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German Pages 294 Year 2010
Anne Broden, Paul Mecheril (Hg.) Rassismus bildet
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Anne Broden, Paul Mecheril (Hg.)
Rassismus bildet Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft
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Herausgeber: Anne Broden/Paul Mecheril Im Auftrag des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit in Nordrhein-Westfalen (IDA-NRW) Volmerswerther Straße 20 40221 Düsseldorf Tel.: 02 11/15 92 55-5 E-Mail: [email protected] www.IDA-NRW.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Ministeriums für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Anne Broden, Paul Mecheril, Herbert Stöckl Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1456-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt
Rassismus bildet. Einleitende Bemerkungen Anne Broden & Paul Mecheril
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Rassismus, Normalität, Unterscheidungspraxen Rassismus und Normalität im Alltagsdiskurs. Anmerkungen zu einem paradoxen Verhältnis Margarete Jäger
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Distanzierungsmuster. Vier Praktiken im Umgang mit Rassismus Astrid Messerschmidt
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Anerkennung und Illegitimierung. Diversität als marktförmige Regulierung von Differenzmarkierungen Maureen Maisha Eggers Vom Objekt zum Subjekt. Über erforderliche Reflexionen in der Migrationsund Rassismusforschung Wiebke Scharathow (Un-)Tiefen der Macht. Subjektivierung unter den Bedingungen von Rassismuserfahrungen in der Migrationsgesellschaft Astride Velho
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Rassismus, Subjektivierungen, Bildungsarbeit Getilgtes Wissen, überschriebene Spuren. Weiße Subjektivierungen und antirassistische Bildungsarbeit Eske Wollrad Rassismusrelevante Differenzpraxen im elementarpädagogischen Kontext. Eine empirische Annäherung Claudia Machold Immer noch die Anderen? Ein rassismuskritischer Blick auf die Normalität schulischer Bildungsbenachteiligung Thomas Quehl Differenz-Bildung. Zur Inszenierung von Migrationsanderen im schulischen Kontext Nadine Rose Kritik und Stabilisierung von Rassismus in der politisch-historischen Bildung zum Nationalsozialismus Tobias Linnemann Die Normalität des Rassismus in interkultureller Bildungsarbeit. Reflexionen eigener Praxis Andreas Foitzik
Autorinnen und Autoren
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Ras sis mus bilde t. Einleite nde Be me rk unge n ANNE BRODEN & PAUL MECHERIL
Rassismus und Subjektivierung Gewiss, reisen bildet, lesen bildet, aber Rassismus? Bildet Rassismus? Wer sich außerhalb von Milieus, die rassistische Ideologien offen bejahen, mit dieser Frage beschäftigt, macht zwei begriffliche Voraus-Setzungen. Die eine betrifft den Bildungs-, die andere den Rassismusbegriff. Beginnen wir mit Ersterem. Wenn wir mit dem Begriff der Bildung allgemein Phänomene und Prozesse der wissens- und erfahrungsbegründeten Transformation personaler Selbst- und Weltverhältnisse adressieren und Bildung nicht beschränken auf formale Bildungszusammenhänge wie Schule oder Hochschule, sondern vielmehr verallgemeinern, dann kann Bildung seinen positiven wie negativen Ausgangspunkt finden an allen inhaltlichen Gegenständen, die Erfahrungen und Wissen strukturieren. Der Ausgangspunkt von Bildungsprozessen ist nicht beschränkt auf jene Inhalte, Themen und Gegenstände, die in einem bildungsbürgerlichen Kanon oder einem sonstigen Sinne als wertvoll gelten. „Rassismus bildet“ weist somit daraufhin, dass Rassismus mittels Wissen und Erfahrung auf Prozesse der Konstitution und Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen positiv oder negativ Einfluss nimmt. Was dies heißt, wird in jenen Beiträgen des vorliegenden Buches zum Thema gemacht, die in einer reflexiven, zumeist empirisch-rekonstruktiven Einstellung pädagogische oder außerpädagogische Bildungsarrangements aus einer subjektivierungstheoretischen Perspektive zum 7
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Thema machen. Im Sinne eines Inkurses möchten wir zunächst erläutern, worauf der Begriff der Subjektivierung hier grundsätzlich zielt:
S u b j e k t i vi e r u n g a l s m u l t i p l e An r u f u n g . Ein Inkurs Ideologie1 ist für Louis Althusser (etwa 1973) nicht räuberisch, sie nimmt den Subjekten nicht etwas weg, sie hintergeht sie nicht und täuscht sie nicht hinsichtlich ihrer ‚eigentlichen’ und ‚wahren’ Interessen. Vielmehr ist Ideologie produktiv. Sie erzeugt und ermöglicht Subjekte dadurch, dass Individuen durch imaginäre ‚große Subjekte’ (wie beispielsweise Gott oder die Nation) angerufen werden. So ermöglichen Ideologien Welt- und Selbst-Verständnisse. Vermittels dieser imaginären Repräsentationen werden aus Individuen Subjekte. Althussers Interpellationskonzept beschränkt ‚Ideologie’ nicht allein auf ihre materialistische Funktion, sondern betont die symbolische Funktion der Ideologie für die Konstituierung von Subjekten. Das Individuum wird als Subjekt identifiziert, wobei diese Identifikation insofern eine Art von Verkennen darstellt, als dass das angerufene Subjekt als Produzent und Ursprung der Bedeutungen dargestellt wird, deren Effekt es bloß ist. Den Prozess der Subjektivierung denkt Althusser als Herrschaft, als Unterordnung des Individuums unter die Regeln des kapitalistischen Staates, die sich nicht alleine im Denken, sondern allgemeiner in der Praxis und vermittels der Praxis des Subjektes vollzieht, in der sich das Subjekt konstituiert. Herrschaft wendet sich also nicht gegen das Subjekt, sondern verwirklicht sich durch das Subjekt. Bedeutsam an diesem Verständnis von Subjektivierung ist, dass es gegenüber voluntaristischen Ansätzen auf dem zweiten Teil des Marxschen Diktums, dass Menschen ihre Geschichte auf der Grundlage von Bedingungen machen, die sie selbst nicht geschaffen haben, insistiert und es weiterführt. Diese Bedingungen sind den Individuen nicht äußerlich, sondern durchziehen sie in einer Weise, die sie in ihren Erfahrungen, ihren Stellungnahmen, Wünschen und Ansichten konstituiert. Freilich tendiert dieser Strukturalismus zu einem deterministischen Verständnis, in dem Kategorien wie ‚Abweichung’, ‚Widerstand’, aber auch ‚Unvorhergesehenes’ nicht angemessen vorkommen. Wenn nun aber – anders als bei Althusser – ‚Ideologie’ oder ‚diskursive Zusammenhänge’ nicht als kohärente und durch ein Prinzip einheitlich
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Dieser Abschnitt geht zurück auf einen bereits publizierten Aufsatz, in dem der Umstand, dass die Unmöglichkeit des Subjekts seine Konstitutionsbedingung darstellt, aus der Perspektive der Cultural Studies erläutert wird (vgl. Mecheril 2006).
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gestiftete, sondern als in sich uneinheitliche, widersprüchliche, mehrwertige und uneindeutige Zusammenhänge angesehen werden, dann handelt es sich beim Prozess der Subjektivierung selbst um einen uneinheitlichen, widersprüchlichen, mehrwertigen und uneindeutigen Vorgang, dessen Ergebnis nicht Kohärenz und Zentrierung ist. Es wird somit möglich, das Subjekt als fragmentiert und dezentriert zu beschreiben, da es sich im Prozess der Anrufung oder Artikulation als ein solches, fragmentiertes und dezentriertes Subjekt, konstituiert. Und über diesen Punkt hinausgehend, ihn radikalisierend, muss die Möglichkeit des Subjektes als analytisch von der Mehrwertigkeit und Offenheit der Diskurse abhängig gedacht werden. Nur weil das ‚Subjekt’ der Nichtabgeschlossenheit der Diskurse entspricht, existiert es, so zumindest argumentieren Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (1991) in ihrem rigoros antiessentialistischen Ansatz. Laclau und Mouffe lehnen die foucaultsche Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praxen ab. Alle Objekte konstituieren sich ausschließlich als diskursive Objekte, da „kein Objekt außerhalb jeglicher diskursiver Bedingungen des Auftauchens gegeben ist“ (Laclau/Mouffe 1991, 157). Als Diskurs bezeichnen sie eine aus der Praxis der Artikulation hervorgehende ‚strukturierte Totalität’. Was nicht artikuliert werden kann, liegt außerhalb des Diskurses. Dieses ‚Außen’ kann nicht artikuliert werden, da Artikulation allein innerhalb von Diskursen erfolgt. Diskurse sind keine endgültig festgelegten, vielmehr offene und im Wandel befindliche Zusammenhänge. Reartikulationen und Neuknüpfungen sind Prinzipien des Diskurses. Diese beständige Unruhe, die sich in einem Feld der Unbestimmtheit ereignet, wird durch die antagonistische Verfassung des Diskurses vermittelt. Der Antagonismus ist die Grenze zwischen dem Diskurs und seinem diskursiven Außen, er durchzieht den Diskurs aber auch und unterläuft die diskursive Abgeschlossenheit, die ‚endgültige Naht’. Der Antagonismus ist somit das Prinzip, das die Unmöglichkeit eines endgültigen Abschlusses verbürgt. Die artikulativen Verknüpfungen sind nie gänzlich und endgültig vollzogen. „Somit kommt ein Niemandsland zum Vorschein, das die artikulatorische Praxis erst möglich macht. Von daher gibt es keine gesellschaftliche Identität, die völlig geschützt ist vor einem diskursiven Äußeren, das sie umformt und verhindert, daß sie völlig genäht wird. Sowohl die Identitäten als auch die Beziehungen verlieren ihren zwangsläufigen Charakter. Als systematisches, strukturelles Ganzes sind die Beziehungen nicht in der Lage, die Identitäten zu absorbieren. Da aber die Identitäten rein relationale sind, ist dies nur eine andere Art und Weise zu sagen, daß es keine Identität gibt, die vollkommen konstituiert werden kann“ (ebd., 162). Die diskursive Formation wird somit „weder durch die logische Kohärenz ihrer Elemente noch durch das Apriori eines transzendentalen Subjekts, noch durch ein sinnstiftendes Subjekt à la Husserl oder durch die Einheitlichkeit der Erfahrung vereinheitlicht“ (ebd., 155). Dem Typus
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von Kohärenz, der einer diskursiven Formation zugeschrieben werden kann, liegt vielmehr allein die Regelmäßigkeit der Verstreuung zugrunde. Diskursive Zusammenhänge existieren nicht als einfach gegebene und abgeschlossene Positivitäten (ebd., 162), vielmehr sind sie relational und unvollständig, kontingent und unbestimmt. Die Unbestimmtheit eines Diskurses wird nicht durch ein außerdiskursives Moment konstituiert, sondern durch die Grenze zu dem Außen des Diskurses. Dieses Außen ist konstitutiv für den Diskurs. Mit der relativen Unbestimmtheit eines diskursiven Zusammenhangs, der aufgrund von Regelmäßigkeiten seiner Verstreuung als ‚diskursive Totalität' bezeichnet werden kann, muss zugleich aber eine relative Bestimmtheit korrespondieren. Das Feld der Bedeutungen und Identitäten ist weder absolut fixiert noch absolut nicht fixiert (ebd., 163). „Jedweder Diskurs konstituiert sich als Versuch, [...] das Fließen der Differenzen aufzuhalten, ein Zentrum zu konstruieren“ (ebd., 164). Dieser Prozess der Fixierung von Identitäten kann als Hegemonie bezeichnet werden, wobei der Hegemoniebegriff nicht darauf aufmerksam macht, dass soziale Gruppierungen ihre Dominanz durchsetzen, sondern auf kontingente Verfestigungen, auf den Prozess, der eine kontingente gesellschaftliche Ordnung zum Ergebnis hat. Der ‚Antagonismus’ verunmöglicht den Abschluss des Sozialen, ‚Hegemonie’ hingegen verhindert den Schwund des Sozialen in dieser Unmöglichkeit. Die partielle Fixierung von Bedeutung bezeichnen Laclau und Mouffe als Knotenpunkte. Mit diesen durch die Praxis der Artikulation hergestellten Knotenpunkten korrespondieren Subjektpositionen, die insofern als diskursive Positionen zu verstehen sind. Als diskursive Positionen nehmen sie „an dem offenen Charakter eines jeden Diskurses teil; infolgedessen können die vielfältigen Positionen nicht gänzlich in einem geschlossenen System von Differenzen fixiert werden“ (ebd., 168). Das (kollektive oder individuelle) Subjekt kann hierbei nicht als Ansammlung der Vielzahl von antagonistischen Subjektpositionen beschrieben werden, weil diese Auffassung nur einen ‚Essentialismus der Trennung’ befördern würde. Und insofern sich Subjektpositionen nicht als getrennte Positionen je Einzelner in sich geschlossener Bedeutungen darstellen, ist das Subjekt Ausdruck eines Mangels. Ansätze, die das Subjekt prinzipiell als Phänomen des Mangels denken, tendieren dazu, spezifische Mängel, Knappheiten und Unzulänglichkeiten zu vernachlässigen. Diese Tendenz zur Ausblendung spezifischer Verhältnisse der Über- und Unterordnung und der Vernachlässigung ihrer Relevanz für Subjektivierungsprozesse kann in den Zusammenhang der Dominanz eines Psychoanalytizismus gestellt werden. Zwar kann nicht bestritten werden, dass ‚das Psychische’ ein bedeutsamer und sozusagen autopoietischer Zusammenhang der Konstituierung des Subjektes ist. „Aber dies ist etwas ganz anderes“, so führt Stuart Hall dies im Zuge einer Kritik am ‚strukturalistischen Strang’ der Cultural Studies aus (1999, 38), „als die Gesamtheit der gesellschaftlichen Prozesse, im Sinne besonderer Produktionsweisen und Gesellschaftsformatio-
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nen, einfach beiseite zu lassen und sie ausschließlich auf der Ebene unbewusster psychoanalytischer Prozesse zu lokalisieren.“ Um ein Beispiel zu geben: Die rassistische Figuration (weißer Herr, schwarzer Knecht) wird nur sehr eingeschränkt erfasst, wenn die Unmöglichkeit, ein mit sich selbst identisches Subjekt zu sein, nicht mit Blick auf die Spezifität des rassistischen Komplexes betrachtet wird, der ‚racialised subjects’ hervorbringt. Durch das Wissen, ein ‚Anderer’ zu sein, werde ich dem Wissen und der affektgenerativen Struktur produktiv unterworfen, die mich zum Anderen macht – dieser Andere ist in der rassistischen Figuration aber ein spezifischer Anderer, der einen spezifisch unmöglichen Traum einer postrassistischen Identität träumt. Vervollständigt wird dieser Zusammenhang der Inferiorität/Superiorität durch die spezifische Angewiesenheit der anderen Seite: „Die Engländer sind nicht deshalb rassistisch, weil sie die Schwarzen hassen, sondern weil sie ohne die Schwarzen nicht wissen, wer sie sind“ (Hall 1999, 93). (Ende Inkurs)
Vor dem Hintergrund dieser kurzen Skizze wird dreierlei deutlich: Die den Ausführungen der Beiträge in diesem Buch zugrunde liegenden, subjektivierungstheoretisch inspirierten Bildungsbegriffe verstehen Bildung, die Aneignung und Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen Einzelner, dezidiert nicht als ‚autonome Hervorbringungen’. Denn diese Verhältnissetzungen finden im Medium und mit Bezug auf materielle und symbolische Gegenstände statt, die das Subjekt nicht selbst setzt, durch die es vielmehr in die Welt und in der Welt gesetzt wird. In Diskursen, Wissensformen und Sprachen, den heteronomen Medien der Subjektkonstituierung, werden Menschen machtvoll unterschieden. Bildungsprozesse können somit zweitens verstanden und untersucht werden als Aneignung dieser sozial und individuell Sinn stiftenden, aber auch beunruhigenden Unterschiede, in denen sich Ungleichheiten und differentielle Privilegierungen artikulieren. Drittens sind die Konstituierungen der Subjekte durch Diskurse und Sprachen aber einerseits unabgeschlossen, vorläufig und offen, andererseits aber auch vielfältig, in sich widersprüchlich und spannungsvoll. Diese mehrfache Differenz zwischen dem angesprochenen Individuum und dem, wodurch es angesprochen wird, dieser Mangel an Deckungsgleichheit zwischen Diskurs und Individuum, konstituiert Subjektivität und Subjekte, die sich zu dem, was sie unvollkommen und widersprüchlich anspricht, aufgrund dieser bruchstückhaften und antagonistischen Ansprache verhalten können. Diese drei Aspekte: Heteronomie der diskursi-
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ven Ansprache, Positionierung durch Ansprache in einem Raum der Ungleichheit sowie Subjektivität durch und gegen die Ansprache, gelten auch und in einem besonderen Sinne für rassistische Verhältnisse.
Die Normalität rassistischer Ordnung Rassismus bildet. Aber nicht allein diejenigen, die als die Rassisten gelten, also nicht allein diejenigen, die im öffentlichen Diskurs als fehlgeleitete, charakterschwache, desorientierte Personen gelten und deren rassistisches Denken und Handeln mit ihrer deprivilegierten Lage in Verbindung gebracht wird. Dieses im deutschsprachigen Raum verbreitete Verständnis von Rassismus veraußergewöhnlicht Rassismus und kann insofern als Beitrag zur Dethematisierung dessen verstanden werden, was hier Normalität des Rassismus genannt wird. Bis etwa Anfang der 1990er Jahre wurde der Begriff Rassismus in deutschsprachigen Debatten politisch, aber auch sozialwissenschaftlich nicht nur selten benutzt, er war geradezu tabuisiert (vgl. etwa Kossek 1999). Die Zurückweisung des Rassismusbegriffs im deutschsprachigen Raum muss in engem Zusammenhang mit der Auseinandersetzung ‚Nachkriegsdeutschlands’ mit dem Nationalsozialismus, der geschichtlichen Tatsache des Dritten Reiches verstanden werden. ‚Rassismus’ war keine Kategorie der Beschreibung deutscher Realität, weil diese Beschreibung mit etwas gleichgesetzt wurde, das nicht sein durfte: die Kontinuität zum Nationalsozialismus (vgl. Kalpaka/Räthzel 1990). Mit der rassismustheoretischen Perspektive verbindet sich nun die Frage, was wir sehen und erkennen, wenn wir erstens von der Relevanz rassistischer Unterscheidungsweisen ausgehen und zweitens diese Relevanz nicht als außergewöhnlich, auf außergewöhnliche Situationen und Menschen beschränkt, sondern Rassismus als durchaus gewöhnliches und gesellschaftliche Normalität kennzeichnendes und diese herstellendes Unterscheidungsschema verstehen. Rassismus drückt sich nicht nur in Übergriffen auf Migrantinnen und Migranten aus, und er existiert nicht allein in verselbstständigten gesellschaftlichen Strukturen, für die niemand verantwortlich zu sein scheint. Auch wenn eine Äußerung nicht rassis-
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tisch gemeint ist, kann sie rassistische Effekte zur Folge haben und die betroffenen Menschen beschämen und verletzen. So ist die – durchaus freundlich gemeinte – Frage „Wo kommen Sie her?“ ein Beispiel für eine ambivalente, häufig an rassistische Unterscheidungen anschließende und diese bekräftigende Frage: Sie signalisiert zwar einerseits Interesse seitens der fragenden Person gegenüber der als ‚fremd’ wahrgenommen Person, andererseits beinhaltet die Frage eine subtile Form der Unterscheidung und der Ausgrenzung: „Wo kommen Sie her?“ beinhaltet auch die Unterstellung „Hier gehören Sie nicht hin!“ oder „Zu uns gehören Sie aber nicht!“ Kann Freundlichkeit rassistisch sein? Können freundlich gemeinte Äußerungen als rassistisch, also verletzend, wahrgenommen werden? Birgit Rommelspacher verweist auf das entscheidende Kriterium: „Man muss jedoch nur einmal versuchen, sich in die Person hineinzuversetzen, die z. B. ständig gefragt wird, woher sie komme, um sich klar zu machen, dass die Wirkung einer solchen Frage nicht unbedingt mit dem übereinstimmen muss, was man selbst beabsichtigt hat“ (Rommelspacher 2003, 1). Dementsprechend spricht Rommelspacher auch von dem eher beiläufigen Charakter des Alltagsrassismus, der geradezu ein Bestandteil der Alltagskultur sei. Er sei bei Menschen anzutreffen, die sich politisch links, liberal oder auch konservativ verstehen und die sich den demokratischen Grundsätzen dieser Gesellschaft verpflichtet fühlen. Alltagsrassismus ist in der Regel weit vom Willen zur Diskriminierung entfernt. Alltagsrassismus kann mit einer freundlichen Interessensbekundung einhergehen, mit Neugierde, die in ihr unbeabsichtigtes Gegenteil kippt. Neugierde ist häufig positiv konnotiert, im Sinne von ‚aufgeschlossen’ oder ‚interessiert an anderen Menschen’. Dass Neugierde auch verletzten kann, die Obszönität der Neugier wird zu wenig registriert. Grada Ferreira interpretiert Erfahrungen der übergriffigen Neugierde, der Grenzverletzung, der offenen oder verdeckten rassistischen Zuschreibungen, die eben auch als vermeintliches Lob, als Herausstellung angeblich attraktiver körperlicher Merkmale etc. daherkommen: „Nicht nur süße und bittere Worte machen es schwer, Rassismus zu identifizieren; sondern das Spiel süßer und bitterer Worte ist eine Form, in der Rassismus produziert wird. Die Schwierigkeit, Rassismus zu identifizieren, ist nicht nur funktional für Rassismus, sondern ein Teil des Rassismus selbst“ (Ferreira 2003, 156, Hervorhebung im Original). Alltäglicher Rassis-
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mus legitimiert gesellschaftliche Mechanismen der Ungleichheitskonstruktion durch Bezug auf nationale, ethnische und kulturelle Herkunft. Dabei geht es vor allem darum, „die Bedeutung von Menschen innerhalb der Gesellschaft zu bestimmen: Wer hat Prestige, wer hat das Sagen, wessen Stimme wird gehört und welche wird zum Schweigen gebracht“ (Rommelspacher 2003, 4). Mit dem Begriff Rassismus wird ein analytischer Blick auf einen allgemeinen Zusammenhang angeboten, der sich auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Zusammenlebens in mannigfaltiger und sich wandelnder Form manifestiert. Rassismus ist ein allgemein zur Verfügung stehendes und wirksames Deutungsschema, eine Deutungs- und Handlungsoption, die hinsichtlich ihrer Bedeutungen, Verankerungen und Effekte auf ideologisch-diskursivkultureller, strukturell-gesellschaftlicher, institutionell-organisationeller, interaktiver sowie intrapersonal-subjektiver Dimension untersucht werden kann. Das machtvolle System der Unterscheidung, das Rassismus und von rassistischen Ordnungen nahegelegte Erfahrungen hervorbringt, wird von Stuart Hall (2000) als „diskursive Praxis“ thematisiert, als ein mehrdimensionaler, dynamischer Prozess der Produktion von Wissen, der Verwirklichung von Macht und letztlich von Subjekten. Rassismus ist ein Komplex, in dem WissenMacht-Verschränkungen eine Grundlage von Subjektivierungsprozessen ausbildet. Robert Miles hat mit dem Begriff racialisation darauf verwiesen, dass in der Idee und Praxis der ‚Rasse’ unterscheidung biologische „Merkmale dergestalt strukturiert werden, daß sie differenzierte gesellschaftliche Gruppen definieren und konstruieren.“ (Miles 1992, 100). Rassismus nimmt insofern nicht nur eine macht- und gewaltvolle Platzierung und Bewertung von Menschen vor, grundlegender noch setzt die rassistische Ordnung mit der von an ‚Rasse’konstruktionen anschließenden Herstellung und Unterscheidung zwischen ‚Wir’ und ‚Nicht-Wir’ eine machvolle Differenzierungslogik in die Welt, die die Welt, aus der sie stammt und auf die sie bezogen ist, strukturiert. Rassistische Zugehörigkeitsordnungen unterscheiden; in ihnen werden Menschen erstens so unterschieden, dass ihnen differentielle gesellschaftliche Positionen zugewiesen werden und diese Zuweisungspraxis und der ihr nachfolgenden Konsequenzen für das Handeln und Selbst- und Weltverständnis der Menschen als gerechtfertigt erscheinen. Der Code rassistischer Unterscheidung
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stützt sich hierbei nicht allein auf äußerliche Merkmale wie Hautund Haarfarbe. Auch ‚kulturell’ oder ‚ethnisch’ performante Figuren können eine Affinität zu rassistischen Unterscheidungen aufweisen. Mit ‚Kultur’ oder ‚Ethnizität’ argumentierende Positionen schließen dann an rassistische Unterscheidungen an, wenn ‚kulturelle’ oder ‚ethnische’ Unterschiede zwischen Menschen mit Entsprechungen ‚des Seelenlebens’ oder ‚Mentalitäten’ verknüpft werden, und diese seelischen Unterschiede so gewertet werden, dass die unterschiedliche Verteilung von Privilegien legitimiert wird (vgl. Kalpaka/Räthzel 1990, 15). Nach der offiziellen Ächtung des Rassismus weltweit ab der Mitte des 20. Jahrhunderts ist das rassistische Ordnungssystem nicht einfach verschwunden. Vielmehr hat es sich gewandelt. So finden sich Formen des Rassismus in Argumentationen, die unterschiedliche kulturelle Traditionen als inkompatibel ansehen. Solche Formen bezeichnet Balibar in Anlehnung an Taguieff als „differentialistischen Rassismus“ (Balibar 1990, 28). Die ‚Anderen’ werden entlang des Kriteriums ‚kulturelle Identität’ in Kategorien eingeteilt und in Differenz zum Beispiel zur ‚deutschen (Leit-)Kultur’ gesetzt. Der Begriff Kultur schließt in diesem Zusammenhang an das Denken an, das durch ‚Rasse’konstruktionen möglich wurde und ersetzt, verlängert und verschiebt in gewisser Weise den Begriff ‚Rasse’. Dies wird deutlich, wenn Funktionen und Effekte der differentialistischen Unterscheidung betrachtet werden. ‚Kulturelle Differenz’ dient im Anschluss an kolonial-rassistische Praxen unter anderem dazu, die ‚nützlichen Anderen’ von den ‚weniger nützlichen Anderen’, die, in moderner Terminologie, ‚integrationsbereiten und -fähigen’ von den das Gefüge gesellschaftlicher Ordnung problematisierenden ‚integrationsunwillige’ Anderen zu unterscheiden (vgl. z. B. Ha/Schmitz 2006). Neuere Formen des Rassismus argumentieren nicht mehr mit ‚rassischer Reinheit’ und dem Erfordernis, diese zu schützen. Vielmehr geht es in der modernen Variante um die Bewahrung der eigenen ‚kulturellen Identität’ (vgl. Morgenstern 2002, 112), ihrem Schutz vor Überfremdung und Minorisierung. In Debatten wie jener um die so genannte ‚Leitkultur’ werden Bezüge auf rassistische Unterscheidungen hergestellt, ohne dass dies gewollt oder den Akteuren gar bewusst sein muss. Statische, das Wesen größerer Kollektive behauptende Kulturverständnisse, die Assoziationen von Kulturen, Körpern und Territorien herstellen, wie sie nicht nur in politischen und medialen De-
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batten, sondern auch in pädagogischen und außerpädagogischen Konzepten zu ‚interkulturellem Lernen’ oder ‚interkultureller Kompetenz’ anzutreffen sind, stellen insofern einen möglichen Schlupfwinkel von Rassekonstruktionen dar, um aus diesem Versteck heraus semantisch unterscheidende, praktisch bedeutsame und legitimatorisch-normativ plausible Wirkungen zu entfalten.2 Rassistische Ordnungen stellen Maßstäbe zur Verfügung, die kontextspezifische Geltung und Vorherrschaft entfalten. Ordnungen können in Anlehnung an den Strukturierungsansatz von Anthony Giddens (1997) als relativ dauerhafte Signifikations-, Dominations- und Legitimationszusammenhänge verstanden werden.3 Rassistische Ordnungen weisen somit bestimmte semantische Codes auf, sind gekennzeichnet durch symbolische und materielle Ressourcen- und Machtverteilungen und umfassen normative Regeln, die als universalistische, konventionelle oder juridische Gebote in Erscheinung treten. Auch, wenn soziale Ordnungen in dem hier skizzierten Sinne bedeutsame Rahmungen und Bedingungen von Handlungen und Selbstverständnissen darstellen, so sind Menschen keine ‚Deppen der Ordnungen’. Sie sind grundsätzlich in der Lage, sich zu den Ordnungen zu verhalten, die Wirkung dieser Ordnungen zu suspendieren. Ordnungen unterliegen Wandlungen, nicht zuletzt 2 3
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Zur Problematisierung der Konstruktion des Anderen als Anderen in der interkulturellen Bildung vgl. Broden 2009. Soziale Akteure beziehen sich in ihrem Handeln kontextspezifisch auf Regeln und Ressourcen. In diesen Handlungen raumzeitlich situierter Akteure gründen sich soziale Systeme (Giddens 1997, 77), wobei der Systembegriff bei Giddens über Raum und Zeit hinweg reproduzierte soziale Praktiken meint, in denen sich eine Ordnung sozialer Beziehungen ausdrückt. Strukturen verweisen auf gemeinsame Regeln und verteilte Ressourcen, die soziales Handeln und soziale Systeme relationieren. Signifikation, Herrschaft, Legitimation sind nun jene strukturelle Dimensionen oder Strukturmomente, die soziale Systeme nach Giddens kennzeichnen. Jedes soziale System ist im Hinblick auf strukturelle Momente der Konstitution von semantischer Bedeutung, wechselseitiger Beeinflussung und normativer Begründung charakterisierbar. Der soziale Sinn bestimmter Praxen wird hervorgebracht durch übersituative und Situationen überhaupt erst als solche konstituierenden Signifikations-, Herrschaftsund Legitimationszusammenhänge.
