souveränen Staats sind neben der englischen des 1 7 . vor allem preußische und deutsche Verfassungen des 1 9 . J a h r h u n d e r t s (Möllers 2 0 0 3 ) . Die Sozialontologie ist jedoch eine ganz andere, wenn m a n davon ausgeht, dass das Volk als vielstimmige Bürgerschaft der Souverän ist, der R e c h t
und Verfassung im dynamischen Prozess gemeinsamer Willensbildung hervorbringt. Steht der Wille des Staatssouveräns unabhängig von R e c h t und Verfassung immer schon fest, so k a n n der Wille des Volkssouveräns nur als Ergebnis intersubjektiver Verständigung in einem immer schon rechtlich organisierten, gleichheitssichernden Verfahren ermittelt werden (Böckenförde 1 9 9 1 a : 3 2 3 f f . , 3 2 7 f f . , 368f., Maus 1992: 148ff., 176ff., Habermas 1992: 109ff., 600ff., Oeter 1 9 9 5 : 6 7 1 , 6 7 5 , Brunkhorst 2 0 0 0 : 1 7 9 f f . , B r u n k h o r s t 2 0 0 2 a : 9 6 f f . ) . N i c h t der Staat gewährt seinen Untertanen Bürgerrechte, sondern die Bürger statten sich selbst mit den R e c h t e n und Organisationsnormen aus, die sie zur Selbstorganisation einer Gemeinschaft von Freien und Gleichen benötigen. Einen Staatsapparat, der der bürgerschaftlichen Willensbildung und der durch sie erzeugten Verfassung entzogen wäre, k a n n es unter Prämissen der Volkssouveränität nicht mehr geben: „In der D e m o k r a t i e gibt es nicht mehr Staat, als seine Verfassung zum Entstehen b r i n g t " (Arndt 1 9 6 3 : 2 4 f . , M ö l l e r s 2 0 0 0 : 4 2 2 ) . Verfassungen vom Typus des Grundgesetzes lassen, wie M ö l l e r s gezeigt hat, einen Staat hinter dem R e c h t , der im Zweifelsfall als „argumentative Notstandsreserve" bereitsteht (Möllers 2 0 0 0 : 2 6 1 ) und bei „Gelegenheit sein H a u p t erhebt, um normative Ansprüche a n z u m e l d e n " (Möllers 2 0 0 0 a : 1 6 4 ) , nicht m e h r zu. Dementsprechend konstituiert nicht der Staat die Gesellschaft, sondern die Gesellschaft den Staat, und das ideengeschichtliche M o d e l l ist der Gesellschaftsvertrag. M i t der Umkehrung des Konstitutionsverhältnisses lockert sich aber die enge Bindung von Staat und Verfassung. D e m o k r a t i e , w a s , wenn das W o r t ernst gemeint ist, selbstbestimmte Konstitutionalisierung einschließt, wird „auch jenseits des Staates ( . . . ) m ö g l i c h " (Möllers 2 0 0 0 : 4 2 3 ) 2 - sowohl innerhalb der Subsysteme der Hegelschen „ G e s e l l s c h a f t " (Möllers 2 0 0 0 : 1 4 3 , 4 2 3 ) wie jenseits der Gültigkeitsgrenzen staatlich gesetzten R e c h t s (Möllers 2 0 0 0 : 3 7 6 f f . , 4 2 4 , Badura 1 9 9 5 : 1 4 4 f . ) . Außerdem verliert der Staat die für Hegel und den breiten H a u p t s t r o m deutschen Staatsrechts charakteristische Stellung „als etwas der Gesellschaft Äußerliches" (Möllers 2 0 0 0 : 4 2 3 ) . D a m i t werden aber in auffälliger Übereinstimmung mit der Soziologie seit M a r x und D ü r k h e i m Staat, Politik und Verfassung zu durch und durch gesellschaftlichen Phänomenen. Aus der Verfassung des Genau das bestreitet G r i m m ( 2 0 0 3 : 3 5 ) in der eingangs dieses Abschnitts zitierten Formulierung. Sie zeigt deutlich die Abhängigkeit des Arguments vom traditionellen Staatsverständnis der deutschen Staatslehre. 2
Z u r latent antidemokratischen Stoßrichtung der an Hegel anschließenden Theorie von „Staat und Gesellschaft" Luhmann 1 9 9 7 : 8 4 5 . 1
Hauke Brunkhorst: Demokratie in der globalen Rechtsgenossenschaft Staats wird die Verfassung, aber auch der Staat, die Politik, die Familie 3 der Gesellschaft. Es ist denn auch ganz im Sinne des soziologischen Gesellschaftsbegriffs, für den der Staat ein soziales System neben anderen ist, wenn der Art. 2 0 Abs. 2 G G „den auf D e m o k r a t i e verpflichteten Staat als bestimmbaren Teil der Gesellschaft behandelt" ( M ö l lers 2 0 0 0 : 4 2 3 ). 4 Historische Paradigmen einer intersubjektiven Konstitutionalisierung durch bürgerschaftliche Willensbildung sind die revolutionären Verfassungen des 1 8 . Jahrhunderts (Frankreich, A m e r i k a ) . 5 W a s die Verfassungsrevolutionen des 1 8 . Jahrhunderts voraussetzten, war die N a t i o n bzw. die civil society, nicht der Staat. Deshalb ging es in ihnen, wie H a n n a h Arendt scharf erkannt hat, zunächst auch gar nicht um die Frage, wie die M a c h t des Staates „ b e g r e n z t " , sondern wie die M a c h t des Volkes „etabliert werden k a n n " (Arendt 1 9 7 4 : 1 9 1 , 1 9 3 ) . Die Symbiose von Staat und Verfassung, die aus den Revolutionen im 1 9 . und 2 0 . J a h r h u n d e r t dann hervorgegangen ist, ist ontologisch, rechtlich und historisch auch wieder auflösbar, so dass die exklusive Bindung der Verfassung an den Staat retrospektiv als weltgeschichtlich ebenso kurze Episode erscheint wie die Identifikation von Staat und Politik (Möllers 2 0 0 0 : 4 2 0 f f . , Creveld 1 9 9 9 , Reinhard 1 9 9 9 ) . W u r d e jedoch im 1 8 . J a h r h u n d e r t noch gar nicht zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft unterschieden, so greift die jüngste Inflation des juristischen Verfassungsbegriffs explizit oder implizit,
Bei Hegel (1970a: 292ff.) ist auch die Familie eine der Gesellschaft (wie dem je besonderen Staat) äußerliche Sphäre, in der die - freilich dann auch staatlich (als Sittlichkeit = Staat in Allgemeinen) konstituierte - Innerlichkeit des Subjekts institutionellen Halt findet. 4 Art. 2 0 Abs. 2 GG lautet: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird von ihm in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe (...) ausgeübt." Die Staatsgewalt wird durch das Volk und das heißt: die nicht schon verstaatlichte Gesellschaft der von ihr betroffenen Bürger - neudeutsch: civil society - erzeugt, durch gesellschaftliche Kommunikation („Wahlen und Abstimmungen") und organisierte Sozialsysteme - die Staatsorgane ausgeübt, die nichts anderes sind als die Organe dieser Gesellschaft (des „Volkes"). 5 Es geht hier natürlich nicht um eine empirische Behauptung über den komplexen Prozess des tatsächlichen Zustandekommens einer Verfassung (z.B. Beyme 1968), sondern um die - ebenfalls historische - jeweils leitende juristische Konstruktion der Verfassungsgebung, die freilich vom Selbstverständnis von Bürgern und Funktionseliten bis zur konkreten Ausgestaltung von Verfahren als ein (wesentliches) Moment in die empirische Geschichte interveniert. 3
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bewusst oder unbewusst auf die soziologische Prämisse zurück, dass die Verfassung immer die Verfassung der Gesellschaft sei. Das 1 8 . J a h r h u n d e r t hatte die Verfassung zwar n o c h nicht als Staatsverfassung, aber auch nicht generell und abstrakt als Verfassung der Gesellschaft und ihrer Subsysteme, sondern konkreter als Verfassung einer je besonderen
Gesellschaft {société civil), nämlich der Bürgerschaft (citoyenete; citizenship) bzw. der Nation konzeptualisiert und damit auf ein Sozialsystem zentriert. Anders der neue Konstitutionalismus des 2 1 . Jahrhunderts. Er geht nicht nur zum Staat, sondern ebenso zu N a t i o n , Volk und Bürgerschaft auf Distanz und schreibt die verfassungsgebende und rechtsetzende G e w a l t nurmehr abstrakt den „subjektlosen K o m m u n i k a t i o n s k r e i s l ä u f e n " einer vollständig „dezentrierten Gesellschaft" zu ( H a b e r m a s 1 9 9 2 : 1 7 0 , 3 6 2 ; vgl. auch 3 6 5 ) . Erst der Anschluss des Verfassungsbegriffs an den umfassenden Gesellschaftsbegriff der Soziologie hat es möglich g e m a c h t , die gründenden Verträge supranationaler Organisationen wie der United N a tions (UN), der World Trade Organization ( W T O ) oder der Europäischen Union (EU) als Verfassungen darzustellen. So haben nicht nur der Europäische G e r i c h t s h o f , sondern auch das Bundesverfassungsgericht schon in den 6 0 e r J a h r e n die Verträge von R o m „gewissermaßen eine Verfassung" genannt ( E C J R S . 2 9 4 / 8 3 Les Verts/Europäisches Parlament 1 9 8 6 : 1 3 5 7 , 1 3 6 5 , B V e r f G E 2 2 : 2 9 3 , 2 9 6 , Weiler 1 9 9 1 : 2 4 0 7 , Augustin 2 0 0 0 : 2 7 4 , A n m . 2 4 8 ) . Auch die Völkerrechtsordnung wird seit den späten 8 0 e r J a h r e n des letzten J a h r h u n d e r t s regelmäßig als „global constitutional p r o j e c t " oder schlicht als „Weltverfassung" oder „ G l o b a l v e r f a s s u n g " verstanden (Rosas 1 9 9 5 , T h ü r e r 2 0 0 0 , O e t e r 2 0 0 0 , Fischer-Lescano 2 0 0 2 a ) . 6 Inzwischen schreibt eine allmählich O b e r w a s s e r gewinnende J u r i s t e n - M e i n u n g der internationalen Gemeinschaft eine Verfassung zu, die sie teils mit dem Völkergewohnheitsrecht, teils mit der U N - C h a r t a identifiziert (Frowein 2 0 0 0 ; T o m u s c h a t 1 9 9 5 : 7). M a n c h e Völkerrechtler gehen im Anschluss an Kelsen so weit, die U N C h a r t a im Stufenbau des Weltrechts als übergreifende und höchste Hierarchieebene - und damit als voll gültige Weltverfassung ohne eigene Staatlichkeit, aber über den Staaten und ihren Rechtssubjekten - zu konstruieren (Fassbender 1 9 9 8 ) . Rechtspluralisten wiederum machen überdies einen besonders ausgedehnten G e b r a u c h vom Begriff entstaatlichter und sektoraler FunktionssystemverfasMit Vorläufern bei Verdross 1926 und Scelle 1923; zu letzterem: Koskenniemi 2001: 327ff.
6
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sungen (Teubner 1 9 9 6 , 1 9 9 7 , 2 0 0 0 , 2 0 0 2 , 2 0 0 3 , Fischer-Lescano 2 0 0 2 a - c , Walker 2 0 0 2 ) . Aber auch im konventionellen Wirtschaftsrecht werden die G A T T - und W T O - V e r t r ä g e als Verfassung des Funktionssystems Weltwirtschaft beschrieben (Langer 1 9 9 4 ) . Empirisch ist die Evolution des neuen, entstaatlichten Konstitutionalismus eine R e a k t i o n auf den täglich wachsenden, „enormen N o r m b e d a r f " (Teubner 2 0 0 0 : 4 3 8 f . ) der globalen Funktionssysteme für Politik, W i r t s c h a f t , Sport, Wissenschaft, Tourismus, Intimbeziehungen, Verbreitungsmedien, Verkehr, Militär, Gesundheit, Technik. D a s globale Rechtssystem kann diesen N o r m b e d a r f schon lange nicht mehr durch nationale Parlamente und Gerichte, national eingebundene, zivilrechtliche und intergouvernementale Verträge decken. Es ist deshalb genötigt, auf immer neue Rechtsquellen zurückzugreifen. Diese reichen von den Privatrechtsregimen multinationaler Konzerne über internationale Schiedsgerichte und Ethikkommissionen für Biopolitik, Wissenstransfer und Internet bis zu eigensinnigen NGO-Vertragsregimen, von Standardisierungskommissionen, Technischen Überwachungsvereinen und fest etablierten Verhandlungssystemen, die Produktionsnormen und technische M a ß e festlegen und revidieren, den Zugang zum Cyberspace normieren (lex informática bzw. lex electrónica), gesundheitliche Standards dem medizinischen Fortschritt anpassen, den Luftverkehr regulieren und ökologische Grenzwerte revidieren, bis zur normativen Eigenproduktion inter-, trans- und supranationaler Organisationen wie G 7 / 8 , N A T O , UN-Sicherheitsrat und Vollversammlung, Internationale Zivil- und Strafgerichtshöfe, Europarat, W H O , IMF, Weltbank, O E C D , EU, M E R C O S U R , regionale Menschenrechtsregime usw. (Brunkhorst 2 0 0 2 a : 1 7 1 f f . , Nader 1 9 9 9 , Cal lies 2 0 0 1 , Vec 1 9 9 9 ) . Das mit den Staaten vernetzte, aber autonome, selbst produzierte (autopoietische) globale Recht erschöpft sich also keineswegs in der Lex Mercatoria, auch wenn die Abkopplung der autonomen Rechtsetzung multinationaler Konzerne vom staatlich kontrollierten Recht besonders weit fortgeschritten zu sein scheint: „Anwaltlich beratene transnationale Wirtschaftsunternehmen gewinnen eine Art Staatsbürgerstatus, der es ihnen ermöglicht, wie ein Volkssouverän Verantwortung von Regierungen für ihre politischen Entscheidungen einzufordern" (Günther 2 0 0 1 : 5 4 4 ; ähnlich D i F a b i o 1998: 107). O h n e ein M i n i m u m eigenständiger Konstitutionalisierung wäre das globale Rechtssystem nicht auton o m genug, um der wachsenden N o r m p r o d u k t i o n und Verrechtlichung der Weltgesellschaft H e r r zu
werden. Zumindest H a u p t a k t e u r e , Rechtsetzungsorgane und Verfahrensregeln müssen konstituiert werden, damit das globale R e c h t überhaupt funktioniert, also Erwartungssicherheit erzeugt (Uerpmann 2 0 0 1 : 5 6 6 ) . Die Normproduktion muss sich selbst normieren, um auf die ebenso neuartigen wie eklatanten Zumutungen des systemischen Imperialismus reagieren zu können (Teubner 2 0 0 0 a : 2 0 , Teubner 2 0 0 3 : 18ff., Habermas 1 9 8 1 a : 4 8 9 f f . ) . Die „private Machtausübung der Global Player" kann - von den Internet-Providern bis zu den transnationalen Konzernen - gerade wegen der „Abwesenheit des S t a a t e s " rasch zu einem „totalen Freiheitsverlust f ü h r e n " (Callies 2 0 0 1 : 6 8 ) . Auch die global operierende Wissenschaft und global vernetzte Professionen - von den multinationalen Anwaltskanzleien bis zu den Ärzten ohne Grenzen (Bertilsson 2 0 0 1 ) sind in ganz anderem A u s m a ß der „strukturellen Korruption durch das G e l d m e d i u m " (Teubner 2 0 0 3 : 17) ausgesetzt als zu einer Z e i t , in der sich die Globalisierung von Wissenschaft und akademischer Profession noch weitgehend in den Bahnen nationalstaatlicher Organisationen vollzog. Die Probleme des Grundrechtsschutzes etwa der Wissenschaft oder der global professional class verschieben sich signifikant von der Abwehr staatlicher Übergriffe zur Durchsetzung von gesellschaftlichen Drittwirkungsansprüchen in territorial entgrenzten R ä u m e n (Teubner/Zumbansen 2 0 0 0 : 2 0 4 f . ) . Die im G a n g befindliche Konstitutionalisierung des Völkerrechts, der W i r t s c h a f t , des Internets, der Wissenschaft, der supranationalen Organisationen und regionalen Rechtsregime reagiert damit zunächst auf das Funktionsproblem der modernen Gesellschaft: Die Grenzen zwischen den Subsystemen so zu stabilisieren, dass durch Beschränkung ihrer Destruktivkräfte deren systemspezifische,
kommunikative
Produktivität
und Rationalität
ent-
fesselt werden kann (Brunkhorst 2 0 0 2 a : 2 1 5 , Teubner 2 0 0 0 a : 2 0 , Teubner 2 0 0 3 , 1 0 f . , 2 2 f . , H a b e r m a s 1981: 225ff.). A b e r die Entfesselung k o m m u n i k a t i v e r Produktivität und systemspezifischer R a t i o n a l i t ä t darf nicht schon mit demokratischer Konstitutionalisierung gleichgesetzt werden. Wenn immer mehr Rechtsquellen aus dem demokratischen Legitimationskreislauf ausbrechen, gerät die Demokratie in den Nationalstaaten unter Druck. Ein rasant wachsender Teil nationalen R e c h t s - in der E U ist es längst die überwältigende M e h r z a h l aller Entscheidungen (Joerges 1 9 9 6 : 7 4 ) - ist k a u m n o c h bzw. nur über mehrfach unterbrochene Legitimationsketten dem Volkswillen zurechenbar. Die E U hat zwar, anders als andere supranationale Organisationen, ein di-
Hauke Brunkhorst: Demokratie in der globalen Rechtsgenossenschaft rekt gewähltes Parlament, aber das alleinige Initiativrecht liegt bislang bei der Kommission; der Ministerrat entscheidet und das Parlament assistiert, wenn es überhaupt gefragt wird. Ministerrat und Kommission sind zwar intergouvernemental zusammengesetzt, handeln aber als „unabhängige Organe" einer - wie Heinhard Steiger schon in den 60er Jahren mit der auf den souveränen Staat gemünzten Formel Herrmann Hellers feststellen konnte - „eigenständigen Willens- und Wirkungseinheit" im europäischen Gemeinschafts- und nicht mehr im nationalen Interesse (Steiger 1966: 63, 65, Heller: 1934). Damit ist die parlamentarische Verantwortung der Minister aufgehoben, die demokratische Bestimmtheit ihrer Entscheidungen verletzt. Da selbst das europäische Primärrecht der Verträge streng genommen nur über den einen Akt der ersten Vertragsratifizierung durch die Gliedstaaten (Scharpf 2002: 74, Anm. 15) auf die ,Herren der Verträge' rückführbar ist - denn alle folgenden Vertragsänderungen können die Regierungen nur noch konsensuell vornehmen - , kommt es zu einer dramatischen „Entparlamentarisierung hoher Entscheidungen" (Kirchhof 1997: 112). Ähnliches gilt für das WTORecht (Bogdandy 2001: 271,273), und der kumulative Effekt, der durch die vielen Ebenen von Normproduktion (regional, global, sektoral) erzeugt wird, verstärkt das Demokratiedefizit für die betroffenen Staaten.
2. Differenzierungen im Begriff der Verfassung Wenn die insoweit plausibilisierte Vermutung, dass ein neuer Konstitutionalismus zumindest in the making ist, zutrifft, dann stellt sich nicht mehr die Frage, ob, sondern in welchem Sinn den globalen, regionalen und systemspezifischen Rechtsgenossenschaften eine Verfassung (oder eine Mehrzahl von Verfassungen) zugeschrieben werden kann. Signalisieren die offensichtlichen, demokratischen wie rechtsstaatlichen Defizite der neuen Weltordnung den Anbruch eines postdemokratischen und imperialen Zeitalters großräumiger Herrschaft (Schmitt 1988: 295ff., 303ff., Hardt/Negri 2002) oder gibt es Gründe, Robert Dahls hoffnungsvolle Prognose einer „dritten", über antike Polis und modernen Nationalstaat hinausgehenden „demokratischen Transformation" nach wie vor festzuhalten? Um diese Fragen zu klären, werde ich drei Begriffe oder Ideen einer Verfassung unterscheiden.
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2.1 Funktionale Verfassung Die im Gang befindliche Konstitutionalisierung der Weltgesellschaft lässt sich - und das ist die erste Idee einer Verfassung - als funktionale Konstitutionalisierung im Sinne der Systemtheorie beschreiben. Wenn Metanormen der Rechtsetzung das politische und/oder ökonomische System mit dem Rechtssystem strukturell verkoppeln, spricht Luhmann von einer evolutionären Errungenschaft (Luhmann: 1990). Solche Errungenschaften ermöglichen und forcieren Steigerung und Stabilisierung wechselseitiger Unabhängigkeit von Recht, Politik und Wirtschaft durch ein System rechtlich organisierter, reziproker Abhängigkeiten, die sich zu einem doppelt selektiven Kreisprozess aus politischer Rechtsetzung und juristischer Reinterpretation zusammenschließen (Luhmann 1990, 1993: 440ff., Neves 2000: 80ff., DiFabio 1998: 38ff., 106f,). Der produktive Effekt der strukturellen Kopplung von Recht und Politik oder Recht und Wirtschaft besteht in der modernitätstypischen gleichzeitigen Steigerung von Abhängigkeit und Unabhängigkeit, von Freiheit und Ordnung (DiFabio 1991: 160ff.). Staatsverfassungen verrechtlichen die Politik, aber ermöglichen dadurch die Politisierung des Rechts und setzen so die Politik in einem bis dahin ungekannten Ausmaß auch wieder von juristischer Bevormundung frei. Die wechselseitige Begrenzung steigert und entfesselt die Eigenrationalität beider Sphären, der Macht und des Rechts. Wo das alte, absolute, unbegrenzt gültige Recht das neue, gesellschaftlich produzierte derogiert, bleibt das Anpassungs- und Kontrollvermögen des Rechts gering (Kern 1952); und dasselbe gilt von der politischen Macht: „Absolute Macht bleibt geringe Macht" (Luhmann 1988: 30). Erst wenn das Recht durch Konstitutionalisierung wachsende Kontrolle über die Differenzierungen der Macht gewinnt und ihre Umsetzung in Gewalt eng umgrenzt und weitgehend ausschließt, wird Macht in einem nie gekannten Ausmaß steigerbar (Luhmann 1988: 9f., 22ff. 60ff., 6 8 , 1 0 6 ) 7 Zur Zeit der Französischen Revolution war es deshalb noch ganz selbstverständlich, die rechtlich garantierte Gewaltenteilung keineswegs als eine Teilung der Volkssouveränität, sondern im Gegenteil als wichtigste Bedingung ihrer Möglichkeit, Entfaltung und Verwirklichung zu beschreiben (Hofmann 1995: 63, Maus 1992: Dieselbe Beobachtung der Steigerung von M a c h t durch Differenzierung findet sich - mit anderer Erklärung und dem Akzent auf der Dialektik der Aufklärung - bei Foucault 1 9 7 7 oder - mit normativer Wendung und dem Akzent auf produktiver Welterschließung - bei Arendt 1 9 7 4 . 7
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118f.; generell Merkl 1927: 169ff., Jesch 1961: 93, 99f.).
nally equivalent to supranational 2001: 171, Oeter 2002: 234).
Betrachtet man generell Verfassungen, ob nun staatlich oder nicht, unter dem funktionalen Gesichtspunkt struktureller Kopplung: durch unabhängige, rechtliche Differenzierung und Kontrolle die Entfesselung politischer Gestaltungsmacht zu ermöglichen, so kann man sagen, dass die internationale Gemeinschaft, das Weltwirtschaftssystem oder die Europäische Union eine Verfassung im funktionalen Sinn haben bzw. sich im Prozess der Konstitutionalisierung befinden (Fischer-Lescano 2002a, Bogdandy 2001). Diese Konstitutionalisierung kann aber nicht mehr als Konstitutionalisierung eines Staates (Euro-Staat, Weltstaat) und auch nicht ausschließlich als Selbstkonstitutionalisierung eines Bürgervereins, der civil Society oder der Nation, sondern muss genereller als Selbstorganisation der Gesellschaft im Medium des Rechts beschrieben werden. Dabei ist, so meine These, ein evolutionär neuer Typus von Verfassungsregimen entstanden, deren wichtigste evolutionäre Innovation in einer neuen Gewaltenteilung zwischen entstaatlichter Rechtsordnung und verstaatlichtem Gewaltmonopol besteht.
2.2 Neue Gewaltenteilung
In der EU gibt es so wenig wie bei den Vereinten Nationen einen „Bundeszwang" (Bogdandy 1999: 33), auch kennt die EU keine europäische Armee, keine Polizei, keine Gefängnisse und all die anderen Mittel staatlicher Grausamkeit, über die die Vereinten Nationen - ohne eigenes Territorium - inzwischen sogar in begrenztem Maß und in Abhängigkeit vom gliedstaatlichen Gewaltmonopol verfügen. Die Europäische Union ist wie die Vereinten Nationen eine unabhängige Union unabhängiger Nationalstaaten (Bogdandy 1999: 13). Das unterscheidet die neue Gewaltenteilung signifikant vom bundesstaatlichen Föderalismus und verweist evolutionär wiederum auf die supranationalen Bundesverfassungen und nicht auf die Bundesstaaten als preadaptive advances. Im Unterschied zur klassischen, mit der Volkssouveränität gleichursprünglichen (s.o. I) Gewaltenteilung ist die neue Gewaltenteilung nicht schon von Haus aus demokratisch. Die Autonomie der Union wächst mit der Autonomie der Staaten, die sich durch Spezialisierung auf Zuständigkeiten der alten ,Polizey' (Ordnung, Sicherheit, Wohlfahrt) ebenfalls steigert und intern neu verteilt, und zwar - wie sich an allen supranationalen Organisationen beobachten lässt - zugunsten wachsender Autonomie der gubernativen Organe und zuungunsten der Parlamente (Wolf 2000).
Evolutionäre Vorentwicklungen (preadaptive advances) dieser Form der Gewaltenteilung sind die klassischen Bundesverfassungen: der Nordamerikanischen Konföderation zwischen 1778 und 1788, des Deutschen Bundes zwischen 1815 und 1866 oder der Schweizer Eidgenossenschaft zwischen 1815 und 1848 (Schönberger 2003, Oeter 1995: 674ff., 678ff., Steiger 1966, Schmitt 1989: 363ff.). Die entscheidende Voraussetzung der neuen Gewaltenteilung ist, dass die supranationalen Organisationen, wie schon der Deutsche Bund, ihre „Kompetenzen rechtlich nicht mehr" ausschließlich von „den Mitgliedstaaten", sondern aus ihrer „eigenen Verfassung" herleiten (Schönberger 2003: 7). Das gilt selbst im Falle der WTO, insbesondere für die Urteile der zwei Schlichtungsinstanzen, die einen effektiven „law-enforcement mechanism" darstellen und zusammen mit den intergouvernementalen „aggreements" und vielfältigen „standard-settings" die Wirtschafts- und Sozialpolitiken der Gliedstaaten formen und tief in individuelle Rechte und öffentliche Verpflichtungen einschneiden (Krajewski 2001: 170, Günther/Randeria 2001: 76). Auch ohne „direct effect" und „superiority" ist das WTO-Recht ein vollständiges „ functio-
Die EU ist zwar ein besonders weit entwickelter und besonders erfolgreicher Fall der neuen, supranationalen Gewaltenteilung, aber weder präzedenzlos noch einzigartig. Einfaches UN-Recht wird in Resolutionen des Sicherheitsrats und der Vollversammlung gesetzt und von Staaten oder Staatenkoalitionen um- und durchgesetzt. Urteile des Genfer Dispute Settlement Body der WTO sind für die Gliedstaaten bindend und müssen von ihnen - im Prinzip nicht anders als das EU-Recht - befolgt und implementiert werden. In der EU spielen bei der Gesetzgebung Parlament, Ministerrat und Kommission zusammen, und der Gerichtshof hat eine ähnliche Funktion und eine mindestens so starke Stellung wie das deutsche Verfassungsgericht. Aber nur in der Europäischen Union funktioniert die neue Gewaltenteilung nahezu lückenlos und perfekt. Während bei der WTO-Schiedsgerichtsbarkeit ein krasses Missverhältnis zwischen Zugangs- und Klageberechtigten einerseits und den von WTO-Entscheidungen Betroffenen andererseits besteht (Oeter 2002: 223), gibt es in der EU die positivrechtlich formalisierte, direkte Wirkung (direct effect), die die Einklagbarkeit durch jeden Betroffenen gewährleistet, und es gibt überdies den derogativ wirken-
law"
(Krajewski
Hauke Brunkhorst: Demokratie in der globalen Rechtsgenossenschaft den Vorrang des Europarechts vor (sogar jüngerem) Landesrecht (European Law Supremacy). Selbst das Verfassungsrecht der Gliedstaaten ist davon nicht ausgenommen (Grimm 2001: 229f., Augustin 2000: 253, Scharpf 2002: 76, Heintzen 1994: 574ff., 585ff., Ciaessen 1994: 240f.). Die seit den 60er Jahren kontinuierlich gewachsene „political power" des European Court of Justice (Alter 1996: 458ff.) ist ein Musterbeispiel für die Evolution der neuen Gewaltenteilung. In den 60er Jahren hat der ECJ die Lehren vom direet effect und der European Law Supremacy entwickelt, sich aber in brisanten, eigenen Entscheidungen eher zurückgehalten, um die Gefahr einer autoritätsmindernden Nichtbefolgung durch die betroffenen Regierungen zu minimieren. Zur selben Zeit haben jedoch die nationalen Gerichte überall in Europa begonnen, in einer wachsenden Vielzahl einzelner Entscheidungen (Fälle des Typs: „Molkereizentrale Westfalen-Lippe vs. Hauptzollamt Paderborn") Variation zu erzeugen, indem sie seit den 60er Jahren europäisches Recht angewandt und oft gegen nationales geltend gemacht haben. Dann haben sie nachdem ihre Urteile häufiger von höheren Instanzen kassiert wurden - auf die Möglichkeit einer gutachterlichen Stellungnahme (Art. 234 EGV) des ECJ zurückgegriffen. Das haben die höheren Instanzen - und nach einigem Hin und Her auch die Verfassungsgerichte (BVerfGE 73: 339ff., 82: 159ff.) - schließlich akzeptiert (Alter 1996: 464f., 474f., 479f.), und so konnte es in den 80er Jahren zur Selektion einer neuen Struktur der Erwartungssicherheit zwischen europäischem und nationalem Recht kommen, die schließlich mit der Autonomisierung des Europarechts auch systemisch restabilisiert wurde. Im globalen Völker- und Menschenrecht zeichnen sich ähnliche Entwicklungen ab. Fälle wie die der Verschwundenen unter der argentinischen Diktatur sind hier wegweisend (Fischer-Lescano 2002a). In einem von Straßendemonstrationen (der argentinischen Madres) angestoßenen Prozess weltöffentlicher Skandalisierung ist erst auf internationaler Ebene der regionalen (Südamerika) und globalen Organisationen (UN) so etwas wie ein spezielles ,Menschenrecht der Verschwundenen' kreiert und dann auf nationaler Ebene - zumeist von peripheren Gerichten 8 , seltener legislativ - umgesetzt und konkretisiert worden. Gerade die Zwischenschaltung nationaler Gerichte, die sich auf Staatsgewalt 8 In Spanien, der Schweiz, Frankreich, Deutschland, Italien, Schweden strafrechtlich und zivilrechtlich in den USA, zuletzt auch in Argentinien (Fischer-Lescano 2 0 0 2 a ) .
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verlassen können, kennzeichnet die neue evolutionäre Stufe, die über das bisherige System der gerichtlich unvermittelten und schon deshalb von hegemonialer Willkür bestimmten Politik humanitärer Intervention hinausgeht. Auffällig ist, dass in postnationalen Regimen wie UN, WTO, aber auch MERCOSUR und den regionalen Menschenrechtspakten die neue Gewaltenteilung zwar ebenso angelegt ist wie in der EU, aber bislang systemisch nur unzureichend stabilisiert werden konnte. Der Unterschied zu Europa ist offensichtlich der, dass es hier starke, demokratische Nationalstaaten gibt, deren Gerichte das Europarecht wirksam implementieren und durchsetzen können. Die Rolle des Nationalstaats relativiert sich zwar massiv an der Existenz der supranationalen Union, da wie in der klassischen Bundesverfassung die „Kompetenz-Kompetenz" auf die Union übergeht und die Frage der „Souveränität" zwischen Gliedstaaten und Union (Bund) auf Dauer „offen bleibt" (Schmitt 1989: 373, 378, 386ff.). Aber die Nationalstaaten spielen als Inhaber der klassischen ,Polizey'-Funktion („positive Integration" durch Zwangsgewalt und Sozialleistungen: Scharpf 1999) nach wie vor eine viel stärkere und eigenständigere Rolle als die Länder im deutschen Bundesstaat.
2.3 Normative Verfassung - herrschaftsformend (rechtsstaatlich) vs. herrschaftsbegründend (revolutionär) Normalerweise funktioniert die strukturelle Kopplung von Recht und Politik zwar nur im demokratischen Rechtsstaat einigermaßen zufriedenstellend also mit allgemeinen Wahlen, Gewaltenteilung, politischen Parteien, egalitären Rechten usw. (Neves 2000: 83ff.). Aber das muss aus der Beobachterperspektive der Systemtheorie nicht so sein, besagt doch deren grundlegendstes Theorem, dass es nichts auf der Welt gibt, zu dem sich kein funktionales Äquivalent finden ließe. Insofern ist es eine empirische Frage, ob sich nur „wohlgeordnete egalitäre Gesellschaften" (Rawls 1993) als Verfassungsregime mit struktureller Kopplung von Recht und Politik beschreiben lassen oder nicht auch „wohlgeordnete hierarchische Gesellschaften" (ebd.) das Kriterium struktureller Kopplung erfüllen. Auch „nominalistische" (Löwenstein 1997: 148ff.) oder nur „symbolische" (Neves 1997) Verfassungen können die Funktion struktureller Kopplung - wie immer defizitär (Neves 1992) - übernehmen. Auch Grundrechte können - wie der Extremfall Carl Schmitts am Be-
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ginn der Naziherrschaft zeigt (Schmitt 1933: 255) als reine Institutsgarantien ohne subjektiv rechtlichen Gehalt interpretiert werden und z.B. durch Verschränkung von Norm- und Maßnahmestaat (Fraenkel 1999) die Funktion der strukturellen Kopplung von Recht und Politik erfüllen. Zur strukturellen Kopplung von Recht, Politik und Wirtschaft kann es auch kommen ohne Lösung der fundamentalen Inklusionsprobleme der modernen Gesellschaft, die sich heute im Fundamentalismus atomisierter Massen ebenso äußern wie in der Exklusion riesiger Surplus-Populationen vom Zugang zu allen wichtigen Funktionssystemen. Die - freilich national und auf den Westen beschränkte - Lösung dieser Probleme im Verlauf der letzten hundertfünfzig Jahre war die große normative Leistung des demokratischen Rechtsstaats, die sich nicht in der Lösung des Funktionsproblems struktureller Kopplung erschöpft (Hofmann 1999: 1072ff., Hofmann 1998: 52ff., Lepsius 1999). Als evolutionäre ist die Verfassung nicht schon eine revolutionäre Errungenschaft (Möllers 2003, Brunkhorst 2003a, Haltern 2003). Meine These ist, dass Verfassungen, besonders revolutionäre Verfassungen als normative Errungenschaften der planlosen Verfassungsevolution mehr hinzufügen als, wie Luhmann ironisch anmerkt, „Machbarkeitsillusionen", „Gesänge" und „feierliche Erklärungen" (Luhmann 1990: 180,184). Aus der Autorenperspektive der Verfassungsrevolutionen des 18. Jahrhunderts, aber auch aus der daran anschließenden und insofern revolutionären Perspektive etwa des deutschen Grundgesetzes, haben Verfassungen vor allem die Aufgabe, demokratische Politik rechtlich zu ermöglichen (Möllers 2003: 51; grundlegend Maus 1992; ähnlich Habermas 1992, Jesch 1961, Brunkhorst 2002a: 96ff.). Die revolutionäre Perspektive ersetzt die funktional-evolutionäre nicht, ergänzt sie aber um die wichtige Dimension politischer Praxis und Selbstverständigung. Hier ist freilich eine weitere Differenzierung im Begriff der Verfassung erforderlich. Nicht jede, über die bloße Funktion struktureller Kopplung hinausschießende, normative Verfassung ist faktisch oder ihrer Struktur nach eine revolutionäre Verfassung. Im Sinne der herrschaftsformenden und herrschaftsbegrenzenden Tradition einer „Verrechtlichung der Staatsgewalt" (Rule of Law) hat Europa, haben auch die in positiven Menschenrechten und im positiven Völkergewohnheitsrecht konstitutionell verankerten, mit Organgewalt ausgestatteten Vereinten Nationen oder die Welthandelsorganisation eine herrschaftsformende Verfassung. Schließlich gelten die fundamentalen Menschenrechte (Recht auf Leben, Verbot von Folter und
Sklaverei) und das Völkergewohnheitsrecht (Gewaltverbot, Selbstbestimmungsrecht, sovereign equality) mittlerweile als zwingendes Recht (ius cogens) und sind der internationalen Gemeinschaft als solcher - und nicht mehr nur dem bilateralen Verhältnis - geschuldet (erga omnes). Grundrechtliche und rechtsstaatliche Herrschaftsformung ist die zweite Idee einer Verfassung. Revolutionäre Verfassungen sind demgegenüber herrschaftsbegründend (Möllers 2003, Grimm 2001: 226ff.). Das ist die dritte Idee einer Verfassung. Während eine bloß rechtsstaatliche Verfassung fremdbestimmt sein und bleiben kann, muss eine revolutionäre Verfassung sich als selbstbestimmter Ausdruck des Volkswillens zumindest darstellen lassen. Herrschaftsformend ist jede Verfassung, die einen Kernbestand individueller und egalitärer Rechte gewährleistet. Dazu aber muss die Verfassung keineswegs demokratisch organisiert sein. Alle „wohlgeordneten hierarchischen Gesellschaften" (Rawls 1993), wie etwa der Preußische Staat des 19. Jahrhunderts, erfüllen diese Bedingung. Eine Verfassung mit egalitären Rechten, aber ohne egalitären Organisationsteil ermöglicht - immerhin - die Bildung einer civil society mit schwacher, diskutierender, möglicherweise einflussreicher, aber nicht (mit)entscheidender Öffentlichkeit. Bezieht man das auf die heutige Weltgesellschaft, so wird man sagen müssen, dass diese Gesellschaft eine - durch die kommunikative Nutzung elektronischer Disseminationsmedien ermöglichte und durch Rechte gewährleistete - schwache Öffentlichkeit hat (Brunkhorst 2002c: 676ff., Müller 2003). Aber nur herrschaftsbegründende Verfassungen, die egalitäre Rechte mit demokratischen Organisationsnormen kombinieren, können eine starke, diskutierende und (in „Wahlen und Abstimmungen" - Art. 20 Abs. 2 GG) entscheidende Öffentlichkeit konstitutionalisieren. Eine solche Öffentlichkeit gibt und gab es bislang nur innerhalb von Nationalstaaten. Erst die unverkürzt revolutionäre Idee einer herrschaftsbegründenden Verfassung bringt die fundamentale, normative Intuition der Moderne, dass Herrschaft sich nur dann rechtfertigen lässt, wenn sie „Herrschaft Beherrschter ist oder sich als solche darstellen lässt", angemessen zum Ausdruck (Möllers 1997: 97). Eine solche Verfassung setzt eine Bürgerschaft, der die Verfassung als pouvoir constituant zumindest zugerechnet werden kann, voraus. Wenn das Wort „demokratisch" im Art 6 Abs. 1 EUV oder die auf Erweiterung und Vertiefung angelegten Unionsbürgerrechte der Art. 17 und 22 EGV ernst gemeint sind, sind sie auf diese Voraussetzung hin konstruiert. Auch mit dem - bewusst der US-
Hauke ßrunkhorst: Demokratie in der globalen Rechtsgenossenschaft Verfassung nachgebildeten - „We the Peoples of the United Nations" erhebt die Präambel der UN-Charter zumindest nominell genau diesen Anspruch, der im 18. Jahrhundert bereits mit dem Begriff der Weltbürgerschaft antizipiert worden war (Kant 1977: 191 ff.). Damit sind wir beim eigentlich strittigen Punkt angelangt: Hat die internationale Gemeinschaft, haben sektorale oder regionale Organisationen wie die WTO oder die EU herrschaftsbegründende Verfassungen oder sind sie doch zumindest on the road zu herrschaftsbegründenden und in diesem Sinne revolutionären Verfassungsregimen? 3. Der innere Widerspruch des globalen Konstitutionalismus Ich komme nun zu meiner zentralen These: Der normative Gehalt der egalitären Rechte, die durch die neuen, funktionalen und herrschaftsformenden Verfassungsregime positiviert worden sind, kann nur durch ein herrschaftsbegründendes Konstitutionalisierungsprojekt eingelöst werden. Auch der supranationale Konstitutionalismus bleibt insofern in den Bahnen der Verfassungsrevolution von 1789. Dem aber stehen die hegemonialen und demokratisch defizitären Organisationsnormen der neuen Verfassungsregime, in denen sich nicht nur die Komplexität der Organisationsprobleme, sondern auch die bestehenden Herrschaftsverhältnisse spiegeln, entgegen. 3.1 Weltwirtschaftsverfassung
Die Gründung der WTO im Jahr 1994 gilt vielen Beobachtern als Abschluss der Verrechtlichung internationaler Handelsbeziehungen in einer „Weltwirtschaftsverfassung" (Langer 1994: 65ff., 85f., Bogdandy 2001, Petersmann 2000, Oeter 2002, 221ff.). Mit Einrichtung der Genfer Schiedsgerichtsbarkeit hat die World Trade Organization eigene Verfassungsorgane mit eigener Rechtsanwendungskompetenz. Der mehrstufige Instanzenzug mit Einrichtung eines ganz neuartigen Appellative Body, dessen Entscheidungen „von den Streitparteien bedingungslos übernommen" werden müssen (Art. 17 Abs. 14 DSU), sichert der nicht-öffentlichen Schiedsgerichtsbarkeit einen erheblichen Spielraum der Interpretation und Rechtsfortbildung (Bogdandy 2001: 266ff., Oeter 2002: 225ff.). Die Nicht-Öffentlichkeit der Verfahren wird dadurch gemildert, dass die erstinstanzlichen Entscheidungen und die Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten
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veröffentlicht werden müssen und damit das laufende Verfahren der öffentlichen Kritik aussetzen (Günther/Randeria 2001: 79). Es existiert also - immerhin - auch hier eine schwache Öffentlichkeit. Das Dispute Settlement Understanding (DSU) bindet darüber hinaus die WTO-Gerichtsbarkeit an die „herkömmlichen Regeln des Völkerrechts" (Art. 3 Abs. 2 DSU). Damit, so Günther und Randeria, „ist das Tor zu den Regeln und Prinzipien des Völkerrechts geöffnet, in denen sich andere Werte und Normen" - wie „Menschenrechte" und „Demokratieprinzip" - „als nur die Liberalisierung der Märkte verkörpern" (Günther/Randeria 2001: 78). Durch die juristische Eigenlogik des Instanzenzuges wird das Völkerrecht im Sinne des Gleichheitssatzes (sovereign equality - Art. 2 Abs. 1 UN-Charta) unmittelbar wirksam, denn spätestens die Appellationsinstanz ist bei „hard cases" in der Rolle von Dworkins Richter Herkules und muss die widersprüchliche, komplexe und unübersichtliche Rechtsmaterie nach universellen Prinzipen, die sie dem Völkerrecht entnimmt, kompatibilisieren (Dworkin 1984: 144ff.). Die Folge: Kleine Staaten, die bei machtdominierten Verhandlungen hoffnungslos unterlegen wären, bekommen ihr gutes Recht, auch wenn sie gegen große Staaten klagen (z. B. Costa Rica gegen die USA). 9 Aber das Prinzip der Gleichbehandlung im Verfahren der Rechtsanwendung bleibt ohne demokratische Legitimation unvollständig und reduziert sich auf Output-Legitimation (Krajewski 2001: 168f.). Gleichbehandlung setzt die gleiche Berücksichtigung aller Interessen nicht nur bei der Diskussion über Problemlösungen (,deliberative Demokratie'), sondern auch bei bindenden Entscheidungen auf der legislativen input-Seite des Verfahrens voraus. Um wirklich „alle relevanten Gesichtspunkte zur Geltung kommen" (Kriele 1975: 38) zu lassen, ist die juristische Konkretisierung des Gleichbehandlungsgrundsatzes, wenn man nicht wie Dworkin stillschweigend auf Naturrecht und damit auf eine privilegierte Interpretenposition (,Richter Herkules') zurückgreifen will, auf universalisierbare, gleichheitssichernde Verfahren der Rechtserzeugung angewiesen. Deshalb bleibt jede Gleichbehandlung durch gerichtliche Instanzen defizitär, „unless direct access is provided for all the interests concerned. (...) Anything less would be a denial of the right to self-determination" (Muchlinski 1997: Weshalb die USA inzwischen versuchen, das System zu unterlaufen und dessen basale Universalisierungsregel der Meistbegünstigung durch bilaterale Verträge, die Drittstaaten ausschließen, zu ersetzen. 9
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99f.). Schließlich gehört auch dieses Recht der „self-determination" zu den „herkömmlichen Regeln des Völkerrechts" (Art. 3 Abs. 2 DSU). Da es zureichende Verfahren egalitärer Repräsentation im Organisationsrecht der Weltwirtschaftsverfassung aber nicht gibt (Bogdandy 2001: 274, 280, Krajewski 2001: 185f.), bleib die Lex Mercatoria des WTO-Regimes hegemoniales Recht (Oeter 2002: 227f., 237f., Brunkhorst 2002a: 171ff.), das durch die Übermacht partikularer Interessen „strukturell korrumpiert" (Teubner 2003: 19) wird. Die Legitimationskette, wenn sie überhaupt eine demokratische Basis in den Gliedstaaten hat, ist lang und undurchsichtig, und die nationalen Parlamente sind ohnehin nicht beteiligt, mit der signifikanten Ausnahme des privilegierten US-Kongresses (Krajewski 2001: 175f., Bogdandy 2001: 270). Vor allem das System informeller und nicht-öffentlicher „green-room"-Verhandlungen unter „selected countries" verletzt das Prinzip der sovereign equality massiv (Krajewski 2001: 169f.). Die informellen, elastischen Arrangements nichtöffentlicher Verhandlungssysteme und Streitschlichtungsverfahren stärken in der Regel die stärkere Seite: „In such a scenario an international class of negotiators and technocrats shape policy for an international class of corporations through international trading arrangements" (Nader 1999: 91, Oeter 2002: 227). Das führt zusammen mit dem Ausschluss betroffener Unternehmen und gesellschaftlicher Gruppen von „dezentralen Kontroll- und Klagerechten" zu einem „Rechtsschutzdefizit", durch das die „großen Wirtschaftsunternehmen und Wirtschaftsverbände" und die protektionistisch eingestellten „Führungen der großen Handelsmächte" (Oeter 2002: 227, 229, 237f.) in ihrer hegemonialen Position befestigt werden. Die Kombination aus supranationalem Recht (Art. 22 Abs. 1 DSU schreibt vor, dass nationales Recht, das WTO-Recht verletzt, geändert werden muss), herrschaftsformenden Völkerrechtsgrundsätzen und undemokratischen Organisationsnormen vergrößert so das Defizit demokratisch legitimierten Rechts mit jeder neuen Entscheidung (Krajewski 2001: 181), selbst wenn die „Eigengesetzlichkeit der Rechtsform" (Radbruch 1950: 290) auch dort noch den Schwachen zugute kommt, wo das Recht vom Hegemon gesetzt wird.
3.2 Völkerrechtsverfassung
Während die UN-Charta plausibel als Verfassung des „We the Peoples of the United Nations" und nicht nur ihrer Staaten beschrieben werden kann,
sorgen die Organe dieses „We", die Vollversammlung, der Sicherheitsrat und der Haager Gerichtshof für die Erzeugung, Anwendung und Durchsetzung des Sekundärrechts oder einfachen Rechts der vielen Resolutionen (Fassbender 1998: 574). Die vereinigten Völker („We the Peoples") kommen zuerst und dann erst die durch sie konstituierten Staaten und die durch den Akt der Völkervereinigung (Fassbender 1998: 573f.) sekundär konstituierte Staatengemeinschaft. Die Staaten unterschreiben durch ihre Repräsentanten die Verträge im Namen des neuen Souveräns: des We the Peoples of the United Nations. Wie in den Verfassungsrevolutionen des 18. Jahrhunderts konstituieren die sich vereinigenden Völker die politische Einheit und nicht die sich selbst bindenden, schon existierenden Staaten. Insofern erhebt der Rechtsiexi, der sich nicht zufällig am Vorbild der US-Verfassung orientiert, einen explizit herrschaftsbegründenden Anspruch. Das unterscheidet ihn deutlich von den WTO-Verträgen. Die Charta der Vereinten Nationen hat nicht nur eine klare Stufenordnung zwischen Verfassung und einfachem Recht, sondern im Konfliktfall eindeutig Vorrang vor innerstaatlichem Recht (Art. 103). Auf dieser Rechtsgrundlage hat der Sicherheitsrat beispielsweise 1984 in seiner Südafrikaresolution (Res. 554) die dortige Apartheidverfassung für „null und nichtig" erklärt (Tomuschat 1995: 18). Legte man hier den Maßstab des alten Völkerrechts der Pax Westfalia an, wäre das eine Ungeheuerlichkeit, aber die UN-Charta, die als neue Verfassung der internationalen Gemeinschaft das alte Völkerrecht definitiv außer Kraft gesetzt hat, ermöglicht durch ihren Art. 103 Beschlüsse, die staatliches Verfassungsrecht für ungültig erklären. Die vollständige Abwendung von der Pax-Westfalia-Ordnung vollzieht bereits der Art. 2 Abs. 1 der Charta, der nicht mehr die gleiche Souveränität, sondern nurmehr die souveräne Gleichheit („sovereign equality") der Staaten und Völker zulässt und damit die Staatssouveränität in verbindlicher Form dem Gleichheitssatz unterordnet: „All that states can ask is to be treated equally in and before the law" (Fassbender 1998: 582). Das verlangt der Teil der Charta, der in Staatsverfassungen dem Grundrechtsteil entspricht. Aber das Völkerverfassungsrecht der Charta folgt, nicht anders als die globale Wirtschaftsverfassung, einer negativen Dialektik der Hegemonie. Das Völkergrundrecht des Artikels 2 wird bereits durch die Vetoklausel des Völker organisationsrechts des Chapter VII und der Artikel 108 und 109 gebrochen. Es gibt egalitäre Rechte, und das konstitutionalisiert eine schwache Weltöffentlichkeit, aber es fehlen die entsprechend egalitären Organisations-
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normen, die sie erst zu einer starken, demokratischen Öffentlichkeit machen würden. Der Anspruch des Sicherheitsrats, die jeweils politisch bindende „Entscheidung der internationalen Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit" darzustellen (Tomuschat 2002: 12), ist symbolische Politik auf der Grundlage einer nominalistischen Verfassung, keine „normative Verfassung" (Löwenstein 1997: 148ff.). Außerdem haben die Staaten und ihre Vertreter in den Organen das Sagen und nicht die in der Präambel sich selbst für verfasst erklärenden Völker - von der Repräsentation der einzelnen Individuen, die im Völkergrundrecht ebenfalls als dessen Rechtssubjekte angesprochen werden, ganz zu schweigen. Die Charta bindet alle Rechtssubjekte, Völker, Staaten, inter-, trans- und supranationale Organisationen, Bürgerkriegsparteien, Nichtregierungsorganisationen und sogar Individuen, entscheiden tun aber nur die Staaten in klar hierarchisierter Ordnung (Fassbender 1998: 597). Schließlich ist die übliche demokratische Gewaltenteilung auf den exekutiven Kopf gestellt und ein Großteil der verschiedenen Gewalten dort, nämlich im Sicherheitsrat konzentriert. Ein „ganz offenkundiges Legitimationsdefizit" (Tomuschat 1995: 13). Das hierarchische Völkerorganisationsrecht widerspricht dem egalitären Völkergrundrecht der Völkerrechtsverfassung. Gilt im Völkergrundrecht der quasi-demokratische Satz „one State one vote", ja sogar der Vorrang der Völker über die Staaten, so hebt das Veto-Prinzip und die reine Staatenrepräsentation des Völkerorganisationsrechts dieses Recht wieder auf. Die positive Rechtslage, nach der die fünf großen Atommächte im Zweifelsfall die ganze Welt legal erpressen dürfen, kann mit Martti Koskenniemi nur als „pervers" bezeichnet werden (Koskenniemi 1998). Das fatal Dialektische daran ist: Die empirische Bedingung der Möglichkeit eines effektiven Weltrechtssystems ist bislang nur durch diese Struktur hegemonialen Rechts erfüllt.
3.3 Europäische Verfassung Auf den ersten Blick ähnelt die Lage der Europäischen Union derjenigen der WTO und der UNO. 1 0 Seit langem etablierte, egalitäre Rechte, die rechtsstaatlich weit zuverlässiger umgesetzt sind als in allen vergleichbaren regionalen, sektoralen und globalen Organisationen, widerstreiten einer technound expertokratisch anmutenden, in jedem Fall he1 0 Es gibt seit dem insofern revolutionären Vertrag von Amsterdam zwar nach wie vor eine Vielzahl der Verträge, aber nur noch eine politische Union (Bogdandy 1 9 9 9 ) .
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gemonialen Organsationsverfassung, die zwar ganz anders als in W T O und UNO - die Gleichbehandlung der Gliedstaaten gewährleistet, keineswegs aber die Gleichbehandlung der einzelnen Bürger, ihrer Repräsentanten (Entmachtung der parlamentarischen zugunsten der gubernativen und judikativen Organe des Volkssouveräns) und ihrer organisierten und nicht-organisierten Interessen. An der hegemonialen OrganisationssirMfeiwr ändern auch guter Wille, Tugend und deliberative Komitologie nicht viel (Joerges/Vos 1999, Joerges/Neyer 1997). Den mit „direct effect" bestens ausgestatteten Rechten fehlt zur ganzen Freiheit die demokratische Selbstbestimmung: „But you could create rights and afford judicial remedies to slaves. The ability to go to court to enjoy a right bestowed on you by the pleasure of others does not emancipate you, does not make you a citizen. Long before women and Jews were made citizens they enjoyed direct effect" (Weiler 1997: 503). Dieser erste Eindruck muss jedoch revidiert werden. Spätestens seit den Verträgen von Maastricht und Amsterdam hat die Union nämlich eine doppelte Legitimationsbasis: die intergouvernementalen Verträge einerseits, die Rechte der Bürger auf demokratische Partizipation und Repräsentation andererseits (Heintzen 1994: 570, Augustin 2000: 225). Bleibt der fremdbestimmte, intergouvernementale Legitimationsstrang noch auf die funktionalen und herrschaftsformenden Seiten der Europäischen Verfassung (bislang das Primärrecht der Verträge) beschränkt, so zielt (,Finalität der Union') der demokratische Legitimationsstrang direkt auf selbstbestimmte, herrschaftsbegründende Konstitutionalisierung. Zwischen beiden Legitimationssträngen verschärft sich die Spannung in genau dem Maße, in dem die Vertrags- und in Zukunft wohl: Verfassungsänderungen den Gesichtspunkt der „immer engeren Union der Völker Europas" (Art. 1 Abs. 2 EUV) rechtlich zur Geltung bringen. Die „immer enger" integrierten Völker und das durch aktive Bürgerrechte bereits konstitutionalisierte europäische Volk im Singular (Augustin 2000, Brunkhorst 2002b) sind in den Organen der Union direkt vertreten. Freilich ist ihrem Parlament - trotz erster, aber dann doch gescheiterter Vorstöße des Konvents in diese Richtung - der Zugang zur verfassungsgebenden Gewalt bzw. zur Mitentscheidung über die Verträge nach wie vor versperrt. Doch bereits der Vertrag von Maastricht verpflichtet die Organe der Union auf das Ziel und eine Politik der vollständigen Demokratisierung auch der eigenen Organisation (Art. 6 Abs. 1 EUV) - und nicht nur auf die Rolle eines techno- und expertokratisch,
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durch deliberierende ,Komitologen' ausgeübten Wächteramts über Demokratie und Menschenrechte in den Gliedstaaten (Art. 7 EUV). Überdies verpflichtet Art. 6 Abs. 3 EUV „die Union" als Rechtssubjekt, „sich mit den Mitteln" auszustatten, „die zum Erreichen" auch des Ziels ihrer inneren Demokratisierung und „zur Durchführung" demokratischer „Politiken erforderlich sind". Seit dem Maastrichter und Amsterdamer Vertrag ist die Kluft zwischen den noch gubernativ dominierten Organgewalten der Union und dem schon legitimierenden Unionsvolk nicht länger eine Kluft zwischen einer vorhandenen (a) funktionalen und (b) herrschaftsformenden Verfassung einerseits und einer noch nicht vorhandenen (c) revolutionären und herrschaftsbegründenden Verfassung andererseits. Der Widerspruch zweier Legitimationsprinzipien, der verfassungsgebenden Gewalt des Europäischen Volks und des Vertragsabschlusses der Gliedstaaten, ist vielmehr mit Demokratieprinzip (Art. 6 Abs. 1 EUV) und Unionsbürgerschaft (Art. 17-21 EGV) bereits in das Organisationsrecht der Verträge eingewandert. Richtig beschrieben handelt es sich deshalb um den inneren Widerspruch zwischen einer als „Rechtsfexf" und in Teilen der tatsächlichen Organisation schon demokratischen Verfassung und einer als dominierende „Rechtsnorm" (Müller 1986: 13,34,38) noch (weitgehend) wirksamen, undemokratischen Verfassung. Insofern ist die europäische Öffentlichkeit, anders als die globalen Öffentlichkeiten, bereits eine starke Öffentlichkeit in the making. Der von Grimm und anderen immer wieder traktierte, fehlende „revolutionäre Akt" einer „Umgründung der Europäischen Verfassung" (Schuppert 2000: 244) ist als Rechtstext, als leere Hülle unausgestalteter Legalität bereits kodifiziert. Was freilich fehlt, um die Hülle mit Leben zu füllen, ist, so Hasso Hofmann, eine „revolutionäre Kraft", die den Text in einer „revolutionären Situation" beschlossen, ausgerufen und dem Volk zur Abstimmung vorgelegt hätte (Hofmann 1999: 1074). Durch das unionsbezogene Demokratieprinzip und die Unionsbürgerschaft im Singular sind zwar die Vertragstexte revolutioniert worden. Aber das steht bislang nur auf dem Papier.
4. Verfassungskämpfe - Perspektiven der Demokratisierung Das Papier, das die revolutionäre Umgründung Europas an unscheinbarer Stelle, im Grau in Grau der Paragraphen vollzieht, ist freilich nicht irgendein
Papier, sondern das bindender, supranationaler Verträge, demnächst gar einer Verfassung, und eine Verfassung „kann beim Wort genommen werden" (Müller 1997: 54). Rechtstexte sind nicht nur Worte, sondern ein Stück objektiver Geist, von dem gilt: „Norm- und besonders Verfassungstexte setzt man, mit unaufrichtigem Verständnis konzipiert, letztlich nicht ungestraft, sie können zurückschlagen" (Müller 1997: 56). In der schwachen, global vernetzten Öffentlichkeit zeichnen sich erste Konfliktlinien, gar Verfassungskämpfe ab, in denen es direkt oder indirekt immer auch um Fragen der demokratischen Kontrolle und Repräsentation in postnationalen Verfassungregimen geht. Ohne daraus schon irgendwelche empirischen Trends abzuleiten, möchte ich, um erste Beobachtungen zu sortieren, vier Ebenen unterscheiden: (1) Auf der Ebene signifikanter Einzelereignisse und flüchtiger Protestbewegungen ist seit Seattle ein offener Streit über die Weltwirschaftsverfasung ausgebrochen (Brunkhorst 2002: 212ff.). Seitdem begleitet die aus diffusen Motiven gespeiste Bewegung der ,Globalisierungsgegner' die Gipfelrunden von WTO, G7, aber auch der EU und anderer, vergleichbarer Treffen. Im Agendasetting der W T O waren deren inzwischen gut organisierte Aktivisten von Anfang an erstaunlich erfolgreich. Überraschend ist ferner nicht nur die Wiederkehr der basisdemokratischen Ideologie in postmodernem Gewand, sondern auch die einzige, durchschlagende Parole dieser Bewegung auf dem G8-Gipfel von Genua: Voi GS, Noi 6 000 000 000, mit der die Stimmen von Rousseau und Sieyes auf die politische Bühne der Weltgesellschaft zurückgekehrt sind. Um berechtigte Ansprüche auf Zugang zu den elektronischen Disseminationsmedien anzumelden, ist selbst der postmodernistischen Hackergemeinde schließlich nichts besseres eingefallen als der konstitutionalistische Rückgriff auf das 18. Jahrhundert: eine „Declaration of Independence of the Cyberspace" (Teubner 2003). In den weltweit vernetzten, wohl größten Demonstrationen in der kurzen Geschichte globaler Öffentlichkeit im Februar 2003 gegen den Irak-Krieg waren höchst diffuse, von antiamerikanischen Ressentiments durchsetzte, außerhalb Europas und Amerikas oft fundamentalistische Motive im Spiel. Aber alle Demonstrationen liefen auf den einen Punkt einer Verteidigung der höchsten Rechtsnorm der gegenwärtig gültigen Völkerrechtsverfassung hinaus. Exemplarisch war bei den Demonstrationen in St. Francisco - die Umwandlung eines älteren Imperativs der Hippies in den Verfassungsgrundsatz: „Make Law not War!"
Hauke Brunkhorst: Demokratie in der globalen Rechtsgenossenschaft
In den europäischen Antikriegsdemonstrationen ging es darüber hinaus um eine einheitliche, am Völkerrecht orientierte Linie der europäischen Politik. Aber interessant war etwas ganz anderes. Zum ersten Mal hat eine breite, wirklich europäische Öffentlichkeit auf der Straße ihren Willen artikuliert, und das ist das eigentlich Signifikante - sie konnte sich dabei gleichzeitig auf die schweigende, nahezu verfassungsändernde Mehrheit der europäischen Bevölkerung und auf das mehrheitliche Votum ihrer europäischen Verfassungsorgane berufen. Ohne schon unmittelbar zum Thema zu werden, wurde die unzureichende Repräsentation der volonté générale durch die gegenwärtige Verfassung Europas öffentlich erfahrbar. (2) Auf struktureller Ebene korrespondiert solch singulären Ereignissen und Ereignisketten (Bewegungen) die Bildung einer global vernetzten Zivilgesellschaft, deren organisatorische Kerne Nichtregierungsorganisationen, die von Menschenrechtsvereinen über issue-bezogene Juristenassoziationen, Alternativbanken, Selbsthilfegruppen, Umweltinitiativen und Graswurzelbünde bis zu kriminellen und terroristischen Vereinigungen an deren Rändern reichen. Paul Streeten spricht von einer „global civil society in the making", die sich mit wachsendem Sozialkapital in einer Grauzone „neither public nor private" etabliert habe und das Potenzial „of any future world citizenship" darstelle (Streeten 2001, Bramann/Sreberny-Mohammadi 1996). Auf die Verfassungsorgane der WTO, der U N O und der EU haben die Organisationen der global civil society mittlerweile einen „measurable impact" (Khan 2001: 323). Dieser reicht von programmatischen Erklärungen, Reformprojekten und dem Agendasetting der jeweiligen Organgewalten über Versuche, die Transparenz von Entscheidungen zu verbessern, bis zu offiziellen Partnerschaften mit nicht-staatlichen Akteuren, dem durch Art. 71 der UN-Charta möglich gemachten Konsultativstatus der N G O ' s und der immens ausgebauten europäischen Komitologie, die manchen Beobachtern schon wie das Reich der kommunikativen Vernunft auf Erden erscheint (Joerges/Neyer 1997). Man sollte sich jedoch davor hüten, das schon mit deliberativer Demokratie zu verwechseln, denn Demokratie ohne egalitäre Entscheidungsverfahren und ohne egalitäre Repräsentation ist keine (Möllers 2002, Erikson 2001). Aber eine wichtige Voraussetzung möglicher Demokratisierung ist mit der kaum repräsentativen Diffusion einer wachsenden Vielzahl deliberativer Filter beim Verfertigen bindender Entscheidungen schon erfüllt. Der inkluse Charakter des postnationalen Verfassungsrechts
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wird nämlich durch „indirect (...) participation" mit „conciousraising impact" gestärkt. Er nötigt die bestehenden Organgewalten anzuerkennen, „that the number of subjects of international law is not a closed shop" (Khan 2001: 353). (3) Auf der Ebene politischer Systembildung und der Reorganisation von Großräumen zeigen die massiven Versuche, die die US-Regierung in jüngster Zeit unternommen hat, um die globale Wirtschafts- und Völkerrechtsverfassung durch einen globalen Imperialismus zu substituieren, dass die dann anfallenden konstruktiven Lösungen des state-building in Nachkriegsregionen sich mit einem System unipolar umgekrempelter Globalverfassungen offenbar nicht durchführen lassen. Jedenfalls geht es im heftiger werdenden Konflikt zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten nicht nur um Macht- und Vormachtfragen politischer Großsysteme, sondern ebenso um die Verfassungsfrage. Während die meisten Regierungen der Vereinigten Staaten seit langem einer - nur durchs nationale Interesse begrenzten - „culture of dynamism" und damit der kurzen Kopplung des Rechts an die Macht die letztinstanzliche Priorität einräumen möchten, gibt es in der Europäischen Union eine starke Tendenz, der sei es herrschaftsformenden, sei es herrschaftsbegründenden Konstitutionalisierung von Macht und Recht und damit der legalistischen „culture of formalism" (Koskenniemi 2001) den Vorzug zu geben. Am Ausgang dieses Konflikts entscheidet sich das Schicksal der Demokratie. Jedenfalls spricht vieles dafür, dass die Stärkung des ohnehin schwach ausgebildeten legal formalism im globalen Recht nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Bedingung der Möglichkeit moderner, egalitärer Demokratie ist. (4) Isoliert betrachtet hat die EU als supranationale Organisation, wie wir gesehen haben, ein massives Demokratieproblem. Sie könnte in ihrem eigenen Verein nicht Mitglied werden (Offe 1998). Aber im Vergleich der neuen, evolutionären Formen supranationaler Organisationen fällt eine, für die Demokratie hoffnungsvolle Stufung ins Auge. Während, wie wir gesehen haben (III), in der Weltwirtschaftsverfassung die Demokratie nur schwach und höchst indirekt, nämlich über die „herkömmlichen Regeln des Völkerrechts" (Art. 3 Abs. 2 DSU) verankert ist, geht die grundrechtliche Anerkennung des Demokratieprinzips in der Völkerrechtsverfassung sehr viel weiter. Demgegenüber ist der europäischen Verfassung das Demokratieprinzip bereits normativ verbindlich ins Organisationsrecht eingeschrieben. Und obwohl in der gegenwärtigen Verfassung Europas die fortschreitende Entdemokratisierung der
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Nationalstaaten die Redemokratisierung der Union noch deutlich überwiegt, könnte sich - und das entspricht durchaus der ,Logik' und Richtung der bisherigen, höchst dynamischen Entwicklung europäischen Rechts - der Trend doch eines Tages, nach vielen kleinen Verfassungsrevisionen, umkehren. Die E U hätte dann erst mit Recht „Modellcharakter für andere Teile der W e l t " gewonnen (Grimm 2 0 0 3 : 35). Viel ist damit nicht gezeigt, aber immerhin, dass auch der wachsende Vorrang supranationaler Organisationen nicht zwangsläufig das „Ende der Dem o k r a t i e " (Guehenno 1 9 9 4 ) bedeuten muss und der Versuch, ihre Sache zu vertreten, wenigstens nicht aussichtslos ist. Die „demokratische Weltrevolution" (Kriele 1 9 9 1 ) ist noch nicht zu Ende.
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Autorenvorstellung: Brunkhorst, H a u k e , geb. 1 9 4 5 in Marne/Holstein. Studium der Philosophie, Erziehungswissenschaften und Soziologie in Kiel, Freiburg und Frankfurt. Seit 1 9 9 7 Professor für Soziologie an der Universität Flensburg. Buchveröffentlichungen zuletzt: Solidarität unter Fremden (Fischer, Frankfurt 1 9 9 7 ) . H a n n a Arendt (Becksche Reihe Denker, München 1 9 9 9 ) . Einführung in die Geschichte politischer Ideen (UTB, Paderborn 2 0 0 0 ) . Hrsg., Einmischung erwünscht? Weltbürgerrecht in einer Welt der Bürgerkriege (Fischer, Frankfurt 1 9 9 8 ) . Hrsg., Demokratischer Experimentalismus (Suhrkamp, Frankfurt 1 9 9 8 ) . Hrsg. (Zus. mit Peter Niesen). Das Recht der Republik (Suhrkamp, Frankfurt 1 9 9 8 ) . Hrsg. (Zus. mit Matthias Kettner), Globalisierung und Demokratie (Suhrkamp, Frankfurt 2 0 0 0 ) . Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft, Frankfurt, Suhrkamp (stw) 2 0 0 2 .
Region, Nation, Lokalität
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 348-373
Die Verortung Europas in der Weltgesellschaft Historische Europasemantik und Identitätspolitik der Europäischen Union
Situating Europe Within World Society Historical Semantics and the Identity Politics of the European Union Theresa Wobbe* Staatswissenschaftliche Fakultät, Universität Erfurt, Postfach 900 221, D-99105 Erfurt E-mail: [email protected] Zusammenfassung: Die folgenden Überlegungen diskutieren in drei Schritten die Frage, wie der Wandel der Europasemantik mit dem strukturell veränderten O r t Europas in der Welt-(Gesellschaft) korreliert. Zunächst wird Europas kollektive (Selbst-)Beschreibung sowie dessen interne und externe Vernetzung in der Frühen Neuzeit untersucht (I.). Die Verortung Europas in der Welt von 1 8 0 0 bis 1 9 4 5 , also die Selbstbeschreibung Europas als Zentrum der Welt und der Verlust dieser Zentrumsposition, sind Gegenstand des zweiten Teils (II.). Die neuartige Verortung Europas in der Welt setzt nach 1 9 4 5 ein. Extern stützt sich die Europäische Gemeinschaft auf global geltende Werte der modernen Gesellschaft, intern vernetzt sie sich durch den Aufbau eines eigenen Normensystems. In ihrer Identitätspolitik akutalisiert die Europäische Union (EU) heute Sedimente der historischen Europasemantik (III.). Der Beitrag zeigt, dass sich die Selbstbeschreibung der EU nicht auf die Fortsetzung der historischen Europasemantik reduziert. Vielmehr koexistieren verschiedene Dimensionen, nämlich die der globalen modernen Werte, die nationale Ebene der kulturellen Vielfalt und die supranationale Ebene des EU-Normensystems. In dem Zusammenspiel dieser drei Dimensionen manifestiert sich die Regionalisierung des europäischen Selbstverständnisses in der Welt. Summary: T h i s contribution discusses the question h o w the shifting historical semantics of Europe correspond with its changing structural place within world society. T h e first section examines Europe's self-description as well as its internal and external webs during the early modern period (I). T h e second part discusses Europe's self-definition as the center of the world and the loss o f this position, covering the period between 1 8 0 0 and 1 9 4 5 (II). Since establishing the European Community after 1 9 4 5 , a new global situating has been taking place. Externally the Community invokes the global values o f modern society; internally it is developing distinct norms. Furthermore, in its identity politics it has mobilized sediments of its historical semantics (III). It will be argued that the European Union's identity is not limited to historical semantics alone. Rather, three dimensions co-exist, viz. the global level o f modern values, the national level of cultural diversity, and the supranational level o f the Union's norm system. In the interplay of these dimensions the regionalization o f the European self-description within the world manifests itself. ,„Europa 1 , nicht mehr als Integrale über den einzelnen Componenten empfunden, sondern als System der Lagerung der Componenten untereinander".
Hugo von Hofmannstbal, In den frühen 1 9 7 0 e r Jahren setzte die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) erstmals das Thema der Identität auf die Agenda. Das 1 9 7 3 in Kopenhagen veröffentlichte „Dokument über die europäische Identität" (EPZ 1 9 8 2 : 5 8 ) benennt als Grundelemente die repräsentative Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit, die soziale Gerechtigkeit und den wirtschaftlichen Fortschritt. Im Vertrag zur Gründung der Europäischen Union (EU) 1 haben *• Für wertvolle Kritik und weiterführende Hinweise danke ich Ingrid Biermann, Bettina Heintz, Gerdien J o n ker, Erhard Stölting und H a r t m a n n Tyrell sowie zwei anonymen G u t a c h t e r n der Z f S . 1 Im Folgenden wird weit gehend die Bezeichnung der E U verwandt, von der Gemeinschaft bzw. der Europäischen
1915
Wirtschaftsgemeinschaft ( E W G ) wird gesprochen, wenn eine spezifische Phase hervorgehoben werden soll. Die Europäische Union (EU) ist die im Vertrag von M a a s t r i c h t 1 9 9 2 ( E G V von 1 9 9 2 ) gegründete Union. Diese besteht aus supranationalen (Europäische Gemeinschaften, E G ) und zwischenstaatlichen Komponenten, nämlich aus der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres ( Z B J I ) . Die sog. Tempelkonstruktion des Vertrags von M a a s t r i c h t ruht somit auf den Säulen der supranationalen Integration ( E G V ) und der intergouvernementalen Kooperation (EUV; vgl. die A b b . in Herz 2 0 0 0 : 5 4 ) . Der Vertrag von Amsterdam ( E G V in der Fassung von 1 9 9 7 ) ändert und ergänzt den Vertrag von Maastricht und enthält die Artikel durchgehend in einer neuen Zählung; vgl. Europarecht 1 9 9 9 , Streinz 2 0 0 1 .