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aufgrund der Kämpfe, die um sie (und in ihnen) geführt werden, sie verschieben sich und sind verschiebbar. Diese Kontingenz rassistischer Ordnungen ist Voraussetzung rassismuskritischer Pädagogik (vgl. Mecheril/Castro Varela/Dirim/Kalpaka/Melter 2010). Mit Hilfe von rassistischen Zugehörigkeits- und Differenzordnungen wird gesellschaftliche Realität und die eigene Position in ihr erfahren, begriffen und verstanden. Diese Zugehörigkeits- und Differenzordnungen strukturieren und konstituieren Erfahrungen, sie normieren und subjektivieren, rufen, historisch aufklärbar, Individuen als Subjekte an. Bei kulturrassistischen Ordnungen, die aufgrund ihrer grundlegenden sozialen, politischen und individuellen Bedeutung als fundamental bezeichnet werden können, handelt es sich um Ordnungen, die biographisch früh strukturierend auf Erfahrungen, Verständnisweisen und Praxisformen wirken. Solche fundamentalen Differenzordnungen bezeichnen (immer gegebene) Hintergrunderwartungen, die auch dann strukturierend wirken, wenn sie nicht explizites Thema sozialer Situationen sind. Die sozialisierende Wirkung der kulturrassistischen Zugehörigkeitsordnung besteht darin, dass sie Selbstverständnisse praktisch, kognitiv-explizit, aber auch sinnlich-leiblich vermitteln, in denen sich soziale Positionen und Lagerungen spiegeln. Rassistische Ordnungen vermitteln in der Weise Normalität als sie ein Verständnis der sozialen Welt, in dem sich die je eigene Stellung in ihr darstellt, ermöglichen. Die rassistische Ordnung wirkt also nicht allein als ‚äußerliche’ Verteilung von Ressourcen, sondern ist auch in dem Sinne produktiv, dass sie auf Selbstverständnisse und -praxen einwirkt – nicht nur derer, die in der rassistischen Ordnung inferiore Positionen einnehmen. Interessant ist hierbei, dass, wie beispielsweise in einer empirischen Studie für den US-amerikanischen Kontext beschrieben wird, ein allgemeines Merkmal der sozialen Konstruktion von ‚Rasse’, darin besteht, dass Weiße Menschen Schwarze Menschen als Menschen mit ‚race’ charakterisieren, während sie sich selbst im Hinblick auf ‚race’ nicht thematisieren (Hill Collins 1996, 86). Mit Bezug auf den deutschen Kontext spricht Ursula Wachendorfer davon (1998), dass hier der Thematisierung und Wahrnehmung des ‚Schwarz-Seins’ der ‚Anderen’ die Dethematisierung und Nicht-Wahrnehmung des eigenen ‚Weiß-Seins’ entgegenstehe.
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Mit dem Hinweis auf die Normalität des Rassismus wird eine mit Hilfe von Selbstverständlichkeiten wirkende Ordnung angesprochen, die an Rassekonstruktionen anschließende natio-ethnokulturelle (vgl. Mecheril/Castro Varela/Dirim/Kalpaka/Melter 2010) Unterscheidungen auf der Dimension semantischer Codes, Macht- und Ressourcenverteilung sowie normativen Haltungen vornimmt. Der Ausdruck Normalisierung macht hierbei auf Prozesse der Herstellung dieser Ordnung und das heißt der Herstellung als legitim geltender Herrschaftsverhältnisse, also auf die Herstellung institutionalisierter, eine gewisse Dauerhaftigkeit aufweisender, temporär verfestigter, strukturierter und strukturierender sozialer Verhältnisse aufmerksam, in der die Möglichkeiten wechselseitiger Einflussnahme (Macht) asymmetrisch verteilt sind. Herrschaftsverhältnisse, auch rassistische, sind durch eine Art Selbstverständlichkeit charakterisiert, die sie als gelebte und auf eine verfestigte, vergewöhnende Geschichte zurückblickende Realität asymmetrischer Beziehungen ein Stück ‚natürlich’ erscheinen lassen. Formellen und informellen Bildungszusammenhängen kommt nun in Hinblick auf rassistische Normalisierungs- und Subjektierungsprozesse in vielfältiger Weise eine signifikante Bedeutung zu. Wie sich diese Prozesse vollziehen, wird in den Beiträgen des vorliegenden Buches an exemplarischen Frage- und Problemstellungen zum Thema. Als gemeinsames Interesse der Beiträge kann erstens die Analyse rassistischer Normalität und Normalisierung in alltäglichen Kontexten und formellen Bildungsinstitutionen angegeben werden. Rassismus wird in formellen Bildungskontexten wie der Schule oder erwachsenenbildnerischen Arrangements auf zweifach Weise relevant: als Bildungsgegenstand (etwa in explizit rassismuskritischer politischen Bildung) und als Phänomen, das durch rassistische Unterscheidungen in den Bildungsinstitutionen (zumeist maskiert und in Weltverständnissen von Pädagogen und Pädagoginnen, zum Beispiel Lehrerinnen, eingelassen oder in Materialien, Bildern und Texten materialisiert) hergestellt und bekräftigt wird. Insofern Rassismus eine allgemeine Deutungs- und Handlungsoption darstellt, steht diese auch (in) Bildungsinstitutionen zur Verfügung. Mehr noch: Sie wird in den Institutionen gesellschaftlich wirklich gemacht, da Bildungsinstitutionen, insbesondere die Schule, als bedeutsamer Teil gesellschaftlicher Reproduktion zu verstehen sind: Hier lernen die Individuen sich, die Welt und die Anderen
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kennen. Zugleich findet in Bildungsinstitutionen nicht schlicht die unverrückte Wiederholung des ewig Gleichen satt; die Reproduktion gesellschaftlicher Wirklichkeit in Bildungskontexten verschiebt diese Wirklichkeit auch immer, verrückt und modifiziert sie. Normalitätsordnungen werden in und durch Bildungskontexte wiederholt und verschoben; diese strukturelle ‚Schwäche’ der Wiederholung nutzt der rassismuskritische Ansatz, der für die Beiträge in diesem Buch kennzeichnend ist. Rassismuskritik kann in einem allgemeinen Sinne als kunstvolle, notwendig reflexive, beständig zu entwickelnde und unabschließbare, gleichwohl entschiedene Praxis der Analyse und der Artikulation verstanden werden, die von der Überzeugung getragen wird, dass es sinnvoll ist, nicht in dieser Weise auf rassistische Handlungs-, Erfahrungsund Denkformen angewiesen zu sein (vgl. Melter/Mecheril 2009; Scharathow/Leiprecht 2009). Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil (Rassismus, Normalität, Unterscheidungspraxen) finden sich Beiträge, die in den grundlegenden Zusammenhang des Themenfeldes einführen: Die Normalität rassistischer Unterscheidungspraxen. Die Beiträge des zweiten Teils (Rassismus, Subjektivierungen, Bildungsarbeit) widmen sich aus unterschiedlichen Perspektiven und in exemplarischer Einstellung dem zum einen auch von rassistischen Unterscheidungen vermittelten Geschehen, zum anderen diese Unterscheidungen vermittelndem Geschehen in vorschulischen, schulischen und außerschulischen, zum Teil explizit antirassistisch adressierten, zum Teil nicht explizit rassismuskritisch orientierten Bildungssituationen. Zu den Beiträgen im Einzelnen: Teil 1: Margarete Jäger beschreibt das Verhältnis von Normalität und Rassismus als ein paradoxes Verhältnis, da Rassismus den universellen Werten der (bundesdeutschen) Gesellschaft widerspricht und insofern als nicht normal gewertet wird. Andererseits zeigt die Autorin anhand empirischer Untersuchungen auf, wie Rassismus als fester Bestandteil dieser Gesellschaft als normal angesehen werden muss und erklärt diese Paradoxie aus diskursanalytischer Perspektive.
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Astrid Messerschmidt geht der rassistischen Normalität auf dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Bundesrepublik Deutschland nach und zeigt vier verschiedene Umgangsweisen mit Rassismus auf: die Skandalisierung, die Verlagerung in den Rechtsextremismus, die Kulturalisierung und die Verschiebung in die Vergangenheit. Auch die Funktionsweise dieser vier Varianten wird angesprochen. Maureen Maisha Eggers erläutert in ihrem Beitrag, dass dominante gesellschaftliche Positionen sich in der ökonomischen Logik des Marktes auf das Themenfeld Differenz, Vielfalt und Pluralität beziehen und dieser Bezug die Begünstigung der Angehörigen einer dominanten gesellschaftlichen Gruppe durch Beibehaltung der Verfügung über mächtige Symbole fortsetzt. Da das oppositionell und dichotom ausgerichtete Ordnungssystem des Rassismus ein allgemeines Deutungsschema ist, geht die Einsicht in diese Normalität des Rassismus mit der Ambition einer ebenso allgemeinen Rassismuskritik einher. Wiebke Scharathow problematisiert in ihrem Beitrag von rassistischen Unterscheidungen vermittelten Beziehungen zwischen mehrheitsangehörigen Forschenden und minderheitsangehörigen Beforschten. Dabei plädiert sie für eine subjektorientierte, intervenierende und politisierende Forschung. Im Beitrag von Astride Velho werden Herabwürdigungen und Unterwerfungen durch das herrschende Ordnungssystem in ihren Auswirkungen auf die Subjektivierung von Minorisierten fokussiert. Die Autorin geht der Frage nach, wie psychische Effekte eine Bindung der Minorisierten an dieses macht- und gewaltvolle System bewirken. Darüber hinaus werden Perspektiven auf Handlungsfähigkeit und widerständige Praxen entwickelt. Teil 2: Eske Wollrad problematisiert weiße Wissensbestände, den Erwerb von Wissen, seine Tilgungen und Überschreibungen sowie die damit einhergehenden Subjektivierungen und Subjektpositionierungen. Dabei geht es u. a. um die Ausblendung der eigenen weißen Subjektposition, um Selbstreflexivität und um das Einbringen eigener Erfahrungen als Ressource für Gesellschaftskritik, indem die Erfahrungen mit theoretischem Wissen zusammengeführt werden.
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Claudia Machold untersucht in ihrem Artikel kulturelle Praxen von Kindern in einer Kindertagesstätte. Die Unterscheidungspraxen von Kindern interpretiert die Autorin als Hinweis auf die Normalität von gesellschaftlich relevanten Unterscheidungsphänomen, da bereits der kindlichen Bedeutungsproduktion rassistische Unterscheidungsmerkmale zur Verfügung stehen. Schulspezifische Aspekte der Normalität von Rassismus werden im Beitrag von Thomas Quehl angesprochen, indem er die Bildungsbenachteiligung der Schüler/innen mit Migrationshintergrund beschreibt. Der Autor entwickelt Perspektiven und Argumentationslinien, mit denen Bestrebungen unterstützt werden können, die diese Normalität problematisieren. Nadine Rose thematisiert die Inszenierung von (Migrations)Anderen im schulischen Kontext und problematisiert mit ihrer empirischen Analyse rassismusrelevante Bildungsprozesse. Die Autorin geht der Frage nach, was als Subjektivierung unter den Bedingungen rassistischer Normalität verstanden werden kann. Darüber hinaus befragt sie das Verhältnis von Subjektivierung und Bildung und skizziert die subtile Ordnung, in deren Rahmen rassismusrelevantes Handeln in der Schule subjektiviert und bildet. Dass historisch-politische Bildung zum Nationalsozialismus Rassismus stabilisieren kann, ist eine beunruhigende Vorstellung. Tobias Linnemann geht in seinem Beitrag exemplarisch der Frage nach dem Verhältnis der Thematisierung von Nationalsozialismus und Rassismus nach, indem er ein konkretes pädagogisches Setting analysiert. Aus seinen Überlegungen werden Schlüsse für die kritische Reflexion von erinnerungspädagogischen Angeboten im Kontext der postkolonialen und postnationalsozialistischen Migrationsgesellschaft gezogen. Ausgehend von der eigenen beruflichen Praxis reflektiert Andreas Foitzik seine Arbeit im interkulturellen/rassismuskritischen Themenfeld. Er reflektiert Praxen interkultureller Fortbildungen unter den Aspekten der Konstruktion und der Abwertung der Anderen sowie der Macht der Mehrheitsangehörigen, problematisiert die Dethematisierung oder das Verschweigen von Rassismus und Rassismuserfahrungen und zeigt Ansatzpunkte für eine Thematisierung von Rassismus in interkulturellen Fortbildungen auf.
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ANNE BRODEN & PAUL MECHERIL
Literatur Althusser, Louis (1973): Marxismus und Ideologie. Probleme der Marx-Interpretation, Berlin Balibar, Etienne (1990): Gibt es einen „Neo-Rassismus“? In: Balibar, Etienne/Wallerstein, Immanuel (Hg.): Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg, 23-38. Broden, Anne (2009): Verstehen der Anderen? Rassismuskritische Anmerkungen zu einem zentralen Topos interkultureller Bildung, in: Scharathow, Wiebke/Leiprecht, Rudolf (Hg.): Rassismuskritik: Rassismuskritische Bildungsarbeit, Band 2, Schwalbach/T., 119-134. Ferreira, Grada (2003): Die Kolonisierung des Selbst – der Platz des Schwarzen, in: Steyerl, Hito/Gutiérrez Rodríguez, Encarnación (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, Münster, 146-165. Giddens, Anthony (1997): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt a. M. Ha, Kien Nghi/Schmitz, Markus (2006): Der nationalpädagogische Impetus der deutschen Integrations(dis)kurse im Spiegel post-/kolonialer Kritik, in: Mecheril, Paul/Witsch, Monika (Hg.): Cultural Studies und Pädagogik. Kritische Artikulationen, Bielefeld, 225-262. Hall, Stuart (1999): Kodieren/Dekodieren, in: Bromley, Roger/ Göttlich, Udo/Winter, Carsten (Hg.): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, Lüneburg, 92-110. Hall, Stuart (2000): Rassismus als ideologischer Diskurs, in: Räthzel, Nora (Hg.): Theorien über Rassismus, Hamburg, 7-16. Hill Collins, Patricia (1996): Ist das Persönliche politisch genug? Afrikanisch-amerikanische Frauen und feministische Praxis, in: Fuchs, Brigitte/Habinger, Gabriele (Hg.): Rassismen und Feminismen. Differenzen, Machtverhältnisse und Solidarität unter Frauen, Wien, 67-92. Kalpaka, Annita/Räthzel, Nora (Hg.) (1990): Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein, Berlin Kossek, Brigitte (Hg.) (1999): Gegen-Rassismen. Konstruktionen – Interaktionen – Interventionen, Hamburg Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal (1991): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien
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Mecheril, Paul (2006): Das un-mögliche Subjekt. Ein Blick durch die erkenntnistheoretische Brille der Cultural Studies, in: Keupp, Heiner/Hohl, Joachim (Hg.): Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel. Zur Theorie des Subjekts in der Spätmoderne, Bielefeld, 119-141. Mecheril, Paul/Castro Varela, María do Mar/Dirim, Inci/Kalpaka, Annita/Melter, Claus (2010): Migrationspädagogik, Weinheim/Basel Melter, Claus/Mecheril, Paul (Hg.) (2009): Rassismuskritik: Rassismusforschung und Rassismuserfahrungen, Band 1, Schwalbach/T. Miles, Robert (1992): Rassismus. Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs, Hamburg Morgenstern, Christine (2002): Rassismus – Konturen einer Ideologie. Einwanderung im politischen Diskurs der Bundessrepublik Deutschland, Hamburg Rommelspacher, Birgit (2003): Alltagsrassismus: Erscheinungsformen und Hintergründe, Vortrag auf der 3. Werkstattkonferenz des lokalen Aktionsplans für Toleranz und Demokratie in Potsdam, 21. Oktober 2003, unveröffentlichtes Manuskript. Scharathow, Wiebke/Leiprecht, Rudolf (Hg.) (2009): Rassismuskritik: Rassismuskritische Bildungsarbeit, Band 2, Schwalbach/T. Wachendorfer, Ursula (1998): Soziale Konstruktionen von WeißSein. Zum Selbstverständnis Weißer TherapeutInnen und BeraterInnen, in: Castro Varela, María del Mar/Schulze, Sylvia/Vogelmann, Silvia/Weiß, Anja (Hg.): Suchbewegungen, Interkulturelle Beratung und Therapie, Tübingen, 49-60.
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Rassismus, Normalität, Unterscheidungspraxen
Ras sis mus und Normalität im Al lta gs disk urs . Anme rk unge n z u eine m paradoxe n Verhältnis MARGARETE JÄGER
Al l t ä g l i c h k e i t u n d N o r m a l i t ä t Das Verhältnis von Normalität und Rassismus lässt sich in Deutschland als ein paradoxes beschreiben. Rassismus wird einerseits von der Mehrheitsgesellschaft als eine Einstellung angesehen, die den universellen Werten dieser Gesellschaft diametral widerspricht und insofern als nicht-normal gewertet wird. Andererseits zeigen die Ergebnisse der Rassismusforschung, dass Rassismus ein fester Bestandteil dieser Gesellschaft ist und insofern – bedauerlicherweise – als normal angesehen werden muss. Aus einer diskursanalytischen Perspektive lässt sich diese Paradoxie insofern erklären, als mit ihr die Bedeutung des in den Diskursen produzierten Wissens erfasst wird, mit denen Ausschließungen bzw. Rassismen legitimiert werden. Die dadurch erzeugte Normalität von Rassismus kann dabei als ein Dispositiv, als ein Zusammenhang von sozialen Praxen und Institutionen begriffen werden, der wesentlich durch Diskurse produziert bzw. hergestellt wird. Normalität spielt in Deutschland wie in anderen Industriestaaten auch eine tragende Rolle. Sie charakterisiert einen Kulturtyp, der nahezu alle gesellschaftlichen Sektoren erfasst und durchdringt. In seiner Studie zum Normalismus hat Jürgen Link im Anschluss an die Arbeiten von Michel Foucault diese gesellschaftli-
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che Kultur und Struktur zu erfassen versucht. (vgl. Foucault 1994; Link 2006). Vor dem Hintergrund seiner Analysen lässt sich sagen, dass wir es in Deutschland mit einer hochgradig normalistischen Gesellschaft zu tun haben. Sie zeigen, dass und wie sich dieses Normalitäts-Dispositiv seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts historisch herausgebildet hat. Dabei ist seine produktive Funktion zu betonen. Sie ist darin auszumachen, dass mit seiner Hilfe die dynamischen Wachstums- und Entwicklungsprozesse industrieller Gesellschaften kontrolliert und reguliert werden können. Denn diese Prozesse bergen immer auch die Gefahr in sich, in Chaos umzuschlagen. Deshalb haben sich Verfahrensweisen herausgebildet, mit denen solche Entwicklungen verhindert werden sollen (und können). Kontrolle und Regulation sind deshalb eine wichtige Potenz von Normalismus. Diese Kontrolle und Regulation findet auf der Grundlage von Grenzziehungen statt. Die Grenzen, bis zu denen eine Entwicklung als noch ‚normal’ gilt, werden mittels statistischer Verfahren festgestellt. Die dadurch festgehaltene Normalität ist aber nicht statisch, sondern lässt sich auf einem Kontinuum verschieben, so dass die Dynamik von Entwicklungen aufgefangen werden kann. Was einmal normal ist, muss nicht für immer normal sein. Das heißt, es existieren zwar Grenzen zwischen normal und nicht-normal, doch wo sich diese Grenzen auftun, ist immer eine Frage konkreter gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Ein Beispiel aus der Umweltpolitik kann dies verdeutlichen: Wenn dort Grenzwerte angegeben werden, nach deren Eintreten z. B. Smogalarm angesagt ist, so kann diese Grenze – je nach politischer Einschätzung der Regierenden – mal nach oben und mal nach unten korrigiert werden. Diese prinzipielle Verschiebbarkeit führt bei den in solchen Strukturen agierenden Subjekten zu einer latenten ‚Denormalisierungsangst’. Die in den Massenmedien verbreitet diskutierten Fragen nach dem ‚normalen Verhalten’ und dem, was als politisch normal anzusehen ist, ist gleichzeitig Ausdruck wie auch Produzent dieser latenten Angst. Die prinzipielle Verschiebbarkeit der Normalitätsgrenzen und die daraus folgende Denormalisierungsangst führen zu zwei unterschiedlichen Umgangsweisen damit, wie Normalitätsgrenzen festgelegt bzw. neu justiert werden.
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Eine Strategie, die im 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschte, nennt Jürgen Link die protonormalistische Strategie. In diesem Falle werden möglichst enge und starre Toleranzgrenzen festgelegt, die gegen eine Denormalisierung versichern sollen. Das Risiko dieser Strategie liegt allerdings darin, dass zu enge Grenzen Wachstumsdynamiken auch blockieren können, was wiederum zu Krisen mit daraus folgenden Denormalisierungen führen kann. Im Gegensatz zu der protonormalistischen Strategie legt deshalb eine flexibel-normalistische Strategie möglichst breite Toleranzzonen fest. Solche Toleranzzonen ermöglichen, dass auch bei unvorhergesehenen Dynamiken statistischer Werte die Zonen kurzfristig neu adjustiert und eingestellt werden können. Doch auch diese Strategie birgt Risiken in sich. Sie liegen darin, dass die Grenzen verschwimmen und dadurch Zustände von Denormalität produziert werden können. Eigentlich wäre ein Wechsel zwischen diesen beiden Strategien optimal. Das heißt, wenn eine flexible Herangehensweise versagt, wird sie abgelöst durch eine protonormalistische. Doch ist dies deshalb nicht möglich, weil die beiden Strategien unterschiedliche und in der Tendenz sogar gegensätzliche Subjektivitäten herausbilden, die nicht so ohne weiteres ausgewechselt werden können. Protonormalistische Normalitätsstrategien erfordern und produzieren autoritär strukturierte Subjekte, die gehorchen und also von außen gesteuert werden können; flexibler Normalismus erfordert ein weitgehend ‚autonomes’ Subjekt, das in der Lage ist, sich selbst zu regulieren, das erkennen kann, wann die Toleranzzonen ausgeschöpft sind. Bezogen auf die Dominanz dieser unterschiedlichen Strategien kann – so Jürgen Link – gesagt werden, dass die flexibel-normalistische Strategie sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den USA und nach 1945 in allen so genannten abendländischen Kulturen als dominante Strategie durchgesetzt hat. Unter Berücksichtigung dieser Zusammenhänge ist es sinnvoll, Alltäglichkeit und Normalität voneinander zu unterscheiden, da Normalität nicht nur im Alltag und in mediopolitischen Diskursen, sondern auch in der Wissenschaft eine herausragende Rolle spielt.
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Massenmedien und Normalität Es sind vor allem die modernen Massenmedien, die normalistisches Wissen verbreiten. Sie tun dies z. B. in Gestalt von Daten, Kurven, Durchschnitts- und Toleranzwerten und liefern damit den Gesellschaftsmitgliedern die Applikationen für ‚normales’ Verhalten. Ein Beispiel, das gleichzeitig einschneidend für diese Funktion war, ist die Veröffentlichung des Kinsey-Reports, die enormen Einfluss auf das Sexualverhalten der Menschen hatte. Nach Veröffentlichung dieses Reports wussten die Amerikaner, ob ihr sexuelles Verhalten normal ist oder nicht. Sie konnten die veröffentlichten Daten zur Grundlage ihres eigenen Verhaltens machen oder auch ihr Verhalten dadurch legitimieren. Zu der Funktion der Verbreitung von Daten und Fakten durch die Massenmedien gehört auch die Versorgung der Bevölkerung mit Meinungsumfragen. Meinungsumfragen erfüllen eine ganz fundamentale normalistische Funktion. Mit Umfragen oder auch mit der Inszenierung so genannter ‚offener Debatten’ wird ein ‚normales’ Meinungsspektrum organisiert. Es werden symbolisch die jeweilige ‚Mitte’ und die ‚Extreme’, also die Normalitätsgrenzen dieses Spektrums markiert und häufig erst mit etabliert. Dabei kann die Tatsache, dass die Medien insgesamt pluralistisch über bestimmte Themen und Ereignisse berichten, selbst noch mal dafür sorgen, dass Normalisierung integrierend wirkt. Nicht eines der Organe definiert schließlich, was normal ist und was nicht, es ist die Gesamtheit des Diskurses, die diese Funktion wahrnimmt. Und selbstverständlich können die einzelnen Medien dabei stärker flexibel- oder protonormalistischen Strategien verfolgen.1 In Bezug auf den in der Gesellschaft festzustellenden Rassismus kann allerdings gesagt werden, dass protonormalistische Verfahren überwiegen.
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So kann z. B. für die Bild-Zeitung festgehalten werden, dass sie eher zu protonormalistischen Strategien neigt (vgl. dazu Jäger 1993). Zum Zusammenspiel der unterschiedlicher Printmedien und den damit verbundenen normalisierenden Effekten vgl. z. B. Jäger/Jäger/Ruth/Schulte-Holtey/Wichert 1997.
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D e n o r m a l i s i e r e n d e S ym b o l i k Dass dies so ist, liegt nicht zuletzt an der in den Medien eingesetzten Symbolik, mit der Personen bzw. Personengruppen als nicht zum Kern der Bevölkerung zugehörig codiert werden. Die Medien bedienen sich dabei eines Systems von Kollektivsymbolen, mit denen die Dichotomie ‚Wir’ gegenüber ‚Denen’ beharrlich reproduziert werden kann und das darüber hinaus dazu geeignet ist, diese Personengruppen als eine latente Gefahr zu stilisieren. Dieses System der Kollektivsymbolik lässt sich als eine Art interdiskursiv wirkendes Regelwerk vorstellen, wobei unter interdiskursiv solche Elemente verstanden werden, mit denen sich verschiedene Spezialdiskurse miteinander verschränken.2 Jede moderne Industriegesellschaft verfügt über ein System kollektiver Symbolik. Es dient dazu, dass sich die Personen in ihrer Welt, die dem Einzelnen immer als komplexer Zusammenhang gegenübertritt, zurechtfinden und orientieren können. Mit Hilfe des Systems kollektiver Symbole lässt sich jede Veränderung – und sei sie noch so dramatisch – symbolisch integrieren, und es lässt sich eben zwischen ‚Normalität’ und ‚Abweichung’ unterscheiden. Unter Kollektivsymbolik ist dabei die „Gesamtheit der so genannten ‚Bildlichkeit’ einer Kultur [zu verstehen], die Gesamtheit ihrer am weitesten verbreiteten Allegorien und Embleme, Metaphern, Exempelfälle, anschaulichen Modelle und orientierenden Topiken, Vergleiche und Analogien“ (Link 1997, 25). Sie verdichtet und vereinfacht symbolisch das heute gültige Bild von der Gesellschaft und ihrer Wirkungsweise und stellt damit ein prinzipielles Deutungsmuster dar, auf das alle Gesellschaftsmitglieder zugreifen können. Man muss nichts oder nicht viel z. B. über die Krankheit Krebs wissen, um zu verstehen, was mit der Aussage ‚Terror ist der Krebs der Gesellschaft’ gemeint ist (vgl. Drews/ Gerhard/Link 1985, 265). Kollektivsymbole entfalten ihre Wirkung innerhalb eines topischen Systems, das für westliche moderne Industriegesellschaften folgendermaßen skizziert werden kann:
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Der medienpolitische Diskurs als ein in hohem Maße interdiskursiver Diskurs ist deshalb besonders kollektivsymbolisch aufgeladen.
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Die Grundstruktur lässt sich als ein Kreis vorstellen, dessen Grenzen gleichzeitig auch die Grenzen des sozialen Systems symbolisieren. Dieses soziale System lässt sich horizontal, vertikal und diagonal dualistisch zweiteilen, so dass sich unterschiedliche Achsen ergeben. Eine horizontale Achse lässt sich als Rechts-Mitte-Links-Achse vor allem für eine Verortung politischer Positionen, Parteien, Gruppierungen etc. einsetzen. Eine vertikale Oben-Unten-Achse hebt zum einen auf die hierarchische Gliederung des SymbolSystems ab. Sie kann auch als Körper topografiert werden, dessen Kopf im oberen Teil, dessen Herz in der Mitte und dessen Genitalien unten lokalisiert werden. Schließlich lässt sich durch eine diagonale Achse Fortschritt bzw. Rückschritt des Systems markieren. Dieses Kreissystem wird durch verschiedene gestaffelte Grenzen nach Außen hin abgegrenzt. Sie zeigen an, wann das System bedroht ist und Handlungsbedarf zur Abwendung dieser Gefahr besteht. Eine Störung liegt der Mitte am nahesten und kann schnell wieder behoben werden. Ihr folgt eine Extremismusgrenze, die durch eine Fanatismus- und Gewaltgrenze und schließlich eine Terrorgrenze gesteigert wird. Die symbolische Codierung von Ereignissen innerhalb bzw. außerhalb dieser Grenzen ruft zu Maßnahmen auf, mit denen wieder ein Zustand von ‚Normalität’ herbeigeführt werden soll. Diese Grundtopik wird nun durch verschiedene Symbolserien konkret ‚aufgefüllt’ und damit ‚sprechend’ gemacht. Für alle Konfliktdiskurse, wie z. B. dem Einwanderungsdiskurs, in dem rassistische Aussagen aufzufinden sind, sind diese Symbole besonders wichtig, da mit ihnen die Bereiche Innen und Außen codiert werden (können). Und diese sind für die Subjektbildung der Beteiligten von großer Bedeutung. Mit diesen Symbolen bzw. Symbolserien kann markiert werden, wer zur eigenen Gruppe gehört und bei wem dies nicht der Fall ist, wer also Freund und wer Feind ist. Bei den Symbolen lassen sich nun entscheidende Unterschiede festhalten. Die Innenwelt, also ‚der Westen’ oder ‚Deutschland’, wird in der Regel mit Symbolen belegt, die als lenkbar und ausrechenbar gelten, zum Beispiel als Flugzeug, Auto, Schiff, Haus etc. Diesen Symbolen wohnt so etwas wie ein Subjektstatus inne, ‚Subjekt’ verstanden als eine autonome, zurechnungsfähige, quasijuristische Person oder als ein Rechts-Subjekt. Dagegen gelten für
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die Außenwelt Symbole ohne diesen Subjektstatus wie etwa Ungeziefer, Stürme, Fluten, Gifte etc. Der Innenbereich, das eigene System, wird als ein Körper mit Kopf imaginiert, der sich Therapien gegen Krankheiten überlegen kann; es ist ein Auto mit Fahrer, der den Fuß vom Gas nehmen kann, es ist ein Haus mit vernünftigen Bewohner/inne/n, die die Tür zumachen können usw. Das alles gilt nicht für das Außen, das mit Chaos, Krankheit, Naturgewalten etc. codiert wird. Solche Symbole tragen durch ihre bildliche Logik dazu bei, dass die durch sie charakterisierten Zustände als unberechenbar und nicht kontrollierbar erscheinen. Auf dieser Grundlage trägt der Einsatz von Kollektivsymbolen erheblich zur Strukturierung von Diskursen bei, auch deshalb, weil mit ihrer Codierung gleichzeitig auch Handlungsanweisungen vorgegeben bzw. nahegelegt werden.3 Untersuchungen zum Einwanderungsdiskurs in den Medien haben gezeigt, dass fast durchgängig mit solchen entsubjektivierenden Symbolen gearbeitet wird, wenn es um die Darstellung des (vermeintlich) Außen geht. Schlagwortartig lässt sich dies an der Flutsymbolik verdeutlichen, wenn Einwander/er/innen oder Flüchtlinge als Fluten codiert werden, gegen die Dämme errichtet werden müssen. Ein weiteres Beispiel ist die Militärsymbolik, wenn Einwanderungsprozesse mit einer Zeitbombe gleichgesetzt werden. Nicht zuletzt durch den Einsatz solcher Symbole in Medien und Politik konnte eine aufgeheizte Stimmung gegenüber Einwanderern, Einwanderinnen und Flüchtlingen erzeugt werden, die in den 1990er Jahren zu pogromartigen Überfällen auf dieselben führte.
R a s s i s m u s i m Al l t a g s d i s k u r s Diskursanalytische Untersuchungen haben darüber hinaus gezeigt, dass sich die Aussagen des mediopolitischen Diskurses
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Dies geschieht nicht durch die Wirkung eines einzelnen Kollektivsymbols, sondern durch deren ständige Wiederholung (Rekurrenz). Dadurch können sie zu einer ‚Fähre’ werden, mit dem Wissen ins Bewusstsein der Menschen ‚transportiert’ wird. Zum Verhältnis von Diskurs, Wissen und Handeln vgl. Jäger 2004 und Jäger/Jäger 2007.
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auch im Alltag wiederfinden. Wir begegnen dort etwa dem gleichen Katalog stereotyper negativer Bewertungen von vermeintlich fremden Personen bzw. Personengruppen. Allerdings geschieht dies im Alltagsdiskurs nicht in derart elaborierter Weise: „Jaa, ich sach ma so, eh, von hundert Türken sind –, oder Ausländer sach ich ma, von hundert Ausländer sind sind ma zwanzig Prozent in Ordnung. Den Rest kann `se vergessen, sach ich jetzt mal. So seh ich dat auch, ne. Weil dat sieht man schon an `en Jugendlichen hier. Bei uns zum Beispiel is dat ganz extrem mit die Türken. Also is sogar viel mit Türken hier in Bismarck, dat is ja –, wo du gehst und stehst, da is Döner, eh, Döner-Laden. Dann is en Kaffee-Ding oder wat Tee-Shop, wat die da haben, wat weiß ich. Da müssen Se ma abends –, da kann `se gar nich aufe Straße gehn. Also ich könnte schon, nur so wie Sie jetzt oder en Mädchen oder wat, die dürfte ja gar nich dann auf die Straße, weil die ganze Straße is da besetzt von Türken. Und wat die für Autos alle fahrn, ne. Ich mein, die sagen, die ha `m kein Geld. Die fahren alle BMW, Mercedes und wat weiß ich noch alles, ne. Ja, und dat find ich irgend so `n bißchen frustrierend, sag ich ma. Weil die ganz –, wie gesagt, die ganzen Bismarck hier, nur Türken. Ja, dat –, fähr `se da, is en Obstwagen von Türke. Wat is en da? Wieder en Döner-Laden. Da is –. Dat is –, sollen se au machen, wie se wollen. Die solln ja au ihr Geld verdienen, dat is mir ja egal. Nur die die Jugendlichen, ne, dat sind so welche, die jetzt, eh, au die Mädchen anmachen oder so, ne. Oder meine Schwester, die geht da mitm Kind vorbei, dann pfeifen und so `ne Scheiße. Jetzt mach du dat aber mal mit ne –, sag ich mal, en Türkenmädchen geht da vorbei und du pfeifst, jaa, wirst doch samm- zusammengeschlagen ...“ 4
In dieser Textpassage sind fast alle Bewertungen enthalten, die im Alltagsdiskurs auftauchen – wenn auch nicht immer in dieser Dichte: Ausländer = Türke = Ausländer sind abzulehnen, denn: • Sie treten in Massen auf. • Sie sind laut.
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Diese Textpassage ist einem Interview entnommen, das in Verbindung mit der Untersuchung eines Stadtteildiskurses entstanden ist, in dem es auch um das Zusammenleben von Personen deutscher und nicht-deutscher Herkunft ging (vgl. dazu Jäger/Cleve/Ruth/ Jäger 2002, Interview 02/504-522).
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Sie machen sich in ‚unseren’ Städten breit, verdrängen die ‚Eingeborenen’. Sie verhalten sich ungebührlich gegenüber ‚unseren’ Frauen. Es geht ihnen besser als deutschen Personen. Sie sind gewalttätig.
Interessant und typisch ist hier aber auch die Gedanken- bzw. die Assoziationskette, mit der quasi automatisch eine Bedrohungsangst bis hin zum Einsatz physischer Gewalt aufgebaut wird. Im Ausgangspunkt wird bereits von einer Masse („hundert Türken“) gesprochen, die den Deutschen, „wo du gehst und stehst“, den Platz wegnehmen, „weil die ganze Straße is da besetzt von Türken“. Vor allem in der Dunkelheit geschieht dies – wo es bekanntlich immer gefährlich ist: „abends –, da kann `se gar nich aufe Straße gehn“. Durch diese Imaginierung wird nun ein neuer Bedeutungskomplex aufgerufen: Die schutzlose Frau, die von dieser Masse bedroht wird. Gleichzeitig wird durch den ‚Tatort‘ Straße ein wichtiges Symbol deutschen Reichtums, das Auto, assoziiert. Als Symbol gelesen, das den bescheidenen Wohlstand des deutschen Mannes präsentiert, wird diesem dieser Reichtum durch Türken streitig gemacht. Und es kommt noch schlimmer: Türken sind reicher als Deutsche, sie fahren größere Autos: „BMW, Mercedes“. Hier kommt Sozialneid auf, der dann besonders schmerzhaft ist, wenn Personen, die in der sozialen Hierarchie vermeintlich unter der eigenen Position stehen, Dinge zur Verfügung haben, die man sich selbst wünscht, sich aber nicht leisten kann. Solche Menschen müssen anders sein, sie sind unberechenbar und gewalttätig, weil sie nicht zulassen, dass man selbst das tut, was sie tun. „Jetzt mach du dat aber mal mit ... en Türkenmädchen ... wirst doch ... zusammengeschlagen.“ Diese Textpassage macht auch deutlich, dass rassistische Ausgrenzungen im Alltagsdiskurs mit latenten Handlungsbereitschaften einhergehen. Damit ist nicht nur die Inkaufnahme und Einforderung von struktureller staatlicher Gewalt gemeint, wie dies z. B. bei Abschiebungen der Fall ist. Man will unter Umständen selbst Hand anlegen, um Ausländer loszuwerden. Diese Handlungsbereitschaften können als Effekte der medialen Ansprache begriffen werden. Ein Blick auf insgesamt fünf Interviewstaffeln, die das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung seit 1991 durchge-
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führt hat, zeigt, dass sich das Ausmaß rassistischer Elemente in diesem Diskurs kaum verändert hat. Rassismus im Alltag ist insofern eine Konstante und ‚normal’. Verändert haben sich nur die Begründungen und die Art und Weise der Artikulation. Waren es in den Jahren vor 1993, also vor der faktischen Abschaffung des Art. 16 des Grundgesetzes, vor allem soziale Begründungen, die stark mit biologistischen verwoben waren, dominierten in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts Begründungen, die sich auf ein angebliches Anwachsen einer „Ausländerkriminalität“ bezogen. Nach dem 11. September 2001 kommt die Angst vor einem anwachsenden Terrorismus hinzu, die sich mit dem Einwanderungsdiskurs verkoppelte, wodurch die Sicht auf in Deutschland lebende Einwanderer und Einwanderinnen nahezu hermetisch wird. Die Figur des ‚Schläfers’, der unauffällig in Deutschland lebt und sich den hiesigen Verhältnisse anpasst, gesellt sich zu den Einwanderern und Einwanderinnen, die sich nicht anpassen, ihre Religion in Deutschland praktizieren und infolge mangelnder Sprachkenntnisse auf beiden Seiten von den Deutschen auch nicht zu kontrollieren sind. Entsprechend wird das Thema Islam und daran angrenzende Fragestellungen, wie z. B. die Diskussion um das Verbot des moslemischen Kopftuchs oder um den Bau von Moscheen, stärker in den Vordergrund gerückt.