Theresa Wobbe: Die Verortung Europas in der Weltgesellschaft
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sich die Mitgliedstaaten 1 9 9 2 auf diese Elemente, ergänzt durch die Menschenrechte, verpflichtet (EUV, Art. 6) und die „Behauptung der Identität auf internationaler Ebene" (EUV, Art. 2) als Ziel festgelegt.
zwischen der Europasemantik und der europäischen Selbstbeschreibung der EU ist es, die im Folgenden interessiert. Auf welchen Klassifikationen beruht die Abgrenzung zwischen Europa und Nicht-Europa jeweils?
Seit den frühen 1 9 7 0 e r Jahren hat die Gemeinschaft ein komplexes Gebilde, bestehend aus Förderinstitutionen und Aktionsprogrammen, Expertise und Beratung, zur Identitätsbildung aufgebaut. Heutige Brüsseler Routinen wie das ERASMUS-Programm für den Studentenaustausch oder das Programm der Kulturhauptstadt Europas sind daraus hervorgegangen. Was ist in diesem Kontext mit europäischer Identität gemeint, was wird hiermit behauptet und woran wird appelliert? Welchen Unterschied markiert das Europäische gegenüber der Welt, d. h. in welchem Kontext verortet sich die EU global und von welcher Differenz lebt sie?
Die folgenden Überlegungen greifen zwei Gesichtspunkte aus diesem insgesamt größeren und unter verschiedensten Gesichtspunkten zu diskutierenden Problemkomplex heraus. 3 Sie zielen auf die Frage, wie der Wandel der Semantik mit dem strukturell veränderten Ort Europas in der Welt(Gesellschaft) korreliert, d . h . in welchem Ausmaß sind die historische Europasemantik und die Identitätspolitik der Europäischen Union durch die globale Ausbreitung und Schrumpfung Europas geprägt. Diese Fragen werden in drei Schritten diskutiert.
Historische Studien (Kaelble 2 0 0 1 ) unterscheiden verschiedene Typen des europäischen Selbstverständnisses seit dem späten 18. Jahrhundert. Das überlegene Europa bezeichnet die europäische Vormachtstellung im 19. Jahrhundert, die um 1 9 0 0 bereits deutliche Risse erhält und die vom ersten Weltkrieg bis in die 1 9 6 0 e r Jahre durch das Bild des bedrohten Europa überblendet wird. In den späten 1 9 6 0 e r und frühen 1 9 7 0 e r Jahren beschreibt Europa sich als Teil der universalen Modernisierung, während seit den 1 9 8 0 e r Jahren ein zunehmender Bezug auf die Brüsseler Entscheidungsebene zu beobachten ist. Diese Hinweise zeigen bereits, dass sich im Zuge des Wandels von Europa in einem weltweiten Gefüge die Bedeutung des Europabegriffs selbst ändert sowie auch die Vorstellung, die Europa sich von der Welt macht. Europa hat eine Geschichte, und in deren Verlauf haben sich die Bezugsebenen, die Trägergruppen und die räumlichen Reichweiten der Selbstbeschreibung verschoben. Im späten 15. Jahrhundert ist das Europaverständnis noch weitgehend synonym mit dem des Christentums. Im 19. Jahrhundert wird Europa an der Spitze des kulturellen Entwicklungsprozesses gesehen und beansprucht eine weltweite Expansion, die sich faktisch nahezu über ein Viertel der Erdoberfläche erstreckt. Die EU repräsentiert demgegenüber ein räumlich geschrumpftes Europa, dessen Selbstverständnis sich regionalisiert 2 hat und das keine universalistische Geltung mehr beansprucht. Diese Differenz Regionalisierung bezeichnet im Folgenden eine (welt-)regionale Einheit und meint demnach nicht die Regionen Europas i.S. einer Binnendifferenzierung oder Subsidiarität in der Politik. 2
(1) Für die Rekonstruktion der historischen Semantik ist es zunächst erforderlich, bis an die Schwelle zur Neuzeit zurückzugehen, um den Beginn der kollektiven Selbstbeschreibung Europas in einem globalen Horizont zu verorten. 4 Europa wird demnach nicht ausschließlich als Ausgangspunkt der kolonialen Ausbeutungsbeziehungen verstanden, sondern auch und zugleich als das Ergebnis dieser Konstellation. 5 Daher wird die Genese der Europaidee, nämlich Europas kollektive (Selbst-)Beschreibung, als Abgrenzung im Außen- und Innenverhältnis skizziert. Anschließend wird die Herausbildung von zwei Strukturebenen in der Frühen Neuzeit behandelt, nämlich die interne Vernetzung in der Form des europäischen Staatensystems und die externe Vernetzung in Form von Handelsgesellschaften. (2) Die Verortung Europas in der Welt an der Schwelle zum 19. Jahrhundert ist Gegenstand des
Unter dem Gesichtspunkt der kulturellen Werte Europas vgl. Joas/Wiegandt 2 0 0 5 , unter Modernitätsgesichtspunkten Eisenstadt 2 0 0 0 . 4 Dies ist die Entscheidung gegen das Format eines ideengeschichtlichen Bezugs, der Europa von der Antike bis heute behandelt und dabei eine Kontinuität unterstellt, die die hier interessierende Fragestellung verengt. Albrow ( 1 9 9 8 : 4 1 9 ) bezeichnet Europa als ein „menschliches Kollektivgebilde". D a n a c h ist Europa „eines der größeren dieser Gebilde und erscheint seit 2 5 0 0 J a h r e n in der Selbstdarstellung, die wir Geschichte nennen. Es ist eine einmalige Konfiguration, und wir sehen sie heute in einer gewaltigen Begegnung mit globalen K r ä f t e n " . 3
M i t Simmel ( 1 9 0 8 : 4 6 7 f . ) formuliert: sobald sich soziale Beziehungen bilden, findet eine Grenzziehung statt, mit der unterschiedliche Seiten des Bezugs konstituiert werden, nicht aber eine Trennung der Interaktionsteilnehmer. Z u den kulturellen Grenzen der Expansion Europas vgl. Osterhammel 1 9 9 5 , für Europa in den Kolonien Frevert 2 0 0 3 : 2 3 , 78ff. 5
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zweiten Teils. Für diese Darstellung werden zwei Aspekte einer insgesamt weit komplexeren Umbruchskonstellation herausgegriffen. Die horizontale und vertikale Verknüpfung der Welt sowie deren Veränderbarkeit werden durch die Aufklärung und das zunehmende Bewusstsein von der Erreichbarkeit der Welt möglich. Eine Unterscheidung zwischen dem europäischen und außereuropäischen System der Beziehungen ist daher nicht mehr möglich. Die Grenzen Europas, die sich im 19. Jahrhundert mit der Lösung Amerikas von Europa, dem Aufbau des englischen Empire und dem Aufstieg Russlands abzeichnen, werden um 1900 als Relativierung und Schrumpfung Europas beschrieben. Durch die beiden Weltkriege wird Europa zur ,alten' Welt. (3) Die neue Verortung Europas, die seit 1945 stattfindet, ist der Gegenstand des letzten Abschnitts. Die historische Europasemantik und Identitätspolitik der EU werden aufeinander bezogen und hinsichtlich ihrer Differenzen und Ähnlichkeiten diskutiert. 6 Mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1950 startet das territorial und machtpolitisch auf Westeuropa geschrumpfte Europa eine neue Form der Vernetzung. In ihrer externen Verknüpfung stützt sich die EU auf global geltende Werte der modernen Gesellschaft wie Gleichheit, Freiheit oder Menschenrechte, deren europäische Herkunft sich abgeschliffen hat. Damit ist Europa gleich unter Gleichen. Intern vernetzt die EU sich durch den Aufbau eines eigenen Normsystems und bezieht sich auf semantische Angebote der Europasemantik, die sie im veränderten Kontext modifiziert.
(vgl. Meyer 2005) oder die europäische Differenz (vgl. Eisenstadt 2000) hervorgehoben. In der Weltgesellschaftsperspektive wird darauf hingewiesen (Stichweh 2000: 10), dass sich der historische Europabegriff nicht zur Bezeichnung einer begrenzten Identität in der Weltgesellschaft eigne. Die Versuche, hiermit der EU eine kulturelle Aura zu verschaffen, seien aussichtslos. Dieses Problem unterstreicht energisch auch Hans Geser (2000: 469). Innerhalb „seines eigenen Reservoirs kultureller Traditionen" finde Europa keine Basis, „um sich als ,Gemeinschaft' mit eigener partikulärer Identität gegenüber der übrigen Weltgesellschaft zu profilieren". 7 Diese Hinweise machen zwar die Begrenzung der Europasemantik als Identitätsmarker in einer globalen Welt deutlich. Geringere Aufmerksamkeit schenken sie indes der Frage, wie die EU intern Differenz erzeugt und unter welchen Bedingungen sie die Europasemantik reinterpretiert. Der folgende Beitrag untersucht daher zunächst die verschiedenen Selbstbeschreibungen Europas von der Frühen Neuzeit bis zur Europäischen Union in Abhängigkeit von der globalen Verortung. Im zweiten Schritt wird diskutiert, unter welchen Bedingungen die EU eine Identitätspolitik aufbaut und an welche Semantik sie anknüpft.
1. Die Genese der Europaidee ( 1 6 . - 1 8 . Jahrhundert)
Mit diesem Beitrag soll die Soziologie, insbesondere die Globalisierungs- und Weltgesellschaftsdebatte, näher an die Europasemantik herangeführt werden. Es gehört zum soziologischen Traditionsbestand, Europa als Sonderweg und Ausgangspunkt der Moderne, als take-off der (Welt-)Gesellschaft vorauszusetzen (Luhmann 1997, Meyer 2005, Meyer et al. 1997. Parsons 1971, als Überblick Wobbe 2000b). Dabei wird in unterschiedlichen Theorieperspektiven entweder die Angleichung Europas
Die Europaidee startet um 1500, als mit der Entstehung des europäisch-atlantischen Systems ein - aus heutiger Sicht - irreversibler Prozess der weltweiten Vernetzung einsetzt. Auf den Weg gebracht wird diese zunächst durch die Vorstöße italienischer und portugiesischer Seefahrer nach Afrika und Südostasien, durch die Kolonialisierung Amerikas und das Vordringen europäischer Händler in den Indischen Ozean und den Pazifik, sowie durch neue Militärtechnologien und das neue Medium des Buchdrucks (vgl. Osterhammel/Petersson 2003: 27ff., Brotton 1997). Dieser Umbruch ist durch die Verlagerung des Kraftzentrums vom Mittelmeerraum zum atlan-
Den empirischen Zugang zur Identitätspolitik der EU bildet hier die Frage nach den Klassifikationen, auf denen die Selbstzuschreibung beruht. Für diesen Beitrag wird eine sehr kleine Teilmenge ausgewählt, nämlich die vertraglich institutionalisierte Rahmung. Es geht dabei im Folgenden also nicht um das kulturelle Selbstverständnis der EU oder um die Identität der EU-Bürger/innen bzw. die (nationalen) kulturellen Unterschiede in der EU; vgl. Gerhards 2 0 0 5 .
Luhmann gibt zu Bedenken, dass es sicherlich zu einfach sei, Europa als einen Zusammenschluss von Staaten zu sehen, „die sich in der Vergangenheit schlecht vertragen haben und die sich jetzt unter der Flagge Europas besser vertragen sollten" ( 1 9 9 4 : 3). Es sei daher die Frage, ob die europäische Integration sich an der Vorstellung einer Zusammenführung von Nationalstaaten orientieren solle oder daran, „wie Europa sich als ein territorial umgrenztes Gebilde in eine Weltgesellschaft einbringt" (ebd.: 6).
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Theresa Wobbe: Die Verortung Europas in der Weltgesellschaft tischen Südwesten bestimmt (vgl. Schilling 1999: 19ff.). Bereits vor dem 15. Jahrhundert existierten Fernhandelsverbindungen, insbesondere die der Portugiesen, auf deren Spuren später die Küsten Afrikas und Indiens befahren wurden. Und auch schon vor dieser Zeit fanden Expansionsprozesse statt. Die sich seit dem 7. Jahrhundert vollziehende kriegerische Ausbreitung des Islam stellte einen weltgeschichtlich bedeutsamen Schub großräumiger Integration dar. Und die lateinische Christenheit hat zwischen 950 und 1350 ihr Gebiet durch Eroberung, Kolonisierung und Christianisierung annähernd verdoppelt (vgl. Bartlett 1993). Doch um 1500 veränderte sich von Europa aus der Zugriff auf die Welt als Teil „eines Quantensprungs europäischer Welterfassung" (Osterhammel 2001a: 92), mit dem eine neue Vorstellung von der Welt entstand. Dieser Wechsel ist in den Karten dokumentiert. Die mittelalterlichen Karten bringen eine Heilsund Weltgeschichte zur Darstellung, die biblisch orientiert ist und deren Zentrum daher Jerusalem bildet. Wie die Weltkarte des Lothringer Martin Waldseemüller von 1507 zeigt, öffnet sich der geschlossene, selbstbezügliche Raum und erlaubt eine Betrachtung gleichsam von außen. Waldseemüller zeichnet seine Karte nach den Reiseberichten des Italieners Americus Vespucius (Amerigo Vespucci), nach dem er auch den neuen Kontinent benennt. Waldseemüller macht erstmals den Versuch, zwei Hemisphären auf eine Karte zu projezieren, die sich im Osten zum Indischen Ozean und im Westen zur Neuen Welt und zum Pazifik hin öffnet (Schneider 2004: 43f. Abb. 20). 8 Die Entwicklung der neuen Karten erwuchs einmal aus den praktischen Erfordernissen der Seefahrt. Im 13. Jahrhundert gewannen Seekarten, die sog. Portolane, für die Befahrung der Mittelmeerküsten zunehmend an Bedeutung (Hay 1968: 90ff., Schnei8 Im Unterschied dazu stehen die mappae mundi, die mittelalterlichen Bilder der Welt, die oftmals in der Form des Kreises, der Scheibe oder eines Rades dargestellt sind. In der Kreisform finden sich zwei verschiedene Abbildungstypen, zum einen die Klimazonenkarte und zum anderen die als T-O bezeichnete Karte. Die Buchstaben T-O stehen für orbis terrarum. Diese Karten bilden den Erdkreis ab, der vollständig vom Meer, dem Ozean, umgeben ist. Das T ist in drei Kontinente gegliedert, nämlich Asien im oberen, Europa im unteren linken Viertel und Afrika im rechten unteren Viertel. Die Flügel des T stehen für die Flüsse Don und Nil, welche Europa und Afrika von Asien trennen. Europa und Afrika sind wiederum durch das Mittelmeer voneinander getrennt; vgl. Schneider 2004: 27f., Abb. 14.
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der 2003: 51f.). Seit dem 14. Jahrhundert weiteten die Portugiesen ihre Erkundungen der Westküste Afrikas aus, im 15. Jahrhundert umsegelten sie das Kap der Guten Hoffnung und konnten schließlich ihre Handelsrouten bis nach Südostasien ausdehnen. Auf den damit verbundenen nautischen und astronomischen Erfahrungen sollten die Entdeckungen der folgenden 200 Jahre aufbauen (Brotton 1997: 46ff.). Die neuen Karten konnten zum anderen an das Wissen des Ptolemaios anknüpfen. Dessen im 2. Jahrhundert n. Chr. in Alexandria angefertigte Weltkarte tauchte im 15. Jahrhundert in Italien auf und bildete die Grundlage für das neue geographische Referenzsystem. Vom 15. Jahrhundert an nehmen die Karten enorm zu. Auch ihre Bedeutung verändert sich in dem Maße, wie die topographischen Repräsentationen „als Projektionsfläche für eine politische Expansion und neue Weltsicht .entdeckt' wurden und Karten andere Wissensbestände als bisher akkumulierten" (Schneider 2003: 43). Die neue Form der Raumund Weltrepräsentation ist sowohl Bestandteil einer veränderten Weltwahrnehmung wie sie diese Weltsicht auch selbst verändert. Durch die neue Drucktechnologie finden die Karten in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine rasche Verbreitung, so dass die Menschen nun mit Hilfe dieser Medien die ,neue' Welt auch ,selbst' sehen können.
1.1 Vom Abendland zur Europasemantik Bevor Europa die Bühne betritt, bildet das mittelalterliche Abendland mit dem religiösen und kulturellen Bezugspunkt der lateinischen Kirche und des römischen Rechts die Referenz kollektiver Identität. 9 Entscheidenden Anteil an der Herausbildung Wahrscheinlich ist der Name Europa semitischen Ursprungs; ,ereb', das Dunkle, nannten die Phönizier das Land im Westen, hinter dem die Sonne unterging. Die Griechen, die dieses Wort übernahmen, bezeichneten damit das gestaltlose Jenseits im Norden, das Land der Barbaren. In den Metamorphosen bei Ovid (43 v. Chr.-18 n.Chr.) findet sich die klassische Fassung des Mythos der Europa als Königstochter, die vom Gott in der Stiergestalt geraubt wird (vgl. Schulze/Paul 1994: 35f.). Um 4 0 0 n.Chr. bezeichnet Europa in mediterranen Quellen den nördlichen Teil des römischen Reiches in Gallien, aber auch den Erdteil, der Asien und Afrika gegenübersteht; im 6. Jahrhundert meint Europa den nordalpinen, gallischen Raum. Politische Bedeutung erhält Europa im 8. und 9. Jahrhundert in dem Reich Karl des Großen, tritt dann aber mit dem Zerfall des Reiches zurück. In mittelalterlichen Quellen ist Europa mit Referenz auf das Karolingerreich zu finden. Der Ausbau der antiken Zonen- und Kli9
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dieser Vorstellung vom Abendland (Okzident) aus dem Z u s a m m e n h a n g der mediterranen Kultur hat die Teilung des R ö m i s c h e n Reichs. Das Territorium westlich des R e i c h s wird der Sonderweg der westlichen ecclesia, die im 4 . J a h r h u n d e r t zur römischen Staatsreligion erklärt wird und Latein zur Sprache der Liturgie erhebt (vgl. B r o w n 1 9 9 6 ) . Im Westen entsteht ein M o s a i k romanischer, germanischer, westslawischer „ M i k r o - C h r i s t e n h e i t e n " ' (Brown 1 9 9 6 : 2 5 2 f f . ) , die als Einheit eher eine Idee als ein institutionelles F a k t u m darstellt. Bis ins 1 5 . J a h r h u n d e r t figuriert die Vorstellung vom Abendland als Bezugspunkt für kollektive Selbstbeschreibungen (Rosenstock-Huessy 1951: 34ff., Gollwitzer 1 9 5 1 , 1 9 6 4 : 3 9 , 1 0 ) . 1 0 D e r semantische Wechsel zu Europa vollzieht sich langsam und unstetig. Er steht mit Grenzverschiebungen und Umbrüchen in Verbindung, die sich zwischen dem 1 4 . und 16. Jahrhundert in China und J a p a n ebenso wie im Osmanischen Reich und in Westeuropa als großräumige Strukturbildungen vollziehen (Kennedy 1 9 8 9 : 3ff., Bayly 2 0 0 4 : 23ff.). Ihre gemeinsamen Kennzeichen sind verstärkte Integrationsprozesse innerhalb von Einheiten und forcierte Abgrenzungen zwischen ihnen (Österhammel/Petersson 2 0 0 3 : 3 5 ) . Für die Entwicklung von Europa als neue Referenz kollektiver Selbstbeschreibung sind drei Konstellationen relevant (vgl. Burke 1 9 8 0 , H a y 1 9 6 8 ) . (1) Die erste Konstellation ist durch den Angriff auf die süd-östliche Grenze des Abendlands gekennzeichnet. D u r c h die E x p a n s i o n des O s m a n i s c h e n Reichs, die mit der türkischen Eroberung K o n s t a n tinopels im J a h r e 1 4 5 3 ihren dramatischen H ö h e punkt erhält, zieht sich die Außengrenze des M o r genlandes
westwärts
bis nach
Ungarn
hinein.11
malehre in der Geographie des Humanismus hat zum Wiederaufleben und zur Etablierung des Namen Europa beigetragen; vgl. Gollwitzer 1964: 14. 10 In dieser an Rosenstock-Huessy anknüpfenden Perspektive beginnt Europa nicht in der Antike (vgl. Blum 2001: 159 f.), sondern in der Ablösung vom Abendland. Im Unterschied zu Rosenstock-Huessy und Gollwitzer schlägt Mirgeler (1966: 375) eine andere Einteilung vor. Der zufolge stellen Europa und das Abendland bis zur Französischen Revolution begrifflich unterscheidbare, doch nicht abtrennbare Bedeutungen dar. Auf die von Curtius (1993) vorgeschlagene kulturwissenschaftliche Perspektive kann in diesem Beitrag nicht eingegangen werden. u Dieser Grenzverlauf erweist sich nahezu identisch mit der Markierung zwischen der byzantinischen und der römischen Missionierung. Die ost- und weströmische Unterscheidung kehrt in der Trennung der Missionsgebiete wieder, die später eine grenzbildende Funktion erhalten. Die südlichen und östlichen Slawenvölker werden von Byzanz,
W ä h r e n d der Begriff Europa im Mittelalter als symbolische Grenzziehung keine herausragende Bedeutung hatte, wird er mit dem nun einsetzenden Diskurs der Türkengefahr semantisch neu bestimmt und erhält auch eine neue Stellung. Gegenüber der Türkengefahr treten Unterschiede zwischen Ostund Westkirche zurück, und Europa wird als christliches Territorium beschrieben. Europa wird zum Sitz der Christenheit, die gemeinsam gegen die Bedrohung vorgeht, d . h . die Türkengefahr wird zu einem europäischen Problem und damit zu einer Angelegenheit, die ,ganz' Europa angeht. In der Zeitspanne zwischen 1 4 5 3 und der Z e i t nach 1 4 9 2 , als die Entdeckung Amerikas voranschreitet, erhält der Europabegriff in der Bedeutung des bedrohten Territoriums der Christenheit sein Profil (Höfert 2 0 0 3 : 6 2 ff.). Die neuen Vervielfältigungsmöglichkeiten des Buchdrucks erlauben eine rasante Verbreitung dieser S i c h t . 1 2 D e r Topos der T ü r k e n gefahr trägt maßgeblich zur Verbreitung und Popularität dieser neuen Bedeutung Europas bei und zur Selbstwahrnehmung der B e w o h n e r als Europäer (vgl. Burke 1 9 8 0 , H a y 1 9 6 8 ) . Als Folge figuriert das Christentum als distinktives M e r k m a l für Selbstthematisierung und Fremdklassifikation. (2) G e r ä t das Abendland im Osten in Bedrängnis, so greift es im Süden und Westen auf dem M e e r weit über seine Grenzen hinaus und erobert neue Z o n e n der Welt. Dieser Schauplatz ist über Entgrenzung charakterisiert, und zwar durch Schifffahrt und militärische Invasion, durch die koloniale E x p a n s i o n , bei der sich Entdecken, Erkunden und E r o b e r n verzweigen und überlagern (vgl. Bitterli 1 9 9 9 : 12ff.). Hier wird eine der Grundlagen für die Entstehung Europas als weltliche Alternative zum Abendland geschaffen (Rosenstock-Huessy 1 9 5 1 : 4 5 ) . 1 3 Die Abendland-Morgenland-Unterscheidung beruhte auf der mediterranen Orientierung mit einem wichtigen Akzent auf den östlichen Reichs-
das westslawische Polen, Ungarn und die westlichen Slawen in Slowenien und Kroatien werden von Rom aus christianisiert. Stein Rokkan (2000) hebt die kulturelle Langzeitwirkung hervor, die diese religiösen Grenzziehungen auf die Entwicklung Europas hatten; vgl. Flora 2000. 12 Das erste Produkt der Druckerpresse war nicht die Bibel, sondern ein Turcium, „als das früheste gesicherte Druckerzeugnis gilt ein zugunsten des Türkenkrieges gedruckter Ablasszettel vom 22.10.1454, dem im Dezember des gleichen Jahres der so genannte Türkenkalender" (Höfert 2003: 58) folgte. 13 Rosenstock-Huessy betont das Moment der Entgrenzung und der Unbegrenztheit Europas; daher ist Europa für ihn „ein überschreitender Grenzbegriff" (1951: 43), der über Europa in die Welt hinaus weist.
Theresa Wobbe: Die Verortung Europas in der Weltgesellschaft t e i l 1 4 . D e r Übergang zu Europa reflektiert hingegen eine Verschiebung des H o r i z o n t s zur süd-östlichen und atlantischen Welt, die sich später als Perspektivwechsel vom Mittelmeer zum Westen herausbildet (Braudel 1 9 9 0 : Bd. I I I ) . 1 5 Dieser Übergang vollzieht sich unstetig. Die Entdeckungen des atlantischen R a u m s weiten zwar die Weltperspektive der Europäer und öffnen ihnen einen K o m m u n i k a t i o n s raum, doch bis ins 1 6 . J a h r h u n d e r t , dies zeigen auch die Karten, besteht der mediterrane Z u s a m menhang vom Osmanischen Reich bis Spanien weiter (vgl. B r o t t o n 1 9 9 7 ) . 1 6 (3) Die konfessionelle Spaltung stellt einen tiefen Einschnitt und eine Z e r r e i ß p r o b e dar. Die daraus erwachsenen Konflikte werden oftmals nur noch als blanke G e w a l t ausgetragen und führen auf den Bis zum Hochmittelalter bildet der östliche Reichsteil die überlegene Seite, mit der Entdeckung Amerikas übernimmt „der Westen die Weltführung" (Gollwitzer 1964: 39), faktisch vollzieht sich dieser Übergang bis ins 16. Jahrhundert hinein. Die Informationen über die Entdeckungen kamen langsam, waren widersprüchlich und ihnen wurde oftmals kein Vertrauen geschenkt. Die meisten Diplomaten, Handelsleute und Seefahrer legten den Fokus beim Kampf um Territorien und Handelsrouten auf die Küstenstreifen des Mittelmeers, West- und Ostafrikas und Süd-Ost-Asiens sowie des östlichen Indischen Ozeans; vgl. Brotton 1997: 26ff. 15 Dieser Perspektivenwechsel hat Langzeitwirkung bis heute. Bis zum Hochmittelalter war der byzantinisch-orthodoxe Teil dem Westen in der Staatsführung und Administration voraus, insbesondere war er ein wichtiges weltpolitisches Gravitationszentrum. Denn Byzanz unterhielt Austauschbeziehungen zu den Persern, den Mongolen usw. Der Westen verwandelt sich langsam aus einem Nebenschauplatz zu einem Hauptschauplatz; vgl. Schilling 1999: 62ff., auch Gollwitzer 1972, Bd. I: 46, unter religiösen Aspekten vgl. Brown 1996. 16 Hay (1968: 99) weist darauf hin, dass das öffentliche Interesse an der Differenz zwischen Europäern und Völkern anderer Kontinente in dieser Zeit insgesamt stark zunimmt, während des 16. Jahrhunderts richtet sich dieses allerdings noch weit gehend auf Asien und den Nahen Osten. Im Thesaurus Geographicus von 1578 findet sich unter dem Eintrag „Christiani" der Verweis „Europaei" (109). Die neuere Forschung zeigt, dass während des 15. und 16. Jahrhunderts die Beziehungen zwischen Venedig, Frankreich und den Habsburgern einerseits und den Osmanen andererseits „prinzipiell nach den gleichen Regeln" verliefen, „nach denen die europäischen Mächte untereinander ihre Expansionsansprüche und wirtschaftlichen Interessen austrugen. Die Tatsache, dass das Osmanische Reich zu einem anderen regionalen internationalen System gehörte, führte jedoch dazu, dass diese Kontakte sich in Rechtsdokumenten manifestierten, die in Form, Ausgestaltung und Inhalt von den überlegenen Osmanen diktiert wurden" (Höfert 2003: 115). 14
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dritten Schauplatz der Religionskriege. In dieser Umbruchzeit wandert die , M i t t e ' Europas vom M i t t e l m e e r aus gesehen zunehmend nach Norden. In den religiösen Bürgerkriegen entsteht Europa als ein politischer Bezugspunkt der rivalisierenden Staaten. Es ist die Auseinandersetzung um die K o n zentration politischer Hegemonie - seit M i t t e des 1 6 . Jahrhunderts zunächst in den H ä n d e n der H a b s b u r g e r und B o u r b o n e n - , in der Europa zur Referenz verschiedener politischer Interessen in einem pluralistischen Staatensystem wird (vgl. Schulze 1 9 9 4 : 6 4 f f . ) . An diesem Ringen um V o r m a c h t entzünden sich Kriege, und aus diesen entsteht wiederum ein dichtes Netz staatlicher Beziehungen und schließlich ein neuer Typus der Integration zwischen den politischen Einheiten, ein sich selbst Regeln setzendes System souveräner, sich wechselseitig in ihrer staatlichen Souveränität Staaten (Schilling 1 9 9 9 : 3 8 2 f f . ) .
anerkennender
Die Konstellation, in der Europa als Bezug der Selbstbeschreibung entsteht, ist also durch drei verschiedene Grenzziehungen bestimmt. Die Sicherheitsgrenze gegenüber der osmanischen E x p a n s i o n trägt zur symbolischen Bedeutung Europas als Abgrenzung gegenüber der Türkengefahr bei. Die Grenzüberschreitung in die süd-östliche und westliche Welt stellt dagegen eine Erweiterungsgrenze, also eine wandernde Grenze dar, „die Expansionsgrenze par e x c e l l e n c e " (Osterhammel 1 9 9 5 : 1 1 1 ) . Die konfessionelle Spaltung ist demgegenüber eine F o r m interner Strukturierung.
1.2 Interne Vernetzung: Die politisch-rechtliche Struktur Vom 16. bis zum späten 1 8 . Jahrhundert erfolgt die interne Vernetzung Europas durch den Aufbau einer politisch-rechtlichen Struktur, durch die Europa sich von anderen Formen großräumiger Integration unterscheidet. In diesem K a m p f um das Gleichgewicht, um Vormacht und wechselseitige Limitierung, bildet sich ein neues Netzwerk aus dynastischen, militärischen und diplomatischen Beziehungen heraus. Diese interne Vernetzung Europas wird in einer metaphorischen Landkarte von Europa als stehender Frau versinnbildlicht. 1 7 Die Europa Regina des M a t h e m a t i k e r s und T h e o l o g e n Sebastian M ü n s t e r 17 Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts sind Karten in der Form menschlicher Gestalten bekannt, das Thema Europa wird hierfür erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts aufgegriffen (vgl. Schulze/Paul 1994: 50f.), das der vier Kontinente in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts; vgl. Poeschel 1985: 70ff.
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erscheint erstmals 1540 in einer Baseler Ausgabe seiner Cosmographia Universalis und ist als Allegorie auf die Habsburgische Herrschaft in Europa zu verstehen (Schulze/Paul 1994: 50f.). Die dargestellte Herrscherin besteht aus den Gliedern der europäischen Staaten. Die Beine und Füße der Frauengestalt werden durch Griechenland, den Balkan und Russland gebildet. Böhmen, das alte Kernland des Reichs, bildet das Herz, darüber befinden sich Frankreich und Deutschland. Spanien wiederum, das Herkunftsland des regierenden Karl V. (1530-1556), erscheint als das gekrönte Haupt im Westen. Italien wird durch den starken Arm mit Sizilien als Reichsapfel versinnbildlicht. Demgegenüber befinden sich England, Schottland und Irland als Inseln hinter dem durch die linke Hand gehaltenen Zepter. Schweden befindet sich, ebenfalls als Insel dargestellt, unter der linken Hand. Diese Karte beschreibt demnach die Binnengliederung des europäischen Staatensystems als eine in sich ruhende Einheit, die aus ähnlichen und miteinander verknüpften Teilen besteht (Kleinschmidt 1998: 107f.). Die hier versinnbildlichte Hegemonie bleibt indes nicht unangefochten. Inmitten der französischen Religionskriege entwickelt Jean Bodin seine Theorie der Souveränität (1576), nämlich den neuen Gedanken, dass die staatliche Gewalt von inneren Bindungen und äußerer Autorität unabhängig zu sein habe. Zum Begriff der Souveränität gehöre, dass der Fürst nicht den Befehlen eines anderen unterworfen sei, „wohl aber den von ihm eingegangenen rechtmäßigen und billigen Abmachungen" (zit. nach Schulze/Paul 1994: 472). In dieser Sicht lässt sich die europäische Herrschaftsstruktur als eine rechtliche Gleichheit souveräner Einheiten (Könige, Republiken, Städte, Vertragsgemeinschaften) beschreiben, als ein Pluralismus von Herrschaften. Bodins Theorie liefert Begründungen für den Staat als souveränes Rechtssubjekt (vgl. Stichweh 1990). 1 8 Dieser Gedanke wird von Hugo Grotius in seiner Schrift über die Freiheit des Meeres (1609) gegen den spanisch-portugiesischen (Allein-)Herrschaftsanspruch genutzt. Auf der Basis des im Menschen verankerten Naturrechts entwickelt Grotius den Gedanken des Völkerrechts, das dem Recht der Einzelstaaten übergeordnet sein soll. Im Mittel1 8 Staatliche Souveränität bildet die Referenz politischen Handelns nach innen und außen. Aufgrund der Theorie der Staatsraison wird der Staat zur letzten Instanz politischer Entscheidungen. Herrschaft wird hiermit ohne Transzendenz alleiniger Grund ihrer selbst und leitet als öffentliche Machtausübung die Trennung von Politik und Religion ein; vgl. Machiavelli 1 9 8 6 : Kap. 18.
punkt seiner Überlegungen steht die Frage, ob ausschließlich eine Macht „das unermeßliche, weite Meer" beanspruchen kann, und er fragt weiter, ob einem Volke das Recht zustehe, „andere Völker zu hindern, untereinander zu verkaufen, zu tauschen oder überhaupt miteinander zu verkehren" (zit. nach Schulze/Paul 1994: 473). Das geschlossene Binnenmeer wird hiermit zum offenen Ozean, der für alle zugänglich sein sollte. Die Idee der Souveränität wird mit dem Ende des 30jährigen Krieges in den vertraglichen Verpflichtungen kodifiziert, die der Friedensordnung des Westfälischen Friedens (1648) zugrunde liegen. Wer gegen diese verstoße, solle bestraft werden, doch die Friedensordnung gelte weiterhin, „und alle Vertragspartner sollen verpflichtet sein, alle und jede Bestimmungen dieses Friedens gegen jedermann, ohne Unterschied der Religion, zu schützen und zu verteidigen" (ebd.: 155). Mit den völkerrechtlichen Vereinbarungen von 1648 wird das europäische Staatensystem als Ordnungsebene institutionalisiert. Eng verknüpft mit diesem System ist die Vorstellung des Gleichgewichts der Mächte. Mit dem Aufstieg Frankreichs tritt Europa als Begriff zunächst gehäuft in den protestantischen Kreisen der englisch-holländischen Politik auf (Wilson/ Dussen 1993: 42). Diese Mächte richten sich auf ein an Pluralität orientiertes System, das gegen interne Bedrohungsfaktoren die Freiheit und den Frieden Europas garantieren soll (vgl. Burke 1980, Hay 1968: 119). England positioniert sich nun in der Allianz gegen die Vormachtstellung Frankreichs als Vorkämpfer für die Freiheit Europas. Wenn der König von Frankreich den spanischen Thron mit seinem Enkel besetze, „werde es ihm möglich, das übrige Europa zu unterdrücken" (zit. nach Schulze/Paul 1994: 161), argumentiert William III. 1701 vor dem englischen Unterhaus. Dieser Machtzuwachs bedrohe den englischen Handel, ebenso tangiere er die Rolle, „die England für die Erhaltung der europäischen Freiheit übernehmen muss" (ebd.). Die „Augen von ganz Europa" seien daher „auf das Parlament gerichtet" und man werde erkennen, „ob sie (die Abgeordneten, d.V.) ernstlich wollen, dass England die Waage Europas in Händen behalte und an der Spitze der protestantischen Christenheit stehe" (ebd.). Nach dieser Rede erhält der König die Kriegskredite. England greift seitdem in die europäische Gleichgewichtspolitik ein und gewinnt schließlich gegen Frankreich die Herrschaft über die Weltmeere. Der Friedensvertrag von Utrecht (1713) bekräftigt das Gleichgewicht, „weil die Sicherheit und Freiheit
Theresa Wobbe: Die Verortung Europas in der Weltgesellschaft Europas keinesfalls die Vereinigung der Kronen Frankreichs und Spanien auf einem Haupte zuließen" (zit. nach Schulze/Paul 1 9 9 4 : 165). Bei John Locke wird die Formel des Gleichgewichts zum Bestandteil europäischen Kulturbewusstseins. Durch die Verpflichtung auf völkerrechtliche Normen wird eine gemeinsame Bezugsebene, eine Zone des Völkerrechts in Europa geschaffen, während die Kolonien und Handelsniederlassungen davon ausgeschlossen sind. 1 9 Gleichwohl vollzieht sich der Kampf um das Gleichgewicht vor dem Hintergrund der konkurrierenden Eroberung außereuropäischer Herrschaftsgebiete.
1.3 Externe Vernetzung: Handelsgesellschaften Das Völkerrecht und das Handelsrecht gelten für unterschiedliche Zonen der Welt. Während das erstere grundsätzlich unteilbar blieb, setzte sich im Handelsrecht eine deutliche Trennung zwischen Europa und den Kolonialgebieten durch (Fisch 1 9 8 4 : 77). Faktisch hieß dies, dass Handelsfreiheit nur in Europa galt und dass sich jeder Staat für den Handel in den Kolonien ein Monopol vorbehielt (erstmals vertraglich vereinbart 1 6 0 4 zwischen Spanien und den Niederlanden). Demnach galt Handelsfreiheit in der Regel nur für Gebiete, in denen noch keine europäische Macht über exklusive Rechte verfügte. 2 0 Die europäischen Staaten verständigten sich vertraglich im Völkerrechtsverkehr auf eine Friedensordnung, die nicht für den Handel in den Kolonien galt. Diese Inkonsistenz bot indes genügend Raum für die Entstehung neuer Organisationsformen.
1 9 Z u r Frage, o b die Kolonien damit prinzipiell rechtlos werden, bestehen unterschiedliche Interpretationen des Völkerrechts; vgl. Rein 1 9 2 7 , Fisch 1 9 8 4 : 2 6 , 3 1 , 7 5 . Fisch interpretiert die Nichterwähnung der Kolonien als Indifferenz, nicht aber als bewusst angestrebten Ausschluss. Der Friedensvertrag von Utrecht ( 1 7 1 3 ) gab der englischen Seemacht den Vorzug als regulierende M a c h t . N a c h Rein ( 1 9 2 7 ) gilt das Völkerrecht ausschließlich für das europäische Staatensystem und klammert die Einheiten in den Kolonien und Handelsniederlassungen aus.
M a n versuchte, sich Handelsrechte und Privilegien zu verschaffen und durch Forderung nach dem M o n o p o l Konkurrenten vom Halse zu schaffen. Der Topos der Freiheit der Meere wurde nach Bedarf auch im zwischenstaatlichen Konkurrenzkampf eingesetzt; vgl. Rein 1 9 2 7 : 4 2 . So musste sich Portugal im 17. Jahrhundert allen drei M ä c h t e n öffnen, ohne Gegenleistungen fordern zu können. Für Übersee galt damit nicht ein anderer Rechtstatus oder Rechtlosigkeit, sondern nur ein anderes Handelsrecht, nämlich das der M o n o p o l e (Fisch 1 9 8 4 : 7 8 ) . 20
355
Die Handelgesellschaften sind die sozialen Gebilde, die sich zwischen den europäischen und überseeischen Gebieten, also zwischen rechtlich unterschiedlich geregelten und räumlich weit auseinander liegenden Zonen bewegen. Als solche überbrücken sie den Abstand zwischen Zentrum und Peripherie (vgl. Wallerstein 1974). In der globalisierungsgeschichtlichen und soziologischen Literatur werden diese Organisationsbildungen als Globalisierungsanläufe (Osterhammel/Petersson 2 0 0 3 : 2 5 ) bzw. als Strukturkomponenten der Weltgesellschaft in den entstehenden Funktionssystemen verstanden (Luhmann 1 9 7 1 , 1 9 9 7 : 147ff., Stichweh 2 0 0 0 : 124, 245ff.). 2 1 Während Spanien und Portugal im 16. Jahrhundert ihre Monopolsituation durchsetzen können, verschaffen England, die Niederlande und Frankreich im 17. Jahrhundert dem Prinzip der Konkurrenz Geltung. Nach Grotius (1609) ist das Meer der offene und unbegrenzte Ozean, der von allen befahren werden darf und der keinem Menschen allein gehört (vgl. Schulze/Paul 1994: 4 7 5 ) . 2 2 Dieses Verständnis von der Freiheit des Meeres stellt das spanisch-portugiesische Monopol in Frage, denn das Meer wird im Wettbewerb beansprucht. Die Träger der Überseegesellschaften sind mit Handelsprivilegien ausgestatte Kaufleute, die auf eigene Gefahr und Kosten tätig sind. Das 1 6 0 2 von den holländischen Generalstaaten vergebene Patent für die Niederländische-Ostindische Kompanie verleiht das Recht, „mit Fürsten und Potentaten Bündnisse und Verträge im Namen der Generalstaaten der Vereinigten Niederlande kraft deren Souveränität zu schließen, dort Festungen und feste Stützpunkte anzulegen, Gouverneure, Kriegsvolk und Beamte zur Wahrnehmung der Justiz und anderer nötiger Dienste, zur Erhaltung der Festungen und zur Aufrechterhaltung von Ordnung, Sicherheit, Polizei und Rechtspflege (...) herzustellen" (vgl. Schulze/ Paul 1994: 1019). Faktisch bedeutet dies: „Kein Schiff, kein Hafen, keine Plantage, kein Kontor in der überseeischen Welt ist durch internationales, öffentliches Recht, streng genommen auch nicht einmal durch die
Einen weiteren, neuartigen institutionellen und organisatorischen K o n t e x t stellt das atlantische Sklavensystem dar; vgl. Curtin 1 9 6 9 und die Beiträge in Solow 1 9 9 9 . 2 2 Daher begründen für Grotius die Schenkungen des Papstes an die spanisch-portugiesische Herrschaft keinen Rechtsanspruch. Er geht von der Zuständigkeit des Papstes für die Religion aus, „das M e e r und die Seefahrt aber haben nur Gewinn und Erwerb, kein Werk der Religion zum Ziel, sie stehen mithin nicht in seinem (des Papstes, d.V.) M a c h t b e r e i c h " (zit. nach Schulze/Paul 1 9 9 4 : 4 7 5 ) . 21
356
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Machtverhältnisse zwischen den europäischen Staaten geschützt" (Rein 1 9 2 7 : 44f.). D a m i t werden die europäischen Einsätze im Spiel um M a c h t neu verteilt. H a b e n die Spanier und Portugiesen auf der H ö h e ihrer Herrschaft alle Nichtspanier und Nichtportugiesen zu Piraten erklärt, so werden nun gleichermaßen alle zu Freibeutern und Piraten, und damit ist auch die Chance auf den Wechsel „ f r o m piracy to political p o w e r " eröffnet (Ferguson 2 0 0 4 : 12).23 Unter dem staatlichen Banner navigieren die großen niederländischen, französischen und englischen Handelskompanien in einem maritimen R a u m , in dem sie jeweils auf die K o m p a n i e n anderer europäischer Staaten treffen. Sie erkennen sich als ähnliche Einheiten territorialstaatlicher Referenzsysteme wieder und konkurrieren als solche miteinander. Aufgrund der staatlich verliehenen Privilegien binden diese privaten Projekte politische und rechtliche Gewalten des europäischen Staatensystems an sich und überbrücken auf diese Weise Unsicherheit bei der Eroberung unbekannter Territorien (Braudel 1 9 9 0 , Bd. II: 4 7 5 f f . ) . 2 4 Sie bilden Organisationskerne, die sich „ z u quasi souveränen politischen Körpern herausbildeten, die außerhalb E u r o p a s ihren Geltungsbereich hatten und selbständig gleichsam zwischen Europa und der indischen Welt ihren Platz einnahmen, Königen gleich mit der Gewalt über Krieg und Frieden" (Rein 1927: 45f., vgl. auch Gollwitzer 1 9 7 2 , B d . I : 2 2 3 ) . 2 5 Z u Beginn noch als Handelsunternehmung gedacht, verfügen sie schließlich über eigene Niederlassungen, eigene Diplomaten und eine eigene Armee, so dass sie sich zu einem „ k i n g d o m in its own right" (Ferguson 2 0 0 4 : 2 9 ) entwickeln. Die K o m p a n i e n bilden segmentär gleiche Einheiten, Handelskompanie neben Handelskompanie, die (noch) ausgestattet wie Staaten mit einer Art G e w a l t m o n o p o l in ihren Territorien die Ausbreitung im R a u m betreiben. Die Wieder-
Daher ist der Beginn englischer Seeherrschaft auch nicht eröffnet (Ferguson 2004: 12). Daher sind weniger die Briten als die ersten Empire-Bauer zu verstehen, „but the pirates who scavenged from the earlier empires of Portugal, Spain, Holland and France. They were imperial imitators" (Ferguson 2004: X X X V ) . Diese Konstellation schafft Chancen für den Handel. 2 4 Zum Aufbau und zur Rivalität der verschiedenen europäischen Handelkompanien vgl. Mukherjee 1973; für den organisatorischen Aufbau Ekelund/Tollison 1997. 2 5 Sie handelten nicht im Auftrag, aber wohl im Namen des Staates. Für alle „praktischen Zwecke kann ihr Vorgehen mit dem des Staates in Verbindung gebracht werden". Völkerrechtlich handelten sie „als (autorisierte) Agenten des Staates" (Fisch 1984: 2). 23
erkennbarkeit als soziale Einheiten, also ihre Identität beruht d a r a u f , dass sie jeweils einem bestimmten europäischen Staat zugehören. In weltgesellschaftlicher Sicht sind sie soziale Systeme, die in vollkommen neuen Reichweiten navigieren und „die Rolle vorbereitender Empire-builder" spielen (Gollwitzer 1 9 7 2 , Bd. I: 2 2 , vgl. auch Braudel 1 9 9 0 , Bd. III: 2 3 0 ) . Über die wirtschaftlichen Austauschbeziehungen stellen sie Verbindungen zwischen dem Herkunftsland und der Kolonie her, d. h. sie überbrücken die räumliche Distanz zwischen Zentrum und Peripherie (vgl. Wallerstein 1 9 7 4 und den Beitrag von H a c k in diesem Band). Im Unterschied zu den multinationalen Unternehmen des 2 0 . Jahrhunderts stellen sie staatlich lizensierte M o n o p o l e dar, die enorme Risiken eingehen und ihre Ressourcen bündeln „ f o r what were large and very risky ventures under the protection of government m o n o p o l i e s " (Ferguson 2 0 0 4 : 19). Mit dem A u f b a u der Handels- und Küstennetze, mit der Etablierung weltumspannender Verbindungslinien tragen die K o m p a n i e n zum A u f b a u eines Weltverkehrsnetzes bei (vgl. Darstellung in Braudel 1 9 9 0 , Bd. III: 2 7 ) . 2 6 Z u d e m bilden sie Netzknoten: Ihre Verknüpfung des Küstenhandels mit dem asiatischen Zwischenhandel baut K o m munikation auf. Durch Vereinbarungen und Absprachen mit eingeborenen Autoritäten schaffen sie Austauschbeziehungen, die wiederum Ausgangspunkte für die Verdichtung lokaler und regionaler Interaktionen darstellen. Als Handelsdiaspora stellen sie einen Typus interkultureller Kontaktsituation her, die gegebenenfalls auch zum Kristallisationspunkt regionaler wirtschaftlicher D o m i n a n z werden konnte (Osterhammel 1 9 9 5 : 123). In der Folge entstehen nahezu selbständige miteinander rivalisierende politische Systeme mit Batavia, M a d r a s oder Kalkutta als Zentren sowie ein N e t z von Kolonialdiplomaten, Kolonialmilitärs und Agenten, von denen aus die politischen Fäden weiter gesponnen und Handelslinien ausgebaut werden (Gollwitzer 1 9 7 2 , Bd. I: 2 2 4 ) . Auf diesen Gesichtspunkt wies Adam Smith 1776 in seinem Werk über den Reichtum der Nationen deutlich hin: „Was das Kap der Guten Hoffnung für den Weg zwischen Europa und allen Teilen Ostindiens bedeutet, ist Batavia für den Verkehr unter den wichtigsten Ländern Ostasiens (...) und überdies ist es nicht zuletzt Mittelpunkt und Hauptmarkt für den so genannten ostindischen Binnenhandel, an dem Europäer ebenso beteiligt sind wie eingeborene Inder, und man sieht in seinem Hafen häufig Schiffe aus China und Japan, aus Tonking, Malakka, Cochinchina und von den Inseln Celebes" (zit. nach Schulze/ Paul 1994: 1039). 26
357
Theresa Wobbe: Die Verortung Europas in der Weltgesellschaft Diese Verknüpfungen haben Rückwirkungen auf das Herkunftsland. Sie ermöglichen neben den Verkehrsverbindungen und dem Warenaustausch vor allem den Transfer von Wissen und Personal sowie die Etablierung von Niederlassungen. Um 1 7 0 0 weist die 1 6 0 2 gegründete Niederländische-Ostindische Kompanie in Südostasien, am Kap der Guten Hoffnung und in den Niederlanden insgesamt einen Personalumfang von 3 0 . 0 0 0 Personen auf. Die Handelsgesellschaften sind daher als Innovation im entstehenden System der Weltgesellschaft zu verstehen. Sie weisen eine innerorganisatorische Beweglichkeit und einen internen Kommunikationsfluss mit Strukturbildungseffekten für die Weltgesellschaft auf (Stichweh 2 0 0 0 : 2 5 2 ) . Auf diese Weise spannen sie nach und nach Teile der Welt in regelmäßige Kommunikationsbeziehungen ein. Mit der Handelskolonisation in Südostasien und der Eroberung von Amerika wird Westeuropa zum Ausgangspunkt einer Transformation der Welt. Von Europa aus wird im Handel ein neues Muster von weltweiten Austauschbeziehungen aufgebaut, welches Zentrum und Peripherie verknüpft. Das Gewicht dieses Handels ist zwar noch klein, doch er verbindet bereits weit auseinander liegende Orte der Welt und vermittelt neues Wissen über die Sprache, Religion und Lebensweise außereuropäischer Völker. Diese Handelsbeziehungen repräsentieren nicht nur eine neue Form der Ökonomie, sie tragen auch dazu bei, dass die Karte der Welt erweitert und präzisiert wird. 2 7
2.
Die Verortung Europas in der Welt 1 (1800-1945)
zum Jahrhundert Europas, nämlich der Aufklärung, der Wissenschaft und der Künste, des Handels und des politischen Gleichgewichts. In diesem Jahrhundert vollenden die Europäer, wie William Robertson 1877 unterstreicht, das neue geographische Weltbild: „Nunmehr ist die große Karte der Menschheit (...) mit einem Male aufgeschlagen und es gibt nichts (...), das wir nicht überblicken könnten" (zit. nach Gollwitzer 1972, Bd. 1: 213). Europa ist in dieser Karte die Speerspitze der modernen Entwicklung. Auf die Verortung Europas in der Welt verweist Giambattista Tiepolos Fresko im Würzburger Treppenhaus ( 1 7 5 0 - 1 7 8 3 ) , welches die vier Kontinente Asien, Afrika, Europa und Amerika darstellt. Europa ist zwar auf einer der beiden Schmalseiten dargestellt (vgl. Poeschel 1985: 410ff.), gleichwohl stellt es den Schlüssel zum Verständnis dieses Freskos dar. Dessen Perspektivik ist so gestaltet, dass man von Europa aus auf die anderen Kontinente schaut bzw. Europa den eigentlichen Blickpunkt darstellt (Alpers/Baxandall 1996: 1 5 4 ) . 2 9 Europa, ausgestattet als Blüte der Menschheit mit den Insignien profaner und religiöser Macht, an den Stier gelehnt und umgeben von den personifizierten Künsten trohnt über dem zum Globus geschrumpften Erdball. 3 0 Doch Europa braucht die Welt nicht nur im Zuschauersinne, zur Darstellung der Welt sind für Europa auch alle Kontinente unter einem Himmel erforderlich. Während Münsters Europa im späten 16. Jahrhundert die interne Vernetzung versinnbildlicht, die Binnengliederung des europäischen Staatensystems, wird Europa bei Tiepolo im späten 18. Jahrhundert im Verhältnis zur Außenwelt thematisiert. Die Verflechtung Europas mit Nicht-Europa erfolgt auf einer vertikalen und horizontalen Dimension.
2.1 Die historisch-kulturelle Semantik Vom 16. bis ins 17. Jahrhundert konnten die Begriffe Christentum und Europa noch synonym verwendet werden, im ausgehenden 17. Jahrhundert avanciert Europa zum maßgeblichen Deutungsrahmen der Politik. Die Europäer sehen die Welt nun mit den Begriffen und Maßstäben Europas (Hay 1 9 6 8 : 115ff., Burke 1 9 8 0 ) . 2 8 Das 18. Jahrhundert wird
peoples as the unchallenged Symbol of the largest h u m a n loyalty" (Hay 1 9 6 8 : 1 1 6 ) . 29
A n d r e a P o z z o ( 1 6 4 2 - 1 7 0 9 ) h a t z w a r e r s t m a l s die K o n -
tinente a m D e c k e n g e w ö l b e über d e m L a n g h a u s der K i r c h e S a n ' I g n a z i o in R o m als geschlossenes illusionäres G e m ä l de dargestellt. N a c h einer von ihm aufgestellten B e r e c h nung erscheint die g e m a l t e A r c h i t e k t u r nur e c h t , w e n n die B e t r a c h t e r sich an einer b e s t i m m t e n , a m B o d e n markierten Stelle befinden. „ S t a t t fest a u f einem Fleck zu stehen,
M i t den H a n d e l s k o m p a n i e n ä n d e r n sich die Auftrag-
um zu sehen, wie P o z z o ' s J e s u i t e n m i s s i o n a r e die vier Erd-
geber, N u t z e r und Produzenten der K a r t e n und diese wer-
teile erreichen, k ö n n e n die B e s u c h e r im W ü r z b u r g e r Trep-
den z u n e h m e n d in den arbeitsteilig organisierten
p e n h a u s frei umhergehen und die K o n t i n e n t e a u f eigene
27
Kon-
toren der g r o ß e n H a n d e l s g e s e l l s c h a f t e n hergestellt; vgl.
Faust e n t d e c k e n " (Alpers/Baxandall 1 9 9 6 : 9 ) .
Brotton 1 9 9 7 : 3 9 , 4 2 f . , 180ff., Schneider 2 0 0 4 : 36ff.
30
28
D a s C h r i s t e n t u m verschwindet z u n e h m e n d von der po-
litischen
Bühne,
was
auch
durch
einen
semantischen
Asien ist mit den Insignien der Händler, Raucher, K a -
mele und Elefanten dargestellt, A m e r i k a mit
Indianern,
Z e i c h n e r n und K a n n i b a l e n , Afrika mit der T i e r j a g d , den
Wechsel d o k u m e n t i e r t ist. D a s C h r i s t e n t u m „entered the
Sklaven und den O b e l i s k e n . E u r o p a wird dagegen d u r c h
limbo
den D i s k u r s über die Künste dargestellt.
of archaic
words and
Europe
emerged
for
its
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So verschafft sich im späten 18. Jahrhundert eine neue Dimension des europäischen Überlegenheitsbewusstseins Geltung. Diese nicht mehr in der religiösen Heilsgewissheit, sondern technologisch und zivilisatorisch begründete Superiorität vertieft die kulturellen Grenzziehungen (Osterhammel 1995: 119). Montesquieu (1748) liefert das Kategorienraster für den historisch vergleichenden und kulturellen Diskurs; Adam Smith (1776) führt seine historische Analyse der europäischen Gesellschaftsentwicklung auf der Kontrastfolie Chinas und Indiens durch. Die hier entstehenden universalhistorischen Stufenmodelle sollten für die nächsten 150 Jahre die entwicklungsgeschichtliche Perspektive bestimmen (Osterhammel 1996: 277f., Gollwitzer 1964: 90ff.). Der im 18. Jahrhundert erfolgende Perspektivenwechsel hat allerdings auch eine horizontale Dimension. Führte die europäische Entdeckung der nicht-europäischen Menschen im 17. Jahrhundert zur Bezeichnung des Wilden (vgl. Bitterli 1991), gewinnt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Menschheit als ein von allen Unterschieden abstrahierender Kollektivbegriff Bedeutung. Was zuvor als intern/extern-Unterscheidung (Europa/ Nichteuropa, Christen/Nicht-Christen) gehandhabt wurde, wird nun in dem Kollektivbegriff Menschheit als interne Unterscheidung denkbar. Daher bezeichnet Stichweh diesen Kollektivbegriff als Korrelat der Weltgesellschaft (vgl. Stichweh 2000:33). Kant denkt eine weltweite, über alle Grenzen hinweg reichende Vernetzung der Menschen, die durch das Recht gewährleistet wird. Die Vorstellung von einer weltweiten Verknüpfung systematisiert er in der Idee von der Weltbürgergesellschaft und dem Weltbürgertum, also in der Verbindung aller Menschen als Menschheit (Kant 1975: 41; vgl. Braun 1992: 480ff.). Der Begriff der Menschheit zeigt, dass die Unterscheidung Europas nicht mehr durch eine Außenabgrenzung gewährleistet ist, sondern in eine Binnendifferenzierung überführt wird. Auf diese Weise wird Europa Teil einer umfassenderen Idee, ohne allerdings ,gleich' zu werden. Die um 1800 einsetzenden askriptiven Klassifikationen, die Biologisierung sozialer Distanzen durch den Rassismus und Sexismus muss ich beiseite lassen. Entscheidend für diese veränderte Sicht ist die Verzeitlichung. Vormals externe Unterschiede lassen sich durch Verzeitlichung innerhalb eines umfassenden Zusammenhangs als interne wahrnehmen. Es sind transitive Begriffe wie Entwicklung, Fortschritt, Zivilisierung, Bildung, mit denen der Abstand zwischen dem vormals Wilden und dem Men-
schen eingeholt werden kann (Bödecker 1087f). 3 1
1982:
Zivilisation stellt in diesem Zusammenhang einen Wertbegriff und ein kognitives Vergleichsschema dar. Jedes Volk kann potenziell den Weg in die Zivilisation nehmen, geht diesen Weg allerdings mehr oder weniger schnell. Durch den nach innen genommenen Vergleich lassen sich Kulturen aufeinander beziehen und in der historischen Perspektive als fortschrittliche und rückschrittliche voneinander unterscheiden (vgl. Fisch 1992: 744). Diesem progressiven Schema liegt nicht mehr ein zyklisches, kosmologisches Zeitmuster zugrunde, sondern die in einem Horizont der Möglichkeiten voranschreitende Zeit, so dass die Verschiedenheit zwischen Zivilisationen als interne Unterschiede innerhalb eines MakroZusammenhangs wahrgenommen wird. In diesem Stufenmodell rückt Europa an die fortgeschrittenste Stelle und verschafft im frühen 19. Jahrhundert seiner Überlegenheit durch Abwertung der außereuropäischen Kulturen Geltung.
2.2 Europa erhält eine Zukunft
Die Französische Revolution und ihre Wirkungen entfachen eine vollkommen neue Dynamik. Die Verzeitlichung erreicht den Bereich des Politischen. Europa wird nun in die Vorstellung der Machbarkeit von Gesellschaft und gesellschaftlicher Ordnung hineingezogen. Die praktische Möglichkeit des Umsturzes der alten staatlichen Ordnung ist mit dem Bild einer weltpolitischen Zäsur - dem Theater der Weltgeschichte (Hegel) - verknüpft, die Vergangenheit und Zukunft voneinander trennt (vgl. Luhmann 2000: 209f). Dieser Einschnitt reicht weit über Europa hinaus, die Delegitimierung des ancien régime hat globale Effekte und treibt als „culture of opposition" (Bayly 2004: 101) auch die Krise der alten Ordnungen in Asien, Afrika und Amerika voran. Für die Europasemantik gilt, dass sie den zwischenstaatlichen Bereich verlässt und in die entstehende je nationale politische Öffentlichkeit wandert (vgl. 31
Der ,Wilde' löst im Dual Mensch/Barbar den letzteren ab. Im Völkerrecht gibt es bereits die Gemeinschaft aller Menschen und eine in sich gestufte Menschheit. In der Dreistelligkeit: Tierheit, Menschheit, Vernunftheit ist das Verhältnis universalistisch formuliert, und es bezieht sich potenziell auf alle Gegenden der Welt; zugleich kann darin ein Rückstand gesehen werden, der aufzuholen ist (Stichweh 2000: 80). Im späten 18. Jahrhundert folgt dem zweistellig - die Gegenbegrifflichkeit von Mensch und Bürger; vgl. Bödecker 1982: 1087.
Theresa Wobbe: Die Verortung Europas in der Weltgesellschaft Luhmann 2000: 209). Im Schema von Fortschritt und Reaktion nehmen die verschiedenen Parteien Europa für sich in Anspruch (zum Folgenden vgl. Gollwitzer 1964: 103ff.). Steht das neue Europa für die Abschaffung des ancien régime, die Volkssouveränität, den konstitutionellen nationalen Verfassungsstaat, so verbürgt das alte Europa die universalen Reichsideen. Während das erstere Europa aus Verfassungsstaaten besteht und die Nation zur entscheidenden kollektiven Identität wird, überbrückt im zweiten Falle die Reichsidee oder die Heilige Allianz die partikularen Differenzen des Kontinents. Die Spaltung in den Vorstellungen von Europa wird durch die Unterscheidung religiös und weltlich vertieft. Schafft das neue Europa die Religion als Herrschaftsorganisation und Deutungssystem ab, sieht die konservative Position im christlichen Europa das Fundament einer stabilen Ordnung. Die zur Heiligen Allianz zusammengeschlossenen Mächte Österreich, Preußen und Russland erklären 1815, „ihre gegenseitigen Beziehungen auf die erhabenen Wahrheiten zu gründen, welche uns die Religion des göttlichen Heilands lehrt (...) sie werden sich ihren Untertanen und Armeen gegenüber als Familienväter betrachten und dieselben im Geiste der Brüderlichkeit lenken" (Schönbrunn et al. 1980: 27). In seinen 1816 im Exil auf St. Helena verfassten Memoiren hält Napoléon dagegen fest: „Ich bin gezwungen gewesen, Europa durch die Waffen zu bändigen (...) Ich habe die im Sterben liegende Revolution gerettet (...) Ich habe Frankreich und Europa neue Ideen eingeimpft, die niemals vergehen werden" (zit. nach Schulze/Paul 1994: 192). In der Tradition der französisch-englischen Konkurrenz polarisiert Napoléon Europa als kontinentalen Zusammenschluss gegen die maritime Vorherrschaft Englands. 32 Damit wird Europa quer zur alten Alternative von Universalmonarchie und Gleichgewicht in die Opposition von Kontinentalität und Ozeanität gedrängt: als Kontinent freier Völker und Barriere gegen das Seemonopol Englands sowie gegen Russland (vgl. Gollwitzer 1964: 105-1 I I ) . 3 3 Vom „Gesamtstaat Europas", vom „europäisch(en) Weltbund" (zit. nach ebd.: 122) werden Russland und England ausgeschlossen. 34 12 Napoléon schließt mit folgender Formulierung an Richelieus Konzept der französischen Vormachtpolitik an: „Frankreich als Kapitale, Europa als Provinz, als Gegenstand der Eroberung" (zit. nach Gollwitzer 1964: 106). 33 Vgl. für die deutschen Anhänger der europäischen Freiheitsbewegung Gollwitzer 1964: 111 ff., für die Gegner Napoléons ebd.: 126ff..
359
Für den großen Kontrahenten der Revolution, Edmund Burke, fällt England daher die Aufgabe zu, als Kontrollmacht über das von Napoléon zerstörte europäische Gleichgewicht zu wachen. Burkes Wendungen „Commonwealth of Europe", „Community of Europe" bzw. „Christian world and the republic of Europe" (zit. nach Schumann 1964: 105) weisen indes weit über Europa auf die weltpolitische Perspektive des Empire und damit auf den globalen Kontext der „Converging Révolutions" um 1800 hinaus (vgl. Bayly 2004: Kap. 3).
2.3 Interne und externe Vernetzungen Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird nicht mehr zwischen dem innereuropäischen und außereuropäischen internationalen System unterschieden (vgl. Kleinschmidt 1998: 250ff.). 3 5 Nun ist die Rede von der Weltpolitik und vom Weltgleichgewicht (vgl. Rein 1927: 77). Für das Bewusstsein von weltweiter Kommunikation und für die Beschreibung dieser Erreichbarkeit und Verknüpfung reicht die Idee Europa nicht (mehr) aus. Die Erfahrung von Interdependenz und Verknüpfung verschiedener Teile der Welt, die auch den gesellschaftlichen Verkehr meint, 3 6 geht über Europa hinaus. Der Göttinger 34 Die Romantiker finden und erfinden dagegen andere Welten; vgl. Lützeler 1982. Sie erzeugen das neue Abendland, eine Kontrastfolie zu Aufklärung, Rationalismus und Partikularismus. In dem Kampf zwischen alter und neuer Welt bedarf es eines dritten Elements, das Novalis in dem noch „schlummernden Europa" (Novalis 1799: 515) sieht. Hiermit ist das religiöse, nicht-protestantische Europa gemeint, das „ohne Rücksicht auf Landesgrenzen" zur „Vermittlerin der alten und neuen Welt wird". Denn: „Die anderen Weltteile warten auf Europas Versöhnung und Anerkennung, um sich anzuschließen und Mitbürger des Himmelreichs zu werden" (ebd.: 517). Auch bei dieser Stiftung eines Weltverhältnisses fällt die Bezugnahme auf das Weltbürgertum und die Zivilisation ins Auge. 35 Für das ausgehende 18. Jahrhundert spricht Rudolf Stichweh vom „Transfer aller Attribute, die das 18. Jahrhundert noch Europa zuschreiben konnte, auf den Weltbegriff" (Stichweh 2000: 10). Insgesamt ist für die Zeit um 1800 die Zunahme von Weltkomposita reichhaltig belegt. Seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ist von Welthandel die Rede, Kant spricht vom Weltbürgertum (1784), Schiller von der Weltgeschichte (1789) und Goethe später (1827) von der Weltliteratur; vgl. Braun 1992: 480, 481. Einige Jahre vor dem Kommunistischen Manifest ist bei Mallinckrodt und Rotteck 1814 über die Weltrevolution zu lesen; vgl. Gollwitzer 1972, Bd. 1: 32ff. 36 Zur reichen Assoziationslandschaft seit der Mitte des 18. Jahrhunderts - zur Zunahme von Lesegesellschaften, learned societies, Logen, Zirkeln, zur Geselligkeitseuphorie und Leselust sowie zum Dual von Geselligkeit und
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Historiker A.H.L. Heeren etwa spricht vor 1800 von der Überhöhung des europäischen in ein Weltstaatensystem (vgl. Gollwitzer 1951: 171). Die Einbindung Europas in einen entstehenden globalen Zusammenhang hat Rückwirkungen auf den Herkunftskontext selbst, der nun von ,außen' anders beschrieben wird als von ,innen'. In den Auseinandersetzungen zwischen Englands amerikanischen Kolonien und dem Mutterland entstehen neue Vorstellungen vom Weltgleichgewicht, durch die Europa in die Schranken gewiesen wird und Amerika auf den Plan tritt. Alexander Hamilton mahnt in den Federalist Papers 1788 eine Verschiebung der europäischen Zentralperspektive an: „Die Überlegenheit, die Europa schon seit langem pflegt, hat es dazu veranlasst, sich selbst als die Herrscherin der Welt herauszuputzen und den Rest der Menschheit so zu behandeln, als sei er allein zum Nutzen Europas geschaffen worden (...) Jetzt liegt es an uns, die Ehre der menschlichen Rasse zu retten und diesem unseren anmaßenden Bruder Bescheidenheit beizubringen" (zit. nach Schweigier 1994: 21). George Washington spricht sich 1796 in seiner Abschiedsbotschaft selbstbewusst für den eigenen Weg der Vereinigten Staaten gegenüber Europa aus: „Warum sollten wir unseren Frieden und unsere Prosperität in die Netze von Europas Ehrgeiz, Rivalitäten, Interessen, Stimmungen und Launen verstricken, indem wir unser Geschick mit dem irgendeines Teiles von Europa verbinden?" (zit. nach Schulze/ Paul 1994: 1050). Die Denkschrift aus dem Sekretariat Simón Bolívars zum We/fgleichgewicht aus dem Jahre 1813 stellt ebenfalls eine Resonanz von der anderen Seite der Welt dar: „Neben dem Gleichgewicht, welches Europa da sucht, wo es anscheinend am wenigsten gefunden werden kann: inmitten von Krieg und Umsturz - besteht noch ein anderes Gleichgewicht; nur dieses ist für uns Amerikaner von Bedeutung: es ist das Gleichgewicht der Welt. Der Ehrgeiz europäischer Staaten legt auf die anderen Teile der Welt das Joch der Knechtschaft; alle diese aber sollten gemeinsam versuchen, ein Gleichgewicht zwischen ihnen und Europa herzustellen, in der Absicht, das Übergewicht Europas zu vernichten. Das ist es, was unter einem Gleichgewicht der Welt zu verstehen ist; es sollte ein Gegenstand amerikanischer Politik werden" (zit. nach Gollwitzer 1951: 177). 37
Öffentlichkeit - vgl. die transnationale Perspektive bei H o f f m a n n 2 0 0 4 . Z u r Ablösung vom ständischen Gesellschaftsbegriff vgl. Riedel 1979: 746ff.. 37 Diese Vorstellung vom Weltgleichgewicht ist auch im Kontext der beginnenden Pan-Amerika-Bewegung zu sehen, die zunächst aus der Perspektive des südlichen Ame-
Zehn Jahre später erfolgt die Monroe-Doktrin (2. 12. 1823), mit der die Vereinigten Staaten von Amerika sich prinzipiell gegen Interventionen durch europäische Mächte erklären. Die Doktrin besagt, dass „wir jedweden Versuch ihrerseits, ihr System auf irgendwelchen Teil dieser Hemisphäre auszudehnen, als gefährlich für unseren Frieden und unsere Sicherheit ansehen würden" (zit. nach Schulze/Paul 1994: 1055). Den europäischen Staaten wird das Interventionsrecht in die westliche Hemisphäre (sie!) abgesprochen („Amerika den Amerikanern!"; Adams 1993: 277f.). Die MonroeDoktrin symbolisiert eine weltpolitische Wende, da sie Nord- und Südamerika als eigene Hemisphäre definiert. Im Unterschied zu früheren zwischen unmittelbar Interessierten geschlossenen Verträgen liegt in diesem Fall zudem nur die einseitige Erklärung einer einzigen Macht vor (Fisch 1984: 92). Die Vorstellung des Weltgleichgewichts und die Monroe-Doktrin verweisen auf eine Dezentrierung des politischen Systems. Nord- und Südamerika bilden von nun an nicht mehr die koloniale Außenwelt Europas, sondern ein eigenes System. Die spätere Theorie der Weltreiche reflektiert diesen Übergang des europäischen Mächtesystems, „in ein in der Zahl reduziertes Weltstaatensystem, d.h. die auf Europa konzentrierten fünf oder sechs Großmächte werden abgelöst durch wenige Weltmächte neuen Typs" (Neitzel 2000: 16). Während das internationale System nur noch als ein System wahrgenommen wird, nimmt in Europa selbst das Bewusstsein von der internen Differenzierung zu. Seit der Französischen Revolution ist die Nation als neues Modell der politischen Vergemeinschaftung auf die Tagesordnung gerückt und damit auch das Erfordernis, die Möglichkeit grundlegender Umbrüche des Status quo zu verhindern. Außerdem haben sich mit dem Aufstieg Preußens und Russlands die Kraftzentren geändert. Europa wird nun mit einem Modell des Gleichgewichts beschrieben, in dem Preußen, Russland, Österreich, England und Frankreich ein ,Konzert' bilden. Europa wird aber auch als Familie der Nationen definiert. In beiden Fällen wird versucht, unterschiedliche und spannungsgeladene Einheiten auf eine gemeinsame größere Ordnung zu beziehen. Auf diese Versuche einer kognitiven Re-Strukturierung Europas verweist auch die Entstehung des Ost-Europa-Begriffs. Auf dem Wiener Kongress (1815) zur Neuordnung Europas wurde über die Notwendigkeit nachrika eine politische O r d n u n g für den gesamten amerikanischen Kontinent anstrebt.
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gedacht, zwischen Frankreich und Russland ein spannungshemmendes Element zu schieben; dieses Intermediäre wurde nun als Mitte Europas, als Mitteleuropa bezeichnet (Lemberg 1985: 70, Griewank 1943). Erst aus dieser neuen Klassifikation der Mitte erschließt sich die von West und Ost. Bis ins frühe 19. Jahrhundert galten Russland, Polen und das heutige Skandinavien als nordische Länder. Entsprechend war die Gleichgewichtstheorie nach Norden und Süden ausgerichtet; hierin nahm Preußen eine Zwischenstellung ein. 3 8 Im Zuge der Neuordnung auf dem Wiener Kongress rückt - aus der Perspektive von Westen her auf Mitteleuropa - das mächtige, bislang als nördlich klassifizierte Russland in den Osten und wird in der Folge als östliche Macht bezeichnet. Im Zuge dieser „Drehung von Norden nach Osten" (Lemberg 1985: 60, Schenk 2 0 0 2 ) entwickelt sich der Begriff Osteuropa zwischen dem Wiener Kongress und dem Krimkrieg. Während in Europa die Differenzierungen zunehmen und die politischen Bewegungen für die Nation nicht mehr zu übersehen sind, setzt nach 1 8 5 3 eine aggressive Kolonial- und Freihandelspolitik ein mit dem Ziel, die europäische Kontrolle zu globalisieren. Das wichtigste Mittel zur Durchsetzung dieser Politik stellt die Androhung von Gewalt dar. Obwohl die Großmächte ab 1 8 8 2 als imperialistische Mächte zunehmend mehr Spannungen und Kriegspotenziale untereinander aufbauen, konvergiert ihre Expansionspolitik in der Vorstellung von einer gemeinsamen europäischen Zivilisation und deren Verbreitung. Die entscheidende Differenz in Relation zu den Kolonisierten wird durch den Zivilisationsunterschied markiert. Aus diesem Blickwinkel schrumpfen die nationalen Unterschiede partiell und entlang der colour line rücken europäische Gemeinsamkeiten in den Vordergrund (Frevert 2 0 0 3 : 78ff.). Die im Außenverhältnis erzeugte Zivilisationsdifferenz fungiert für das europäische Binnenverhältnis als gemeinsamer semantischer Bezug. Die imperialistische' Zentralisierung politischer Macht und die zeitgenössische Verdichtung und Beschleunigung des ,Weltverkehrs' befördern im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Wahrnehmung einer räumlichen Schrumpfung Europas. Der Amerikareisende, Verleger und Politiker Julius Fröbel
Diese Zuordnung Skandinaviens und Russlands zum Norden ist auf das antik-römische Weltbild zurückzuführen. Auf dem Wiener Kongress stellte die Diplomatie die Fundamente des Nord-Süd-Dualismus zum ersten Mal grundsätzlich in Frage. Aber es dauerte noch bis in die 1 8 3 0 e r Jahre, bis man von den östlichen Mächten sprach; vgl. Lemberg 1 9 8 5 : 50ff. 38
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formuliert in der Jahrhundertmitte bereits im Imperfekt: „Das europäische Abendland war die zivilisierte Welt selbst und hatte keinen Grund, sich noch besonders als solches zu konstituieren. Der Gegensatz einer ebenbürtigen Außenwelt fehlte ihm" (Fröbel 1859: 64f.). Im letzten Drittel des 19. Jahrhundert hat sich dies geändert (vgl. Grunewald 1996: 75ff., Kaelble 2 0 0 1 : 70ff.). In diesem Zeitraum teilen imperialistische Staaten die Welt in präzise umgrenzte Territorien und Blöcke auf 3 9 , doch zugleich setzt auch die Selbstbeschreibung Europas als regionale und kontinentale Größe ein. Die Versuche im 19. Jahrhundert, innereuropäische Konflikte durch imperialistische Strategien zu externalisieren, sind weltweit zunehmend schwieriger zu realisieren und mit dem Beginn des 1. Weltkriegs misslingen sie (vgl. Bayly 2 0 0 4 : Teil IV, Geyer/ Bright 1 9 9 5 , Hobsbawm 1989). 2.4 Europa wird zur .alten' Welt Der Krieg zerstört das europäische Staatensystem. Europa wird nun zur ,alten' Welt (Rosenstock-Huessy 1951: 44). Nicht mehr Überlegenheit, sondern Bedrohung, nicht mehr Ausdehnung, sondern Schrumpfung kennzeichnen die Selbstbeschreibung Europas: „Das Weltbild hat sich gewandelt. Europa, seit einem Jahrtausend der Mittelpunkt, das schlagende Herz des geistigen und wirtschaftlichen Lebens der Welt, liegt ermattet am Boden (...) Europa war ,die Welt' (...) Fast scheint es so, als ob an der Schwelle des neuen Zeitabschnittes sich der Welt Mittelpunkt vom europäischen Boden löse und hinüberrücke in die Westhalbkugel der Erde" (Wütschke Nachwort 1 9 2 2 , in: Wütschke 1935). Im 19. Jahrhundert sah Europa sich als Maßstab für weltweite Entwicklungen, nun herrscht Unsicherheit darüber, wofür Europa steht (Kaelble 2 0 0 1 : 2 3 8 ) . Das führt einmal zur Beschwörung vom Untergang des Abendlandes, zum anderen zur Befürchtung, Europa könne auf der Weltbühne
Die Beschreibung der Gewissheit über den Fortschritt und die Zentralität Europas steht im 19. Jahrhundert im Vordergrund. Europa wird als Gravitationszentrum beschrieben, wo der „eigentlich aktive Weltverkehr" (Schulz 1 8 4 6 : 5 3 2 ) stattfindet, demgegenüber andere Kontinente „in Erstarrung" versunken sind (ebd.: 5 2 8 ) . Doch in dieses Bild von unbegrenzter Mobilität und Produktivität mischt sich bereits die Vorstellung von räumlicher Begrenztheit: Hier „drängt sich auf dem engsten Raum die höchste Kraft des Völkerlebens zusammen (...) In Europa ist überall Bewegung, Fortpflanzung und nach allen Richtungen ausströmendes Leben" (ebd.: 5 2 7 ) . 39
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„zum Gespött der Zuschauerkontinente" (Platz 1926: 4) werden. Eine politische Reaktion auf diese Relativierung Europas in der Welt stellt das Pan-Europa-Konzept dar (vgl. Coudenhove-Kalergi 1926). Dieses reflektiert die Regionalisierung Europas und zielt auf eine (kontinental-)europäische Integration (vgl. Delanty 1995: 107ff., Wilson/Dussen 1993: 95ff.). 40 Den Ausgangspunkt bildet die veränderte globale Konstellation, die in einer Verschiebung der Zentrum-Peripherie-Relationen besteht: „Aus dem Mittelpunkt der Welt ist Europa in deren Peripherie gerückt" (Coudenhove-Kalergi 1926: 15). 41 Das Projekt einer politischen, wirtschaftlichen und militärischen Konföderation aller kontinentaleuropäischen Staaten orientiert sich ausdrücklich am Vorbild der entstehenden Pan-Amerikanischen Union (ebd.: 61,65,66). Anders als aus der Perspektive der Überlegenheit des 19. Jahrhunderts gilt Europa nun „als Objekt der Weltpolitik, deren Subjekt es einst war (...) Wie gestern China und die Türkei, wird morgen Europa von England, Russland und Amerika in Interessensphären aufgeteilt werden" (ebd.: 25). Europa rückt in eine Stellung, die der europäische Kolonialismus und Imperialismus bislang außereuropäischen Systemen zugemutet hat. 4 2 Der politische Begriff Pan-Europa klammert England 40
Die Pan-Europa-Idee enthält K o m p o n e n t e n , die für den europäischen Integrationsprozess nach 1945 relevant werden. Dabei wird an die im 19. J a h r h u n d e r t sich weltweit verbreitenden, rassisch, religiös und ethnisch unterschiedlich stark imprägnierten Konzepte der Pan-Ideologien und -Bewegungen a n g e k n ü p f t ; vgl. Gollwitzer 1972, Bd. II: 63ff.. Die übernationalen ethnopolitischen Vorstellungen der Pan-Bewegungen reagieren auf das Prinzip des Nationalstaats als territorial umgrenzte Einheit und auf seine imperiale Form des nationalen M a c h t s t a a t s , mit d e m im 19. J a h r h u n d e r t die Prozesse territorialer Zentralisierung vorangetrieben werden. Auf diese Weise reflektieren PanIdeologien den Sachverhalt, dass die Welt bereits in politisch umgrenzte territoriale Z e n t r e n aufgeteilt ist und dass .kleinere' Einheiten im Vergleich zu den existierenden G r o ß m ä c h t e n .allein' über zu geringe Ressourcen verfügen.
und die Sowjetunion aus (ebd.: 34), schließt indes die Kolonien in Afrika ein (ebd.: 35f.). Er reflektiert aus (kontinental-)europäischer Sicht ein international fragmentiertes politisches System, das sich durch unterschiedliche großräumige Integrationsformen, durch eine heterogene Binnendifferenzierung in Form von Nationalstaaten und Imperien auszeichnet. In dem im frühen 20. Jahrhundert einsetzenden Europadiskurs sind zudem Stimmen zu vernehmen, die angesichts des weltpolitischen Bedeutungsverlusts an Europa appellieren (vgl. Blum 2001, Lützeler 1987). Rosenstock-Huessy bezeichnet beide Reaktionen als Reflex auf Nivellierungstendenzen: „Europa wird hier bereits von außen und oben auf der Landkarte als ein Erdteil wie alle anderen angesehen. Dagegen kämpfen andere Gruppen noch um den Rang der europäischen Kultur" (RosenstockHuessy 1951: 35). 4 3 Angesichts der Relativierung von Europa wendet sich unter den Bedingungen der Verlusterfahrung das vormals Expansive in zunehmendem M a ß ins Appellative; Europa wird zu einem Appellbegriff (Blum 2001: 155). 44 Als die nationalsozialistische Expansions- und Raumpolitik die Existenz Europas in neuer Weise aufs Spiel setzt (vgl. Wilson/Dussen 1993: 106ff.), macht der Widerstand dagegen Europa zum gemeinsamen Bezugspunkt für Nachkriegspläne. Die Förderationspläne der unterschiedlichen nationalen Widerstands- und Exilgruppen knüpfen dabei zum Teil an die Initiativen aus der Zwischenkriegszeit an (Knipping 2004: 29ff.) und entwickeln daraus heterogene Konzepte für das Nachkriegseuropa (vgl. die Dokumentation in Lipgens 1968). Die Vorstellungen reichen von einem neuen, geistigen Europa über einen europäischen Staatenverbund bis hin zu föderalen Konzepten, die einen Verzicht nationaler Souveränitätsrechte nicht mehr ausschließen (vgl. ebd.: 153ff.; 388ff.). In das erste Jahrfünft nach dem Krieg fällt die große Zeit der politischen Europasemantik, die der Gründung des Europarats und der Montanunion vorausgeht (vgl. Swedberg
41
Ähnliche Diagnosen, aber a n d e r e O p t i o n e n enthält das Mittel-Europa-Konzept; vgl. N a u m a n n 1915. Dieser führt dieses P h ä n o m e n auf das „neue System der W e l t m ä c h t e " (ebd.: 18) zurück: England sei längst eine interkontinentale Weltmacht g e w o r d e n und d a m i t aus E u r o p a herausgewachsen. Russland wiederum sei durch die Revolution zu einer eurasischen Weltmacht angewachsen und der Aufschwung Asiens kündige sich in dem Aufstieg J a p a n s an. W ä h r e n d schließlich der amerikanische Kontinent einen A u f s c h w u n g erlebe, sei E u r o p a in die Bedeutungslosigkeit gestürzt (Coudenhove-Kalergi 1926: 15). 42 Daher fordert Coudenhove-Kalergi (1926: 26): „Europa den E u r o p ä e r n " .
4!
O d e r in den Worten von G . H . Keyserling (1928: 442): „ E u r o p a entsteht, weil das allen E u r o p ä e r n G e m e i n s a m e angesichts des näher gerückten und übermächtigen nichteuropäischen M e n s c h e n t u m s an Bedeutung gewinnt gegenüber dem, was uns trennt, d a m i t neue Faktoren gegenüber früheren im Bewusstsein vorzuherrschen beginnen". 44 N a c h Blum (2001: 150) wird mit Appellbegriffen z w a r eine Sache oder ein Sachverhalt bezeichnet, „von denen aber ein Appell als H a u p t b e z e i c h n u n g übrig bleibt, w e n n alle Denotationsweisen und K o n n o t a t i o n e n geklärt sind, und dies so sehr, dass der Appell letztlich die eigentliche Bedeutung a u s m a c h t " .
Theresa Wobbe: Die Verortung Europas in der Weltgesellschaft 1 9 9 4 ) . In dem M a ß e , in dem das europäische Selbstverständnis sich regionalisiert, rückt eine institutionelle Zusammenführung Europas erstmals in realistische Reichweite. Die Vormacht Europas, die mit der räumlichen Expansion an der Schwelle zur Neuzeit einsetzt und sich seit dem späten 18. Jahrhundert weltweite Geltung verschafft, wird durch den Ersten Weltkrieg relativiert und durch den Zweiten Weltkrieg zerschlagen. Die Europasemantik des frühen 2 0 . Jahrhunderts und die politischen Integrationsüberlegungen reflektieren diesen Verlust der europäischen Vormacht und die Begrenzung Europas. In dem M a ß e , in dem die Umwelt Europas - der Aufstieg der USA und Russlands, die Entstehung der Unabhängigkeitsbewegungen in den Kolonien - als Einflussgröße wahrgenommen wird, verändert sich die europäische Selbstbeschreibung. Diese wird zunehmend durch einen Wechsel von Überlegenheit zu Bedrohung bestimmt. Das Expansive Europas, das Ausgreifen auf die Welt, wandelt sich in ein Verhältnis zur Welt, das sich durch Begrenzung und Verkleinerung auszeichnet und Europa als eine regionale Einheit neben anderen beschreibt.
3. Die Verortung Europas in der Welt 2 (nach 1945) Anders als nach dem ersten Weltkrieg erlebt Europa als ehemaliges Zentrum nach 1 9 4 5 einen umfassenden Machtverlust (vgl. Therborn 2 0 0 0 : 35ff.). Der Zerfall militärischer und wirtschaftlicher Eigenständigkeit, die territoriale Schrumpfung und die bis Ende der 1 9 5 0 e r Jahre weitest gehend abgeschlossene Entkolonialisierung sind Merkmale davon. Der Ost-West-Konflikt, der seit 1 9 4 7 zwei Seiten des Kontinents voneinander trennt, stellt eine weltpolitische Spaltung dar, die in Europa handgreiflich erfahrbar ist (vgl. Schulze 1 9 9 9 : 4 3 7 f f . ) . Die territorialen Außengrenzen Europas sind erstmals in der Geschichte eindeutig bestimmt und werden durch zwei Supermächte stabilisiert. Wie beschreibt Europa sich in dieser neuen Konstellation und wer ,spricht' für Europa? Welche spezifischen Sedimente der historischen Selbstbeschreibung werden aufgegriffen und welche neuen Elemente kommen hinzu? Die folgende Darstellung beschäftigt sich mit zwei Phasen, nämlich mit der Gründungsphase des Integrationsprozesses und mit der in den frühen 1 9 7 0 e r Jahren beginnenden Identitätspolitik. Nach 1 9 4 5 bestimmen zunächst die unterschiedlichen nationalen Widerstands- und Exilgruppen
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(vgl. Knipping 2 0 0 4 : 2 9 f f . , vgl. die Dokumentation in Lipgens 1 9 6 8 ) , deren Höhepunkt die EuropaKonferenz in Den Haag (8.-10. M a i 1 9 4 8 ) darstellt, die Europasemantik (vgl. Swedberg 1 9 9 4 ) . Zu den Zielen der europäischen Bewegung gehört, „das Bewusstsein über das europäische E r b e " zu entwickeln und zu erhalten (vgl. D H E I , Bd. 4 : 333ff.). Im Oktober 1 9 5 0 folgen die Gründung des Europäischen Kulturzentrums in Genf und des Europäischen Kollegs in Brügge (vgl. D H E I , Bd. 4 : 353ff.). M i t dem Bezug auf die Kultur und das Erbe Europas wird in diesen Jahren eine Zeitbrücke bis hinter das 19. Jahrhundert geschlagen, zurück in die Aufklärung oder in das Reich Karl des Großen, auf jeden Fall aber in eine Zeit, die dem europäischen Nationalismus vorgelagert ist (vgl. Swedberg 1 9 9 4 ) . Angesichts der immensen Zerstörung des Krieges und der von deutscher Seite begangenen Verbrechen eignet sich die Nation nicht (mehr) als legitime Kategorie für eine kollektive Selbstbeschreibung. Die vertraglichen Vereinbarungen nach 1 9 4 5 nehmen daher auch nicht Bezug auf die Nation, sondern auf eine gemeinsame europäische Überlieferung, an die erste Stelle rückt indes die Menschheit insgesamt. So bezieht die Präambel des 1 9 4 9 gegründeten Europarates sich auf die „Erhaltung der menschlichen Gesellschaft und der Zivilisation", also auf die Menschheit als ein Kollektiv, das alle einschließt; Europa wird Teil einer größeren Einheit und eines übergeordneten normativen Rahmens. Als gemeinsames „ E r b e " Europas folgen die persönliche und politische Freiheit, die Herrschaft des Rechts und die Demokratie (vgl. Europarecht 1 9 9 9 : 570).45
Eine weitere Stimme bilden die aus dem Krieg hervorgegangenen Sieger. In ihrer „Erklärung über das befreite E u r o p a " (vgl. Schulze/Paul 1 9 9 4 : 2 5 3 f . ) geben die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion und Großbritannien 1 9 4 5 ihre Zielsetzung bekannt, den Wiederaufbau Europas in den Zusammenhang einer neuen Weltordnung zu stellen. Den normativen Bezugsrahmen bilden die Vereinten Nationen und die Atlantik-Charta. Ebenso verhält es sich beim Vertrag über den Nord-Atlantik-Pakt zwei M o nate nach der Gründung des Europarats. Die Präambel bezieht sich zunächst auf die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen; vgl. ebd.: 2 6 3 . In der 1 9 5 0 unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verpflichten sich die Mitgliedstaaten auf „den Frieden in der W e l t " . Ein „gemeinsames Erbe an politischen Überlieferungen, Idealen, Achtung der Freiheit und Rechtstaatlichkeit" (vgl. Europarecht 1 9 9 9 : 5 8 2 ) stellt wiederum das Verbindende zwischen den europäischen Staaten dar. 45
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Die Gründungsverträge der 1 9 5 0 e r Jahre stellten einen neuen normativen Rahmen dar. Im Unterschied zur zwischenstaatlichen Kooperation des Europarats wird nun eine Zusammenarbeit begründet, die die Geltung nationaler Grenzen transzendiert und erstmals übernationale europäische Institutionen etabliert (vgl. Haas 1 9 5 8 , M o n n e t 1 9 8 0 ) . Zudem setzen diese Verträge andere Akzente, da sie auf die europäische Wirtschaftsintegration, die Zusammenarbeit in nichtkontroversen Sektoren der Wirtschaft, zielen (vgl. Nugent 2 0 0 3 ) . In der Präambel des Vertrags zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1 9 5 0 wird zwar zuerst auf den Weltfrieden und Europas Beitrag zur Zivilisation Bezug genommen. Tatsächlich verbunden werde Europa allerdings nur „durch konkrete Leistung e n " . Die Präambel zum Vertrag der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ( E W G ) beginnt sogleich mit dem „Zusammenschluss der europäischen Völker" und stellt den „wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt" in den Mittelpunkt. Angestrebt wird ein „Ausgleich der strukturellen Unterschiede der europäischen Volkswirtschaften" ( E W G V 1 9 5 7 , Art. 2 und Art. 3) sowie eine soziale Harmonisierung, die sich auf „das Prinzip der Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen auf dem Wege des Fortschritts" (Art. 2) gründet. Im Vergleich zur Semantik des 19. Jahrhunderts ist hier eine entscheidende Modifikation zu erkennen. Fortschritt bezieht sich nicht (mehr) auf europäische Überlegenheit, sondern auf eine übereuropäische normative Ebene. Der M a ß s t a b wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts wird demnach auf (West-)Europa selbst angewandt. Wirtschaftliche Entwicklung und Hebung des Lebensstandards treten gegenüber der kulturellen (nationalen) Differenz in den Vordergrund. Freiheit und Wohlstand verweisen als Elemente der Selbstdefinition auf den normativen Bezugsrahmen einer Welt, in der Europa ein Teil neben anderen ist.
3.1 Die Identität der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union Die Selbstidentifizierung mit Europa als Differenz gegenüber anderen Einheiten wird in den frühen 1 9 7 0 e r Jahren erstmals zum Thema. Nach den günstigen Bedingungen des wirtschaftlichen Aufschwungs der Nachkriegszeit bricht die Außenwelt geradezu in die westeuropäische Ruhe ein. Diese Jahre stehen unter dem Eindruck der Währungs-, Wirtschafts- und Ölkrise. Der Schwung der Nachkriegswirtschaft ist ins Stocken geraten, das W ä h rungssystem versagt, die ostasiatische Wirtschafts-
kraft wird mit Erstaunen zur Kenntnis genommen und der Ölschock sitzt tief. Der Druck auf die Gemeinschaft wird schließlich existenziell, als die Mitgliedstaaten gemäß ihren nationalen Partikularinteressen auf die Ölkrise reagieren. Außerdem befindet sich die Gemeinschaft in ihrer ersten Erweiterungsrunde, auf die die norwegische Bevölkerung mit einem Nein reagiert (vgl. Knipping 2 0 0 4 : 156ff.).46 In dem am 14. Dezember 1 9 7 3 in Kopenhagen veröffentlichten „Dokument über die europäische Identität" halten die Außenminister daher „die Zeit für gekommen, ein Dokument über die europäische Identität auszuarbeiten, mit dem sie vor allem ihre Beziehungen zu den übrigen Ländern der Welt sowie ihre Verantwortlichkeiten und ihren Platz in der Weltpolitik näher bestimmen wollen" (EPZ 1982: 58). Die Kohäsionskraft der europäischen Länder wird in der Überwindung ihrer alten Gegnerschaft gesehen. Ihr distinktives Merkmal, den „unverwechselbaren Charakter und ihre eigene D y n a m i k " (ebd.), erhält die europäische Identität durch die „Vielfalt der Kulturen im Rahmen einer gemeinsamen europäischen Zivilisation" (ebd.). Anders als in der Semantik des 19. Jahrhunderts, die für Europa den ersten Rang in der Welt vorsah, wird Zivilisation nun auf das Binnenverhältnis Europas selbst bezogen. Die Wertegemeinschaft besteht - neben Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, sozialer Gerechtigkeit, wirtschaftlichem Fortschritt und Menschenrechten - aus der kulturellen Vielfalt. Diese Beschreibung hat sich seit den 1 9 7 0 e r Jahren als Grundmuster der europäischen Identitätspolitik bis heute erhalten: Die Formel der kulturellen Vielfalt schließt an die historische Europasemantik, der Bezug auf moderne Werte dagegen an globale Erwartungen an. Diese Koppelung partikularer und universaler Kategorien der Selbstbeschreibung reflektiert den gemessen am 19. Jahrhundert immensen politischen Machtverlust und den Realismus der Nachkriegsjahrzehnte. In der Vergangenheit konnten die Nationen „auf der internationalen Bühne einzeln eine bedeutende Rolle spielen; heute sehen sie sich jedoch weltpolitischen Problemen gegenüber, die sie Mit dem Beitritt Dänemarks, Englands und Irlands vollzieht sich am 1. Januar 1 9 7 3 die erste Erweiterung der Sechs zum „Europa der N e u n " , gefolgt von der sog. Süderweiterung durch Griechenland 1 9 8 1 sowie Portugal und Spanien 1 9 8 6 . Die sog. Norderweiterung findet mit dem Beitritt Schwedens und Finnlands 1 9 9 5 statt. Im Zuge der sog. Osterweiterung wächst die EU 2 0 0 4 auf das Europa der 2 5 ; vgl. Knipping 2 0 0 4 . 46
Theresa Wobbe: Die Verortung Europas in der Weltgesellschaft schwerlich allein lösen können" (ebd.: 60). Diese Erfahrung erhöhter Interdependenz und Asymmetrie, nämlich „die wachsende Zusammenballung von Macht und Verantwortung in den Händen ganz weniger Großmächte" erfordere, „dass Europa sich zusammenschließt und mehr und mehr mit einer einzigen Stimme spricht, wenn es sich Gehör verschaffen und die ihm zukommende weltpolitische Rolle spielen will" (ebd.). Die politische Profilierung Europas nach außen ist daher durch „weltpolitische Verpflichtung" (ebd.) bestimmt. Die Gemeinschaft wird als „ein Element des Gleichgewichts und als ein Pol der Zusammenarbeit mit allen Nationen ungeachtet ihrer Größe, ihrer Kultur und ihres Gesellschaftssystems" (ebd.) beschrieben. Im Unterschied zum imperialen Machtstaat des 19. und frühen 2 0 . Jahrhunderts zeigt sich hier ein neues Verständnis staatlicher Souveränität. Angeknüpft wird an die im Rahmen der Vereinten Nationen institutionalisierte Egalität der Nationalstaaten, d.h. Nationalstaaten sind, unabhängig von der Größe oder Kultur, untereinander gleich im Hinblick auf ihre Souveränität (vgl. Geser 1992).47 Die Kopenhagener Erklärung, die in einem hohen M a ß auf globale Veränderungen zurückzuführen ist, markiert eine grundlegende Wende „zur Formulierung einer wirklich europäischen Politik" (ebd.: 63). Die Instabilisierung der Umweltverhältnisse und der Komplexitätszuwachs fordern zu Grenzziehungen heraus, die der Ost-West-Gegensatz nicht mehr ausreichend gewährleistet. In diesem Rahmen ist auch die angestrebte Erweiterung von der Europäischen Gemeinschaft zur Union zu sehen, die am Ende der Kopenhagener Erklärung angekündigt wird. An dieser Stelle ist daher der dritte Bezugspunkt der Selbstbeschreibung einzuführen. Dieser regelt nämlich die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und stellt die gemeinsam geteilten Normen dar. Der Beitritt zur Gemeinschaft vollzieht sich am M a ß stab des gemeinsamen Besitzstands, d.h. die Beitrittskandidaten haben ohne Einschränkung den bislang erreichten Besitzstand, den sog. acquis communautaire, zu übernehmen und verzichten somit von vornherein auf einen Teil ihrer Souveränitätsrechte. Denn mit der Übernahme der Verträge und des daraus folgenden Sekundärrechts (einschließlich des case law des EuGH) übernehmen sie Verpflichtungen, an deren Vereinbarung sie nicht beVor diesem Hintergrund folgen Erklärungen über die Beziehungen zu den USA, zur OECD, zur Sowjetunion, zu China, zu den asiatischen Ländern und zu Lateinamerika. 47
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teiligt waren (vgl. Gialdino 1995: 1 0 9 6 ) . 4 8 Hierin liegt die Differenz zum europäischen Staatensystem der Neuzeit. Während dieses durch zwischenstaatliche völkerrechtliche Normen verknüpft wurde, überschreitet das europäische Normsystem diese zwischenstaatliche Ebene und verkörpert eine neue institutionelle Struktur, die die erstgenannte zum Teil transzendiert (vgl. Lepsius 2 0 0 0 , Weiler 1991). Als gemeinsam geteiltes Normsystem trägt der acquis communautaire zum Aufbau einer AußenInnen-Perspektive bei. Hierdurch wird auch ein gemeinsamer europäischer Bezugshorizont geschaffen, der die nationale Ebene überwölbt und nationale Geltungsgrenzen der Solidarität relativiert. 4 9
3.2 Institutionalisierung europäischer Identität Wie wird die in den Vertragstexten dokumentierte europäische Identität erzeugt? Worin besteht die Einheit des Verschiedenen und worin das Verschiedene? Wie kann die europäische Identität aufrecht und wach gehalten, also institutionalisiert werden? Die dem Nationalstaat entsprechenden Symbole, wie die Flagge und Hymne, sind in ihrer Aussage eher blass und lassen einen Sonderbezug zur EU vermissen. s 0 Etwas anders sieht es bei der seit 1. Januar 2 0 0 2 eingeführten Währung aus. 5 1 Der sog. Beitritts-acquis reflektiert und institutionalisiert den gemeinschaftlichen Orientierungshorizont (vgl. Gialdino 1995: 1090ff.), an dem sich die Innen-AußenDifferenz messen lässt. Der sog. institutionelle acquis, der die Originalität der Gemeinschaften sichert, soll in den 1970er Jahren das Risiko einer Re-Nationalisisierung verhindern; vgl. Gialdino 1995: 1100. Der sog. Beitritts-a^M/s erhält durch seine Konstitutionalisierung im Vertrag von Maastricht (vgl. Gialdino 1995) eine neue Qualität. Welche originär politischen Probleme damit verknüpft sind, d.h. ob und in welchem Maß die politische Leistungskapazität damit erhöht oder nivelliert wird, soll in einem anderen Zusammenhang diskutiert werden; vgl. hierzu instruktiv Geser 2000. 4 9 Für die Entwicklung neuer Formen von Solidarität und Integration vgl. Münch 2000; für die Ebene der Europäisierung und für Aufbau und Funktionsweise der europäischen Institutionen und Trägergruppen vgl. Bach 1999, 2000a, b; für die organisationale Ebene mit Bezug auf rechtliche Konflikte vgl. Wobbe 2003. 50 Die mit dem Nationalstaat vergleichbaren Symbolisationen der europäischen Identität lassen sich eher als zurückhaltend beschreiben. Die Flagge der Union stellt einen Kreis von zwölf goldenen Sternen auf blauem Hintergrund dar; die Hymne entstammt der Ode an die Freude aus der Neunten Symphonie von Ludwig van Beethoven. Hymne und Flagge sind vom Europarat übernommen worden. Der 9. Mai ist der Europatag, der auf die Erklärung des 48
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Ein Schwerpunkt der EU liegt hingegen in der gezielten Förderung des Austauschs zwischen den Mitgliedsländern, den Regionen und Städten. Die kulturelle Pluralität Europas soll durch Austauschund Lernprozesse erfahren werden, so dass über sie gesprochen wird, dass sie erforscht, erzählt und unterrichtet wird. In den 1 9 7 0 e r Jahren erfolgt der Aufbau der ersten Austauschprogramme im Bildungsbereich. 1 9 7 6 beschließen die Bildungsminister die Errichtung eines Informationsnetzes, das den Austausch zwischen den Bildungs-, Berufs- und Beschäftigungssystemen koordiniert. Das Bildungsinformationsnetz E U R Y D I C E startet 1 9 8 0 . Sechs Jahre später beginnt eine der erfolgreichsten europäischen Identitäts-Initiativen, nämlich der Aufbau des Studentenaustauschs mit dem ERASMUS-Programm (vgl. Maiworm/Teichler 1 9 9 6 ) . Angeknüpft wird hiermit an die bereits im EWG-Vertrag festgelegte Regelung der Freizügigkeit, die Arbeitsnehmern und Arbeitnehmerinnen innerhalb der Gemeinschaft das Recht auf Einreise, Aufenthalt, Zugang zum Arbeitsmarkt sowie Gleichbehandlung garantierte und damit nationale Orientierungen aufweichte. Ein weiteres, inzwischen ebenso erfolgreiches Programm beginnt 1 9 8 5 mit dem Projekt „Kulturhauptstadt Europas" (vgl. Europäischer R a t 1 9 8 5 ) . Es soll hiermit „einer Kultur Ausdruck verliehen werden, die sich in ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer zeitgenössischen Entwicklung sowohl durch Gemeinsamkeiten als auch durch einen aus der Vielfalt hervorgegangenen Reichtum auszeichnet" (ebd.). Mit dem Bezug auf die Stadt knüpft die Identitätspolitik an einer besonderen europäischen Form der Vergesellschaftung an und schafft außer-
französischen Außenministers Robert Schumann zurückgeht, der am 9. Mai 1 9 5 0 mit dem sog. Schumannplan die Gründung einer gemeinsamen Behörde für Kohle und Stahl ankündigte; vgl. Knipping 2 0 0 4 : 59ff. 5 1 Die sieben Banknoten bilden Epochen der europäischen Kulturgeschichte ab, während die Münzen die nationalen Symbole tragen. Mit der Verwendung der Geldmünzen und Geldscheine ist die Koexistenz europäischer und nationaler Symbole Teil des Alltags. Auf allen Scheinen sind Tore, Brücken und Fenster abgebildet. „Das Tor ist ein Sinnbild für den Geist der Offenheit. Das dargestellte Tor ist ein Stilelement aus der griechisch-römischen Antike ein Verweis auf die historischen Wurzeln Europas. Das Fenster ist ein Symbol für den Ausblick auf das vereinte Europa im neuen Jahrhundert. Die auf allen Scheinen abgebildeten Brücken auf der Rückseite gelten als Sinnbild für die Verbindungen zwischen den Völkern E u r o p a s " (Europäisches Parlament 2 0 0 5 : 54f.).
dem den Zugang zum kulturellen Kontext der jeweiligen Region und des betreffenden Landes. Die im Vertrag zur Gründung der Europäischen Union ( 1 9 9 2 ) eingeführte Unionsbürgerschaft zielt darauf ab, die nationale Identifikation der Bürger durch eine europäische zu ergänzen. Auch diese Institutionalisierung geht auf die 1 9 7 0 e r Jahre zurück (vgl. Wiener 1 9 9 8 ) . Neben einem von Erwerbstätigkeit unabhängigen Aufenthaltsrecht haben Unionsbürger in allen Mitgliedstaaten das Wahlrecht zum Europäischen Parlament und das Kommunalwahlrecht, in Drittstaaten den diplomatischen Schutz durch andere EU-Staaten und ein Petitionsrecht beim Europäischen Parlament und dem von ihm eingesetzten Bürgerbeauftragten (Art. 1 8 - 2 2 EUVertrag). Staatsbürger eines Mitgliedstaats können in anderen Mitgliedstaaten unter Berufung auf übergeordnetes Gemeinschaftsrecht zunehmend Rechte geltend machen und gegebenenfalls vor dem Europäischen Gerichtshof einklagen. Der ergänzende und indirekte Charakter dieser Bürgerschaft, die Koexistenz von nationaler und europäischer Zugehörigkeit, wird mit dem Amsterdamer Vertrag ( 1 9 9 7 ) noch einmal ausdrücklich formuliert: „Die Unionsbürgerschaft ergänzt die nationale Staatsbürgerschaft, ersetzt sie aber nicht" (Art. 17 EUVertrag). Die Bürger und Bürgerinnen der EU erhalten einen legalen Status, der nicht auf einer gemeinsamen europäischen Nation gründet. In ihrer Prozessrichtung entkoppelt diese Form der indirekten Mitgliedschaft politische und rechtliche Inkorporation von der Nationalität und etabliert eine neue direkte Rechtsbeziehung zwischen den Bürgern und den Organen der Gemeinschaft. In der Folge ergibt sich eine Koexistenz verschiedener Mitgliedschaften, die den nationalen Bezug nicht aufhebt, aber modifiziert und relativiert (vgl. Wobbe 2 0 0 0 a ) . Dieser mehrdimensionale Bezug ist im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft ( 1 9 9 7 ) in der Verpflichtung der Gemeinschaft zur Förderung und Entfaltung „der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes" (EGV, Art. 151) kodifiziert worden. Erkennbar ist eine verstärkte Referenz auf Kultur, hierzu zählt insbesondere die „Verbreitung der Kultur und Geschichte der europäischen V ö l k e r " sowie der „Schutz des kulturellen Erbes" (ebd.). Die (bislang nicht angenommene) Verfassung enthält erstmals in der europäischen Integrationsgeschichte einen Artikel über die Symbole der Uni-
Theresa Wobbe: Die Verortung Europas in der Weltgesellschaft on. Die bereits 1973 betonte kulturelle Vielfalt soll mit dem Leitspruch der Union „In Vielfalt geeint" (Vertrag für eine Verfassung für Europa 2004, Art. 8) konstitutionalisiert werden. 52 Die Identitätspolitik der EU zielt also auf die Wahrnehmung und Erzeugung kultureller Diversität und fördert dabei die Verknüpfung nationaler und supranationaler Bezüge. Im Binnenverhältnis lässt die EU somit eine interessante Spannung erkennen zwischen der Angleichung von Lebensbedingungen einerseits und der Erzeugung kultureller Vielfalt andererseits, zwischen der Förderung von Konvergenz im Medium des Gemeinsamen Marktes und der von Divergenz im Medium der Kultur. Verstärkt nach 1973, und mit einer neuartigen Dynamik seit 1989, ist die Bezugnahme auf die europäische Vergangenheit und die gezielte Herstellung eines kollektiven Gedächtnisses zu beobachten. 53 Im Außenverhältnis verpflichtet sich die EU auf globale Normen. Das semantische Feld, in dem Europa zur Sprache kommt, hat sich gewandelt. Europa wird von der EU als eine Region neben anderen in der Welt verortet und wird zu einem globalen Normsystem in Bezug gesetzt, das nicht ausschließlich europäischer Herkunft ist. Die Selbstbeschreibungsformel der kulturellen Diversität, die das Reservoir der historischen Europasemantik reinterpretiert, reflektiert diese neue Platzierung. Die EU thematisiert eine Unterscheidung von Europa und Moderne, die im theoretischen Diskurs zum einen als „Provinzialisierung Europas" (Chakrabarty 2002: 303ff.) und zum anderen als die „Vielfalt der Moderne" (Eisenstadt 2000: 9ff.) verhandelt wird.
Fazit In diesem Beitrag wurde untersucht, wie sich mit der Verortung Europas in der Weltgesellschaft die (Selbst-)Beschreibung von Europa wandelt, und, worin sich diese von der Identitätspolitik der EU Eine Informationsbroschüre des Europäischen Parlaments unterstreicht die Bedeutung dieser Devise. Auch mit fortschreitender Einigung werde Europa „nicht zum Schmelztiegel der Kulturen. Die Union wahrt den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt, sie baut politisch und wirtschaftlich auf dem kulturellen Erbe a u f " (Europäisches Parlament 2 0 0 5 : 5 3 ) . 5 ! Das 1 9 9 9 ins Leben gerufene Projekt des „ M u s e e de l ' E u r o p e " schafft einen institutionellen Rahmen für das kollektive Gedächtnis der jüngeren und älteren Spuren der kulturellen Vielfalt, die eine Quelle des Guten und Bösen darstellt; vgl. Banavi/Goossens 2 0 0 1 , Pomian 2 0 0 4 .
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unterscheidet. Drei Schwellen markieren eine grundlegende Veränderung der Selbstbeschreibung. Sie lassen sich unterscheiden nach der Genese Europas, der Verortung Europas als Zentrum der Welt und der Verortung Europas als Teil der Welt. (1) Die Genese der Europaidee ist aus einer Konstellation politischer und kognitiver Umbrüche um 1500 zu erklären. Sie ist eine Folge von Grenzziehungen im Innen- und Außenverhältnis, nämlich der Grenzsicherung gegenüber einer fremden Expansion, der Grenzüberschreitung durch die eigene Expansion und der internen Strukturierung in Folge der konfessionellen Spaltung. Im Zuge dieser vielfältigen Verschiebungen entstanden neue Formen der Raum- und Weltrepräsentation Europas, die mit Hilfe der Drucktechnologie als Karten und Reiseberichte eine rasche Verbreitung fanden und auf die Selbstverortung der Bewohner Europas zurückwirkten. 54 Im 16. und 17. Jahrhundert, so wurde gezeigt, entstanden politisch-rechtlich sowie handelsorganisatorisch interne und externe Verflechtungen mit neuartiger Dichte und Reichweite. Die Expansion Europas spielte sich also von Anfang an in einem globalen Raum ab, in dem umgekehrt Asien, die nahöstlich-islamische Welt, die beiden Amerikas, Afrika und die Südsee „Bezugspunkte für den Selbstentwurf Europas als einer universalen Zivilisation" lieferten (Osterhammel/Petersson 2003: 112). An den Handelskompanien wird deutlich, dass die europäische Ausbreitung Voraussetzungen in ihrer Umwelt vorfand, auf die sie für die Organisation der Expansion zurückgreifen konnte. Insbesondere für Asien gilt, dass die Kompanien durch den Erwerb von Privilegien und Handelsrechten an bestehenden Handelsnetzen und Austauschbeziehungen anknüpften (vgl. Fisch 1984: 37ff., Osterhammel 1996: Uli.). Ohne diese Infrastruktur und Austauschbeziehungen wäre der Aufbau der neuen Organisationsstrukturen schwer vorstellbar. Die europäische Expansion stellt sich demnach nicht als einseitiger Diffusionsprozess dar, sondern im Sinne
52
Auch globalisierungsgeschichtlich wird von einem Einschnitt in der Frühen Neuzeit gesprochen, da von nun an „Globalisierung zumindest ein zentrales T h e m a von Geschichte und Erfahrung wird ( . . . ) von Entdeckungen, Sklavenhandel und .ökologischem Imperialismus'" (Osterhammel/Petersson 2 0 0 3 : 1 0 8 f . ) . In der Geschichte der internationalen Beziehungen stellt die Wende zur Neuzeit einen Umbruch auch in den kognitiven Modellen der staatlichen Beziehungen und ihrer Kommunikationsformen dar; vgl. Kleinschmidt 1 9 9 8 : 7 5 f f , 1 1 4 f f . , 3 9 7 f . 54
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einer ,entangled history' (vgl. Bayly 2004) auch als Verflechtung mit den kolonialen Ausbeutungsbeziehungen. (2) Die zweite Schwelle für die Selbstbeschreibung ist die sogenannte Sattelzeit (Koselleck) um 1800. Das Bewusstsein von der Erreichbarkeit der Welt und der Interdependenz ihrer Beziehungen führt zur Vorstellung von ihrer Schließung. Faktisch korreliert diese zunächst mit einer neuen Phase des Weltverkehrs und des Warenaustauschs, und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einer neuartigen kolonialen Expansion, in den 1880er Jahren mit dem System imperialistischer Ausbeutung. Europa verortet sich darin als fortschrittliche, überlegene Zivilisation, die mit der ,Heilsgewissheit' von Wissenschaft, Technik und Kunst ausgestattet ist. Im Unterschied zur Frühen Neuzeit entsteht nun eine Vorstellung von Europa als Zentrum, das die Welt tatsächlich global klassifizieren, kontrollieren und definieren kann. Die Erreichbarkeit der Welt wird in derselben Zeit mit der Kategorie der Menschheit auch als horizontale Verknüpfung aufgefasst. Anders als in der Frühen Neuzeit werden extern zugeschriebene Unterschiede (Europa/Nichteuropa, Christen/Nicht-Christen) nun als interne Unterscheidungen eines Systems denkbar. Beide Dimensionen der Verflechtung, die vertikale (Fortschritt, Zivilisation, Entwicklung) und die horizontale (Menschheit) werden durch die Verzeitlichung dynamisiert und gestatten daher aus der europäischen Zentralperspektive den Vergleich. Über die Zivilisationsdifferenz bildet sich eine Identität von Europa gegenüber Nicht-Europa aus, während in Europa durch die Binnenstrukturierung nach Nationen die kulturelle Differenz institutionalisiert wird. Um 1800 wird Europa allerdings auch bereits von ,außen' beschrieben und von Amerika aus in seiner Zentralperspektive relativiert. Im ausgehenden 19. Jahrhundert stellen die Vereinigten Staaten von Amerika eine ernst zu nehmende wirtschaftliche und technologische Konkurrenz dar. Seit dem Ersten Weltkrieg erhält der Verlust der Zentrumsposition in der europäischen Selbstbeschreibung zunehmend Platz. (3) Die dritte Schwelle ist die Zeit nach 1945. Die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Verknüpfung zwischen sechs westeuropäischen Staaten steht unter dem Eindruck des europäischen Machtverlustes und der territorialen Schrumpfung. Europa wird zu einem Teil der Welt und das europäische Selbstverständnis regionalisiert sich. Hierbei ver-
ortet sich Europa einmal als Teil der (modernen) Welt durch den Bezug auf Werte wie wirtschaftliches Wachstum und sozialen Fortschritt. Zum anderen baut es eine interne Verknüpfung auf, mit der erstmals nicht nur zwischen Nationalstaaten, sondern über deren Grenzen hinweg eine neuartige institutionelle Struktur etabliert wird. Dieser Aufbau erfolgt zunächst unter dem stabilen Schutzschirm der Ost-West-Teilung; im Zuge der Schwächung dieser Rahmung und der Instabilisierung weiterer Umweltfaktoren treten Fragen nach der europäischen Identität in den Vordergrund. Mit der Formel von der Vielfalt der Kulturen in einer gemeinsamen europäischen Zivilisation bestimmt die Gemeinschaft kulturelle Diversität als Substrat Europas. Hiermit wird die europäische Geschichte der konfessionellen Spaltung, der Kämpfe um Hegemonie und Gleichgewicht, der Konflikte über nationale Differenzen und imperiale Interessen, die alle eine Quelle von Krieg und Zerstörung darstellten, reflexiv als ein Kohäsion begründendes Potenzial gewendet. Die Identitätspolitik der EU stützt sich allerdings nicht nur auf die Europasemantik, sondern insgesamt auf drei Komponenten, nämlich auf ein Sonderbewusstsein von der Einheit kultureller Vielfalt, auf Europa als Teil einer globalen institutionellen Ordnung moderner Werte, sowie auf den gemeinsamen Besitzstand des durch die Integration etablierten Normsystems. Damit zeigt dieser Beitrag, dass sich die europäische Selbstbeschreibung der EU nicht auf die Wiederholung oder einfache Fortsetzung der historischen Europasemantik reduzieren lässt (vgl. Stichweh 2000: 10, auch Geser 2000). Diese Sicht ist zu unscharf. Die Selbstbeschreibung der EU wird aber auch nicht einfach durch die Maschinerie der globalen Rationalitätsmodelle aufgesogen, wie es sich in der resoluten Makroperspektive der WorldPolity darstellt (vgl. Meyer 2005). Dieser Ansatz ist zu schwerfällig, er erlaubt keinen Wechsel des analytischen Fokus' und verhindert daher Nuancierungen und Graduierungen. Es ist treffender, bei der EU von einer Koexistenz, von einem Zusammenspiel verschiedener Dimensionen der Selbstbeschreibung zu sprechen, nämlich von der Ebene der globalen modernen Werte, von der nationalen und europäischen Ebene der kulturellen Vielfalt und von der supranationalen Ebene des EU-Normsystems. Alle drei vermischen und affizieren sich; welcher Ebene mehr Bedeutung oder Schubkraft zukommt, hängt von dem Sachkontext ab und von der Konstellation, in der sich die EU jeweils befindet.
Theresa Wobbe: Die Verortung Europas in der Weltgesellschaft Selbst die Bezugnahme auf die kulturelle Vielfalt ist demnach nicht auf eine historische Stilblüte zu reduzieren, sondern als Übersetzung und Modifikation einiger Sedimente der historischen Europasemantik zu verstehen. Vor diesem Hintergrund ist somit auch die Anwendung der Globalisierungstheorie auf Europa, der zufolge die Affinität zwischen Globalisierung und EU in der „Befreiung der Gesellschaft von staatlicher Kontrolle" (Albrow 1998: 420) besteht, zu grob gestrickt. Dieser Aufsatz hat erste Fragen zum Verhältnis von Europasemantik und europäischer Identität mit Bezug zum Strukturaufbau der Weltgesellschaft vorgestellt. Auf dieser Grundlage erscheint ein Zugang weiter führend, der die wechselseitige Konditionierung globaler, supranationaler und nationaler Ebenen modelliert. Mit anderen Worten: wie entwickelt die EU eine stabile Innen-Außen-Perspektive, die einen symbolischen und strukturellen Bezug zur Verfügung stellt, welche Bedeutung erhalten globale Einflussfaktoren und inwieweit spielt hier die Aktualisierung und Übersetzung semantischer Tradition hinein? Diese Perspektive lässt sich z.B. auf die aktuelle politische Konstellation der EU beziehen, auf die Wechselwirkung von instabilen Umweltverhältnissen und interner Inkohärenz. Dass die EU-Identitätspolitik in einem hohen Maß Symbol- und Gedächtnispolitik ist, zeichnet sich besonders deutlich seit 1989 ab. Die ,Rückkehr' nach Europa leitet auch die Reflexion einer gemeinsamen Geschichte ein, deren Erfahrungen, insbesondere im 20. Jahrhundert, unterschiedlich geteilt werden.
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Unter den Bedingungen von Globalität wäre demnach von zwei Prozessrichtungen auszugehen, die prinzipiell kontingent sind: Zum einen ist eine Abschleifung der historischen Europasemantik durch die globale Ebene zu erkennen, zum anderen findet durch die Verarbeitung dieser globalen Ebene eine Re-Interpretation dieser Semantik für den Aufbau von Differenz statt. Für die Konzipierung dieser Wechselwirkung von struktureller Ähnlichkeit und kultureller Differenz ist ein historischer Bezugsrahmen gewinnbringend. Dieser erlaubt auf Europa als sozialwissenschaftlichen Begriff eine reflexive Perspektive, nämlich diesen Begriff zu historisieren, seine Kontingenz zu rekonstruieren und ihn an die Weltgesellschaftsdebatte heranzuführen.
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Seit dem Ende der Spaltung Europas werden interne Grenzen durchlässiger und aufgrund der territorialen Ausdehnung stehen die externen Grenzziehungen, vor allem nach Südosten, zur Debatte. Die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei führt zu der Frage, wie weit das gemeinsame Erbe reicht und wo Europa definitiv endet (vgl. Leggewie 2004). Die Union, die sich seit 1973 zu einem (welt-)politischen Akteur entwickeln will, gerät nicht nur in Konflikt mit den Grenzen der kulturellen Vielfalt Europas, sondern auch mit dem seit 1945 bestehenden Konzept des Westens. 55
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5 5 Wie heikel für die EU der Aufbau einer außen- und sicherheitspolitischen Kommunikationskompetenz nach dem Zerfall einer politischen Weltordnung ist, wird am Irak-Krieg deutlich. Robert Kagan ( 2 0 0 3 : 7) hat den Konflikt auf die Unterscheidung von M a c h t und Ohnmacht zugespitzt: „Europa wendet sich ab von der M a c h t , oder es bewegt sich, anders gesagt, über sie hinaus. Es betritt eine in sich geschlossene Welt von Gesetzen und Regeln, transnationalen Verhandlungen und internationaler Kooperation, ein posthistorisches Paradies von Frieden und
relativem Wohlstand, das der Verwirklichung von Kants ,Ewigen Frieden' gleichkommt. Dagegen bleiben die Vereinigten Staaten der Geschichte verhaftet und üben M a c h t in einer anarchischen Hobbesschen Welt aus, in der auf internationale Regelungen und Völkerrecht kein Verlass ist und in der wahre Sicherheit sowie die Verteidigung und Förderung einer freiheitlichen Ordnung nach wie vor von Besitz und Einsatz militärischer Macht abhängen." Seitdem steht auch das Konzept des Westens zur Disposition; vgl. ebd.: 89ff., vgl. Beck/Grande 2 0 0 4 .
Banavi, E. / Goossens, P. (Hrsg.), 2 0 0 1 : Les frontières de
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Autorenvorstellung: Theresa Wobbe, geb. 1952 in Borken. Professorin für Soziologie an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt. Forschungsschwerpunkte: Geschlechtersoziologie, Politische Soziologie, Europaforschung, Soziologie der Weltgesellschaft, Religionssoziologie. Veröffentlichungen u.a.: Wahlverwandtschaften. Die Soziologie und die Frauen auf dem Weg zur Wissenschaft (1997), Weltgesellschaft (2000), Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart (2003). From Protecting to Promoting: Evolving EU Sex Equality Norms in an Organisational Field, in: European Law Journal (2003) 9, S. 88-108.
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Z e i t s c h r i f t für S o z i o l o g i e , S o n d e r h e f t „ W e l t g e s e l l s c h a f t " , 2 0 0 5 , S. 3 7 4 - 3 9 3
Weltgesellschaft, Menschenrechte und der Formwandel des Nationalstaats World Society, Human Rights and the Transformation of the Nation-State Matthias Koenig* O t t o - F r i e d r i c h - U n i v e r s i t ä t B a m b e r g , L e h r s t u h l S o z i o l o g i e II, L i c h t e n h a i d e s t r a ß e 11, D - 9 6 0 4 5 B a m b e r g E-mail: [email protected]
Zusammenfassung: Der Beitrag untersucht die weltgesellschaftlichen Faktoren des Formwandels des Nationalstaats, wie er sich in Konflikten um die Anerkennung kollektiver Identitäten artikuliert. Im kritischen Anschluss an die neo-institutionalistische Weltgesellschaftstheorie wird dabei insbesondere der Bedeutungswandel analysiert, den Menschenrechte im Zuge ihrer Institutionalisierung erfahren haben. Die zentrale These lautet, dass es die weltgesellschaftliche Diffusion des klassischen Modells des Nationalstaats selbst war, deren paradoxe Folgen ein Modell multikultureller Staatsbürgerschaft generiert haben, das die Entkopplung von staatlicher Mitgliedschaft, individuellen Rechten und nationaler Identität legitimiert hat. Empirisch wird diese These anhand einer historisch-qualitativen Analyse des Völkerrechtsdiskurses über Menschenrechte, insbesondere über Religionsfreiheit erhärtet. Die Quellen ( 1 9 4 5 - 2 0 0 1 ) dokumentieren einen Bedeutungswandel von M e n schenrechten, in denen das Prinzip nationaler Selbstbestimmung durch die Verpflichtung der Staaten auf die öffentliche Anerkennung einer Pluralität primordialer oder traditionaler Identitäten überlagert wird. Dies erklärt einen wichtigen Aspekt des Formwandels des Nationalstaats. Die Befunde zeigen gleichzeitig, dass die neo-institutionalistische Weltgesellschaftstheorie in Richtung einer Mehrebenenanalyse von Institutionalisierungsprozessen ausbaufähig und -bedürftig ist. Summary: This article deals with world polity factors accounting for the transformation of the classical nation-state, as articulated in conflicts over the recognition of collective identities. Elaborating neo-institutional world polity theory, the article analyzes the semantic change of human rights in the course of its institutionalization. It is claimed that it was the world-wide diffusion of the classical nation-state model, whose paradoxical consequences have generated a new model of multicultural citizenship, legitimating the de-coupling of state membership, individual rights and national identities. This argument is based on empirical evidence from a qualitative historical analysis of international legal discourse on human rights, particularly on freedom of religion. T h e sources ( 1 9 4 5 - 2 0 0 1 ) show a semantic change in human rights, in which the principle of national self-determination is superseded by state obligations to recognize a diversity of primordial or traditional identities. T h e findings explain a crucial aspect of the transformation o f the nation-state. They also underline the fact that the neo-institutional word polity approach needs to be elaborated with respect to a multi-level analysis of overlapping processes o f institutionalization.
Einleitung
makrosoziologische
Theorien
kritisiert,
die
unre-
flektiert eine n a t i o n a l s t a a t l i c h e R a h m u n g v o n G e Ein wesentliches M o t i v soziologischer
Weltgesell-
sellschaft
unterstellen
Aspekte
c k a d e n , die m a n s i c h d u r c h d e n t e r r i t o r i a l e n
Glick-Schiller und W i m m e r
nationalen
Zuschnitt
soziologischer
und
Kategorien,
i n s b e s o n d e r e d e s in D u r k h e i m s c h e r T r a d i t i o n
ste-
sozialen
und
s c h a f t s t h e o r i e n ist die K r i t i k a n d e n E r k e n n t n i s b l o -
Wandels
damit
wesentliche
übersehen.
Folgt
betonen, dass von dem „methodologischen nalismus"
auch
solche
man
( 2 0 0 2 : 3 0 3 f f . ) , ist z u
Varianten
Natio-
soziologischer
h e n d e n Gesellschaftsbegriffs, e i n h a n d e l t . Bereits in
T h e o r i e b i l d u n g b e t r o f f e n sind, die die z e n t r a l e B e -
d e n siebziger J a h r e h a t H e r m i n i o M a r t i n s in einer lu-
deutung
ziden A n a l y s e d e r d a m a l i g e n K r i s e s t r u k t u r f u n k t i o -
K e r n d e r M o d e r n e s c h l i c h t w e g i g n o r i e r e n . 1 U m die-
nalistischer M o d e r n i s i e r u n g s t h e o r i e n
se E r k e n n t n i s b l o c k a d e n z u ü b e r w i n d e n , m ü s s e n s o -
den
auf
zwei
Grundannahmen
diese
Blocka-
zurückgeführt,
n ä m l i c h „ t h e principle o f i m m a n e n t c h a n g e a n d the
des
ziologische
Nationalstaats
als
institutionellem
Weltgesellschaftstheorien
also
nationale bzw. globale Strukturbildungen
transerfassen
rule o f m e t h o d o l o g i c a l n a t i o n a l i s m " ( M a r t i n s 1 9 7 4 : 2 7 7 ) . A u c h in d e r g e g e n w ä r t i g e n D i s k u s s i o n w e r d e n
* Für wertvolle Hinweise, K o m m e n t a r e und Kritik danke ich Julian Dierkes, Richard M ü n c h , Nikola Tietze, Kiyoteru Tsutsui, H a r t m a n n Tyrell und vor allem den beiden Gutachtern dieses Aufsatzes.
1 Glick-Schiller/Wimmer ( 2 0 0 3 ) unterscheiden drei Varianten des „methodologischen N a t i o n a l i s m u s " : die Naturalisierung der Form des Nationalstaats, die Territorialisierung analytischer Kategorien und die - gerade seitens soziologischer Theorie - oftmals geübte Ignoranz gegenüber dem Nationalstaat; dazu auch W i m m e r 2 0 0 2 : 5 und ähnlich Bielefeld 2 0 0 3 : 3 9 f .
Matthias Koenig: Weltgesellschaft, Menschenrechte und der Formwandel des Nationalstaats
können, ohne dabei die Strukturierungsleistungen des Nationalstaats zu vernachlässigen. In dieser Hinsicht ist die von John Meyer seit drei Jahrzehnten kontinuierlich entwickelte neo-institutionalistische Weltgesellschaftstheorie von besonderem Interesse (Meyer 1980, 1999, Meyer et al. 1997, Boli/Thomas 1999; vgl. auch Stichweh 2 0 0 0 : 2 4 , 2 7 , 5 5 ) . Zum einen setzt sie ganz entschieden auf „Weltgesellschaft" als analytische Zurechnungsebene makrosoziologischer Erklärungen und befasst sich intensiv mit ihren kulturellen Grundlagen, ihren sozialen Trägern und ihrer langfristigen historischen Entwicklung. Zum anderen widmet sie den Nationalstaaten als Adressaten weltgesellschaftlicher Vorgaben besondere Aufmerksamkeit und trägt damit zum Verständnis eines zentralen Strukturelements der Moderne bei. Inwieweit dieser hierzulande eher zögerlich rezipierte theoretische Ansatz, der den Nationalstaat von vornherein als weltgesellschaftliches Phänomen zu sehen erlaubt, tragfähig und erweiterungsbedürftig ist, möchte ich in diesem Beitrag anhand eines empirischen Problems diskutieren: der Erklärung des Formwandels des Nationalstaats, wie er in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beobachten ist. In seiner klassischen Form zeichnete sich der Nationalstaat durch eine institutionelle Kopplung von politischem Herrschaftsverband, Rechtsordnung und kollektiver Identität aus. In der Institution nationaler Staatsbürgerschaft, die politische und rechtliche Inklusion an nationale Identität knüpfte, kam diese Kopplung besonders deutlich zum Ausdruck (vgl. einschlägig Brubaker 1992, Schnapper 1994). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist sie indessen zunehmend problematisch geworden. Anlass dazu gaben die von regionalen Autonomiebewegungen, indigenen Bevölkerungsgruppen, ethnischen, sprachlichen und religiösen Minderheiten oder transnational vernetzten Migrantengruppen artikulierten Forderungen nach politisch-rechtlicher Partizipation bei gleichzeitiger kollektiver Selbstbestimmung. Die Annahme der Kongruenz von staatlicher Mitgliedschaft, individuellen Rechten und nationaler Identität wird durch diese Anerkennungs- und Identitätspolitik und die Herausbildung von „multikultureller Staatsbürgerschaft" grundsätzlich zur Disposition gestellt. Dieser Formwandel des Nationalstaats, der in der politischen Philosophie und Soziologie breit diskutiert wird (vgl. nur Joppke/ Lukes 1999, Kymlicka 2001), lässt sich aus neoinstitutionalistischer Perspektive auf Veränderungen weltgesellschaftlicher Erwartungsstrukturen zurückführen. So konnte am Beispiel der Immigrations- und Integrationspolitik europäischer Staaten gezeigt werden, dass die Entkopplung von Mit-
375
gliedschaft, Rechten und nationaler Identität nicht allein durch endogene Faktoren, etwa die politische Ökonomie post-industrieller Gesellschaften oder die Eigenlogik liberaler Demokratien, sondern maßgeblich durch die weltgesellschaftliche Institutionalisierung von Menschenrechten als neuer Legitimationsgrundlage politischer Herrschaft bestimmt ist (vgl. Gurowitz 1999, Shanahan 1999, Soysal 1994; zur Diskussion vgl. auch Münch 2001: 186ff.). Den Zusammenhang des Formwandels des Nationalstaats mit der weltgesellschaftlichen Institutionalisierung von Menschenrechten möchte ich in diesem Beitrag näher untersuchen. Ich konzentriere mich dabei auf einen Aspekt, der in der Forschungsliteratur meines Erachtens nicht hinreichend berücksichtigt wird, nämlich den Bedeutungswandel, den die Idee der Menschenrechte im Zuge ihrer weltgesellschaftlichen Institutionalisierung erfahren hat. Ihn zu erklären, verlangt eine Erweiterung der neo-institutionalistischen Weltgesellschaftstheorie in Richtung einer akteurstheoretisch fundierten Mehrebenenanalyse von Institutionalisierungsprozessen. Meine zentrale These lautet, dass es die weltgesellschaftliche Institutionalisierung des klassischen Modells des Nationalstaats selbst ist, deren paradoxe Folgen ein Modell multikultureller Staatsbürgerschaft generiert haben. Empirisch stütze ich mich dabei auf die historisch-qualitative Analyse völkerrechtlicher und völkerrechtswissenschaftlicher Primär- und Sekundärquellen im Zeitraum von 1 9 4 5 - 2 0 0 1 , anhand derer sich Verschiebungen in der Semantik der Menschenrechte rekonstruieren lassen, die auf eine Entkopplung von staatlicher Mitgliedschaft und nationaler Identität hindeuten. 2 Ein besonderes Augenmerk richte ich dabei auf religionsbezogene Menschenrechte, nicht nur weil Religion, zumal in Europa, eine wesentliche Dimension gegenwärtiger Konflikte um die öffentliche Anerkennung kollektiver Identitäten ist, sondern auch weil diskursive Kategorisierungen von „Religion" und „Säkularität" für die historische Konstruktion von Nationalstaatlichkeit von zentraler Bedeutung waren (Asad 2003: 181 f., Beyer 1998). 3
Den terminus a quo für die weltgesellschaftliche Institutionalisierung der Menschenrechte mit der Verabschiedung der U N Charta ( 1 9 4 5 ) festzulegen, dürfte unstrittig sein. O b und inwieweit der terminus ad quem der historischen Analyse, das Weltereignis „9/11/2001", eine Trendwende darstellt, muss an dieser Stelle offen gelassen werden. 2
Zum anders gelagerten, aber ähnlich Feld der Sprachpolitik vgl. Koenig 1 9 9 9 .
3
konfliktreichen
376
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 374-393
Zunächst gehe ich näher auf die neo-institutionalistische Weltgesellschaftstheorie ein und benenne einige Desiderata, die theoretischer Weiterentwicklung bedürfen (1.). Sodann kläre ich, in welcher Hinsicht die weltgesellschaftliche Institutionalisierung von Menschenrechten als kausaler Faktor für den eingangs angedeuteten Formwandel des Nationalstaats in Betracht k o m m t (2.). Vor diesem Hintergrund beleuchte ich dann im Spiegel des Völkerrechtsdiskurses den Bedeutungswandel, den die Menschenrechte im Zuge ihrer weltgesellschaftlichen Institutionalisierung erfahren haben. Dabei zeigt sich, dass im Prozess der Diffusion von Nationalstaatlichkeit, insbesondere nach Abschluss der Dekolonisation, das kollektive Recht auf nationale Selbstbestimmung, das den Rahmen individualrechtlich formulierter Menschenrechte, wie z.B. Religionsfreiheit, darstellte, durch Selbstbestimmungsrechte sub-nationaler Kollektive ersetzt wurden (3.). Abschließend komme ich auf einige (welt-)gesellschaftstheoretische Implikationen der Analyse zu sprechen (4.). 1. Weltgesellschaft und Nationalstaat theoretische Vorbemerkung Ausgangspunkt der neo-institutionalistischen Weltgesellschaftstheorie ist die Überlegung, dass die modernen Nationalstaaten in eine übergreifende soziale Ordnung, eine „world society" bzw. „world polity", eingebettet sind (Meyer 1980). Diese Ordnung liegt sowohl dem Wallersteinschen Weltwirtschaftsystem als auch der „international society" im Sinne des (Neo-)Realismus in den Internationalen Beziehungen voraus. Während Staaten dort als souveräne Akteure betrachtet und zwischenstaatliche Systeme ökonomischer bzw. politischer Beziehungen aus den Effekten ihres strategischen H a n delns abgeleitet werden, deutet Meyer - ganz auf der Linie der klassischen Utilitarismuskritik - die Formen, Interessen und Relationen staatlicher Akteure im Lichte langfristiger Prozesse der Institutionalisierung weltgesellschaftlicher Erwartungsstrukturen (Meyer 1980: 117f.). Theoretisch ist dieser anti-realistische und konstitutionstheoretische Impetus des neuen soziologischen Institutionalismus (vgl. Krücken 2002) in einer streng phänomenologischen Lesart von M a x Webers Theorie der okzidentalen Rationalisierung verankert. Rationalität wird als Mythos, rationales Handeln als sein ritueller Vollzug und Rationalisierung als Institutionalisierung eines kulturellen Systems von Zwecken, Zweck-Mittel-Schemata und rationalen Akteuren betrachtet (vgl. Meyer et al. 1987, Meyer/Jepperson
2000). Historisch führt Meyer das kulturelle System des okzidentalen Rationalismus auf Transformationen des Christentums in der frühen europäischen Neuzeit zurück (Meyer 1989). Hier seien hochgradig generalisierte Ideen der Souveränität, der bürokratischen Organisation und der legalen Legitimation entstanden, die dem Staat einen ontologischen Status verliehen, ihn als neben formalen Organisationen und Individuen wichtigsten rationalen Akteur konstituiert und zum Zentrum innerweltlicher Projekte der Gesellschaftsgestaltung gemacht hätten (Thomas/Meyer 1984). Träger der im 19. Jahrhundert sich verdichtenden Erwartungsstrukturen der „world culture" sind internationale Organisationen, internationale Nicht-Regierungsorganisationen, Wissenschaften und Professionen. Die Orientierung von Staaten an dieser institutionellen Umwelt erklärt, so das in empirischen Studien zu verschiedensten Politikfeldern erhärtete Argument, deren hochgradige Standardisierung bzw. Isomorphie (Meyer et al. 1997:144). Es ist dabei zu betonen, dass der „phänomenologische Makro-Institutionalismus", wie Meyer (1999: 124ff. sowie Meyer et al. 1987: 146ff.) seinen Theorieansatz auch bezeichnet, den klassischen soziologischen Begriff der Institution kognitivistisch zuspitzt. Dies unterscheidet ihn etwa von der liberal-institutionalistischen Perspektive in den Internationalen Beziehungen, die gegenüber den Neo-Realisten zwar konzediert, dass in der „international society" normengeleitete internationale Kooperation und die Entstehung „internationaler Regime" möglich sind, die diese aber auf die Funktion der Normierung bzw. Regulierung zwischenstaatlicher Beziehungen beschränken. Ähnlich wie Konstruktivisten in den Internationalen Beziehungen (Checkel 1998, Wendt 1994) betonen Neo-Institutionalisten wie Boli und T h o m a s (1999: 15ff.) demgegenüber, dass der Normierung von Akteursrelationen die Konstitution von Akteurseinheiten vorgelagert ist. Als globale Institutionen sind daher nicht nur Normen bzw. regulative Regeln, sondern auch kognitive Typisierungen, Skripts und Modelle, also konstitutive Regeln, zu untersuchen. 4 N u n lassen sich gegenüber der neo-institutionalistischen Weltgesellschaftstheorie verschiedene Einwände erheben. Ein erster Punkt betrifft die Vermittlung weltgesellschaftlich institutionalisierter Erwartungsstrukturen. Abgesehen von der aus der 4
Die Unterscheidung von regulativen und konstitutiven Regeln stammt bekanntlich von Searle; vgl. dazu im Kontext der Theorie internationaler Beziehungen Schaber 1996.
Matthias Koenig: Weltgesellschaft, Menschenrechte und der Formwandel des Nationalstaats neo-institutionalistischen Organisationssoziologie importierten Unterscheidung von Zwang, normativem Druck und Imitation (DiMaggio/Powell 1983) findet man nur wenige Hinweise auf die sozialen Mechanismen, durch die Diskurse und Praktiken auf nationalstaatlicher Ebene von weltgesellschaftlichen Vorgaben im Einzelnen beeinflusst werden. Erste Fortschritte in Richtung eines „process-tracing" hat die vor ähnlichen Problemen stehende konstruktivistische Schule der Internationalen Beziehungen erzielt, und zwar durch eine akteursbzw. netzwerktheoretische Erweiterung der Analyse (Finnamore 1 9 9 6 , Risse et al. 1999). Damit eng verbunden ist der zweite Kritikpunkt, dass neben den Vermittlungs- auch Lokalisierungsprozesse weltgesellschaftlicher Vorgaben nicht näher spezifiziert werden. Seitens des Neo-Institutionalismus sieht man sich an dieser Stelle auf das ebenfalls der Organisationssoziologie entlehnte Argument verwiesen, die weltgesellschaftliche Einbettung von Nationalstaaten bedinge ein „de-coupling" von Formal- und Aktivitätsstruktur (Meyer/Rowan 1977) - wenn auch weltgesellschaftlich verfügbare Repertoires der Kritik durchaus von lokalen sozialen Bewegungen für die Legitimation ihrer Forderungen mobilisiert werden können (Meyer et al. 1997: 160). Dagegen wird man wohl nicht umhinkommen, für die selektive Rezeption, partielle Implementierung und kontextspezifische Interpretation weltkultureller Vorgaben auf lokaler bzw. nationalstaatlicher Ebene auch historische Pfadabhängigkeiten in Anschlag zu bringen (vgl. Acharya 2 0 0 4 : v.a. 2 4 4 ) . Drittens schließlich bleiben die Prozesse der Generierung und des Bedeutungswandels weltgesellschaftlich institutionalisierter kognitiver und normativer Muster unklar. Dies liegt teilweise an dem in Stanford gepflegten quantitativen Forschungsdesign, durch das weltgesellschaftliche Erwartungsstrukturen nur indirekt, nämlich anhand der im internationalen Vergleich beobachtbaren Isomorphien beobachtet werden. Demgegenüber erfordert die Erklärung der Generierung und des Bedeutungswandels weitgesellschaftlicher Ideen und Normen methodisch deren direkte Analyse. 5 Darüber hinaus sind auch akteurstheoretische Erweiterungen des neo-institutionalistischen Begriffsrahmens erforderlich, um die treibenden Kräfte weltgesellschaftlicher Institutionalisierungsprozesse zu identifizieren. Wie Finnamore und Sikkink ( 1 9 9 8 : 8 9 5 , 8 9 8 ) betonen, herrschen in den drei Phasen der „norm emergence", „norm
5 Eine direkte Beobachtung weltkultureller Erwartungsstrukturen findet sich allerdings in Bolis und T h o m a s ' ( 1 9 9 9 ) quantitativer Analyse der Entwicklung internationaler Nicht-Regierungsorganisationen ( I N G O ) .