Zur Normalität von Rassismus Vor diesem Hintergrund ist zu konstatieren, dass sich sowohl im Medien- wie auch im Alltagsdiskurs die Normalität des Rassismus darin äußert, dass Einwanderer und Einwanderinnen bzw. als Fremde wahrgenommene Gruppen als latent denormal angesehen werden. Doch kommt spätestens seit der Greencard-Debatte ein Umstand hinzu, der nicht übersehen werden sollte: Das Problembewusstsein über die mit solchen Zuschreibungen verbundenen negativen Effekte hat sowohl in den Medien wie auch im Alltag zugenommen. Dies nicht ohne Grund. Die kriminellen Übergriffe auf Einwanderinnen, mit denen wir es in Deutschland seit den frühen 1990er Jahren zu tun haben, sind in der Öffentlichkeit auch als ein Zustand von De-Normalität wahrgenommen worden. Der
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dadurch sichtbar gewordene Rassismus passte nicht zum Selbstverständnis dieser Gesellschaft. Entsprechend entstanden Anstrengungen und Aktivitäten, mit denen die Situation wieder normalisiert werden sollte und konnte. Dazu gehörte die Propagierung und Förderung vielfältiger antirassistischer Maßnahmen. Mit der ökonomisch motivierten Greencard-Debatte hat sich dann die diskursive Konstellation im Hinblick auf Einwanderung und die damit verbundenen Folgen in Deutschland grundlegend verändert. Seit dieser Zeit begreift sich Deutschland wenn auch nicht als Einwanderungs-, aber immerhin als ein Zuwanderungsland. Dies hat zur Konsequenz, dass in Teilen der Medien zwar weiterhin eine rigide protonormalistische Strategie gefahren wird, dass diese aber zunehmend mit der flexibel-normalistischen Strategie kombiniert wird. Dies ist dann der Fall, wenn im mediopolitischen Diskurs Einwanderung z. B. aus ökonomischen oder demographischen Gesichtspunkten heraus als notwendig erachtet und die Frage nach dem Ausmaß von Einwanderung aufgeworfen wird. Die Medien spielen also auf der Klaviatur zwischen flexibler und protonormalistischer Strategie. Angesichts der Situation, dass solche flexibel-normalistischen Strategien in der deutschen Kultur insgesamt dominieren und wir es also bei den in Deutschland lebenden Personen mit vorwiegend flexibel-normalistisch funktionierenden Subjekten zu tun haben, kann davon ausgegangen werden, dass je stärker die medio-politische Klasse sich vom Protonormalismus in der Frage der Einwanderung abwendet, dies auch bei der Bevölkerung zu einer entsprechenden Resonanz führt. Damit sind zwar nicht alle Probleme beseitigt, doch wird dadurch das Sagbarkeitsfeld ausgeweitet. Dazu einige Äußerungen aus einer Interviewstaffel von 2003/2004, bei denen nahezu prototypisch flexibel-normalistisch argumentiert wird: „Ich meinte, dass, dass ein, ein Bleiberecht für jemanden, oder […] eine Einwanderung relativ kurzfristig möglich sein muss […] und kann, wenn da hier auch tatsächlich äh äh ´ne Stelle hat, leben will und, und auch gebraucht wird. Wir brauchen ja Ausländer! […] Wenn aber irgendeiner kommt, so hm der, der bekannte nigerianische Drogenhändler, da würd’ ich doch schon sagen, also den sollte man nicht so- sofort Einwanderungs- äh –recht zubilligen. [...] Und man kann das auch nicht
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nicht schwarz oder weiss sagen, da ist immer ne Grauzone“ (06/174195). „Wenn das Geld dafür da ist […] ich sag, da müsste man sich hier auch aufregen, wenn morgens um fünf Uhr die Glocken läuten, ist genau dasselbe.[...] Wir gehen auch, die anderen gehen auch jeden Morgen in die Kirche, hören sich dasselbe an, nur das der nicht da oben auf der Turm steht, is das Einzigste […] Da muss, muss jeder selber mit sich fertig werden […]“ (03/226-242). „Man soll nicht alle über einen Kamm scheren, das sag ich ihnen ganz ehrlich. Et gibt gute Migranten, et gibt schlechte Migranten, et gibt gute Deutsche, et gibt auch schlechte Deutsche“ (03/79ff.).
Natürlich liegt auch diesen Äußerungen ein dualistisches Weltbild zugrunde und Einwanderung nach Deutschland wird weiterhin in Begriffen von ‚wir’ und ‚sie’ gefasst. Trotzdem zeigen sie, dass dieses Weltbild auch Differenzierungen und Grenzverschiebungen zulassen kann. Damit ist zwar die Logik des zugrundeliegenden binären Reduktionismus noch nicht gebrochen, doch kann und sollte an solchen Grenzverschiebungen im Sagbarkeitsfeld des Einwanderungsdiskurses angesetzt werden, mit dem Ziel, Rassismus aus diesem Diskurs zu verbannen.
Literatur Drews, Axel/Gerhard, Ute/Link, Jürgen (1985): Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orientierter Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL), 1. Sonderheft Forschungsreferate, 256-375. Foucault, Michel (1994): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. Jäger, Margarete/Jäger, Siegfried/Ruth, Ina/Schulte-Holtey, Ernst/Wichert, Frank (Hg.) (1997): Biomacht und Medien. Wege in die Bio-Gesellschaft, Duisburg Jäger, Margarete/Cleve, Gabriele/Ruth, Ina/Jäger, Siegfried (2002): Leben im Stadtteil. Der öffentliche Diskurs über den Stadtteil Gelsenkirchen-Bismark/Schalke-Nord und seine Auswirkungen auf die Bevölkerung, DISS-Forschungsbericht, Duisburg
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RASSISMUS UND NORMALITÄT IM ALLTAGSDISKURS
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Distanzierungsmus ter. Vier Praktiken im Umga ng mit Rassis mus ASTRID MESSERSCHMIDT
Einleitung Wie stellt sich rassistische Normalität auf dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Bundesrepublik vier Generationen nach dem Nationalsozialismus dar und in welchen Diskursen und Sprechweisen kommt diese Normalität zum Ausdruck? Anhand von vier Praktiken wird eine postnationalsozialistische Struktur rassistischer Normalität erläutert. Skandalisierung, Verlagerung in den Rechtsextremismus, Kulturalisierung und Verschiebung in die Vergangenheit zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine Distanzierung vom Rassismus sicherstellen sollen. Die beiden Muster der Skandalisierung und der Verlagerung in den Rechtsextremismus lassen Rassismus als etwas erscheinen, das nicht zum ‚Eigentlichen’ der Gesellschaft gehört und repräsentieren Rassismus als Ausnahme- und Randphänomen. Die Muster Kulturalisierung und Verschiebung in die Vergangenheit schützen das Selbstbild derer, die Rassismus ausüben, indem sie mit der ‚anderen’ Kultur eine plausible Begründung bereit stellen und die Abgrenzung der gegenwärtigen Gesellschaft von einer rassistischen Geschichte betonen. Es kommt zu mehrschichtigen Distanzierungen – gegenüber jenen, die nicht dazu gehören sollen und deren Diskriminierung deshalb auch nicht anerkannt wird und gegenüber der eigenen Geschichte mit Rassismus und Antisemitismus, die als überwunden gilt. Alle vier Muster sorgen dafür, ein unbeschädigtes Bild
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von sich selbst zu etablieren. Rassismusdiagnosen wirken darauf bezogen unangebracht und unpassend.
Rassismusdiagnosen als Skandal Das Benennen von rassistischen Praktiken und von Erfahrungen rassistischer Diskriminierung wird in der Öffentlichkeit immer wieder skandalisiert. Dadurch tritt nicht die Erscheinung des Rassismus selbst als Skandal in den Blick, sondern der Hinweis auf diese Erscheinungen als rassistische wird als skandalös diffamiert. Durch eine skandalisierende Form der Darstellung werden Rassismusdiagnosen als Ausnahmeerscheinungen repräsentiert. Abgesichert wird diese Abwehr dadurch, dass denjenigen, die auf alltägliche Erscheinungsformen von Rassismus hinweisen, eine verzerrte Wahrnehmung unterstellt wird, wodurch die Sache selbst als unglaubwürdig repräsentiert wird. Diese Skandalisierung der Benennung kommt in einer ausgeprägten Wachsamkeit gegenüber dem Aussprechen von Rassismuserfahrungen zum Ausdruck, beispielsweise im universitären Zusammenhang. Den Hinweis darauf, dass rassistische Diskriminierungen auch an der eigenen Universität oder im eigenen Studiengang vorkommen, empfinden einige weiße Studierende sofort als Angriff und Stigmatisierung – auch wenn sie keineswegs persönlich angesprochen worden sind. Damit ziehen sie meine Aufmerksamkeit in meiner Rolle als Lehrende auf sich. Ich fühle mich dann selbst angegriffen, weil ich nicht möchte, dass sich in meinen Seminaren Studierende diffamiert vorkommen. Es entwickelt sich eine Spirale der Behauptungen, irgendwie zu Unrecht bezichtigt zu werden auf der Seite derer, die keine rassistischen Diskriminierungserfahrungen machen, während die Rassismuserfahrungen selbst in den Hintergrund rücken. Nach dem Muster einer OpferTäter-Umkehr verlagert sich die Aufmerksamkeit von den konkreten Rassismuserfahrungen weg auf die Vorstellung, beschuldigt zu werden. Rassismus selbst erscheint dabei irreal und wird zu einer Bezeichnung für stets unberechtigte Vorwürfe. Zugleich ist aber die Abwehr des Benennens von Rassismus in sich paradox, zumal dann, wenn diese Abwehr in sehr emotionaler Form vorgetragen wird. Das Gefühl, verletzt worden zu sein, bringt zum Ausdruck, dass etwas getroffen worden ist. Erzählun-
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gen über Erfahrungen rassistischer Diskriminierung lösen offensichtlich bei denen, die in den Erzählungen gar nicht persönlich vorkommen, den Eindruck aus, damit gemeint zu sein, was dann zu abwehrenden Reaktionen führt. Ich möchte das so deuten, dass darin eine Ahnung von der strukturellen Präsenz von Rassismus ausgedrückt wird, die aber als unreflektierte und nicht artikulierte in der Form rhetorischer Zurückweisung auftritt. Würde das Gefühl, selbst in einen gesellschaftlich verankerten strukturellen Rassismus involviert zu sein, formuliert, könnte eine Auseinandersetzung damit stattfinden. Solange aber die ganze Aufmerksamkeit auf die Benennungsproblematik und auf das Anzweifeln der Legitimität dieser Benennung gerichtet bleibt, gelingt es, das Aussprechen und Anzeigen von Rassismus zu problematisieren, während die Praktiken rassistischer Diskriminierung ausgespart bleiben können. Während mit dem Ansprechen von Rassismuserfahrungen auf die strukturelle Verankerung von Rassismus in der Gesellschaft aufmerksam gemacht werden soll, wird mit der Infragestellung der Legitimität dieses Ansprechens der Ausnahmecharakter von Rassismus hergestellt. Er erscheint als Perversion, als Phantasma der Betroffenen, nicht aber als Teil gesellschaftlicher Normalität (vgl. Mecheril 2007). Einen Ansatzpunkt, strukturell verankerten und alltäglich präsenten Rassismus auf dem Hintergrund historischer Entwicklungen zu bearbeiten, bietet der Begriff der Whiteness als kulturgeschichtlicher Analysekategorie. Susan Arndt macht auf die „strukturelle und diskursive Relevanz von Weißsein im europäischen Formationsprozess“ aufmerksam (Arndt 2005, 25). Whiteness ist im europäischen Selbstverständnis verankert und konstituiert europäische Identität in Abgrenzung zur „Non-Whiteness“, wodurch eine doppelte Homogenisierung zustande kommt. Nach innen wird europäische Heterogenität verdrängt, nach außen werden Zugehörigkeiten begrenzt. Auch innerhalb des nationalen Rahmens vollzieht sich diese doppelte Homogenisierung in Form einer Anknüpfung an das im 19. Jahrhundert herausgebildete und im Nationalsozialismus in Form der „Volksgemeinschaft“ politisierte völkische Verständnis von „Deutsch-Sein“, das in den Auseinandersetzungen um die nationale Zugehörigkeit der Einwanderer nachwirkt. Arndt betont, dass gerade aus einem kritischen Selbstverständnis heraus und in „gewollter Distanzierung zu Kolonialis-
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mus und Nationalsozialismus“ Weißsein „verleugnet und damit auf neue Weise ermächtigt“ wird (Arndt 2005, 27). Durch die „explizite Nicht-Thematisierung von Whiteness“ (Pech 2006, 71) werden Ungleichheitsverhältnisse zementiert und der Kritik entzogen. Um dieser Abwehr in der Bildungsarbeit entgegenzutreten, plädiert Ingmar Pech dafür, den Raum für die Artikulation widersprüchlicher Erfahrungen zu öffnen und zwischen Schuld- und Verantwortungsübernahme zu unterscheiden. „Während Schuldgefühle lähmen oder Vermeidungs- und Verdrängungsmechanismen provozieren können, bedeutet Verantwortung, die eigene Situiertheit zu betrachten, anzunehmen und einer kritischen Reflexion zugänglich zu machen“ (ebd., 85). Verantwortung für die Geschichte eigener Privilegiertheit zu übernehmen, heißt zunächst, diese Privilegiertheit überhaupt wahrzunehmen. Für die Praxis der Bildungsarbeit bedarf diese Unterscheidung von Schuld und Verantwortung einiger Anstrengungen. Die individualisierende Konzeption von ‚Schuld’ überlagert häufig die strukturell zu verstehende Konzeption von Verantwortung und erzeugt Abwehr. Erst wenn auch das eigene Involviertsein in die Problematik verdeutlich wird, kann eine Möglichkeit eröffnet werden, sich mit den Phänomenen herrschaftsanalytisch auseinander zu setzen. Die eigene „Verortung in einem rassistischen Gefüge“ zu thematisieren (ebd., 86), verändert die sozialen Beziehungen im Lernprozess, weil deutlich wird, dass es sich um ein gemeinsames Problem handelt, das allerdings sehr unterschiedlich erlebt werden kann – je nachdem, welche Machtposition ich einnehme und welche Privilegien ich genieße und je nachdem, welche Machtressourcen mir verwehrt werden. Sich in den Gegenstand zu involvieren, ist aber nicht als methodisches Gestaltungselement aufzufassen, um Lernverhältnisse zu dynamisieren, sondern in der Sache selbst begründet (vgl. Messerschmidt 2009, 205ff.). Wer Rassismen analysieren will, stößt auf die eigene strukturelle Verwobenheit mit dem Problem – sei es aufgrund eigener Diskriminierungserfahrungen oder aufgrund der eigenen privilegierten sozialen Position, in der Whiteness unsichtbar gemacht wird, weil es der unausgesprochenen Norm entspricht. Bei dem Versuch, Rassismus nicht mehr als skandalöse Ausnahmeerscheinung zu betrachten, sondern als Struktur im gegenwärtigen Alltag, kommt es häufig zu Abwehrreaktionen, die selbst zum Gegenstand der Reflexion zu machen sind. Das Muster
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der Zurückweisung angeblich ungerechtfertigter Bezichtigungen hat dabei auch eine spezifisch deutsche oder besser eine spezifisch postnationalsozialistische Komponente, wenn es auftritt mit dem Hinweis, man werde andauernd für etwas beschuldigt, das man gar nicht begangen habe. Erfahrungen in der generativen Beziehung zum Nationalsozialismus klingen darin an. Die Genealogie einer Täternachfolge wird angesetzt zur Imagination eigenen Opferseins. Das Thema Schuld wird aufgerufen, ohne konkret beschuldigt worden zu sein für Verbrechen, die zwei Generationen vorher begangen worden sind. Es kommt zu einer Schuldintroversion, einer imaginierten Bezichtigung, die einem unzulässiger Wiese zugemutet wird. Dabei wird die Beschädigung nationaler Identität angeprangert und die Sehnsucht nach einem unbeschädigten nationalen Selbstbild legitimiert. Die Abwehr der imaginierten Beschuldigung wirkt sich auch auf den Umgang mit Rassismus aus. Seine Benennung fällt in dasselbe Muster und muss abgewehrt werden, um das Bild von sich selbst nicht zu beschädigen (vgl. Messerschmidt 2009, 180ff.).
V e r l a g e r u n g vo n R a s s i s m u s in den (Rechts-)Extremismus Rassismus wird in der Öffentlichkeit bevorzugt als Praxis rechtsextremistischer Gruppierungen benannt, nicht aber als alltägliche Diskriminierungsform und als Weltbild, das in der Mitte der Gesellschaft verankert ist. Eigene Nähen zu rassistischen Vorstellungen können dadurch ignoriert werden, und Rassismus tritt stets als Problem von anderen auf, die nicht ‚wir’ sind. Karin Scherschel zeigt, dass diesem Ansatz ein „Unvereinbarkeitsgedanke“ zugrunde liegt, die Argumentationsfigur einer gesellschaftlichen Mitte, die zwischen zwei Extremen existiert und sich von Linksextremen wie von Rechtsextremen unterscheidet (Scherschel 2006, 50). En passant kann dabei auch noch ‚links’ und ‚rechts’ unter dem Extremismusbegriff vereinheitlicht werden. In der öffentlichen Debatte zeigt sich dieser Mechanismus insbesondere dann, wenn rassistisches Verhalten dem Rechtsextremismus zugeordnet wird. Der Gebrauch des Extremismusbegriffs lässt die Mitte der Gesellschaft unproblematisch und demokratisch integriert erscheinen. Scherschel bezeichnet das als „Täterschematismus“, bei
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dem Übeltäter/innen identifiziert werden, die man klar von sich selbst und einer als vernünftig repräsentierten Mehrheit abgrenzen kann (ebd.). Rassist/inn/en erscheinen gegenüber der zivilisierten Gesellschaft als marginalisierte Abweichler/innen, die den Konsens der Gesellschaft nicht teilen. Beim Rechtsextremismus handelt es sich um ein Phänomen, bei dem immer alle schon wissen, was gemeint ist, ehe das Gemeinte überhaupt zum Gegenstand der Reflexion werden kann. Die Entlarvung rechtsextremer Gesinnungen und Praktiken führt eine Selbstentlastung mit sich. Übeltäter/innen sind andere, die irgendwie nicht zur Mehrheit der Gesellschaft dazu gehören und denen man mit Aufklärungsprogrammen und Integrationsangeboten beikommen zu können meint. Eine Auseinandersetzung mit rassistischen Ausdrucksformen unterhalb der Schwelle physischer Gewalt kann so vermieden werden. In der pädagogischen Fachdiskussion kommt ein externalisierender Zugang zum Ausdruck, wenn Rechtsextremismus als eine ‚Herausforderung’ für die Pädagogik betrachtet und Rassismus gewohnheitsmäßig im Zusammenhang mit Rechtsextremismus thematisiert wird. Rechtsextremismus und der darin verankerte Rassismus erscheinen als Gegenstände, die der Pädagogik äußerlich sind und sie als Fachdisziplin und Praxis herausfordern, etwas dagegen zu unternehmen, wobei unausgesprochen nahe gelegt wird, dass ein Konsens darüber bestehe, Rassismus zu bekämpfen. Pädagogisch Handelnde können sich als diejenigen angesprochen fühlen, die ‚dagegen’ sind. Die pädagogische Debatte changiert zwischen der Bereitschaft, Alltagsrassismen zu bearbeiten und der Neigung, Rassismus als Problematik extremistischer Gruppierungen zu repräsentieren. Rudolf Leiprecht erkennt drei Tendenzen in der pädagogischen Auseinandersetzung mit Verschiedenheit und Diskriminierung: zum einen eine kritische Reflexion interkultureller Pädagogik, bei der essentialisierende und dichotomisierende Kulturbegriffe in Frage gestellt werden. Zum zweiten die Diskussion um Rechtsextremismus, bei der Alltagsrassismus kaum ein Thema ist (Leiprecht 2003, 22) und zum dritten die Tendenz, Ersatzbegriffe für Rassismus zu gebrauchen, wie ‚Fremdenfeindlichkeit’ und ‚Ausländerfeindlichkeit’ (vgl. ebd., 23). In der dritten Tendenz wird ein „deutsche(r) Sonderweg“ begangen (ebd.). Man vermeidet konsequent den historisch belasteten Rassismusbegriff und ersetzt die-
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sen durch Bezeichnungen, die zwar Diskriminierung anzeigen, dabei aber die Diskriminierten selbst als Personen repräsentieren, die nicht dazu gehören, die eben ‚fremd’ oder ‚Ausländer’ sind. Letztlich sind alle drei Tendenzen dazu geeignet, die explizite Auseinandersetzung mit Rassismus zu vermeiden und Ersatzdiskussionen zu führen. In einer Publikation der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank, einer Einrichtung außerschulischer politischer Bildung, wird deutlich, wie die pädagogische Diskussion um Rechtsextremismus nach 1989 verlaufen ist (vgl. Fechler 2003). Mehrere Autor/innen stellen fest, dass in den praktischen Ansätzen die Erkenntnisse aus der pädagogischen Forschung weitgehend ignoriert werden. Sowohl die Fixierung auf die ‚Gewalt auf der Straße’ wie auch die sozialpädagogische Konzeption einer ‚akzeptierenden Jugendarbeit’ verfehlen ihren Gegenstand. Statt sich auf die üblichen Verdächtigen zu konzentrieren, sollte der gesellschaftliche Diskurs in den Blick kommen, in dem rechtsextremes Gedankengut repräsentiert ist. Es geht um eine umfassende Arbeit an gesellschaftlichen Strukturen statt um spektakuläre Ereignisse. Weil die Pädagogik davor zurückschreckt, radikal Kritik zu üben an der legitimierten Ungleichbehandlung von Migrant/innen und Flüchtlingen als Teil nationalstaatlicher Politik, macht sie sich in ihren Aktivitäten gegen Rechtsextremismus unglaubwürdig. Fechler attestiert der Pädagogik eine „relative Schwäche und Verunsicherung“, die er darauf zurückführt, dass eigene Analysen nicht ernst genug genommen würden (ebd., 45). Aus der „unzweifelhaften Tatsache der Verbreitung autoritärer und rechtsextremer Denkund Orientierungsmuster“ wären weitergehende Forderungen zu stellen (ebd.), die auch die eigene Bildungspraxis in den Blick nehmen. Im Sinne einer pädagogischen Selbstreflexion wäre danach zu fragen, inwiefern die Pädagogik als Wissenschaft und Praxis Zugänge zu einer kritischen Reflexion gesellschaftlicher Dominanzverhältnisse ermöglicht. Damit ist es schlecht bestellt, wenn pädagogisches Forschen und Handeln auf die Vermittlung instrumenteller Kompetenzen reduziert wird. Für die Auseinandersetzung mit einem normalisierten Rassismus ist eine „umfassende Arbeit an gesellschaftlichen Strukturen notwendig“, die es erst ermöglicht, Normalitäten zu erkennen, durch die rechtsextreme Weltbilder in der Mitte der Gesellschaft etabliert und damit zugleich unsichtbar werden. Fechler weist auf die sozialwissen-
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schaftliche Diagnose eines „Wohlstandschauvinismus“ hin, in dessen Rahmen sich Rassismus „in einem Konformismus zu den unsere Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft prägenden Werten und Prinzipien äußert“ (ebd., 46). In der pädagogischen Theorie und Praxis verhindert die Verlagerung von Rassismus in den Bereich rechtsextremistischer Umtriebe die Auseinandersetzung mit innerpädagogischen Rassismen. Implizit wird in der Fachdebatte wie auch in der medialen Öffentlichkeit vorausgesetzt, Pädagog/innen seien in der Lage, gegen Rassismus einzutreten und über seine Ursachen und Wirkungen aufzuklären. Sie scheinen per se auf der richtigen Seite zu stehen. Eine selbstkritische Praxis im pädagogischen Umgang mit Rassismus ist gefordert. Voraussetzung dafür ist die Selbstreflexion der pädagogisch Verantwortlichen und ihre Bereitschaft, ihre eigenen sozialen Ausgangsbedingungen zu reflektieren. Dem steht das Selbstbild eigener Wohlanständigkeit im Wege, wodurch strukturelles Involviertsein in Rassismus ausgeblendet bleibt. Der Zugang über den Extremismusbegriff begünstigt diese Ausblendung und marginalisiert die Rassismusproblematik, sie erscheint als Phänomen nicht integrierter Ränder. Gegen diese externalisierende Sichtweise richtet sich Karin Scherschels Rekonstruktion der Genese des Rassismus in der europäischen Aufklärung. Anknüpfend an die Analysen von George L. Mosse und Leon Poliakov macht sie deutlich, wie sich der Rassismus im achtzehnten Jahrhundert als ein „umfassendes Denksystem“ entwickelt, das in seiner ideologischen Wirkung vergleichbar ist mit „dem Konservatismus, Liberalismus oder Sozialismus“ (Scherschel 2006, 52). Die Vergleichbarkeit bezieht sich auf die Weltbilder erzeugende Macht des Rassismus und meint nicht eine Übereinstimmung in den Ideen. Zwar wird das achtzehnte Jahrhundert in der historischen Rekonstruktion der Herausbildung von Pädagogik als Wissenschaft als entscheidende Phase betrachtet, kaum aber kommt dabei der Zusammenhang zur Genese rassistischer Welt- und Menschenbilder zur Sprache. Auch innerhalb einer kritischen Bildungstheorie, die von einer inneren Dialektik der Aufklärung und damit auch des Aufklärungsanspruchs der Pädagogik ausgeht, kommt dieser Zusammenhang zu kurz. Gerade diese dialektische Perspektive auf die Aufklärung kann aber den in ihr sich etablierenden europäischen Rassismus erkennbar werden lassen. Schließlich ist die Phase der europäischen Aufklärung durch
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„zwei in ihren Ergebnissen widersprüchliche Strömungen gekennzeichnet: die Kritik an den herrschenden Mächten und Glaubenssätzen im Namen der Gedankenfreiheit und die Katalogisierung der Menschen im Geiste der erwachenden Naturwissenschaften“ (ebd., 54), wobei die Klassifizierung menschlicher Unterschiede im Kontext der kolonialen Eroberungen von vornherein hierarchisierend erfolgt. Emanzipatorische Selbstvergewisserungsprozesse, die Ideen von Gleichheit und Vernunft, sind historisch verknüpft mit den Abwertungen derer, die als ethnisch Andere identifiziert werden (vgl. ebd., 57). Rassismus ist also auch für die Geschichte der Pädagogik keinesfalls außerhalb pädagogischer Ideen aufzufinden, sondern integraler Bestandteil ihrer wissenschaftlichen Genese.