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cascade" und „norm internalization" jeweils unterschiedliche Handlungslogiken vor, und gerade die Phase der Normgenerierung ist weniger von dramaturgischem Handeln bzw. einer „logic of appropriateness", sondern vom wertrationalen bzw. verständigungsorientierten Handeln institutioneller Unternehmer bestimmt. An allen drei Punkten ist die neo-institutionalistische Weltgesellschafstheorie in Richtung einer Mehrebenenanalyse sich überlappender Institutionalisierungsprozesse ausbaufähig und ausbaubedürftig. Im weiteren Verlauf meiner Argumentation konzentriere ich mich auf den dritten Punkt, die Generierung und den Bedeutungswandel von Ideen und Normen in weltgesellschaftlichen Institutionalisierungsprozessen, da gerade er für die Erklärung des Formwandels des Nationalstaats relevant ist. Im Anschluss an Finnamore und Sikkink ( 1 9 9 8 ) ist die Aufmerksamkeit dabei zum einen auf die institutionellen Unternehmer zu richten, die an der Konstruktion des kulturellen Rahmens der „world polity" sowie deren Institutionalisierung beteiligt sind. Zum anderen ist aber auch zu fragen, inwieweit jene Institutionalisierungsprozesse aus sich heraus einen Wandel weltgesellschaftlicher Erwartungsstrukturen generieren. Beide Aspekte möchte ich im Folgenden anhand einer historisch orientierten Analyse des Völkerrechts näher untersuchen. Für die Wahl des Völkerrechts als empirischem Feld weltgesellschaftstheoretischer Analysen sprechen gleich mehrere Gründe. Allein die Tatsache, dass das Völkerrecht ein in der soziologischen Theorie, und zwar auch im neuen soziologischen Institutionalismus vernachlässigter Gegenstand ist, spricht zunächst einmal für diesen Zugriff. Dies aber umso mehr, als sich gerade das Recht, wie im Anschluss an die soziologischen Klassiker auch Boyle und Meyer ( 1 9 9 8 : 2 1 5 ) betonen, mit seinem inhärenten Formalismus und Universalismus zur Konstruktion und Institutionalisierung kultureller Muster von Rationalität eignet; im Medium des Rechts lassen sich sowohl individuelle und korporative Akteurseinheiten („Rechtssubjekte") konstituieren als auch deren Relationen zueinander normieren. Das Völkerrecht ist dabei für weltgesellschaftliche Fragen besonders einschlägig, weil hier explizit und hochreflexiv Visionen einer globalen Sozialordnung formuliert und in konstitutive und regulative Grundregeln der Interaktion übersetzt werden (vgl. Lechner 1991: 266ff.). Dies gilt bereits für das im Westfälischen Frieden ( 1 6 4 8 ) entstandene, klassische europäische Völkerrecht, durch das der souveräne Staat als rationaler Akteur konstituiert wur-
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de. 6 Es gilt ferner für das Völkergewohnheitsrecht des 19. Jahrhunderts, in dem die Anerkennung der Souveränität nicht-europäischer Staaten an den berühmten „Standard of civilization" (Gong 1984) geknüpft wurde. Und es gilt schließlich und insbesondere für das sich seit Gründung der Vereinten Nationen herausbildende „post-Westfälische" Völkerrecht, das sich als Ergebnis formaler und materialer Rationalisierungsprozesse deuten lässt. In formaler Hinsicht hat sich eine zunehmende Systematisierung des Regelbestands vollzogen, die in der Kodifizierung des zuvor primär gewohnheitsrechtlich basierten Völkerrechts sowie in der Entstehung eigenständiger internationaler Judikaturen zum Ausdruck kommt und von der Generalisierung des Geltungsbereichs des Völkerrechts über den Bereich des ius publicum europaeum hinaus begleitet ist. Entscheidend für die „post-Westfälische" Völkerrechtsentwicklung war jedoch der Prozess materialer Rationalisierung. Durch die Orientierung an universalistischen Zwecken, wie sie insbesondere die UN Charta (1945) proklamierte, wurde die legitime Ausübung staatlicher Souveränität an wertrationale Erwartungsstrukturen geknüpft. 7 Zu diesen wertrationalen Erwartungsstrukturen gehörte neben dem Gewaltverbot insbesondere der Schutz der Menschenrechte (vgl. z.B. Cassese 1 9 8 6 , Henkin 1 9 9 0 , Sohn 1 9 9 5 , Vincent 1986). Durch die völkerrechtliche Kodifizierung von Menschenrechten gewann neben dem souveränen Staat als dem klassischen Völkerrechtssubjekt auch das Individuum zumindest „partielle" Völkerrechtssubjektivität. Spätestens seit der Internationalisierung der Menschenrechte betrifft das Völkerrecht daher
Dass das „Westfälische System" souveräner Staaten auf übergreifenden Sinnstrukturen basiert, die staatliche Souveränität legitimieren, gestehen selbst solche Autoren zu, die für seine Genese ansonsten eher Kapital- und M a c h t dynamiken in den Vordergrund stellen; Tilly 1 9 9 0 : 67f., 1 8 1 , Krasner 1 9 9 9 . Was seine ideellen Wurzeln angeht, besteht Dissens. Während Meyer wohl eher die Spätfolgen der Papstrevolution im Blick hat, betont Philpott ( 2 0 0 0 ) die protestantische Herkunft des Prinzips souveräner Gleichheit. 6
7 Während Weber in seiner Diagnose der „fortschreitenden Zersetzung und Relativierung aller metajuristischen
A x i o m e " ( 1 9 8 0 [ 1 9 2 0 - 2 1 ] : 5 0 2 ) noch die Dominanz des Rechtspositivismus unterstellen konnte, erfuhr das Naturrecht in der ersten Hälfte des 2 0 . Jahrhunderts, wie die Beiträge von Hersch Lauterpächt, Jacques Maritain, Walther Schücking und anderen politisch einflussreichen Völkerrechtlern zeigen, eine zweite Renaissance, ein Aspekt, der m . E . in system- bzw. differenzierungstheoretisch orientierten Analysen des Völkerrechts (z.B. Albert 2 0 0 2 : 282ff.) unterschätzt wird.
nicht mehr allein den zwischenstaatlichen Verkehr, sondern auch die Relationen zwischen Staat und Individuum und greift damit auf die innerstaatliche Rechtsordnung durch. Die Analyse der Semantik völkerrechtlich kodifizierter Menschenrechte eröffnet daher einen direkten Zugriff auf weltgesellschaftlich institutionalisierte Ordnungsvorstellungen, die unmittelbare Relevanz für die Form des Nationalstaats - und deren Wandel - haben.
2. Menschenrechte in der Weltgesellschaft Dass Menschenrechte die Relationierung von Staat und Individuum in der Weltgesellschaft beeinflussen, wird in der neo-institutionalistischen Literatur allgemein anerkannt (Berkovitch 1 9 9 9 , Boli/Thomas 1 9 9 9 , McNeely 1 9 9 8 , Ramirez et al. 1 9 9 7 , Soysal 1 9 9 4 , Tsutsui/Wotipka 2 0 0 1 , 2 0 0 4 ) . 8 Als kognitive bzw. konstitutive Regeln definieren Menschenrechte die Träger legitimer „actorhood": den Staat und das Individuum. Als Normen bzw. regulative Regeln mit universalistischem Geltungsanspruch bestimmen Menschenrechte ferner die legitimen Relationen zwischen diesen beiden Akteurseinheiten. Und schließlich beinhalten Menschenrechte in evaluativer Hinsicht zentrale, begründungs- und bedeutungsoffene Werte einer imaginierten Gemeinschaft der „Menschheit" und tragen insofern zur symbolischen Integration der Weltgesellschaft bei (so Bonacker 2 0 0 3 : v.a. 131). Nun finden sich in der neo-institutionalistischen Forschungsliteratur widersprüchliche Einschätzungen des Verhältnisses von staatlicher Souveränität und Menschenrechten. Einerseits konstatiert Meyer (1980: 1 1 3 , 1 3 2 ) für das 2 0 . Jahrhundert einen Trend der allmählichen Schwächung des Individuums zugunsten staatlicher Autorität; auch Boli (1987) kommt in seiner quantitativen Longitudinalanalyse der verfassungsrechtlichen Verankerung individueller Rechte und Pflichten im internationalen Vergleich zu dem Ergebnis, dass staatliche Kompetenzen gegenüber individuellen Rechten im 2 0 . Dass die wenigen empirisch-soziologischen Studien zu Menschenrechten neo-institutionalistischer Provenienz sind, weist übrigens auf den bislang eher bescheidenen Beitrag der Soziologie zu diesem Thema hin - obwohl das Thema seit Dürkheims ( 1 9 9 1 [ 1 9 5 0 ] : 8 4 ) Analyse der Institutionalisierung des „Kults des Individuums" einschlägig sein sollte. Die Gründe für diesen blinden Fleck sind neben dem „methodologischen Nationalismus" auch in der impliziten Ausrichtung der Disziplin an den normativen und kognitiven Prinzipien der Menschenrechte zu suchen; vgl. Koenig 2 0 0 2 . 8
Matthias Koenig: Weltgesellschaft, Menschenrechte und der Formwandel des Nationalstaats Jahrhundert sukzessive gestärkt wurden. Andererseits behaupten Frank und Meyer (2002: 80) neuerdings für denselben Zeitraum eine Stärkung individueller zu Lasten korporativer Akteure, wobei sie die De-Legitimation staatlicher „actorhood" als Folge der Institutionalisierung von Menschenrechtsnormen sehen. Der direkte Zugriff auf weltgesellschaftliche Erwartungsstrukturen anhand einer qualitativen Analyse des Völkerrechts und seiner Reflexionsdiskurse vermag hier meines Erachtens genauere Aufschlüsse zu bieten. Er lässt insbesondere erkennen, dass die Relationierung von Staat und Individuum durch Konstruktionen kollektiver Identitäten vermittelt ist; Menschenrechte beinhalten kognitive und normative Rahmen, die spezifische Kombinationen universalistischer, traditionaler und primordialer Codierungen kollektiver Identitäten plausibilisieren.9 Durch sie werden neben dem Staat und dem Individuum als rationalen Akteuren auch kollektive Einheiten konstituiert: zunächst die „Völker" bzw. „Nationen", später auch sub- und transnationale „Gruppen". Bevor ich den darin bereits angedeuteten Bedeutungswandel der Menschenrechte im Detail beleuchte, möchte ich kurz zumindest andeuten, inwieweit und mittels welcher Vermittlungsmechanismen weltgesellschaftlich institutionalisierte Menschenrechte die Formen einzelner Nationalstaaten beeinflussen. Aufschlussreich ist dabei zunächst der Prozess der internationalen Verrechtlichung der Menschenrechte. So lässt sich im Zeitraum von 1945-2001 eine quantitative Zunahme völkerrechtlich bindender Menschenrechtskonventionen beobachten. Gingen einzelne Regelwerke, vor allem zum Verbot von Sklaverei (1926) und Zwangsarbeit (1930) sowie zu den Rechten von Landarbeitern (1921), auf die Initiativen der International Labour Organization (ILO) in der Zeit des Völkerbundes zurück, entstand die Mehrzahl internationaler Menschenrechtskonventionen nach Gründung der Vereinten Nationen (vgl. Abb. 1). Auf regionaler Ebene nahmen inter-amerikanische Vereinbarungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Vorreiterrolle ein, während in der Nachkriegszeit Europa zur führenden Region der - durch die Einrichtung des Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte sogar sanktionsbehafteten - Kodifizierung von Menschenrechten wurde. In Afrika, im arabischen Raum und in Asien lässt sich eine regionale Verrechtlichung von Menschenrechten bis heute nur in Ansätzen erkennen. Zur Unterscheidung der Codes kollektiver Identität Eisenstadt/Giesen 1995. 9
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Der Prozess der internationalen Verrechtlichung von Menschenrechten nach 1945 erfolgte in drei Phasen (vgl. Buergenthal 1997). In einer ersten Phase (1945-1966) wurde, ausgehend von der Charta der Vereinten Nationen (1945) und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (UDHR, 1948), der Bestand allgemeiner und spezieller Menschenrechtsnormen konsolidiert. Gerade in dieser Phase der „norm emergence" war das Handeln institutioneller Unternehmer für die rapide Verdichtung des internationalen Regelbestands im Bereich der Menschenrechte maßgeblich. Dabei waren es neben einigen in Nordamerika basierten internationalen Nichtregierungsorganisationen insbesondere lateinamerikanische Staaten und die politischen Eliten der Kolonien, die gegen den anfänglichen Widerstand der USA, der UdSSR sowie der Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich auf die Kodifizierung von Menschenrechten drängten (vgl. Opitz 2002: 51) und dies - konträr zu den Annahmen von Neo-Realisten (Krasner 1999: 105ff.) auch durchsetzten. 10 Darauf aufbauend wurden in einer zweiten Phase (1966-1989) Konventionen verabschiedet, die einzelne Menschenrechtsnormen spezifizierten und zur deren Implementation eigene Kontrollverfahren und unabhängige Durchführungsorgane etablierten (vgl. Tab. 1). Neben den Verfahren turnusmäßiger Staatenberichte, die zur semantischen Standardisierung der Selbstrepräsentation von Staaten beitragen, sind dabei die Individualbeschwerdeverfahren hervorzuheben, die den Durchführungsorganen, insbesondere dem unter dem Internationalen Pakt für bürgerliche und politischen Rechte (ICCPR, 1966) etablierten Menschenrechtsausschuss (HRC), Gelegenheit zur Entwicklung einer eigenen Jurisprudenz bieten (vgl. Schilling 2004). Außer diesen vertragsbasierten Verfahren wurden mit den Resolutionen 1235 (1967) und 1503 (1970) auf Basis der UN-Charta auch neue, von der Menschenrechtskommission bzw. ihrer Unterkommission betriebene Kontroll- und Beschwerdeverfahren eingerichtet. 11 Die Phase der
10 Ähnlich ergriffen auch in Europa nicht die liberalen Demokratien, wie etwa Großbritannien, sondern die politischen Eliten junger, post-totalitärer Demokratien, wie vor allem Deutschland und Italien, die Initiative zur Institutionalisierung von Menschenrechten; vgl. Moravcsik 2000: v.a. 220. 11 Das so genannte 1235-Verfahren eröffnet der Menschenrechtskommission insbesondere die Möglichkeit, länder- und themenspezifische Sonderberichterstatter zu benennen, Arbeitsgruppen einzurichten und in situ Investigationen durchzuführen, während das 1503-Verfahren ein recht hochschwelliges individuelles Petitionsverfahren dar-
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Zeitschrift f ü r Soziologie, S o n d e r h e f t „ W e l t g e s e l l s c h a f t " , 2 0 0 5 , S. 3 7 4 - 3 9 3
m W M 1900 1905 1910 1915 1920 1925 1930 1935 1940 1945 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 Jahr
• Universale I Afrikanische
• Amerikanische • Europaische • Arabische Konventionen
Quelle: UNESCO 1997; UN Office of the High Commissioner for Human Rights, Genf Abb. 1
Universale u n d regionale M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n , 1 9 0 0 - 2 0 0 4
„norm cascade" ging insofern einher mit der Etablierung internationaler Regime des Menschenrechtsschutzes (Donnelly 1989: 206f.). Prägend für die dritte Phase (1989-2001) ist neben der weiteren Diversifizierung und Spezifizierung von Menschenrechten insbesondere die Diskussion um „humanitäre Interventionen" und die Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofes, in der Ansätze zur gewaltförmigen Erzwingung der Rechtsbefolgung internationaler Menschenrechtsnormen und zur Sanktionierung ihrer eklatanten Verletzung zu erkennen sind (vgl. Falk 1998: 49ff.). In allen drei Phasen haben sich durch die Einrichtung und Stärkung von Konsultationsverfahren vermehrte Opportunitätsstrukturen für die Mobilisierung transnationaler Nicht-Regierungsorganisationen gebildet (Smith 1995: 191f.). Gemeinsam mit den Menschenrechtsregimen bilden diese nicht-staatlichen Menschenrechtsorganisationen und die von ihnen geschaffene Weltöffentlichkeit eine institutionelle Umwelt, deren Einflüssen sich Staaten kaum mehr entziehen können. stellt, das a u f die I d e n t i f i k a t i o n systematischer M e n s c h e n rechtsverletzungen zielt.
Dass die weltgesellschaftliche Institutionalisierung von Menschenrechten Einfluss auf die Formalstruktur von Staaten ausübt, zeigt ferner auch die staatliche Selbstbindung an allgemeine und spezielle Menschenrechtsnormen. Dieser Aspekt lässt sich exemplarisch am Beispiel der Ratifikation völkerrechtlicher Menschenrechtskonventionen beobachten, durch die Staaten die in jenen festgehaltenen Verpflichtungen als rechtsverbindlich anerkennen. Wie der Ratifikationsverlauf der sieben zentralen Menschenrechtskonventionen dokumentiert (Abb. 2), nahm im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, der Phase der „norm internalization", die Selbstbindung von Staaten an international kodifizierte Menschenrechte zu. Dabei zeigen genauere Analysen des hier nur deskriptiv dargestellten Ratifikationsverlaufs, dass nicht ökonomische Indikatoren, sondern die Intensität der Einbettung in die institutionelle Umwelt der „world polity" (z.B. Partizipation in INGO) das Ratifikationsverhalten der einzelnen Staaten erklärt (Tsutsui/Witopka 2001). Was die Vermittlungsmechanismen angeht, so ist neben den Kontroll- und Durchführungsverfahren der genannten Menschenrechtsregime auch an die Inkorporation
Matthias Koenig: Weltgesellschaft, Menschenrechte und der Formwandel des Nationalstaats
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Tabelle 1 Menschenrechtsregime der Vereinten Nationen Konvention
Ang. / i.K.
Durchführungsorgan
Kontrollverfahren
International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination (ICERD)
1965/1969
Committee on the Elimination of Racial Discrimination (CERD)
Staatenberichte (Art. 9) Staatenbeschwerde (Art. 11) Individualbeschwerde (nach Zustimmung zu Art. 14)
International Covenant on Civil and Political Rights (ICCPR)
1966/1976
Human Rights Committee (HRC)
International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights (ICESCR)
1966/1976
Committee on Economic, Social and Cultural Rights
Staatenberichte (Art. 40) Staatenbeschwerde (Art. 14, nach Zustimmung) Individualbeschwerde (nach Zustimmung zu 1. Fakultativprotokoll) Staatenberichte (Art. 17)
Convention on the Elimination of Discrimination Against Women (CEDAW)
1979/1981
Committee on the Elimination of Discrimination Against Women (CEDAW)
Convention Against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CAT)
1984/1987
Committee Against Torture (CAT)
Convention on the Rights of the Child (CRC)
1989/1990
Committee on the Rights of the Child (CRC)
Staatenberichte (Art. 44)
International Convention on the Rights of Migrant Workers and Their Families (MWC)
1990/2003
Committee on Migrant Workers (CMW)
Staatenberichte (Art. 74) Staatenbeschwerde (Art. 76) Individualbeschwerde (nach Zustimmung zu Art. 77)
Staatenberichte (Art. 18) Individualbeschwerdeverfahren (nach Zustimmung zu Fakultativprotokoll) Vertrauliche Untersuchung (nach Zustimmung zu Fakultativprotokoll) Staatenberichte (Art. 19) Staatenbeschwerde (Art. 21, nach Zustimmung) Individualbeschwerde (nach Zustimmung zu Art. 22) Vertrauliche Untersuchung (Art. 20)
Quelle: UN Office of the High Commissioner for Human Rights, Genf
völkerrechtlich k o d i f i z i e r t e r M e n s c h e n r e c h t e in n a t i o n a l s t a a t l i c h e R e c h t s o r d n u n g e n u n d ihre B e r ü c k s i c h t i g u n g d u r c h s t a a t l i c h e G e r i c h t e zu d e n k e n . 1 2 M i n d e s t e n s e b e n s o relevant sind die A k t i v i t ä t e n nichtstaatlicher, t r a n s n a t i o n a l vernetzter O r g a n i s a t i o n e n , die die weltweit v e r f ü g b a r e n R e p e r t o i r e s d e r H e r r s c h a f t s k r i t i k und - l e g i t i m a t i o n der M e n schenrechte a u f g r e i f e n und im l o k a l e n K o n t e x t a k tivieren (vgl. S i k k i n k 1 9 9 3 , R i s s e et al. 1 9 9 9 : 5). Die weltgesellschaftliche Institutionalisierung von M e n s c h e n r e c h t e n ä n d e r t strukturell die R e l a t i o n e n 12 Während bei der Inkorporation internationaler Menschenrechtskonventionen in binnenstaatliches Recht deutliche Unterschiede zwischen kontinentaleuropäischen und angelsächsischen Rechtsordnungen erkennbar sind (Staaten mit einer common-law-Tradition sind hier wesentlich zurückhaltender), werden sie in den meisten Länder von Gerichten routinemäßig aufgegriffen; vgl. dazu Harland
2000.
v o n I n d i v i d u e n und S t a a t e n . R e c h t e b e a n s p r u c h e n I n d i v i d u e n nicht m e h r allein a l s S t a a t s b ü r g e r , s o n dern a u c h q u a Z u g e h ö r i g k e i t z u m universalistischen K o l l e k t i v der M e n s c h h e i t . D i e im k l a s s i s c h e n M o d e l l v o n S t a a t s b ü r g e r s c h a f t a n e i n a n d e r gek n ü p f t e n E l e m e n t e v o n staatlicher M i t g l i e d s c h a f t und individuellen R e c h t e n scheinen d a m i t a l l m ä h lich v o n e i n a n d e r e n t k o p p e l t , politische Inklusion transnational institutionalisiert zu werden (vgl. a u c h Berkovitch 1 9 9 9 : 8, B o n a c k e r 1 9 9 3 : 1 2 6 , Soysal 1 9 9 4 : 1 3 6 f . , 1 6 4 ) . Allerdings ist die E i n k l a g b a r k e i t und D u r c h s e t z b a r k e i t international kodifizierter Individualrechte begrenzt. Die Individualbeschwerdev e r f a h r e n einzelner M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n e n (vgl. T a b . 1) sind o p t i o n a l und w e r d e n vergleichsw e i s e selten g e n u t z t , u n d in E r m a n g e l u n g v o n S a n k t i o n s m ö g l i c h k e i t e n b e s c h r ä n k t sich ihre Wirk u n g a u f den I n f o r m a t i o n s a u s t a u s c h der z u s t ä n d i g e n O r g a n e mit d e n jeweils a n g e k l a g t e n S t a a t e n . D a m i t bleibt die e f f e k t i v e G a r a n t i e s u b j e k t i v e r
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 374-393
—
—ICERD0965)
" I C C P R (1966)
CAT (1986)
C R C (1989)
ICESCR (1966)
CEDAW (1977)
MWC (1990)
Quelle: UN Office of the High Commissioner for Human Rights, Genf
Abb. 2 Ratifikationsprozess internationaler Menschenrechtskonventionen 1945-2004 (in % der jeweiligen UN-Mitgliedsstaaten, kumulativ)
Rechte letztlich an die staatliche Organisationsform politischer und rechtlicher Inklusion gebunden, ja in gewisser Weise tragen Menschenrechte sogar zur Stärkung staatlicher Herrschaft bei, da der Staat als zentrale organisatorische Instanz der Implementierung von Menschenrechten legitimiert wird. Die weltgesellschaftliche Institutionalisierung von Menschenrechten bedeutet insofern nicht die Entstehung einer demokratischen Weltverfassung (Brunkhorst 2003), sondern eher die Verlagerung der kulturellen Legitimitätsquellen individueller Rechte auf eine weltgesellschaftliche Ebene. Gerade in diesem Sinne ändern Menschenrechte durchaus die Logik der nationalstaatlichen Institutionalisierung individueller Rechte. Neue Rechte entstehen nicht mehr allein aus einer Konfliktdynamik zwischen Regierungen und sozialen Bewegungen, sondern auch aus der Mobilisierung weltgesellschaftlich legitimierter Modelle politischer Ordnung durch transnational vernetzte Protestbewegungen (Risse et al. 1999) oder ihrer rituellen Übernahme durch politische Eliten in Situationen der Handlungsunsicherheit (vgl. z.B. Ramirez et al. 1997: 736). Beide Vermittlungsmechanismen resultieren, vor allem in der zweiten und dritten Phase der Institutionalisierung von Menschenrechten, in einer hochgradigen Standardisierung formaler Strukturen (vgl. ähnlich Risse et al. 1999: 19ff. und 264ff.). Die Bezugnahme auf Menschenrechte als kulturelle Legitima-
tionsformeln ist insofern ein wichtiger - wenn auch natürlich nicht der einzige - Faktor bei der Erklärung von Formen der Nationalstaatlichkeit. Und dies ist der Grund, weswegen mit Blick auf den Formwandel des Nationalstaats, d. h. die Entkopplung von staatlicher Mitgliedschaft, individuellen Rechten and nationaler Identität, der Bedeutungswandel von Menschenrechten genauerer Untersuchung bedarf.
3. Bedeutungswandel von Menschenrechten und Konstitution kollektiver Identitäten Dass sich die völkerrechtlich kodifizierten Menschenrechte auf die klassische liberale Trias „life, liberty, estate" längst nicht mehr beschränken, ist bekannt. Bereits die U D H R umfasst neben bürgerlichen und politischen auch soziale, ökonomische und kulturelle Rechte sowie die Idee einer gerechten internationalen Ordnung, die später in der Declaration on the Right to Development (1986) sowie in der Vienna Declaration on Human Rights (1993) näher spezifiziert wurde. 1 3 Gerade die Geschichte des Rechts auf Entwicklung indiziert bereits, dass der Bedeutungswandel der Menschen13 Vgl. UN Doc. A/Res/41/128 [4. September 1986) und UN Doc. A/Conf. 157/24 [25. Juni 1993],
Matthias Koenig: Weltgesellschaft, Menschenrechte und der Formwandel des Nationalstaats rechte unmittelbar mit Änderungen weltgesellschaftlicher Akteurskonstellationen, konkret mit der veränderten Zusammensetzung der Generalversammlung zu tun hat. 1 4 Im Folgenden geht es mir um einen spezifischen Aspekts dieses Bedeutungswandels der Menschenrechte, nämlich die Änderung der Semantik der Selbstbestimmung, die gleichzeitig Folge der weltgesellschaftlichen Institutionalisierung des Nationalstaats und Ursache für dessen eingangs konstatierten Formwandel ist. Die Entkopplung von staatlicher Mitgliedschaft, individuellen Rechten und nationaler Identität lässt sich, so meine These, in langfristiger Perspektive als paradoxe Folge der weltgesellschaftlichen Diffusion des Nationalstaats deuten. Ausgangspunkt für die weltweite Diffusion des Nationalstaats als Strukturelement der Moderne war neben dem klassischen völkerrechtlichen Prinzip staatlicher Souveränität die Idee nationaler Selbstbestimmung (vgl. Strang 1 9 9 0 : 8 5 7 , Mayall 1990). Bereits im 19. Jahrhundert griffen, orientiert an der Französischen Revolution, nationale Unabhängigkeitsbewegungen in Lateinamerika und Europa die Idee der Kopplung von staatlicher Souveränität, Menschen- und Bürgerrechten und Volkssouveränität auf (Hall 1 9 9 9 : 133f.). Institutionalisiert wurde das Prinzip nationaler Selbstbestimmung ansatzweise im Rahmen des Völkerbunds, wo es die Nationalstaatsbildung in den mittel-, ost- und südosteuropäischen Gebieten des ehemaligen Osmanischen, des Österreichischen und des Russischen Reiches legitimierte. Den Bevölkerungen der Kolonien wurde das Recht auf Selbstbestimmung allerdings mit Verweis auf ihre mangelnde zivilisatorische „Reife" abgesprochen (Strang 1996: 31f.); sie blieben der Herrschaft der Kolonialmächte unterworfen oder wurden einer Mandatsverwaltung, dem „sacred trust of civilization", unterstellt. Dennoch diente das Recht auf Selbstbestimmung zunehmend auch den Unabhängigkeitsbewegungen in Afrika, Asien und dem Nahen Osten als Legitimationssymbol (Anderson 1991: 114ff. und klassisch Emerson 1960), und zwar in Verbindung mit dem gegenüber dem imperialen Rassismus reklamierten Menschenrechten der Gleichheit und Nicht-Diskriminierung. Nach 1 9 4 5 wurde das Prinzip der Selbstbestimmung der „Völker" allgemein anerkannt und beförderte damit den kaum noch aufWaren die Vereinten Nationen 1 9 4 5 noch von 5 1 Staaten gegründet worden, so hatte sich parallel zum Anstieg unabhängiger Staaten die Zahl der Mitgliedstaaten bis 1 9 6 6 mehr als verdoppelt, stieg bis 1 9 8 9 auf 1 5 9 an und erreichte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion den aktuellen Stand von 1 9 1 Mitgliedsstaaten. 14
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zuhaltenden Zerfall kolonialer und anderer Reichsstrukturen. Auf Initiative und mit den Stimmen der neuen, post-kolonialen Staaten wurde es von der UN Generalversammlung in ihrer Declaration ort the Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples (1960) als formales Recht kodifiziert. 1 5 Es findet sich entsprechend als erstes und fundamentales Menschenrecht in den beiden großen Menschenrechtspakten von 1 9 6 6 . 1 6 Unabhängig von ihrer „Rasse" wurden damit alle „Völker" bzw. „Nationen" als legitime kollektive Akteure konstituiert und die Staaten auf deren angemessene Repräsentation verpflichtet. Die weltgesellschaftliche Institutionalisierung des Nationalstaats wird also zunächst durch die wechselseitig sich verstärkenden Prinzipien von nationaler Selbstbestimmung und Menschenrechten legitimiert. Mit der weltweiten Diffusion der Form des Nationalstaats im Zuge der Dekolonialisierung traten nun aber neue gesellschaftliche Problemlagen in den Horizont des völkerrechtlichen Menschenrechtsdiskurses. Die postkolonialen Staatsgründungen folgten nämlich - gemäß dem Prinzip des uti possidetis - den Grenzziehungen der Kolonial- bzw. Mandatsadministration, die mit den Siedlungsgebieten ethnischer, sprachlicher oder religiöser Gemeinschaften nur selten übereinstimmten. Jenen sub-nationalen Gruppen erkannten die neuen politischen Eliten, legitimiert durch die um Sezessionsbewegungen besorgten Vereinten Nationen, indessen das Recht auf äußere Selbstbestimmung ab. Stattdessen wurde ihnen ein Recht auf innere Selbstbestimmung zugesprochen, in dessen Folge zunehmend Fragen der politischen Arrangements „pluraler Gesellschaften" menschenrechtsrelevant wurden. In Reaktion auf diese Problemlagen wurden auf weltgesellschaftlicher Ebene zunehmend neue, gruppenbezogene Rechte institutionalisiert, die allmählich zur Delegitimation des klassischen Modells des Nationalstaats und zur Institutionalisierung „multi-kultureller" Staatsbürgerschaft beitrugen. Wie die folgende Analyse zeigt, lassen sich die hier zunächst nur idealtypisch skizzierten paradoxen Folgen der weltgesellschaftlichen Institutionalisierung des Nationalstaats an semantischen Verschie1 5 Z u r Bedeutung der Unabhängigkeit ehemaliger Kolonien für die Völkerrechtsentwicklung vgl. allgemein Cassese 1 9 8 6 : 7 0 f f . sowie mit Blick auf das Scheitern der klassischen Idee des Nationalstaats Bielefeld 2 0 0 3 : 3 6 2 f f . 1 6 Vgl. den gleich lautenden Artikel 1 des Zivil- und des Sozialpakts. Zu dessen anti-kolonialer Intention Opitz 2002: llOf.
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bungen in den drei Phasen der internationalen Verrechtlichung der Menschenrechte im Detail nachzeichnen. Gerade das Beispiel religionsbezogener Menschenrechte lässt dabei erkennen, dass die Relationierung von Individuum und Staat in der ersten Phase lediglich durch die kollektive Einheit der Nation vermittelt war, während in der zweiten und dritten Phase Identitätskategorien sub- und transnationaler Gruppen in den post-Westfälischen Völkerrechtsdiskurs traten. (a) Die erste Phase der weltgesellschaftlichen Institutionalisierung von Menschenrechten (1945-1966) gilt als primär individualrechtlich orientiert. Tatsächlich war es ja das autonome Individuum, das durch Menschenrechte zumindest partielle Völkerrechtssubjektivität gewann und somit innerhalb der globalen Ordnung als legitimer Akteur konstituiert wurde. Entsprechend wurde - auch aufgrund der negativen Erfahrungen mit dem Minderheitensystem des Völkerbundes - in der UN Charta und der UDHR auf Bestimmungen zum Minderheitenschutz gänzlich verzichtet. 17 Auch der in den Zivilpakt von 1966 aufgenommene Artikel 27 über den Schutz von Angehörigen ethnischer, religiöser oder sprachlicher Minderheiten wurde anfangs noch strikt individualrechtlich interpretiert (Sohn 1981: 274f.). Diese individualrechtliche Ausrichtung war jedoch verschränkt mit der Konstitution der Nation als Trägerin des Rechts auf Selbstbestimmung. Dies zeigt insbesondere die Kontroverse um die insbesondere von kommunistischen Staaten geforderte Aufnahme des Gleichheitsprinzips und des Diskriminierungsverbots in die UDHR. Obwohl individualrechtlich formuliert, zielten beide Grundsätze primär auf die Gleichheit der Völker bzw. „Rassen" im Blick auf die Ausübung von Souveränität, hatten also eine dezidiert anti-koloniale Stoßrichtung. 18 Das individualrechtliche Verständnis der Menschenrechte und seine Verschränkung mit der klas17
Einer der in den travaux préparatoires vorgeschlagenen Textentwürfe enthielt z w a r einen Minderheitenartikel und w u r d e von den Vertretern der Sowjetunion, Jugoslawiens, des Libanon, anfangs auch Frankreichs unterstützt, seine A u f n a h m e scheiterte aber am Widerstand der USA u n d einiger lateinamerikanischen Staaten, die darauf verwiesen, es gäbe auf ihrem Territorium keine Minderheiten; vgl. M o r s i n k 1999: 274. 18 Vgl. Art. 1(3), 13 und 55(c) U N Charta, Art 2(1) Allgemeine Menschenrechtserklärung, Art. 2(1) und 26 ICCPR und Art. 2(2) ICESCR, ferner auch in Art. 1 und 5(1) der U N E S C O Convention Against Discrimination in Education (1960), UNTS, Vol. 429: 93. Z u r antikolonialen Stoßrichtung des Diskriminierungsverbots vgl. Morsink 1999: 93ff., Opitz 2002: 50, 53.
sischen Form des Nationalstaats spiegeln sich auch im Verständnis von Religionsfreiheit wider. 19 Den internationalen Schutz der Religionsfreiheit hatte, allerdings noch vergeblich (Dickson 1995: 330), bereits Woodrow Wilson in den Verhandlungen zur Völkerbundsatzung gefordert. Roosevelt nahm es in seine „list of four freedoms" auf, und eine Vielzahl neu gegründeter, auf den Schutz der Religionsfreiheit spezialisierter INGO setzte sich für eine Beschränkung staatlicher Souveränität im Bereich der Religionspolitik ein. 20 Unter ihrem Einfluss wurde Religionsfreiheit mit Artikel 18 UDHR auf die Liste international anzuerkennender Rechte gesetzt. Die weitere Kodifizierung dieses Rechts war indessen aufgrund der damaligen Akteurskonstellationen von etlichen Konflikten begleitet. Eine erste Konfliktlinie zwischen den USA und der Sowjetunion bezog sich auf die Definition des Religionsbegriffs. Während die kommunistischen Staaten die Gleichbehandlung von religiösem und atheistischem „Glauben" forderten, insistierten die Vertreter der Vereinigten Staaten auf dem besonderen Schutz von „Religion" in einem engeren Sinne. Ein zweiter Konflikt betraf das Recht auf Religionswechsel, das von konservativen islamischen Theologen als ein Recht auf Apostasie gedeutet und daher von Staaten wie Saudi-Arabien abgelehnt wurde (Morsink 1999: 24f., Lerner 2000: 22). Beide Konflikte schlugen sich in der Textfassung des Artikels zur Religionsfreiheit im Zivilpakt von 1966 nieder (Artikel 18 ICCPR). Als Kompromiss zwischen westlichen und kommunistischen Staaten wählte man die Formulierung „religion or belief", und als Zugeständnis an die muslimischen Staaten wurde die explizite Erwähnung eines Rechts auf Religionswechsel vermieden, wenngleich dieses in der Rechtsauslegung weiterhin als impliziter Bestandteil von Religionsfreiheit betrachtet wurde. Der Artikel erkennt zunächst das Recht auf Religionsfreiheit an, sodann das Recht zur praktischen Ausübung von Religion in ihren vier Manifestationen („worship", „observance", „practice", „tea-
19 Bereits in der Zeit des Imperialismus gehörte der Respekt vor individueller Religionsfreiheit zum „ s t a n d a r d of civilization"; vgl. Donnelly 1998: 5. 20 So die von Adventisten gegründete International Religious Liberty Association (1946), die International Association for the Defense of Religious Liberty (1946) und die Commission of the Churches on International Affairs of the World Council of Churches (1948). Die katholische Kirche stand dem Recht auf Religionsfreiheit in dieser Phase noch kritisch gegenüber; sie änderte ihre H a l t u n g erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ( 1 9 6 2 - 6 5 ) ; vgl. H e r z k a 1995: 107f.
Matthias Koenig: Weltgesellschaft, Menschenrechte und der Formwandel des Nationalstaats ching"). Nur die praktische Ausübung von Religion kann seitens des Staates eingeschränkt werden, nicht aber die Freiheit des Individuums, eigene religiöse Überzeugungen zu pflegen, und sie gilt daher im Sinne von Artikel 4(2) ICCPR als fundamentales, notstandsfestes („non-derogable") Recht (Kimminich 1990: 106, Dickson 1995: 341, Lerner 2 0 0 0 : 15). Als konstitutive Regel gelesen unterstellt das Recht auf Religionsfreiheit eine wechselseitige Definition von Religion und Individualität. Religion gilt als „fundamental point of view of ultímate matters", so der libanesische Delegierte Malik in den travaux préparatoires zur U D H R (vgl. Morsink 1 9 9 9 : 2 6 0 ) , das Individuum als rationaler und im Blick auf die Wahl seines Selbst- und Weltverständnisses autonomer Akteur (vgl. auch Dickson 1995: 327, Lerner 2 0 0 0 : 5). Wenngleich zugestanden wird, dass Religion auch gemeinschaftlich („in Community with others") ausgeübt werden kann, bleibt Rechtsträger allein das Individuum. Der Völkerrechtsdiskurs lässt damit eine Definition von Religion erkennen, die dem voluntaristischen Religionsbegriff der okzidentalen Moderne entspricht und im Zuge ihrer weltweiten Diffusion zum Wandel lokaler Religionssemantiken beigetragen hat, insbesondere in Asien (Beyer 1 9 9 8 , Koenig 2 0 0 0 ) . Als regulative Regel gelesen implizierte das Recht auf Religionsfreiheit zeitgenössisch durchaus neue Standards für staatliche Rechtsentwicklung. Da das implizite Modell politischer Ordnung den Staat lediglich auf die Toleranz individueller religiöser Überzeugungen, nicht jedoch auf die öffentliche Anerkennung kollektiver religiöser Identitäten verpflichtet, bleiben nationalstaatliche Arrangements von Politik und Religion - Staatskirchen, Nationalreligionen, Kooperationsmodelle, Laizität - weitgehend unangetastet (Lerner 2 0 0 0 : 132). (b) Ausgehend von den Prinzipien der Gleichheit und der Nicht-Diskriminierung wurden in der zweiten Phase der internationalen Verrechtlichung von Menschenrechten ( 1 9 6 6 - 1 9 8 9 ) Staaten auf die aktive Gleichstellung von Gruppen verpflichtet. Insbesondere durch die Kategorie der „Rasse" wurden dabei primordial codierte Identitätsrahmen subnationaler Kollektive formuliert. Zwar hatte sich die UN-Generalversammlung unter dem Eindruck antisemitischer Übergriffe Ende der fünfziger Jahre zunächst für eine Deklaration und Konvention zur Verhinderung religiöser Diskriminierung ausgesprochen, die gemeinsam mit separaten Instrumenten zur Rassendiskriminierung verabschiedet werden sollte. 2 1 Dass dennoch zunächst die Konvention zur 21
Die UN Menschenrechtskommission hatte mit Bezug
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Rassendiskriminierung (ICERD) verabschiedet wurde, ist - abgesehen von der diplomatischen Sensibilität des Religionsthemas im Konflikt zwischen Israel und den arabischen Staaten - auf das Interesse der aus den Unabhängigkeitsbewegungen hervorgegangenen Staaten an der Beendigung kolonialer Praktiken der Segregation zurückzuführen. 2 2 Die Rassismuskritik, die ursprünglich die post-kolonialen Unabhängigkeitsbewegungen legitimiert hatte, wurde nunmehr innenpolitisch gewendet. Die in der I C E R D erfolgte Spezifizierung des Verbots der Rassendiskriminierung, mittlerweile übrigens nach herrschender Meinung ius cogens, hat regulative und konstitutive Aspekte. So verpflichtet Artikel 2(2) die Staaten darauf, „besondere und konkrete Maßnahmen" zur Gleichstellung von ethnischen Gruppen oder Personen zu ergreifen, wobei eigens betont wurde, dass diese nicht ihrerseits als Diskriminierung im Sinne der Konvention gelten sollten (Artikel 1(4)). Das Durchführungsorgan der Konvention interpretierte diese Normen in den siebziger Jahren zusehends als Pflicht des Staates zur „affirmative action", also zur Herstellung nicht nur rechtlicher, sondern auch faktischer Gleichheit. Formale Gleichbehandlung sah man als diskriminierend an, sofern sie bereits existierende Ungleichheiten perpetuierte. 23 Aber auch konstitutive Regeln wurden in diesem Kontext festgesetzt, etwa wenn das Durchführungsorgan der ICERD den Staaten routinemäßig empfiehlt, in ihren demographischen Statistiken auch ethnische Gruppen zu identifizieren. 24 Durch
auf das Gleichheits- und Nicht-Diskriminierungsprinzip noch in den fünfziger Jahren eine unabhängige Studie zu religiöser Diskriminierung in Auftrag gegeben. Die von Arcot Krishnaswami (Indien) verfasste „Study of Discrimination in the Matter of Religious Rights and Practices" enthält einen Überblick über die Rechtslage in 8 2 Staaten und wurde prägend für die weitere Rechtsauslegung; sie enthält auch die „Draft Principles on Freedom and NonDiscriminination in the Matter of Religious Rights and Practices" der Unterkommission für die Verhinderung von Diskriminierung und den Schutz von Minderheiten; UN Doc. E/CN.4/Sub.2/200/Rev. 1 und dazu Lerner 2 0 0 0 : 11 ff. In der Präambel der Erklärung werden der Kolonialismus und das System der Apartheid in Südafrika direkt kritisiert; vgl. UN Doc. A/Res/1904 (XVIII) [10 November 1 9 6 3 ] . Zu Einzelheiten der Verhandlungen vgl. Banton 1 9 9 6 : 51ff., Lerner 1 9 9 1 : 77f. und 2 0 0 0 : 2 1 . 2 3 Zur „equality in law and in fact" und den Pflichten des Staates zu aktiver Anti-Diskriminierungspolitik vgl. M e ron 1 9 8 6 : 36ff. sowie Lerner 1 9 9 1 : 2 7 . 2 4 Vgl. U N Doc. CERD/General recom 4 [25 August 1 9 7 3 ] . In Kommentaren zu den Staatenberichten wird diese Empfehlung regelmäßig wiederholt. 22
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diese Regeln werden Staaten gewissermaßen zu Agenturen der Klassifikation und Reifikation subnationaler Kollektive. Ausgehend vom Topos der Rassendiskriminierung, der in einer Vielzahl internationaler D e k a d e n , Weltkonferenzen und A k t i o n s p r o g r a m m e n präsent gehalten wurde, sind neue R e c h t e zunehmend in der Semantik „kultureller Identität" formuliert worden. Unter kultureller Identität werden dabei weniger primordial, sondern eher traditional codierte Kollektivbindungen des Individuums bezeichnet.
Die UNESCO Declaration
on Race and Racial Pre-
judice von 1 9 7 8 , o b w o h l lediglich als „soft l a w " einzuschätzen, ist im Blick auf die diesbezügliche Entwicklung weltgesellschaftlicher Erwartungsstrukturen besonders aufschlussreich. Sowohl Individuen als auch Gruppen wird hier ein „ R e c h t auf D i f f e r e n z " bzw. ein „ R e c h t auf kulturelle Identität" zugebilligt. 2 5 D u r c h die Semantik der Rassendiskriminierung und der kulturellen Identität wurde in der zweiten Phase auch das individualrechtliche Verständnis von R e ligionsfreiheit überlagert. O b w o h l das Problem der juristischen Definition „rassischer" bzw. „ethnis c h e r " Gruppen nicht gelöst wurde, bezog m a n in den M e r k m a l s k a t a l o g ethnischer Gruppen im Sinne der I C E R D neben „ R a s s e " auch Sprache und Religion ein. Anlässlich eines Rechtsstreits in N o r w e gen beispielsweise, in dem die diskriminierende Darstellung islamischer Immigranten auf Flugblättern in zweiter Instanz für gesetzeswidrig befunden worden war, diskutierte der Ausschuss 1 9 8 4 die mögliche Ausweitung des Rassismusverbots in Artikel 4 I C E R D auf religiöse Diskriminierung. Sie wurde für zulässig befunden, sofern die entsprechenden Äußerungen sich konkret auf die religiöse Gruppe bzw. deren Mitglieder und nicht generell auf die Religion als ein Glaubenssystem b e z ö g e n . 2 6 Religion wurde damit gewissermaßen zu einem Elem e n t primordialer Gruppenidentität. Die Überlagerung der individuellen Religionsfreiheit durch das R e c h t auf kulturelle Identität zeigt sich auch in der weiteren Kodifizierung speziell religiöser R e c h t e , beispielsweise in der 1 9 8 1 nach langwierigen Verhandlungen verabschiedeten Declarati-
on on the Elimination of All Forms of Intolerance and Discriminiation Based on Religion or Belief.27 Als „soft l a w " bestätigt diese D e k l a r a t i o n das allgemeine R e c h t auf Religionsfreiheit (Artikel 1) und das Verbot religiöser Diskriminierung (Art. 2 ) , um dann beide Prinzipien zu spezifizieren. Einerseits werden dabei Regeln formuliert, die, wie die implizite Definition von Religion als „one o f the fundamental elements o f [one's] conception o f l i f e " , weitgehend dem klassischen Individualrecht auf Religionsfreiheit entsprechen. Andererseits aber geht die D e k l a r a t i o n über diese Konzeption hinaus, indem sie Staaten dazu auffordert, zur Verhinderung religiöser Diskriminierung aktiv tätig zu w e r d e n . 2 8 Die Implementierung der Deklaration wurde in den achtziger Jahren durch die Menschenrechtskommission und ihre Unterkommission mit Hilfe thematischer Sonderberichterstatter und im Dialog mit religiösen N G O und I N G O vorangetrieben (Lerner 2 0 0 0 : 29ff.). Als zentrale T h e m e n identifizierte man nunmehr die durch die besonderen Beziehungen zwischen Staat und einzelnen Religionsgemeinschaften möglicherweise entstehenden Benachteiligungen sowie den Bereich staatlicher Erzieh u n g s p o l i t i k . 2 9 Explizit wird dabei das R e c h t auf religiöse Nicht-Diskriminierung in das semantische Feld des R e c h t s auf kulturelle Identität bzw. Differenz eingeordnet, w o m i t Religion als ein Element traditionaler Gruppenidentität kategorisiert wurde.30
Vgl. U N Doc. A/Res/36/55 [25 November 1 9 8 1 ] . Zu den Entstehungshintergründen der Deklaration vgl. Lerner 2 0 0 0 : 20f. 27
So heißt es in Art. 4: „(1) All States shall take effective measures to prevent and eliminate discrimination on the grounds of religion or belief in the recognition, exercise and enjoyment of human rights and fundamental freedoms in all fields of civil, economic, political, social and cultural life. (2) All States shall make all efforts to enact or rescind legislation where necessary to prohibit any such discrimination, and to take all appropriate measures to combat intolerance on the grounds of religion or other beliefs in this matter". Obwohl die Anti-Diskriminierungbestimmungen hier weniger detailliert festgelegt werden, als in der ICERD oder der CEDAW, geht dieser Artikel über das klassische Neutralitätsgebot deutlich hinaus; vgl. Dickson 1 9 9 5 : 344f. 28
Vgl. dazu die Ausführungen der Sonderberichterstatterin Elizabeth Odio Benito (Portugal) in ihrem Bericht „Elimination of all forms of intolerance and discrimination based on religion or belief", UN Doc E/CN.4/Sub.2/1987/26; paras. 88 und 241 ff. 29
„All individuals and groups have the right to be different, to consider themselves as different and to be regarded as such", Art. 1(2). Das „right of all groups to their own cultural identity" wird in Art 5(1) festgelegt; vgl. dazu auch Lerner 1 9 9 1 : 3 5 . 2 6 Der Rechtsstreit betraf eine Güterabwägung zwischen dem Recht auf Meinungsfreiheit und dem Verbot rassistischer Propaganda; vgl. zur Diskussion Meron 1 9 8 6 : 3 5 . 25
„A régime of absolute respect for human rights must reconcile unity with diversity, interdependence with liberty. The equal dignity owed to all seeks respect for the difference in the identity of each person. It is in absolute re30
Matthias Koenig: Weltgesellschaft, Menschenrechte und der Formwandel des Nationalstaats Im Zusammenhang der allgemeinen Entwicklung gruppenbezogener Menschenrechte wird Religion also innerhalb des semantischen Feldes der „ R a s s e " primordialisiert oder durch Einbeziehung in das semantische Feld der „Kultur" traditionalisiert. In beiden Bedeutungsdimensionen wird Religion als eine vom Staat aktiv zu schützende kollektive „Identität" von Gruppen kategorisiert; die Pluralität religiöser Gruppen soll vom Staat nicht mehr nur toleriert, sondern aktiv gestaltet werden. Die Funktionen des Staates werden durch diese Weiterentwicklung von Menschenrechtsnormen um aktive Religionspolitik erweitert. Staaten, die an einem strikt individualrechtlichen Menschenrechtsverständnis festhalten, wie beispielsweise Frankreich sehen sich seither zunehmend der Kritik ausgesetzt. 3 1 (c) Kennzeichnend für die dritte Phase der internationalen Verrechtlichung der Menschenrechte ( 1 9 8 9 - 2 0 0 1 ) schließlich ist die zunehmende Spezifizierung der Rechte von Angehörigen von Minderheiten. Trotz der individualrechtlichen Ausrichtung von Artikel 2 7 des Zivilpakts wurde der Begriff der Minderheiten bereits früh dahingehend gedeutet, dass über die Existenz oder Nicht-Existenz von Minderheiten auf einem Territorium nicht in staatlicher Diskretion, sondern allein anhand des „objektiven" Merkmals von Differenz, verbunden mit dem „subjektiven" Willen der Aufrechterhaltung einer eigenen „Identität" befunden werden könn e . 3 2 Es waren aber erst der Zerfall der Sowjetuni-
spect for the right to be different that we find authentic equality and the only possibility of the full enjoyment of human rights without racial, sexual, or religious discrimination", UN Doc E/CN.4/Sub.2/1987/26, para. 17 (Hervorhebung von mir - M.K.). 31 Frankreich hatte bei Ratifikation des ICCPR (1980) die Nichtanwendbarkeit von Artikel 2 7 erklärt, wurde aber wiederholt durch das HRC, mit Verweis auf die migrationsbedingte Existenz ethnischer und religiöser Minderheiten, zur nachträglichen Anerkennung des Artikels aufgefordert; vgl. z.B. UN Doc. A/38/40 [1983]: para. 318 und UN Doc. A/43/40 [1988]: para. 410. 3 2 Francesco Capotorti, der Autor der von der Unterkommission zur Verhinderung von Diskriminierung und zum Schutz von Minderheiten in Auftrag gegebenen Studie, definiert Minderheiten wie folgt: „A group numerically inferior to the rest of the population of a State, in a non-dominant position, whose members - being nationals of the State - possess ethnic, religious or linguistic characteristics differing from those of the rest of the population and show, if only implicitly, a sense of solidarity, directed towards preserving their culture, traditions, religion or language", UN Doc. E/CN.4/Sub.2/384/Rev.l [1977]: para. 568. Indem er feststellt, dass es sich bei Minderheiten
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on und die Entstehung neuer Minderheitenlagen in ihren Nachfolgestaaten, die diese Thematik auf die Agenda internationaler Organisationen sowohl auf regionaler ( K S Z E / O S Z E , Europarat, EU) als auch auf globaler Ebene (UN, U N E S C O , ILO) rückten. 3 3 In der kontinuierlichen Rechtsauslegung durch den Menschenrechtsausschuss wurden nun zunehmend gruppenrechtliche Dimensionen von Artikel 2 7 I C C P R b e t o n t . 3 4 In eine ähnliche Richtung zielt auch die 1 9 9 2 von der UN-Generalversammlung verabschiedete Declaration on the Rights of Persons Belonging to National or Ethnic, Religious or Linguistic Minorities. Sie wiederholt in Artikel 2 ( 1 ) und 2 ( 5 ) die Prinzipien von Gleichheit und NichtDiskriminierung, geht aber bereits in ihrem programmatischen Artikel 1(1) deutlich darüber hinaus, indem sie den Staat verpflichtet, die Identität von Minderheiten zu schützen und die Bedingungen zur deren Aufrechterhaltung aktiv zu fördern. 3 5 Wie Artikel 4 ( 2 ) zeigt, ist die dabei zugrunde gelegte Überzeugung, dass nur durch die aktive Förderung der kollektiven Identität von Minderheiten die Gleichheit und Nicht-Diskriminierung der ihnen zugehörigen Personen gewährleistet werden kann. Auch die aus internationaler Migration entstandenen transnationalen Gemeinschaften fanden dabei Berücksichtigung, da der Begriff der Minder-
grundsätzlich um Gruppen handele, deren Mitglieder die Staatsangehörigkeit des betreffenden Staates besäßen, d. h. ausdrücklich nicht um Immigranten, trug Capotorti einer seit 1945 wiederholt von westlichen Staaten geäußerten Sorge Rechnung, die Kodifizierung von Minderheitenrechten im Rahmen des universalen Menschenrechtsschutzes könne die von ihnen praktizierte Assimilationspolitik in Frage stellen. 3 3 Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang die parallel laufende internationale Verrechtlichung der Rechte indigener Völker, etwa durch die ILO Konvention 169 (1989). 3 4 „Although the rights protected under article 27 are individual rights, they depend in turn on the ability of the minority group to maintain its culture, language or religion. Accordingly, positive measures by States may also be necessary to protect the identity of a minority and the rights of its members to enjoy and develop their culture and language and to practice their religion, in community with the other members of the group", UN doc. CCPR General Comment 23: The rights of minorities [8 April 1994], para. 6.2. (Hervorhebung von mir - M.K.). 3 5 „States shall protect the existence and the national or ethnic, cultural, religious and linguistic identity of minorities within their respective territories and shall encourage conditions for the promotion of that identity", Art. 1(1) Declaration on the Rights of Persons Belonging to National or Ethnic, Religious or Linguistic Minorities; Vgl. UN Doc. A/Res/47/135 [18 Dezember 1992]; vgl. dazu Thornberry 1995.
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heiten vorrangig an die subjektive Wahrnehmung einer Diskriminierungssituation geknüpft und nicht mehr nur auf Staatsangehörige beschränkt wurde. 3 6 Diese Entwicklung trifft sich mit der zunächst eigenlogisch verlaufenden Spezifizierung der Rechte von Arbeitsmigranten, die ihrerseits in die erste Phase der Institutionalisierung von Menschenrechten zurückreicht, als vor allem die ILO einige Konventionen zum Schutz von Wanderarbeitern formulierte, die allerdings bisher nur von wenigen Staaten ratifiziert worden sind. Auch die oben erwähnte UNESCO-Erklärung von 1978 hatte in Art. 9(3) angemessene staatliche Maßnahmen zur Anerkennung der „kulturellen Werte" von Migranten eingefordert. Erst in den achtziger und neunziger Jahren erhielt das Thema indessen höhere Aufmerksamkeit durch die Vereinten Nationen, wobei die Rezeption der in den Immigrationsländern Australien und Kanada entstandenen policy des „Multikulturalismus" eine gewichtige Rolle spielte (Inglis 1996). Insbesondere auf Initiative der sendenden Länder wurde 1990 eine auf Wanderarbeiter spezifizierte Menschenrechtskonvention (MWC) verabschiedet. 37 Neben der Gewährung einer Reihe bürgerlicher, politischer und sozialer Rechte wird den Migranten darin, selbst im Falle des Freiheitsentzugs, auch der Respekt vor ihrer „kulturellen Identität" garantiert (Artikel 17(1)). In einer Reihe weiterer Dokumente werden Staaten aufgefordert, aktiv zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sowie zur Förderung der durch Migration entstehenden „kulturellen Vielfalt" beizutragen. 38 Asbjorn Eide, Völkerrechtler und aktives Mitglied verschiedener Ar-
36 So in dem Bericht „Possible Ways and Means of Facilitating the Peaceful and Constructive Solution of Problems Involving Minorities" des Völkerrechtlers Asbjorn Eide (UN doc. E/CN.4/Sub.2/1993/34 [10 August 1993]), para. 41: „It [the working definition of minorities, M.K.] includes not only settled groups but also recent immigrants, although those w h o have arrived after the independence of the State may have somewhat lesser rights than those w h o were already settled there before the State emerged or re-emerged as an independent State". Auch der Kommentar des H R C zu Art. 2 7 ICCPR betont, der Status der Staatsbürgerschaft sei für den Begriff der Minderheiten irrelevant; vgl. U N doc. CCPR General Comment 23: The rights of minorities [8 April 1994], para. 5.2. 37 Vgl. U N Doc. A/Res/45/158 [18. Dezember 1990], Die Konvention trat erst 2 0 0 3 in Kraft, nach einem langwierigen Ratifikationsprozess, an dem sich bis heute außer Bosnien-Herzegowina und der Türkei übrigens kein europäischer Staat beteiligt hat. 38 So die Empfehlungen der Arbeitsgruppe zu Migration; U N Doc. E/CN.4/1999/80 [9 M ä r z 1999], para. 110. Vgl. neuerdings auch U N D P 2004: v.a. 47f.
beitsgruppen der Menschenrechtskommission, fasst die Rechtsentwicklung in der Formel des „pluralism in togetherness" zusammen. In einer „separate domain" würde die Konstruktion pluraler kollektiver Identitäten ermöglicht und staatlicherseits gefördert, während die Prinzipien der Gleichheit und der Nicht-Diskriminierung das Zusammenleben in einer „common domain" garantierten. 39 Auch das Religionsthema ist in der dritten Phase mit dem Wegfall des Ost-West-Gegensatzes wieder stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit internationaler Organisationen getreten. So haben die UN-Generalversammlung sowie die Menschenrechtskommission und ihre Unterkommission die Staaten in einer Reihe von Resolutionen aufgefordert, die in der Erklärung von 1981 formulierten normativen Standards zu implementieren. 40 Ferner hat der Menschenrechtsausschuss eine detaillierte Auslegung des Rechts auf Religionsfreiheit nach Artikel 18 ICCPR vorgelegt, in der er u. a. betont, dass die staatliche Bevorzugung einer Religion keine Diskriminierung anderer Religionen implizieren dürfe, womit historisch gewachsene Staat-KircheVerhältnisse prinzipiell zur Disposition gestellt wurden. 4 1 Im Rahmen einer breiten Definition von Religion 42 hat sich der Trend der Traditionalisierung von Religion in dieser Phase fortgesetzt; Religion wird als „cultural human heritage" kategorisiert und, wie z. B. die UNESCO Declaration on the Role of Religion in the Promotion of a Culture of Peace (1994) zeigt, zu einem der zentralen Faktoren von „cultural diversity". 43 Während gerade asiatische Staaten - wie etwa Südkorea (Koenig 2000: 561) - auf diese Erwartungszusammenhänge mit der Selbstbeschreibung der Nation als religiös plu3
' U N Doc. E/CN.4/Sub.2/1993/34, v.a. paras. 131ff. So z.B. in U N Doc. A/Res/48/128 [14 February 1994]; U N Doc. E/CN.4/Res/1994/18 [25 Februar 1994]; U N Doc. A/Res/53/140 [1 M ä r z 1999]. Hervorgehoben wird dabei u. a. der „deep concern that Islam is frequently and wrongly associated with human rights violations and with terrorism", U N Doc. E/CN.4/Res/2001/4 [18 April 2001], 41 „The fact that a religion is recognized as a state religion or that it is established as official or traditional or that its followers comprise the majority of the population, shall not result in any impairment of the enjoyment of any of the rights under the Covenant [...] nor in any discrimination against adherents to other religions or non-believers", U N Doc. CCPR General Comment 22 [30 Juli 1993], para. 9. 42 U N Doc. CCPR/General C o m m e n t 2 2 [30 Juli 1993], para. 2. 43 Vgl. U N E S C O Doc. SHS-98/WS/2: 25f; vgl. auch die UNESCO Declaration on Cultural Diversity, U N E S C O Doc. 31 C/Res/25 [2 November 2001], 40
Matthias Koenig: Weltgesellschaft, Menschenrechte und der Formwandel des Nationalstaats ral reagieren können, geraten westeuropäische Staaten migrationsbedingt unter Druck, ihre historisch gewachsenen Arrangements von Staat und Kirche im Blick auf die Einbeziehung muslimischer Minderheiten zu ändern. 4 4 Die hier skizzierte Entwicklung des Völkerrechts deutet insgesamt auf einen Bedeutungswandel der Menschenrechte hin, durch den das klassische M o dell nationaler Staatsbürgerschaft de-institutionalisiert wurde. 4 5 Als konstitutive Regeln tragen die Menschenrechte zur Konstruktion sub- und transnationaler Kollektive bei, als normative Regeln binden sie die Legitimität von Staaten an die aktive politische Förderung einer Pluralität primordial oder traditional codierter Identitäten. Die Institutionalisierung dieses Modells „multikultureller Staatsbürgerschaft" (Kymlicka 1 9 9 5 ) legitimiert eine Entkopplung von Mitgliedschaft, Rechten und nationaler Identität, die im Zentrum der gegenwärtig zu beobachtbaren politischen Konflikte um kulturelle Anerkennung steht und potentiell zu Widersprüchen zwischen individuellen und kollektiven Rechten und entsprechenden Konflikten um die Deutung von Menschenrechten führt. Sie impliziert insbesondere eine Veränderung der institutionellen Rahmenbedingungen staatlicher Religionspolitik. 4 6 Das klassische europäische Verständnis von individueller Religionsfreiheit und säkularem Nationalstaat scheint dabei infolge der Transformation institutioneller Arrangements von Staatsangehörigkeit, Rechten und Identität grundlegenden Veränderungen unterworfen zu sein. Die Trennung von Staat und Nation, anders gesagt: die Säkularisierung der Nation, mündet in eine erneute Politisierung von Religion, verstanden als expressive Dimension kol-
So wurde z. B. der Ausschluss kopftuchtragender Schülerinnen vom öffentlichen Schulunterricht in Frankreich durch das H R C explizit kritisiert; vgl. U N D o c . C C P R / C / S R . 1 5 9 9 ( 2 8 Juli 1 9 9 7 ] : paras. 5 9 f . Z u Einzelheiten vgl. Koenig 2 0 0 3 . 44
Inwieweit die weit reichenden geo-, sicherheits- und rechtspolitischen Folgen des Weltereignisses „ 9 / 1 1 / 2 0 0 1 " nicht nur eine neuerliche Stärkung staatlicher Autorität, sondern auch eine Rückkehr zu Assimilationspolitik motivieren, kann hier nicht näher diskutiert werden; vgl. in diese Richtung J o p p e 2 0 0 4 . Im Übrigen bleibt natürlich, wie die post-kommunistischen Staatsgründungen zeigen, auch das klassische Modell des Nationalstaats ein verfügbares Modell für politische Mobilisierung; vgl. nur Brubaker 1 9 9 7 . 45
Z u einer Analyse der Widersprüche zwischen individualistischen bzw. „voluntaristischen" und kollektivistischen bzw. „expressiven" Verständnissen der Religionsfreiheit und deren weltzivilgesellschaftlichen Trägern vgl. jetzt T h o m a s 2 0 0 4 : v.a. 2 4 3 .
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lektiver Identität. Gleichzeitig bedeutet diese Einbeziehung religiöser Traditionen in die öffentliche Sphäre aber auch deren zunehmende Rationalisierung durch den bürokratischen Staat, der, legitimiert durch den weltgesellschaftlichen Menschenrechtdiskurs, als Agentur der Kategorisierung kollektiver Identitäten fungiert. Die Menschenrechte haben damit im Zuge ihrer weltgesellschaftlichen Institutionalisierung einen Bedeutungswandel erfahren, der, wie das Beispiel des Rechts auf Religionsfreiheit zeigt, über das klassische, westliche Verständnis von Menschenrechten hinausgeht. Als paradoxe Folge der Diffusion des Nationalstaats hat dieser Bedeutungswandel dazu geführt, dass das klassische M o dell des Nationalstaats delegitimiert wurde und westliche post-industrielle Staaten Formen post-kolonialer Staaten annehmen. 4 7
4. Diskussion und Fazit Die historische Rekonstruktion der Völkerrechtsentwicklung deutet darauf hin, dass die weltgesellschaftliche Institutionalisierung der Menschenrechte in der zweiten Hälfte des 2 0 . Jahrhunderts in doppelter Weise zum Formwandel des Nationalstaats und nationaler Staatsbürgerschaft beigetragen hat. Erstens wurde die Akteurskonstitution und -relationierung von Staat und Individuum in normative und kognitive Erwartungsstrukturen auf weltgesellschaftlicher Ebene eingebettet. Damit erfolgt eine partielle Entkopplung von Mitgliedschaft und Rechten; zwar bleibt der Staat die primäre Inklusionsform, das Individuum gilt aber nicht mehr aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Nation als einer Gemeinschaft von Staatsbürgern, sondern aufgrund seines Menschseins als ein mit subjektiven Rechten ausgestatteter Akteur. Zweitens wird ein Modell politischer Ordnung institutionalisiert, das den Staat als Garanten einer Pluralität kollektiver Identitäten konstituiert und legitimiert. Auch Mitgliedschaft und Identität werden damit entkoppelt; nicht mehr die Repräsentation einer nationalen Gemeinschaft, sondern die Anerkennung einer Vielfalt kollektiver Identitäten in der öffentlichen Sphäre ist, bezogen auf die Verwirklichung der Rechte des Individuums, die Funktion von Staatlichkeit. Ethnizität, Sprache und Religion werden in diesem Kontext zu Objekten rationalen staatlichen Handelns und damit auch zu Gegenständen politischer Konflikte. Die
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Im Befund entspricht dies der Analyse von Shalini R a n deria ( 2 0 0 3 : 4 1 ) , die allerdings weniger auf die Pluralisierung kollektiver Identitäten, sondern auf Rechtspluralismus abstellt.
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Politik der kulturellen Anerkennung, die seit mehreren Jahrzehnten weltweit beobachtet werden kann, kann insoweit als Ergebnis der weltgesellschaftlichen Re-Institutionalisierung von Staatlichkeit und Staatsbürgerschaft gedeutet werden. Der neo-institutionalistische Erklärungsansatz dieses Formwandels des Nationalstaats ist gegenüber Theorien, die dem „methodologischen Nationalismus" verhaftet bleiben, insofern überlegen, als er weltgesellschaftliche Erwartungsstrukturen berücksichtigt. Allerdings ist die neo-institutionalistische Weltgesellschaftstheorie dabei an mehreren Punkten modifikationsbedürftig. So wurde deutlich, dass für die Erklärung der Generierung und des Bedeutungswandels weltgesellschaftlicher Erwartungsstrukturen das Handeln institutioneller Unternehmer sowie die über sie vermittelten paradoxen Folgen von Institutionalisierungsprozessen in Mehrebenensystemen zu berücksichtigen sind. Die durch das Prinzip nationaler Selbstbestimmung legitimierte Diffusion von Nationalstaatlichkeit führte im völkerrechtlichen Diskurs zur Rezeption neuer lokaler Problemlagen, die Anlass zur weiteren Spezifizierung und Differenzierung von Menschenrechten gaben. Lediglich gestreift habe ich das ebenso gewichtige Problem der Vermittlung weltgesellschaftlicher Erwartungsstrukturen sowie die Frage, inwieweit auch im Prozess von deren Lokalisierung semantische Veränderungen erfolgen. Gerade die hochgradige Spezifizierung und Diversifizierung international kodifizierter Menschenrechte macht es wahrscheinlich, dass sie selektiv übernommen, nur partiell implementiert und in Abhängigkeit lokaler semantischer Kontexte re-interpretiert werden. 4 8 Mit dieser Möglichkeit ist schon deswegen zu rechnen, weil die „world polity" und nicht zuletzt Menschenrechte kein kohärentes System, sondern konfligierende Erwartungen darstellen und damit Spielräume für unterschiedliche, jeweils gleichermaßen weltgesellschaftlich legitimierbare Praktiken entstehen lassen. Komparative Studien zeigen beispielsweise, dass die konkreten Formen der Politik religiöser Anerkennung in Westeuropa maßgeblich durch historisch gewachsene Beziehungen zwischen Staat und Kirchen sowie die Bedeutung von Religion in Codierungen nationaler Identität beeinflusst ist (Koenig 2003: 155ff.). Um den ansonsten durchaus weltgesellschaftlich bedingten Formwandel von Natio48
Neo-institutionalistische Analysen begnügen sich an dieser Stelle oftmals mit der Feststellung einer Diskrepanz zwischen der diskursiven Orientierung an Menschenrechten und tatsächlichen politischen Praktiken; vgl. Boyle / Meyer 1998: 223f.; aufschlussreich in diesem Zusammenhang aber Boyle/Preves 2000.
nalstaatlichkeit makrosoziologisch angemessen zu erklären, ist die neo-institutionalistische Weltgesellschaftstheorie also um die komparative Analyse historischer Pfadabhängigkeiten zu ergänzen. Die vorgestellte Analyse hat nun - und damit möchte ich schließen - Konsequenzen für den gegenwärtig so umstrittenen Begriff der „Gesellschaft". Anstatt ihn mitsamt seiner wie immer gebrochenen Ganzheitsambitionen auf eine globale Ebene zu projizieren, scheint es eher geboten zu sein, der Weberschen Skepsis gegenüber dem Gesellschaftsbegriff zu folgen und auf die Analyse der Wechselwirkungen zwischen multiplen Ebenen und Prozessen der Vergesellschaftung bzw. Institutionalisierung umzustellen (so schon Tenbruck 1989: 428). Die vielfach bemerkte theoretische Unschärfe der neo-institutionalistischen Konzepte von „world polity", „world society" oder „world culture" - der Begriff der „Weltgesellschaft" fungiert hier lediglich als Hinweisformal auf eine analytisch autonome und allerdings empirisch hochrelevante Ebene von Sozialität - ist insofern vielleicht sogar eine Tugend. Gerade so bleibt historisch-komparative Soziologie jenseits des „methodologischen Nationalismus" sensibel für Mehrebenenverhältnisse - und verdient es, in diese Richtung weiterentwickelt zu werden.
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Autorenvorstellung: Matthias Koenig, geb. 1971 in Hamburg. Studium der Soziologie und der evangelischen Theologie in Hamburg, Princeton und Marburg. Promotion in Marburg. Von 1998-2003 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Philipps-Universität Marburg; seit 2003 Wissenschaftlicher Assistent an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, Menschenrechte, Religionssoziologie. Wichtigste Publikationen: Menschenrechte bei Durkheim und Weber, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag (2002). Menschenrechte, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag (2005). Staatsbürgerschaft und Religion in postnationalen Konstellationen, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag (i. E.).
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 394-414
Weltgesellschaft und Nationalgesellschaften: Funktionen von Staatsgrenzen World Society and National Societies - Functions of National Borders Uwe Schimank FernUniversität in Hagen, Fachbereich Kultur- und Sozialwissenschaften, Universitätsstr. 21, D-58097 Hagen E-mail: [email protected] Zusammenfassung: Als funktional differenzierte Gesellschaft ist die Moderne von Beginn an Weltgesellschaft; die Globalisierungsschübe der letzten Jahrzehnte führen diesen Tatbestand nur unübersehbar vor Augen. Dennoch trifft die common-sense-Einschätzung, die bislang von Nationalgesellschaften ausgegangen ist, einen wichtigen Punkt: Die funktional differenzierte Weltgesellschaft kann sich bis dato nur als segmentär differenzierte Pluralität von Nationalgesellschaften reproduzieren. Eine funktionale Analyse von Staatsgrenzen vermag aufzuzeigen, dass diese wichtige Funktionen für die Konstitution der Handlungsfähigkeit von Akteuren, die gesellschaftliche Sozial- und Systemintegration sowie die gesellschaftliche Evolution erfüllen. Wenn eine voranschreitende Globalisierung diese Funktionen untergräbt, wird die Weltgesellschaft mit einem ernsthaften Reproduktionsproblem konfrontiert. Summary: As a consequence of its functional differentiation, modern society has been a world society from ist inception. The globalization dynamics of the last several decades are merely conspicuous manifestations of this constitutive feature of modernity. However, a common sense understanding of modern society as a plurality of national societies emphasizes out an important fact: The functionally differentiated world society has reproduced itself as a plurality of national societies, chiefly, on the basis of a second-order segmentary differentiation. A functional analysis of national borders shows that they fulfill important functions for the constitution of the agency of participants, for the social integration of society for the integration of its systems, and for societal evolution. If the dynamics of ongoing globalization erodes these functions, world society will be confronted with a serious problem of reproduction. Konfrontiert mit der Globalisierungsdiskussion, die kaum in der Soziologie, sondern zum einen in der politischen Öffentlichkeit, zum anderen in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen wie der Politik- und der Wirtschaftswissenschaft sowie den Kulturwissenschaften initiiert wurde, sieht sich die soziologische Gesellschaftstheorie eigentümlich uneins mit sich selbst. Auf der einen Seite denkt sie nach wie vor vorrangig in Termini von Nationalgesellschaften - auf der anderen Seite ist ein solches Denken theoretisch nicht begründet, während das insbesondere von Niklas Luhmann vorgetragene Gegenkonzept der Weltgesellschaft große analytische Stringenz aufweist. Dass die Soziologie von Nationalgesellschaften wie der deutschen oder der chinesischen spricht, stellt vor allem eine unreflektierte Übernahme des Alltagsdenkens dar. Welche Funktionen das Denkmus* Eine frühere Fassung dieses Beitrags wurde mit Stefan Lange gemeinsam erarbeitet und von uns auf einer Tagung des Bielefelder Instituts für Weltgesellschaft am 6.12.2002 vorgetragen. Ich bedanke mich weiterhin bei den anonymen Gutachtern und den Herausgebern der Zeitschrift für Soziologie für zahlreiche Hinweise, die bei so explorativen Überlegungen wie den vorliegenden von besonderem Nutzen sind - auch dann, wenn man ihnen dann manchmal doch nicht folgt.
ter, Gesellschaften mit staatlichen Territorien gleichzusetzen, im tagtäglichen gesellschaftlichen Erleben und Handeln hat, wird noch eingehend zur Sprache kommen. Gerade um diese Funktionen zu entschlüsseln, ist es freilich unerlässlich, das Denkmuster analytisch zumindest einzuklammern. Vermutlich bleibt die Soziologie diesem aber auch deshalb so stark verhaftet, weil sich ihr eigener disziplinärer take off im selben Zeitraum vollzog, in dem die Idee des Nationalstaats in Europa ihren Siegeszug nahm, eines Gebildes also, das nicht nur im Sinne M a x Webers (1922: 815) „Staatsanstalt", sondern zusätzlich von Nationalgefühl durchdrungen war; und eine sich so zugleich instrumentell wie affektiv konstituierende Nation wurde dann als eine eigenständige Gesellschaft erlebt, unterstützt durch die ethnisierende Hochstilisierung tatsächlicher oder vermeintlicher Differenzen zwischen z. B. Deutschen und Franzosen zu Wesensunterschieden. 1 Die soziologische Gesellschaftstheorie hat diesen Geburtsfehler immer weiter tradiert. Da die Entwicklung des Faches u.a. deshalb bis heute überwiegend in nationalen Bahnen verlaufen ist, wurde dieser Defekt kaum bemerkt. Es ist nach wie vor 1
Siehe dazu materialreich Hansen 2001.
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das Übliche, dass sich ein Soziologe in Deutschland mit der deutschen Gesellschaft befasst, ein in Großbritannien arbeitender hingegen mit der britischen. Weil die nationalen Grenzen Aufmerksamkeitsgrenzen soziologischer Forschung sind, kommt man gar nicht auf die Idee, dass die Gesellschaft wenige Kilometer westlich von Aachen oder Trier womöglich gar nicht so grundverschieden ist - dass dort vielleicht sogar dieselbe Gesellschaft existiert. Wenn dann schließlich auch noch diejenigen nicht sehr zahlreichen - soziologischen Forschungen, die Staatsgrenzen überschreiten, Nationen zu Analyseeinheiten erheben, als wäre dies das Selbstverständlichste auf der Welt, wird ein Denken in Nationalgesellschaften geradezu verdinglicht. Genau das tut der sogenannte „Gesellschaftsvergleich" unisono, ob es nun um Schichtungsstrukturen, demographische Entwicklungen oder die nationalen „Kulturen der Moderne" (Münch 1986) geht. Selbstverständliches wird nicht begründet. So auch hier! Man sucht in der soziologischen Gesellschaftstheorie vergeblich nach Argumenten dafür, dass politisch gesetzte Grenzen für alle anderen Gesellschaftsbereiche gleichermaßen gelten. Aristoteles hätte dies für die griechischen Stadtstaaten seiner Zeit noch plausibel machen können. Doch insbesondere aus einer differenzierungstheoretischen Perspektive auf die moderne Gesellschaft müsste jede analytische „Politophilie" (Kaube 2002) sogleich suspekt erscheinen - was Talcott Parsons (1971) nicht daran hindert, seinerseits für die Moderne ganz lapidar von „Gesellschaften" zu sprechen und damit Nationalgesellschaften zu meinen. Er definiert Gesellschaft bekanntlich als soziales System, das ein „Höchstmaß an Selbstgenügsamkeit (selfsufficiency) im Verhältnis zu seiner Umwelt" (Parsons 1971: 16) aufweist; und zu dieser Umwelt gehören vor allem andere Gesellschaften, wie sich beiläufig etwa aus dem Hinweis ergibt, dass „eine wirksame gesellschaftliche Zielverwirklichung die Kontrolle über Handlungen innerhalb eines bestimmten Territoriums" erfordere (Parsons 1971: 17). Eine Gesellschaft ist also an ein bestimmtes Territorium, das des Nationalstaats, gebunden, und außerhalb dessen existieren andere Gesellschaften. Globalisierung - verstanden als weltweite Extension von Kontakten, Wirkungsverkettungen, kulturellen Orientierungen und Aufmerksamkeitshorizonten (Schimank 2004) - müsste vor diesem Hintergrund als Verlust an nationalgesellschaftlicher „Selbstgenügsamkeit" verstanden werden. Zwar würde Parsons diesen Vorgang nicht völlig negativ konnotieren, weil er keine vollkommene
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„Selbstgenügsamkeit", also Autarkie, zum Idealbild einer funktionstüchtigen und reproduktionsfähigen Gesellschaft erhebt. Doch als eine kritische Herausforderung für jede Nationalgesellschaft im Sinne einer erforderlichen Neujustierung des Niveaus ihrer „Selbstgenügsamkeit" erschiene Globalisierung Parsons allemal. Die analytischen Unzulänglichkeiten dieser Theorieanlage sind allerdings evident: Was ist das adäquate Niveau an „Selbstgenügsamkeit"? Ist es historisch invariant oder variabel? Und wie könnte es überhaupt auf einer einheitlichen, alle Dimensionen und Bereiche von Gesellschaft übergreifenden Skala empirisch gemessen werden? Sollte die Soziologie also die Vorstellung von Nationalgesellschaften schnellstens über Bord werfen und sich stattdessen Luhmanns (1971a, 1997: 145ff) Verständnis anschließen, dass die Moderne von Beginn an eine einzige Weltgesellschaft gewesen ist? Gesellschaft als Universum kommunikativer Erreichbarkeit bzw. - akteurtheoretisch gedacht 2 - prinzipiell möglicher Kontaktaufnahme zwischen individuellen oder korporativen Akteuren reicht heute unzweifelhaft weltweit. Die empirisch belegte These der „small world networks"-Forschungen, wonach eine beliebige Person eine beliebige andere auf der Welt in nicht mehr als sechs Schritten erreichen könnte, ist vielleicht der schlagendste Beweis (Milgram 1967, Watts 1999). Nicht, dass man Derartiges beständig täte, ist der Punkt - sondern dass es grundsätzlich möglich wäre, weil die „weak ties" (Granovetter 1973) über alle Staatsgrenzen hinweg existieren. Um so merkwürdiger mutet zunächst an, dass es neuerdings gerade auch unter denjenigen, die mit Luhmann von der Moderne als Weltgesellschaft ausgehen, zumindest einzelne Stimmen gibt, die die Bedeutung des Nationalstaats zu betonen beginnen. So konstatiert Alois Hahn (2000: 59), „dass alle Funktionssysteme . . . deutlich angewiesen sind auf territoriale Begrenzungen" durch ein Staatsgebiet. Im Tenor übereinstimmend heißt es bei Armin Nassehi (2002: 46): „Vielleicht liegt die Funktion des Politischen darin, aus Gesellschaft, also einem alles Soziale umfassenden, in der Moderne längst sich als Weltgesellschaft darstellenden Zusammenhang, Gesellschafte« zu machen." Auch er vermag sich also Weltgesellschaft nur als segmentar, nämlich räum-
Wie im Folgenden an vielen Stellen deutlich werden wird, nutzt die hier zugrunde gelegte differenzierungstheoretische Perspektive zwar wichtige Einsichten der systemtheoretischen Herangehensweise Luhmanns - jedoch in einem akteurtheoretischen Bezugsrahmen, der hier nicht expliziert werden kann (Schimank 1 9 8 5 , 1 9 8 8 , 1 9 9 5 ) . 2
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lieh differenziertes Ensemble von politisch konstituierten Nationalgesellschaften - auch Nationalstaaten genannt - vorzustellen. Dass die Alltagssprache häufig von „Staat" spricht, wenn „Gesellschaft" gemeint ist, ist das common-sense-Pendant dazu.3 Ausgearbeitete Begründungen für diese Ahnungen fehlen freilich sowohl bei Hahn als auch bei Nassehi. Im Folgenden sollen theoretische Überlegungen im Horizont dieser Frage angestellt werden: Ist die Weltgesellschaft auf ihre segmentäre Differenzierung in Nationalgesellschaften angewiesen? Ganz abgesehen von noch vielfach lückenhaften empirischen Belegen kann die Frage hier auch theoretisch nicht abschließend beantwortet werden. Der Beitrag beschränkt sich vielmehr auf die unübergehbare Vorfrage nach den gesellschaftlichen Funktionen von Staatsgrenzen. Damit wird ein gravierendes Defizit der aktuellen Globalisierungsdiskussion auszugleichen versucht. Ein Großteil dieser Diskussionen macht sich bei seinem teils fröhlichen, teils fatalistischen Abgesang auf den Nationalstaat nicht hinreichend klar, was dieses soziale Gebilde, das durch seine territorialen Grenzen Nationalgesellschaften konstituiert, genau dadurch eigentlich im Einzelnen für alle Arten von Handeln und handelndem Zusammenwirken in sämtlichen gesellschaftlichen Teilsystemen leistet. Erst wenn zumindest Konturen einer Antwort hierauf erkennbar werden, lässt sich eine fundiertere Debatte über Chancen und Risiken von Globalisierung beginnen.
1. Die Politik in der funktional differenzierten Weltgesellschaft Bevor die Funktionsanalyse von Staatsgrenzen angegangen wird, muss zunächst geklärt werden, warum die moderne Gesellschaft Weltgesellschaft geworden ist und wieso parallel dazu die Politik in diesem Rahmen Nationalgesellschaften hervorgebracht hat. Die funktional differenzierte Gesellschaft der Moderne ist auf Weltgesellschaft hin angelegt. Wenn man funktionale Differenzierung mit Luhmann konsequent als Polykontexturalität selbstreferentiell operierender gesellschaftlicher Teilsysteme begreift (Schimank 2003), vermag man den Gestus der Überraschtheit nicht zu teilen, der weithin die
Umgekehrt wird der „Staat" nicht als „Gesellschaft" angesprochen. 3
Debatten über Globalisierung durchzieht. Die räumliche Entgrenzung von immer mehr teilsystemischen Operations- und Wirkungszusammenhängen über nationalstaatliche Territorien hinaus ist für Luhmann kein erst ab einem bestimmten Zeitpunkt hinzutretendes Merkmal der modernen Gesellschaft, sondern in ihrer Konstitution verankert. Globalisierung stellt nichts als eine Entfaltung von Gelegenheitsstrukturen dar, die funktionale Differenzierung von Anfang an bietet. Der historische Vorgang der Globalisierung enthüllt gleichsam die funktional differenzierte Moderne als Weltgesellschaft. Was dem Beobachter - sei es dem Zeitungsleser, sei es dem Gesellschaftstheoretiker - erst allmählich bewusst wird, war als Potential immer schon da: „modernity is inherently globalizing", wie auch Anthony Giddens (1990: 63) konstatiert. 4 Genau deshalb kann und muss man von nur einer einzigen modernen Gesellschaft sprechen, während alle vormodernen Gesellschaften im Plural vorkamen. Die Erklärung dafür lautet, Luhmann folgend: Funktionale Differenzierung als Ausdifferenzierung selbstreferenziell geschlossener Orientierungshorizonte des Handelns und Erlebens in der Gesellschaft weist - mit der noch zu erläuternden Ausnahme des politischen Systems - nirgends immanente, aus der Logik des jeweiligen binären Codes sich zwingend ergebende räumliche Stoppregeln des teilsystemischen Operierens auf: 5 „Warum sollten Zahlungen an territorialen Grenzen haltmachen, warum sollte Wahrheit von der Sprache abhängen, in der sie publiziert wird, warum Liebe von der Hautfarbe oder Religion vom Breitengrad?" (Hahn 2000: 58) Für die Faktizität des räumlichen Ausgreifens teilsystemischen Operierens bedarf es lediglich günstiger Gelegenheiten, um Schritt für Schritt in Richtung Globalisierung zu gehen - wozu vor allem auch technische Innovationen im Verkehrswesen und in der Telekommunikation gezählt haben. Weil die Gelegenheiten sich von Teilsystem zu Teilsystem unterschiedlich bieten, ist nicht davon auszugehen, dass sich die Teilsysteme gewissermaßen im Gleichschritt zur Weltgesellschaft hin bewegen. Im Gegenteil ist emDer freilich an einem Denken in Nationalgesellschaften festhält. 5 In der Frühzeit der teilsystemischen Ausdifferenzierungen - etwa der Wirtschaft - war sogar das Gegenteil der Fall, worauf, an Weber anknüpfend, Richard Münch ( 1 9 9 0 : 4 4 8 , 4 5 1 ) hinweist: Außenkontakte mit Fremden boten entscheidende Gelegenheitsstrukturen, um sich der ansonsten alles überwölbenden Solidarität der lokalen Gemeinschaft zu entziehen. 4
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pirisch für lange Zeit, womöglich sogar dauerhaft, von sehr unterschiedlichen Globalisierungsintensitäten zwischen den Teilsystemen sowie auch zwischen verschiedenen Segmenten desselben Teilsystems auszugehen (Luhmann 1971a): 6 Wissenschaft ist globalisierter als Bildung, und Spitzensport ist globalisierter als Breitensport. Unter Umständen kann es sogar hier und dort gelegentlich zu einem Rückgang des Globalisierungsniveaus kommen wenn sich etwa Fernreisen drastisch verteuern sollten, so dass sich viele Menschen dergleichen nicht mehr leisten können, oder wenn religiöser Fundamentalismus bestimmte Weltregionen politisch, wirtschaftlich, wissenschaftlich, massenmedial u.s.w. abschottet. Ganz im Gegensatz zu dieser Gemeinsamkeit aller übrigen gesellschaftlichen Teilsysteme, gleichsam räumlich ungebunden und daher ausschweifend zu operieren, ist moderne Politik an eingegrenzte Territorialität gebunden. Der Staat als organisatorisches Zentrum des politischen Teilsystems der modernen Gesellschaft (Luhmann 2000: 243ff.) hat als eines seiner konstitutiven Merkmale das Staatsgebiet als räumlich exklusiven Herrschaftsbereich (Benz 2001: 32, 82ff.). Anders als noch für die räumlich teils mobilen, teils koexistierenden politischen Herrschaftsverbände des Mittelalters gilt für den modernen Staat: „Seine Zuständigkeit erstreckt sich auf ein Gebiet. Sie ist nicht auf bestimmte Personengruppen beschränkt und resultiert auch nicht aus spezifischen sozialen Beziehungen" (Benz 2001: 83). 7 Staatliche Zuständigkeit beruht auf legitimer Macht. Macht ist nicht zwangsläufig räumlich gebunden - siehe etwa die Macht in formalen Organisationen, die sozial auf Mitglieder (Luhmann 1964) und dann sachlich auf die „zone of indifference" (Barnard 1938: 167ff.), u.a. einen bestimmten Aufgabenbereich des Mitglieds, begrenzt ist. Dass eine Organisation zudem über das Hausrecht in ihren Gebäuden und auf ihrem Gelände verfügt, ist demgegenüber zweitrangig; wichtiger ist, dass ein Mitglied etwa auch auf einer Dienstreise der Organisationsmacht unterworfen ist - freilich nur in dienstlichen Angelegenheiten, nicht in seinen Frei6 Siehe dazu auch als knappen Überblick über die historische Forschung Osterhammel/Petersson 2 0 0 3 . 7 Die Schwierigkeiten der Staatsbildung in Afrika, die häufig zu nicht mehr als Staatsfassaden geführt haben, verweisen auf die dortige Zählebigkeit vormoderner Herrschaftsstrukturen, wie sie ähnlich auch in Alteuropa existierten. Insoweit kann man Trutz von Trothas ( 2 0 0 0 ) Analyse folgen, auch ohne in den afrikanischen Verhältnissen die „Zukunft" Europas sehen zu müssen.
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zeitaktivitäten am Abend. Die Form des modernen Staates beruht demgegenüber auf einer räumlichen Spezifikation sozial und sachlich - letzteres im Rahmen der Gesetze - universaler Macht: Auf dem Staatsgebiet unterliegt jeder in all seinen Aktivitäten staatlicher Macht. Diese Form staatlicher Macht ist darin begründet, dass sie sich aus einem nur räumlich etablierbaren Monopol legitimer physischer Gewalt speist. Der europäische Staat bildete sich als territoriales Gewaltmonopol zur Überwindung der Religionskriege heraus. Die staatliche Monopolisierung der zuvor anarchisch fluktuierenden gesellschaftlichen Gewalt entfaltete drei Wirkungen (Weber 1922: 821ff., Luhmann 2000: 189ff.) 8 : Erstens wurden den Gesellschaftsmitgliedern und sozialen Gruppen die Gewaltmittel weitgehend entzogen, die sie dann nicht mehr gegeneinander einsetzen konnten. Diese Enteignung schuf öffentliche Sicherheit in allen Lebensbereichen. Zweitens eignete sich der Staat damit zugleich selbst ein überlegenes Gewaltpotential an, das er zum einen gegen Restbestände verbleibender Gewalt einsetzen und zum anderen zum Aufbau einer Rechtsordnung verwenden konnte. Drittens schließlich war auf dieser Grundlage von Sicherheit und rechtlicher Regulierung - institutionalisiert als enge strukturelle Kopplung von Politik mit Militärund Rechtssystem - der immer weitere Ausbau der Staatsaufgaben bis hin zum heutigen Wohlfahrtsund „Steuerungsstaat" (Kaufmann 1991) möglich. Dass staatliche Macht auf physischer Gewalt beruht und dass deshalb „ . . . in anderen Systemen relativ gewaltfrei gearbeitet werden kann" (Luhmann 2000: 56), setzt bis heute aus logistischen Gründen eine begrenzte Territorialität voraus. 9 Denn Gewalt richtet sich letztlich gegen menschliche Körper und kann zielgenau und dosiert im Sinne differenzierter Verhaltensbeeinflussung fast nur interaktiv, also bei räumlicher Kopräsenz, ausgeübt werden (Schubert 2001: 68). Briefbomben und Luftangriffe demonstrieren beispielhaft, wie wenig effektiv ferngesteuerte Gewalt wirkt: wie massiv man vorgehen muss 8 M i t Schubert ( 2 0 0 1 : 6 8 ) , der Politik und Militär als zwei eigenständige gesellschaftliche Teilsysteme konzipiert, müsste man genauer sagen: Der Staat monopolisiert die machtbasierte Entscheidung über den Einsatz physischer Gewalt. 9 Siehe auch den Hinweis von Arthur Benz ( 2 0 0 1 : 84) auf die „faktischen Grenzen der Wirksamkeit von Machtausübung". Geschichtlich weist Michael M a n n ( 1 9 8 6 ) an vielen Stellen auf dieses logistische Moment gewaltgestützter Machtausübung hin. Moderne Waffen und andere Formen des Gewalteinsatzes ändern daran nichts Grundlegendes.
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und wie grobschlächtig die Wirkungen sind, wenn man sich nicht in körperliche Nähe begibt. Das aktuelle Geschehen im Irak zeigt nachdrücklich, dass schon allein die elementarsten Bedingungen öffentlicher Sicherheit, ganz zu schweigen von anspruchsvolleren Formen rechtlicher Regulierung oder politischer Gesellschaftssteuerung, nicht aus der Ferne erzwungen werden können. Die größte Militärmacht der Welt muss ihren Gewaltapparat vor Ort verlagern, den Irak quasi temporär territorial annektieren - und selbst dann ist der Erfolg des Machteinsatzes alles andere als gewiss.
modernen Gesellschaft. 11 Ob und wie Staatsgrenzen durch Kommunikationen und Handlungen aller Art ebenso wie durch Akteure oder materielle Ressourcen passiert werden, wird politisch reguliert was immer auch ein mehr oder weniger weitgehendes Unterlassen von Regulierung als Möglichkeit mit einschließt. Der Extremfall Nordkorea zeigt, wie weitreichend - wenngleich auch hier nicht vollständig - Staatsgrenzen teilsystemische Zusammenhänge kappen können: wirtschaftliche wie künstlerische, sportliche wie familiäre, wissenschaftliche wie massenmediale.
So ergibt sich: Alle gesellschaftlichen Teilsysteme mit Ausnahme des politischen Systems operieren aus sich heraus prinzipiell räumlich grenzenlos; und jeweils vorliegende faktische Grenzen der verschiedenen Teilsysteme stimmen kaum einmal untereinander oder mit den politisch gezogenen Grenzen des Nationalstaats überein. Die spezifische Raumbezogenheit der modernen Politik stellt nun aber im Ensemble der Teilsysteme der funktional differenzierten Weltgesellschaft keine akzidentielle Besonderheit dar, insbesondere nicht etwa ein von Anfang an rückständiges Element, sondern vielmehr - wie ich im weiteren begründen will - einen wichtigen funktionalen Mechanismus, für den es in seiner Gesamtwirkung bislang keine funktionalen Äquivalente gibt: keine reproduktionsfähige Weltgesellschaft ohne Nationalstaaten! Die eine Weltgesellschaft kann jedenfalls bisher - nur als Pluriversum von Nationalgesellschaften, politisch in Form gebracht als Nationalstaaten, existieren. Die primär funktionale Differenzierung der Weltgesellschaft beruht auf einer sekundären, politisch konstituierten segmentären Differenzierung. 10
Als relative Interdependenzunterbrechung aller teilsystemischen Zusammenhänge der Weltgesellschaft konstituieren Staatsgrenzen nicht nur Nationalstaaten, sondern uno actu Nationalgesellschaften. Was Parsons als relative „Selbstgenügsamkeit" notiert, ist genauer als Resultat relativer Abschottung zu begreifen. Georg Simmel (1908: 465) erfasst diese grundlegende Wirkung von räumlichen Grenzen einer sozialen Kollektivität durch den Vergleich mit einem Bilderrahmen, dessen Funktion darin besteht, „das Kunstwerk gegen die umgebende Welt ab- und es in sich zusammenzuschließen." Auf Nationalgesellschaften bezogen heisst es weiter: „So ist eine Gesellschaft dadurch, dass ihr Existenzraum von scharf bewußten Grenzen eingefasst ist, als eine auch innerlich zusammengehörige charakterisiert". Da Staatsgrenzen als räumliche Grenzen, wie ebenfalls bereits Simmel (1908: 467) hervorhebt, nicht natürlich gegeben, sondern stets sozial konstruiert sind (Stichweh 2000b: 186), handelt es sich um Sinngrenzen, deren Funktion Luhmann (1971b: 73) allgemein so umreißt: „Sinngrenzen . . . ordnen ein Gefälle in Komplexität. Sie trennen System und Umwelt . . . Sie zeigen an, dass im System spezifizierte und bekannte (oder doch rasch erkennbare) Bedingungen der Möglichkeit des Handelns gelten, außerhalb des Systems dagegen jetzt irgendwelche' anderen. . . . Das Jenseits' bleibt vom System aus unspezifiziert." 12
2. Staatsgrenzen als funktionale Mechanismen weltgesellschaftlicher Reproduktion Staaten ziehen territoriale Grenzen - und zwar nicht bloß für das Operieren des politischen Systems, sondern auch für alle anderen Teilsysteme der Segmentäre Zweitdifferenzierungen im Rahmen funktionaler Differenzierung thematisiert Luhmann ( 1 9 9 7 : 7 6 0 f . ) vor allem mit Blick auf die Binnendifferenzierung vieler Teilsysteme, aber eben nicht für das Gesellschaftssystem insgesamt - siehe auch Tyrells ( 2 0 0 1 ) Überblick über Luhmanns Aussagen zu stratifikatorischer und segmentärer Differenzierung. Auch Hans Gesers ( 1 9 8 3 : 215ff.) systematische Überlegungen zu „segmentär-konsensualer" und „komplementär-arbeitsteiliger Differenzierung" gehen auf Formen der „Komplementarität" ein. 10
Welche Funktionen erfüllt die so etablierte Interdependenzunterbrechung durch Staatsgrenzen? 13 1 1 Hier geht meine These entscheidend weiter als die systemtheoretisch gängige Aussage Rudolf Stichwehs ( 1 9 9 5 : 40f.), dass eine Pluralität von Nationalstaaten eine Voraussetzung moderner We\tpolitik darstellt. 1 2 Mit George Spencer Browns ( 1 9 6 9 ) logischem Formkalkül gesprochen ist eine Grenze eine Unterscheidung, die einem „marked State" diesseits einen „unmarked State" jenseits gegenüber stellt.
Es sollte sich von selbst verstehen (Nagel 1 9 5 6 , Hempel 1 9 5 9 ) , dass die im Weiteren vorgelegte funktionale Analyse nicht die genetische Frage beantworten kann und 13
Uwe Schimank: Weltgesellschaft und Nationalgesellschaften: Funktionen von Staatsgrenzen Geht man dieser Frage nach, stößt man darauf, dass Staatsgrenzen wichtige Reproduktionserfordernisse der Weltgesellschaft bedienen - noch prononcierter gesagt: dass Nationalstaaten zu den Bedingungen der Möglichkeit von Weltgesellschaft zählen. 14 Im weiteren sollen drei Gruppen von Funktionen analytisch unterschieden werden: Staatsgrenzen sind erstens, was bereits anklang, wichtige Voraussetzungen der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit individueller und korporativer Akteure in der Weltgesellschaft; Staatsgrenzen sorgen zweitens dafür, dass die Probleme weltgesellschaftlicher Integration bewältigbar bleiben; und Staatsgrenzen verschaffen der Weltgesellschaft drittens bedeutsame Redundanzen für Stabilität und geordneten Wandel. In allen drei Hinsichten geben die folgenden Überlegungen keine erschöpfenden und gesicherten Auskünfte, sondern wollen lediglich durch eine Sichtung und Zusammenstellung verstreuter Hinweise aus ganz unterschiedlichen Forschungssträngen Thesen anbieten, die anschließenden empirischen Untersuchungen interessante Richtungen weisen.
2.1 Handlungsfähigkeit von Akteuren Wie andere Sinngrenzen sozialer Systeme auch hegen Staatsgrenzen, wie gerade erläutert, „Bereiche relativer NichtZufälligkeit" (Ackerman/Parsons 1966: 73; Hervorh. weggelassen) ein, Horizonte reduzierter Komplexität im unermesslichen weltgesellschaftlichen Möglichkeitshorizont. Hier lässt sich an das zentrale anthropologisch-funktionalistische Argument der älteren System/Umwelt-Theorie anknüpfen, demgemäß soziale Systeme Weltkomplexität reduzieren, um Akteuren eine komplexitätsentlastete Innenwelt zu bieten, innerhalb derer diese mit ihrer notorisch begrenzten Komplexitätsverarbeitungskapazität überhaupt erst handlungs- und entscheidungsfähig sind (Luhmann 1974b: 116). Dies gilt nicht nur für menschliche Individuen, sondern ist auf Organisationen als korporative Akteure übertragbar. muss, warum Staatsgrenzen als soziale Institution (Simmel 1 9 0 8 : 4 6 7 ) historisch entstanden sind. Auch die interessante Frage, was geschieht, wenn es Nationalstaaten gar nicht erst gelingt, funktionierende staatliche Grenzen aufzubauen, kann hier nicht verfolgt werden. 14 Bis heute soll diese These so verstanden werden, dass Staatsgrenzen ein funktionales Erfordernis weltgesellschaftlicher Reproduktion gewesen sind, also höchstens marginale funktionale Äquivalente existiert haben. O b Staatsgrenzen vielleicht zukünftig flächendeckend durch andere Mechanismen substituiert werden können, muss eine offene Frage bleiben - siehe den Schlussabschnitt.
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Erscheinungsformen von Komplexität sind die Unüberschaubarkeit von Wirkungszusammenhängen und die Vielfalt von Optionen in der Sachdimension, die Heterogenität und Inkompatibilität von Regeln und Kriterien des Handelns sowie die Konflikthaftigkeit von Konstellationen in der Sozialdimension und schließlich die Geschwindigkeit und Turbulenz von sozialen Dynamiken sowie Zeitknappheit in der Zeitdimension. Sinngrenzen können verschieden markiert sein: als Themen bei Interaktions-, als Mitgliedschaftsregeln bei Organisationssystemen, als binäre Codes bei den Teilsystemen der modernen Gesellschaft - und eben auch als Staatsgrenzen. Letztere sind, wie schon gesagt, politisch gesetzt, also erst einmal nur gemäß dem Code eines Teilsystems der Gesellschaft. Ihre Verbindlichkeit für alle anderen Teilsysteme gewinnen Staatsgrenzen als nicht-ignorierbare fremdreferentielle Elemente, die die Politik in die ProgrammstruVxnren - nicht in die binären Codes - der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Intimbeziehungen u.s.w. implantiert. Anders gesagt: Staatsgrenzen bilden feste strukturelle Kopplungen aller anderen Teilsysteme mit der Politik. Staatsgrenzen erfüllen für Akteure in allen gesellschaftlichen Teilsystemen - einschließlich der Politik - in einer ganzen Reihe von Hinsichten die Funktion einer komplexitätsreduzierenden Begrenzung von Sinnhorizonten des Erlebens und Handelns. 15 Einige dieser Hinsichten sind wohl bekannt, auf andere stößt man erst bei genauerem Hinsehen. Die folgende, hier nur stichwortartig mögliche Auflistung besitzt keine deduktive Systematik, ist also möglicherweise unvollständig. Die Funktionalität von Staatsgrenzen für die Ermöglichung von Handlungsfähigkeit wird jeweils kurz erläutert, um sogleich anzusprechen, auf welche Weise diese Funktionalität durch Globalisierungstendenzen geschwächt werden könnte oder - dies soll der Gebrauch der Vergangenheitsform ausdrücken - bereits worden ist.
1 5 Wie im Folgenden noch deutlich werden wird, wirken hierbei Staatsgrenzen und teilsystemische Grenzen oft zusammen. Der Aufmerksamkeitshorizont eines Akteurs ergibt sich als Schnittmenge von räumlicher und codegeprägter Begrenzung, wobei es müßig ist, auszumachen, welche der beiden Sinngrenzen mehr Komplexität reduziert. Wird z . B . das Blickfeld eines Unternehmens mehr durch die Fixierung auf Gesichtspunkte der Zahlungsfähigkeit - und nichts sonst - oder mehr durch die Fokussierung auf den deutschen M a r k t geprägt?
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1. Transaktionshorizonte Staatsgrenzen regulieren die Transaktion von Gütern, Dienstleistungen und Kapital durch Zölle und andere Import- und Exportbeschränkungen. Diese Grenzziehungen beziehen sich weiterhin auch auf nationalspezifische Industrie- und Arbeitskulturen, Bildungsstandards, professionelle Normen und technische Standardisierungen sowie unverwechselbare - mit der „Herstellernation" identifizierbare Güter. Die Komplexität der Horizonte, in denen ökonomische Transaktionen stattfinden, kann durch Staatsgrenzen vor allem in vier Hinsichten reduziert werden - immer im Vergleich zur Kontrastfolie völliger weltgesellschaftlicher Öffnung. Unternehmen ebenso wie der staatlichen Wirtschaftsund Finanzpolitik wird erstens ein überschaubarer Aktionsraum geboten, in dem sie sowohl die Kontextfaktoren, denen sie ausgesetzt sind, als auch die eigenen strategischen Optionen einigermaßen kalkulieren können. 1 6 Zweitens werden die Konkurrenzkonstellationen, in denen sich die Unternehmen bewegen, gedämpft. Fremde Konkurrenz war auf einheimischem Boden oft ausgeschaltet. Drittens kommt die vergleichsweise Transparenz nationaler Märkte den Käufern - ob dies individuelle Konsumenten oder Organisationen aus allen gesellschaftlichen Teilsystemen sind - zugute. Viertens schließlich wird das Tempo der Transaktionsdynamiken unter Kontrolle gehalten, so dass Unternehmen und staatliche Akteure Zeit für zumindest begrenzt rationale Entscheidungen besitzen. Nicht erst im Gefolge der GATT-Verhandlungen, aber durch diese beschleunigt, ist es zur Ausdehnung der Reichweite und Intensivierung des transnationalen Handels und der Finanzmärkte (Castells 2001: 83ff.) sowie zur internationalen Angleichung von technischen Standards, Bildungssystemen und Professionen gekommen. Darauf haben viele Staaten - nicht nur in Südostasien - mit der Einrichtung großräumiger Freihandelszonen reagiert. Diese setzen weltweit das national unterschiedliche Arbeitsrecht und die Organisationskulturen von Industrie und Dienstleistungen unter Konvergenzdruck. Insgesamt wird eine neue Phase des „capitalist world system" 1 7 eingeläutet, die durch eine weitere Zunahme und Beschleunigung der transnationalen
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Natürlich sorgen z. B. auch nationalstaatliche Wirtschaftspolitiken immer wieder für Überraschungen - aber das gäbe es im Weltmaßstab ebenfalls. 17 Die unter diesem Label firmierende Forschungslinie Immanuel Wallersteins (1987) trägt insbesondere zu diesem Aspekt der Globalisierung viele wichtige historische Befunde zusammen.
ökonomischen Transaktionen, immer wieder begleitet von Turbulenzen wie der Krise der südostasiatischen Finanzmärkte, gekennzeichnet ist. Die umfassende Betroffenheit von immer mehr Unternehmen durch diese Entwicklungen ist evident. Die Individuen sind über die Unsicherheiten der Arbeitsmärkte (Castells 2001: 229ff.), über die Optionsparalysen der Konsumwelt (Gross 1994), aber auch - etwa bei der privaten Rentenabsicherung über die Erratiken der Finanzmärkte, die Staaten über ihre Steuerabhängigkeit von der nationalen Wirtschaft betroffen. Komplexitätssteigerungen zeigen sich somit erstens in der Sozialdimension als Konkurrenzintensivierung nicht nur für Unternehmen, sondern auch für Individuen als Arbeitnehmer und Staaten als Investitionsorte, zweitens in der Sachdimension als immer größere Unberechenbarkeit und Unbeeinflussbarkeit der ökonomischen Dynamiken und ihrer Folgewirkungen in anderen Gesellschaftsbereichen, was drittens in der Zeitdimension mit immer knapperen Reaktionszeiten für das verbunden ist, was an Problembewältigung überhaupt noch machbar ist. 2. Migrationshorizonte Durch eine Kontrolle der Ein- und Ausreise von Personen an der Staatsgrenze können sowohl Emigration als auch Immigration, von Kurzaufenthalten bis zur dauerhaften Migration, geregelt werden. Die unerwünschte Auswanderung eigener Staatsangehöriger lässt sich ebenso wie die unerwünschte Einwanderung anderer Staatsangehöriger oder Staatenloser verhindern. Komplexitätsreduzierend wirkt dies vor allem in zwei Hinsichten. Erstens wird die heimische Konkurrenz um knappe Arbeitsplätze und die internationale Konkurrenz um knappe qualifizierte Arbeitskräfte begrenzt. Zwar könnten die Unternehmen kurzfristig davon profitieren doch auch sie müssen längerfristig unter noch anzusprechenden sozialintegrativen Folgeproblemen leiden. Zweitens sorgt eine durch staatliche Migrationskontrolle absicherbare weit gehende kulturelle Homogenität der Bevölkerung dafür, dass geteilte evaluative, normative und kognitive Orientierungen unterstellt werden können (Stichweh 1994: 53), was in allen Gesellschaftsbereichen Handlungsabstimmungen erleichtert und Konflikte verringert. Doch die Überwachung nationaler Grenzen fällt aus vielerlei Gründen immer schwerer; und in bestimmten Regionen wie der Europäischen Union ist die „Freizügigkeit" nicht nur des Waren-, sondern auch des Personenverkehrs sogar ein angestrebtes Ziel, was u.a. durch vereinheitlichte Bildungszertifikate befördert werden soll. Zugleich führt die Ent-
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wicklung der Informations- und Telekommunikationstechnologie zu einer „intensification of worldwide social relations" (Giddens 1990: 64), die der Nationalstaat weder kontrollieren kann noch will. Migranten können auch fern der Heimat an ihrer Herkunftskultur festhalten und assimilieren sich dabei nicht länger willig an die aufnehmende Nationalgesellschaft (Berking 2000, 2001). Wie immer positiv diese Entwicklungen für bestimmte Individuen sein mögen: Die Komplexität von Akteurkonstellationen hat dadurch zweifellos enorm zugenommen von „interkulturellen" Verständigungsproblemen in allen Teilsystemen bis zur „Fremdenfeindlichkeit" aufgrund von tatsächlicher oder wahrgenommener Konkurrenz um knapper werdende Arbeitsplätze und Sozialleistungen (Heitmeyer 1997a, 1997b). 18 3. Informations- und Betroffenheitshorizonte Solange die Geschehnisse jenseits der Staatsgrenzen im Zweifelsfalle als wenig relevant für das Handeln innerhalb dieser Grenzen erschienen, war der weitaus größte Teil der Welt für Individuen und Organisationen gleichermaßen „aus den Augen, aus dem Sinn". Natürlich gab es immer Effekte „von draußen" auf das Innenleben der Nationalstaaten, bis hin zur Eliminierung eines Nationalstaats durch Eroberung; doch die allermeisten dieser Effekte konnten informationstechnisch schlicht als Störgrößen verbucht werden, die pauschal einzurechnen waren, denen aber nicht im einzelnen nachzugehen war, weil man auf sie auch nicht einwirken wollte oder konnte. Was kümmerte die deutsche Bevölkerung, deutsche Unternehmen oder die deutsche Regierung ein Erdbeben in Südamerika, ein Putsch in Afrika oder eine Wirtschaftskrise in Südostasien? Was wusste man in Deutschland überhaupt über dergleichen Ereignisse? Die Komplexitätsreduktion liegt auf der Hand: Unüberschaubare Wirkungsverkettungen wurden schlicht ausgeblendet und schlugen so nur als „Cournot-Effekte" (Boudon 1984: 173ff.) durch. Wenn Handeln an ihnen scheiterte, 18 Siehe neuestens Samuel H u n t i n g t o n s (2004) Verlängerung seiner These v o m „clash of civilizations" in die Binnensphäre der Vereinigten Staaten hinein: Der ungebremste legale und illegale Z u z u g von M e x i k a n e r n in den Südwesten des Landes und die höhere Fertilität dieser Bevölkerungsgruppe erscheinen als höchst bedrohliche Entwicklung. Was d o r t als „hispanic challenge" diskutiert wird, wird in Europa derzeit w a r n e n d als „türkische Invasion" h e r a u f b e s c h w o r e n , die nach der erteilten EU-Mitgliedschaft an dieses Land drohe. Auch wenn die schrille Dramatisierung dieser Debatten demagogische Z ü g e trägt, lässt sich nicht abstreiten, dass auf ein reales Problem hingewiesen wird.
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liess sich das als „Pech" abbuchen und musste nicht als „Fehler" verantwortet werden. Nach wie vor ist zwar lokale Nähe einer der Nachrichtenfaktoren, anhand deren die Massenmedien auswählen, worüber wie umfangreich berichtet wird (Luhmann 1996: 60f.). Doch die Berichterstattung der Massenmedien sorgt zunehmend dafür, dass man überall auf der Welt über Ereignisse, die anderswo stattfinden, informiert wird und sich dadurch von immer mehr auch räumlich weit entlegenen Geschehnissen betroffen fühlt. Hinzu kommen Informationen, die durch Migration von Personen transportiert werden. Eine „intensification of consciousness of the world as a whole" (Robertson 1992: 8) hat stattgefunden, wie sie bereits Marshall Mc Luhans Vision des „global village" registriert hatte (Dürrschmidt 2002: 39ff.). Martin Albrow (1996: 21) zitiert als frühen Kronzeugen Karl Jaspers: „Es gibt kein Draußen mehr. . . . Alle wesentlichen Probleme sind Weltprobleme geworden." Dieser „Globalismus" transformiert - um eine Wendung Karl Marx' zu übertragen - die Weltgesellschaft „an sich" in eine Weltgesellschaft „für sich". Auch wenn es nach wie vor viele nationalstaatlich begrenzte Probleme gibt: Der Anteil und die Wichtigkeit der grenzüberschreitenden Probleme wächst. Besonders augenfällig ist dies in ökologischer Hinsicht, in der eine „world risk society" (Beck 1996) entstanden ist. Der „Globalismus" führt insgesamt zu der Einschätzung, dass „irgendwie" - so die bezeichnende Verlegenheitsformel alles mit allem zusammenhängt und die Souveränität und Planbarkeit jedweder Entscheidung untergräbt. 4. Vergleichshorizonte Staatsgrenzen sorgten lange dafür, dass in zwei Hinsichten territorial ausufernde Vergleiche zwar nicht völlig unterblieben, aber doch in ihrer Relevanz herabgestuft wurden. Dass anderswo die sozialen Ungleichheiten geringer sind oder es dort den schlechter Gestellten besser geht als hierzulande, blieb relativ unthematisiert, anstatt hiesige Verteilungskonflikte zu katalysieren und intensivieren; und der ebenfalls seltener vorkommende Verweis auf anderswo effizientere oder effektivere gesundheitliche Versorgung, schulische Bildung oder wissenschaftliche Forschung hätte die betreffenden Teilsysteme unter erhöhten Konkurrenzdruck gesetzt. Solange Staatsgrenzen derartige Vergleiche tiefer hängten, wurde für die jeweiligen Akteure, also vor allem politische Entscheidungsinstanzen und die Leistungsrollenträger der Teilsysteme, Komplexität in diesen beiden Hinsichten reduziert. Sie mussten sich
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nicht an M a ß s t ä b e n messen lassen, die unter den für sie gegebenen Bedingungen nur sehr schwer oder gar nicht erfüllt werden konnten. Die soziale Ungleichheit ist innerhalb jeder N a t i o n - welcher auch immer - stets viel geringer als im W e l t m a ß s t a b , und entsprechend geringer ist das Konfliktniveau der K ä m p f e um Lebenschancen. D o c h o b es um M e n s c h e n r e c h t e und den individuellen Lebensstandard oder um die Leistungsstärke von Bildungssystemen, um Kapitalanlagen oder um die Effizienz der Ministerialorganisation geht: Die „audit s o c i e t y " (Power 1 9 9 7 ) ist nicht nur im je nationalen, sondern gerade auch im internationalen M a ß s t a b auf dem Vormarsch. D e r nationalstaatliche Vergleichsrahmen wird in immer mehr Fragen überschritten, und der sich daraus ergebende „enorme globale Vergleichs- und K o n k u r r e n z d r u c k " (Schwinn 2 0 0 5 ) lastet inzwischen auf immer mehr individuellen und korporativen Akteuren. M a n geht geradezu vom „Ende introvertierter K u l t u r e n " (Nederveen Pieterse 1 9 9 5 : 6 2 , Dürrschmidt 2 0 0 2 : 1 0 4 f f . ) aus. W a s Weltreligionen und Weltkunst schon lange vorexerziert haben, zeigt sich nun auch im „new public m a n a g e m e n t " , in den „ K o n s u m p t i o n s e r w a r t u n g e n " ( W o b b e 2 0 0 0 : 1 8 ) von Chinesen sowie in all den anderen P h ä n o m e n e n einer „globalization of m e a n i n g " 1 9 , die der soziologische N e o Institutionalismus mit seiner „world polity"-Forschung aufgezeigt hat ( W o b b e 2 0 0 0 : 2 6 f f . ) .
5 . Partizipations- und Legitimationshorizonte Staatliche Politik konnte innerhalb der Staatsgrenzen damit rechnen, dass nur das Staatsvolk an politischen Entscheidungsprozessen zu partizipieren interessiert ist und Entscheidungen auch nur ihm gegenüber zu legitimieren sind. Dieses Binnenverhältnis war nicht nur für staatliche Akteure, sondern auch für Individuen und Interessengruppen aller Art aus den verschiedenen Teilsystemen berechenbar. Die K o m p l e x i t ä t der Konkurrenz- und Konfliktkonstellationen von repräsentativer D e m o kratie, korporatistischen Verhandlungsgremien und Politiknetzwerken blieb so in einem überschaubaren und in eingespielten Verfahren regelbaren R a h men. Die Globalisierung hat demgegenüber zu einer Entgrenzung der Politik geführt. Von außerhalb der Staatsgrenzen wird immer stärker in die N a t i o n a l gesellschaft und in ihre politischen Entscheidungs-
1 9 John Meyer, Vortrag auf dem 3 1 . Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie am 8 . 1 0 . 2 0 0 2 in Leipzig.
prozesse hinein interveniert - sei es durch sich öffentlichkeitswirksam einmischende transnationale N G O s wie Greenpeace, sei es durch suprastaatliche Akteure wie die Europäische K o m m i s s i o n , die auf oft undurchsichtige Weise in der berüchtigten „ K o mi t o l o g i e " des Mehrebenen-Entscheidungssystems zunächst Entscheidungen trifft und diese dann den Mitgliedsstaaten auch gegen den Willen des jeweiligen Staatsvolks auferlegt. Eine Legitimitätsdiffusion findet statt, die als „ D e m o k r a t i e d e f i z i t " nicht nur der E U oder der U N (Voelzkow 2 0 0 0 ) , sondern inzwischen auch der „ S u b p o l i t i k " (Beck 1 9 9 8 ) der N G O s öffentlich thematisiert wird. Parallel dazu wird den Staaten sowohl von ihren Bürgern als auch von internationalen Organisationen immer mehr globale Verantwortung auferlegt. Ü b e r die Einsicht in supranationale W i r k u n g s z u s a m m e n h ä n ge k a n n „ G l o b a l i s m u s " dazu führen, dass Individuen kosmopolitische Verantwortung, etwa in Fragen von Ö k o l o g i e und M e n s c h e n r e c h t e n , entwickeln und entsprechende Handlungsaufforderungen an staatliche Akteure adressieren. Militärisch zeigt sich so etwas etwa daran, dass über Landesverteidigung hinaus weltweite „Kriseninterventionen", bei denen längst nicht immer nationale Interessen geltend gemacht werden können, immer unabweisbarer werden.
6 . Identitätshorizonte D e r N a t i o n a l s t a a t n a h m seinen Aufschwung im 1 9 . Jahrhundert nicht zuletzt damit, dass er sich als „imagined Community" (Anderson 1 9 9 1 ) , als „Brüderlichkeit" aller Staatsbürger ausformte. Individuen gewannen durch diese kollektive Identität einen Orientierungsrahmen ihres Handelns, der viele evaluative Standards oder normative Prinzipien einfach dadurch ausschloß, dass diese z. B. als „nicht dem deutschen Wesen g e m ä ß " rubriziert wurden. K o m plexitätsreduktion fand als Eingrenzung ernst zu nehmender Kriterien des Handelns und Entscheid e n statt. Weiterhin prägten die Staatsgrenzen den Identitätshorizont dadurch, dass korporative Akteure auf nationale Adressen verpflichtet wurden. D u r c h a u s analog zu Individuen waren auch O r g a nisationen national gebunden, typischerweise durch ihren Sitz. D a m i t konnten auch - wiederum der Situation von Individuen vergleichbar - Einschränkungen der Bewegungsfreiheit über den nationalen R a h m e n hinaus verbunden sein. D e r N a t i o n a l s t a a t und die nationalen Organisationen der anderen gesellschaftlichen Teilsysteme bildeten so - sobald die internationale Bühne betreten wurde - ein oftmals derart eng verflochtenes interorganisatorisches N e t z w e r k , dass nach außen geradezu, das real über-
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haupt Mögliche übersteigernd, nationalgesellschaftliche Handlungsfähigkeit symbolisiert wurde, z.B. als „Deutschland AG" oder „Japan Inc.". Damit einher ging eine teilsystemübergreifende Orientierung der korporativen Akteure am „nationalen Interesse", was das Konfliktniveau untereinander in Grenzen hielt. Die kulturelle Globalisierung, vor allem durch das Aufbrechen von Informationshorizonten befördert, sowie das Aufkommen transnationaler und denationalisierter korporativer Akteure nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in anderen Teilsystemen bricht diese national gebundenen Gemeinschaften und Interorganisationszusammenhänge auf. An Individuen, die „multikulturelle" Lebensstile pflegen, ebenso wie an global operierenden „vaterlandslosen" Unternehmen und ebensolchen NGOs erweist sich, dass der Staat „nicht mehr fähig ist, neue Formen sozialer Organisation zu kontrollieren" (Albrow 1996: 96). Nicht zuletzt diese ortsungebundenen korporativen Akteuren sind es, die - gleichsam als Stoßtrupp der Weltgesellschaft deren Komplexität in den anderen bereits genannten Dimensionen in die Nationalstaaten hineintragen. 7. Rechtshorizonte Wie erwähnt entstanden die europäischen Nationalstaaten als Mechanismen zur Schaffung öffentlicher Sicherheit und, darauf aufbauend, rechtlicher Regulierung. Von einem Staat erlassene Rechtsnormen gelten stets nur innerhalb seiner Grenzen; diese enge strukturelle Kopplung von Rechtssystem und politischem System bedeutet für alle Arten von individuellen und korporativen Akteuren, dass Staatsgrenzen markieren, welche Rechtsnormen gelten und welche nicht. Ein auch nur kursorischer Blick auf die Vielfalt weltweit praktizierter alternativer Rechtsnormen für die Regelung desselben Sachverhalts lässt ermessen, was für eine Komplexitätsreduktion mit dieser kognitiven Rechtsgewissheit verbunden ist. Inzwischen wirken supranationale Rechtsetzungsinstanzen wie die EU, aber auch die UN oder die GATT-Runde immer stärker bis in alltägliche Handlungs- und Entscheidungszusammenhänge aller Teilsysteme hinein. Unaufgelöste Widersprüche zwischen nationalem und supranationalem Recht sind nicht selten und verkomplizieren manche Angelegenheiten bis hin zur effektiven Paralyse des Handelns. Dabei stoßen nicht nur Rechtsnormen, sondern Rechtskulturen aufeinander. Fremde Rechtskulturen werden weiterhin auch durch Migranten eingeführt, deren Unverständnis für den
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„Geist" bestimmter rechtlicher Vorschriften Konflikte oder zumindest Reibungsverluste der Handlungsabstimmung schaffen kann. Die aufgeführten Facetten einer komplexitätsreduzierenden Begrenzung von Sinnhorizonten durch Staatsgrenzen gewährleisten zusammengenommen Erwartungssicherheit für Akteure. Individuen und Organisationen konnten im Rahmen von Nationalgesellschaften institutionalisierte kognitive, normative und evaluative Erwartungen ausbilden und wussten im Sinne von Erwartungserwartungen über die entsprechenden Erwartungen der Gegenüber. Die heute diagnostizierte Globalisierung bedeutet, so besehen, eine Erosion nationalstaatlich garantierter Komplexitätsreduktionen. Malcolm Waters (1995: 62) macht diesbezüglich den logisch denkbaren Endzustand eines Totalausfalls nationalstaatlicher Grenzen als Interdependenzunterbrecher aus - was nichts anderes als das Verschwinden von Nationalgesellschaften und die Entropie der Weltgesellschaft hieße: „In a fully globalized context, no given relationship or set of relationships can remain isolated or bounded. Each is linked to all the others and is systematically affected by them." Diese Hyperkomplexität vollständiger Interdependenz aller Ereignisse und Zustände in der Welt wäre für Akteure völlig unüberschaubar und ebenso unbeherrschbar. Diese basale Gewährleistung von Erwartungssicherheit können Nationalgesellschaften von höchst unterschiedlicher Größe erbringen. Auch die größten Nationalgesellschaften wie etwa die chinesische grenzen schließlich noch einen weitaus größeren Teil der Weltgesellschaft aus als ein. Es muss freilich, wie allgemeine systemtheoretische Überlegungen zeigen (Ashby 1956), ein Entsprechungsverhältnis von Binnen- und Weltkomplexität gewahrt bleiben. In dem Maße also, in dem eine Nationalgesellschaft größer als das obere Limit dieses Entsprechungsverhältnisses wäre oder würde, büßte ihre Staatsgrenze die geschilderten komplexitätsreduzierenden Funktionen ein. Nationalgesellschaften könnten also prinzipiell zu groß werden - wobei wohl niemand ex ante und allgemein eine unter Komplexitätsgesichtspunkten noch verkraftbare Größe, etwa in Einwohnerzahlen, benennen könnte. Dass eine Nationalgesellschaft zu groß geworden ist, würde man erst daran bemerken, dass die Akteure in den geschilderten Hinsichten mit Komplexität überhäuft würden, die sie nicht mehr bewältigen könnten; und natürlich spielten hierbei viele weitere Faktoren, etwa der Stand der Kommunikations- und Verkehrstechnologien oder die Art der segmentären Binnendifferenzierung, eine er-
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hebliche Rolle. In der anderen Richtung könnten Nationalgesellschaften auch zu klein sein, also das untere Limit des Entsprechungsverhältnisses unterschreiten. Da nur eigene Komplexität Weltkomplexität reduzieren kann, könnte auch eine Staatsgrenze, die zu wenig einschließt, keine hinreichenden komplexitätsreduzierenden Funktionen erfüllen wobei sich dieses Limit ebenfalls nur am konkreten Fall erweisen würde. Die erhebliche faktisch vorfindliche Größenvarianz der heute existierenden Nationalgesellschaften zeigt freilich, wie elastisch das Entsprechungsverhältnis von Binnen- und Weltkomplexität ist. 2 0
2.2 Gesellschaftliche Integration Bereits die Überlegungen zur Handlungsfähigkeit der Akteure haben hier und da Fragen gesellschaftlicher Integration berührt. Dieser zweite Bezugspunkt einer funktionalistischen Analyse von Staatsgrenzen wird nun explizit angesprochen, wobei hier erst recht kein Anspruch auf eine umfassende Betrachtung erhoben werden kann. Im Gegenteil kann ich mir nur zu zwei der drei Dimensionen gesellschaftlicher Integration (Schimank 2 0 0 0 ) - zur Sozial- und zur Systemintegration - je einen Aspekt eher pars pro toto herausgreifen. Es zeigt sich jeweils, dass die nationalgesellschaftliche Differenzierung der Weltgesellschaft einen wichtigen Integrationsmechanismus darstellt. 2 1 Die gesellschaftliche Sozialintegration bemisst sich daran, ob eine hinreichende Konformität der Gesellschaftsmitglieder mit geltenden Normen und Werten gegeben ist, also Phänomene individueller Devianz - in ihren unterschiedlichen Ausprägungsformen von Kriminalität bis zu „Dienst nach Vorschrift" - und kollektiver Rebellion in Grenzen geAuf Wirtschaft bezogene Forschungen über „small states" zeigen etwa, dass Größennachteile, die sich vor allem als stärkere Exponiertheit der nationalen Unternehmen und Branchen gegenüber dem Weltmarkt manifestieren, durch geeignete industriepolitische Strategien weitgehend ausgeglichen werden können (Katzenstein 1985).
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In der Dimension der ökologischen Integration - das sollte nicht unerwähnt bleiben - erweist sich, dass Staatsgrenzen nicht integrationsfördernd sind, sondern umgekehrt die Egoismen der Nationalstaaten ein großes Hindernis der Problembearbeitung darstellen. Die ökologischen Problemlagen globalisieren sich immer weiter, aber die Staaten beharren in starkem Maße auf ihrer Souveränität der Problembearbeitung, wie keineswegs bloß das allseits gerügte Beispiel der Nichtbeachtung des Kyoto-Protokolls durch die USA zeigt. 21
halten werden können. 2 2 Neben hier nicht weiter behandelten letztinstanzlichen rechtlichen und polizeilichen Zwangsmechanismen 2 3 beruht die Sozialintegration in der Moderne vor allem auf zwei Integrationsmechanismen, die beide den Nationalstaat als abgegrenzte Territorialität voraussetzen: kollektive Identitäten stiftende partikulare Gemeinschaften und wohlfahrtsstaatlich abgesicherter Anspruchsindividualismus. Partikulare Gemeinschaften, die den Einzelnen mit „Ligaturen" (Dahrendorf 1979) versorgen, können an vielfältige kulturelle Differenzen anknüpfen: Religion, Ethnie, Weltanschauung oder Lebensstil sind einige, jeweils in zahlreichen Ausprägungen existierende Möglichkeiten. Die Nation als schon erwähnte „imagined Community" ist zunächst einmal nur ein Angebot Sinn stiftender kollektiver Identität neben anderen (Finlayson 2 0 0 0 ) . Auch sie weist die prinzipielle sozialintegrative Ambivalenz partikularer Gemeinschaften auf: Die Konstruktion kollektiver Identitäten über Differenzmarkierungen gegenüber den jeweils Anderen ist konfliktträchtig. Nationen stehen diesbezüglich bekanntlich Religionen und Ethnien nicht nach. Die Sozialintegration einer Nationalgesellschaft kann zwar durch Vorstellungen der Art, dass „wir" anderen Nationen überlegen sind oder durch sie bedroht werden, gestärkt werden - aber um den Preis einer um so größeren Gefährdung weltgesellschaftlicher Sozialintegration. Insofern wäre eine vielfach befürchtete Erosion des Nationalgefühls durch Globalisierung selbst in dem als „Amerikanisierung" apostrophierten Schreckbild - womöglich sogar förderlich für die Sozialintegration der Weltgesellschaft. Transnationale Gemeinschaften Gleichgesinnter, von der globalen Popkultur mit ihren vielen Event-Gemeinschaften (Gephardt/Hitzler 2 0 0 0 ) bis hin zur weltweiten Ökologiebewegung oder - paradoxerweise - zur Bewegung der Globalisierungsgegner, tragen zur „Völkerverständigung" bei. Als weltgesellschaftlich funktionaler Anker kollektiver Identität ist die Nation im Sinne einer Wertegemeinschaft der Staatsbürger somit entbehrlich, da es funktionale Äquivalente gibt und sie ohnehin Nicht immer genügt dabei eine „behavioral conformity" (Coser 1 9 6 1 ) . Zumindest in einigen Rollen setzt ein adäquater Beitrag der Person zur gesellschaftlichen Reproduktion voraus, dass diese sich die einschlägigen Normen und Werte durch Internalisierung zu eigen macht. 22
Für diese Mechanismen haben im Übrigen supranationale politische Einheiten funktionale Vergrößerungen der Reichweite mit sich gebracht - siehe etwa internationale rechtliche Auslieferungsabkommen zur Verfolgung von Straftätern.
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leicht ins Dysfunktionale umschlagen kann. Anders sieht es hinsichtlich des zweiten sozialintegrativen M e c h a n i s m u s , des wohlfahrtsstaatlich abgesicherten Anspruchsindividualismus, aus. Hier lässt sich an Überlegungen von Alois H a h n anknüpfen, die a u f eine im 1 9 . J a h r h u n d e r t entstandene und bis vor kurzem stabile „ W a h l v e r w a n d t s c h a f t " von N a tional- und Wohlfahrtsstaat hinauslaufen. 2 4
ve Identifikation hoffende, sondern materielle Interessenbefriedigung gewährleistende Politik wurde Sozialintegration erreicht. Anders gesagt: Dass alle Staatsbürger eine „brüderliche" Gemeinschaft bilden, wird nur dadurch plausibel, dass die G e m e i n schaft keinen der Ihren vor die Hunde gehen lässt.
I m m e r mehr von allem, was die verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme an vielfältigsten O p t i o nen der Lebensführung offerieren, von wirtschaftlich vermittelten Konsum- und Freizeiterlebnissen bis zu Kultur- und Sportangeboten, Bildungschancen und medizinischer Versorgung: Durch die Befriedigung solcher Ansprüche, als rollenförmige Inklusion in die Teilsysteme institutionalisiert, erfolgt eine sozialintegrativ funktionale „Selbstverwirkl i c h u n g " der Person (Luhmann 1 9 9 5 , S c h i m a n k 1 9 9 8 ) . Die allmähliche Institutionalisierung des Wohlfahrtsstaats und sein immer weiterer Ausbau haben dann gegen die Anarchie bzw. die M a c h t asymmetrien der Arbeitsmarktdynamiken und andere biographische Fatalitäten abgesichert, so dass prinzipiell jedem auch bei unzureichendem Arbeitse i n k o m m e n ein M i n i m u m an teilsystemischen Leistungen garantiert wird und auch darüber hinaus Umverteilungen von Leistungen zugunsten der schlechter Gestellten stattfinden. Angesichts des kulturellen Gleichheitspostulats sind Ungleichheiten fast nur noch durch individuelle Leistungsdifferenzen vor allem im Beruf legitimierbar - was aber wiederum das Postulat einer wohlfahrtsstaatlichen Schaffung gleicher Bildungschancen nach sich zieht. Diese ambitionierte wohlfahrtsstaatliche Erzeugung von „ M a s s e n l o y a l i t ä t " (Narr/Offe 1 9 7 5 ) wäre im W e l t m a ß s t a b angesichts immenser globaler Ungleichheiten Ende des 19. Jahrhunderts genau wie heute völlig illusionär gewesen. Es traf sich daher gut, dass die Fundamente des Wohlfahrtsstaats gelegt wurden, als die Nation als kollektives Identitätsangebot im entwickelten Westen ihre Hochzeit hatte. N o c h einige Jahrzehnte zuvor hatte Benjamin Disraeli in einem gesellschaftspolitischen Schlüsselr o m a n für Großbritannien die G e f a h r des Zerfalls in „ t w o n a t i o n s " beschworen (erschienen 1 8 4 5 ) , und die sozialistische Internationale strebte programmatisch die Verbrüderung einer dieser beiden „ n a t i o n s " - der Arbeiterklasse - über alle N a t i o n e n hinweg an. Diese Tendenzen waren mit der wohlfahrtsstaatlichen Auskleidung der N a t i o n vom Tisch. Erst durch eine solche nicht bloß auf affekti-
mand - zur Gemeinschaft gehören, kann diese für jeden sorgen. Die Nation ist als abgegrenztes Staats-
2 4 Siehe Hahn 1 9 9 3 : 1 9 7 - 2 0 3 , 2 0 0 3 . Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei Stichweh ( 1 9 9 4 : 51f.) angedeutet.
Dieser Z u s a m m e n h a n g gilt aber auch umgekehrt: N u r weil lediglich alle Staatsbürger - und sonst nie-
gebiet mit einem darüber definierten Staatsvolk eine zwingende Voraussetzung der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung des Anspruchsindividualismus. 2 5 D e r Wohlfahrtsstaat vermag die je nationalen Grenzen nicht zu überschreiten, sondern braucht sie gerade zur Ausgrenzung der nicht Teilhabeberechtigten: „Staatsgrenzen sind Solidaritätsgrenzen" (Schwinn 2 0 0 4 : 4 4 ) . 2 6 N u r Nationalgesellschaften k ö n n e n Wohlfahrtsstaaten sein und diese Art der Sozialintegration erzeugen; sie lässt sich nicht auf weltgesellschaftlichen M a ß s t a b hochskalieren. D e r Anspruchsindividualismus beruht somit auf einer nationalstaatlich begrenzten Zugewinn- und Versicherungsgemeinschaft. Wenn jede Nationalgesellschaft für sich, auf dem ihr möglichen Niveau, Wohlfahrtsstaat ist, wird nicht b l o ß die nationalgesellschaftliche, sondern auch die weltgesellschaftliche Sozialintegration befördert. Eine Globalisierung der Vergleichshorizonte, wie sie vor allem die weltweit berichtenden M a s s e n m e d i e n , aber auch die Programmatiken internationaler Organisationen wie der O E C D oder der W H O induzieren, untergräbt diesen sozialintegrativen Mechanismus hingegen (Gross 1 9 9 4 ) . 2 7 Insbesondere Verteilungskonflikte im W e l t m a ß s t a b k o m m e n auf - denn: „ N i e m a n d e m steht es zu, Chinesen und Brasilianern zu verweigern, was Deutschen und Kanadiern Vergnügen macht, also Wohnungen und Waschmaschinen, Autos und Ferienreisen" (Dahrendorf 1 9 9 8 : 4 6 ) . Die Weltgesellschaft steht in Gefahr, sich ähnlich wie G r o ß b r i t a n n i e n im 1 9 . J a h r h u n d e r t zu spalten, weil Informations- und Vergleichshorizonte immer weniger an Staatsgrenzen enden und diese Freilich kann dieser sozialintegrative Mechanismus auch schon im nationalen Maßstab Probleme der „Anspruchsinflation" (Luhmann 1 9 8 1 , 1 9 8 3 ) und der Exklusion mancher Gesellschaftsmitglieder nicht völlig vermeiden. 2 6 Hahn ( 2 0 0 3 : 3 3 ) spricht mit gleichem Tenor von der legitimen „Restriktion universaler Solidarität". 2 7 Peter Heintz' ungleichheitstheoretische Perspektive auf die Weltgesellschaft betont diese „Herausbildung eines weltweiten Bezugs- und Erwartungshorizonts für den Grad der Entwicklung" (Wobbe 2 0 0 0 : 18). 25
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auch als Migrationshorizonte immer durchlässiger werden. 2 8 Politiker der Dritten Welt fordern dementsprechend Anspruchsbefriedigung auf der Basis einer weltweiten Angleichung der Lebensverhältnisse, wie unrealistisch auch immer dies sein mag; und die legal oder illegal in die Erste Welt emigrierenden Menschen jener Länder transportieren diese Forderungen je für sich mitten hinein in die Inklusionszonen (Holz 2 0 0 0 : 19/20). Dort jedoch wird eine weltgesellschaftliche Umverteilung abgeblockt, um das eigene Inklusionsniveau halten zu können. Hier spielt die Nation auch wieder als Identitätshorizont hinein. Sie ist auf der Basis affektiver Identifikation immer auch eine Interessengemeinschaft der inländischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber gegen ausländische Konkurrenz gewesen. Jetzt hat die Arbeitgeberseite dies im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung und der gleichzeitigen Verbreitung „neoliberaler" Denkmuster aufgekündigt und sich auf einen „unnachsichtigen Weltmarkt" (Dahrendorf 1998: 47) begeben. Der räumlich mobilere Produktionsfaktor Kapital sucht und nutzt nun weltweite komparative Vorteile bei den Arbeitskosten. Das daraus resultierende internationale Lohnund Sozialdumping als wirtschaftspolitische Weisheit letzter Schluss führt dazu, dass in den entwickelten westlichen Ländern die wirtschaftliche Lage der Mittelschichten zunehmend prekär wird was die der Unterschichten bereits ist (Bourdieu et al. 1 9 9 3 , Bourdieu 1 9 9 8 , Castells 2 0 0 1 : 229ff., 2 0 0 2 : 2 6 0 f f . ) . 2 9 Wie für Deutschland vor allem die Forschergruppe um Wilhelm Heitmeyer ( 1 9 9 7 a , 1 9 9 7 b ) zeigt, geht aus solchen massenhaften Phänomenen der Exklusion bzw. Exklusionsbefürchtung eine Regression auf ethnische Definitionen der Nation hervor - wofür dann rechtsradikale Gewaltakte und sich ausbreitende Einstellungen des Ausländerhasses der grellste Ausdruck sind. Ich wende mich nun der gesellschaftlichen
Systern-
Siehe auch Soysal ( 1 9 9 6 ) , die mit ihrem Konzept der „postnationalen Mitgliedschaft" u.a. einfängt, dass die Mehrheit der Immigranten in westliche Länder einen unbefristeten Aufenthaltsstatus genießt und damit verbunden weitgehend ähnliche wohlfahrtsstaatliche Ansprüche reklamieren kann wie die jeweiligen Staatsbürger. 2 9 Es mag sein, dass wirtschaftliche Globalisierung nicht zwangsläufig einen Abbau des Wohlfahrtsstaats herbeiführen muss oder dass dessen Beibehaltung sogar eine Voraussetzung für eine von der Bevölkerung akzeptierte Globalisierung ist, wie Rieger/Leibfried ( 1 9 9 7 ) und Vobruba ( 2 0 0 0 ) argumentieren. Das Dilemma, dass sich das funktional Erforderliche oder zumindest Wünschenswerte nicht unbedingt mit den kurzfristigen Interessen mächtiger Akteure trifft, können auch sie nicht wegdiskutieren. 28
Integration zu - also der Abstimmung zwischen den verschiedenen Teilsystemen der modernen Gesellschaft. Hier haben sich zwei zentrale Mechanismen herausgebildet, die im Zusammenwirken eine bilaterale, teilweise auch multilaterale Abstimmung zwischen Teilsystemen leisten (Schimank 1999). Der eine dieser Mechanismen besteht aus den interorganisatorischen Verflechtungen zwischen Teilsystemen. Diese Verflechtungen tragen hauptsächlich, was Parsons als „double interchanges" und Luhmann als „strukturelle Kopplungen" bezeichnet, also die in der Summe flächendeckend angelegten und von zahllosen Akteuren betriebenen Aktivitäten der Koordination und Kooperation, aus denen zumeist jenseits der zugrundeliegenden Intentionen Systemintegration hervorgeht. Den anderen, intentional systemintegrativen Mechanismus bilden diejenigen Maßnahmen politischer Gesellschaftssteuerung, die dort eingreifen, wo die dezentrale intersystemische Abstimmung über Interorganisationsbeziehungen fehlt, versagt oder nicht ausreicht. Da die Probleme politischer Gesellschaftssteuerung mit Globalisierung bereits ausgiebig thematisiert worden sind, 3 0 soll hier für den erstgenannten Integrationsmechanismus kurz erörtert werden, inwiefern Staatsgrenzen seinem Funktionieren förderlich sind und er durch Globalisierung nachhaltig geschwächt wird. Solange Staatsgrenzen Transaktions- und Vergleichshorizonte abstecken, erstrecken sich die entsprechenden Komplexitätsreduktionen auch auf die interorganisatorischen Verflechtungen zwischen den Teilsystemen. Deutsche Unternehmen beispielsweise arbeiten dann nur oder vorrangig mit deutschen Forschungsinstituten oder Weiterbildungseinrichtungen zusammen. Der geteilte, teilsystemübergreifende nationale kulturelle Hintergrund ebenso wie die wechselseitige relative Vertrautheit mit rechtlichen, organisatorischen und sonstigen institutionellen Gegebenheiten des je anderen Teilsystems erleichtern Kommunikation, Koordination und Kooperation. Angesichts der Tatsache, dass intersystemische Interessenkonsense aufgrund des intersystemischen Orientierungsdissens prinzipiell schwieriger und störungsanfälliger sind als Verflechtungen zwischen Organisationen desselben Teilsystems (Schimank 1992), ist die Komplexitätsreduktion durch J i e nationalgesellschaftlichen Horizontbegrenzungen besonders wichtig. Globalisierung bedeutet demgegen-
Statt vieler anderer siehe wieder nur Castells ( 2 0 0 2 : 259ff.), der mit reichem empirischen Anschauungsmaterial die vielfältigen Ausprägungen der einschlägigen Phänomene illustriert. 30
Uwe Schimank: Weltgesellschaft und Nationalgesellschaften: Funktionen von Staatsgrenzen über eine räumliche Ausfaserung der Verflechtungshorizonte. Organisationen bauen sich nicht nur innerhalb ihres jeweiligen Teilsystems, sondern auch in ihren intersystemischen Bezügen international raumgreifende Verflechtungsnetzwerke auf. Dieser Vorgang wird insbesondere durch die wirtschaftliche Globalisierung vorangetrieben, 31 die dann wiederum in anderen Teilsystemen Kettenreaktionen auslöst. So könnte etwa ein Forschungsinstitut, das über Industriekontakte in internationale Netzwerke hineingezogen wird, dadurch stimuliert oder sogar genötigt werden, seinerseits verstärkt mit Instituten aus anderen Ländern zusammenzuarbeiten. Besonders stark dürften die wirtschaftlichen Pressionen in Richtung Globalisierung anderer Teilsysteme dort sein, wo der von Pierre Bourdieu (1996) als „Intrusion" bezeichnete Vorgang stattfindet, also eine weitreichende Kanalisierung der jeweiligen teilsystemischen Autonomie - etwa eines Fernsehsenders - durch den Einfluss international operierender wirtschaftlicher Akteure. In zweierlei Hinsicht beeinträchtigt eine solche Ausfaserung interorganisatorischer Verflechtungen über nationale Grenzen hinaus das systemintegrative Potential dieser Verflechtungen spürbar. Erstens werden übernationale, tendenziell weltweite anstelle der vorherigen national beschränkten Konkurrenzkonstellationen geschaffen - etwa zwischen deutschen und amerikanischen Forschungsinstituten als möglichen Kooperationspartnern eines deutschen Unternehmens. Verschärfte Konkurrenz innerhalb eines Teilsystems bedeutet verstärkten Anpassungsdruck gegenüber dem anderen Teilsystem; und so etwas kann, wenn es ausgenutzt wird, Tendenzen einer Uberintegration beider Teilsysteme auslösen. So würde die „Intrusion" der Wissenschaft durch die Wirtschaft vorangetrieben, wenn die Unternehmen Forschungsinstitute global gegeneinander ausspielen könnten. Zweitens ergeben sich aus der Globalisierung interorganisatorischer Verflechtungen zwischen Teilsystemen darüber hinaus auch globale Kulturdifferenzen als Verständigungsprobleme, etwa zwischen deutschen Firmen und indischen Forschungsinstituten. Die bis dahin geteilte nationale Lesart der „Kultur der Moderne" (Münch 1986) kann bei weltweiten intersystemischen Interdependenzen nicht mehr fraglos als alltagsweltliches Integrationsfundament vorausgesetzt werden - was im übrigen nicht erst in deutsch-indischen, sondern bekanntlich auch schon in deutsch-amerikanischen 31
Viel Anschauungsmaterial hierzu findet sich bei Castells 2001: 83 ff.
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Beziehungen auftritt. Diese Probleme „interkultureller Kommunikation" - so ein bezeichnenderweise inzwischen eingeführtes Betätigungsfeld von Unternehmensberatern und Fortbildungsanbietern produzieren zwar keineswegs automatisch eine zunehmende Desintegration der jeweiligen Teilsysteme. Eine intentionale Abstimmung wird jedoch schwieriger, zumindest langwieriger, und die transintentionale Abstimmung kann eher zu unerwarteten und unerwünschten Effekten führen. 3 2 Insgesamt gilt: Globalisierung eröffnet Organisationen aller gesellschaftlichen Teilsysteme eine mehr oder weniger große, teilweise immense Erweiterung von exit-Optionen gegenüber bisherigen nationalen „Partnern" in anderen Teilsystemen; und je größer exit-Optionen sind, desto geringer ist Kompromissbereitschaft gegenüber voice, also Forderungen und Ansprüchen der anderen Seite ausgeprägt (Hirschman 1970). Wenn Unternehmen weltweit Auftragnehmer für die Klärung ihrer Forschungsfragen finden, können sie stärker die Bedingungen diktieren, als wenn es nur wenige nationale Institute und Lehrstühle gibt, die man gegeneinander ausspielen kann; und wenn umgekehrt Professoren weltweit Unternehmenskontakte knüpfen können, können sie die Forschungsaufträge stärker nach eigenen Interessen auswählen oder gestalten. Diese Erweiterung von exit-Optionen kann auf beiden Seiten stattfinden, oder nur einseitig. Im Ergebnis steigt der Einigungsaufwand vor allem bei beiderseits glaubwürdigen exit-Drohungen deutlich an. Die Transaktionskosten der Systemintegration nehmen also durch Globalisierung spürbar zu.