Kulturalisierung Wenn nichts mehr sicher ist, verspricht Kultur Zuordnung und Identität. Zugleich befördert der Kulturdiskurs Imaginationen der Bedrohlichkeit gegenüber jenen, die als kulturell fremd und anders markiert werden. Kultur dient als Fremdmacher und damit als Identitätsproduzent und Identitätsbehauptung. Für Etienne Balibar ist Kultur der Bereich, „in dem Identität identifiziert wird“ (Balibar 2002, 139), wobei die Diskurse um kulturelle und nationale Identität stets aufeinander bezogen sind. „Identität ist niemals eine friedliche Errungenschaft“, sie antwortet auf die Macht des Anderen und geht aus asymmetrischen Verhältnissen hervor (ebd., 148). Durch kulturalistische Wahrnehmungsmuster wird Rassismus unsichtbar gemacht, während zugleich die rassistischen Identifizierungen beibehalten werden können, indem sie als kulturelle Unterschiedlichkeit dargestellt werden. Seine Instrumentalisierbarkeit als „quasi-Rasse“ betrachtet Hakan Gürses als innere Problematik des Kulturbegriffs (Gürses 1998, 70). Kultur ist für ihn zum Schauplatz von Dichotomisierungen geworden, aktuelle Gegensätze werden entlang der Kulturachse angeordnet. Die Kulturkategorie bietet ein Instrumentarium zur Distanzierung von ‚Anderen’, die als nicht zur Gesellschaft dazu gehörend betrachtet werden. Mit dem Hinweis auf eine kulturell bedingte Fremdheit kann die Distanzierung auf ‚anständige’ Weise erfolgen, da sie den diffamierenden Rassebegriff nicht mehr benötigt.
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Die kulturalisierende Strategie liefert damit zugleich den Beweis, eine gewalttätige Geschichte der Verfolgung hinter sich gelassen zu haben, wie sie dem Rassebegriff anhängt. Kultur kommt als historische Differenzierungs- und Beschreibungsform immer dann ins Spiel, wenn es um die „andere Kultur“ geht, erst in der Abgrenzung kommt der Kulturdiskurs so richtig in Schwung (vgl. Messerschmidt 2008). Als kollektive Identitätsmarkierung ist Kultur mit gruppenbezogenen Zuschreibungen wie Nation, Religion und Ethnizität verbunden. Die „eigen/ fremd-Unterscheidung“ (Höhne 2001, 199) bildet dabei die Grunddifferenz. Die Einführung der grundlegenden Differenzbestimmung von Eigenem und Fremdem setzt einen Plural voraus, es geht also um „Kulturen“. Thomas Höhne sieht den europäischen Kulturdiskurs aus dem „Geist des Vergleichs“ hervorgehen, wobei Kultur semantisch seit dem neunzehnten Jahrhundert immer wieder mit ‚Nation’, ‚Rasse’, ‚Religion’, ‚Bildung’ verknüpft worden ist (vgl. ebd., 200). Yves Bizeul kontrastiert in einer Analyse zum sozialwissenschaftlichen Umgang mit Kultur das Verständnis von nationaler Identität in der deutschen und in der französischen Diskussion. Zwar ist es in der Bundesrepublik mit Beginn des Jahres 2000 zu einer Reform des Staatsbürgerschaftsrechts gekommen, aber dennoch kann noch keine Rede davon sein, das holistische Abstammungsprinzip sei kulturell nun überwunden. Demgegenüber kennzeichnet Bizeul das französische Territorialprinzip als individualistisch, einem republikanischen Verständnis als politischer Staatsbürgernation folgend (vgl. Bizeul 1997, 95). Scheinbar wohlmeinenden Betonungen der Einzigartigkeit von Kulturen bescheinigt er eine Tendenz zu antimodernen, rassistischen Denkweisen und betrachtet einen „Ethnokulturalismus“ als Gefährdung der individuellen Menschenrechte (ebd., 103). Kultur tritt in dieser Sicht überhaupt nicht jenseits der Instrumentalisierungen auf, weshalb es auch für die pädagogische Debatte sinnlos wäre, nach einem von allen zweifelhaften Besetzungen befreiten Kulturbegriff zu suchen. In einer kulturalistischen Weltsicht kommt eine „neorassistische Strategie“ zum Ausdruck (Höhne 1995, 45), bei der die Exklusivität einer Gemeinschaft behauptet wird und die Individuen zu Trägern von Kulturidentität werden. Innerhalb der Sozial- und Erziehungswissenschaften konnte sich der Kulturbegriff zu einer „Interpretationsressource“ entwi-
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ckeln (Höhne 2001, 202) und die Leerstelle besetzen, die durch den diskreditierten ‚Rasse’begriff entstanden war. Die dem ‚Rasse’diskurs eigenen Eindeutigkeits- und Überlegenheitsbehauptungen gingen auf den Kulturbegriff über, ohne dass dieser Mechanismus sichtbar werden musste. Dies kann auch deshalb so gut funktionieren, weil das Denken in Kategorien der ‚Rasse’ zwar offiziell vermieden wird, aber im Alltagsverstand lebendig und von dem historischen Bruch 1945 mehr oder weniger unberührt geblieben ist (vgl. Höhne 1995, 44). Gegenwärtig spiegeln sich kulturell begründete Spaltungen in der bundesdeutschen Einwanderungsgesellschaft durch die öffentlich praktizierte Dichotomisierung von Muslimen und NichtMuslimen, bei der Muslime als potenziell bedrohlich repräsentiert werden. Die deutsche Gesellschaft erscheint dabei wiederum als ursprünglich kulturell homogen. „Das ‚Wir’ wird als aufgeklärt, demokratisch, frauenfreundlich dargestellt, ‚sie’ hingegen seien vormodern, unaufgeklärt, undemokratisch, frauenfeindlich – so weit die aktuelle Repräsentation muslimischer Migrant/innen oder Menschen mit türkischem Migrationshintergrund“ (Broden 2007, 10). Der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz beobachtet: „Die Wut der neuen Muslimfeinde gleicht dem alten Zorn der Antisemiten gegen die Juden“ (Benz 2008, 9). Auf diesem Hintergrund fordert Benz, in Forschung und Bildungspraxis beide Phänomene in den Blick zu nehmen, sowohl die stereotypisierten Feindbilder gegenüber Juden wie gegenüber Muslimen. Beide Phänomene sind auf ihre Gemeinsamkeiten wie auf ihre Unterschiede hin zu betrachten, um eine Relativierung der jeweiligen Diskriminierungspraktiken zu vermeiden. In der Art und Weise, wie Muslime in der deutschen Gesellschaft repräsentiert werden, kommen immer mehr Motive zum Ausdruck, die dem Antisemitismus ähneln: Die Vorstellung, die Muslime gehörten nicht zu dieser Gesellschaft dazu, sie seien an äußeren Merkmalen zu erkennen, ihre Absichten seien nicht zu durchschauen, sie stünden in Verbindung mit ausländischen Mächten, sie eigneten sich Grundbesitz an, der ihnen nicht zustehe, sie seien religiös fremd. Der Zusammenhang von Rassismus und Antisemitismus erneuert sich vor dem Hintergrund kulturrassistischer, antimuslimischer Projektionen. Zu beachten bleiben dabei aber die Strukturunterschiede zwischen Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus. Während der Antisemitismus
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sich als eine Form von Hass gegenüber einer als übermächtig imaginierten und homogenisierten Gruppe exponiert und sich mit einem flexibel einzusetzenden Feindbild ausstattet, funktioniert Rassismus vorwiegend in Form der Verachtung. Im Zuge des Anti-Terror-Diskurses wird aber aus der Verachtung immer mehr eine Angst vor einer bedrohlichen Übermacht bei gleichzeitiger Projektion kultureller Rückständigkeit.
V e r s c h i e b u n g vo n R a s s i s m u s in die Vergangenheit Immer wieder wird der Versuch unternommen, den Nationalsozialismus als abgrenzbare Episode zu repräsentieren, als ‚Schreckensherrschaft’, die handlungsunfähig machte und nichts als Entsetzen erzeugte. In den Praktiken, das zum Verschwinden zu bringen, was nach 1945 am meisten beunruhigt und verstört, zeigen sich die Nachwirkungen einer Geschichte, die nicht zu Ende ist. Zu diesen Nachwirkungen gehört es, dass Rassismus als analytische Kategorie zur Untersuchung gesellschaftlicher Segregationsprozesse im deutschen Kontext abgewehrt wird, weil man nichts so sehr fürchtet wie die Diagnose, rassistisch zu sein. Bis heute fällt es besonders schwer anzuerkennen, dass es Rassismus in dieser Gesellschaft gibt, wenn der Rassismus-Begriff auf die nationalsozialistische Judenverfolgung fixiert wird und man von sich selbst glauben möchte, alles damit Zusammenhängende hinter sich gelassen zu haben. Dabei liegt der Denkfehler nicht darin, Rassismus und nationalsozialistischen, auf Vernichtung zielenden Antisemitismus aufeinander zu beziehen, sondern zu meinen, mit der Vergangenheit des Holocaust sei auch Rassismus Vergangenheit. Die Vorstellung, man hätte nach der Demokratisierung auch die rassistischen Weltbilder überwunden, steht einer Auseinandersetzung mit alltäglichen Rassismen im Wege und behindert auch eine Aufarbeitung der zeitgeschichtlichen Bedeutung von kolonialem Rassismus einerseits und der völkischen Gesellschaftsbilder in der nationalsozialistischen Ideologie andererseits. Beide Muster haben Auswirkungen auf die Gegenwart, wenn es darum geht, wer Deutsche/r werden kann und wieviel innere Heterogenität diese Gesellschaft zulässt.
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Zu der Verlagerung in die NS-Vergangenheit gehört die Gleichsetzung von Antisemitismus und Rassismus, die meist en passant erfolgt, als Atemzug einer Bindestrichkonstruktion, weil alles irgendwie als Diskriminierung erscheint. Das spezifische Machtparadigma des Antisemitismus, bei dem ein übermächtiges Feindbild projiziert wird, bleibt dadurch ausgeblendet. Umgekehrt wird für den Rassismus dessen kolonialer Subtext und somit seine geschichtliche Entwicklung aus der Reflexion ausgeschlossen. Es kommt zu einer doppelten Distanzierung – sowohl von der Geschichte des Antisemitismus wie auch von jener des Rassismus (vgl. Messerschmidt 2006). Durch die Gleichsetzung der beiden Diskriminierungsmuster neutralisieren sie sich gegenseitig und weder das eine noch das andere kann analytisch durchdrungen werden. Beide erscheinen als Schreckensbilder einer Praxis, von der man sich leicht distanzieren kann. Wird Rassismus historisch ausschließlich auf den Nationalsozialismus bezogen, bleiben koloniale Welt- und Menschenbilder ausgeblendet. Diese Ausblendung gelingt aber nur, solange der Nationalsozialismus als abgeschlossene Epoche 1933-1945 repräsentiert wird, wodurch Fragen nach seinen Vorgeschichten und seinen Nachwirkungen mehr oder weniger weggelassen werden können. Ein traditionell historistisches Geschichtsbild bedient das Bedürfnis, sich von einer negativen Geschichte zu befreien. Wird Antisemitismus nur als eine besondere Ausprägung von Rassismus aufgefasst, bleiben die ideologischen Elemente antisemitischer Denkweisen unreflektiert. Zum anderen führt die Wahrnehmung und Thematisierung der aktuellen Rassismusproblematik durch die Bezugnahme auf die NS-Rassenpolitik dazu, Rassismus als Programm einer fundamentalistisch-völkischen Politik innerhalb eines diktatorischen Herrschaftszusammenhangs wahrzunehmen. Auf diesem historischen Hintergrund fällt es dann schwer, Alltagsrassismen in der demokratischen Gesellschaft (an) erkennen zu können. Das Problem scheint in einen anderen Herrschaftskontext zu gehören, mit dem man aktuell nichts zu tun zu haben meint. Die Vereinnahmung des Antisemitismus als Rassismus wiederum verkennt die spezifischen Ausprägungen des sekundären Antisemitismus nach dem Holocaust und bleibt in der Geschichte vor 1945 stecken. Für die Analyse von Rassismus und Antisemitismus ist deshalb ein Zugang zu entwickeln, der die Unterschiede in den aktuellen Ausprägungen deutlich macht und
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auch die historischen Zusammenhänge erarbeitet. Rassismus funktioniert in erster Linie als ein Diskriminierungsinstrument, bei dem die rassistisch Identifizierten entmachtet werden. Alltäglich bedeutet Rassismus die Einschränkung von Rechten und Zugängen zu Ressourcen sowie Erfahrungen der Entwürdigung. Demgegenüber kommt es beim Antisemitismus zu einer „Umkehrung des Machtparadigmas“ (Eckmann 2006, 221), indem ein übermächtiges Feindbild geschaffen wird. Dieses Feindbild kommt in der Geschichte des modernen Antisemitismus insbesondere in der „klassenbezogene(n) Rhetorik des Antisemitismus“ zum Ausdruck (Hund 2006, 91). Dabei werden Juden gleichzeitig als „rücksichtslose Aufsteiger“ und als „Drahtzieher dunkler und zersetzender Machenschaften verdächtigt, die das soziale Ganze sowohl im Bereich der Unterschichten wie der herrschenden Klassen destabilisierten“ (ebd.). Die Überbrückung des Klassengegensatzes mittels Antisemitismus funktioniert bis in die Gegenwart, wenn antisemitische Klischees von links wie von rechts herangezogen werden, um das eigene Unbehagen an gesellschaftlichen Entwicklungen an Verursachern festmachen zu können, die nichts mit einem selbst zu tun haben. Antisemitismus und Rassismus treten in eine Wechselwirkung, wenn antisemitische Projektionen dazu eingesetzt werden, um sich nicht mit eigenen Rassismen und eigener Kolonialgeschichte auseinander setzen zu müssen, weil das antisemitische Repertoire eine Täterfigur für die Erklärung von Weltproblemen bereit stellt (vgl. Messerschmidt 2005). Aktuell wird diese Figur mit dem Staat Israel identifiziert, der in diesem Muster als Verursacher des Unfriedens in der Welt erscheint. Verdrängt wird dadurch die Auseinandersetzung mit der komplexen Geschichte der israelischen Staatsgründung und mit den vielfältigen Akteuren des Nahostkonflikts. Mit dem Verweis auf die israelischen Herrschaftspraktiken gegenüber Palästinensern, Libanesen und anderen erledigt sich die eigene Geschichte des Antisemitismus dadurch, dass dessen Opfer als Täter erscheinen und die eigene Geschichte des Kolonialismus erledigt sich dadurch, dass anderen koloniale Praktiken zugeschrieben werden können. Das Gegenstück zu dieser Projektion nach außen bildet eine Projektion im Inneren der nationalen Ordnung, wenn versucht wird, den nach wie vor vorhandenen Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft an Minderheiten festzumachen und den ‚Fremden’ eine his-
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torisch unaufgeklärte Haltung zu unterstellen. Dabei können die in der deutschen Einwanderungsgesellschaft wirksamen Spaltungen von ‚wir’ (einheimische Deutsche) und ‚ihr’ (Migrant/innen) zur Abwehr einer kritischen Selbstreflexion eingesetzt werden. Rassistisch und antisemitisch erscheinen die Anderen und nicht wir, die wir uns jahrelang so intensiv und erfolgreich mit unserer Geschichte auseinandergesetzt haben. Entnormalisierung und Distanzierung schützen das Selbstbild und blockieren die Analyse und Kritik des gegenwärtigen normalisierten Rassismus.
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An erkennung und Illegitimierung. Di versität als marktförmige Regulierung von Differe nzmarkierunge n MAUREEN MAISHA EGGERS
Einleitung Im Mittelpunkt dieses Beitrags1 steht die Problematisierung von Diversität.2 Dabei möchte ich nicht Diversität an sich – als gesellschaftliches Phänomen, als Erscheinungsform der sozialen Welt problematisieren – vielmehr geht es mir darum, die Bedingungen, aufgrund derer Diversität als soziale Ordnung verankert wird, kritisch zu kommentieren. Meine Ausführungen in diesem Beitrag werden von der Beobachtung geleitet, dass Diversität dabei ist, unter (zunehmend) problematischen Bedingungen ‚normal’ zu werden.
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Ich möchte Katja Kinder, Nicola Lauré al-Samarai und Peggy Piesche für die vielen hilfreichen Hinweise zur Überarbeitung dieses Textes danken. Ich möchte Paul Mecheril für die Redigierungsarbeit herzlich danken. Mein Verständnis von Diversität in diesem Beitrag orientiert sich an zwei Bezugspunkten. Erstens bezeichnet Diversität die Diversifizierung von Lebensformen, d. h. die vielfältigen Möglichkeiten hinsichtlich der Lebensstile von Subjekten. Zweitens bezieht sich Diversität auf (gesellschaftliche) Ungleichverteilung. Damit bezeichnet Diversität die Wahrnehmung von Ungleichheitsstrukturen, ungleichen Zugängen zu Ressourcen und ungleichen Lebenschancen.
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Im ersten, einführenden Teil möchte ich zunächst erläutern, dass Diversität sich zunehmend als eine umkämpfte Ressource herausstellt. Ich werde einige aktuelle Strategien der Aneignung von Diversität näher betrachten. Meine Kritik besteht im Wesentlichen darin, dass dominante gesellschaftliche Positionen sich in der ökonomischen Logik des Marktes auf das Themenfeld Differenz, Vielfalt und Pluralität beziehen – bei gleichzeitiger Beibehaltung der hegemonialen Dividende. Ich verwende den Begriff der hegemonialen Dividende in Anlehnung an den Ausdruck patriarchale Dividende (Connell 1999). Mit dem Begriff Dividende bezeichnet Connell die permanente Begünstigung, die Angehörige einer dominanten gesellschaftlichen Gruppe – in diesem Fall Männer – aus der Belegung und Manipulation mächtiger Symbole automatisch beziehen (mehr Kapital, Prestige, Entscheidungsgewalt). Das betrifft ganz konkret ihr Selbstbild, ihre Lebensverhältnisse, ihre Lebenschancen. Sie erhalten eine Reihe von Privilegien, weil die Gesellschaftsstruktur nach der männlichen Logik (für sie kompatibel mit ihrer Existenzweise) funktioniert. Die gesellschafts- und herrschaftskritische Ausrichtung von Diversität wird zunehmend von einer marktförmigen Ausrichtung abgelöst. Diversität als politische Praxis mit der Ambition wirksamer Gesellschaftskorrektur stellt gerade keine Harmonisierungspolitik dar, sondern ein herrschaftskritisches Instrument. Die zunehmende Entpolitisierung von Diversität geht mit Vermarktungspraxen einher und verhindert dadurch paradoxer Weise die Anerkennung von Diversität. Im zweiten Teil dieses Beitrags möchte ich mit dem Begriff Differenzmarkierung eine analytische Perspektive auf jene sozialen Unterschiede vorschlagen, die mit Diversität in der Regel angesprochen werden. Mit Differenzmarkierung kommt zum Ausdruck, dass Unterschiede, was immer dies heißen mag, nicht an sich vorhanden sind, sondern in komplexen und zum Teil widersprüchlichen politischen, medialen, wissenschaftlichen, administrativen Praxen hergestellt werden. Differenzmarkierungen charakterisieren Unterschiede hegemonial. Differenzmarkierungen haben im Wesentlichen ordnenden Charakter.3 3
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Der Ordnungsbegriff ‚Ausländer’ ist ein interessantes Beispiel für eine Differenzmarkierung, die sprachlich aufgeladen ist und zugleich durch Bildkonstruktionen vorangebracht wurde. Bilder von
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Die Differenzmarkierung auf der Ebene von Geschlecht etwa ordnet ‚Weibliches’ und ‚Männliches’ in ein Verhältnis der Überund Unterordnung. Dieser Ordnungsprozess und dieses Ordnungsgefüge ist in einem bedeutenden Sinne eine symbolische Ordnung, in der Kodierungen ‚des Normalen’ eine wichtige Rolle spielen. Diese normalisierenden und subjektivierenden Komplexe sind in Form von Schrift- oder Bildkonstruktionen in Diskursen und auch dem Bewusstsein der Menschen verankert. Differenzmarkierungen sind somit nicht nur auf der Ebene der Repräsentation eine einfache Abbildung geanderter Subjekte, sie artikulieren und reproduzieren vielmehr gesellschaftliche Strukturen der Über- und Unterordnung. Insofern nehmen sie einem umfassenden Einfluss und können als Normalitätsregulierungen bezeichnet werden. Differenzmarkierungen informieren, sie informieren beispielsweise geanderte Subjekte über ihre gesellschaftlich-symbolischen Positionen und die damit verbundenen Handlungsmöglichkeiten. Differenzmarkierungen stellen Orientierungsstrukturen dar. Die Macht über und die Regulierung von Differenzmarkierungen betrachte ich als eine entscheidende Dimension im (welt)gesellschaftlichen Kampf um Zugehörigkeiten, Identitäten und Anerkennung. Diversität ist ein thematisches Feld, in dem sich diese hegemonialen Verhältnisse und Dynamiken zeigen. Eine Regulierung von Differenzmarkierungen, die explizit oder implizit herrschaftsaffirmativ ist, stabilisiert Differenzhierarchien, auch indem sie sie unkenntlich macht oder als nicht problematische Normalität inszeniert. Herrschaftskritische Regulierungen von Differenzmarkierungen sind hingegen auf Praxen bezogen, die darauf abzielen, hegemoniale Differenzmarkierung zu überschreiben und ihre (unmerklich) unterwerfende Wirkung dadurch zu durchkreuzen. Anhand der Diskussion zweier aktueller Text-/Bildkonstruktionen wird im zweiten Teil des vorliegenden Beitrags die Problematisierung von Diversität an der Analyse von Beispielen herrschaftsaffirmativer Regulierung von Differenzmarkierungen konkretisiert.