2.3 Gesellschaftliche Redundanzen Integration ist ein zentrales Moment gesellschaftlicher Reproduktionsfähigkeit; ein anderes, ebenso wichtiges ist Redundanz. 3 3 Wie die allgemeine Systemtheorie zeigt, ist es in einer unbeherrschbaren, hochgradig turbulenten Umwelt funktional, wenn ein System Sicherheitspolster aufweist und gerade nicht auf äußerste Effizienz getrimmt ist. Diejenige Form der Systemdifferenzierung, die am meisten Redundanz aufweist, ist segmentäre Differenzie32
Wobei immerhin manchmal auch eine durch Denationalisierung bewirkte - und angestrebte - Optionserweiterung integrationsförderlich wirkt, wenn etwa ein Unternehmen ein den eigenen Forschungsbedarf besonders gut bedienendes Institut im Ausland findet. 33 Zu parallelen Überlegungen auf der Organisationsebene siehe Landau 1969, ferner Cyert/March 1963: 36ff. zu „organizational slack".
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rung - also die Zerlegung eines Ganzen in gleichartige Teile (Geser 1983: 34-36): „Selbst Zerstörung von Teilen führt hier nur zur Verkleinerung, nicht zur Zerstörung des ganzen Systems" (Luhmann 1974b: 124). Archaische Gesellschaften waren primär segmentär in Stämme, Dörfer, Sippen und Familien differenziert. Selbst wenn einzelne Sippen oder Dörfer durch Krieg oder Naturkatastrophen völlig eliminiert wurden, tangierte das die Reproduktionsfähigkeit der Gesellschaft insgesamt wenig, weil jedes Segment für sich genommen ein hohes Autarkiepotential aufwies. „Für funktional differenzierte Systeme gilt das Umgekehrte. Ihre Teile sind aufeinander und auf das Ganze angewiesen" (Luhmann 1974b: 124). Die moderne Gesellschaft ist also, was ihre primäre Differenzierungsform anbetrifft, redundanzarm - und damit verletzlich. Es gibt z. B. nur ein einziges Wissenschaftssystem in der Weltgesellschaft - und wenn dieses komplett ausfiele, bräche die Weltgesellschaft sehr schnell zusammen. Gleiches ließe sich für jedes andere Teilsystem aufzeigen. Durch Staatsgrenzen wird die Weltgesellschaft allerdings in Nationalgesellschaften zerlegt. Dies ist eine sekundäre segmentäre Differenzierung der Weltgesellschaft in relativ gleichartige und notfalls relativ autarke Teile. 34 Lokale oder regionale Katastrophen gesellschaftlicher Reproduktion - von Hungersnöten über Revolutionen und Bürgerkriege bis hin zu Wirtschaftskrisen - breiten sich so nicht ungehindert global aus, sondern bleiben in nationaler Quarantäne, sofern sie nicht bestimmte Schwellenwerte überschreiten. Bereits dieser Gesichtspunkt der Eingrenzbarkeit von Reproduktionskrisen spricht dafür, die segmentäre Differenzierung der Weltgesellschaft in Nationalgesellschaften als einen nicht bloß zufälligen Begleitumstand weltgesellschaftlicher Reproduktion anzusehen. Staatsgrenzen sind offenkundig wichtige Mechanismen zur Lösung des Problems der Komplexitätsreduktion in der Weltgesellschaft. Dies lässt sich vertiefen, betrachtet man die moderne Gesellschaft aus einer evolutionären Perspektive. Evolution setzt ganz generell eine Pluralität gleichartiger Einheiten voraus. 35 Eine biologische Spezies könnte nicht evoluieren, bestünde sie nur aus einem einzigen Lebewesen. Analog stellt Rudolf Stichweh (2000b: 216) fest: „Weltgesellschaft meint den Sachverhalt, daß Gesellschaft nur noch einmal vor34 An dieser Stelle findet Parsons' Kriterium der „Selbstgenügsamkeit" d a n n seinen Platz. 35 Allgemein zu gesellschaftlicher Evolution siehe n u r Schmid 2 0 0 3 .
kommt. Damit ist eine Bedingung für Evolution entfallen, die fast die gesamte Geschichte der Menschheit bestimmt hat." Hat sich also mit dem Übergang zur Weltgesellschaft gesellschaftliche Evolution fatalerweise selbst beendet? 36 Bei genauerem Nachdenken gelangt man allerdings zu dem Schluss: Solange sich die Weltgesellschaft segmentär in eine Vielzahl von Nationalgesellschaften differenziert, sind die Voraussetzungen evolutionärer Dynamik gewahrt. Im Umkehrschluss heißt das freilich: In dem Maße, in dem Globalisierung die Nationalgesellschaften erodiert, muss die Moderne auf Evolution als Mechanismus struktureller Dynamiken verzichten. Dies lässt sich bereits für den grundlegenden evolutionären Wirkungszusammenhang - reine Auslese aufgrund komparativer Vorteile in Konkurrenzkonstellationen - darlegen. Evolutionäre Variationen können dann und nur dann neben dem Status quo bestehen, wenn sie zumindest das absolute Minimum an Reproduktionsfähigkeit in einer Umwelt aufweisen, die von den Repräsentanten des Status quo maßgeblich mit geprägt ist; und die Repräsentanten des Status quo werden durch evolutionäre Variationen in dem Maße verdrängt, in dem deren relative Reproduktionsfähigkeit die der ersteren übertrifft. 3 7 Konkurrenz auf beiden Stufen kann als Selektionsmechanismus völlig unbemerkt ablaufen: Die involvierten Akteure müssen überhaupt nicht wissen, dass sie miteinander um - in einem zu spezifizierenden Sinne - knappe Reproduktionschancen konkurrieren. So können z.B. Forscher und Forschungsinstitute in verschiedenen Ländern davon ausgehen, dass sie alle gemeinsam zum wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt beitragen; dass die einen entsprechend dem „Matthäus-Effekt" (Merton 1968) im Zeitverlauf immer mehr Ressourcen akquirieren und immer gewichtigere Beiträge liefern, während die anderen zurückbleiben, muss den Akteuren nicht weiter auffallen oder braucht ihnen jedenfalls nicht unbedingt zu denken zu geben. Insbesondere müssen sie nicht darauf kommen, dass diese Scherenentwicklung der Leistungsfähigkeit der beiden nationalen Wissen36
Stichweh (2000b: 216ff.) sieht in den gesellschaftlichen Teilsystemen sowie in regionalen Einheiten u n t e r h a l b des N a t i o n a l s t a a t s neue evolutionäre Einheiten. D o c h jedes Teilsystem k o m m t n u r ein einziges M a l in der Weltgesellschaft vor. Der H i n w e i s auf Regionen geht hingegen in die richtige Richtung. 37 Erst für die zweite Stufe der Konkurrenz gilt die ber ü h m t e Formel v o m „survival of the fittest". Evolutionärer Wandel k a n n aber bereits auf der ersten Stufe ein stabiles Gleichgewicht der Koexistenz etablieren.
Uwe Schimank: Weltgesellschaft und Nationalgesellschaften: Funktionen von Staatsgrenzen schaftssysteme u . a . beispielsweise darauf zurückgeht, dass in den Ländern unterschiedliche M o d i der Forschungsfinanzierung institutionalisiert sind (Braun 1 9 9 7 ) . D o c h selbst wenn Akteuren, etwa Forschungspolitikern, dieser Z u s a m m e n h a n g auffällt, heißt das noch nicht, dass sie aufgrund dieser Einsicht entsprechendes Gestaltungshandeln ansetzen können. O f t genug sind derartige institutionelle Strukturen wie Finanzierungsmodi aufgrund vielfältiger Widerstände nur schwer veränderbar, 3 8 so dass ein nationales Wissenschaftssystem gleichsam sehenden Auges evolutionär auskonkurriert wird, w a s sich dann in Phänomenen wie brain drain, einer geringen beruflichen Attraktivität für den wissenschaftlichen N a c h w u c h s und letztlich immer weiter sinkender Leistungsfähigkeit niederschlägt. D a s Beispiel arbeitet bereits mit einer Vielzahl untereinander konkurrierender nationaler Wissenschaftssysteme. M a n stelle sich kontrafaktisch vor, es g ä b e nur eine einzige, völlig einheitlich strukturierte Weltwissenschaft: Evolution könnte nicht stattfinden, weil Konkurrenz bezüglich des „institutional design" durch ein allumfassendes M o n o p o l ausgeschaltet w ä r e . Wenn - um das Beispiel fortzuführen - überall auf der Welt die gleichen Finanzierungsmodalitäten institutionalisiert w ä r e n , k ö n n t e das einer Pluralität nationaler Varianten zwar im Gesamtergebnis überlegen sein: falls nämlich die global gleichartig vorzufindende institutionelle Lösung eine sehr gute ist. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist allerdings per se zumindest nicht größer, wohl eher erheblich kleiner als dafür, dass eine mittelmäßige oder schlechte Lösung etabliert wird. Und dann schneidet das weltweit vereinheitlichte Wissenschaftssystem schlechter oder gar sehr schlecht a b - bis hin zu einer möglichen, nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit früher oder später unvermeidlichen evolutionären Katastrophe. Gleiches ließe sich für jedes andere Teilsystem und damit für die moderne Weltgesellschaft als G a n z e zeigen. D a s Bild ändert sich auch nicht, wenn m a n gesellschaftliche Evolution im Sinne größerer Realitätsnähe so modelliert, dass neben reiner Auslese auch Möglichkeiten wechselseitigen Lernens mit in den Blick g e n o m m e n w e r d e n . 3 9 Lernen voneinander setzt ebenso wie Konkurrenz miteinander Viel-
Die organisationssoziologische „population ecology"Perspektive geht so weit, bestehenden Organisationsstrukturen eine hohe „inertia" zu attestieren, so dass selbst Existenzbedrohungen keinen erforderlichen Wandel auslösen (Hannan/Freeman 1977, Pfeffer/Salancik 1978). 3 9 Siehe bereits Pringle 1951 zur Parallelität von Evolution — im engeren Sinne - und Lernen. 38
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falt logisch voraus - wie sie in einer nicht durch Staatsgrenzen nationalgesellschaftlich segmentierten Weltgesellschaft eben nicht gegeben i s t . 4 0 Insbesondere die empirischen Befunde der bereits angesprochenen, von J o h n M e y e r initiierten „world p o l i t y " - F o r s c h u n g zeigen, dass die weltweite Diffusion vieler kultureller und institutioneller M u s t e r in allen gesellschaftlichen Teilsystemen in den letzten J a h r z e h n t e n erheblich vorangeschritten ist; G e o r g e Ritzers ( 1 9 9 3 ) Verweise auf vielfältige Erscheinungsformen einer globalen „ M c D o n a l d i s i e r u n g " von immer mehr organisatorischen Strukturen und Abläufen in einer Reihe gesellschaftlicher Teilsysteme ergänzen das Bild. Z w a r m a c h t M e y e r einschränkend darauf a u f m e r k s a m , dass oftmals nur eine Fassade von Strukturmustern global Verbreitung findet und dahinter die tatsächlichen O p e r a tionen teilsystemischer Leistungsproduktion nach wie vor national höchst unterschiedlich stattfinden. D o c h wenn wechselseitiges Lernen voneinander durch die Fassaden geblendet wird, werden diejenigen Strukturen, die die eigentlichen Gelegenheiten des Lernens bieten, gleichsam ausgeblendet. Z u d e m darf nicht übersehen werden, dass die Fassaden längerfristig das faktische Operieren doch erheblich prägen, wodurch letzteres dann im zweiten Schritt ebenfalls weltweit homogenisiert wird. Zusammengefasst stellt also eine nationalgesellschaftliche Segmentierung der Weltgesellschaft eine evolutionär funktionale Redundanz sowohl in dem Sinne bereit, dass gesellschaftliche Reproduktionskrisen national begrenzt und damit verkraftbar bleiben, als auch in dem Sinne, dass durch Konkurrenz und wechselseitiges Lernen Steigerungen der Reproduktionsfähigkeit möglich werden.
3. Globalisierung als Krisentendenz der Weltgesellschaft? D a m i t w o h n t der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft in ihrer räumlichen D i m e n sion ein Selbstwiderspruch inne. Einerseits benötigt die moderne Gesellschaft als Weltgesellschaft räumliche Grenzen, die sie aber andererseits zunehmend untergräbt. Eine politisch durch den N a t i o n a l s t a a t gewährleistete segmentäre Differenzierung in N a Joseph Ben-Davids (1960) historische Vergleiche nationaler europäischer Wissenschaftssystems zeigen dies im kleineren Maßstab: Der kompetitive Föderalismus der unabhängigen deutschen Länder - einschließlich wechselseitigen Lernens voneinander - förderte im 19. Jahrhundert institutionelle Innovationen, die der Forschung zuträglich waren. 40
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tionalgesellschaften als kleinere räumliche Einheiten war bis dato eine für die Handlungsfähigkeit der Akteure, die gesellschaftliche Integration sowie die evolutionären Dynamiken funktional wichtige Struktur; doch zugleich erodieren die Globalisierungsdynamiken der meisten ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilsysteme diese räumliche Differenzierung. Dieser Selbstwiderspruch teilt sich vielen Individuen, Organisationen wie etwa Unternehmen und politischen Akteuren gleichermaßen in der diffusen Erfahrung von Weltgesellschaft als Konfrontation mit der Tatsache mit, dass man einerseits den häufig negativen Auswirkungen von räumlich immer entfernteren Handlungszusammenhängen ausgesetzt ist, aber andererseits umgekehrt nicht - jedenfalls nicht gezielt - darauf zurückzuwirken vermag. Ich habe damit eine krisentheoretische Denkfigur zur Dynamik der Moderne skizziert. Zunächst setzte die Entstehung funktionaler Differenzierung das nationalstaatliche „Containment" voraus; und auch die weitere Stabilisierung einer funktional differenzierten Weltgesellschaft beruht auf territorialen Grenzziehungen durch Nationalstaaten. Dann aber erodiert die immer weiter voranschreitende funktionale Differenzierung den Nationalstaat und könnte sich so bald selbst den Boden unter den Füßen wegziehen. Anders gesagt: So wie der Aufstieg funktionaler Differenzierung aufs innigste mit dem Nationalstaat verbunden gewesen ist, könnte der durch weiter voranschreitende funktionale Differenzierung bewirkte Niedergang des Nationalstaats auch die funktionale Differenzierung mit sich reißen. Waters ( 1 9 9 5 : 122) setzt angesichts solcher Aussichten darauf: „the State remains highly resistant, largely sovereign and a critical arena for problem solving. A possible explanation is that politics is a highly territorial activity and that the organized nation-state is the most effective means for establishing sovereignty over territory that human beings have yet devised. . . . T h e State might therefore just be the final bastion of resistance to globalizing trends". Dies kommt einem funktionalistischem Fehlschluß nahe. Umgekehrt muss die hier vorgelegte Krisendiagnose nicht das letzte Wort bleiben. Sie sollte - unterstellt, sie ließe sich empirisch erhärten - noch nicht als definitive Antwort auf die Frage gelten, wie es mit der Weltgesellschaft weiter gehen wird. Vielmehr sollen zum Schluss Folgefragen für weitere theoretische und empirische Forschungen angeregt werden. Ein erster Komplex von Folgefragen dreht sich darum, ob Staatsgrenzen nicht vielleicht doch wieder
hinsichtlich der dargelegten Funktionen gestärkt werden könnten. Funktionsschwächen sind ja nicht zwangsläufig immer endgültiger Natur, selbst wenn sie ursächlich auf eine so unaufhaltsame Dynamik wie die Globalisierung zurückgehen. Unstrittig ist ja, dass nicht etwa allein wirtschaftliche Globalisierungsdynamiken die geschilderten Erosionen von Staatsgrenzen und Nationalgesellschaften herbeigeführt, sondern nicht zuletzt nationalstaatliche Politiken dabei ganz gezielt mitgewirkt haben - siehe z. B. viele Regelungen zur Immigration oder in Zollfragen. Angesichts dessen sollte noch einmal eingehender untersucht werden, ob diese Politiken wirklich allesamt so sachzwanghaft dem Druck weltwirtschaftlicher Zwänge gefolgt sind, wie es gemeinhin dargestellt und - nicht zuletzt durch sozialwissenschaftliche Beobachter eingeschätzt worden ist. Womöglich hat ja eine „political construction of helplessness" den „myth of the powerless State" erzeugt, wie Linda Weiss ( 1 9 9 7 ) zu bedenken gibt. G a b und gibt es alternative politische Aktions- und Reaktionsmuster, die möglich gewesen wären und noch sind und die die bisherige Funktionalität der Staatsgrenzen besser gewahrt hätten? Ich muss es an dieser Stelle bei einer offenen Frage belassen. 4 1 Falls eine Prüfung dieses ersten Fragenkomplexes zu dem Ergebnis käme, dass die funktionale Restitution der Staatsgrenzen nicht, jedenfalls nicht im erforderlichen M a ß e , möglich ist, hieße das immer noch nicht, dass dem Krisenszenario nunmehr nichts mehr entgegenzusetzen wäre. Es müsste dann vielmehr noch ein zweiter Fragenkomplex sondiert werden: Gibt es in den verschiedenen spezifizierten Hinsichten funktionale Äquivalente für das, was Staatsgrenzen leisten - und könnten diese funktionalen Äquivalente gegebenenfalls so gestärkt bzw. überhaupt erst geschaffen werden, dass eine effektive Kompensation der Funktionsschwächen der Staatsgrenzen möglich wäre? Diese funktionalen Äquivalente könnten zum einen politischer Art sein, also etwa supranationale politische Gebilde wie die EU. Zum anderen müsste aber auch das viel unüberschaubarere Feld nicht-politischer funktionaler Äquivalente in den Blick genommen werden. Dabei kämen Mechanismen in prinzipiell jedem anderen Teilsystem in Betracht. Um nur ein Beispiel Vobruba ( 2 0 0 0 ) sieht beispielsweise in sozialpolitischer Hinsicht prinzipiell die Möglichkeit, das nationalstaatliche „Globalisierungsdilemma" durch „Überbrücken und Kompensieren" aufzulösen. Auch die erwähnten Forschungen von Katzenstein ( 1 9 8 5 ) zur Industriepolitik kleiner Länder gelangen zu einer positiven Beurteilung staatlicher Handlungsspielräume. 41
Uwe Schimank: Weltgesellschaft und Nationalgesellschaften: Funktionen von Staatsgrenzen zu geben: Vielleicht kann ja eine weiter vorangetriebene Differenzierung eines Teilsystems in spezialisierte Segmente dessen nationale Grenzen in Sachen Komplexitätsreduktion kompensieren. Beispielsweise ist es w o m ö g l i c h sogar sachdienlicher, dass sich die deutschen Sportsoziologen weltweit in einer immer noch überschaubaren scientific C o m m u nity von Sportsoziologen verorten, als in der deutschen Community der Sportwissenschaftler. Die Frage ist, o b solche Beispiele sich verallgemeinern lassen. Wie üblich in äquivalenzfunktionalistischen Betrachtungen müsste jeweils nicht nur dargelegt werden, dass die betreffende Funktion, die bisher Staatsgrenzen geleistet haben, durch etw a s Anderes adäquat erfüllt werden kann, sondern darüber hinaus auch, dass dieses Äquivalent erstens keine gravierenden Dysfunktionen anderer Art mit sich bringt und zweitens kompatibel mit ansonsten existierenden Strukturkontexten ist (Luhmann 1974a). Erst wenn eine gründliche Prüfung beider Fragenkomplexe Fehlanzeige vermelden müsste, liefen meine Überlegungen zu den Funktionen von Staatsgrenzen auf ein Krisenszenario hinaus. D a n n allerdings zerstörte sich die funktional differenzierte Gesellschaft der Moderne in dem Maße selbst, in dem sie ihr weltgesellschaftliches Potential realisierte. M a n mag bezweifeln, o b dieses groß angelegte Szenario, auch mit weiteren empirischen Befunden, überhaupt wissenschaftlich beurteilbar ist, und vielmehr argwöhnen, dass statt dessen ideologische Voreingenommenheiten die Argumentation lenken. Vielleicht ist die Frage: „Wieviel Nationalstaat braucht die Weltgesellschaft?" in der Tat nur als Glaubensfrage beantwortbar. 4 2 Es wäre nicht das erste Mal, dass funktionale Analyse unter der H a n d in Ideologiepolitik abglitte. Pauschaler Skeptizismus dieser Art, so verständlich er seinerseits als ideologische Positionierung ist, bringt freilich, wie Nicholas Rescher (1980) lehrt, den wissenschaftlichen Diskurs nicht weiter. Worauf es vielmehr ankommt, sind spezifische Gegenargumente, die sich ihrerseits gegen spezifische Gegenargumente zu behaupten vermögen. So oder so kann vorliegender Beitrag zum Erkenntnisfortschritt in Sachen Globalisierung beitragen. Entweder behauptet er sich gegenüber spezifischem Skeptizismus - oder er lockt einen spezifischen Skeptizismus hervor, der seinerseits die Diskussion voran bringt. 4 3 42
Wie ein anonymer Gutachter - keineswegs völlig grundlos! - meint. 43 In diesem Punkt stimme ich mit dem erwähnten Gutachter überein: „Auch fehlerhafte Argumentationen kön-
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Wobbe, Th., 2000: Weltgesellschaft. Bielefeld: Transcript,
Autorenvorstellung: Uwe Schimank, geb. 1955 in Bielefeld. Studium der Soziologie in Bielefeld. Promotion in Bielefeld. Von 1 9 8 1 - 1 9 8 3 Projektmitarbeiter an der Universität Bielefeld, 1984/85 Professurvertretung an der Universität Wuppertal. Von 1 9 8 5 - 1 9 9 6 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. 1994 Habilitation an der Universität Bielefeld. Seit 1996 Professor für Soziologie an der FernUniversität Hagen. Forschungsschwerpunkte: Theorien der modernen Gesellschaft, soziologische Akteurtheorien, Organisations- und Sportsoziologie, Hochschulforschung. Neuere Buchpublikationen: Die Transintentionalität des Sozialen (hrsg. mit Rainer Greshoff und Georg Kneer), Wiesbaden 2003. Das zwiespältige Individuum, Opladen 2002. Handeln und Strukturen, München 2000. Zuletzt in dieser Zeitschrift: Für eine Erneuerung der institutionalistischen Wissenschaftssoziologie, ZfS 24, 1995: 42-57.
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 415-441
Wie global ist institutionalisierte Weltbildungsprogrammatik? Neo-institutionalistische Thesen im Licht kulturvergleichender Analysen
Re-Examining Institutionalized World-Level Educational Ideology: Neo-lnstitutionalist Assumptions in the Light of Cross-Cultural Analysis Jürgen Schriewer Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät IV, Abteilung Vergleichende Erziehungswissenschaft, Unter den Linden 6 (GS7), D-10099 Berlin. E-mail: [email protected] Zusammenfassung: Die globale Durchsetzung einer „Welt-Entwicklungs- und Welt-Bildungsprogrammatik" gehört zu den zentralen Annahmen des neo-institutionalistischen „Weltkultur"-Modells. Der Artikel unterzieht diese Annahme dem Test kulturvergleichender Analysen. Aus der Perspektive eines Untersuchungsdesigns, das im Anschluss an die von Niklas Luhmann entwickelten Konzepte „teilsystembezogener Reflexionstheorien" und der für sie charakteristischen „Externalisierungen" definiert ist, sind diese Analysen darauf angelegt, Ausmaß und Inhalte einer vorgeblich weltweiten Homogenisierung pädagogischen Wissens zu prüfen. Inhaltsanalytische Auswertungen zentraler spanischer, (sowjet-)russischer und chinesischer pädagogischer Fachzeitschriften, die den Zeitraum von den 1920er bis zu den 1990er Jahren umfassen, belegen weitaus intensivere Schwankungen kontextbedingter Reflexionskonjunkturen (innerhalb der länderspezifischen Diskursverläufe) und weitaus stärkere Unterschiede der jeweils entworfenen Weltsichten oder Referenz-Horizonte (zwischen ihnen), als sie mit den neo-institutionalistischen Thesen kompatibel sind. Die zutage geförderten Befunde entsprechen mit anderen Worten weit eher der Sozio-Logik von Externalisierungen als der evolutionären Dynamik weltgesellschaftlich induzierter „Isomorphisierung". Die abschließende Diskussion dieser Befunde hebt insbesondere die Sinndimensionen sozial-kultureller Diskurskonstellationen hervor und setzt sie in Relation zu unterschiedlichen Modellbildungen über die globalisierte Welt der Moderne. Summaiy: The global diffusion of a "world-level developmental program and educational ideology" is one of the central assumptions of the neo-institutionalist "world polity" model. This article is meant to put this assumption to the test by means of cross-cultural analyses. These analyses are informed by concepts - particularly those of "reflection theories specific to particular subsystems of society," and of "externalizations" characteristic of such reflection theories - which were developed by Niklas Luhmann in the context of his theory of self-referential social systems. From the vantage point of this conceptual approach, our analyses are meant to explore both the extent and the content of a purportedly worldwide homogenization, or "isomorphism," of educational knowledge. Content analyses of important Spanish, (Soviet) Russian, and Chinese education journals which cover the period from the 1 9 2 0 s up to the 1 9 9 0 s reveal, however, fluctuations between periods of international openness and those of socio-centric seclusion (integrated into each of the nation-specific discourse developments) and differences regarding major reference societies, models, and "world-views" (between these discourses), which are by far greater than would be compatible with neo-institutionalist assumptions. In other words, the basic patterns underlying these findings are governed rather by the socio-logic of externalization than by evolutionary forces fueling world-level standardization. A concluding discussion of these findings throws into relief the meaning dimensions of socio-culturally specific discourse constellations and relates these dimensions to models developed with a view to conceptualizing the very nature of an increasingly globalized modern world. M o d e r n e Gesellschaften werden in zunehmendem M a ß e als Wissensgesellschaften angesehen, und dies nicht allein in soziologischen Analysen (Böhme/Stehr 1 9 8 6 , Stehr 1 9 9 4 ) , sondern auch in policy-orientierten Selbstbeschreibungen (Commission des Communautés Européennes 1 9 9 5 ) . Mit solchen Kennzeichnungen wird in der Regel der Stellenwert wissenschaftlicher Erkenntnis für den Entwicklungsstand und die Zukunftschancen von Staaten und Nationen im technologisch-ökonomischen Wettbewerb unterstrichen. Nicht minder aber geht
es im Zusammenhang entsprechender Erörterungen auch um den Stellenwert von Wissen im Prozess der Durchrationalisierung moderner Gesellschaften oder um gesellschaftsweit kommuniziertes Deutungswissen, welches kollektive Erfahrungen bündelt, auf Z u kunft auslegt und weiteres Handeln anleitet. Auf eben diesen Wissenstypus beziehen sich die folgenden Analysen. Ihr Gegenstand sind handlungsorientierende Deutungen internationaler Umwelten bzw. der je eigenen Geschichte, wie sie typischer-
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weise im Kontext pädagogischer Systemreflexion generiert werden. Dabei wird es zunächst darum gehen, den theoretischen Rahmen (1.) und das Untersuchungsdesign (2.) kulturvergleichender Analysen vorzustellen, welche dem Ausmaß und den Inhalten einer vorgeblich weltweiten Homogenisierung - oder „Isomorphisierung" - pädagogischen Wissens nachgehen.1 Im Anschluss daran werden einige mit solchen Annahmen signifikant kontrastierende Ergebnisse beschrieben (3.). Auf ihrer Grundlage wird dann ein letzter Abschnitt (4.) die Sinndimensionen sozial-kultureller Diskurskonstellationen hervorheben und zumindest ansatzweise den Stellenwert diskutieren, der entsprechenden Analysen und Befunden im Kontext von Modellbildungen über die globalisierte Welt der Moderne zukommt.
1. „World-Level Ideology" versus „Systemreflexion": Konkurrierende Theorieansätze Eine zentrale Rolle im Kontext der genannten Untersuchungen spielt die Unterscheidung zwischen „Globalisierung" und „Globalität". Mit dem Konzept der „Globalisierung" wird, wie mit seinem Schwesterbegriff „Internationalisierung", Bezug genommen auf die zunehmend intensivierten Prozesse weltweiter ökonomischer, wissenschaftlichtechnischer und kommunikativer Verflechtung (als Teilkomponenten spannungsreicher gesellschaftsgeschichtlicher Modernisierungsprozesse). Mit „Globalität" hingegen bezeichnen wir die Ebene diskursiv - etwa im Rahmen politischer oder pädagogischer Systemreflexionen - entworfener internationaler Verweisungen, Welt-Sichten und Modellabstraktionen. Unter ersterem Begriff werden mit anderen Worten evolutionäre Prozesse in den Blick genommen, die aufgrund ihrer expansiven Dynamik verstärkt in den letzten zwei Jahrzehnten Gegenstand medialer Aufmerksamkeit und sozialwissenschaftlicher Analyse geworden sind (Held et al.
1 Diese Analysen waren Thema eines Projekts über „Konstruktion von Internationalität", das im Rahmen einer von der D F G geförderten Forschergruppe zum „Historisch-sozialwissenschaftlichen Gesellschaftsvergleich" an der Humboldt-Universität zu Berlin verfolgt wurde. Mitglieder der Projektgruppe waren außer dem Verfasser, und mit variabler zeitlicher Dauer, Carlos Martinez, Jürgen Henze, Jürgen Wichmann, Jörn Taubert und Xiaoqing Xu. Vgl. u.a. Schriewer (2004) sowie Schriewer/Martinez (2004). Für die vorliegende Ausarbeitung sei den Gutachtern der „Zeitschrift für Soziologie" für ihre Anregungen zur Schärfung der Argumentation gedankt.
1999). Hingegen dient uns der zweite Begriff als Sammeltitel für semantische Konstrukte, die als Umweltbeschreibungen im Rahmen und mit den Denkmitteln systemischer Selbstbeschreibungen entworfen werden. Die derart bestimmte Differenz von „Globalisierung" als evolutionärem Prozess und von „Globalität" als semantischem Konstrukt kommt einem wissenssoziologischen Zugriff in besonderer Weise entgegen. Zwei entsprechend argumentierende Theorieansätze sind es folglich, die unsere Untersuchungen vor allem strukturieren: der von John W. Meyer und Mitarbeitern entwickelte neo-institutionalistische „World Polity"-Ansatz und die von Niklas Luhmann ausgearbeitete Theorie selbstreferentieller Systemreflexion. Folgt man dem erstgenannten Modell und seinen vornehmlich auf Berger und Luckmann (1970) zurückgreifenden Grundannahmen, so wird moderne Gesellschaft als solche bereits als primär kulturelle, d.h. über Orientierungsmuster und Vorstellungswelten hergestellte Ordnung verstanden. Sie konstituiert sich als Zusammenhang von nicht mehr hinterfragten, vielmehr als selbstverständlich und legitim unterstellten - in diesem Sinne „institutionalisierten" - Wertorientierungen, Wirklichkeitsdeutungen, Erwartungshaltungen und normbesetzten Leitideen. Im Zentrum stehen dabei Leitideen, welche im Verlauf der europäischen Neuzeit aus Prozessen der Rationalisierung und Säkularisierung hervorgegangen sind. Zu solchen „Mythen", wie es bei Meyer und Kollegen in (seltenen) Anflügen ironischer Distanzierung heißt, zählen die handlungsleitenden Vorstellungen von (i) individueller Persönlichkeitsentfaltung, Staatsbürgerrolle und Mitwirkungskompetenz, (ii) sozialpolitischer Chancenegalisierung, (iii) gesellschaftlichem Fortschritt und wirtschaftlicher Entwicklung sowie (iv) die Idee des im Sinne eines umfassenden Ordnungsrahmens wirksamen Nationalstaats (Ramirez/Boli-Bennett 1987). „Globalisierung" bezeichnet dann im Kern den aus einer Vielzahl von zwischengesellschaftlichen Interaktionen, Imitationen und abstrahierenden Modellbildungen herrührenden Prozess der weltumgreifenden Diffusion solcher Wirklichkeitsdeutungen und handlungsorientierenden Leitideen. Vornehmlich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdichten sich diese Diffusionsformen und -wege zu einem kommunikativen Geflecht, in dem einzelstaatliche, regionale und dezidiert transnationale Expertengruppen, Organisationen, Kongresse und Verbände mit zuvor nie gekannter Intensität zusammenwirken und einen sich selbst tragenden Prozess der weit-„gesell-
Jürgen Schriewer: Wie global ist institutionalisierte Weltbildungsprogrammatik?
schaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit" nicht nur in Gang halten, sondern zunehmend verstärken (Boli/Thomas 1999). „World Polity" wird insofern wesentlich als weithin legitimierte globale Vorstellungswelt begriffen, die mit normativem Gestaltungsanspruch ausgestattet ist. Sie stellt, im Unterschied zur Wallersteinschen „World Economy", die sich aus der expansiven Inkorporierungsdynamik des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems ergibt, ein unaufhaltsam sich durchsetzendes und verstärkendes „transnational cultural environment" dar (Boli/Ramirez 1986, Thomas et al. 1987, Krücken 2002, Drori et al. 2003, Meyer 2005). Mit diesem Modell sind Konsequenzen unterschiedlicher Art verbunden. So wird, konzeptionell gesehen, die oben eingeführte Differenz von „Globalisierung" und „Globalität" in eben dem Maße zum Verschwinden gebracht, in dem erstere theoretisch bereits bestimmt wird als transnational verlaufender Prozess der Konstruktion, Diffusion und Durchsetzung von normbesetzten Leitideen (mytbs), von als gültig akzeptiertem Deutungswissen (accounts) und von daran anknüpfenden handlungsleitenden Programmatiken (ideologies). Des Weiteren zieht die Konstitution eines „world cultural environment" Prozesse normgesteuerter Legitimierung bzw. Delegitimierung nach sich. Denn die globalisierte „world polity" zeichnet bestimmte Akteure - so insbesondere Individuen, Organisationen und Staaten - als legitime aus und verdrängt damit andere, sozusagen modernisierungsgeschichtlich überholte Akteure wie etwa intermediäre Instanzen oder Familienverbände (Meyer/Jepperson 2000). Hierin aber wird dieser Ansatz, was seinen Geltungsanspruch anbetrifft, seinerseits angreifbar. Denn er ist nicht gegen den Einwand gefeit, modernisierungstheoretischen Leitvorstellungen, die der USamerikanischen Gesellschaft und ihrer „Zivilreligion" geschuldet sind (Eisenstadt 2000: 51ff.), im Gewände wissenssoziologischer Diffusionsargumente zu erneuter Dignität zu verhelfen. In thematischer Hinsicht schließlich fokussieren die in diesem Ansatz entwickelten Thesen insbesondere auf die weltweite Durchsetzung einer um die Zusammenhänge von Bildung und Entwicklung zentrierten Weltprogrammatik (world-level developmental cultural account and educational ideology) (Fiala/ Lanford 1987). Diese ist es, welche wie ein regelsetzendes Drehbuch (script) die Vorstellungen der zuständigen Akteure - der Politiker, Planer und Administratoren ebenso wie der Verbände, staatlichen Instanzen oder Parlamente - in wachsendem Maße prägt und das politische Handeln instruiert. Mit zu-
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nehmender Intensität im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat diese Weltentwicklungs- und Bildungsprogrammatik ihren Niederschlag in den rechtlichen Rahmenvorgaben sowie den entwicklungs- und bildungspolitischen Zielsetzungen nationaler Verfassungen und Gesetzgebungen über alle Kontinente hinweg gefunden. Sie hat, so die Thesen von Meyer und Co-Autoren, den Rang einer kulturellen Vision der modernen Welt eingenommen, welche alternativen Weltsichten oder -entwürfen nur noch marginalen Raum zuzugestehen bereit ist, wenn sie sie nicht gänzlich delegitimiert. Als kulturelle Vision ist diese Weltprogrammatik mit einem verbindlichen Interpretations- und Geltungsanspruch ausgestattet, aufgrund dessen sie die auf allen Kontinenten, wie unkoordiniert auch immer, verfolgten Entwicklungsund Bildungsreformprozesse begleitet, stützt und verstärkt. Empirisch beglaubigt werden die Thesen des neo-institutionalistischen Ansatzes durch eine kaum noch überschaubare Zahl inter-temporal und inter-national angelegter quantitativer Analysen. Auf ihrer Grundlage gelingt es seinen Vertretern, empirisch gut begründete und theoretisch inspirierende Erklärungen für die weltweite Angleichung oder „Isomorphisierung" - von Mustern der Bildungsorganisation, von schulischen Curricula sowie von Expansionsverläufen auf allen Ebenen gegliederter Bildungssysteme anzubieten (Boli 1989, Boli/Ramirez 1986, Meyer et al. 1977, Meyer et al. 1992, Meyer/Ramirez 2000). Was auf der anderen Seite die von Luhmann entwickelte Theorie selbstreferentieller sozialer Systeme betrifft, so entfaltet auch sie einen Aussagezusammenhang, in dessen Konsequenz moderne - d.h. „funktional differenzierte" - Gesellschaft als „Weltgesellschaft" konzeptualisiert wird. Darauf wird im letzten und vierten Abschnitt explizit zurückzukommen sein. Bedeutsamer für unsere Analysen ist es zunächst, dass diese Theorie grundlegende Verhältnisse von Selbstreferenz und Reflexivität ins Zentrum ihrer Konstruktionen rückt. So leiten schon ihre allgemeinsten Begriffe dazu an, sozial-kulturelle Prozesse derart zu fassen, dass sie als sich selbst beobachtende, als sich selbst beschreibende und über Selbstbeschreibungen sich organisierende soziale Wirklichkeit nachvollziehbar werden (Lipp 1987). In diesen Begriffen ist daher eine wissenssoziologische Analyseperspektive immer schon angelegt. Sie bezieht sich auf das Auseinandertreten der semantischen und der strukturellen Entwicklungen gesellschaftlicher Kommunikations- und Handlungssphären sowie auf die zwischen beiden bestehenden „Interrelationen" (Luhmann 1980-1995). Damit ist ein allgemeiner Rahmen vorgegeben, der
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 4 1 5 - 4 4 1
nicht nur Raum lässt für die Differenz zwischen „Globalisierung" und „Globalität", zwischen evolutionärem Prozess und semantischem Konstrukt, sondern auch für Spannung und Kontrast. Denn der Gedanke der „Interrelationen" impliziert weder Parallelität noch Koinzidenz. Er berücksichtigt vielmehr auch Entwicklungen einer Semantik, die sich als ,kritische' oder ,utopische' dezidiert von vorfindlichen Sozialstrukturen abhebt, und stellt solche kontrafaktischen Verhältnisse als „semantische Differenz' von Idee und Wirklichkeit, Normen und Tatsachen, Reflexion und Realisation" bewusst in Rechnung (Luhmann/Schorr 1979: 20). Begriffliche Perspektiven wie diese berücksichtigen daher auch Erscheinungen, wie sie für praxeologisch-reformorientierte Reflexionen generell charakteristisch zu sein scheinen.2 Unübersehbar nämlich sind die Stränge pädagogischer Reflexion, die, wie seit dem 19. Jahrhundert kontinuierlich zu verfolgen, Formen einer programmatisch antizipierten Globalität - transnationale Entwicklungstendenzen, Welterziehungsbewegungen oder global verbindliche Reformmodelle - zum Thema machen, die von einer tatsächlich vorfindlichen „Isomorphie" von Mustern der Bildungsorganisation oder Unterrichtsgestaltung weitgehend abgehoben sind. Angesiedelt im Überschneidungsbereich von Auslandspädagogik, Internationaler Pädagogik, Comparative Education, Bildungsforschung, Bildungsökonomie und Bildungsplanung, waren und sind solche Stränge internationaler Dokumentation, Berichterstattung und Analyse (nicht ausschließlich, aber vorzugsweise) auf die Entwicklung policy-orientierter Zielperspektiven, Reformmodelle oder Handlungsprogramme bezogen. Sie erzeugen mit anderen Worten Wissen im Duktus „pädagogischer Reformreflexion" (Luhmann/Schorr 1979). Internationale pädagogische Reformreflexionen sind daher nicht so sehr unter szientifisch-analytischen Gesichtspunkten relevant: als methodisch anspruchsvolle Vergleichsforschung etwa. Sie sind von Interesse vielmehr unter wissenssoziologischen Gesichtspunkten, nämlich im Hinblick auf die Orientierungs-, Begründungs- oder Legitimationsgewinne, die sich mittels ihrer Konstruktionen einholen lassen. Die Sequenz der von Luhmann eingeführten Konzepte „Selbstreferenz"-„Interdependenzunterbrechung"-„Externalisierung" stellt für die Analyse solcher Nutzungsformen geeignete begriffliche Vor2 Luhmann und Schorr ( 1 9 7 9 ) haben sie vornehmlich im Hinblick auf die Theorieprobleme der Pädagogik diskutiert.
gaben bereit. Sie ermöglichen es, die auf „Welt" ebenso wie die auf „Geschichte" - bezogenen pädagogischen Umweltbeschreibungen als Komponenten systemischer Selbstbeschreibung zu entziffern. Reflexionstheorien auf Teilsystembasis, so das system- und differenzierungstheoretische Argument, entwickeln sich historisch und systematisch nicht primär nach Kriterien reiner Wissenschaft, sondern als im jeweiligen Teilsystem entwickelte Theorien über dieses Teilsystem. Sie thematisieren - und genau das meint Selbstreferenz - mit ihrem jeweiligen Bezugssystem zugleich auch sich selbst als Teil dieses Bezugssystems und folglich ihre je eigenen Selbstthematisierungen. Wie für jede Form selbstreferentieller Geschlossenheit, so stellt sich daher auch für Reflexionstheorien das Erfordernis, die Zirkularität des Kommunikationsprozesses, die im unabschließbaren Prozessieren der Reflexion angelegt ist, durch selektive Öffnung für Umweltbezüge zu unterbrechen. Solche „Interdependenzunterbrechungen" werden möglich über die Wahl externer Bezugspunkte und die Anreicherung der Reflexion mit von solchen Referenzen her beziehbarem „Zusatzsinn" (Luhmann/Schorr 1979: 338ff.). Große Bestände an internationaler Dokumentation, Berichterstattung und Analyse innerhalb der pädagogischen Literatur haben eben hier ihren Stellenwert. Das internationale Argument im Rahmen pädagogischer Diskurse korrespondiert, so die wissenssoziologische These, dem strukturellen Externalisierungsbedarf von Reflexionstheorien, und zwar insbesondere von Reflexion im Stile von Reformreflexion. Die Bezugnahmen auf „Ausland" und auf „Weltsituationen" stellen - als Öffnung für „Außenanstöße", als „Anregungspotenzial", als „lesson" oder als „frame of reference" für die Spezifizierung von Reformoptionen - eine Form des Zusatzsinn einholenden Umweltbezuges dar, dessen Leistungsmöglichkeiten den von Luhmann und Schorr herausgearbeiteten Externalisierungen, den Bezugnahmen auf „Wissenschaftlichkeit", auf „Werte" oder auf „Organisation", äquivalent sind (Schriewer 1987: 649ff.). Solche Bezugnahmen dienen nicht der vergleichenden Analyse kultureller Konfigurationen im Hinblick auf sozialwissenschaftliche Erkenntnis; sie beinhalten vielmehr die argumentative Ausdeutung internationaler Sachverhalte unter Gesichtspunkten bildungspolitischpraktischer Relevanz. Sie bedienen sich folglich nicht der „komparativen Methode" im Sinne eines analytischen Umgangs mit sozial-kulturellen Differenzen, sondern sie praktizieren - um eine schon früh von Schneider (1931/32: 243, 403f.) eingeführte Unterscheidung aufzunehmen - den methodolo-
Jürgen Schriewer: Wie global ist institutionalisierte Weltbildungsprogrammatik? gisch unterbestimmten M o d u s „vergleichender B e t r a c h t u n g " zum Z w e c k der orientierungswirksamen „Herausstellung international gemeinsamer pädagogischer Probleme, Ideen und S t r ö m u n g e n " . Unterschiedliche N a t i o n e n oder Kulturen dienen in dieser O p t i k nicht als theoretisch relevante Analyse-Einheiten, sie fungieren vielmehr als argumentativ nutzbare Verweisungs-Einheiten. Sie mutieren zu den aus der historischen Modernisierungsforschung bekannten „Referenz-Gesellschaften" (Bendix 1 9 7 8 ) und damit zu Trägern einer mit M o d e l l C h a r a k t e r ausgezeichneten Globalität. N a t i o n e n , Staaten oder Gesellschaften - gestern J a p a n , heute Finnland - werden mit anderen Worten überhöht zu „Ländern an der Spitze der Weltzivilisation [países que están al frente de la civilización del m u n d o ] " , wie ein modernisierungswilliger spanischer Autor um die M i t t e des 1 9 . Jahrhunderts notierte (Pedro 1 9 8 7 : 1 6 3 f . ) , oder, in nicht minder typischer Wendung des ausgehenden 2 0 . J a h r h u n derts, zu „world class c o u n t r i e s " (Chalker/Haynes 1 9 9 4 , Reynolds et al. 2 0 0 2 ) . D e r Bezugnahme auf Welt hochgradig komplementär ist der Rekurs auf die eigene Theoriegeschichte, der gerade in der pädagogischen Reflexionstradition intensiv praktiziert wurde und noch immer praktiziert wird. In weitgehender Parallellage zur international argumentierenden Reformreflexion intendierte und intendiert auch der Wissenstypus „Geschichte der P ä d a g o g i k " nicht primär fachhistorisch-empirische Forschung als vielmehr „ n o r m a tive und theoretische Traditionalisierung" (Tenorth 1 9 7 6 ) : die Konstruktion eines der Aufklärung verpflichteten N o r m k o n s e n s e s , die historisch gestützte Apologie gegenstandsangemessener Reflexionsformen, die Kodifizierung von Klassikern als Ausdruck „personifizierter N o r m a t i v i t ä t " oder die Erinnerung an „uneingelöste Versprechen" im Hinblick auf die Legitimierung aktueller R e f o r m o p t i o n e n (Tenorth 1 9 7 6 , Oelkers 1 9 9 9 , R a n g 1 9 6 8 ) . Die E x ternalisierung auf Tradition beabsichtigt mit anderen Worten nicht in erster Linie die distanzierende Historisierung pädagogischer D e n k h o r i z o n t e oder Erfahrungsräume. Sie erfolgt vielmehr in der Perspektive einer Neuauslegung des historisch manifestierten theoretischen bzw. normativen Gehalts und in der Erwartung, diesen unter Bezugnahme auf den Problemdruck der Gegenwart zu reaktualisieren. N i c h t das „Abrücken vom M i t t e l p u n k t s d e n k e n " , die Distanzierung und Perspektivierung, wie sie für historische Kritik und komparative Analyse kennzeichnend sind (Piaget 1 9 7 0 , Elias 1 9 8 3 ) , bestimmen insofern die Bezugnahmen auf Tradition bzw.
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auf Welt. Beide Formen der Externalisierung bleiben vielmehr selbstreferentiell bestimmte Interpretationsvorgänge, „die sich im System selbst abspielen und keine sicheren Rückschlüsse darauf zulassen, wie die Geschichte wirklich w a r oder w a s in der Umwelt wirklich vor sich g e h t " (Luhmann 1 9 8 1 : 4 0 ) . W i e jede F o r m der Interdependenzunterbrechung, so werden auch die hier interessierenden F o r m e n von Externalisierung nach dem Prinzip von „Schleusen" platziert, welche die Umwelt vornehmlich nach M a ß g a b e des systeminternen Bedarfs verfügbar m a c h e n (Luhmann/Schorr 1 9 7 9 : 3 4 0 f . ) .
2. D a s eine „ W e l t - S y s t e m " u n d m u l t i p l e „System-Welten" Beiden derart eingeführten T h e o r i e n - dem neo-institutionalistischen Ansatz einer spezifisch modernen „world cultural o r d e r " und dem von Niklas L u h m a n n entwickelten M o d e l l teilsystembezogener Reflexionstheorien - ist ein wissenssoziologischer Ansatz gemeinsam. Beide betonen nicht nur die Emergenz von leitenden Ideen und gesellschaftlichen Selbstinterpretationen aus Prozessen gesellschaftlichen Wandels, sondern auch deren Rolle bei der Fortentwicklung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Gleichwohl leiten sie dazu an, weitgehend entgegengesetzte Sachverhalte in den Blick zu nehmen. Von solcher Gegensätzlichkeit der Perspektivik ungeachtet theoretischer Affinitäten geht die nachfolgende Dimensionierung unseres Untersuchungsdesigns aus. Dieses ist darauf angelegt, die T h e s e einer institutionalisierten „Weltbildungs- und Welte n t w i c k l u n g s p r o g r a m m a t i k " dem Test kulturvergleichender Analysen auszusetzen, deren Strukturierung sich den Konzepten von „Selbstreferenz" und „ E x t e r n a l i s i e r u n g " verdankt. (i) Z u n ä c h s t lassen sich im Lichte beider T h e o r i e n wichtige Differenzen der Perspektive festhalten. Welt-System-Modelle wie die neo-institutionalistische „World Polity"-Konzeption thematisieren, in Konsequenz ihres holistischen Ansatzes, die evolutionäre D y n a m i k fortschreitender transnationaler Verflechtungs- und Integrationsprozesse; sie unterstreichen damit das Z u s a m m e n w a c h s e n der einen Welt. D a s Externalisierungs-Konzept demgegenüber erhellt die Sozio-Logik binnennationaler R e flexionen und der im R a h m e n solcher Reflexionen entworfenen Konstrukte; es verweist auf die in der Sinn-Produktion historisch-kultureller Kontexte wirksame Eigendetermination und betont damit letztlich die Kontinuierungskraft einer Vielfalt von „Welten".
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(ii) In Ausfüllung solcher Perspektiven stellt die neoinstitutionalistische Konzeption ganz selbstverständlich die globale Dissemination kulturell legitimierter Entwicklungs- und Erziehungsmodelle in den Mittelpunkt ihrer Analysen. Sie beruht auf „starken Diffusionsannahmen", welche einseitig die Anmutungen betonen, die von einer als „virtueller Sender" fungierenden „World Polity" ausgehen (Krücken 2005: 315). Demgegenüber privilegiert das Externalisierungs-Konzept die Rolle der Rezipienten. Es vollzieht damit einen Wechsel der Perspektive, der im Gedanken der Selbstreferenz angelegt ist. In Konsequenz solcher Prämissen leitet dieses Konzept dazu an, die analytische Aufmerksamkeit auf die Selektionsschwellen und Transformationskriterien zu richten, nach deren Vorgaben global kommunizierte Sachverhalte, Wissensbestände und Modelle in den internen Diskursen historisch-politisch konkreter „Empfänger"-Kontexte jeweils rezipiert, aufgebrochen und anverwandelt werden. (iii) Das neo-institutionalistische Modell hebt des Weiteren die zentrale Rolle hervor, welche eine voll institutionalisierte und professionalisierte Erziehungswissenschaft - vermittelt über ihre sozialen Träger (Wissenschaftler, Experten und Consultants) und Kommunikationsmedien (Zeitschriften, Tagungen und Kongresse) - bei der internationalen Dissemination von theoretischen Ansätzen, methodischen Verfahren, bildungspolitischen Agenden und/oder bildungsorganisatorischen Modellen übernimmt. Damit ist freilich nicht Erziehungswissenschaft in ihren kontingenten Ausprägungen gemeint, wie sie im Gefolge variierender Entwicklungspfade und unterschiedlicher nationalstaatlicher Rahmenbedingungen anzutreffen sind. Angesprochen sind vielmehr szientistische Formen erziehungswissenschaftlicher Forschung, die sich vorzugsweise empirisch-psychologischer Verfahren bedienen, die auf bildungsökonomisches Planungswissen setzen und auf solcher Grundlage Ansprüche auf universelle Geltung erheben (Meyer/Ramirez 2000: 119). Exemplarisch für eine solche Orientierung ist etwa die International Encyclopedia of Education, ein zehn- bzw., in zweiter Auflage, zwölfbändiges Kompendium (Husen/Postlethwaite 1985,1994), das in seinen sukzessiven Ausgaben, Auflagen und Vertriebsformen weltweit zirkuliert und daher als dezidiert „internationaler" Vergleichsmaßstab für Analysen der theoretischen Profile unterschiedlicher pädagogischer Diskurse herangezogen werden kann. Die an Luhmann orientierte Analyseperspektive demgegenüber begreift pädagogische Theorieentwicklung wesentlich (wenn auch nicht ausschließlich) als Reflexionstheorie auf Teil-
systembasis. Als solche ist sie unweigerlich an die variierenden Problemlagen, Denktraditionen und Wertepräferenzen ihrer jeweiligen Bezugssysteme und Reflexionskontexte rückgebunden. Pädagogische Systemreflexion diesen Zuschnitts wird insofern als unvermeidbar sozial-kulturell geprägte - insofern idiosynkratische - Form der Theorie- und Wissensproduktion aufgefasst, eine Sichtweise, die im übrigen durch vergleichende Forschungen empirisch gut belegt ist (Schriewer/Keiner 1993, Schriewer 1998, Keiner/Schriewer 2000). (;iv) Die Weltsystem-Perspektive begreift das internationale Staatengefüge als „integrated world stratification system" (Meyer/Ramirez 2000: 117). Dieses fungiert gewissermaßen als eine objektiv gegebene Wirklichkeitsstruktur, welche das Angebot an standardsetzenden Modellen ganz selbstverständlich vorzuzeichnen scheint. Das Theorem selbstreferentieller Systemreflexion auf der anderen Seite anerkennt zwar, dass die in pädagogischen Diskursen entworfenen Verweisungshorizonte, die Referenz-Gesellschaften, Entwicklungstrends oder world models, von den faktisch vorherrschenden Strukturen des internationalen Systems nicht gänzlich ablösbar sind. Und es berücksichtigt durchaus, dass die Konstrukte, als die sich die Ergebnisse von Externalisierungsoperationen darstellen, die Dimensionen politischer Macht, ökonomischer Effizienz oder kultureller Überlegenheit in Rechnung stellen. Doch nehmen Externalisierungen erhebliche Freiheitsgrade in der Auswahl und Bewertung von internationalen Modellgesellschaften und ihren Einrichtungen in Anspruch. Sie machen, wie die Schleusen-Metapher festhält, die internationale Umwelt jeweils nach Maßgabe systeminterner Bedarfslagen verfügbar. Ihre Selektions- und Interpretationsleistungen brechen die scheinbar objektive Rangfolge eines „integrated world stratification system" auf und sortieren sie gemäß den jeweils systeminternen Bedarfslagen nach „Zusatzsinn" um. (v) In der Logik der bislang entwickelten Annahmen intendieren unsere Untersuchungen zur Frage der globalen Angleichung pädagogischen Wissens keine umstandslose Replikation oder gar Bestätigung von Welt-System-Analysen. Sie sind vielmehr als klassische Vergleichsforschung angelegt, die in prüfender Absicht auf die neo-institutionalistischen Thesen bezogen ist. Denn im Lichte der bislang eingeführten Bezugstheorien liegt die Vermutung nahe, dass die historisch unbestreitbaren Prozesse der globalen Diffusion handlungsleitender Modelle von Erziehung, Entwicklung und Modernisierung immer erneut ineinandergreifen mit kontextgebun-
Jürgen Schriewer: Wie global ist institutionalisierte Weltbildungsprogrammatik? denen Interpretationen, wie sie jeden Vorgang transnationaler Interaktion und Imitation in charakteristischer Weise durchziehen. Interpretationen ihrerseits stiften abweichungsgenerierende Impulse und begünstigen daran anschließende Tendenzen regionaler Diversifizierung. Im Hinblick auf solche Diversifizierungsverläufe ist eine Unterscheidung hilfreich, die Fernand Braudel zwar schon früh eingeführt hatte, die aber im englischen Begriff des world-system untergegangen ist, die Unterscheidung nämlich zwischen systeme mondial und systemes-mondes, zwischen dem einen „Welt-System" und unterschiedlichen - ö k o n o m i s c h , zivilisatorisch oder politisch-ideologisch definierten - großräumigen „ S y s t e m - W e l t e n " . 3 (vi) Die bislang skizzierten Perspektiven haben weitreichende Konsequenzen für die Bestimmung der Analyse-Einheiten des Vergleichs. In Entsprechung zu ihrem globalen Diffusionsansatz bevorzugen die neo-institutionalistischen Autoren solche Untersuchungsdesigns, die nach M ö g l i c h k e i t alle staatlich organisierten Einheiten dieser Welt, etwa in F o r m aller U N O - bzw. U N E S C O - M i t g l i e d s l ä n der, einbeziehen. Sie laufen damit freilich das Risik o , den erst in jüngerer Vergangenheit unabhängig gewordenen Staaten der südlichen Hemisphäre in ihrer Beweisführung ein Übergewicht einzuräumen, das der statistischen Verzerrung Vorschub leistet. Demgegenüber verfolgen die im Anschluss an das Externalisierungskonzept strukturierten Untersuchungen einen alternativen Ansatz. Ihre theorieprüfenden Intentionen werden methodisch mittels einer Auswahl von Vergleichs-Einheiten umgesetzt, welche - im Sinne des „most different systems-design" (Przeworski/Teune 1 9 7 0 ) - mit sparsameren Mitteln gleichwohl ein hohes M a ß an sozial-kultureller und historisch-politischer Varianz repräsentieren. Unsere Untersuchungen konzentrieren sich auf Analyse-Einheiten, die über ein markantes und in langen Zeiträumen aufgebautes kulturelles Eigenprofil verfügen, ein Eigenprofil, das nicht zuletzt auch durch ihr politisches bzw. ökonomisches Gewicht unterstrichen wird. Sie beziehen sich also nicht auf junge Staaten wie B o t s w a n a , eines der Paradebeispiele für die neo-institutionalistischen T h e sen (Meyer et al. 1 9 9 3 ) , sondern auf Spanien, Russland/die Sowjetunion und C h i n a . M i t diesen drei Ländern ist ein Vergleichsspektrum von besonderer 3 Vgl. u . a . Braudel ( 1 9 7 9 : 12ff.). Die analytische Nutzung entsprechender Unterscheidungsmöglichkeiten, etwa in der Identifizierung der Sonderhorizonte einer sowjetisch dominierten „System-Welt", blieb bislang eher zögerlich (etwa Pallö 1 9 9 3 ) oder in letztlich unentschiedene T h e o riekontroversen verhakt (Chase-Dunn 1 9 8 2 ) .
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theoretischer Güte umschrieben. Z u m einen ermöglichen diese Länder einen Vergleichsansatz, der sich, über den inter-nationalen Vergleich hinaus, auf R ä u m e unterschiedlicher zivilisatorischer Prägung bezieht: auf das römisch-lateinisch bestimmte Westeuropa, das o r t h o d o x geprägte Osteuropa sowie auf den konfuzianisch-buddhistischen Kulturraum Ostasiens. Z u m anderen umreißen die drei Analyse-Einheiten ein Beobachtungsfeld, das auch unter Gesichtspunkten historischer Prozess-Analyse aufschlussreich ist. Denn alle drei Länder haben im Verlauf des 2 0 . Jahrhunderts eine Abfolge von tiefgreifenden politisch-gesellschaftlichen Systemtransformationen durchlaufen: eine Abfolge von revolutionären U m b r ü c h e n und blutigen Bürgerkriegen, von Phasen liberaler Öffnung auf die internationale Umwelt und solchen nationalistisch-ideologischer Selbstisolierung sowie von im einzelnen sehr unterschiedlich verlaufenen Prozessen der Angleichung an die liberal-kapitalistischen Ordnungsmuster des Westens. Überdies haben in allen drei Untersuchungseinheiten die Referenzen auf fremdkulturelle bzw. internationale Vorbilder, M o d e l l e oder Bezugsgesellschaften nicht nur eine besondere T i e fendimension; sie fungierten und fungieren auch als ambivalente Teilkomponenten hochkontroverser Auseinandersetzungen über das historisch-kulturelle Selbstverständnis und den wünschenswerten Entwicklungspfad der betreffenden Gesellschaften. Schließlich repräsentieren diese Länder für die D a u er unseres Untersuchungszeitraums durchschnittlich ein knappes Viertel der Weltbevölkerung, eine Größenordnung, die nicht unerheblich ist für die Aussagekraft von Untersuchungen, die a u f weltsystemtheoretische Argumente bezogen sind. (vii) Die global ausgelegten Untersuchungsdesigns im Umfeld der neo-institutionalist conception erzwingen schon vom U m f a n g her die Konzentration auf quantitativ gestützte Analysetechniken. Sie führen insofern zur systematischen Bevorzugung von Untersuchungsgegenständen, die seriell verfügbar und quantitativ bearbeitbar sind. In diesem Sinne stützt die um J o h n M e y e r versammelte Autorengruppe ihre Thesen vorzugsweise auf die Analyse von hochgradig standardisierten Quellengrundlagen, etwa von Verfassungstexten, Curricula oder Schulbüchern. Demgegenüber lenkt die mit den Konzepten von „Systemreflexion" und „Externalisierung" umrissene Theorieperspektive den Blick auf alternative Quellengrundlagen. Aufgrund ihres Interesses an der Analyse selbstreferentieller Selektions- und Interpretationsleistungen richtet sie sich auf pädagogisches Wissen und damit auf einen Untersuchungsgegenstand von ungleich höherer K o m -
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plexität. Untersuchungsgegenstand ist insofern das in pädagogischen Fachzeitschriften kommunizierte Wissen, d . h . Wissen vom Typus anspruchsvoller pädagogischer System- und R e f o r m r e f l e x i o n . Unter solchen Prämissen wurde pädagogisches W i s sen inhaltsanalytisch ausgewertet, wie es sich in den jeweils zentralen spanischen, russisch-sowjetischen und chinesischen Fachzeitschriften dokumentiert h a t . 4 D e r dabei erfasste Untersuchungszeitr a u m erstreckt sich von den frühen 1 9 2 0 e r bis in die zweite Hälfte der 1 9 9 0 e r J a h r e . Die Auswahl der Zeitschriften erfolgte nach den Kriterien ihrer fachlichen Allgemeinheit, ihrer sozial-kommunikativen Repräsentativität und ihrer Reputation als „wissenschaftliche" O r g a n e im jeweiligen nationalen K o n t e x t . J e d e der untersuchten Zeitschriften konnte zudem den Anspruch erheben, im betreffenden Untersuchungsabschnitt das führende, über weite Strecken zudem von offiziellen Stellen wie Staatsinstituten bzw. staatlichen Akademien herausgegebene O r g a n für pädagogische Theoriebildung, Forschung und Reformdiskussion des jeweiligen Landes gewesen zu sein. In A n b e t r a c h t der tiefgreifenden historischen Brüche in jeder der drei Analyse-Einheiten konnte freilich keine dieser Zeitschriften kontinuierlich über den gesamten Untersuchungszeitraum hin erscheinen. Insofern wurden teilweise Zeitschriften in zeitlicher Aufeinanderfolge ausgewertet, die nach den genannten Kriterien als funktional äquivalente N a c h f o l g e o r g a n e gelten konnten. Diese sind in den Abbildungen 1 bis 3 für jedes der drei Länder und für jeden Untersuchungsabschnitt im einzelnen aufgeführt. Die auf solchen Grundlagen erhobenen D a t e n beziehen sich auf die folgenden Dimensionen: a) Z u n ä c h s t interessierten die Proportionen zwischen Artikeln mit internationalem und solchen mit historischem Themenbezug. W i r fassen solche Proportionen, die sowohl interkulturell wie intertemporal variieren, als Indikator für die wechselnde Bevorzugung alternativer Strategien der Externalisierung auf: der „Externalisierung auf W e l t " im Unterschied zur „Externalisierung auf T r a d i t i o n " . Diese Unterscheidung ist unter
Fachzeitschriften stellen eine Quellenbasis dar, die für die Erfassung semantischer Konstruktionsprozesse in besonderem Maße aussagekräftig ist. Sie repräsentieren, wie die jüngere Wissenschaftsforschung am Beispiel unterschiedlicher Felder aufgewiesen hat, die Kommunikationsmedien par excellence, in denen sich die pädagogische Reformreflexion artikuliert; vgl. in Resümierung einschlägiger wissenschaftssoziologischer Literatur Schriewer und Keiner 1993: 280ff. 4
Auswertungsgesichtspunkten von beträchtlicher Bedeutung. D e n n solche Alternativen stellen, so die Prämisse, Formen der Einholung von „ Z u satz-Sinn" dar, die nicht zufällig variieren. D e r Sinnvergewisserung durch Orientierung an internationalen Strukturen und Entwicklungstendenzen steht dann die Sinnvergewisserung durch R ü c k g r i f f auf eigenkulturelle Legitimationsressourcen gegenüber, der Intention auf Kontingenzbewältigung die Erwartung auf Identitätsvergewisserung. b) Innerhalb der beiden Gruppen von Artikeln interessierten die Frequenzen, mit denen einzelne Länder, ganze Ländergruppen oder internationale Sachverhalte (in den Artikeln mit internationalem Bezug) bzw. bestimmte Autoren und Denktraditionen (in den Artikeln mit historischem Bezug) jeweils zum T h e m a wurden. Solche - gleichfalls interkulturell wie intertemporal variierenden - Frequenzen lassen sich als Indikator für die wechselnden Präferenzen auffassen, mit denen Referenzgesellschaften (in ersterem Fall) bzw. Traditionsbestände (in letzterem Fall) jeweils als modellhaft, als vorbildlich, als bedeutsam oder als orientierungswirksam ausgezeichnet oder aber auch als negatives Gegenbild abgelehnt wurden. c) Schließlich sind wir der A u f n a h m e nicht-eigennationalen Wissens in die jeweils binnen-nationale R e f o r m r e f l e x i o n nachgegangen. Dabei waren mehrere Rezeptionsformen zu unterscheiden, nämlich Z i t a t i o n e n , Übersetzungen und R e zensionen von Autoren bzw. von Arbeiten, deren Herkunft oder Wirkungsbereich außerhalb der Sprach- und Landesgrenzen der jeweils analysierten Vergleichseinheiten lag. Die Häufigkeit solcher Rezeptionsformen lässt sich dann als Indikator für das A u s m a ß und die relative Wertigkeit des Anschlusses an internationales Wissen begreifen.
3. Konstruktion und Umkonstruktion variierender System-Welten D i e Ergebnisse dieser Untersuchungen k ö n n e n hier nicht in ihrer ganzen Datenfülle ausgebreitet werden. D o c h wurden einige der gewonnenen D a tenreihen zum Z w e c k leichterer Lesbarkeit in graphischer F o r m aufbereitet. So sind die im Z u s a m menhang des vorliegenden Artikels herangezogenen Abbildungen 1 bis 4 in direkter Entsprechung zu den vorstehend entwickelten Analysedimensionen und Indikatoren angelegt:
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Jürgen Schriewer: Wie global ist institutionalisierte Weltbildungsprogrammatik? Revista (Española) de Pedagogia
Revista (Española) de Pedagogía 1925 A 1926 bis 7995 & 1996
60% 40%-
1925 &
1935 &
1945 &
1955 1965 1975 & & & &
1985 &
1995
innniMi
1926
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1946
1956
1966
1976
1986
1996
1925 &
1935 &
1945 &
1926
1936
1946
1955 1965 1975 & & & & 1956
1966
1976
1985 &
1995
1986
1996
Na Putyakh k novoy Shkolye / Narodnoye Prosveshchehnye 1926 & 1927 / (Sovyetskaya) Pedagogika 1937 & 1938 bis 1995 & 1997
Na Putyakh k novoy Shkolye / Narodnoye Prosveshchehnye / (Sovyetskaya) Pedagogika
100% 80% 60% 40% 20%-
0%
1926 &
1937 &
1946 &
1927
1938
1949
1955 1965 1975 & & & & 1956
1966
lili
1976
1985 &
1995
1987
1997
1926 &
1937 &
1946 &
1927
1938
1949
1955 1965 1975 & & & & 1956
1966
1976
1985 &
1995
1987
1997
Jiaoyu Zazhi 1921 bis 1948 / Renmin liaoyu 1955 bis 1978 / Jiaoyu Yanjiu 1984 bis 1997
Jiaoyu Zazhi / Renmin Jiaoyu / Jiaoyu Yanjiu
60%
20%'
0%'
1921
&
1924
1931
1955
1964
&
1948
&
&
1935
1956
1965
• Historische T h e m e n
1921 &
1931 &
1924
1935
1948
1955 &
1964 &
1975 &
1984 &
1995 &
1956
1965
1978
1985
1997
* Sozialistische Länder a Intern. Organisationen
1975
1984
1995
1978
& 1985
& 1997
&
• Internationale T h e m e n
Abb. 1 Verhältnis von Artikeln mit historischer Thematik zu Artikeln mit internationaler Thematik (ohne Berücksichtigung „anderer Themen") a) Abbildung 1 verdichtet die Daten zu den länderund epochenspezifisch variierenden Proportionen zwischen Artikeln mit internationaler Thematik und solchen mit historischer Thematik. b) Abbildung 2 dokumentiert im Anschluss daran die in den erstgenannten Artikeln im Einzelnen
•
Westl. Industrieländer
•
Sonstige Länder
Abb. 2 Thematisierte Bezugsgesellschaften in Internationalen Artikeln thematisierten Bezugsgesellschaften, Ländergruppen oder Internationalen Organisationen. c) Die Abbildungen 3 und 4 schließlich halten die in Gestalt von Zitaten messbare Aufnahme nicht-eigennationalen Wissens in die jeweils binnen-nationale Reformreflexion der drei AnalyseEinheiten fest. Die Abbildungen 1 bis 3 sind zudem in zweifacher Weise vergleichend angelegt. Zum einen ermöglichen sie es, die unterschiedlichen Ausprägungen, welche die hier interessierenden Indikatoren in den spanischen, russisch-sowjetischen und chinesischen Zeitschriften jeweils annehmen, unmittelbar im Drei-Länder-Vergleich miteinander in Beziehung zu
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 415-441 Revista (Española) de Pedagogía 1925 & 1926 bis 1995 & 1996
Unter Bezugnahme auf diese Abbildungen lassen sich die Ergebnisse nach folgenden Hauptlinien bündeln:
3.1 Variable Reflexionskonjunkturen statt fortschreitender Homogenisierung 1925 &
1935 &
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1946
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1966
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Na Putyakh k novoy Shkolye / Narodnoye Prosveshchehnye 1926 & 1927 / (Sovyeiskaya) Pedagogika 1937 & 1938 bis 1995 & 1997
1975 &
1985 &
1995 &
1976
1987
1997
Jiaoyu Zzzhi 1921 bis 1948 / Renmin Jiaoyu 1955 bis 1978 / Jiaoyu Yanjiu 1984 bis 1997
1921
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Abb. 3
&
1948
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&
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1956
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O
Eigennational
•
T r a n s n a t i o n a l /„Klassiker"
•
1975
1984
&
&
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1985
1995
&
1997
Fremdnational
Zitationen nach Herkunftskategorien
setzen. Zum anderen erlauben sie es, die Schwankungen dieser Indikatoren im Zeitvergleich über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg, d. h. von den 1920er bis in die 1990er Jahre zu verfolgen. Demgegenüber konzentriert sich Abbildung 4 auf das Zitationsaufkommen der spanischen, russisch-sowjetischen und chinesischen Zeitschriften in nur einem Zeitraum, der die 1970er, 1980er und 1990er Jahre umfasst. Dafür führt diese Abbildung aber, wie oben angekündigt, zusätzlich eine dezidiert „transnationale" Vergleichsgröße in Gestalt der Zitationsrangfolgen der International Encyclopedia of Education (Husen/Postlethwaite 1994) ein.