Pässen, Passieren, Warteschlangen, Massen vor dem Ordnungsamt/ vor der Ausländerbehörde geben Auskunft über die Positioniertheit als ausländisch konstruierte Subjekte und über ihre gesellschaftliche Handlungsmacht bzw. Handlungsräume und (zugedachten) Handlungsmöglichkeiten.
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Im dritten und abschließenden Teil dieses Beitrags gehe ich der Frage nach, welches Verhältnis zu Normalität ertragreich sein kann für eine kritische Diversitätspraxis. Dazu betrachte ich das Verhältnis von Diversität und Normalisierung auf der Ebene der Wissensproduktion. Hier geht es mir darum, die Möglichkeit einer Verschiebung von programmatisch-affirmativ ausgerichteter Diversität hin zu einer wissenskritisch ausgerichteten Diversität anzudeuten. Damit möchte ich das Potenzial von Diversität, als eine kritische Wissenspraxis aufzutreten, skizzieren. Ich frage danach, wie wir – als eingebundene Akteure und Akteurinnen in der Wechselbeziehung zwischen sozialen Strukturen und symbolischer Ordnung – unsere (Wissens-)Praxis so ausrichten können, dass die alltäglichen Regulierungsbedingungen rassistischer Differenznormalität destabilisiert werden.
O b a m a r i z a t i o n u n d d e r H yp e u m D i ve r s i t ä t Die Wahl Barack Hussein Obamas zum 44. Präsident der USA im Jahre 2008 hat zahlreiche Debatten um Differenz, Marginalität und deren Veränderbarkeit entfacht. Barack Obama vereint Momente und Bezüge in seiner Person, die mit dem Thema Diversität einiges zu tun (zu) haben (scheinen). Er ist auf Hawaii geboren, in Indonesien zur Schule gegangen, hat einen kenianischen Vater, einen arabischen Namen, ist mit einer Schwarzen Frau von der South Side von Chicago verheiratet, hat als Community Organizer gearbeitet, ist ein aktiver Vater usw. Seine vielfachen Verortungen scheinen es ihm leicht zu machen, sich mit vielen gesellschaftlichen Gruppen innerhalb und außerhalb der USA zu verbinden und zu verständigen. Nicht zuletzt durch Barack Obama ist Diversität nicht nur salonfähig, sondern geradezu ‚hip’ geworden. Selbst hegemoniale Subjekte, die sich bisher damit zufrieden gaben, in der leisen Unscheinbarkeit ihrer selbstverständlichen Macht zu agieren, erheben auf einmal Claims auf Diversität.4 Diversity ist zu einer starken politischen und kulturellen Referenz geworden, eine normative Orientierung, der gelegentlich die Funktion eines Leitprinzips zukommt. 4
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Vgl. in diesem Beitrag die Aneignung der politischen Selbstbezeichnung Black in der Kampagne der Zeitschrift The Advocate.
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Dass Diversität inzwischen ein mächtiges Symbol darstellt, wird vom konkreten Fall Barack Obama verdeutlicht, verwebt sich bei ihm doch eine multiple Verortung mit einem der mächtigsten Symbole der USA, nämlich der Präsidentschaft als der Repräsentation des Amerikanischen. Auch vor diesem aktuellen Hintergrund ist Diversität zu einem Symbol geworden, das Differenz als lukrative Ware markiert. Damit entsteht in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Diversität (fast automatisch) ein bedeutendes soziales Feld, auf dem es etwas zu gewinnen und zu verlieren gibt, auf dem Erträge gemacht und Verluste hingenommen werden müssen. Der Wettkampf – oder, in Bourdieus Sprache, das Spiel – um den marktorientierten und potenziell gewinnbringenden Umsatz eigener Diversitätsbezüge ist damit eröffnet. An diesem Punkt geht es nicht um die Aussage, dass Diversität erst seit Obama populär geworden ist. Vielmehr argumentiere ich, dass Obama als multimedialisiertes Prinzip der Diversifizierung eine sehr weitreichende Thematisierung und damit zusammenhängende Aufwertung von Diversität initiiert hat. Entscheidend für mein Argument der Warenförmigkeit ist, dass diese Aufwertung nicht nur eine symbolische Dimension aufweist, sondern durchaus eine monetäre. Obamas Wahlkampagne brach mehrfach Spendenrekorde; vor allem die Zahl der Kleinspenden war erstaunlich hoch. Das ökonomische Mobilisierungspotenzial der von Diversität geprägten politischen Figur Obama5 stellt einen Ausgangspunkt dar, von dem aus die hegemoniale Referenz auf Diversität thematisiert und verstanden werden kann. Raewyn Connells Erweiterung des Hegemoniebegriffs Gramscis (1999) fokussiert die dynamische Ebene von Hegemonien – genauer die Dynamik des hegemonialen Regulativs. Connell geht hierbei von einer prinzipiellen Veränderbarkeit und Verhandelbarkeit von Hegemonie aus. Hegemonie ist so betrachtet eine historisch bewegliche Relation, sie kann jederzeit herausgefordert und destabilisiert werden. Hegemonie als Dominanzordnung präzisiert Connell an dem Faktum männlicher Herrschaft, die Connell als doppelte Dominanzstruktur erläutert. Männliche hegemoniale Dominanz funktioniert einmal über die Unterwerfung des Weiblichen, damit der Unterwerfung von Frauen und besteht als normatives kulturelles Ideal eines männlich konnotierten und ko5
Vgl. Finnegan 2004 und CNN politics 2008.
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dierten Gesellschaftsmodells, das eine Entsprechung in den (Macht-)Institutionen der Gesellschaft findet. Andererseits wirkt männliche Hegemonie innerlich hierarchisierend in, so möchte ich dies formulieren, Männerwelten hinein. Die interne Hierarchisierung von Männlichkeit artikuliert sich in hegemonialen Positionen sowie Positionen der Unterordnung, Komplizenschaft und der Marginalisierung. Vor dem Hintergrund dieses dynamischen Modells, das Hegemonie nicht als den Subjekten äußerlich, sondern ihre aktive Beteiligung, potenziell affirmativ wie transformativ, denkt, möchte ich das Verhältnis von Diversität und Hegemonie etwas näher betrachten. Nicht zuletzt die kontroversen Debatten und Polarisierungen der Differenzmarkierungen, Schwarzsein und Weiblichsein, im Nominierungsprozess Barack Obamas und Hillary Clintons in den Vorwahlen der Demokratischen Partei 2007/2008 verweisen auf die Rentabilität und Verwertbarkeit unterschiedlicher Differenz- und Diversitätsbezüge. Obama wurde unterstellt, er könne die Belange von Frauen nicht hinreichend vertreten, Clinton, dass sie für Schwarze nicht ausreichend glaubwürdig sei. Unter der Perspektive des Modells von Connell werden nun Spielräume deutlich: Sowohl Obama als auch Clinton besaßen potenzielle Möglichkeiten der affirmativen oder kritischen Verwertung ihrer Diversitätsbezüge. Beide wurden bereits zu Beginn der Kandidatur als nicht-hegemoniale Subjekte positioniert. Clinton, die erste Frau im Präsidentschaftsamt, Obama, die erste Schwarze Person. Beiden stand das Moment hegemonialer Komplizenschaft potenziell zur Verfügung. Komplizenschaft kann hier verstanden werden als Mobilisierung der jeweiligen hegemonialen Dividende: Der affirmativ-hegemoniale Einsatz von Diversitätsbezügen als Strategie der Maximierung von Gewinnausschüttung im Diversitäts-Spiel. Dieser Einsatz setzt voraus und erwirkt zugleich, dass ‚Spielerin’ und ‚Spieler’ sich der hegemonialen Struktur unterordnen, in der sie je unterschiedliche marginale Positionen (‚Frau’, ‚Schwarz’) bekleiden, unterwerfen. Da in der komplexen Differenzmarkierung Obama-Clinton nicht allein die Markierungen ‚Schwarz’ und ‚Frau’ (und: ‚weiß’ und ‚Mann’) signifikant geworden sind, diese Markierungen zugleich nicht nur aufeinander bezogen sind, sondern konkurrent und ausschließend aufeinander bezogen wurden, haben wir es mit einer komplexen Konkurrenzen zu tun: In dem Moment, in dem Clinton sich als weißes Sub-
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jekt auf die Hegemonie des Weißseins bezieht, aktiviert sie zugleich die Unterordnung Obamas als Schwarzes Subjekt; in dem Moment, in dem sich Obama auf die Hegemonie von Männlichkeit bezieht, aktiviert er ebenfalls die Unterordnung Clintons als weibliches Subjekt. Sowohl Obama als auch Clinton verdeutlichen, dass Subjektivität im Feld der Diversität spannungsreich ist und aus einander ausschließenden Anteilen besteht. Aspekte von Unterwerfung und Dominanzbeteiligung bestehen gleichzeitig, nebeneinander und durchdringen sich wechselseitig. Mit Blick auf Diversität bedeutet dies, dass sowohl hegemoniale Subjekte als auch unterworfene Subjekte (nach dem dynamischen und die Beteiligung der Subjekte an hegemonialen Zusammenhängen hervorhebenden Modell von Connell) Möglichkeiten haben, kritisch oder affirmativ mit ihrer Positionierung umzugehen. Die hegemonialen Optionen der Beteiligung zielen zwar auf eine Stabilisierung der hegemonialen Ordnung und nicht auf ihre Auflösung, doch sie können auch als Ausgangspunkt der kritischen Mobilisierung wirken. Diversität besitzt offensichtlich die Kraft, gesellschaftliche Gruppen anzusprechen und zu mobilisieren. Damit kann ihr auch das Potenzial unterstellt werden, gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu dynamisieren und sogar verschieben zu können. Gerade das Mobilisierungspotenzial von Diversität ruft jedoch herrschaftsaffirmative Kräfte, stabilisierende Regulierungsbedarfe hervor. Keine Herrschaftsordnung hat ein ernsthaftes Interesse daran, ein Korrekturinstrument hinzunehmen, welches mit der Logik der eigenen Herrschaft inkompatibel ist. Das hegemoniale ‚Flirten’ mit Diversität stellt insofern eine durchaus prekäre Praxis dar. Genau dies ist die Chance emanzipativer Destabilisierung.
I l l u s i o , D i ve r s i t ä t a l s S p i e l e i n s a t z u n d d i e G l e i c h z e i t i g k e i t vo n H e r r s c h a f t s und Widerstandsmomenten Momente von Herrschaftsaffirmation haben Bestand und entfalten ihre Wirkungen gegen, aufgrund von, mit und trotz Momenten von Herrschaftskritik. Mit der Bezeichnung Gleichzeitigkeiten soll eine spannungsvolle Dynamik ins Blickfeld gerückt werden. Verstehen wir diese Dynamik als einen Kampf um die symbolische
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Ordnung, dann können eine Reihe von Phänomenen unterschieden werden, die auf die Regulierung dieser Dynamik bezogen sind. Regulierungstechniken, mittels derer die Schärfe des gesellschaftskritischen Potenzials von Diversität gemindert und Diversität in die herrschende symbolische Ordnung rückgeführt werden soll, können als affirmative Techniken verstanden werden. Anders ausgedrückt erfolgt auf diese Weise, mittels einer Normalisierungsoperation, eine Verschiebung kritischer Instrumente zurück in ‚herkömmliche’ Verfügungsgewalten. Mein Interesse in diesem Beitrag gilt insbesondere rassismusrelevanten Wissensregulierungen, wobei es mir weniger allein um die Produktion von rassistischem Wissen oder allein um die Produktion von rassismuskritischem Wissen geht, sondern vielmehr darum, die Schnittstellen und Konnexionen dieser Wissensregulierungen zu betrachten. In Zeiten des Hypes um Diversität ist rassistische Normalität immer vermittelt von der Gleichzeitigkeit rassistischen und rassismuskritischen Wissens. Für die Schnittstelle beider Wissensbestände verwende ich die Bezeichnung Diversitätswissen. Rassismus in der heutigen Wissensgesellschaft wird über die Vermittlung von Diversitätswissen in eine Normalität überführt, wobei das (soziale) Feld6 der Wissensproduktion und der Wissensvermittlung die Normalisierung rassistischer Hierarchien reguliert. Mit der Spielmetapher Bourdieus können Verhandlungen um Einfluss in spezifischen gesellschaftlichen Bereichen analytisch erfasst werden. Zwar zielt sein Spielbegriff in erster Linie darauf ab, Kritik an Interaktionsabläufen zu üben, innerhalb derer Macht, Dominanz oder Anerkennung ungleichmäßig verteilt, erhalten und stabilisiert sind. Allerdings ist es durchaus möglich, dass durch die Beteiligung an den ‚Spielen’ um Macht, Einflussverhältnisse potenziell verschoben werden.7 Bourdieus Konzept
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Der Begriff ‚Feld’ bezeichnet einen spezifischen Gesellschaftsbereich (Wirkungsbereich) und der darin enthaltenen Logik; vgl. Krais 2000, 36. Bourdieu führt das nicht aus, seine Erläuterung bezieht sich auf ‚Spiele’ als Orte der Regulation exklusiver Macht. Es lässt sich jedoch ableiten, dass die Beteiligung an Spielen die Regulation von Macht in dem Feld verschieben kann (so verstehe ich Andresen 2001, Krais 2000). Akteur/inn/en verändern das Spielfeld durch ih-
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lässt sich in Hinblick auf die folgenden Überlegungen ein durchaus widerständiges Potenzial unterstellen: Sowohl Normalität als auch Wissensproduktion sind nicht nur eingebunden in symbolische Kämpfe, sondern ziehen solche Kämpfe, in denen es um die Frage der Vorherrschaft symbolischer Ordnungen geht, auch nach sich. Die Grundbedingung des Spiels bildet die Illusio, das heißt der Glaube an die Sinnhaftigkeit des Spiels und den Lohn des eigenen Einsatzes. Diese Illusio eignet ebenfalls eine grundlegende Ambivalenz, die die Ambivalenz des Beteiligen-Könnens ist: Indem Akteure sich den Verhältnissen unterwerfen, erlangen sie die Möglichkeit, auf diese Einfluss zu nehmen. Wenn man mit Beate Krais8 und Sünne Anderesen9 beispielsweise die Beteiligung von Frauen im akademischen Feld analytisch mit dem Illusio-Begriff erfasst und das soziale Feld samt seiner Beteiligungsstruktur einmal als Kräftefeld (Andresen) und einmal als Kampffeld (Krais) beschreibt, dann sind darin jedwede Anerkennungsakte ‚spielförmig’ organisiert und reguliert. Um also Anerkennung in einem spezifischen Feld zu erreichen, müssen einerseits formelle oder informelle Zugangsberechtigungen erworben werden (Zertifikate, habituelle Orientierungen, Kontakte), andererseits muss jedoch auch auf der symbolischen Ebene eine Zustimmung zur Logik des jeweiligen Feldes und seiner Regulierungsbedingungen erfolgen. Diese Zustimmung ist Voraussetzung der Teilhabe, einer Praxis und Bewegung im Feld, die diese potenziell modifizieren kann. Wenn Diversitätswissen als Spieleinsatz die Art und Weise bezeichnet, in der Wissen um und Inhalte von Differenzen als anerkannte Wissensbestände verhandelt werden und Diversität in diesem Zusammenhang als Anerkennungsbewegung bezogen auf Differenz gelesen wird,10 dann geben die Bedingungen für eine
re Beteiligung. Das beinhaltet allerdings die Offenlegung der Logik und der Operationsweisen des Feldes. 8 Krais 2000, 36. 9 Andresen 2001, 10. 10 Diversität lese ich als Produkt (Errungenschaft) sozialkritischer Bewegungen um die Anerkennung unterschiedener Subjektivität und Differenzstrukturen. Den Kampf um Sichtbarkeit von marginalisierten Erfahrungsqualitäten bezeichne ich demzufolge als Anerkennungsbewegung.
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Normalisierung von Diversitätswissen Auskunft über die gesellschaftlich erwünschte Richtung und Qualität der Verankerung von Diversität. Die ernüchternde Feststellung, dass gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse trotz Diversifizierungs- und Pluralisierungsprozesse eine geradezu verblüffende Konstanz aufweisen,11 macht deutlich, dass allein die offizielle Wahrnehmung und Anerkennung von Differenz nichts an dem ungleichen Zugang zu Ressourcen ändert. Diversität existiert daher – so paradox es auch klingen mag – innerhalb eines Spannungsfeldes bereits manifester Ungleichheitsverhältnisse und sozialer Hierarchien, folglich kann der Spieleinsatz Diversität nicht per se als egalisierender Beitrag verstanden werden.12 Der Kampf um die Modifizierung asymmetrischer gesellschaftlicher Verhältnisse hat sich mittlerweile von der Forderung nach Gleichheit zu einer Forderung nach der Anerkennung von Differenz und Diversität verschoben. Diversität als Spiel zu verstehen, verweist über den Bourdieuschen Spielbegriff hinaus auch darauf, dass die spielförmige Einbindung der Diversität in Diskurse auch ein verharmlosender und entschärfender Beitrag ist. Leichtverdauliche programmatische Diversitätsprodukte finden in Werbung und Medien Verbreitung. Diversität wird in bestimmten Spielarten zu einer Harmonisierungspraxis, die die gesellschaftliche Sprengkraft der Aushandlung von Differenzen mildert. Das Programm des von Unternehmen (wie der Deutschen Bank und Ford) eingesetzten DiversityManagements beispielsweise soll konkrete Spannungsfelder im interaktiven Alltag von Unternehmen und Institutionen verringern. Es soll zu weniger rassistischen Übergriffen, Diskriminierungs- und Reibungssituationen kommen. Vielfalt soll das Humankapital als auch die Workforce optimieren. Zugleich dient Diversität dazu, Marktpotenziale auszuschöpfen, indem Unterneh-
11 In den Gesellschaften der Spätmoderne herrschen weiterhin (erstaunlich) stabile Ungleichheitsverhältnisse trotz gesellschaftlicher Pluralisierung. Die Abstände zwischen den gesellschaftlichen Gruppen erweisen sich als konstant und gleichbleibend trotz eines allgemeinen Zuwachses an Mitteln, Komfort und Konsummöglichkeiten; vgl. dazu Michaels 2008. 12 Ebd.: Gesellschaftlicher Ungleichheit hält trotz Prozesse der Individualisierung und Diversifizierung von Lebenslagen an.
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men Diversität z. B. als wirksames Mittel der Ansprache von Kundinnen und Kunden einsetzen. Diversität wird damit in Konsummuster und Konsumstrukturen kritiklos überführt. Die konsumierbare Diversität stellt eine Entschärfung des gesellschaftskritischen Potenzials von Differenz dar. Ein oberflächliches Verständnis von Diversität als Möglichkeit einer ‚Auflösung’ oder gar Auslöschung des Spannungsverhältnisses gesellschaftlicher Ungleichheiten trägt zu ihrer sukzessiven Entpolitisierung bei. Kritiken an diesem normalisierenden Diversitätswissen – frei nach dem Motto ‚Bunte Wohlfühl-Vielfalt für Alle’ – mehren sich inzwischen.13 Ordnungen wirken durch Konstanz, Vertrautheit, durch ihre Fraglosigkeit und Normalität. So verstehe ich zumindest Pierre Bourdieus Analysen zu männlicher Herrschaft.14 Mit der herrschaftskritischen Perspektive Bourdieus geraten besonders solche sozialen Ordnungen in den Blick, die Verhältnisse der Ungleichheit als normal erscheinen lassen (müssen). Er befasst sich mit den Abläufen und Vorgängen, durch die etwa in demokratischen Gesellschaften erklärungsbedürftige soziale Sachverhalte der Ungleichheit in ‚ganz normale Gegebenheiten’ verwandelt werden. Angesichts gegebener Ungleichheiten müsste es – so Bourdieu – zu beträchtlich mehr Aufbegehren, Zuwiderhandlungen und Subversionen, zu mehr Delikten und ‚Verrücktheiten’ kommen.15 Dass dem nicht so ist, liege an der Effizienz der Ordnungsapparate. Um die Produktion von Normalität und die Konstanz von (Herrschafts-)Ordnungen zu betrachten, ist ein Blick in alltägliche Zusammenhänge besonders lohnend. Da die Strukturierung der Alltagswahrnehmung ein hegemoniales Instrument der Normalisierung darstellt, frage ich in diesem Beitrag danach, wie die Herstellung von Normalität tagtäglich ungestört mittels hierarchischer Kodes erreicht wird. Normalität hat viel mit Wiederholung und der Macht zu tun, die von der Wiederholung ausgeht. Ich arbeite in diesem Beitrag
13 Zur Kritik an der Entleerung des herrschaftskritischen Potenzials von Diversität vgl. Lepperhoff/Rüling/Scheele 2007 und Squires 2007. 14 Bourdieu 2005, 7. 15 Ebd.
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mit einer eher metaphorischen Idee von Normalität.16 Diese Idee lehnt sich an Bourdieus Hinweise an, dass Alltagsorientierung mit der Erzeugung von Konstanten zu tun hat.17 Konstanten sind Muster der Erfahrung, Interaktion und der (Nicht-)Wahrnehmung. Bourdieus Kritik an der Wirkmächtigkeit von Konstanten besteht darin, dass eingespielte Interaktionsmuster („Primärerziehung als Frauenarbeit“, „Politik als exklusives Männerspiel“) als Beweis gelesen werden für die Richtigkeit der Einteilungen und Hierarchisierungen in der sozialen Welt, die von diesen Mustern befördert werden. Die Evidenz der Unveränderlichkeit oder Natürlichkeit von (Einteilungs-)Prinzipien ist selbst eine soziale Hervorbringung, die aus der Häufung und Wiederholung von Zusammenhängen Gewissheiten über das Wesen dieser Zusammenhänge ableitet und dadurch die Konstanz von Herrschaft ermöglicht. Diese Erzeugung von Konstanz als alltägliche Praxis der Hegemonie bildet den Orientierungspunkt des hier bedeutsamen Blicks auf Normalität. In analytischer Hinsicht besonders ertragreich erscheinen mir hierbei die drei Wirkungsebenen, die Bourdieu unterscheidet: erstens sozialen Strukturen, zweitens symbolische Ordnungen und drittens die Ebene der Akteure und Akteurinnen und ihre soziale Praxis.18 Normalität wird meiner Argumentation nach auf allen drei Ebenen hergestellt und verankert. Gerade diese dreifache Naht verleiht der Normalität Konstanz und Beständigkeit. Die herrschaftskritische Analyse hergestellter (Diversitäts-)Normalisierung basiert hierbei auf folgenden Prämissen: Erstens, dass es sich bei Normalität um eine in der Geschichtlichkeit ihrer Bedingungen letztlich fragil erweisende Konstruktion handelt (Kontingenz); zweitens, dass Normalität auf eine stillschweigende Anerkennung sozialer Akteure und Akteurinnen angewiesen ist (Unhinterfragbarkeit); drittens, dass die Möglichkeit der Herstellung von alter-
16 Ich arbeite in diesem Beitrag nicht mit einer systematisierten Begriffsbestimmung von Normalität. Darüber hinaus ist meine begriffliche Orientierung auch stark von Diskussionen im Kontext der Gender-Studies-Lehre geprägt. Daher weist sie auch Bezüge zu Foucault (1978) und Link (1999) auf. Diese eingehend zu explizieren, bleibt anderen Arbeiten vorbehalten. 17 Bourdieu 2005, 97-100 und 142-144. 18 Vgl. Andresen 2001, 28-32 und 52-54.
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nativen/parallelen/konkurrierenden Normalitäten immer denkbar ist (Widerstand). Rassistische Normalität ist eine Herrschaftsform, die sich über beständige Kodierung, Aktualisierung und Vermittlung herstellt. Zugleich kann Normalität auch als ein Möglichkeitsraum gedacht werden, in dem sich widerständige Praxen verankern und vermitteln lassen. Die Herstellung von Wissen beispielsweise über Differenz kann sowohl Mittel zur Stabilisierung einer dominanten Ordnung als auch (ein alltägliches) Mittel ihrer Infragestellung sein. Die Wissensproduktion als Bestandteil von Normalisierung ist in der Lage, als hegemoniales Instrument zu wirken, trägt aber gleichzeitig das Potenzial in sich, genau jene Herrschaftsordnung zu durchkreuzen. Die Tatsache, dass Herrschaftsordnungen in hohem Maße auf Verstärkung und Stabilisierung angewiesen sind, verweist auf die Brüchigkeiten ihres Konstruktionscharakters.
D i e h e g e m o n i a l e R e g u l i e r u n g d e r D i ve r s i t ä t . Konstanz rassistischer Differenzmarkierungen Geht man davon aus, dass sich die hierarchisierenden Inhalte durch kontingente, unhinterfragte, potenziell widerständige Alltagstechniken der Kodierung, Aktualisierung, Vermittlung und Verfügung entfalten, lassen sich folgende Punkte zusammenfassen: • Diversitätswissen wird mittels Kodierung angeeignet. So gibt es beispielsweise eine gute Diversität (die Kenntnis bestimmter Sprachen verweist auf ‚Kompetenz’) und eine schlechte bzw. abweichende Diversität (die Kenntnis bestimmter Sprachen ist hinderlich für den Erwerb von ‚Kompetenz’).19 • Diversitätswissen wird mittels Aktualisierung reguliert. Alte Wissensbestände (rassistisches Wissen) werden recycled und – wie z. B. Schwarzsein als Marker absoluter Differenz – in aktualisierten Kontexten für verschiedene Debatten als Referenz ausgegraben.20 Es gibt vertraute Differenzkonstruktionen, die 19 Vgl. Martin 2008, 130ff. 20 Vgl. die nachfolgende Diskussion über „Gay is The New Black“ im vorliegenden Text.
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immer wieder neu (auf-)geladen in regulierende Diskurse eingespeist werden. Diversitätswissen wird mittels Verfügung reguliert. Geanderte Subjekte verfügen nicht selbst über ihre Differenz bzw. Differenzmarkierung, sondern diese wird herangezogen, um hegemoniale Bilder und Konstruktionen auszustatten.21 Differenz ist hier auf eine paradoxe Weise eingewoben in hegemoniale Selbstaussagen. Rassistisch markierte Andere werden beispielsweise in Bildkonstruktionen eingesetzt, um (die ganz alltägliche, normale) Urbanität zu signalisieren bzw. zu untermauern. Städte wie Paris, London oder New York werden mittels rassistisch markierter Subjekte als authentisch urbane Orte konstruiert. Filme über diese Städte scheinen ohne lässige Schwarze Bike-Boten (NY), spielende Schwarze Kinder (Paris), aufwendiges indisches Essen oder indische Imbisse (London, British Airways) nicht auszukommen Diversität wird kraft Vermittlung veralltäglicht und – im Sinne einer „Nötigung durch Systematizität“22 – beispielsweise über Diversitätshierarchisierungen in diskursive Felder eingespeist.
21 Vgl. dazu das letzte Beispiel im vorliegenden Text. Die Bezeichnung ‚kolonial’ ist inzwischen ein Verkaufsattribut bzw. Gütesiegel geworden. ‚Kolonial’ ist offensichtlich zu einem Signifier für den erlesenen Geschmack, für Wohlbehagen und für eine gediegene Atmosphäre (doxisch) gemacht worden. Der aus einem extrem gewalttätigen Kontext entrissene Begriff ist zu einer Werbe- und Verkaufskategorie normalisiert worden, womit der Diversitätsbezug kolonialisierter Menschen als historischer und gegenwärtiger Kontext globaler gesellschaftlicher Ungleichheit als entschärft oder sogar ausgelöscht gelesen werden muss. 22 Mit Nötigung durch Systematizität bezeichnet Bourdieu die Verflechtung von kodierten Aussagen in Alltagsinhalten. Wissensbestände, seien es nun Sprichwörter, der Volksmund, religiöse Texte, wissenschaftliche Texte, politische Reden beinhalten durch Nötigung eben erstaunlich ähnliche Aussagen über das hierarchische Geschlechterverhältnis, beispielsweise darüber, dass Frauen schweigen sollen, für die Kinderbetreuung zuständig sind, hinter oder neben ihrem Mann stehen sollen usw. Bourdieu spricht von einem „unerschöpflichen Spiel“ der Einteilung der sozialen Welt. Es handelt sich dabei um die beständige Erzeugung von binären und oppositionellen Charakterisierungen. Diese willkürlichen Konstrukti-
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Die hegemoniale, von einer paradoxen Gleichzeitigkeit von Sichtbarmachung und Verhüllung getragene Logik des Feldes der Diversität besteht darin, Anerkennungsstrategien und Anerkennungsakte so zu verwerten, dass die hegemoniale Ordnung erhalten und stabil bleibt. Die Neupositionierung ehemals unsichtbarer Subjekte im Zuge von Diversität lässt sie sozusagen als diversitätsberechtigt erscheinen, andererseits bleibt die Anerkennung von Diversitätsbezüge auf den Komplex der ‚guten’ Diversität beschränkt. Diese differentielle Artikulation ist die Voraussetzung dafür, dass bestimmte Subjektinszenierungen nunmehr gewinnbringend divers werden, da sie im und als ‚Gegensatz’ zu rassistisch markierten Subjekten mit problematischer Diversität konstruiert sind. Durch diese Gleichzeitigkeit von Anerkennung, Hierarchisierung und Illegitimierung verschieben sich die Ausschlusslinien in subtile und schwer fassbare Bereiche. In Zeiten selbstverständlich geltender gesellschaftlicher Pluralität richtet sich die öffentliche und politische Aufmerksamkeit auf die Steuerung und Kontrolle von Differenzverhältnissen bzw. von Diversitätsverhältnissen. Meine zentrale Aussage besteht in diesem Zusammenhang darin, dass Differenzmarkierungen inzwischen ‚warenförmig’ sind und darüber hinaus, dass Differenz – für durch Diversität sichtbar gemachte Subjekte – eine Fremdware und keine Selbstware darstellt. Nicht die als different markierten Subjekte verfügen über ihre Differenzmarkierung, sondern die Operationen und Apparate der hegemonialen Ordnung. Differenzmarkierungen stellen in der heutigen pluralisierten (Wissens-) Gesellschaft nicht mehr nur relevante, sondern durchaus mächtige Symbole dar. Um eine rassistische Normalität herstellen zu können, ist es somit folgerichtig, diese Symbole unter Kontrolle zu bringen und damit zusammenhängende Wahrnehmungsweisen zu regulieren.
onen basieren auf so genannten homologischen Gegensätze (hoch/ tief, oben/unten, vorne/hinten, gerade/krumm, trocken/ feucht usw.). Hier entlang werden alltägliche Erscheinungen kodiert, also aufgeladen und hierarchisiert. Gesellschaftliche Bedeutungen werden so durch Repetition und Verwebung verdoppelt und verstärkt; vgl. Bourdieu 1997.
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Isolierbare Gayness und Post-Blackness? An einem Beispiel aus der gegenwärtigen politisch-juristischen Debatte um intersektionelle Subjekte – in der Bewegung um Bürger/innen/rechte in den USA – möchte ich die normalisierende Regulierung über die Gleichzeitigkeit von Anerkennung und Illegtimierung veranschaulichen. Auf dem Cover der Zeitschrift The Advocate vom 16. Dezember 200823 steht in weißem Schriftzug auf schwarzem Hintergrund „Gay is the New Black“ und darunter als zweite Überschrift „The Last Great Civil Rights Struggle“. Diese diskursive Setzung hat eine breite Debatte über Verschiebungen, Ersetzungen und Auslöschungen von Differenzmarkierungen nach sich gezogen. Schwarz (Black) gilt schon in der Tradition von Markierung offensichtlich als Supermarker.24 Der Slogan „Frauen sind die N**** der Welt“, verweist auf diese Tradierungszusammenhänge.25 Die Zeitschrift The Advocate bedient sich dieser Referenz, Black als Marker absoluter Differenz, in einer Bewegung der Gleichzeitigkeit. Erstens wird Black anerkannt als der Hinweis auf schlechthin nicht legitime Ungleichheit. Zweitens wird Blackness geschichtlich, politisch und kulturell „entleert“ und mit einem neuen Symbol der Ungleichheit überschrieben. Es entstehen also paradoxe Verschiebungslinien, denen eine Einseitigkeit und eine Art Entweder-Oder-Denken zugrunde liegen. Kimberle Crenshaw macht mit der Kritik an „Gay is the New Black” auf die Ausblendung der Intersektionalität von Subjekten aufmerksam.26 Schwarze Lesben, Schwule, transidentische, bi- und polysexuelle Positionierungen sind in der Logik von „Gay is the New Black” nicht denkbar. LZ Granderson formuliert seine Kritik – selbst als Black und Gay positioniert – in einem Kommentar wie folgt: „Despite the catchi-
23 Ebd. 2009. 24 Bourdieu bezeichnet Schwarzsein (bzw. „Hautfarbe“) als die symbolisch wirksamste distinktive Eigenschaft (Emblem, Stigma), obwohl es sich dabei um „eine völlig willkürliche körperliche Eigenschaft ohne jede Voraussagekraft“ (Bourdieu 2005, 8, 161, 194 und 201) handelt. 25 Ich verzichte darauf, das N-Wort auszuschreiben. Zur Kritik an unzulässigen Vergleichen vgl. Schultz 1990, 51. 26 Vgl. Crenshaw 2009.
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ness of the slogan, gay is not the new black. Black is still black. And if any group should know this, it's the gay community.”27 Der gleichzeitige Bezug auf Gesellschaftskritik (Civil Rights Movement) und die Vermittlung von rassistischem Wissen (die Aussage „Schwarz ist der absolute und natürliche Marker für Differenz, Hierarchie und Ausschluss“) regulieren das Symbol Schwarz und verfügen somit über die Differenzmarkierung Schwarzer Subjekte. Eine politische Selbstbezeichnung wird damit gegen ihre spezifische Entstehungsgeschichte und -intentionen (im Kontext von Black Struggles) resignifiziert und designifiziert. Forderungen von Schwarzen sind nach dieser symbolischen Verschiebung nicht mehr möglich, da sie keine Schwarzen mehr sind – zumindest soweit sie und weil sie nicht ‚gay’ sind. Nur unter dieser Voraussetzung sind sie wieder Teil der ‚neuen’ Schwarzen. Jede andere Form Schwarzer Forderung wäre töricht und sie wäre illegitim. Die Illegitimität der Anerkennung rassistischer Differenz und der Anerkennung als Schwarze Subjekte wird ermöglicht durch die Verschiebung von einer rassistischen Differenzmarkierung zu einer Markiertheit qua Begehren.
Normalisierung von Kolonialität als warenförmige Kennzeichnung In einem Artikel der Zeitschrift mobil der Deutschen Bahn mit dem Titele „Namibia – Safari zu den Sternen“28 findet sich eine BildTextkonstruktion. Es handelt sich um ein Foto einer Einkaufsstraße in Windhoek. Im Zentrum des Bildes ist eine junge Schwarze Frau zu sehen, die mit gesenktem Blick eine Straße überquert und auf ein Straßenschild zuläuft. Auf dem Schild finden sich Angaben, die in unterschiedlicher Weise Bezug auf Deutschland nehmen. Weitere Schilder im Hintergrund intensivieren den symbolischen Bezug auf Deutschland, der die Szene zu prägen scheint. Im Hintergrund, unmittelbar hinter der Schwarzen Person, sind drei Weiße zu sehen, die um einen Jeep herum stehen, verstreut und zugleich versammelt. Eine der weißen Personen trägt zwei Einkaufstüten, eine Person kramt in einer Geldbörse, die dritte Per27 Granderson 2009, 1. 28 Vgl. ebd., 34.
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son steht vor dem Kofferraum des Jeeps. Der Jeep ist vor einem Einkaufszentrum geparkt. Auf einem Schild ist eine doppelte Angabe zu sehen: Shopping-Centre und Einkaufs-Passage. Der Verfasser des Artikels hat zwei Textaussagen an dem Bild angebracht, direkt innerhalb des Fotos, rechts neben der jungen Schwarzen Frau, heißt es: „Kolonialgeschichte an jeder Straßenecke“ und als Bildunterschrift, links unterhalb und außerhalb des Fotos, ist zu lesen: „Atmosphäre der Toleranz: Windhoek“. Bilder sind Bestandteil der symbolischen Ordnung und haben daher eine gesellschaftliche Orientierungsfunktion. Sie sind dabei nicht nur optisch wirksam, vielmehr entfalten sie zugleich eine sozial-regulative Bedeutung.29 Bilder sind „Chiffren gesellschaftlicher Sachverhalte“.30 Bilder sind grundsätzlich durch eine potenzielle Bedeutungsvielfalt charakterisiert. Ihr Sinnzusammenhang lässt sich daher vorwiegend durch ein Abtragen der Bedeutungsschichten erfassen. Nach Roland Barthes wird die potenzielle Bedeutungsvielfalt jedoch unterbrochen durch die Anbringung von Bildunterschriften. Worte wirken steuernd auf die Bildaussage, auf die Botschaft des Bildes. Sprachliche Botschaften haben, so Barthes, eine Verankerungsfunktion. Sie ‚fixieren’ das Bild im Sinne einer Steuerung eines voraus festgelegten Sinns. Es ist daher häufig der Untertitel, durch den eine der vielen möglichen Bedeutungen des Bildes (erst) ausgewählt und in Worten verankert wird.31 Stuart Hall argumentiert, dass Repräsentationspraktiken von Differenz32 auf vertraute stereotype Symbole in einem Prozess der Signifizierung zurückgreifen. Dabei sind koloniale Muster und imperiale Eroberungsszenarien wiederkehrende, konstante Elemente. ‚Kolonial’ als Markierung eines gewaltvollen Differenz-
29 Ich bin daran interessiert, die symbolische Regulierung der Bildkonstruktion so zu restrukturieren, dass die Adressierung der über das Bild imaginierbaren sozialen Ordnung als an ein (vorwiegend) weißes Publikum gerichtetes sichtbar wird. Das vielfach in mobil gesehene Bild verstehe ich als Bespiel für die Erzeugung von Konstanz und unmerklicher, rassistischer Fraglosigkeit. 30 Müller-Doohm 1995, 443. 31 Barthes (1996), zitiert nach Müller-Doohm 1995, 451 und nach Hall 2004, 111. 32 Hall 2004, 108-113.
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verhältnisses, wird hier der Stachel gezogen. Kolonialismus wird hier mit romantisierten Andeutungen, mit Wohlstand und Wohlbehagen verknüpft und somit symbolisch befriedet und reguliert. In Anlehnung an Hall lese ich die Darstellung der Schwarzen Frau in der Fotoaufnahme als Aktualisierung eines symbolischen Musters rassifizierter Repräsentation. Rassifizierte Differenz wird hier im Dienste der Konstruktion von entschärfter Kolonialität und gelebter, alltäglich und belanglos erscheinender Toleranz eingesetzt. Da dieser Bericht (wie Reiseberichte im Allgemeinen) darauf ausgerichtet ist, andere Menschen zur Nachahmung zu animieren, ist mit dem Bericht und der Darstellung eine warenförmige Anpreisung verbunden: „Reisen sie nach Windhoek, die Menschen sind inzwischen entspannt mit den Differenzverhältnissen – einschließlich der Kolonialität.“ Da „feminizing territory sells“, wird die weibliche Differenzmarkierung konstant als Symbol eingesetzt, um Länder oder Orte zu verkaufen. Die Darstellung von Frauen ist lukrativ. Für Werbung ‚anderer’ Orte ist die Darstellung ‚anderer Frauen’ lukrativ. Hierbei gehört es zur Logik hegemonialer Darstellung, dass das eine Differenz markierende Subjekt besprochen wird und nicht in seiner eigenen Stellungnahme zu Wort kommt; es gehört zur hegemonialen Darstellung, dass die Inszenierung der Frau instrumentell ist: Sie – Frau wie Darstellung – dient der Beruhigung und Beschwichtigung, in Windhoek lässt es sich aushalten (für Weiße). Anne McClintock arbeitet in ihren Analysen über die Verknüpfung von rassifizierenden, vergeschlechtlichenden und sexualisierenden visuellen Darstellungsschemata die wiederkehrenden Themen der Grenzziehung und der Domestizierung heraus.33 (Kolonialisierte) Frauen wurden als Grenzmarkierung im Kontext der imperialen Eroberung eingesetzt. Dabei handelte es sich, so McClintock, um eine symbolische Ritualisierung von Grenzen und Grenzübergänge. Frauenfiguren wurden visuell eingesetzt, um unsichere und potenziell von Rückeroberung bedrohte Orte zu markieren.34 Frauen dienten insofern zugleich als Symbole der Vermittlung (mediating figures) und auch als Symbole für Eingangsorte der umkämpften Standorte (borders and orificies of the 33 Vgl. McClintock 1995, 25-27. 34 „Female figures were planted at ambiguous points of contact” (McClintock 1995, 24).
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contest zone). Die koloniale, weibliche Differenzmarkierung signalisiert den erleichterten Eintritt in ein umkämpftes Gebiet. Dies ist die Aktualisierung einer vertrauten historischen Konstruktion, in der die symbolische Verfügung über Andere mit ihrer materiellen Inbesitznahme korrespondiert. Blickverhältnisse, die durch die Bildkonstruktion aktualisiert werden, knüpfen an Vertrautheiten an und bestärken sie. Die Darstellung junger Frauen ist ein vertrautes Signal der Offenheit und der fehlenden Bedrohlichkeit: Die Lage ist entspannt und freundlich. Auf der Ebene der symbolischen Ordnung sind Frauen ein Signal der Aufnahmebereitschaft, des Dienens oder der Unterhaltung. Im Bild der Zeitschrift mobil wird die weibliche Differenzmarkierung durch den gesenkten Blick kodiert, eine Symbolisierung der Domestizierung. Die weibliche Person wird somit dem Blick der Anderen, über den sie nicht verfügt, dargeboten und dem, was der andere Blick sieht, freigegeben. Sie rückt damit nicht als Handelnde in den Blick, vielmehr wird sie auf ein Signal für andere reduziert. Das visuelle Signal der Domestizierung verweist allerdings auch gleichzeitig auf die Fragilität der Verfügungsverhältnisse.35 Die Notwendigkeit, rassistisch markierte, genderisierte Subjekte als freundlich oder unterwürfig zu zeigen, stellt eine normalisierende Orientierungsstruktur dar. McClintock spricht in diesem Zusammenhang von einer doppelten Ausrichtung der Eroberung. Einerseits kommt in den visuellen Darstellungen Aggression (oder Überlegenheit) zum Ausdruck, andererseits aber auch hegemoniale Furcht (anxiety and paranoia). Das bezeichnet McClintock als Krise der dominanten Position, da diese immer eine Rückeroberung oder Vergeltung befürchten muss. Der vordergründigen Botschaft – „seht, die junge schwarze Frau: Offensichtlich handelt es sich um einen friedfertigen Ort der Toleranz“ – ist ein bedeutender Subtext zugeordnet: die Konsumkulisse. Offensichtlich findet sich die angepriesene ‚tolerante Atmosphäre’ in der geteilten, alltäglichen Aktivität des Shoppings. Die bildlich und schriftlich wiederholten Referenzen auf das Warenhafte (das Schild „Shopping Centre – Einkaufspassage“, das Kramen in der Geldbörse, die Einkaufstüten) verdeutlichen, dass
35 Vgl. ebd., 26.
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selbst in den bedeutsamsten Feldern existenzieller Rekreation Toleranz herrscht.
Al t e r n a t i ve An e r k e n n u n g s s t r u k t u r e n als Versuch gegen die Normalisierung von epistemischen Enteignungen „Many male researchers who regard themselves as progressive do not imagine that their politics should extend to the realm of the familiar, to that which is everyday and intimately known. Nor do they view practice in this domain – whether their own, that of other males or that of female members of the household – as relevant to social research.”36
Charmaine Pereiras Ermahnung, das Vertraute relevant zu setzen, soll am Ende des vorliegenden Textes überleiten zu der Ebene der eigenen sozialen Praxis. Ich möchte einige Überlegungen zur Qualität der Praxis im sozialen Feld von Diversity (Diversity-Politics/ -Studies/-Management) andeuten. Ich bin vor allem daran interessiert, nach Möglichkeiten einer kritischen Praxis, orientiert ‚am Vertrauten’, zu fragen. Dabei begreife ich die Intervention in Normalitätskonstruktionen als eine riskante Praxis und unterstelle gleichzeitig die Möglichkeit einer kritischen Praxis. Ich frage danach, ob es ausreichend ist oder womöglich nicht mehr möglich ist, Normalisierungsprozesse anzuhalten, zu entschleunigen oder zu unterbrechen oder ob es darüber hinaus um eine kritische Vervielfältigung von dynamisch zu haltenden Normalitäten gehen soll oder kann. Bedeutend ist meiner Auffassung nach, dass ein enger Zusammenhang zwischen Wissensregulierung und Veralltäglichung besteht. In gewisser Weise (‚Nötigung durch Systematizität’) ‚erzählen’ die Bestandteile des praktischen Diversitätsalltags beständig die ‚gleiche Geschichte’: Aussagen über hierarchisierte Partizipation, über die Illegitimität von Bedürfnissen und Forderungen und über die Unmöglichkeit der Verfügung über die eigenen Differenzmarkierungen. Systematizität stellt sich her über Wiederholungen, Regelmäßigkeiten und Repetition. Um kritische Praxis als eine Transformation des Feldes verstehen und gestalten zu kön-
36 Pereira 2002, letzte Seite.
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nen, erscheint mir daher besonders gewinnbringend eine Verschiebung der analytischen Wahrnehmung, weg von den ‚großen Projekten’ hin zu kleinformatigen, lokalisierten und temporalisierten Aspirationen, die verstanden werden können als stetige Variation einer Hegemoniekritik. Im Sinne dieser Akribie kann auch Bourdieu in seinen minutiösen Analysen zur Einschreibung von Geschlechtertexten in ritualisierten alltäglichen Abläufen gelesen werden. Das Feld von Diversitätswissen wird ganz alltäglich auf einer nicht zu unterschätzenden Weise über Anerkennungs- und Missachtungsakte reguliert. Beate Krais spricht (bezogen auf Genderbarrieren) von einem Ignorieren der epistemischen Arbeiten von Frauen in der Wissenschaft.37 Kämpfe um Anerkennung, genauer: um die Regulierung von Anerkennung, werden strukturiert von alltäglichen epistemischen Privilegierungen und Hierarchisierungen. Zwar werden epistemische Inhalte von geanderten Subjekten durchaus als interessant aufgegriffen, allerdings gehen sie in die Verfügung hegemonialer Apparate über.38 Sie werden in die Lo-
37 Krais 2000, 47. 38 Dazu zähle ich Wikipedia, zu der ich inzwischen ein zutiefst ambivalentes Verhältnis pflege. Ich habe durch eigene Wikipedia-Editing als virtuell unmarkierbares Subjekt folgende Beobachtung gemacht: Meine Subjektivität besteht trotz Virtualität im Wechselverhältnis zu meiner reellen gesellschaftlichen Positionierung in ihrer Materialität. Der Einblick in normalisierte Abläufe aufgrund der Beteiligungsstrukturen am Editing als ein Spiel um Einfluss im Bourdieuschen Sinne ist insofern für das Thema dieses Beitrags aufschlussreich. Meine Beiträge sind einige Male hintereinander gelöscht worden, weil der Beitrag/Begriff als „nicht relevant“ eingestuft wurde. Meine Textteile sind stets aufgrund der inklusiven Schreibform (von anderen Verfassenden) in die männliche Schreibweise umgewandelt worden, mit der Belehrung bzw. dem Verweis auf die entsprechenden Wiki-Statuten, dass nur die männliche Schreibweise, aufgrund von Vereinheitlichung, zulässig sei. Ich habe daher sehr viele Erfahrungen mit Ordnungsrufen und mit der sehr beschränkten Verfügung über meinen genderkritischen Blick in der Wissensproduktion/Vermittlung auf Wikipedia erfahren. Zugleich hat sich Wikipedia nicht ganz zu unrecht als Symbol für die massenmediale Normalisierung von Wissenshandel etabliert. Wikipedia bildet oftmals die erste Referenz bei Online-Recherchen.