Schon in einer ersten Übersicht lassen unsere Daten nicht so sehr die fortschreitende Angleichung von Weltsichten und Bezugsgesellschaften sowie von darin eingelagerten Reformoptionen und Wissenskomponenten erkennen. Unsere Datenreihen manifestieren vielmehr, wie die Abbildungen 1 bis 3 unübersehbar unterstreichen, ganz erhebliche Variationen (in den jeweiligen Thematisierungsformen, Länderpräferenzen, Argumentationsmustern oder Wissensimporten) zwischen den Diskursverläufen Spaniens, (Sowjet-)Russlands und Chinas. Und sie belegen überdies, über den gesamten Untersuchungszeitraum hin gesehen, beträchtliche Schwankungen innerhalb jedes der drei Diskurszusammenhänge. Solche Schwankungen folgen keiner fortschreitenden Globalisierungsdynamik. Sie korrespondieren ganz offensichtlich den Umbrüchen der politischen Systeme und ihren jeweiligen Leitideologien. Entlang solcher Umbrüche lässt sich in allen drei Analyse-Einheiten eine zwar analoge, doch zeitlich in jedem Fall anders definierte Abfolge von Diskursphasen konstatieren: a) Der Beginn unseres Untersuchungszeitraums, die 1920er und frühen 1930er Jahre, markiert in allen drei Ländern eine Phase beeindruckender Offenheit der jeweiligen Reformreflexionen für Bezugnahmen auf internationale Themen, Modelle, Referenz-Gesellschaften und Theorieströmungen. Wie alle drei Abbildungen zum Ausdruck bringen, handelte es sich dabei sogar um die am eindeutigsten abgrenzbare Diskursphase. In politischer Hinsicht entsprach ihr ein tiefgreifender Wandel der staatlich-gesellschaftlichen Ordnung. Denn alle drei Länder durchliefen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts den Umbruch von traditionsreichen Monarchien autokratischen beziehungsweise halbkonstitutionellen Zuschnitts in teils revolutionäre, teils offenere - aber nur im spanischen Fall auch demokratische - politische Systeme, die sich dem Ziel weitgehender gesellschaftspolitischer Umgestaltung verpflichtet wussten. In Spanien fiel diese Phase in das Endstadium der Monarchie und in die II. Republik bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahre 1936. In der Sowjetunion war die entsprechende Öffnungsphase auf die frühsowjetische Zeit bis gegen Ende der 1920er Jahre be-
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aChina
«Spanien
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a UdSSR/Russland
IEE 1994 China Spanten UdSSR/Russland
Abb. 4 Rangfolgen der in den spanischen, russisch-sowjetischen und chinesischen Zeitschriften meistzitierten Autoren im Vergleich mit der International Encyclopedia of Education (1994)
grenzt. In China entsprach sie, mit kriegsbedingten Schwankungen, dem Zeitraum zwischen der chinesischen Revolution von 1 9 1 1 und dem Ende des Bürgerkriegs im J a h r e 1 9 4 9 . b) Parallel zum Umsturz der drei Länder in autoritäre bzw. totalitäre Z w a n g s r e g i m e seit Anfang oder Mitte der 1930er J a h r e bzw., im chinesischen Fall, dem Ende des Bürgerkriegs verengten sich auch die internationalen Referenzen p ä d a gogischen Zeitschriftenwissens in geradezu dramatischem Ausmaß. D a s geht, wie Abbildung 1 und 3 eindringlich dokumentieren, sowohl aus den spanischen Daten der frühen Franco-Ära als auch aus den sowjetischen Daten der 1930er und 1940er J a h r e wie schließlich aus den chinesischen Daten nach der Proklamation der Volksrepublik im J a h r e 1949 hervor. Dabei manifestierte sich die politisch-ideologisch bedingte Umsteuerung der jeweiligen Reformsemantik nicht nur im Austausch der bevorzugt thematisierten Länder, Ländergruppen und internationalen Entwicklungen (vgl. Abbildung 2). Die damit zugleich vorgenommene Umkonstruktion von „Welt-Sichten" ging vielmehr auch H a n d in H a n d mit dem intensiven Rückgriff auf eigenkulturelle Denktraditionen und Legitimationsressourcen (vgl. Abbildung 1).
c) Gegenüber den vorhergehenden Phasen sind die jüngeren Entwicklungen - in Spanien seit den 1970er Jahren, in Russland seit den 1980er und in China seit den 1990er Jahren - durch größere Differenzierungen gekennzeichnet. Dies betrifft die grundlegenden gesellschaftlich-politischen Ordnungsmuster ebenso wie die Ebene p ä d a g o gischer Systemreflexion. So verlief, nach unterschiedlich ausgeprägten Phasen der internen Liberalisierung und der Wiederanknüpfung internationaler Wirtschafts- und Wissenschaftsbeziehungen, der Anschluss an die liberal-kapitalistischen Ordnungsmuster des Westens im Falle Spaniens in dem zwar langen, doch gründlichen Prozess der sogenannten „ T r a n s i t i o n " , während er sich im Falle Russlands abrupt, aber mit anhaltender Instabilität vollzog. Demgegenüber verharrt China auch gegenwärtig in einer durch hohe Intransparenz gekennzeichneten Gemengelage von ökonomischer Liberalisierung und anhaltender Rigidität des politischen Regimes (He Q i n g l i a n 1998). Auf der Ebene p ä d a gogischer Reformreflexion gingen diese Transformationen zunächst mit einer erneuten Ö f f n u n g für internationale Themen, Referenzen und Wissensimporte einher. Wie Abbildung 1 deutlich macht, verblieb diese Ö f f n u n g jedoch -
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und dies bis in die ausgehenden 1990er Jahre auf ungleich niedrigerem Niveau als in den Jahrzehnten zwischen den beiden Weltkriegen. Desgleichen ist das in den 1920er und frühen 1930er Jahren bereits erlangte M a ß an Konvergenz zwischen den drei länderspezifischen Diskursformationen nicht wieder erreicht worden. Gewiss manifestiert sich in den 1990er Jahren ein erneutes Interesse an Entwicklungen, Modellen und Wissensdimensionen der marktwirtschaftlich-liberal verfassten westlichen (europäisch-nordamerikanischen) Industrieländer: an Formen von Bildungsverwaltung und Schulmanagement etwa, an Verfahren der Lehrerbildung und Curriculumreform oder an Problemen der Definition und Messung schulischer Qualitäts- und Leistungsstandards. Aber dieses Interesse ist entschieden weniger massiv und weniger konkurrenzlos ausgeprägt als in der Zwischenkriegszeit. Vielmehr geht, angedeutet durch die Säulen von Abbildung 2, die relative internationale Öffnung mit einer teilweise markanten Spreizung der Referenzräume einher. Bereits diese tiefgreifenden Einschnitte und wechselnden Reflexionskonjunkturen in allen drei Ländern halten, ebenso wie die zeitlichen und inhaltlichen Unterschiede, die zwischen ihnen beobachtbar sind, eine grundlegende Einsicht fest: Entgegen den neo-institutionalistischen Annahmen, welche die fortschreitende Institutionalisierung eines „world cultural environment" ungeachtet divergierender politischer oder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen unterstellen, unterstreichen die - namentlich in Abbildung 1 und 3 dokumentierten - Reflexionskonjunkturen und -brüche die nachhaltige Bedeutung eben solcher Kontextbedingungen und kontextbedingten Krisenlagen. Unsere Befunde bestätigen damit einen im Konzept selbstreferentieller Systemreflexion immer schon angelegten Gedanken. Denn ebenso anschaulich wie nachdrücklich verdeutlichen sie die für pädagogische Reformreflexion charakteristischen Zusammenhänge zwischen dem Wandel eines staatlich-politischen Kontextes, den wechselnden Reformimperativen seines Bildungssystems, den Umstellungen der pädagogischen und bildungspolitischen Reflexionslagen und den damit korrespondierenden Formen des Umweltbezugs durch den Ausgriff auf „Welt" bzw. auf „Geschichte". 3.2 Internationale Reformsemantik vor der Zeit Auf der anderen Seite aber lässt sich nicht übersehen, dass die Ausbildung einer global zirkulierenden pädagogischen Reformsemantik auch durch unsere Daten nicht grundsätzlich dementiert wird.
Doch liegt der Höhepunkt der Ausstrahlung und Geltung einer solchen Reformsemantik am Beginn des Untersuchungszeitraums, nicht in der Gegenwart. So gehört zu den sicherlich überraschendsten Ergebnissen unserer Analysen das in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen erreichte Ausmaß an Internationalität pädagogischen Wissens, und zwar inhaltlich bestimmt durch die europäisch-nordamerikanische Reformpädagogik. In weitgehender Übereinstimmung erstreckte sich diese Internationalität sowohl auf das behandelte Themenspektrum der spanischen, (früh-)sowjetischen und chinesischen Zeitschriften, so insbesondere auf die reformpädagogischen Modelle, Autoren und Theorieansätze, als auch auf die weithin gleichgerichtete Präferenz für westeuropäisch-nordamerikanische Referenz-Gesellschaften (vgl. Abbildung 2). Ein außerordentliches M a ß an Offenheit charakterisierte aber auch die unterschiedlichen Dimensionen des Wissensimports (vgl. Abbildung 3). Letztere wurden maßgeblich geprägt durch die starke Repräsentanz - in Gestalt von Zitationen, Rezensionen, Übersetzungen oder sogar Mit- bzw. Gast-Herausgeberschaften - der Leitautoren der internationalen reformpädagogischen Bewegung. Rekordwerte in dieser Hinsicht erreichte insbesondere die Revista de Pedagogia. In ihren Spalten publizierte und rezensierte zwischen 1 9 2 2 und 1 9 3 6 mit Autoren wie Georg Kerschensteiner, Peter Petersen, Paul Oestreich, Ovide Decroly, Edouard Claparède, Jean Piaget, Pierre Bovet, Maria Montessori oder John Dewey die Crème der internationalen reformpädagogischen Bewegung. So wie Dewey firmierten auch zahlreiche andere der weltweit anerkannten Pädagogen im Impressum sogar als regelmäßige Mitarbeiter. Insgesamt kam vor 1936 mehr als ein Viertel der Autoren der Revista aus nicht-spanischen Ländern Westeuropas und aus den USA. Weniger massiv, was die (übersetzten) Autoren, wohl aber eindeutig, was die behandelten Inhalte anbetraf, war auch in den frühsowjetischen Zeitschriften das Interesse an reformpädagogischen Konzepten und Innovationen. Es richtete sich in besonderem Maße auf die im Zusammenhang der Reformpädagogik entwickelten Varianten der Arbeitsschule und die vom amerikanischen Pragmatismus beeinflusste Projektmethode. Insbesondere John Dewey - und in seiner Folge dann auch einzelne seiner Schüler und Mitstreiter wie etwa Kilpatrick in der frühen Sowjetunion oder Tao Xing-Zhi in China - konnte daher im Kontext dieser erstmaligen Ausbildung einer internationalen pädagogischen Reformsemantik eine Schlüsselrolle als weltweit führender Referenzautor schlechthin übernehmen. Auf
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quantitativ kontrollierter Datengrundlage bestätigt sich damit die bislang überwiegend auf der Basis von Selbstinterpretationen ihrer Protagonisten vertretene These von der Internationalität der Reformpädagogik (Röhrs/Lenhart 1994, Oelkers/Osterwalder 2000). 3.3 Inversionen der Internationalisierungsbewegung Anders aber, als die „World-Polity"-Hypothesen vermuten ließen, wurde die reformpädagogisch inspirierte internationale Reformsemantik nicht sukzessive weiter ausgebaut. Im Kontext der Umbrüche, welche in Spanien durch den Ausgang des Bürgerkriegs, in der Sowjetunion durch die stalinistische Kulturrevolution und in China durch die Proklamation der Volksrepublik bezeichnet sind, wurde sie vielmehr durch ideologische Sonderentwicklungen in allen drei Vergleichs-Einheiten gründlich verdrängt. An die Stelle der Kontinente übergreifenden Globalität des pädagogischen Reformdiskurses trat sowohl in den spanischen wie in den sowjetischen und den chinesischen Diskursen die selbstgewählte - und in unterschiedlichem M a ße auch selbstüberhebliche - Abschließung gegenüber dem Fremden. Mehr noch, die richtungsbezogene Bedeutungskomponente, die im Konzept der „Internationalisierung" als Prozessbegriff mitenthalten ist, wurde geradezu umdefiniert. Mit „Internationalisierung" waren nun nicht mehr die grundsätzliche Offenheit für und der Anschluss an Entwicklungen, Einrichtungen, Modelle oder Theorieansätze außerhalb der jeweils eigenen Landesgrenzen gemeint. Vielmehr bedeutete „Internationalisierung" nun umgekehrt ein auf Ausstrahlung nach außen bedachtes Werben für den jeweils eigenen Entwicklungsweg, die Kultivierung eines von der Überlegenheit der eigenen Ideologie durchdrungenen Selbstbildes oder gar die Formulierung eines zivilisatorischen Sendungs- bzw. religiösen Erlösungsbewusstseins. Dieser dramatische Umbau der dominierenden Welt-Sichten artikulierte sich nicht zuletzt im Rückgriff auf die begrifflichen Schemata und die Interpretationsraster historisch tief zurückreichender ideenpolitischer Konfliktlinien. Und bezeichnenderweise ging er thematisch mit der massiven Bevorzugung der jeweils eigenen Bildungsgeschichte und Theorietraditionen Hand in H a n d , während im gleichen Zusammenhang die Referenzen auf die zeitgenössische internationale Umwelt deutlich zurückgingen. Vergleichsweise zurückhaltend kommt diese Inversion des Internationalisierungsgedankens in den
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chinesischen Reformreflexionen zum Ausdruck. Diese greifen zwar auch, und dies bis in die ausgehenden 1990er Jahre, auf die alten Dichotomisierungen zurück, wie sie seit den ersten intensiven Auseinandersetzungen mit dem Westen im 19. Jahrhundert geläufig wurden: die Entgegensetzung etwa von wuzhi wenhua (der materiellen Zivilisation des Westens mit ihrem Primat weit fortgeschrittener Wissenschaft und Technik) und jirtgshen wenhua (der spirituellen Kultur Chinas mit ihrer Hochschätzung sozialer Harmonie) (etwa Zhou Hong 1997). Und unverkennbar gewinnen die seit dem Bruch mit der Sowjetunion geläufigen Topoi von der gesellschaftlichen und kulturellen „Autarkie" Chinas bzw. vom chinesischen „Sonderweg" ihre Überzeugungskraft in Erinnerung an ein zivilisatorisches Überlegenheitsbewusstsein, das sich aus der mehrtausendjährigen Geschichte des Landes speist. Gleichwohl bleiben diese Formen kultureller Selbstvergewisserung, gepaart mit dem Beharren auf einem alternativen Entwicklungsmodell, mit dem sich China zugleich eine Mentor-Rolle für die Länder der Dritten Welt zuschrieb, weit hinter dem Sendungs- oder Erlösungsbewusstsein zurück, zu dem der Internationalisierungsgedanke in der Hochphase des spanischen Franquismus bzw. in Russland umgegossen wurde. Die Franco-Diktatur hatte ja nicht zuletzt den Sieg in einer ideenpolitischen Auseinandersetzung zwischen nationalkatholisch-autoritär gesinnten Traditionalisten und westeuropäisch-liberal geprägten Modernisierern, zwischen casticistas und europetstas, bedeutet, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichte. Der Triumph der Ersteren, der mit dem Ausgang des Bürgerkriegs einherging, bedeutete die offizielle Durchsetzung eines Geschichtsbildes, das sich in enger Verbindung von nationaler und katholischer Identität auf die spanischen Entdeckungen sowie die daran anschließenden kolonialen und missionarischen Traditionen des spanischen Imperiums berief. Es begriff Spanien als Kernland eines eigenständigen Kulturkreises, der Hispanischen Welt, welche außer dem Mutterland auch die früheren Kolonialgebiete in Amerika, Afrika, Asien und Ozeanien umfasste. Mit der Aktualisierung und Legitimierung der einstmals weltumspannenden spanischen Mission und der Rehabilitierung einiger ihrer prominenten pädagogischen und theologischen Träger, die in den Spalten der Revista Española de Pedagogía offensiv vorgetragen wurde, verband sich dann auch die Stilisierung des eigenen Landes zur „Mutter aller Missionen [madre de misiones]" und zum Träger eines universalen „Erlösungsgeistes [espíritu de salvación]" (Valero 1946,
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Frutos Cortes 1946). Dies war umso stärker der Fall, als auch die spanischen Denker der FrancoÄra zeitgenössische Verflechtungstendenzen globalen Ausmaßes anzuerkennen nicht umhinkamen. Denn in der Konsequenz solcher Tendenzen sah man die Welt zerrissen zwischen zwei Blöcken, die gleichermaßen in Ruin und Dekadenz zu führen schienen: zwischen den „materialistischen" (insbesondere der UdSSR und den USA) und den „liberalen" Nationen (den meisten europäischen Ländern), wie es vor dem II. Weltkrieg wahrgenommen wurde, bzw., in charakteristischer Nacbkriegskorifiguration, zwischen der „kommunistischen" und der „angelsächsischen Welt". Über und im Kontrast zu diesen antagonistischen Blöcken aber war es die geradezu welthistorische Sendung der glaubensstarken sogenannten „integralen" Nationen - als solche stilisierte man Spanien und Japan vor bzw. das spanische Volk und das Judentum nach dem II. Weltkrieg die europäische Zivilisation von der Spiritualität des Glaubens aus zu erneuern. 5 In funktional analogen Formen griff - und greift die Artikulierung eines spezifisch russischen Superioritäts- oder Sendungsbewusstseins auf traditionelle Konfliktlinien zurück. Diese wurzeln, als Gegensatz zwischen „Slawophilen" und „Westlern", zwischen russischer Geistigkeit und westeuropäischem Materialismus sowie zwischen Orthodoxie und Latinität, tief im 19. Jahrhundert bzw. schon im petrinischen Modernisierungsschock des 18. Jahrhunderts. In Gestalt des sogenannten „Eurasismus" wurde dieser ursprünglich ethnisch-religiös geprägte Gegensatz in den 1920er Jahren säkularisiert und umgeformt zum nunmehr geopolitischen Gegensatz zwischen einer russisch-asiatischen Synthese, deren Grundlagen historisch bis auf die Tatarenherrschaft zurückgeführt wurden, und Westeuropa, das dem sittlich-kulturellen Niedergang geweiht schien. In der Hochphase des Stalinismus seit den 1930er Jahren wurde das in Form solcher Polaritäten transportierte russische Überlegenheitsbewusstsein noch einmal umformuliert und ideologisch überhöht in Gestalt des in welthistorischen Dimensionen interpretierten Systemantagonismus zwischen „Sozialismus" und „Kapitalismus". HinBezeichnend ist vor diesem Hintergrund die Zusammenführung nationalistisch-imperialer und katholisch-mysti-
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scher Denktraditionen in einer Pedagogía
Imperial
de
España, etwa bei Lillo Rodelgo (1941). Vgl. im übrigen Pemartin ( 1 9 3 9 ) und, gestützt auf Debatten, die seit dem 19. Jahrhundert von Donoso Cortés, Menéndez Pelayo, Ramiro de Maeztu und anderen über den Platz und die Rolle Spaniens in der modernen Welt geführt worden waren, Salvo Serer ( 1 9 5 2 : 39ff.).
fort war es das sowjetische Gesellschafts- und Bildungssystem, das aufgrund eines gewissermaßen entwicklungsgesetzlich verbürgten Fortschritts Vorbildfunktionen beanspruchte, und dies insbesondere für die um ihre nationale Unabhängigkeit ringenden Staaten Asiens und Afrikas. Mit der Auflösung der Sowjetunion schließlich treten hinter den politisch-ideologischen Programmen des Kalten Krieges die älteren Traditionsschichten wieder hervor, seien diese ethnisch-religiös geprägt oder geopolitisch-eurasisch. 6 Was sie verbindet, sind die Absage an westlichen Werte-Universalismus oder „Kosmopolitismus" und das Insistieren auf kulturellem Partikularismus. In unterschiedlichen Mischungsverhältnissen grundieren sie das gegenwärtige Oszillieren der Reflexionslage zwischen nationalpatriotischimperialen Ideen von einem spezifisch russischen „Sonderweg" für die Entwicklung von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik und ethnisch-religiös verankerten Vorstellungen einer gegen den Westen gerichteten Heils- und Erlösungsmission. Das starke Ausgreifen auf panslawisch-orthodoxe Traditionen und Gemeinsamkeiten, wie es in zahlreichen Artikeln der Pedagogika seit den 1990er Jahren zum Ausdruck kommt, hat eben hier seinen Ort. Mögen westliche Bildungssysteme auch punktuelle Anleihen organisatorischer oder technologischer Natur anbieten (Klarin 1 9 9 4 ) , die zentralen Sinnfragen einer in radikalem Umbau begriffenen Gesellschaft nationale Identität, gesellschaftliche Werteorientierungen und sittliche Erziehung - lassen sich ganz offensichtlich nur im verbindenden Bezugshorizont von byzantinischer Kultur, russischer Orthodoxie und slawischer Völkergemeinschaft angemessen bearbeiten (Klarin/Petrov 1994, Belozertsev 1997, Nikandrov 1998).
3.4 Austausch der Argumentations- und Bewertungsmuster Die harschen Umbrüche vom länderübergreifend geteilten Interesse an den Positionen und Strömungen der Reformpädagogik, das die ZwischenkriegsAufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Neuauflage eines erstmals 1 8 7 1 veröffentlichten Pamphlets von Nikolay Danilevsky ( 1 9 9 5 ) . In ihm entwickelt der Autor den in einer Kulturtypenlehre verankerten Gegensatz zwischen einem germanisch-romanischen Westeuropa, das der Dekadenz geweiht sei, und der programmatisch antizipierten Führungsrolle Russlands im Kontext eines panslawischen Bundes. Zur Ideenfiliation einer eurasischen Renaissance und ihrer Verbreitung im gegenwärtigen politischen Spektrum des Landes vgl. im übrigen Ignatow 1 9 9 2 und Luks 2 0 0 4 . 6
Jürgen Schriewer: Wie global ist institutionalisierte Weltbildungsprogrammatik? zeit charakterisierte, zu variierenden Formen eines geschichtsphilosophisch untermauerten Überlegenheitsanspruchs oder nationalistisch-religiös argumentierenden Sendungsbewusstseins gingen ihrerseits Hand in Hand mit einem nicht minder radikalen Austausch der typischerweise verwandten Argumente der interpretierenden Aus- und Bewertung der jeweils behandelten Sachverhalte. Dieser Bruch der Argumentationsmuster findet sich sowohl in den internationalen wie in den historischen Artikeln. In hohem Maße aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die Sovyetskaya Pedagogika. In ihren internationalen Artikeln stand zwar, wie in Abbildung 2 festgehalten, das westliche Ausland noch in den 1930er Jahren, also nach dem Übergang von der frühsowjetischen Phase zum Stalinismus, mit Abstand im Zentrum des thematischen Interesses - so wie es von der Mitte der 1960er Jahre an thematisch erneut in den Vordergrund rücken sollte. Doch war bei dieser relativ intensiven Thematisierung westlich-liberaler Bildungssysteme und -modelle nicht die Erwartung möglicher bildungspolitischer Inspirationen leitend. Die nunmehr dominanten Auswertungsargumente setzten nicht, wie es ungeachtet aller Nuancierungen der Urteilsbildung noch in den 1920er Jahren der Fall war, auf die grundsätzliche Affinität von Reformmodellen oder die Gemeinsamkeit bildungspolitischen Wollens. Sie beruhten nicht mehr auf Argumenten von wechselseitiger „Übereinstimmung" oder zunehmender „Konvergenz". Vielmehr betonten sie hinfort „Abstand", „Gefälle" und „Kritik". Die Darstellungen westlich-kapitalistischer Bildungsstrukturen dienten dazu, eine Negativfolie zu entwerfen, von der sich die vermeintliche Überlegenheit sowjetischer Einrichtungen und Planungen - im Schema vom gesellschaftsgeschichtlichen „Rückstand" versus „Fortschritt" oder mittels der Denkfigur vom systembedingten „Antagonismus" - umso überzeugungskräftiger abheben ließen. In ganz analoger Weise fielen auch historische Perioden, Denktraditionen oder Repräsentanten pädagogischer Theoriegeschichte, welche in der frühen Zwischenkriegszeit zum richtungsweisenden Vorbild stilisiert worden waren, seit den 1930er Jahren der ideologisch motivierten Degradierung anheim. An den wechselnden Um- und Neubewertungen der spanischen Aufklärung - zunächst seit den 1940er, dann von den 1980er Jahren an - lässt sich dieser Austausch der Argumentationsmuster ebenso verfolgen wie am Schicksal der in der frühen Sowjetunion breit rezipierten internationalen Pädologie. Wurde diese in den 1920er Jahren als die schlecht-
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hin zentrale Innovation der Sowjetpädagogik und als Grundlage einer genuin marxistischen Erziehung gepriesen, so wurde sie nach 1930 als heillos reaktionär verdammt. Auch die Rezeptionskonjunkturen selbst so bekannter sowjetischer Pädagogen wie Blonsky oder Shatsky sind für solche Umwertungen ebenso prägnante Beispiele wie die Rezeption eines John Dewey (Anonymus 1938). Dem Ausmaß seines Ansehens in den 1920er Jahren korrespondierte die Heftigkeit der ideologisch motivierten Degradierung, die mit dem Erstarken des Stalinismus einsetzte und Anfang der 1950er Jahre dann auch auf die chinesischen Zeitschriften durchschlug.
3.5 Thematisierungsformen als Strategien der Sinnvergewisserung Bemerkenswert sind schließlich die außerordentlichen Schwankungen der jeweiligen Anteile an Artikeln mit internationaler Thematik und Artikeln mit historischer Thematik, welche über die acht Jahrzehnte unseres Untersuchungszeitraums hin verfolgbar sind. Mit besonderer Deutlichkeit hält Abbildung 1 das Ausmaß dieser Schwankungen fest. Sie unterstreicht damit nicht nur die oben eingeführte Phasengliederung, sondern auch die erheblichen Unterschiede zwischen den thematisch-methodischen Großorientierungen, die in den spanischen, russisch-sowjetischen oder chinesischen Diskursverläufen jeweils dominierten. Sie zeichnet Verlaufskurven nach, die im wesentlichen nationalen, d. h. politisch-ideologisch bedingten, Konjunkturen folgen, die aber keine Korrespondenz mit übergreifenden Trends erkennen lassen, seien diese globalisierungstheoretisch nahegelegt oder seien sie modernisierungstheoretisch prognostiziert. Entzifferbar werden diese Verlaufskurven nur, wenn man die mit dem Ausgriff auf Welt bzw. dem Rekurs auf Geschichte verknüpften alternativen Externalisierungsstrategien explizit in Rechnung stellt. Es wird dann deutlich, in welchem Maße auch sich modernisierende Gesellschaften - und in diesem Sinne waren alle drei Analyse-Einheiten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Nachzügler im Industrialisierungsund Modernisierungsprozess - Orientierungsgewinne weniger durch Ausrichtung an ihrer internationalen Umwelt suchen als vielmehr im Rückgriff auf eigene Traditionen. Die Externalisierungen, von denen ihre Reformreflexionen bevorzugt Gebrauch machen, intendieren „Zusatz-Sinn" weniger durch das Abtasten von Alternativen der Zukunftsgestaltung als vielmehr in der Bezugnahme auf Vergangenheit. Die damit verbundenen Erwartungen
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zielen, wie man in Aufnahme zeit- und differenzierungstheoretischer Überlegungen auch formulieren kann, weniger auf Kontingenzbewältigung als auf Identitätsvergewisserung (Luhmann 1997: 149). Solche Rückbesinnung auf jeweils eigene Theorietraditionen gilt in extremer Form für alle drei Länder während der Phasen nationalistischer bzw. ideologischer Abschließung: die 1940er und 1950er Jahre in Franco-Spanien, die Jahrzehnte des Hoch- bzw. Spätstalinismus in der Sowjetunion und die chinesische Kulturrevolution der 1960er und 1970er Jahre. Für die 1990er Jahre aber tendieren - nach zunehmender Wieder-Öffnung gegenüber der internationalen Umwelt in den 1980er Jahren - selbst die chinesischen Werte zu einem näherungsweisen Gleichstand zwischen dem Ausgriff auf Welt und dem Rekurs auf die eigene Geschichte (vgl. Abbildung 1). Sie bestätigen damit nicht nur die unter Rückgriff auf Deng Xiao-Ping formulierte Maxime für die chinesische Öffnungs- und Modernisierungspolitik am Ende des letzten Jahrhunderts: „Looking for modernization, looking for the world and looking for the future" (Shanghai Committee 1996: 1). Die in dieser Maxime benannten Suchbewegungen - das Streben nach Modernisierung, der Ausgriff auf (Um-)Welterfahrung und der Wille zur Zukunftsbewältigung - stehen vielmehr auch in voller Entsprechung zu den hier verfolgten Linien der Interpretation. Demgegenüber lassen die russischen Proportionen der beiden Externalisierungsstrategien auf nach wie vor als vordinglich wahrgenommene nationale Orientierungsprobleme schließen. In glatter Entgegensetzung zur chinesischen Maxime und in noch eklatanterem Gegensatz zur Entwicklung der Prioritäten in Spanien hält in den russischen Zeitschriftenjahrgängen das Übergewicht der Artikel mit historischer Thematik gegenüber denjenigen mit internationaler Thematik auch in der jüngeren Gegenwart an. Eine solche Agenda aber ist nicht zufällig. In frappierender Häufung finden sich vielmehr Artikel beispielsweise zu den Ursprüngen und der Ausbreitung der Orthodoxie, zur Bedeutung der byzantinischen Kultur für die Festigung des Christentums in Bulgarien, Serbien und dem Alten Rus, zum Beitrag russischer Gelehrter und Missionare des 18. Jahrhunderts für die kulturelle und religiöse Stabilisierung Serbiens gegenüber westlicher Aufklärung und katholischer Latinität, zur kulturellen Arbeit russischer Emigranten seit Beginn des 20. Jahrhunderts im weiteren slawischen Raum, zum spezifisch panslawischen Charakter der Pädagogik des Comenius oder generell zur kultur- und identitätsprägenden Stellung der Orthodoxie und einer orthodox
fundierten Pädagogik auch im gegenwärtigen Russland. Unübersehbar manifestiert sich in solchen Artikeln das Bemühen, nach der Auflösung der sozialistischen (Teil-)Welt gewissermaßen Ersatz in Gestalt der Re-Konstruktion einer anderen - aber gleichfalls dezidiert nicht-westlichen - „SystemWelt" zu finden (Wichmann 2002). Damit ist primär eine ethnisch-religiös, d.h. slawisch-orthodox definierte „System-Welt" gemeint (bevor dann in den ausgehenden 1990er Jahren eher ephemere Anläufe ins Blickfeld rückten, die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten als Gegenwelt zum liberal-kapitalistischen Westen zu positionieren). Diese Vergewisserung der Gemeinsamkeiten einer slawisch-orthodoxen Welt greift ebenso sehr auf traditionelle Interpretationsschemata vom Antagonismus zwischen russischer Geistigkeit und europäisch-amerikanischem Materialismus zurück, wie die mit ihr einhergehende Dominanz historischer Themen darauf angelegt ist, Sinnangebote und Wertorientierungen für Kultur und Erziehung im gegenwärtigen Russland zu stiften. Denn der Zerfall der Sowjetunion hatte ja mehr bedeutet als die Auflösung einer herrschenden Staatsideologie. Er bedeutete zugleich den Verlust von Sicherheiten und vermeintlich sicheren Deutungszusammenhängen: von Vorstellungen über Entwicklung und Fortschritt, von Ideen über den Gang der Geschichte und von einer Vision über die Stellung des eigenen Landes in der Welt. Vor diesem Hintergrund ist die an den russischen Zeitschriftenjahrgängen der 1990er Jahre zu beobachtende verstärkte Zuwendung zu vorrevolutionären Traditionen und kulturgeschichtlichen Zusammenhängen, zu Konzepten patriotischer Erziehung und zu den „geistigen Werten" der russischen pädagogischen Kultur auch als Teilkomponente breiter gelagerter Versuche zu sehen, eine tiefgreifende Identitätskrise reflexiv zu bewältigen. Die verstärkte Zuwendung zur Vergangenheit statt zur internationalen Umwelt ist mit anderen Worten auch Ausdruck intellektueller Aufmerksamkeiten, die weniger auf Modernisierung gerichtet sind denn auf Sinnvergewisserung, weniger auf Horizonterweiterung in internationaler Umschau denn auf Identitäts-Stabilisierung im Medium neu anzueignender Traditionen. Was das Interesse bündelt, ist insofern nicht der - erneut in kritischer Wendung diagnostizierte - „sittliche Verfall" amerikanischer Schulen; was offensichtlich dringlicher erscheint, ist die Neuformulierung einer russischen Nationalidee (Tsygankov 1996), eine Präokkupation im übrigen, die sich bis in die Neuformulierung russischer Geschichtslehrbücher hinein verfolgen lässt (Zajda/Zajda 2003).
Jürgen Schriewer: Wie global ist institutionalisierte Weltbildungsprogrammatik? 3.6 Länderspezifische Problembezüge als Rezeptionsfilter Solche Ergebnisse werden nicht zuletzt durch detaillierter angelegte Zitationsanalysen bekräftigt. Die sachstrukturellen Grundlagen dieses Verfahrens hat Stichweh ( 1 9 8 7 ) in systemtheoretischer Begrifflichkeit herausgearbeitet. In dieser Perspektive lässt sich wissenschaftlich-fachliche K o m m u n i k a t i o n als Prozess autopoietischen Fortschreitens von Publikation zu Publikation bestimmen. Typischerweise aber, das m a c h t den Prozesscharakter solcher K o m munikation aus, steht eine Publikation nicht insular, sondern immer schon im Verhältnis der Intera k t i o n mit anderen Publikationen. Aufgrund der in ihr jeweils neu und anders hergestellten Verknüpfung von These und Z i t a t , von Argument und in das Argument integrierten Verweisen, tritt die einzelne Publikation in Interaktion mit vorgängigen Publikationen. Und sie spannt eben damit Referenzräume auf, die im Hinblick auf die theoretischen, historischen oder ideologischen Affinitäten wie Negationen, die in ihnen festgehalten sind, analysierbar werden. Aufgabe einer Zitationsanalyse wie der hier verfolgten ist es daher, über die Erfassung maßgeblicher theoretischer Positionen und Relationen die charakteristischen Profile oder ideologischen R ä u m e unterschiedlicher nationaler Diskurszusammenhänge zu rekonstruieren. Entsprechend den oben entwickelten Untersuchungsperspektiven, die auf Externalisierungen und auf Wissensimporte abzielen, fokussieren unsere Analysen zum einen auf Z i t a t i o nen klassischer A u t o r e n 7 , zum anderen auf Zitationen von (jeweils nur k o n t e x t a b h ä n g i g als solche bestimmbaren) nicht-eigennationalen Autoren sowie von internationalen Organisationen. Keine Berücksichtigung finden folglich alle jene eigennationalen Autoren, denen kein Klassikerstatus zuerkannt werden konnte. Schließlich konzentriert sich die Z i t a tionsanalyse auf den Z e i t r a u m von den 1 9 7 0 e r bis zu den 1 9 9 0 e r J a h r e n und damit auf die dritte der zuvor unterschiedenen Diskursphasen. Sie konzentriert sich mit anderen Worten auf die J a h r g ä n g e der spanischen, russisch-sowjetischen und chinesischen Zeitschriften, deren zeitlich umschriebener Wissenscorpus potenziell demjenigen der zweiten Auflage der International Encyclopedia of Education (Husen/Postlethwaite 1 9 9 4 ) entspricht.
„Klassiker"-Status wurde solchen Autoren zuerkannt, die zum Zeitpunkt der Zitation entweder nach allgemeiner Übereinkunft als zentrale Referenzgröße galten oder aber verstorben und durch eine Gesamtausgabe ihrer Werke als besonders bedeutsam ausgewiesen waren. 7
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Schon rein quantitativ gesehen, belegen die in Abbildung 4 graphisch übersetzten Zitationsrangfolgen die markanten Differenzen zwischen den R e zeptionsprofilen, die für die pädagogischen und bildungspolitischen Reflexionen der drei Analyseeinheiten jeweils charakteristisch sind. 8 D a r ü b e r hinaus verdeutlicht Abbildung 4 aber auch den enormen Abstand sowohl des spanischen wie, vor allem, des russischen und des chinesischen Rezeptionsprofils von den intellektuellen Positionen eines internationalen S a m m e l w e r k s par excellence. Dieser Befund ist umso signifikanter, stellt man die theoretisch-methodische Ausrichtung der International Encyclopedia of Education in R e c h n u n g , die von empirisch-psychologischen und bildungsökonomischen Theoriestücken und Forschungsansätzen geprägt ist und eben damit den neo-institutionalistischen A n n a h m e n von der unaufhaltsamen Durchsetzung einer „world-level educational ideology" und einer szientistischen Erziehungswissenschaft geradezu passgenau entspricht. Geht m a n zudem in qualitativer Analyse den von den meistzitierten Autoren repräsentierten intellektuellen Positionen im einzelnen nach, zeichnen sich in jedem der drei nationalen Zitationsprofile charakteristische M u s t e r ab. Diese M u s t e r sind zwar, im Vergleich betrachtet, jeweils unterschiedlich konfiguriert, doch sind sie in sich weitgehend k o n sistent. Sie verweisen auf einen in den drei nationalen Diskurskontexten jeweils grundverschiedenen Problembezug, der, wie bei Theorierezeptionen generell zu unterstellen (Bourdieu 1 9 9 0 ) , als „ F i l t e r " der Auswahl und Aneignung von fremdem Wissen wirksam ist. Im spanischen wie auch im russischsowjetischen Fall korrespondieren diese Filter einem Wissenschaftsverständnis von Pädagogik oder Erziehungswissenschaft, das, wenn auch ideologisch unterschiedlich begründet, geradezu als theoretisch-methodologische Alternative zum westlich-angloamerikanischen Muster szientistischer Bildungsforschung angesehen werden kann. So umschreiben etwa die in der Revista de Pedagogía meistzitierten Autoren - die Philosophen, die christlich-existentialistischen D e n k e r und selbst noch die höchst selektiv aufgenommenen Psychologen - eine Bei der Berechnung dieser Rangfolgen wurde die Repräsentativität der Zitationen stärker gewichtet als ihre Intensität. Kriterium für die Berücksichtigung von Referenzautoren der Zeitschriften war daher die Streuung ihrer Zitationen über mindestens drei unterschiedliche Artikel. Von den Referenzautoren der International Encyclopedia wurden nur diejenigen aufgenommen, die in mindestens zwei Prozent aller Lexikoneinträge mit vollen Literaturangaben auftauchen. 8
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Variante pädagogischer Reflexion, die mit den katholisch-thomistischen und spiritualistischen Traditionen kompatibel ist, wie sie in Spanien über Jahrzehnte hin vorherrschten und auch in der hier berücksichtigten Diskursphase (der 1 9 7 0 e r bis 1 9 9 0 e r Jahre) noch nicht verblasst sind. Analog dominieren in der Sovyetskaya Pedagogika bis zum politisch-ideologischen Zusammenbruch der vormals sozialistischen „System-Welt" Autoren, die weniger eine durch ökonomische Rationalität bestimmte Bildungsforschung im Sinne der International Encyclopedia of Education vertreten, sondern eine materialistische Pädagogik mit spezifischem Empirieverständnis und -Zugang. In radikalem Bruch dazu lässt sich dann an den russischen Zitationen der 1 9 9 0 e r Jahre, den überraschend häufigen Bibelzitaten etwa oder der Wiederkehr kulturkritisch und existentialistisch argumentierender Religionsphilosophen, eine im Rahmen der russischen Denktraditionen funktional äquivalente Version der spanischen Konzeptionen verfolgen. In China auf der anderen Seite sind es ganz offensichtlich weniger theoretische und methodologische Probleme angemessener Systemreflexion, welche als Selektionsfilter für die Rezeption nicht-eigennationalen Wissens fungieren. Im Zentrum maßgeblicher Reflexionsprobleme steht vielmehr die Identifizierung eines „richtigen" Modernisierungsweges, d. h. eines Modernisierungsweges, der ohne unvertretbar hohe Kosten gangbar, materialiter zielführend und gleichwohl mit der dominanten Ideologie kompatibel ist. Alle weiteren Fragen von Erziehung, Erziehungspolitik und pädagogischer Reflexion, so scheint es, schließen dann an dieses für den chinesischen Reflexionskontext zentrale Bezugsproblem an.
4. Weltgesellschaftliche Moderne und kulturspezifische Sinnproduktion Die bislang präsentierten und diskutierten Befunde, so lässt sich zusammenfassen, belegen weit intensivere Schwankungen zwischen Phasen internationaler Öffnung und solchen sozio-zentrischer Abschließung (innerhalb der länderspezifischen Diskursverläufe) und weit stärkere Unterschiede in den jeweils entworfenen Referenzhorizonten oder „Welt-Sichten" (zwischen ihnen), als sie mit den Thesen des neo-institutionalistischen Modells kompatibel sind. Auch die explizite Einbeziehung historischer Vergleiche in das gewählte Untersuchungs-Design ließ keine übereinstimmenden Trends erkennen. Mit Nachdruck unterstreichen unsere Befunde vielmehr die Brechung internationaler Reformtendenzen, globaler Organi-
sationsmodelle und Wissensangebote oder transnational kursierender Stilisierungen von „ReferenzGesellschaften" und „world class countries" an jeweils kontextimmanenten - d.h. kulturell, religiös, politisch oder ideologisch vorgezeichneten - Selektionsschwellen und Interpretationsmustern. Anders als lediglich diffusionstheoretische Ansätze es zu leisten vermögen, erschließt das Externalisierungskonzept nicht nur die Ebene der in und durch Reflexion vollzogenen semantischen Konstruktionen. Es unterstreicht zugleich die über wechselnde Erwartungen an Legitimation, Orientierung oder Vergewisserung - d.h. über wechselnde Bedarfe an „Zusatz-Sinn" vermittelte Rückbindung solcher Konstruktionen an je besondere historisch-politische oder sozial-kulturelle Kontexte. Die unseren Befunden unterliegenden Muster entsprechen insofern weit eher der Sozio-Logik von Externalisierungen als einer evolutionären
Dynamik weltgesellschaftlich phisierung".
induzierter
„Isornor-
Solche auf die Diversifizierungspotenziale kultureller Sinnproduktion - mithin auf „Polymorphie" abstellenden Schlussfolgerungen bedeuten keine umstandslose Falsifizierung des neo-institutionalistischen Ansatzes, jedenfalls nicht nach den strengen Kriterien orthodoxer Wissenschaftsphilosophie. Dafür ist schon, selbst wenn man die Zentralität global institutionalisierter „world-level educational ideology" für das ganze Modell in Rechnung stellt, der bearbeitete Empirieausschnitt für sich genommen nicht hinreichend aussagekräftig. 9 Gleichwohl nötigen unsere Befunde zur Theoriekorrektur und zur Umschau nach alternativen Erklärungsmodellen. Der Blick auf Forschungen, die in analoger Weise die Koexistenz von Gegenläufigkeiten zum Thema machen, mag hier hilfreich sein. So korrespondiert unseren Befunden über die offensichtlich ungebrochene Fortdauer kulturspezifischer Sinnproduktion auch im Kontext weltgesellschaftli-
Verwiesen sei aber auf analoge Diskrepanzbefunde, wie sie Menzel ( 2 0 0 4 ) für den Bereich politischer Organisation und moderner Staatenbildung herausgearbeitet hat. N a c h seinen ebenfalls in globaler Perspektive angelegten Analysen entbehren viele der jungen Staaten in Afrika, Zentralasien, Ostasien und selbst in Lateinamerika echter Staatsqualität. Solche von ihm so genannten „prämodern e n " Staaten bestünden vielfach nur aus einer Fassade staatsförmiger Symbole. Es sind aber eben jene jungen Staaten sowie deren Sekundärattribute moderner Staatlichkeit wie die Einrichtung von Ministerien - sei es für Erziehung, sei es für Wissenschaft - , die in den intertemporal-quantifizierenden Surveys der Stanford-Gruppe signifikantes Gewicht besitzen; vgl. etwa Yong Suk Yang (2003).
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Jürgen Schriewer: Wie global ist institutionalisierte Weltbildungsprogrammatik?
eher Moderne eine wachsende Zahl von Arbeiten, welche den spannungsreichen Gleichzeitigkeiten von globalen Verflechtungstendenzen und pfadabhängigen Strukturbildungen, von weltweiten Disseminationsprozessen und lokalen Aneignungsformen, nachgehen. In variierendem begrifflichen Gewand und mit Bezug auf unterschiedliche thematische Zusammenhänge hat die vergleichende und internationale Sozial- und Bildungsforschung klargestellt, dass Globalisierungsprozesse alles andere als einlinig, zielgerichtet oder evolutionistisch vorgezeichnet verlaufen. Solche Prozesse konstituieren sich vielmehr in spannungsreichen Gleichzeitigkeiten von „Globalisierung" und „Fragmentierung" (Menzel 1998), von „intégration" und „contestation" (Stromquist/Monkman 2000) oder von Übernahme (westlicher Organisationsmodelle) und Aneignung (im Anschluss an kulturspezifische Sinnmuster) sowie den insgesamt daraus resultierenden Gemengelagen aus „unvollkommener Universalisierung und schöpferischer Abweichung [universalisation manquée et déviance créatrice)" (Badie 1992: 221ff.). Wie vergleichende Forschungen über unterschiedliche Themenfelder überdies deutlich gemacht haben, stehen globale Verflechtungstendenzen und pfadabhängiger Strukturaufbau nicht einfach unverbunden nebeneinander. Offensichtlich sind sie im Verhältnis von Herausforderung und Reaktion, von Prozess und nicht-steuerbaren Folgewirkungen, aufeinander bezogen (Schriewer 2000). Oder sie konstituieren sich immer erneut über Formen dialektischer Verschränkung - bzw. „interpénétration" - von ökonomischen Globalisierungsund sozial-kulturellen Fragmentierungstendenzen (Friedman 1994, Spybey 1996). In besonderem Maße aussagekräftig sind vor diesem Hintergrund, zumal im thematischen Zusammenhang von pädagogischer Systemreflexion und kulturspezifischer Sinnproduktion, die seit Anfang der 1990er Jahre global ausgeweiteten vergleichenden Wertestudien (Inglehart 1998, Futuribles 2002). Bemerkenswert sind diese Studien schon aufgrund des offensichtlichen Gegensatzes zwischen ihren Ausgangshypothesen und den empirischen Befunden. Unterstellten erstere, analog den Annahmen des „World-Polity"-Ansatzes, einen übergreifenden Wandel - und damit einhergehende Konvergenzen - in Richtung auf postmoderne Werteorientierungen, so umschreiben letztere distinkt geschnittene Regionen kulturell geprägter Werteorientierungen von hoher „Kohärenz und Stabilität" (Inglehart 1998: 463). In der Tat ließen sich die in die Erhebungen einbezogenen 44 nationalen Gesellschaften je nach Ausprägungsgrad der
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Werteorientierungen ihrer Bevölkerung zu Clustern gruppieren, die geradezu in eine „Landkarte der Kulturen der Welt" übersetzbar waren (Inglehart 1998: 464). Die ihr entsprechende Abbildung 5 ist nach den zentralen, in den Surveys erfassten Wertedimensionen konstruiert. Die vertikale Achse repräsentiert die kontrastierenden Muster von religiös-traditionalen versus säkular-rationalen Wertorientierungen (sogenannte „Modernisierungsdimension"). Die horizontale Achse repräsentiert Wertemuster, welche zwischen den Polen „Verlangen nach Überleben/ Absicherung der Grundbedürfnisse" auf der einen und „Steigerung der Lebensqualität/subjektives Wohlbefinden" auf der anderen Seite oszillieren (sogenannte „Postmodernisierungsdimension"). Auf dieser „Landkarte" sind nicht nur unsere Analyseeinheiten Spanien, Russland/UdSSR und China eindeutig - im katholischen Westeuropa, im slawisch-orthodoxen Osteuropa und im konfuzianisch geprägten Ostasien - lokalisierbar. Die auf der Landkarte angeordneten Cluster, die nach Maßgabe der dominanten Werteorientierungen der in ihnen gruppierten Bevölkerungen gebildet wurden, reflektieren vielmehr auch das Gewicht sehr unterschiedlicher Kontextvariablen. In dem Maße, in dem sich die ärmeren Länder der südlichen Hemisphäre in der linken unteren Ecke gruppieren und die fortgeschrittenen Industriegesellschaften des Nordens in Richtung der rechten oberen Ecke tendieren, verweisen diese Cluster zunächst auf das jeweils erreichte wirtschaftliche Entwicklungsniveau. Mit unerwartetem Gewicht schlagen sich in dem topographischen Muster der Clusterbildung, wie es aus Abbildung 5 ablesbar ist, aber auch Gemeinsamkeiten von Sprache und Kultur sowie von (zum Teil kolonial vermittelten) rechtlichen und politischen Traditionen nieder. Und mit nicht minder großer Deutlichkeit ist es die Zugehörigkeit der jeweiligen Gesellschaften zu unterschiedlichen Weltreligionen beziehungsweise, im Falle der postsozialistischen Transitionsländer, ideologischen Systemen, welche die Clusterbildung zu bestimmen scheint. Das gilt für die nordischen Gesellschaften im rechten oberen Quadranten als Teil eines breiteren nordeuropäischen Clusters mit protestantischem Hintergrund. Das gilt nicht minder für die Gesellschaften des katholischen Europa und die vom Konfuzianismus geprägten ostasiatischen Gesellschaften Chinas, Japans und Südkoreas. In analoger Weise lassen sich die afrikanischen und lateinamerikanischen Gesellschaften zu jeweils eigenen Kulturregionen gruppieren, wobei sich die letzteren, in unmittelbarer Nachbarschaft des katholischen Europa, auch zusammen mit diesem zu einer katholischen Groß-
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Überleben vs. Wohlbefinden Abb. 5 Landkarte der Kulturen der Welt. Positionen der Bevölkerungen von 44 Gesellschaften auf der Modernisierungsund Postmodernisierungs-Dimension (in den Jahren 1981 und 1990). Quelle: Inglehart, R., 1998: Modernisierung und Postmodernisierung. Kultureller, wirtschaftlicher und politischer Wandel in 43 Gesellschaften. Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 464
région zusammenfassen lassen (Inglehart 1 9 9 8 : 1 4 3 , Abbildung 3.6). Aufschlussreich unter Gesichtspunkten der kulturellen Definition und internen Kohärenz der Cluster ist überdies der Fall der englischsprachigen Länder. Ein kompakter nordamerikanischer Kern, der von den USA und Kanada gebildet wird, ist seinerseits wiederum Teil einer breiteren englischsprachigen Kulturzone, zu der neben Großbritannien auch Irland und Nordirland sowie, ungeachtet seiner geographischen Distanz, selbst Australien gehören. In wiederum anderer Form reflektiert die Gruppe der vormals staatssozialistischen Länder Mittel- und Osteuropas einerseits Gemeinsamkeiten der rational-säkularen
Werteorientierungen. Andererseits machen sich aber auch Distanzen bemerkbar zwischen den am stärksten entkirchlichten Gesellschaften des vormaligen Ostblocks - darunter der frühere ostdeutsche Teilstaat - und denjenigen ost- bzw. ostmitteleuropäischen Ländern, die - wie insbesondere Polen - stark katholisch bzw. orthodox geprägt blieben. Die Ergebnisse vergleichender Werte-Studien und ihre topographische Visualisierung in Abbildung 5 belegen mit anderen Worten - nur das ist der hier interessierende Aspekt dieser methodisch wie theoretisch weiter differenzierenden Analysen wie auch unter den Kommunikationsbedingungen des ausgehenden 2 0 . Jahrhunderts klar unterscheid-
Jürgen Schriewer: Wie global Ist Institutionalisierte Weltbildungsprogrammatik?
bare Großregionen kulturspezifischer Sinnproduktion fortexistieren. Nicht zuletzt solche Überlagerungen eines hypothetisch angenommenen Wertewandels durch die Differenzierungspotenziale wirkungsmächtiger religiöser und kultureller Strukturvorgaben werfen, bestärkt zumal durch die zunehmend verfeinerten Befunde seitens der zuvor angesprochenen Forschungsstränge, Fragen nach komplexer gebauten Erklärungsmodellen auf. Denn es kann nicht ausreichen, Einsichten in spannungsreiche Gemengelagen lediglich mit Metaphern wie „Hybridisierung" oder „métissage" zu belegen (Nederveen-Pieterse 1994, Gruzinski 1999), sie zu Neologismen wie „glocalisation" zu kontrahieren (Spybey 1996) oder sie den unterschiedlichen disziplinären Sichtweisen der Makrosoziologie („global schooling") und der Kulturanthropologie („local meanings") zuzurechnen (Anderson-Levitt 2003). Was gefragt ist, sind vielmehr Modelle, die die Gleichzeitigkeit von globalen Verflechtungstendenzen und kontextspezifischen Strukturbildungen einschließlich ihrer je variierenden Verkettungen und Überformungen in ein und demselben Theoriekontext begrifflich konsistent zu fassen erlauben. Konzeptionell weiterführend sind unter solchen Erwartungen jüngere Diskussionen über die Vielfalt unterschiedlicher und durch unterschiedliche „kulturelle Programme" geprägter Typen der Moderne, wie sie im Überschneidungsbereich von historischer Soziologie und vergleichender Geschichtswissenschaft geführt werden (Daedalus 1998, Daedalus 2000, Sachsenmaier et al. 2002). Sie gehen von der These aus, dass die wachsende globale Verflechtung staatlicher und gesellschaftlicher Akteure nicht notwendigerweise auch zunehmende Homogenisierung bedeutet. Entsprechende Arbeiten ziehen damit die Konsequenzen sowohl aus vergleichend-historischer Forschung wie aus den kumulierten Erfahrungen der Diskrepanz zwischen klassischen Modernisierungstheoremen und tatsächlichen Transformationsprozessen in Ländern außerhalb der westlichen Hemisphäre. Denn solche Forschungen und Erfahrungen haben die von den Modernisierungstheorien der Nachkriegszeit gepflegten Konvergenzannahmen zunehmend als inhaltslos enthüllt (Hall/Soskice 2001, Redding 1990, Roniger/Waisman 2001, Schriewer 2000): „The great diversity of modern societies, even those whose economic development has been similar, such as Europe, the United States, and Japan, became more apparent. [... Although modernity has spread to most of the world, it has not given rise to a single institutional pattern or a single modern civilization" (Eisenstadt et al. 2002: 4).
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In Abgrenzung sowohl von radikal konvergenztheoretischen wie von einseitig kulturalistischen Positionen hat insbesondere Eisenstadt in einer Vielzahl von Studien das für die Ausbildung unterschiedlicher Typen der Moderne maßgebliche Gefüge von strukturellen Komponenten und Prozessphasen begrifflich weiter herausgearbeitet. Er weist dabei religiösen Glaubenssystemen, außerweltlich verankerten Welt- und Geschichtsdeutungen und symbolischen Ordnungen - d.h. der „religioculture" im Sinne Robertsons (1992) - einen schlechterdings ausschlaggebenden Stellenwert in der Ausbildung gesellschafts- bzw. zivilisationsspezifischer „kultureller Programme" zu (Eisenstadt 2000: 172f.). Doch wirken die religiösen Dimensionen des sozialen Lebens weder isoliert noch unvermittelt. Sie sind vielmehr eingelagert in ein komplexes Interrelationsgefüge, in dem kulturelle Dimensionen (neben religiösen Deutungssystemen und symbolischen Ordnungen z.B. auch Rechtskonzeptionen und historische Erfahrungen), strukturelle Dimensionen (soziale Differenzierung, Industrialisierung und Urbanisierung) und institutionelle Aspekte (die Formen, in denen sich moderne Staatlichkeit und kapitalistische Wirtschaftstätigkeit ausprägen) in je unterschiedlicher Weise zusammenwirken. Die Relationen sowohl zwischen diesen Großdimensionen wie zwischen einzelnen ihrer Komponenten und zwischen rivalisierenden Visionen des Gemeinwohls - zwischen Zentrum und Peripherie, Zivilgesellschaft und Staat, Individuum und Kollektiv, Autonomie und Autorität, zwischen jakobinischen und pluralistischen Konzeptionen sozialer Ordnung oder zwischen Freiheit und Gleichheit - sind zudem prinzipiell variabel, voller Spannungen und Widersprüche. Solche Spannungen und Widersprüche lassen Raum für Protest und Protestbewegungen. Daher waren es insbesondere die großen Revolutionen, die englische, die amerikanische und die französische, die die kulturellen Programme der Moderne in Europa und den USA grundlegend veränderten und damit zugleich umgestaltend und diversifizierend auf das institutionelle Gefüge dieser Gesellschaften, auf ihre historische Dynamik und die Formen ihrer kollektiven Identität zurückwirkten. In analoger Weise waren - und sind - die Begegnungen zwischen den Programmen der europäischen Moderne und außereuropäischen Gesellschaften keine Einbahnstraße. Sie sind vielmehr Anlass für eine Vielzahl von Selektionen, ReInterpretationen und Appropriationen, deren Referenzen in der Geschichte und den historischen Erfahrungen sozial-kultureller Kollektive verankert sind. Aus solchen Prozessen deutender Interaktion
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und Umgestaltung sind nicht nur veränderte Versionen der kulturellen und politischen Programme der Moderne einschließlich der Umgewichtung einzelner ihrer Komponenten oder Antinomien hervorgegangen. Solche Prozesse waren vielmehr auch an der Neukonstruktion von kollektiven Identitäten, Selbstbildern und Einstellungen gegenüber dem Westen beteiligt. Und ganz analog haben sie schließlich die Ausdifferenzierung neuartiger institutioneller Arrangements begünstigt. In Anbetracht solcher Prozesse, in Anbetracht aber auch der Dynamik, die immer erneut von den kulturell-strukturell-institutionellen Interrelations-Gefügen unterschiedlicher Gesellschaften ausgeht, lässt sich die Geschichte der Moderne am besten verstehen, so Eisenstadt (2002: 37), „as a story of continual development and formation, constitution and reconstitution of a multiplicity of cultural programs of modernity and distinctively modern institutional patterns, and of different self-conceptions of societies as modern - of multiple modernities."
Damit ist nicht gesagt, dass moderne Gesellschaften nicht auch konvergente Entwicklungen und folglich konvergente Probleme in zentralen Bereichen ihrer strukturellen Grundlagen ausgebildet hätten, in Industrie- und Beschäftigungsstruktur etwa oder in Stadtentwicklung und Bildungswesen. Doch die Formen der Bearbeitung solcher Probleme, inklusive der für Problemdiskussionen und Reformreflexionen herangezogenen semantischen Ressourcen und Schemata des Sinn-Prozessierens, differieren in Abhängigkeit von der in verschiedenen Gesellschaften oder Zivilisationen historisch jeweils ausgebildeten Dynamik. 1 0 Nicht zuletzt das Modell von der Vielfalt der M o derne legt es schließlich nahe, noch einmal den Theorierahmen aufzugreifen, der vor allem für die Dimensionierung unserer Untersuchungen leitend war. Auch dieser Theorierahmen thematisiert, wie eingangs angemerkt, das spannungsreiche Verhältnis zwischen „Globalisierung und Regionalisie1 0 Dies zeigt sich nicht allein im distanzierten Blick der Kulturanthropologie (Sarangapani 2 0 0 2 , Anderson-Levitt 2 0 0 3 ) , sondern gilt selbst innerhalb Westeuropas (Planel 1 9 9 7 , Sharpe 1 9 9 7 , Meuret/Duru-Bellat 2 0 0 3 ) und bestätigt die andernorts formulierte These vom „abstract universalism of trans-nationally disseminated models which fans out into multiform structural patterns wherever such models interact, in the course of institutional implementation, with different State-defined frameworks, legal and administrative regulations, forms of the division of labor in society, national academic cultures, context-bound social meanings, and religious world-views" (Schriewer 2 0 0 0 : 326).
rung", zwischen „Weltgesellschaft" und den - unter dem Label der „Regionen" nur unterkühlt angesprochenen - Beharrungs- und Diversifizierungspotenzialen sozial-kultureller Kollektive (Luhmann 1 9 9 7 : 145ff., 806ff.). „Weltgesellschaft" wird von Luhmann bekanntlich als Korrelat „funktionaler Differenzierung" bestimmt. Das charakteristische Differenzierungsschema der Moderne, das sich an Problemstellungen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz ausrichtet, bringt es mit sich, dass die funktionsbezogen ausdifferenzierten Teilsysteme dazu tendieren, die Reichweite ihrer Operationen prinzipiell weltweit zu entgrenzen. Jedes Teilsystem drängt mit anderen Worten aus seiner funktionsspezifischen Dynamik heraus auf barrieren- und raumüberwindende Ausweitung seiner Kommunikationen: in Form des internationalen Fernhandels oder globaler Börsenvernetzungen, in Form internationaler wissenschaftlicher Kongresse und Journale, internationaler Menschenrechtskonventionen und Gerichtshöfe oder in Gestalt weltweit greifender technologischer Kooperation. In evolutionärer Perspektive gesehen, so die These, stützen und verstärken sich insofern eine primär an Funktionen orientierte Form gesellschaftlicher Differenzierung und die emergente Weltgesellschaft wechselseitig. Ebenso jedoch, wie Eisenstadt und andere Vertreter des „Multiple Modernities"-Ansatzes die Einsicht festhalten, dass „increasing globalization means [...) not necessarily increasing homogenization" (Kocka 2 0 0 2 : 123), ist auch für Luhmann die Tatsache unübersehbar, dass unterschiedliche Regionen in höchst unterschiedlicher Weise an den typischen Strukturvorgaben der Weltgesellschaft partizipieren. Aufgrund regional variierender Konstellationen kann die Ausbildung von Strukturen funktionaler Differenzierung im einen Fall gefördert, im anderen erschwert, in wiederum anderen Fällen selektiv verengt oder mittels eigenwilliger Strategien von Akzeptanz und Subversion auch partiell ausgehebelt werden. Die Durchsetzung des Primats funktionaler Differenzierung im allgemeinen ist mithin nicht gleichzusetzen mit dessen „gesicherter Selbstrealisation" im Konkreten. Vielmehr gilt: „Je mehr man auf Details zugeht, desto auffälliger werden die Abweichungen von dem, was die Theorie funktionaler Differenzierung erwarten lässt" (Luhmann 1997: 811, 806f.). Die Frage, die sich mithin stellt, ist die, wie die Theorie mit dieser Spannung umgeht. Auf der einen Seite entwickelt Luhmann ein konzeptuelles Instrumentarium, das, prägnanter als bei Eisenstadt entwickelt, die Analysemittel anbietet, um die auch unter Globalisierungsbedingungen immer erneut ablaufenden und partiell sogar sich ver-
Jürgen Schriewer: Wie global ist institutionalisierte Weltbildungsprogrammatik? stärkenden Diversifizierungsvorgänge in ihrer prozessualen Dynamik zu erfassen. Konzepte wie „Eigendetermination für Veränderungen", „Strukturabhängigkeit strukturellen Wandels", „Abweichungsverstärkung" oder „Konditionierung" haben hier ihren Ort. Sie bezeichnen Mechanismen der Differenzerzeugung bzw. Differenzverstärkung, die im Ausgang von jeweils kontingenten „Sonderbedingungen" - von Unterschieden lokaler, regionaler, geographischer oder kultureller Art - nichtprognostizierbare Wirkungsketten in Gang setzen. „Konditionierungen" insbesondere greifen immer dann, wenn der spezifische Operationsmodus funktionsbezogener Teilsysteme auf die je unterschiedlich präformierenden oder seiegierenden Zwänge regionaler Sonderbedingungen trifft. Variable Konditionierungen sind es dann auch, welche jene divergierenden Muster der Strukturbildung hervorbringen, die in „extrem ungleiche Entwicklungen innerhalb der Weltgesellschaft" einmünden (Luhmann 1 9 9 7 : 811). Vor allem neu eingeschliffene Verhältnisse von Inklusion und Exklusion sind hier zu nennen. Denn sie sind nicht nur durch Prozesse funktionaler Differenzierung ausgelöst; dramatisch verschobene Proportionen von Inklusion und Exklusion sind vielmehr auch als Abweichungsverstärker von beträchtlicher Tragweite daran beteiligt, die sozialstrukturellen Bedingungen weiterer Durchsetzung funktionaler Differenzierung ihrerseits zu unterlaufen. Mechanismen der Differenzerzeugung und -Verstärkung dynamisieren mithin multiple Entwicklungen, die, wie es dann lakonisch heißt, den Regionen „die Chancen eines eigenen Schicksals" einräumen, eines Schicksals, das gerade nicht die Reproduktion „einer Art Mikroausgabe des Formprinzips funktionaler Differenzierung" meint (Luhmann 1997: 811f.). Die Regionen gewinnen damit Historizität, aber in welchem Maße bleiben sie zugleich theoriefähig? Die Antworten, die die Theorie der Weltgesellschaft in dieser Hinsicht anbietet, sind zumindest ambivalent. Jedenfalls bleibt den Kollektiv-Subjekten regionaler „Schicksale" eine dem allgemeinen Theorierahmen adäquate Anerkennung versagt. Das system- und differenzierungstheoretische Axiom dass „Gesellschaft" unter modernen Bedingungen nicht anders denn als die eine „Weltgesellschaft" gedacht werden könne - lässt sich offensichtlich mit historisch-vergleichender Empirie nicht begrifflich überzeugend integrieren. Vielmehr wird die Auszeichnung von sozial-kulturellen Entitäten auf (in der Regel) territorialer Organisationsbasis (Immerfall 1998) als „Regionalgesellschaften" kategorisch verworfen. Diese Entitäten werden in der Theo-
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rie der Weltgesellschaft lediglich als Residualgrößen, als „Regionen" eben, mitgeführt. Als Residualgrößen werden sie überdies des Gewichts ihrer Simultanpräsenz im Raum - als gleichberechtigte Vielfalt unterschiedlicher Konfigurationen, die sich gerade über variierende Koppelungen kultureller, struktureller und institutioneller Aspekte als solche konstituieren - entkleidet und primär auf einer über die Semantik von „Modernität/Modernisierung" codierten Entwicklungsachse verortet: „Nichts ist nicht mehr oder weniger modern" (Luhmann 1997: 158 et passim). Dem entspricht, in analoger Gedankenführung, die Abwertung vermeintlich im Deskriptiven verbleibender „regionaler" Vergleiche zugunsten „gesellschaftstheoretisch" ansetzender „historischer" Vergleiche. Denn, so die These, erst Vergleiche „nicht mit anderen Gesellschaften, sondern mit den Vorteilen der Vollrealisierung funktionaler Differenzierung [ergeben] Anhaltspunkte für die Probleme, mit denen die einzelnen Regionen sich konfrontiert sehen" (Luhmann 1997: 163). Solche - theoretischen Basisentscheidungen geschuldete - Prioritätensetzungen sollten gleichwohl nicht übersehen machen, dass auch die Theorie der Weltgesellschaft zunächst und vor allem ein Forschungsprogramm darstellt. Als solches ist es auf Ausfüllung und Spezifizierung durch vergleichende Untersuchungen vielfältigster Art angewiesen. Dies umso mehr, als auch für die Theorie der Weltgesellschaft gilt, dass sie, wie die Theorie funktionaler Differenzierung, einerseits als „Prozesstheorie" konzipiert ist, andererseits als „Gegenwartsanalyse". Als Gegenwartsanalyse aber kann sie nicht umhin, der Tatsache gebührend Rechnung zu tragen, dass sich die als „Regionen" (unter-)bestimmten Bündelungen von Sonderbedingungen, Abweichungen und konfigurativen Ordnungen als nach wie vor bestandsfeste, eigen-determinierende und zu selbst-organisierten Reaktionen auf weltgesellschaftliche Strukturvorgaben befähigte Kollektivsubjekte ihres jeweiligen „Schicksals" erweisen. Gleichermaßen eine Angelegenheit von Forschung wird es sein, und zwar von historisch wie regional/zivilisatorisch weit ausgreifender Vergleichsforschung, die der Theorie der Weltgesellschaft ihrerseits eingeschriebenen Konditionierungen, etwa aufgrund europazentrierter Sonderbedingungen der Beobachtung, offen zu legen. Denn als „radikal konstruktivistische" (Luhmann 1 9 9 7 : 156) hat sich diese Theorie der Tatsache zu stellen, dass auch Weltbeobachtungen zweiter Ordnung selbstverständlich unterschiedlich konditioniert sein können. Für die Ausfüllung eines solchen Forschungsprogramms stellen, wie oben angemerkt, die von
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Luhmann eingeführten Analysekategorien - „Eigendetermination", „Abweichungsverstärkung", „Konditionierung" - ein wichtiges Begriffsinstrumentarium bereit. Und mit Gewinn lässt sich dieses Instrumentarium mit Einsichten verzahnen, die den Eisenstadt'schen Untersuchungen zur Vielfalt der Moderne zu entnehmen sind. Denn diese Untersuchungen leisten nichts Geringeres als eine Archäologie kultureller Konditionierungen in systematischer Absicht. Sie rekonstruieren in systematisierendem Zugriff die Ausfächerung der einen Zivilisation der Moderne in eine Vielzahl von kulturell-strukturellinstitutionell je anders konfigurierten InterrelationsGefügen und daran anschließenden „Dynamiken" (die man dann auch „Schicksale" nennen mag). Und stets heben sie den prominenten Stellenwert hervor, den Dimensionen wie religiös verankerte Deutungen von Mensch, Welt und Geschichte, Weitepräferenzen und kollektive Selbstthematisierungen, historische Erfahrungen und ihre Verarbeitung in Reflexion, oder den Kritik, Protest und utopische Gegenentwürfe bei der Genese konditionierungsstarker kultureller und politischer Programme und kollektiver Identitäten gespielt haben und spielen. Vergleichend-wissenssoziologische Untersuchungen, die, wie die oben referierten, die Konstruktion und Umkonstruktion von pädagogischem Reflexionswissen und seinen Externalisierungen zum Gegenstand haben, können bei der Ausfüllung eines solchen Forschungsprogramms ihren spezifischen Beitrag leisten. Und dies umso mehr, als sie kulturspezifische Sinnproduktionen und historisch gewachsene Formen des Sinnprozessierens, kontextspezifische Deutungen und ihre Akkumulierung in der Zeit sowie kollektive Erfahrungen und ihren Niederschlag in historisch nachwirkender Semantik ins Zentrum analytischer Aufmerksamkeit rücken. Entsprechende Untersuchungen bringen damit in den vielschichtigen Globalisierungsdiskursen der Gegenwart nicht nur eine zentrale Dimension sozial-kultureller Wirklichkeit gebührend zur Geltung. Mit dem Aufweis der Diversität kulturspezifischer Sinnproduktion sind sie zugleich auch in der Lage, ihren Beitrag zur weiteren Vertiefung des Konzepts multipler Modernisierungspfade und -typen zu leisten.
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Autorenvorstellung: Jürgen Schriewer, geb. 1942 in Reideburg/Halle an der Saale. Studium der Romanistik, Germanistik, Philosophie und Pädagogik in Bonn, Würzburg und Lille. Promotion 1972 in Würzburg. 1 9 7 2 - 1 9 7 5 Wissenschaftlicher Assistent dortselbst. Von 1975 bis 1991 Professor für Vergleichende Erziehungswissenschaft an der Universität Frankfurt am Main, seit 1991 an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1 9 9 2 - 1 9 9 6 Präsident der Comparative Education Society in Europe. Gastprofessuren an Universitäten in Paris, Tokyo, Mexiko und Stockholm. Deutsch-Japanischer Forscherpreis der Japan Society for the Promotion of Science (2000) und Forschungspreis der Bank of Sweden Tercentenary Foundation (2001). Arbeitsschwerpunkte: Vergleichend-historische Bildungsforschung; Globalisierungsprozesse in Bildungspolitik und Pädagogik; Geschichte und Systematik Vergleichender Erziehungswissenschaft im Kontext vergleichender Sozialwissenschaften. Wichtigste Publikationen: Sozialer Raum und Akademische Kulturen. Studien zur europäischen Hochschul- und Wissenschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert / A la recherche de l'espace universitaire européen. Etudes sur l'enseignement supérieur aux XIXe et X X e siècles (hrsg. zus. mit Ch. Charle und E. Keiner). Frankfurt a.M. 1993. Welt-System und Interrelations-Gefüge. Die Internationalisierung der Pädagogik als Problem Vergleichender Erziehungswissenschaft. Berlin 1994 (Ubersetzungen ins Französische, Spanische, Portugiesische und Englische). Gesellschaften im Vergleich. Forschungen aus Sozial- und Geschichtswissenschaften (hrsg. zus. mit H. Kaelble). Frankfurt a.M. 1998, 2 1999. Diskurse und Entwicklungspfade. Der Gesellschaftsvergleich in den Geschichts- und Sozialwissenschaften (hrsg. zus. mit H. Kaelble). Frankfurt a.M. & New York 1999. Discourse Formation in Comparative Education. Frankfurt a.M. 2 0 0 0 , 2 2003 (spanische Ausgabe Barcelona 2002; chinesische Ausgabe Taipei 2005). Problems and Prospects in European Education (hrsg. zus. mit E.S. Swing & F. Orivel). Westport, CT & London 2000. Formas de Externalizaçâo no Conhecimento Educacional. Lissabon 2001. Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften (hrsg. zus. mit H. Kaelble). Frankfurt a.M. & New York 2003. Transnational Intellectual Networks. Forms of Academic Knowledge and the Search for Cultural Identities (hrsg. zus. mit Ch. Charle und P. Wagner). Frankfurt a. M. & New York 2004.
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 442-478
Die Vergangenheit in der Gegenwart Traditionelle Landwirtschaft, soziopolitische Differenzierung und moderne Entwicklung in Afrika und Asien: Ein statistischer Ländervergleich
The Weight of the Past Traditional Agriculture, Sociopolitical Differentiation, and Modern Development in Africa and Asia: A Cross-National Analysis Patrick Ziltener* Soziologisches Institut der Universität Zürich, Andreasstr. 15, CH-8050 Zürich. E-mail: [email protected]
Hans-Peter Müller* Ethnologisches Seminar der Universität Zürich, Andreasstr. 15, CH-8050 Zürich. E-mail: [email protected] Zusammenfassung: Vor zwanzig Jahren publizierten Gerhard Lenski und Patrick Nolan einen seither breit rezipierten Artikel, in dem sie empirisch einen Zusammenhang zwischen dem traditionellen Landwirtschaftstyp und der modernen sozioökonomischen Entwicklung nachwiesen. Hier wird diese Analyse in zweifacher Hinsicht weiter entwickelt: (1) durch die Verbesserung und Erweiterung des Maßes für das historische Entwicklungsniveau der Landwirtschaft und (2) durch die Einführung einer zusätzlichen empirischen Dimension zur Analyse des traditionellen Niveaus soziopolitischer Differenzierung. Die beiden Indizes sind hoch korreliert. Der statistische Ländervergleich von 65 afrikanischen und asiatischen Gesellschaften zeigt allerdings, dass sie sich bezüglich bestimmter Aspekte der modernen sozio-ökonomischen Entwicklung unterschiedlich auswirken. Diese Resultate, die auf der Basis einer umfassenden ethnographischen Datenbank und einer erweiterten Analyseperiode (1965-95) erzielt wurden, zwingen zu einer Revision und Neuinterpretation der Ergebnisse von Lenski/Nolan. Summary: Twenty years ago, Gerhard Lenski and Patrick Nolan published a seminal article in which they established empirical links between the modern development of nations and traditional subsistence production. In this article their analysis is expanded in two ways: by improving the indicator of level of development of traditional agriculture and by introducing a second, complementary dimension for the socio-political differentiation of traditional societies. The two dimensions measure functionally related aspects of structural complexity and correlate highly. Furthermore, they reveal distinct differences in their impact on the socio-economic development of the 65 African and Asian countries analyzed in this research. The results, based on an extensive ethnographic data bank and an extended period of observation (1965-95), lead to a significant revision and new interpretation of the Lenski/Nolan results.
1. Einleitung In einem hypothetischen Modell diskutieren Meyer et al. ( 1 9 9 7 ) , wie eine neu entdeckte Insel und ihre Bevölkerung - die es selbstverständlich zu „entwickeln" gilt - sukzessive in die sich formierende Weltgesellschaft integriert wird. Im postkolonialen * Dem Artikel liegt ein vom Schweizerischen Nationalfonds unterstütztes Projekt zugrunde („Cultural and Political Foundations of Socio-Economic Development in Africa and Asia", SNF Beitrag Nr. 1214-059193). Die Autoren danken für wichtige Hinweise und Kommentare Wolf Linder, Mark Herkenrath, Michael Nollert, Hanno Scholz, den Teilnehmern der internationalen Konferenz Culture matters. Cultural and Political Foundations ofSocio-economic Development in Africa and Asia, 6 . - 1 1 . Oktober 2002 in Ascona, Schweiz, sowie vier anonymen Gutachtern der ZfS. Die Verantwortung für die Schlussfassung liegt allein bei den Verfassern.
Zeitalter würde die „Weltgemeinschaft" auf die rasche Konstituierung der Insel als Nation drängen. M i t politischer Souveränität und UN-Mitgliedschaft würde die Staatsbildung beschleunigt; entsprechend dem Vorbild anderer Länder würden Ministerien und Agenturen gebildet, Staatsbürgerschaft und Bildungssysteme eingerichtet, nationale Entwicklungspläne erstellt, Daten zuhanden der internationalen Institutionen erhoben etc. Das Land käme unter Beobachtung der „Weltöffentlichkeit": Ausländische Medien, internationale Institutionen und Nichtregierungsorganisationen würden auf die Errichtung politischer Demokratie und Einhaltung von Menschenrechten drängen, ebenso auf die Verbesserung der Lage der Frauen und den Schutz der Umwelt. Kurz: Meyer et al. postulieren, dass sich unabhängig von Geschichte, Kultur und Traditionen der Insel ein überwältigender Druck zur Anpassung an weltgesellschaftliche Modelle und
Patrick Ziltener und Hans-Peter Müller: Die Vergangenheit in der Gegenwart Normen aufbaut. Mit der Modernisierungstheorie teilen sie einen unerschütterlichen Entwicklungsoptimismus in Richtung einer rationalisierten Weltordnung. Dies gilt nicht für die Weltsystemtheorie, deren zentrale These die „Entwicklung von Unterentwicklung" ist, nämlich Aufstieg für wenige und Stagnation für viele Länder im Rahmen internationaler Arbeitsteilung. Doch auch sie stellt, ähnlich wie Meyer und andere Vertreter des „world polity"-Ansatzes, die exogenen Faktoren in den Vordergrund, wenn es gilt, Entwicklung zu erklären. In diesem Artikel steht die Frage im Zentrum, warum die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den Ländern Afrikas und Asiens so unterschiedlich verläuft, wenn doch die transformatorischen Kräfte der Weltgesellschaft überall in dieselbe Richtung drängen und eine institutionelle Homogenisierung zur Folge haben. Wir gehen davon aus, dass die Antwort bei den unterschiedlichen historischen und kulturellen Entwicklungsvoraussetzungen der außereuropäischen Gesellschaften zu suchen ist: Sie erklären zu einem wesentlichen Teil, weshalb die metropolitanen Einflüsse in den Peripherien so unterschiedliche Ergebnisse zeitigen. Im Folgenden werden zwei Forschungstraditionen zusammengeführt, die ethnologische cross culturalAnalyse und die quantitative empirische Entwicklungssoziologie. Die quantitative vergleichende Ethnologie hatte ihren Höhepunkt in den 70er Jahren, als immer mehr ethnographisches Material nach einheitlichen Kriterien kodiert und der statistischen Analyse zugänglich gemacht wurde. Entscheidend hat dazu der Ethnographie Atlas von G.P. Murdock ( 1 9 6 7 , Murdock et al. 1986) beigetragen, eine Datenbank, deren Variablen und Kategorien auch die Grundlage der vorliegenden Analyse bilden. Der Durchbruch für die Entwicklungsländerforschung erfolgte, als ein Teil dieser ethnographischen Daten auf Länderebene gehoben und damit der cross-national Forschung zugänglich gemacht wurde (Müller et al. 1 9 9 9 ; im Folgenden zitiert als ATLAS 1999). Im Vergleich dazu hat die soziologische Forschung wenig neue Indikatoren für endogene Faktoren von Entwicklung und Unterentwicklung hervorgebracht. Nach wie vor wird auf simple Variablen rekurriert wie „Tropendummies" oder religiöse Großkategorien (islamisch, buddhistisch etc.). Nur die Indikatoren für ethnische, sprachliche und religiöse Heterogenität sind in den letzten Jahren deutlich weiterentwickelt worden (vgl. Ziltener 2 0 0 4 b ) , allerdings mit geringem Erklärungswert in den analytischen Modellen. Mit dem ATLAS (1999) stehen nun für 95 Länder Afrikas und Asiens eine Gruppe
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von Indikatoren zur Verfügung, die Auskunft geben über die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen, die in den einzelnen Ländern vor und während der Kolonialzeit vorherrschten. Lange Zeit waren Lenski/Nolan (1984) die einzigen, die zur Erklärung unterschiedlicher Entwicklungsperformanz eine ethnologische Variable beizogen. Sie kategorisierten ihre Länder entweder als „industrializing agrarian" oder als „industrializing horticultural" und wiesen nach, dass Länder, in denen traditionell bereits Landwirtschaft betrieben wurde, signifikant höhere Entwicklungswerte aufweisen als Länder, in denen Hortikultur (Gartenbau) vorherrschte. Mit ihrer Unterscheidung vermochten sie eine Brücke zwischen den beiden Forschungstraditionen zu schlagen. In unserem Artikel wird diese Analyse weiter entwickelt und als zusätzliche, komplementäre Dimension das vorkoloniale Niveau soziopolitischer Differenzierung eingeführt. Wie sich zeigen wird, bildet diese neue Variable den entscheidenden Faktor zur Erklärung der postkolonialen sozioökonomischen Entwicklung, wobei der traditionelle Landwirtschaftstyp als Determinante erhalten bleibt. Im folgenden zweiten Teil kommen die forschungsleitenden Überlegungen unseres Ansatzes zur Sprache. Evolutionäre Entwicklung wird definiert als langfristige Steigerung gesellschaftlicher Komplexität in den beiden Hauptdimensionen Technologie und Sozialstruktur. Die Analyse der bisherigen Forschung mündet in vier Hypothesen zur Struktur traditionaler Gesellschaften und zu ihrer Wirkung auf Entwicklung. Im dritten Teil wird der Einfluss der beiden Komplexitätsdimensionen auf die sozioökonomische Entwicklung im Zeitraum von 1 9 6 5 - 9 5 mittels empirisch-quantitativer Methoden untersucht. Die Diskussion der empirischen Ergebnisse unter Bezug auf die bisherige Forschung erfolgt im vierten Teil.
2. Die Integration von ethnologischen und soziologischen Variablen in einem Evolutionsparadigma Dieser Aufsatz befasst sich mit dem Einfluss der Geschichte auf die nachholende Entwicklung in den nicht-westlichen Ländern. Der Begriff Entwicklung verweist auf zwei verschiedene Bedeutungsfelder, ein langfristig-deskriptives und ein neuzeitlich-normatives. Kulturgeschichtlich steht die Evolution menschlicher Gesellschaften in Richtung größerer Strukturkomplexität im Zentrum. Sie handelt von der über Jahrtausende anhaltenden, anfänglich sehr
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langsamen, dann zunehmend beschleunigten Zunahme der gesellschaftlichen Kontrolle über natürliche und soziale Ressourcen. Beim neuzeitlich-intentionalen Entwicklungsbegriff geht es hingegen um das Projekt einer qualitativen Verbesserung der menschlichen Existenzbedingungen auf der Grundlage industrieller Produktion und urbanisierter Lebensweise. Bei einer Analyse, die über die Grenzen technologisch vergleichbarer Gesellschaftsformationen hinausgreift, sind Konzepte erforderlich, die traditionelle und moderne Gesellschaften unter einer einheitlichen Perspektive zu analysieren erlauben (Heise et al. 1976). Ein solches Konzept ist die Strukturkomplexität. Sie erfasst die organisatorischen Bedingungen, unter denen die anthropologisch immer gleichen Aufgaben - wie Produktion, Verteilung, Sicherheit, Sozialisation, Sinnkonstruktion etc. - in Gesellschaften mit unterschiedlicher technischer Ausstattung, Arbeitsproduktivität und politischer Kontrollkapazität konkret gelöst werden. Der Begriff Strukturkomplexität meint hier die institutionelle Differenzierung von Technik, Wirtschaft, Sozialorganisation, Politik und Militär. Diese Präzisierung ist angebracht, weil Gesellschaften mit wenig differenzierten Technologien und Sozialstrukturen keineswegs ,einfach' zu sein brauchen. Unter Ethnologen ist es eine bekannte Tatsache, dass gerade unter strukturell wenig differenzierten Gesellschaften oft extrem komplexe und auch für Ethnologen kaum nachvollziehbare symbolische Konstruktionen zu finden sind, beispielsweise im Bereich der Verwandtschaftsorganisation, der Mythologie oder der Sprache. Mit Blick auf unser entwicklungstheoretisches Interesse erachten wir aber ausschließlich die strukturelle Differenzierung als relevant. Sie bildet die Voraussetzung für wachsende Produktivität, Kontrollkapazität und intersozietale Kompetitivität (Harner 1970, Otterbein 1970). In diesem wertfreien, analytischen Sinn ermöglicht das Konzept den objektiven und quantitativen Vergleich von verschiedensten, auch historischen Gesellschaftsformationen wie beispielsweise ethnischen, tributärstaatlichen und nationalen Gesellschaften. 1
1 Vgl. Murdock/Provost ( 1 9 7 3 : 3 7 9 ) : „When anthropologists differentiate cultures in terms of their relative complexity, they do not use the term ,complex' in its ordinary, literal, or dictionary sense. W h a t they imply, rather, is their status vis-a-vis one another with reference to one or more classificatory criteria which have been postulated to correlate with different levels or stages in cultural development. Examples are legion, e.g., literate as opposed to preliterate societies, food producers vs. food gatherers, se-
Im Folgenden führen wir erstens den Nachweis, dass die verschiedenen Gesellschaften zur Zeit der europäischen Kolonisierung strukturell sehr unterschiedlich komplex waren, und untersuchen zweitens, wie stark unterschiedliche Komplexitätsniveaus die moderne Entwicklung in Afrika und Asien beeinflusst haben und weiterhin beeinflussen. Die folgenden drei Abschnitte befassen sich (i) mit der Pionierstudie von Lenski/Nolan, (ii) der Konstruktion der Komplexitätsindizes auf ethnologischer Grundlage und (iii) den Wirkungspfaden, die die traditionelle Strukturkomplexität mit der modernen Entwicklung verbinden.
2.1 Die cross national-Studie von Lenski/Nolan 1 9 8 4 wiesen Lenski/Nolan in einem einflussreichen Artikel nach, dass zwischen dem traditionellen Landwirtschaftstyp und der sozioökonomischen Entwicklung außereuropäischer Länder ein enger Zusammenhang besteht. 2 Damit waren sie die ersten, die eine ethnologische Kategorie als erklärende Variable in einem empirisch-quantitativen Ländervergleich verwendeten. Gemäß ihrer ökologisch-evolutionären Theorie determinieren die Umweltbedingungen die Art der traditionellen Landwirtschaft (Pflugbau versus Hortikultur) und diese wiederum bestimmt die sozialen Strukturen und Entwicklungschancen in der nachkolonialen Periode. Anhand einer Reihe von sozioökonomischen Variablen konnten sie belegen, dass sich Hortikultur negativ, Agrikultur positiv auf die sozioökonomische Entwicklung auswirken. Die zentrale Bedeutung der Formen traditioneller Landwirtschaft in der ökologisch-evolutionären Theorie geht auf Lenskis Theorie sozialer Schichtung zurück (Lenski 1966). Diese basiert auf der Prämisse, dass das Technologieniveau das Ausmaß sozialer Schichtung entscheidend prägt: Veränderungen in der Technologie sind die wichtigste Einzeldeterminante für Veränderungen im Verteilungssystem; der Charakter der Verteilungssysteme variiert mit dem Grad des technischen Fortschritts in den einzelnen Gesellschaften. Lenskis Gesellschaftstypologie geht von der Annahme eines zugrunde liegenden Kontinuums aus, auf dem sich alle Gesellschaften anordnen lassen (Lomax/Berkowitz 1 9 7 2 , Lenski 1994). Dieses Kontinuum bildet dentary vs. nomadic populations, state builders vs. stateless societies..." Z u m Hintergrund der ökologisch-evolutionären Theorie und für einen Überblick über die Rezeption siehe Nolan
2
2002.
Patrick Ziltener und Hans-Peter Müller: Die Vergangenheit in der Gegenwart für ihn den M a ß s t a b für die „allgemeine technische Effizienz einer Gesellschaft" und diese wiederum einen Indikator für die soziale Hierarchisierung, da letztere schwer zu operationalisieren sei. Aufgrund der zentralen R o l l e der Subsistenztechnologie würden, g e m ä ß Lenskis theoretischem Ansatz, mit der Klassifizierung von Gesellschaften nach technologischen Kriterien gleichzeitig auch viele andere wichtige Variablen vollständig oder teilweise kontrolliert. 3 Konfrontiert mit Kritik an seinem technologischen Determinismus, präzisierte Lenski später seine Position, allerdings o h n e die Grundidee aufzugeben: „Technological advance has been the chief determinant o f that set o f global trends - in population, culture, the material products o f culture, and social structure - which defines the basic outlines o f hum a n history. Subsistence technology is the most powerful single variable influencing the social and cultural characteristics o f societies, individually and collectively - not with respect to the determination o f each and every characteristic, but rather with respect to the total set o f characteristics" (Lenski/Lenski 1 9 8 2 : 9 8 ) . In der neueren empirischen Entwicklungsforschung ist der eindimensionale Ansatz von Lenski und N o lan ( 1 9 8 4 ) weiter unter Kritik geraten. So schreibt etwa Putterman: „Unfortunately, Lenski and N o lan's approach makes n o allowance for further differences in the pre-modern situations o f today's developing societies. By placing, for instance, K o r e a , Afghanistan, and G u a t e m a l a in the same c a m p , it may well overlook substantial differences in the preconditions for modern g r o w t h " (Putterman 2000: ll).4 Vgl. Lenski (1966: 90ff.): „Since it is predicted that technological variation is the primary determinant of variations among distributive systems, societies should be classified in technological terms, and this scheme of classification should be used to order the presentation of data. (...) The present typology is predicated on the assumption that there is an underlying continuum, in terms of which all societies can be ranked. This continuum is a measure of a society's overall technological efficiency, i.e., the value of a society's gross product in international markets divided by the human energy expended in its production. Unfortunately, this concept is not easily operationalized, and we are forced to rely on simpler and more obvious criteria for classificatory purposes. This is the reason for classifying societies in terms of their basic techniques of subsistence. Such data are readily available and seem highly correlated with overall technological efficiency." 4 Putterman selber untersuchte den Einfluss des ,vormodernen Entwicklungsstandes' auf das Wirtschaftswachstum in 48 Entwicklungsländern, 1 9 6 0 - 9 0 , mittels 3
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Auch wer der evolutionistischen Argumentation von Lenski/Nolan ( 1 9 8 4 ) kritisch gegenübersteht, wird die statistisch nachgewiesenen Beziehungen zwischen den traditionell vorherrschenden Landwirtschaftstypen und den modernen Entwicklungsprozessen nicht ignorieren können. Ungelöst bleibt allerdings das Problem der Validität der verwendeten Indikatoren für die evolutionäre Position der untersuchten Länder. D e n weit reichenden T h e s e n liegt nämlich eine ziemlich rudimentäre Operationalisierung der unabhängigen Variablen zu Grunde: Die traditionelle Strukturkomplexität ganzer Länder wird mit einer einzigen, pauschal festgelegten und dichotomen Variablen erfasst, nämlich der impressionistischen Charakterisierung ganzer Länder als horti- oder agrikulturell. Impressionistisch aus zwei Gründen: Erstens k o m m e n beide Formen in vielen Ländern in unterschiedlicher Häufigkeit vor; zweitens lassen sich viele agrarische Produktionssysteme nicht eindeutig dem einen oder andern Typ zuordnen, nicht zu sprechen von der wichtigen R o l le der Tierzucht und Fischerei in vielen Ländern. D a n k den in der vorliegenden Untersuchung entwickelten Indizes lassen sich diese Schwachpunkte beheben und die Validität der dichotomen Länderkategorien überprüfen. W i r entwickeln die Analyse der beiden Autoren in zweierlei Hinsicht weiter. Z u m Ersten wird die kategoriale Dummy-Variable ,Agri-/Hortikultur' zu einem Index für die technologische Ausstattung einer Gesellschaft erweitert (Kurzform: /Technologie'). Sie erfasst hauptsächlich, aber nicht nur die Intensität der traditionellen landwirtschaftlichen Produktion. Z u m Zweiten führen wir ein M a ß für die (vertikale) soziopolitische Differenzierung vorkolonialer Gesellschaften ein. Dieser Index erfasst die vorkoloniale gesellschaftliche Hierarchisierung direkt statt über technologische Proxivariablen (Kurzform ,Hierarchie'). Neu ist a u c h , dass die beiden Indizes nicht pauschal als L ä n d e r m e r k m a l e kodiert sind. Vielmehr wurde jeder der vier Indikatoren für ,Hierarchie' sowie jeder der sechs Indikatoren für ,Technologie' für möglichst alle Bevölkerungsgruppen aus ethnologischen Untersuchungen gesondert kodiert und popu-
dreier Indikatoren, die er als Proxy-Variablen dafür versteht: Bevölkerungsdichte, Zahl der Bauern pro Hektare kultivierten Landes und Anteil des künstlich bewässerten Landes am bewirtschafteten Land (alle 1960). Alle drei Indikatoren sind hochsignifikant positiv. Zweifellos stehen seine Variablen für die traditionelle Strukturkomplexität dieser Gesellschaften; die gemessenen Größen sind „Bindeglieder" zwischen den vorkolonialen Gesellschaftsstrukturen und der modernen Entwicklung; vgl. Burkett et al. 1999.
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lationsgewichtet auf nationales Niveau aggregiert (vgl. Anhang 2). Das Verfahren garantiert eine höhere Qualität der Daten sowohl inhaltlich auch bezüglich der Skalenmerkmale. Vorweggenommen sei, dass der Vergleich unserer Ergebnisse mit denjenigen von Lenski und Nolan (1984) dadurch erschwert wird, dass die Ländersamples nicht übereinstimmen: Die vorliegende Studie 5 umfasst die Länder der nicht-westlichen Welt, d.h. Asiens und Afrikas; Lenski und Nolan schließen auch Lateinamerika mit ein. Sie verwenden Entwicklungsdaten für die 60er/70er Jahre; wir untersuchen in dieser Studie die ökonomische und soziale Entwicklung von 1 9 6 5 - 9 5 . Trotz dieser Unterschiede bildet unser Beitrag den bisher umfassendsten Test der Thesen von Lenski und Nolan. Es würde der ökologisch-evolutionären Theorie widersprechen, wenn die Ergebnisse vom Ein- respektive Ausschluss einzelner Länder oder Regionen abhinge. Zudem erlaubt die längere Zeitperiode unserer Untersuchung Aussagen über Zu- oder Abnahme der Bedeutung traditioneller Faktoren - Aussagen, die Lenski/Nolan verwehrt waren.
2.2 Die ethnologischen Grundlagen der neuen Strukturindikatoren (a) Das Konzept der Strukturkomplexität in der Ethnologie Strukturkomplexität erfasst eine in mehrerer Hinsicht ambivalente und vieldeutige Qualität gesellschaftlicher Organisation. Einerseits beschreibt der Begriff relativ einfach zu erfassende Sachverhalte wie zum Beispiel die Technikausstattung, die gesellschaftlichen Produktionsverfahren und die Arbeitsteilung, die Macht- und Statusunterschiede innerhalb und zwischen Gesellschaften, das Ausmaß politischer Zentralisierung und militärischer Macht etc. Diese Eigenschaften gesellschaftlicher Organisation lassen sich archäologisch und ethnologisch leichter vergleichen als rein symbolisch-normative Kulturmerkmale, weil sie sich in Artefakten und damit leichter fassbar niederschlagen. Zudem prägen sie die intersozietalen Beziehungen und bilden darum bevorzugt Gegenstand des kollektiven Ge-
Dazu weiter unten. In einer älteren Studie (Müller et al. 1 9 9 1 ) wurde noch versucht, die lateinamerikanischen Länder in derselben Weise zu kodieren wie die nicht-westlichen Länder. Aus methodischen Gründen beschränkt sich der ATLAS ( 1 9 9 9 ) - und damit auch die vorliegende Studie - auf die afrikanischen und asiatischen Länder (inkl. Melanesien). 5
dächtnisses, der Identitätsstruktion (Tasa 1988).
und
Geschichtskon-
Diese Zusammenhänge sind bekannt. Allerdings verbergen sich hinter den bekannten Fakten auch Fragestellungen, die sowohl wissenschaftliche als auch normative Probleme aufgeben. So ist keineswegs klar, ob der zivilisatorische Fortschritt der letzten 10 0 0 0 Jahre dem Gros der Menschheit das Leben angenehmer gemacht hat oder nicht. Vieles spricht dafür, dass sich die Arbeitszeit im Zuge der agrarischen Entwicklung und Herausbildung von tributären Staatsgesellschaften für die bäuerlichen und handwerklichen Produzenten massiv verlängert hat (Minge-Klevana 1980, Ember 1983) und dass rigide Machtverhältnisse den Alltag zunehmend durchdrungen haben (Ross 1981), die Lebenserwartung in diesem Prozess aber kaum zunahm. 6 Damit stehen beim Komplexitätsbegriff zwei Dimensionen im Zentrum: erstens die Entwicklung von Produktion und Produktivität, zweitens die Entwicklung der institutionellen Steuerungskapazität. In der modernen Entwicklung kommt drittens hinzu, dass der industrielle Einsatz von nicht-biotischer Energie erstmals, parallel zur steigenden Arbeits- und Flächenproduktivität, auch die menschliche Arbeitszeit in größerem Umfang senkt. Dieser Sachverhalt muss im Auge behalten werden, wenn man die Anziehungskraft der Industriezivilisation speziell in jenen Gesellschaften verstehen will, in denen eine über Jahrtausende angestiegene Bevölkerungsdichte ein überdurchschnittliches M a ß an Arbeit, Unterordnung und kollektiver Disziplin erfordert hat. Der Blick in die Geschichte macht verständlich, weshalb steigende Bevölkerungsdichte, agrarische Intensivierung und der Aufbau von hierarchischen Herrschaftssystemen Hand in Hand gingen (Harner 1 9 7 0 , Seipes 1980). Die Reproduktion von unproduktiven ^aristokratischen') Klassen oder Kasten erfordert immer, wo sie auftreten, eine auf Dauer gestellte Mehrwertaneignung mit dafür geeigneten Institutionen. Diese umfassen in der Regel ein Gewaltmonopol, eine verlässliche 6 Vgl. Cohen ( 1 9 8 9 : 133ff.): „Neither the record of ethnography and history nor of archaeology provide any clear indication of progressive increase in the reliability (as opposed to the total size) of human food supplies with the evolution of civilization. Similar points can be made with reference to the natural history of infectious disease. ( . . . ) . Dietary quality and variety were sacrificed for quantity. In addition, the shift from big game hunting to small game foraging, small seed harvesting, and finally subsistence agriculture seems to have represented a sequence of diminishing caloric r e t u r n s . . . " In ähnliche Richtung zielt Diamond 1 9 9 7 .
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Rechtsordnung, religiöse Legitimationsinstanzen, die Kontrolle von M o b i l i t ä t und Handel sowie institutionelle und technische Kapazitäten zur K o n struktion und zum Unterhalt systemrelevanter Infrastruktur (Bewässerungsanlagen, Verkehrswege, Lagerhäuser, militärische Anlagen etc.; grundlegend dazu: Carneiro 1 9 7 0 ) .
Siedlungsgröße, (2) die Anzahl beruflicher Spezialisten, (3) die organisatorische Differenzierung ( z . B . das Vorhandensein einer Polizei). Aus diesen drei Indikatoren resultiert eine Skala, die ausschließlich die soziopolitische Differenzierung einer Gesellschaft - gleichgültig, o b traditionell oder modern - erfasst.
Ein theoretischer Ansatz, der zur Erklärung der m o dernen Wirtschafts- und H u m a n e n t w i c k l u n g auch historische Voraussetzungen einbeziehen will, bedarf analytischer Gesichtspunkte, die den Allerweltsbegriff der „traditionalen Gesellschaften" zu differenzieren vermögen. Die vergleichende ethnologische Forschung hat eine Vielzahl von Indikatoren zur gesellschaftlichen K o m p l e x i t ä t e n t w i c k e l t . 7 D a n k der Kodierung von c a . 2 0 0 0 ethnischen Gruppen im Ethnographie Atlas und der E n t w i c k lung computergestützter Statistik gelang es a b M i t te des 2 0 . Jahrhunderts, abstrakte Dimensionen der gesellschaftlichen Organisation vergleichend zu untersuchen (Clements 1 9 5 4 , Gouldner/Peterson 1 9 6 2 , Driver/Schuessler 1 9 6 3 , Sawyer/Levine 1 9 6 6 , Stewart/Jones 1 9 7 2 ) . Selbstverständlich kann in cross-cultural-Analysen nur gefunden werden, was in ethnologischen Feldstudien untersucht und von komparativ arbeitenden Ethnologen kodiert worden ist. In jener Z e i t standen in der angelsächsischen Ethnologie strukturbezogene Interessen im Vordergrund. Dieses Interesse hat den N a c h w e i s ermöglicht, dass die Strukturen traditionaler Gesellschaften in h o h e m M a ß e systemische Eigenschaften aufweisen und in unterschiedlichem M a ß e mit andern - religiösen, normativen, ästhetischen, erzieherischen - Variablen korrelieren ( L e v i n s o n / M a l o n e 1980).8
• F r e e m a n / W i n c h ( 1 9 5 7 ) entwarfen eine Skala der strukturellen K o m p l e x i t ä t , die sich auf Redfields Gemeinschaft-Gesellschaft-Kontinuum abstützte. Sie enthielt die Variablen (1) Siedlungsmuster, (2) Niveau der politischen Integration, (3) K o m p l e x i tät der Werkzeuge, (4) Bedeutung des Handels, (5) Existenz von Schrift, (6) gewerbliche Spezialisierungen, (7) religiöse Spezialisten, (8) medizinische Spezialisten, (9) spezielle Regierungsinstanzen, ( 1 0 ) G e b r a u c h von Geld und ( 1 1 ) das Niveau der Agrartechnologie. In diesem Fall legten die Autoren das G e w i c h t in erster Linie auf das Technikniveau und den G r a d funktionaler Arbeitsteilung, sekundär auch auf die politische Integration.
• Eine der frühesten Skalen für Strukturkomplexität e n t w a r f Naroll ( 1 9 5 6 ) . Sie umfasste (1) die
Siehe Naroll (1956), Bowden (1969), Tatje/Naroll (1970), Naroll/Cohen (1970), Lomax/Arensberg (1977), Chick (1997), Denton (2004) und die Arbeiten von G.P. Murdock, der die wichtigsten dieser Einzelindikatoren im Ethnographie Atlas (1967,1986) weltweit kodiert hat. 8 Die strukturelle Determination und der systemische Charakter gesellschaftlicher Organisation darf allerdings nicht überbewertet werden. Wie Heise et al. (1976: 334) richtig bemerken, treten strukturelle Faktoren bei multivariaten Untersuchungen zwar immer als stärkste Determinante in Erscheinung. Sie erklären aber immer nur einen relativ geringen Teil der Gesamtvarianz: „[Tjhere is a tremendous amount of variance in these societal systems that is not predictable on the basis of technoenvironmental variables (...) [Ejven if we had available reliable data on all technoenvironmental variables, at least half the variance in societal systems would still be unpredictable". 7
• 1 9 7 3 präsentierten auch M u r d o c k und Provost eine Skala ,kultureller K o m p l e x i t ä t ' . D e r Index misst die S u m m e aus zehn Indikatoren: (1) Schrift und Aufzeichnungen, (2) Sesshaftigkeit, (3) Landwirtschaft, (4) Urbanisierung, (5) technische Spezialisierung, (6) Landtransportmittel, (7) Geld, (8) Bevölkerungsdichte, (9) Niveau der politischen Integration und (10) soziale Schichtung. D e r Index ist a m breitesten gestreut, indem er Variablen zu D e m o g r a p h i e , Wirtschaftsform, Sozialstruktur und politischer Integration in sich vereint. Dieser Index wurde in der Folge a m häufigsten verwendet, unterscheidet sich aber nicht grundlegend von anderen Indexkonstruktionen. • G o o d y ( 1 9 8 6 ; 2 0 0 0 ) hebt die weitreichende Bedeutung der Schriftlichkeit als sozialer T e c h n o l o gie hervor. Er argumentiert, dass sich Fragen zur zivilisatorischen Entwicklung nicht auf klassische Strukturelemente wie Staatsorganisation oder Geldwirtschaft reduzieren lassen, sondern auch gewisse Aspekte der Religion (Schriftlichkeit, Theologisierung etc.) berücksichtigen müssten. Dies wirft die Frage auf, o b Religion als Indikator von Strukturkomplexität zu gelten h a t . 9 • Kulturvergleichende Studien zur traditionellen KinVgl. dazu Peregrine (1996: 101f.): „it is clear that a belief in a high god is more likely in a society with large communities, multiple levels of political hierarchy, and social differentiation. Other religious beliefs cannot be so clerarly associated with specific societal characteris9
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dererziehung zeigen, dass die disziplinarischen Anforderungen an die Kinder wie überhaupt die Konzeption intergenerationeller Beziehungen vom Strukturkomplexitätsniveau beeinflusst sind (Eckhardt 1971, Barry/Schlegel 1984,1986). Je intensiver die landwirtschaftliche Produktion und je hierarchischer die soziopolitischen Beziehungen, desto strenger die Erziehung (Caputo 1973, Broude 1976,1981). Dies wirft die Frage auf, ob ,Strenge der Erziehung' ein Indikator von Strukturkomplexität ist, oder ob sie für etwas anderes steht, beispielsweise für ,Autoritarismus' oder für ,Humankapital'. • In einer Untersuchung zur Beziehung zwischen struktureller Komplexität einerseits, politischer Partizipation und Responsivität politischer Systeme andererseits fand Ross (1981), dass seine Ergebnisse aus dem Vergleich traditionaler Gesellschaften den empirischen Regularitäten von westlichen Industriegesellschaften widersprechen. In den Letzteren gilt, dass wirtschaftliche Entwicklung mit zunehmend partizipatorischer und responsiver Politik einhergeht (was immer ,in letzter Instanz' als determinierend betrachtet wird; vgl. Putnam 1993). In traditionalen Gesellschaften zeigt sich hingegen das Umgekehrte. Dort gilt, dass politische Regime mit höherer Strukturkomplexität autoritärer sind und die Kluft zwischen Führungsschicht und Bevölkerung zunimmt. Dies lässt eine kurvilineare Beziehung zwischen Strukturkomplexität und politischem Autoritarismus im Evolutionsprozess vermuten. Bedeutet das nun, dass Autoritarismus in traditionalen Gesellschaften als Indikator von (präindustriell) hoher Strukturkomplexität verwendet werden kann? Offensichtlich sind viele Variablen, die irgendwie mit Strukturkomplexität in Zusammenhang stehen, untereinander signifikant assoziiert. Eine größere Standardisierung der Komplexitätsindikatoren wäre wünschbar. Ein induktives Vorgehen, nämlich alle signifikant korrelierenden Variablen zu einem Komplex ,Strukturkomplexität' zusammenzufassen, scheint uns nicht angebracht. Die Definition dessen, was Strukturkomplexität ausmacht, muss vielmehr auf der Grundlage theoretischer Modellvorstellungen getroffen werden. Wir schlagen eine zweidimensionale Definition vor, nämlich (i) Komplexität im Technologie- und Produktionsbereich und (ii) Komplexität der Sozialorganisation (hier als hierarchische Differenzierung der Gesellschaft verstanden). Diese tics (...) [T]he diversity of religious beliefs is not randomly distributed across societies."
Konzeption wird in den folgenden Abschnitten entwickelt und statistischen Tests unterzogen. Ihr heuristischer Nutzen bemisst sich an der Erklärungskapazität, verglichen mit konkurrierenden Definitionen im wissenschaftlichen ,Wettbewerb'. (b) Indexkonstruktion für .Technologie' und .Hierarchie' auf der Ebene ethnischer Gruppen Die Indexkonstruktionen, die dieser Studie zugrunde liegen, erfolgten nach verschiedenen Gesichtspunkten: (a) Verfügbarkeit von ethnologischen Daten. Variablen, die nicht für einen großen Teil der ethnischen Gruppen Afrikas, Asiens und Melanesiens zur Verfügung standen, wurden nicht berücksichtigt. So wäre beispielsweise die Aufnahme von Variablen zur beruflichen Spezialisierung oder der Verbreitung von Geldwirtschaft wünschbar gewesen, was aus Datengründen jedoch nicht möglich war. Für die aufgenommenen Variablen gilt, dass durchschnittlich weit über 90 % der nationalen Bevölkerung kodiert werden konnten. Quelle aller Variablen ist der ATLAS (1999). (b) Plausibilität der Indikatoren im Rahmen eines evolutionstheoretischen Entwicklungsmodells. So konnte es beispielsweise nicht darum gehen, die Art der traditionellen Dachkonstruktion bei Häusern zu berücksichtigen, obwohl dafür flächendeckend Informationen vorliegen. (c) Die so ausgewählten Index-variablen müssen untereinander im erwarteten Sinne korrelieren. Im ATLAS (1999) sind 22 Variablen kodiert, die verschiedenen Indexkonstruktionen nicht mitgerechnet. Zehn dieser 22 Variablen betrachten wir als Indikatoren der Strukturkomplexität. 10 Die Kategorien dieser ethnologischen Indikatoren basieren auf den Definitionen von Murdock (1967); die theoretischen und methodologischen Grundlagen für die Indexkonstruktionen sind ausführlich dargestellt im ATLAS (1999, Teil II und III). Es folgt eine kurze Charakterisierung der zehn ethnologischen Variablen und ihrer Kategorien, gruppiert nach den beiden Aspekten der strukturellen Komplexität, .Technologie' und ,Hierarchie'. Zur
,Technologie':
.Technologie' ist ein Summenindex aus sechs rangierten Variablen: vier Indikatoren zur Effizienz der Agrartechnologie (Pfluglandwirtscbaft, Tierzucht, Nutzpflanzen und Intensität der Landnutzung) so10 Die anderen erfassen hauptsächlich verwandtschaftliche Regelungen. Systemische Verknüpfungen solcher Variablen mit Komplexitätsindikatoren sind nicht auszuschließen (Blumberg/Winch 1 9 7 1 , Müller et al. 2 0 0 1 : 4 6 ) .
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wie zwei nicht-agrarische, für vorindustrielle Gesellschaften aber sehr aussagekräftige Technologievariablen (Metallbearbeitung und Weberei).
Zur,Hierarchie':
• Die Variable Pfluglandwirtschaft (V39) hat eine 3-Punkte-Skala. Tiefster Wert: keine Pflugtiere (und folglich keine Pfluglandwirtschaft); mittlerer Wert: Pflugtiere zur Zeit der Untersuchung gut etabliert, aber traditionell nicht vorhanden; höchster Wert: Pflugtiere als traditioneller Bestandteil des Agrarsystems.
• Politische Hierarchisierung (V33) hat eine 5-Punkte-Rangskala. Sie misst die Anzahl vorkolonial institutionalisierter Niveaus politischer Organisation über die Lokalgruppe hinaus. Tiefster Wert: keine politische-juridische Autorität über der Lokalgruppe; höchster Wert: komplexe Staaten.
• Form der Tierzucht (V40) ist eine dichotomisierte Variable, die die wichtigsten Haustiere zwei Gruppen zuordnet: potenzielle Arbeitstiere (Maultiere, Esel, Pferde, Kamele, Rinder, Wasserbüffel) und kleinere Tiere, die als Fleischlieferanten, nicht als Arbeitstiere gehalten werden (Schweine, Ziegen, Schafe, Hühner etc.). Die Korrelation der beiden Variablen ist allerdings relativ schwach: Etwa zwei Drittel der Gesellschaften mit Tieren, die als Zug-, Last- oder Transporttiere verwendet werden können, kennen keinen Pflug. • Die rangierten Kategorien der Nutzpflanzen (V29) lassen sich als 3-Punkte-Skala konstruieren. Tiefster Wert: kein Anbau essbarer Nutzpflanzen; mittlerer Wert: Fruchtbäume, Knollenfrüchte und Gemüse als wichtigste Nutzpflanzen; höchster Wert: verschiedene Getreidesorten und Reis. • Die Intensität der Landnutzung (V28) bildet ebenfalls eine 3-Punkte-Skala. Tiefster Wert: keine Landwirtschaft; höchster Wert: intensive Landwirtschaft mit Düngereinsatz und/oder Bewässerung. Mittlerer Wert: halbnomadische, extensive oder kleine Gartenproduktion (Hortikultur). Die zuletzt genannte Variable lässt zwar hohe Flächenerträge zu, doch nur für kleine Flächen pro Kopf wegen der fehlenden Arbeitstiere. Die Variable entspricht praktisch der von Lenski und Nolan (1984) konstruierten Dichotomie von Horti- und Agrikultur. Die Metallverarbeitung (V44) kodiert die Fähigkeit zum Schmelzen, Gießen und Schmieden von Metallen; die Weberei (V46) erfasst die Praxis von Webtechniken. Beide Variablen sind dichotom, werden aber als Rangvariablen, d. h. als ,höheres' oder tieferes' Technologieniveau, interpretiert. Besonders bei der Weberei zeigt sich eine außerordentlich starke und durchgehende Beziehung zu den Indikatoren landwirtschaftlicher Intensität (zur Begründung vgl. O'Brian 1 9 9 9 ) . u
11 Die Indexbildung durch Summieren der nicht-standardisierten Indikatoren (vgl. Variablendefinition im Anhang
,Hierarchie' ist ein Summenindex aus vier rangierten Variablen:
• Klassenstruktur (V6S) hat eine 4-Punkte-Rangskala. Sie misst die vertikale soziale Differenzierung. Tiefster Wert: keine institutionalisierte Hierarchie zwischen Freien, wobei Statusunterschiede zwischen Alters- und Geschlechtergruppen nicht als Klassendifferenzierung gelten und Sklaverei in einer anderen Variablen erfasst wird; höchster Wert: komplexe Stratifizierung nach sozialen Klassen. Kastenstrukturen sind in einer gesonderten Variablen erfasst. Diese geht nicht in die Indexkonstruktion ein, weil sie mit andern Komplexitätsindikatoren kein einheitliches Beziehungsmuster aufweist. • Siedlungsgröße (V31) hat eine 8-Punkte-Rangskala. Sie misst die durchschnittliche Größe von Lokalgruppen. In Gesellschaften mit Siedlungen über 5000 Einwohnern dient die Größe der größten Siedlung als Grundlage für den rangierten Wert. Tiefster Wert: durchschnittliche Siedlungsgröße kleiner als 50 Personen; höchster Wert: mindestens eine Stadt mit mehr als 50 000 Einwohnern. Nach Chick (1997) bildet die Variablen den validesten Einzelindikator für das Konzept der strukturellen Komplexität. Mit Sicherheit ist sie am besten geeignet, die höheren Bereiche der Komplexitätsskala zu differenzieren (McNett 1973). • Die Schrift-Variable (V77) erfasst die Literalität einer Gesellschaft. Hinter der 3-Punkte-Rangskala steht eine nahezu dichotome Kodierung: 71 % aller untersuchten ethnische Gruppen sind ohne . Schrift, 23 % mit Schrift, dazwischen liegen 5 % mit sog. Ideen-/Knotenschriften; 1 % sind unbekannt. 1 2 Goody (1986) hat den engen Zusam2) hat zur Folge, dass die Variablen mit einer Dreipunkteskala ein etwas größeres Gewicht erhalten als die dichotomen Variablen. Diese ungleiche Gewichtung wurde beibehalten, weil wir über keine Anhaltspunkte zum .richtigen' Stellenwert der einzelnen Indikatoren verfügen. 1 2 Um der Schriftvariable bei der Indexbildung ein den andern Komponenten vergleichbares Gewicht zu geben, wurde die 3-Punkte-Skala mit zwei multipliziert (vgl. Anhang 2). Auf eine Standardisierung (z-Transformation) der
450 Tabelle 1
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 4 4 2 - 4 7 8 Korrelationen der .Technologie'- und .Hierarchie'-Indikatoren auf ethnischem (kursiv) und nationalem (fett) Niveau .Technologie' V28
V29
.Hierarchie' V39
V40
V29
0.39 0.49
V39
0.57 0.70
0.29 n.s.
V40
0.34 0.24*
0.39 n.s.
0.28 n.s.
V44
0.23 n.s.
0.34 n.s.
0.11 n.s.
0.29 n.s.
V46
0.33 0.56
0.37 0.30*
0.34 0.52
0.23 n.s.
V44
-
-
-
V31
V33
V33
0.33 0.59
V65
0.34 0.73
0.59 0.83
V77
0.26 0.58
0.42 0.68
V65
V77
-
-
0.40 0.63
-
-
0.33 n.s.
Ethnische Ebene: Spearman grade correlation coefficient; N = 880; p immer < 1 %. Quelle: Müller et al. 1999. Nationale Ebene: Pearsons R; N = 65,1 % Niveau (*5 %-Niveau) (2-tailed) Erklärung: V28 = Intensität der Landnutzung V31 = Siedlungsgröße V33 = Politische Hierarchisierung V29 = Getreideanbau V65 = Klassenstruktur V39 = Pfluglandwirtschaft V77 = Schrift V40 = Form der Tierzucht V44 = Metallbearbeitung V46 = Webtechniken
m e n h a n g zwischen Schriftlichkeit einerseits, der Penetration von sogenannten Weltreligionen in Gebiete mit (schriftlosen) Lokalreligionen, der Entwicklung des Geldes sowie der staatlichen Administration und Rechtssprechung anderseits herausgearbeitet. D a s s wir die Literalität als Indik a t o r für ,Hierarchie' und nicht von .Technologie' betrachten, hängt ebenfalls mit dem Argument von G o o d y zusammen, dass Schrift als Kulturtechnik primär ein Instrument in der H a n d von Surplus-Konsumenten (Priester, Händler, Bürokraten) und nicht von bäuerlichen Produzenten war. Tabelle 1 zeigt die statistischen Z u s a m m e n h ä n g e n der ,Technologie'- und der ,Hierarchie'-Indikatoren, je gesondert auf der Ebene ethnischer Gruppen und nationaler Gesellschaften. Die Korrelationen auf ethnischer E b e n e (kursiv) beruhen auf den 9 0 7 Grundeinheiten der ethnologischen D a t e n b a n k für Afrika, Asien und M e l a n e s i e n ; 1 3 den Korrelationen
Variablen wurde mit Blick auf die Skalenqualität wiederum verzichtet. 13 Grundeinheiten kommen als Datensatz nur einmal vor. Im häufigen Fall, dass ethnische Gruppen über mehrere Länder (oder in Indien, China und Indonesien über verschiedene Bundesstaaten, Provinzen oder Inselgruppen) verteilt sind, erscheinen ihre Datensätze in der Länderdatenbank des ATLAS mehrfach entsprechend ihres jewei-
auf nationalgesellschaftlicher Ebene (fett) liegen die aggregierten Indikatoren der 6 5 Länder unserer soziometrischen Analyse zu Grunde. J e d e der bivariaten Korrelationen k o m m t zweimal vor, einmal auf ethnischer, einmal auf nationalgesellschaftlicher Ebene. D a s s die beiden Werte voneinander abweichen, ist zu erwarten, in erster Linie wegen der demographischen Gewichtung und wegen der reduzierten Länderzahl, die nur etwa zwei Drittel der ethnischen Grundgesamtheit abdeckt. Die Unterscheidung zwischen ,Technologie' und ,Hierarchie' als Dimensionen der gesellschaftlichen Strukturkomplexität hat verschiedene Vorteile: Erstens erlaubt sie, den Einfluss der beiden G r ö ß e n auf die moderne s o z i o ö k o n o m i s c h e Entwicklung gesondert zu analysieren. So könnte beispielsweise der Effekt traditioneller Landwirtschaft im Verlauf der Untersuchungsperiode a b n e h m e n , derjenige des Niveaus vorkolonialer soziopolitischer Differenzierung hingegen zunehmen. N u r falls wir identische Effekte fänden, wäre es gerechtfertigt, die beiden Indikatoren im abstrakten Konzept der Strukturkomplexität aufgehen zu lassen. Zweitens überligen Bevölkerungsanteils. Damit garantiert der Datensatz die größtmögliche kulturelle Diversität. Auch benachbarte Ethnien mit identischen Datensätzen sind in den Grundeinheiten ausgeschlossen. Detaillierte Darstellung in ATLAS 1999.
451
Patrick Ziltener und Hans-Peter Müller: Die Vergangenheit in der Gegenwart windet die Unterscheidung zwischen ,Technologie' und ,Hierarchie' die bislang b e o b a c h t b a r e einseitige Ausrichtung der evolutionstheoretisch inspirierten Forschung auf die traditionelle Landwirtschaft. M i t dem ,Hierarchie'-Index eröffnen sich neue Forschungsmöglichkeiten; uns ist nur eine Konstruktion bekannt, die damit verglichen werden k a n n , n ä m l i c h der I n d e x für die ,Erfahrungstiefe' o d e r das historische Alter von S t a a t l i c h k e i t (,State antiquity') von B o c k s t e t t e et al. ( 2 0 0 2 ) . 1 4 D i e evolutionstheoretisch inspirierte F o r s c h u n g wird damit anschlussfähig an neuere soziologische und ö k o n o m i s c h e T h e o r i e n , z. B. den neuen Institutionalismus. Die F r a g e des Verhältnisses von techn o l o g i s c h e r und institutioneller Entwicklung ist keineswegs trivial (Boserup 1 9 8 1 , 1 9 9 0 ) . Auch in der heutigen Z e i t sind die Erfolge und Misserfolge der Grünen Revolution (verstanden als gegenwärtig letzte Phase einer Z u n a h m e von .Technologie' im Agrarsektor) und der nachholenden Industrialisierung die Folge von zunehmend effektiven staatlichen Institutionen. Sie bilden die A n t w o r t auf demographischen D r u c k , ö k o n o m i s c h e Marginalisierung und politische Legitimationsdefizite. Ähnlich würden wir auch für die Vergangenheit argu-
1 4 Für beide Indizes ist das Kriterium ,Regierungsinstitutionen über Lokalgruppenlevel' zentral, und beide gewichten nach dem Anteil der Bevölkerung des heutigen Nationalstaates, für den dies zutrifft. Im Falle des .Hierarchie'-Indexes ist dies jedoch eine 5-Punkte-Rangskala (Anzahl der über das Lokalniveau hinausgreifenden administrativen Ebenen - vgl. Anhang 2 , Variable „Hierarchy beyond local Community"), und es werden weitere, evolutionstheoretisch wichtige Aspekte wie Siedlungsgröße und Klassenstruktur mitberücksichtigt. Bockstette et al. ( 2 0 0 2 ) kontrollieren auch nach der Endogenität des kodierten Staates, wobei Jahre der Fremdherrschaft den Indexwert reduzieren. Im Falle unseres .Hierarchie'-Indexes wurden nur endogene Institutionen berücksichtigt; der Zeithorizont ist die Periode vor der kolonialen Durchdringung. Bockstette et al. gehen hingegen fast 2 0 0 0 Jahre zurück, womit sie sich das Problem der historischen Relevanz einhandeln. Sie nehmen die Kritik vorweg, indem sie methodisch geschickt verschiedene .Entwertungshorizonte' staatlicher Erfahrung testen, nämlich Indizes, in denen die alte Geschichte im Vergleich mit der jüngeren und jüngsten unterschiedlich stark bewertet wird (S. 3 6 7 , Fn. 11). Unser ,Hierarchie'-Index korreliert mit dem von Bockstette et al. hauptsächlich verwendeten STATEHIST5-Index hochsignifikant positiv (R = .74; 5 4 Länder Afrikas/ Asiens). Auch STATEHIST5 ist ein signifikanter Prädiktor für das Wirtschaftswachstum 1 9 6 0 - 9 5 , sowohl im Gesamt- wie in einem Entwicklungsländersample. Darüber hinaus weisen Bockstette et al. positive Beziehungen mit mehreren Indikatoren für die Qualität der heutigen staatlichen Institutionen nach.
mentieren.
Aus
diesen
Überlegungen
leiten
wir
Hypothese 1 ab: Hypothese
1:
Die Strukturkomplexität traditionaler Gesellschaften
umfasst zwei unterschiedliche
Dimensionen,
nämlich ,Technologie' und ,Hierarchie'. D a diese funktional eng verknüpft sind, korrelieren die beiden G r ö ß e n sowohl auf ethnischer als auch auf Länderebene signifikant.
2.3 Traditionelle Strukturkomplexität als Entwicklungsfaktor In jüngster Z e i t hat der kulturelle F a k t o r in der Entwicklungstheorie eine starke Aufwertung erfahren, und Titel wie Harrison/Huntington 2 0 0 0 : „Culture M a t t e r s : H o w Values Shape H u m a n Progress" geben den Zeitgeist wieder. D e r Frage der historischen Determinanten gesellschaftlicher Werte wird k a u m nachgegangen (vgl. dazu Müller/Ziltener 2 0 0 4 ) . Auf der anderen Seite werden evolutionstheoretische Untersuchungen zu R e c h t als unbefriedigend empfunden, solange sie die Frage umgehen, über welche Wirkungskanäle die nachgewiesenen statistischen Beziehungen zustande k o m m e n . (a) Wirkungspfade W i r gehen davon aus, dass verschiedene Wirkungspfade von traditionellen Gesellschaftsstrukturen zur modernen Entwicklung führen, und vermuten, dass ,Technologie'- und hohe .Hierarchie'-Werte die Entwicklungsdynamik a u f unterschiedliche Weise beeinflussen. Die zentralen M e c h a n i s m e n können mit den Begriffen Disziplinierung und Mobilisierung verbunden werden: J e größer die traditionelle strukturelle K o m p l e x i t ä t , desto größer die normativ geforderte und institutionell etablierte Disziplinierung der Gesellschaftsmitglieder und desto größer das moderne Mobilisierungspotenzial (Müller 1 9 9 6 ) . D a solche psycho-kulturellen Dispositionen relativ stabil sind und dem gesellschaftlichen Wandel nur verzögert folgen (Ogburn 1 9 6 4 , Hallpike 1 9 8 6 , Laslett 1 9 8 8 ) , können ethnische Strukturmerkmale selbst dann noch nachwirken, wenn sie schon lange durch neue abgelöst worden sind. Dabei sollte allerdings die Staatsschwäche ebenso wie die nur sehr partielle kapitalistische Durchdringung in vielen Entwicklungsländern nicht übersehen werden. W i r werden später argumentieren, dass die dadurch bedingte Kontinuität traditioneller Institutionen dem sozialpsychologischen Argument zusätzliches G e w i c h t verschafft.
452
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 442-478
Im Folgenden werfen wir einen Blick zurück in die menschliche Kulturgeschichte. Die vergleichende ethnologische Forschung legt die Vermutung nahe, dass sich die durchschnittliche Arbeitszeit im Verlaufe der agrikultureilen Evolution im Verlaufe der letzten 10 000 Jahre (bis zur Industrialisierung) mindestens verdoppelt hat. Parallel zur steigenden Bevölkerungsdichte und gesellschaftlichen Hierarchisierung mussten sich deshalb die Männer zunehmend in der landwirtschaftlichen Arbeit engagieren (Burton/White 1984) 1 5 und nahm der Anteil der reproduktiven Arbeit an der Gesamtarbeitszeit stark zu (Minge-Klevana 1980, Guyer 1988). Dieser Prozess ist im subsaharischen Afrika zum Teil noch voll im Gang (Hyden 1986). Er hat umfassende Veränderungen der individuellen Lebenswelten zur Folge. In kulturgeschichtlicher Perspektive hat insbesondere die Herausbildung der Pfluglandwirtschaft zu umfassenden institutionellen Veränderungen geführt (Boserup 1970, Levinson/Malone 1980, Pryor 1985, Hendrix 1985, Bradley et al. 1990, Gellner 1990, Kagitgibasi 1996). Dazu gehören: die Stärkung patriarchaler Strukturen, die Unterordnung der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit (Männer und Frauen) unter aristokratische Klassen in expandierenden tributären Gesellschaften, eine strengere Kindererziehung, die Etablierung moralischer Ordnungen mit aufgeschobener (postmortaler) Bedürfnisbefriedigung etc. Zwar haben Hortikulturalisten und Agrikulturalisten gemeinsam, dass sie Produzenten von Nahrung sind. Der im vorliegenden Zusammenhang entscheidende Unterschied liegt aber darin, dass die Produktion bei den Hortikulturalisten - gemeinsam mit Jägern, Sammlerinnen, Fischern und abgeschwächt auch mit Viehzüchtern - im Rahmen politischer Systeme stattfand, deren Extraktionskapazitäten weit unterhalb derjenigen von agrikultureilen Gesellschaften liegen. Agrikulturalisten operieren zudem in einer technisch viel stärker kontrollierten Umgebung, einem strukturierteren Organisationsrahmen sowie einer differenzierteren Planungstätigkeit (säen, ernten, speichern/konservieren, verteidigen etc.). Eine besondere Ausprägung erfahren diese Unterschiede im Kontext der ,hydraulischen' Großgesellschaften (Wittfogel 1977). Wohl haben die Intensivierung der Landwirtschaft und die zunehmende soziopolitische Differenzie15 Das heißt, der landwirtschaftliche Beitrag der Frauen nahm im Zuge der landwirtschaftlichen Intensivierung proportional (nicht unbedingt absolut) ab. Als wichtigste Prädiktoren fanden die beiden Autoren (i) klimatische Trockenheit, (ii) Anteil der Haustiere an der Gesamternährung und (iii) die Pfluglandwirtschaft.
rung die institutionelle und moralisch-psychische Entwicklungsdynamik gemeinsam geprägt; auch haben beide Prozesse zur Disziplinierung der menschlichen Lebensweise beigetragen - die wohl wichtigste Ressource für nachholende Entwicklung. Während jedoch die Disziplinierung durch Technologie' primär im Produktions- und Arbeitsbereich erfolgte und noch heute erfolgt, steht bei ,Hierarchie' die soziale und rechtlich-politische Disziplinierung (Unterordnung) der Bevölkerung im Vordergrund 16 . Damit stünde ,Technologie' primär für Arbeitsethos und moralisch besetzte Leistungsdisposition, .Hierarchie' für institutionalisierte Organisationskapazitäten, kollektive Mobilisierungsfähigkeit und individuelle Unterordnungsbereitschaft. Vor diesem Hintergrund postulieren wir, dass ,Hierarchie' und ,Technologie' in ähnlicher Weise, aber eigenständig, auf die Entwicklungsdynamik einwirken. Inwieweit sich das Potenzial zur Gestaltung und Kontrolle der natürlichen Umwelt mobilisieren und transformieren lässt, dürfte stärker vom traditionellen soziopolitischen Differenzierungsniveau abhängen. Wenn die Prinzipien nationalstaatlicher Organisation - Regierung, Bürokratie, Besteuerung, Militär, territoriale Infrastruktur, Schriftlichkeit etc. - von den Gesellschaften endogen entwickelt wurden (oder ihre Übernahme und Integration historisch weit zurückreicht), sind die heutigen Voraussetzungen zur Schaffung wirkungsmächtiger moderner Institutionen günstiger, als wenn die politische Ordnung vorkolonialer Gesellschaften primär auf Verwandtschaftsorganisation, Geschlechter- und Generationendifferenzierung beruhten. Bei bereits vorkolonial etablierten staatlichen Steuerungs- und Legitimationsmechanismen
16
Vgl. Putterman (2000: 6ff.), der die Befunde seiner Untersuchung folgendermaßen erklärt: „ O n e way those legacies may have affected growth is through their impact on conceptions and practices of productive activity. (...) The peoples of agrarian societies that had adapted to the drudgery of intensive farming may have become more conditioned to (and, in the language of economics, more willing to supply) long, arduous hours of w o r k than would less intensive farmers or pastoralists. They may have more sharply distinguished between w o r k and leisure time, their values and expectations may have become better adapted to specialized and hierarchical economic interactions, and they may have perceptually separated their economic and noneconomic social interactions in ways more closely resembling those of people in industrial societies." Bockstette et al. (2002) sehen die anhaltende Bedeutung früher Staatsbildung vor allem auf der Ebene von Werten und N o r m e n : „the operation of a state may support the development of attitudes consistent with bureaucratic discipline and hierarchical control" (p. 348).
Patrick Ziltener und Hans-Peter Müller: Die Vergangenheit in der Gegenwart brauchen diese im nation building-Vrozess nur modernisiert - und nicht gegen tribale Herrschaftsstrukturen durchgesetzt - zu werden. E b e n s o ist die Akzeptanz staatlicher Suprematie, Mehrwertaneignung und aufgeschobener Bedürfnisbefriedigung Bestandteil einer bereits vorkolonial verankerten Ordnung. Postkoloniale Machtdiskurse greifen auf sie zurück und konstruieren daraus eine historisch verbriefte kulturelle Identität. Diese wichtige Legitimationsquelle steht Ländern mit vorwiegend tribalen Traditionen weniger oder gar nicht zur Verfügung. D a die relevanteste Ressource in der modernen Entwicklung nicht in der Technologie per se, sondern in der kollektiven Fähigkeit zu deren effizienter Nutzung liegt, erwarten wir, dass der soziopolitischen Differenzierung traditioneller Gesellschaften (.Hierarchie') eine größere Erklärungskraft zuk o m m t als der Flächenproduktivität in der traditionellen Subsistenzproduktion (.Technologie'). Diese Überlegungen sind in der Hypothese 2 zusammengefasst: Hypothese
2:
Die beiden Komplexitätsdimensionen .Technologie* und .Hierarchie' sind Entwicklungsfaktoren von unterschiedlicher Bedeutung. Beide stehen für gesellschaftliche Disziplinierung und beeinflussen die sozioökonomische Entwicklung positiv. W ä h r e n d .Technologie' für gesellschaftlich mobilisierbare Ressourcen steht, misst .Hierarchie' die institutionelle Lern-, Organisations- und Steuerungskapazität, welche dieses Potenzial kollektiv in E n t w i c k lung umzusetzen vermag. (b) Strukturkomplexität, postkoloniale Staat
Kolonisierung
und
der
Wenn wir in Entwicklungsländern die Produktionsund Organisationsweisen vergangener Gesellschaften dokumentieren, so erfassen wir zum Teil etwas, das heute nicht mehr oder nur noch in stark veränderten Formen und Z u s a m m e n h ä n g e n existiert. Die Einschätzung der Bedeutung endogener Entwicklungsfaktoren wird erschwert durch den komplexen Zusammenhang zwischen dem vorkolonialen Niveau gesellschaftlicher Organisation, dem Verlauf der Kolonisierung und der postkolonialen Entwicklung. 1 7 Crenshaw ( 1 9 9 3 ) argumentiert, dass die vorhandenen ökologisch-technischen Strukturen, insbesondere die Bevölkerungsdichte und die Land17 Siehe insbes. Boswell (1989), Grier (1997,1999), Acemoglu et al. (2001).
453
konzentration, den Kolonisierungsprozess stark beeinflussten. 1 8 Schon Lenski/Nolan wurden konfrontiert mit dem Argument, dass Gesellschaften mit hortikultureller Grundlage häufiger kolonial unterjocht wurden als Agrargesellschaften. Dass Agrargesellschaften eine stärkere Widerstandskraft gegenüber den K o l o n i a l m ä c h t e n hatten, lässt sich durchaus mit ihrer T h e o r i e vereinbaren. Z u r Erklärung müssen sie allerdings auf eine vergleichsweise höhere Entwicklung des Staates in diesen Gesellschaften und somit auf das Niveau soziopolitischer Differenzierung zurückgreifen (Lenski/Nolan 1 9 8 4 : 17f.). D a t e n , die den k o m p l e x e n Z u s a m m e n h a n g zwischen dem vorkolonialen Niveau soziopolitischer Differenzierung, dem Einfluss der Kolonisierung und der modernen sozioökonomischen Entwicklung komparativ zu modellieren erlaubten, sind unseres Wissens inexistent. An Indizien dafür, dass der F a k t o r Staatsbildung die zentrale Erklärungsgröße darstellt, fehlt es hingegen nicht: • Es gibt ein breites Spektrum .staatszentrierter' Ansätze in der Entwicklungsforschung (Evans 1 9 8 9 , 1 9 9 5 , S a n d b r o o k 1 9 8 5 , Bayart 1 9 9 3 , C h a bal/Daloz 1 9 9 9 für Afrika; Khoury/Kostiner 1 9 9 0 für arabische Länder; Rudolph/Rudolph 1 9 6 7 für Indien; Evers/Schiel 1 9 8 8 ) . Die Forschung zu den Gründen, warum es in der Region Ostasien zu erfolgreichen Fällen nachholender Entwicklung g e k o m m e n ist, konvergiert in R i c h tung einer T h e o r i e des „ E n t w i c k l u n g s s t a a t e s " . 1 9 • Schon die ältere empirische Dependenzforschung hat signifikante, positive Effekte von „Mobilisie-
18 Crenshaw (1993: 809f.): „existing technoecological regimes conditioned the character of European colonialization [...] types of colonial land use were conditioned by population density, and land concentration is in part outgrowth of the technoeconomic heritage of societies during nascent colonialization, heritage effects that influence land and income distribution even today". 19 Der Begriff developmental state geht auf die einflussreiche Analyse der japanischen Wirtschaftspolitik durch Chalmers Johnson (1982) zurück; vgl. Johnson 1999 und die anderen Beiträge in Woo-Cumings 1999 sowie Leftwich 2001. Vgl. auch Putterman 2000: 8: „Differences in state capacity and political stability appear likely to give rise to some of the most important ways in which premodern development experience may have affected recent economic growth. Strong states have played notable roles in the development of East Asia's NICs, and weak states and/or political instability have probably done as much as anything to thwart the economic aspirations of much of sub-Saharan Africa, Central America, and other slowgrowing regions."
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rungsregimen" auf die Entwicklung in der Peripherie und Semiperipherie nachgewiesen (z.B. Delacroix/Ragin 1981). Sie fand auch, dass Staatsstärke und -effizienz nur bedingt mit außenwirtschaftlichen Faktoren zu erklären sind. • In ihrer empirischen Untersuchung des Einflusses von rationaler Staatsorganisation („Weber-Skala", konstruiert aus den Komponenten meritokratische Rekrutierung und langfristige Beschäftigung mit Aufstiegssicherheit) haben Evans/Rauch (1999) nachgewiesen, dass diese einen positiven Effekt auf das Wirtschaftswachstum (1970-90) ausübt. Die Länder mit einem hohen Wert auf der „Weber-Skala" sind fast ausschließlich Länder mit hoher vorkolonialer Strukturkomplexität. 2 0 Die Ergebnisse dieser Forschung sprechen dafür, das Gewicht bei Entwicklungsanalysen auch in historischer Perspektive stärker von der landwirtschaftlich-technischen auf die soziopolitische Dimension zu verlegen mit entsprechender Gewichtung institutioneller Arrangements. Offensichtlich folgen Gesellschaften einem Pfad, der durch ihre evolutionäre Position und historische Dynamik bestimmt wird. 2 1 Die theoretische Relevanz vieler Untersuchungen leidet darunter, dass sie sich auf wenige Einzelfälle und qualitative Argumente abstützen (z.B. Fukuyama 1995). Für quantitative komparative Studien fehlten bisher die Daten. Demgegenüber basiert die vorliegende Untersuchung auf quantitativen Indikatoren vorkolonialer Strukturmerkmale und verknüpft diese direkt mit der nationalstaatlichen Entwicklung.
(c) Informelle Schattenexistenz und cultural gap Ein weiterer Grund, weshalb historische Faktoren den modernen Entwicklungsverlauf beeinflussen, liegt darin, dass die strukturelle Modernisierung der nicht-europäischen Welt weit weniger umfassend ist, als im Norden oft angenommen wird. Die große Mehrheit der Menschen Afrikas und Asiens lebt weiterhin außerhalb staatlicher Sicherungssysteme. Bei Alter, Krankheit und Erwerbsarbeit stehen nach wie vor allein verwandtschaftliche und nachbarschaftliche Strukturen zur Verfügung. Die finanziellen und organisatorischen Kapazitäten der meisten Staaten Afrikas und Asiens sind bisher nicht in der Lage, anthropologische Kernaufgaben wie Produktion, Verteilung, Sicherheit, Sozialisation und Sinnproduktion für ihre Bevölkerungen verlässlich zu regeln. Gleichwohl werden lokale Kenntnisse und Institutionen von offiziellen Entwicklungsagenten mit aller Macht in die Marginalität des informellen Sektors' abgedrängt. Dort allerdings bilden sie ein für das Überleben der Menschen unverzichtbares „kulturelles Kapital" für die (Selbst-)Organisation von Einkommen, reproduktiver Sicherheit und Identität. Die Wirkung der Vergangenheit auf die Gegenwart verliert damit einiges von ihrem mysteriösen Gehalt. Sozial gesehen ist nicht der informelle, sondern der moderne Sektor in vielen Entwicklungsländern marginal, wenngleich politisch dominant. Solange das Gros der Bevölkerung von den modernen Institutionen ausgeschlossen ist, baut sie auf informelle Sicherungsmechanismen, die ihr zugänglich und vertraut sind. Diese Codes und Organisationsformen sind zwar nicht in Stein gemeißelt; sie unterliegen ständigem Wandel. Doch selbst in ihrer Transformation spiegeln sie die evolutionären Voraussetzungen in vorkolonialer Zeit und die damit verbundenen Rahmenbedingungen der Entwicklung.
20
Länder mit einem hohen Wert auf der „Weber-Skala" von Evans/Rauch (1999) und hoher vorkolonialer Strukturkomplexität sind Südkorea und Taiwan, Länder mit tiefen Werten Syrien, Nigeria und Kenia. Interessante Ausnahmen sind so unterschiedliche Fälle wie Malaysia und die Elfenbeinküste, die einen höheren Wert auf der „Weber-Skala" haben, als ihr Niveau vorkolonialer Strukturkomplexität vermuten lassen würde. In diesen Fällen dürfte der Kolonialfaktor eine große Rolle spielen. Für einen systematischen Vergleich ist die Überschneidung der beiden Samples bedauerlicherweise zu klein. 21 Vgl. Martinussen (1997: 172), der für eine dialektische Modernisierungstheorie' plädiert: „Instead of following the same pattern of change, as envisaged in the classical modernisation theory, the developing societies will follow different trajectories determined to a large extent by their traditional institutions and practices".
(d) Reaktualisierung von Vergangenheit Auf mikro- wie auf makrosozialer Ebene werden Identitätskonstruktionen und Deutungsmuster zunehmend durch Rückgriff auf rekonstruierte Traditionen historisch legitimiert. Die in der Globalisierungsforschung beobachteten parallel ablaufenden Prozesse von Integration und Desintegration, von Homogenisierung und Differenzierung markieren selbstverständlich nicht die ungebrochene Kontinuität von ,'Traditionen', sondern die phasen- und situationsspezifische ,Re-Aktualisierung' von Vergangenheit. Die Wirkung der Vergangenheit auf die Gegenwart lässt sich somit erklären, ohne auf einen
Patrick Ziltener und Hans-Peter Müller: Die Vergangenheit in der Gegenwart essenzialistischen Kulturbegriff, der historische Invariabilität postuliert, zu rekurrieren. Diese vielfach belegten Prozesse widersprechen dem modernisierungstheoretischen Postulat einer Erosion überkommener Institutionen. In der Tat dürfte sich der weltweite Modernisierungsprozess kaum über eine allgemein gültige Formel beschreiben lassen. Denn der Stellenwert der Vergangenheit ist nicht nur eine Funktion der historischen Ausgangslage, sondern auch der Integrationskraft der nationalen Gesellschaften und des Weltsystems. Aus der ökologisch-evolutionären Theorie lässt sich keine Prognose ableiten, ob die Entwicklungsunterschiede zwischen Agrarwirtschaft- und Hortikulturgesellschaften künftig zu- oder abnehmen werden. In ihrer empirischen Untersuchung zeigten sich Lenski/Nolan (1984) denn auch von zwei Befunden überrascht: zum einen vom Ausmaß der Bedeutung der traditionellen Subsistenzwirtschaft in Bezug auf die sozioökonomische Entwicklung der 60er/70er Jahre; zum andern von der Tatsache, dass die Bedeutung der Agri-/Hortikulturdifferenz eher zu- als abzunehmen schien. 22 Aus diesen Überlegungen leiten wir zwei weitere konkurrierende - Hypothesen ab: Hypothese
3:
Die Bedeutung der traditionellen Strukturkomplexität nimmt im Zuge der Kolonisierung, Entkolonisierung und postkolonialen Entwicklung sukzessive ab. Entsprechend sollte auch die Signifikanz des Effektes auf die sozioökonomische Entwicklung im Verlauf der Untersuchungsperiode (1965-95) sinken (Erosionshypothese). Hypothese
4:
In der kolonialen Situation wurde der Einfluss der traditionellen Strukturkomplexität nur vorübergehend überformt oder neutralisiert. Ihre Bedeutung nimmt im Zuge der Entkolonialisierung und postkolonialen Entwicklung wieder zu. Entsprechend sollte auch die Signifikanz des Effektes auf die sozioökonomische Entwicklung im Verlauf der Während sie im Theorieteil keine Prognose machen resp. nur eine Erwartung bezüglich der langfristigen Entwicklung formulieren („there are reasons for expecting that in the long run [i.e., a Century or more) the gap would decrease"), legen sie in der Schlussfolgerung dar, dass sie doch eher zur Vorstellung einer Erosion der Effekte neigten: „ . . . several lines of evidence suggest that its importance is increasing rather than declining, as one might have expected of a variable reflecting conditions o f the distant p a s t " (Lenski/Nolan 1 9 8 4 : 4 , 2 0 ) . 22
455
Untersuchungsperiode (1965-95) zunehmen (Kontinuitätshypothese).
3. Empirische Analyse In diesem Abschnitt sollen die vier Hypothesen empirisch überprüft werden. Die Analyse des Verhältnisses von ,Technologie' und ,Hierarchie' (Hypothese 1) ist zugleich eine Überprüfung der Validität der Kategorien Lenski/Nolans (3.1). Die Hypothesen 2 - 4 werden mit Hilfe von ökonometrischen Wachstumsmodellen getestet (3.2). Unser Sample zielt auf die Länder der nicht-westlichen Welt. Das sind diejenigen Länder, in denen der Anteil europastämmiger Bevölkerung sehr gering ist (unter 10 Prozent; Ausnahme Südafrika mit etwa 20 Prozent, vgl. Anhang 1). Geographisch handelt es sich um ein geschlossenes Gebiet, das nahezu ganz Afrika, West-, Süd-, Südost- und Ostasien sowie Melanesien umfasst (wichtigste Ausnahme: Israel). In Zentral- und Südamerika bildet das aus Europa stammende Bevölkerungssegment zwar nicht überall die Mehrheit. Gleichwohl ist die kulturelle und politische Orientierung der Eliten, eines Großteils der Bevölkerung sowie der zentralen gesellschaftlichen Institutionen überall in weit stärkerem Maß westlich dominiert, als dies in Afrika und Asien der Fall ist. Diese nicht-westliche Welt umfasste Ende des 20. Jahrhunderts ca. 73 Prozent der Weltbevölkerung. Allerdings finden nicht alle ethnologisch kodierten Länder Afrikas und Asiens Eingang in die Wachstumsmodelle. Im ATLAS (Müller et al. 1999) sind die ethnologischen Indikatoren für 95 Länder kodiert. Die statistischen Berechnungen über die Zusammenhänge zwischen den ethnologischen Indikatoren basieren auf 87 Ländern, das sind alle kodierten Länder ohne die GUS-Staaten der früheren Sowjetunion. Fehlende sozioökonomische Basisdaten reduzieren das Sample in Abschnitt 3.2 um weitere 22 Fälle. Demzufolge arbeiten wir grundsätzlich mit zwei Ländersamples: Wo Strukturzusammenhänge ausschließlich zwischen ethnologischen Daten besprochen werden, basieren die Berechnungen auf den aggregierten Ethno-Variablen aus 87 Ländern (3.1); wenn Zusammenhänge zwischen ethnischen und Entwicklungsindikatoren untersucht werden, liegt den Berechnungen das Sample von 65 Ländern zugrunde, für die genügend Entwicklungsdaten zur Verfügung stehen (3.2). Von diesen 65 Ländern befinden sich 29 in Afrika südlich der Sahara, 18 in Nordafrika und dem Nahen und Mittleren Osten und 18 in Süd-, Südost- und-
456
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft", 2005, S. 442-478 •15
20 % 20 % i
agricultural'^
G
-10
15