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gik der Herrschaftsoperationen eingebunden und erhalten dadurch ihre Normalität bzw. Unhinterfragbarkeit. Diese herrschaftsaffirmative Regulierung bezeichne ich als epistemic Dispossession (Epistemische Enteignung). Charmaine Pereira spricht von “Autonomous Sites of Knowledge Production” und grenzt diese ab von “Mainstream Sites of Knowledge Production”.39 Beide Kontexte sind für kritische Interventionen in doxischen Wissensanordnungen entscheidend. Normalisierungsprozesse funktionieren allerdings so, dass gesellschaftskritische Wissensproduktionen erstaunlich schnell zum Mainstream werden. Es bedarf also bewusster Strategien, um autonome Orte der kritischen Wissensproduktion aufzubauen und am Leben zu erhalten (to nurture Spaces of Critical Thought, wie Pereira es formuliert40). Die damit verbundene Hoffnung ist, dass solche Kontexte der kritischen Wissensproduktion die Logik und Effizienz von Normalisierungsapparaten nachhaltig destabilisieren. Es lohnt sich meiner Ansicht nach, weitere kreative Formen von Anerkennungsstrukturen nicht nur zu imaginieren, sondern auch als Investition gegen epistemische Enteignungen zu initiieren und zu verstetigen. Damit können Vermittlungswege, welche nicht unmittelbar in den Institutionen der normalisierten Wissensproduktion des Mainstreams impliziert und verstrickt sind, ausgebaut werden. Kimberle Crenshaw nennt eine ganze Reihe von Strategien mittels derer als different markierte Subjekte die Verfügung über die eigene Wissensproduktion und Wissensvermittlung ausbauen und vorantreiben können.41 Auf eine davon möchte ich abschließend hinweisen. Kimberle Crenshaw gründete (gemeinsam mit Luke Charles Harris) die Think Tank: „The African American Policy Forum“. Diese Struktur ermöglichte, Crenshaws Intersektionalitätstheorie im Kontext ihres wissenskritischen Anspruchs von Critical Race Theory weiterzuentwickeln. Die breite (unkritische) Aneignung ihrer Intersektionalitätstheorie durch etablierte Regulierungspraxen (Mainstream) hat zur Folge, so Crenshaw, dass die Entstehungsgeschichte der Intersektionalitätsperspektive und ihre erkenntnispolitische Ambition im Zusammenhang von Black Fe39 Pereira 2002, letzte Seite. 40 Ebd. 41 Vgl. Crenshaw 2009.
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minism ausgelöscht worden ist.42 Durch ihre Think Tank ist eine Veralltäglichung der Verbreitung ihrer kritischen, epistemischen Produktion in dem starken Bezug auf den Aktivismus Schwarzer Frauen möglich geworden. Dies verstehe ich als eine Rückeroberung und gleichzeitig eine Erhöhung der Selbstverfügung über die (kritische Ausrichtung) eigener Wissensressourcen. Think Tanks in diesem Sinne sind in der Bundesrepublik Deutschland bislang nicht besonders verbreitet. Als kommunikative und epistemische Praxis höherer Selbstverfügung sind eher Wikis und Blogs gängig.43 Multimediale Formate und Social Networking Instrumente eröffnen Möglichkeiten von Internet Activism von Online Communitybuilding und damit ganz konkrete Potenziale der Selbstverfügung. Solche neuen Autonomous Spaces sind für die Entwicklung von kritischer Diversität als veralltäglichte Wissenspraxis meiner Ansicht nach unverzichtbar. Kritische Wissensproduktionen und Wissensvermittlungen müssen in der Lage sein, sich kreativ und flexibel mit Operationen der Veralltäglichung auseinanderzusetzen, um nachhaltig wirken zu können. Dabei sehe ich keinen Endpunkt, kein fixes Ziel, das es zu erreichen gäbe, vielmehr geht es um eine kritische Vervielfältigung von Normalitäten, die dynamisch gehalten werden und dadurch kritisch hinterfragbar bleiben.
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42 Ebd. 43 Das Gender Wiki des ZtG (Zentrums für transdiziplinäre Studien der Humboldt Universität Berlin) ist ein m. E. gelungenes Beispiel für einen solchen Kontext der Produktion von kritischem Wissen. Die Einträge zu Begriffe wie Geschlecht, Mann, das N-Wort, Rasse etc. unterscheiden sich erheblich von dem normalisierten Wissen zu diesen kategorialen Bestimmungen bzw. Bezeichnungen auf Wikipedia.
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Vom Objekt zum Subjekt. Über erforde rlic he Re flex ione n in der Migrations- und Rassismusforschung WIEBKE SCHARATHOW
Einleitung Als machtvolles System von Diskursen und Praxen der Unterscheidung von Menschen in (selbstverständlich) Dazugehörige und nicht (fraglos) Dazugehörige und den mit dieser Kategorisierung in soziale Gruppen einhergehenden Bedeutungskonstruktionen, strukturieren Rassismen eine hierarchisierte soziale Ordnung, in der gesellschaftliche Ungleichheit ihre Legitimationen findet. Es gibt kein Außerhalb, kein Jenseits dieser Ordnungsstrukturen. Als machtvolle Normalität haben sich Unterscheidungen in gesellschaftlich dominante wie marginale Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster eingeschrieben, werden ausgrenzende Diskurse, Strukturen und institutionelle Abläufe sowie Selbstverständlichkeiten und die mit ihnen verbundenen ‚Platzverweise‘ gerechtfertigt. Rassismus ist damit allgegenwärtig: in institutionalisierten Strukturen, in sozialen Beziehungen, in öffentlichen Debatten und Diskursen und auch in Wissenschaft und Forschung. Im Sinne einer rassismuskritischen (Forschungs-)Praxis muss es darum gehen, rassistische Strukturen und Deutungsangebote sowie das eigene Handeln in diesen Strukturen beständig zu reflektieren und hinsichtlich machtvoller Effekte zu befragen sowie
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alternative, kritische und widerständige Formen des Handelns und des Forschens zu entwickeln. Im Folgenden soll insbesondere das Nachdenken über die Beziehung zwischen Forschenden, die der Mehrheitsgesellschaft angehören, und ‚Beforschten’, die marginalisierten, als ethnisch oder kulturell konstruierten sozialen Gruppen angehören, bzw. denen einen solche Zugehörigkeit zugeschrieben wird, im Vordergrund stehen.1 Es sollen Anstöße zur Reflexion der vielfältigen Gefahren der (Re-)Produktion von Unterscheidungen und Asymmetrien im Kontext von Untersuchungen, die sich im Bereich der Migrationsund/oder Rassismusforschung verorten lassen, gegeben sowie nach Möglichkeiten des Umgangs mit diesbezüglichen Herausforderungen und Dilemmata gefragt werden.
Ungleiche Verhältnisse Untersuchungen empirischer Sozialforschung im Bereich von Differenz und Ungleichheit, Migration und Rassismus fragen in der Regel nach Erfahrungen, Kenntnissen und Meinungen von sowohl im öffentlichen Diskurs als auch im Forschungsprozess als ethnisch, kulturell oder religiös ‚anders‘ Markierten. Die Annahme, dass diese Menschen andere Erfahrungen in einer hegemonial und rassistisch strukturierten Gesellschaft machen und auch, dass sich daraus andere Deutungen, Meinungen und (Er-)Kenntnisse ergeben als bei Menschen, deren Zugehörigkeit zu einem majorisierten ‚Wir‘ nicht infrage gestellt wird, ist nahe liegend. Nichtsdestotrotz werden Menschen durch das voraussetzungsvolle Ansprechen ihrer Person als anders-erfahrende, -denkende und -wissende wiederum zu ‚Anderen‘ gemacht. Allen Forschungen im Gegenstandsbereich von Rassismus und Migration inhärent ist die Thematisierung und damit auch die (Re-)Konstruktion von Differenz, das Beschreiben und Benutzen von Kategorien des ‚Ei-
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An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass ich selbst, als der ersten Gruppe zugehörig und mit Jugendlichen der zweiten Gruppe zu Diskriminierungen forschend, Teil einer solchen ambivalenten Beziehung bin. Obgleich meine eigene Untersuchung nicht explizit Thema dieses Artikels sein wird, so ist es mir wichtig, diese Position zu markieren.
VOM OBJEKT ZUM SUBJEKT
genen‘ und des ‚Anderen‘. Da diese stets mit Bedeutungen versehen sind, die als soziale Platzanweiser Auskunft über die Positionierungen von Menschen im gesellschaftlichen Machtgefüge geben und dementsprechend über Privilegierungen und Deprivilegierungen mit entscheiden, sind Forschungen in diesem Feld immer auch ein produktives Wirken in dem Raum, in dem Unterscheidungen in ‚Wir‘ und ‚die Anderen‘, bzw. Andere und NichtAndere und damit auch Hierarchisierungen und Ungleichheiten sowie gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse beständig verhandelt, konstruiert und reproduziert werden. Sozialwissenschaftliche Forschung trägt damit „nicht nur zur Analyse sozialer Differenzen, nicht nur zur Produktion von Erkenntnissen über den Gegenstand soziale Differenz bei, sie ist zugleich auch an der Konstruktion und Fortschreibung des Gegenstandes beteiligt“ (Mecheril/Scherschel/Schrödter 2003, 106). Wissenschaftliches Tun ist mithin Teil des Diskurses, in dem immer wieder aufs Neue festgestellt wird, wer dazugehört und wer nicht dazugehört, wer von Ungleichheitsverhältnissen profitiert und auf wessen Kosten ein Teil der Gesellschaft ihre Privilegiertheit leben kann. Untersuchungen, die sich diesem Gegenstandsbereich widmen, können demnach niemals nicht politisch sein: „[O]b absichtlich oder nicht“, so Paul Mecheril, „Forschungen zu Migration und Ethnizität beziehen [...] Stellung in den gesellschaftlichen Kämpfen um Anerkennung zwischen ethnischen oder aufgrund ihres Migrationsstatus differenzierten Gruppen“ (Mecheril 1999, 242). Unter anderem weil Forschungsergebnisse zur Legitimation von Ungleichheitsverhältnissen bemüht werden können (vgl. ebd.), müssen unbedingt mögliche (unintendierte) Effekte von Forschungsvorhaben bedacht und in Konzeption und Durchführung berücksichtigt werden. In einem solchen Prozess der kritischen Reflexion von Forschungsideen und -konzeptionen gilt es zum einen, nach den eigenen Verstrickungen in gesellschaftliche Machtverhältnisse und ihrem Einfluss auf den Forschungsprozess zu fragen – und dies sowohl auf einer persönlichen als auch auf einer strukturellen Ebene, wie etwa Verpflichtungen gegenüber Geldgebern oder Institutionen. Zum anderen muss nach dem Beitrag, den (die eigene) Forschung und Wissenschaft zur Aufrechterhaltung von Ungleichheitsverhältnissen leistet, gefragt werden. Eine Reflexion des Umgangs und der eingenommenen Perspektiven hinsichtlich des Forschungsgegenstandes ist hier ebenso unerlässlich wie die Aus-
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einandersetzung mit den Beweggründen und Motivationen für die Forschung sowie das Nachdenken über etwaige Konsequenzen für die Beteiligten wie für den wissenschaftlichen und politischen Diskurs, etwa hinsichtlich der Verfestigung von ‚Wir‘- und ‚Sie‘-Kategorisierungen.2 Bezüglich der Frage nach den Konsequenzen für die ‚Beforschten‘ gilt es die Aufmerksamkeit sowohl auf die konkret beteiligten Einzelnen als auch auf die soziale/n Gruppe/n, die sie – scheinbar – repräsentieren, zu richten und zu betonen, dass hier jeweils die Notwendigkeit besteht, sowohl eine reflexive Sensibilität gegenüber möglichen unintendierten, negativen Effekten zu entwickeln, als auch offensiv die Frage zu stellen, welchen Nutzen die Forschung für die ‚Beforschten‘ hat.
Positioniertheit von Wissen Thematisiert werden müssen mithin gesellschaftliche Verstrickungen und die Frage, wer über wen mit welchen Konsequenzen spricht und schreibt, wer also wen repräsentiert und welches Wissen auf diese Weise aus welcher Perspektive und mit welchen Interessen zu wessen Nutzen generiert wird. Insbesondere das Forschen in der verbreiteten Konstellation, in welcher machtvolle Forschende3 auf der einen Seite stehen und in Diskursen, Reprä2
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So konstatieren etwa Paul Mecheril, Claus Melter und Farah Melter hinsichtlich der Jugendmigrationsforschung der letzten Jahre, dass in zunehmenden Maße Lebenssituationen, Bildungspartizipation und Handlungspraxen so genannter Jugendlicher mit Migrationshintergrund thematisiert werden. Obgleich dies durchaus zu begrüßen ist, weil auf diese Weise alle Jugendlichen – und nicht, wie bisher, vor allem Jugendliche ohne Migrationshintergrund – zum Thema werden, sehen die Autoren und die Autorin aber auch die Gefahr, dass diese Forschung aufgrund der Tatsache, dass sie sich vornehmlich als Auftragsforschung und damit in Abhängigkeit von Geldgebern und politischen Förderperspektiven entwickelt hat, zur gesamtgesellschaftlichen „Wahrnehmung von Migration als ‚Problem‘ und ‚den Menschen/Jugendlichen mit Migrationshintergrund‘ als Ursache des Problems“ beiträgt (Mecheril/Melter/Melter 2008, 68). Machtvoll hinsichtlich ihrer Position als Forschende im Forschungsprozess, wie auch in Hinblick auf ihre soziale Positionie-
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sentations- und Partizipationsfragen benachteiligte ‚Beforschte‘ auf der anderen Seite – was u. a. auch ein Effekt einer rassistisch strukturierten Normalität ist, in der hinsichtlich des Zugangs zu Ressourcen, z. B. zu Ausbildung, nicht von Chancengerechtigkeit gesprochen werden kann – bedarf der Reflexion dieses ungleichen Verhältnisses und seiner möglichen Effekte. Der Ort, von dem aus (Forschungs-)Fragen formuliert werden, von dem aus geschrieben und gesprochen wird, ist nicht nur in dem Sinne ein machtvoller Ort, als dass von hier aus Inhalte und Vorgehen von Forschung und damit auch von Erkenntnisprozessen bestimmt werden; es ist auch ein Ort, der mit gesellschaftlich verankerten Machtpositionen, Perspektiven und wirkungsvollen (öffentlichen wie wissenschaftlichen) Diskursen verwoben ist. Da Wissen immer auch in Anschluss an und in Auseinandersetzung mit bereits vorhandenen sozialen und diskursiven Wissensbeständen generiert, reproduziert oder transformiert wird, ist Wissensproduktion niemals als unabhängig von wissenschaftlichen wie gesellschaftlichen Diskursen, Debatten und Positionen zu betrachten. Die diskursive Produktion von Wissen steht somit immer auch in engem Zusammenhang mit der Perspektive, in der bzw. mit dem Ort, von dem aus geforscht, gesprochen und geschrieben wird. Jedoch wird die Perspektive, der Ort des ‚Sprechens über‘, häufig nicht als ein auf die Forschung einflussnehmender Ort benannt und problematisiert. In Anlehnung an Ruth Frankenberg, die sich mit der Unsichtbarmachung eines solchen privilegierten Ortes im Rahmen der Auseinandersetzung mit ‚Whiteness‘ beschäftigt hat, lässt sich formulieren, dass von einem solchen Ort der unhinterfragten Normalität und Privilegierung aus a) Menschen nicht nur sich selbst, sondern auch andere und die Gesellschaft betrachten und bestimmen, dass b) dieser Ort selbst unthematisiert, unsichtbar und unmarkiert bleibt, aber dennoch mit als ‚Selbstverständlichkeiten‘ wahrgenommenen Praktiken verbunden ist, durch welche Normen gesetzt und ‚Normalität‘ produziert wird und c) dass das ‚Nicht-Anders-Sein‘ eine Position struktureller Vorteile und Privilegien ist (vgl. Frankenberg 1993). Donna Haraway schreibt von einem „[e]robernden Blick“, der sich „in alle markierten Körper [einschreibt] und [...] der unrung als Mehrheitsangehörige und damit in Bezug auf den Gegenstand der Forschung und die mit dieser verbundenen Privilegien.
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markierten Kategorie die Macht [verleiht] zu sehen, ohne gesehen zu werden sowie zu repräsentieren und zugleich der Repräsentation zu entgehen“ (Haraway 1995, 80). Forschende – ebenso wie ihre ‚Forschungsobjekte‘ – sprechen also von einem Ort aus, der durch ihre sozialen Zugehörigkeiten und Positionierungen in spezifischer Weise geformt und mit Bedeutungen und verschiedenen Machtpositionen – z. B. Gehör zu finden oder ‚Normalität‘ definieren zu können – ausgestattet ist. Sie sind eingebunden in vielfältige Diskurse, etwa zu Rassismus, Migration und Integration und in rassistischen Strukturen von Dominanz und Unterdrückung sozialisiert. Verinnerlichte Selbstverständlichkeiten, beispielsweise in Bezug auf unhinterfragte Zugehörigkeiten, auf Dominanzpositionen, die mit Definitionsmacht und angemessener Repräsentation ausgestattet sind, liegen, neben anderen Faktoren, Sehen und Nicht-Sehen, Wahrnehmen, Deuten und Handeln ebenso zugrunde, wie Bilder und Bedeutungskonstruktionen über ‚die Anderen‘, die zu Beforschenden. Diese (häufig unhinterfragte und unthematisierte) Position des oder der Forschenden sowie Bilder und Repräsentationen über ‚die Anderen‘ bringen einen sozialen Wissensvorrat hervor, auf den bei der Konzeptionierung von Forschungsprojekten ebenso zurückgegriffen wird, wie er bei der Datenanalyse Deutungsangebote bereitstellt. Erkenntnis- und Wissensproduktion in Forschungsprozessen als Ergebnis von diskursiven Konstruktionsprozessen zu begreifen, bedeutet jedoch nicht nur, dass es sich bei dem so generierten Wissen nicht um objektives, sondern um soziales Wissen handelt, das unter Bezugnahme auf diskursive Wissensbestände in Interaktion hervorgebracht wird. Es bedeutet selbstverständlich auch, dass die ‚Beforschten‘ – wenn auch, aufgrund ihrer Positioniertheit im gesellschaftlichen wie im Forschungsverhältnis, in anderem Maße – ebenfalls zur Wissensproduktion in diesem Interaktionsprozess beitragen. Konsequenterweise erfordert ein Verständnis von Wissen als situiert, „daß das Wissensobjekt als Akteur und Agent vorgestellt wird und nicht als Leinwand oder Grundlage oder Ressource und schließlich niemals als Knecht eines Herrn, der durch seine einzigartige Handlungsfähigkeit und Urheberschaft von ‚objektivem‘ Wissen die Dialektik abschließt“ (ebd., 93). Aus eben diesen Gründen der diskursiven Verstrickungen und des Lebens und Wirkens in hegemonialen Strukturen dürfen die
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Positionierungen und Perspektiven der ‚Beforschten’ ebenso wenig unberücksichtigt bleiben: Sie sind „von einer kritischen Überprüfung, Dekodierung, Dekonstruktion und Interpretation keineswegs ausgenommen, d. h. sie entziehen sich weder den semiologischen noch den hermeneutischen Ansätzen einer kritischen Forschung“ (ebd., 84). Denn auch sie greifen auf Diskursinhalte zurück, reproduzieren oder transformieren sie oder entwickeln Gegenpositionen und tragen also zu Bedeutungsproduktionen bei, wenngleich ihr Möglichkeitsraum ein engerer ist, als jener derer, die von einem etablierten Ort aus sprechen. Würde die Reflexion auf die Position des bzw. der die Dominanzposition innehabenden Forschenden beschränkt, so käme dies einer Entsubjektivierung der ‚Beforschten‘ gleich, denen in einer solchen Logik die Fähigkeit des bewussten Handelns und Entscheidens und die Möglichkeit des Sich-aktiv-verhalten-könnens zu Diskursinhalten und des Einfluss-nehmen-könnens auf Diskursinhalte abgesprochen würde. Da Positionen der Dominanz und Positionen der Unterdrückung unauflösbar miteinander verbunden sind, gilt es, beide Perspektiven in ihrer Dialektik unter Berücksichtigung ihrer je spezifischen Verstrickungen und dementsprechend das Verhältnis zwischen Forschenden und ‚Beforschten‘ zu berücksichtigen und in die Konzeption ebenso wie in die Analyse von Datenmaterial als konstitutives und konstruierendes Merkmal einzubeziehen. Verhältnisse von privilegierter und deprivilegierter Positionierung finden sich jedoch nicht nur hinsichtlich der Differenzkategorie Ethnizität/Kultur: Vielfältige, mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen verbundene Zugehörigkeitskategorien wie etwa Alter, Geschlecht oder soziale Klasse wirken in die Forschungspraxis – etwa in Form von Erfahrungen und damit verbundenen Erwartungen und Interpretationen – hinein, überlagern sich und sind in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich wirksam. Dabei können sich die Machtpositionen – obgleich der oder die Forschende bereits qua Funktion im Forschungsprozess eine mit Definitionsmacht ausgestattete Position innehat – bezüglich der situativen Relevanz unterschiedlicher Differenzkategorien durchaus verschieben. Den Einfluss und das Zusammenwirken verschiedener Differenzkategorien gilt es in der Reflexion von Wissenskonstruktionen zu berücksichtigen.
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Hinsichtlich des Einflusses von Forschenden auf den Forschungsprozess und die Wissensproduktion kann es den angestellten Überlegungen zufolge also nicht um das Bestreben gehen, den Einfluss der Forschenden zu vermeiden (vgl. Mecheril/Scherschel/Schrödter 2003, 109). Ziel sollte stattdessen sein, sich die „Produktivität des Forschungsprozesses [...] bewusst zu machen“ (ebd.) sowie eine besondere Aufmerksamkeit hinsichtlich der Spuren, die das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Positionierungen bzw. Forschenden und ‚Beforschten‘ im Forschungsprozess und insbesondere im Datenmaterial hinterlässt, zu entwickeln. Das Kenntlichmachen des Ortes, von dem aus gesprochen wird, ist für Donna Haraway unerlässlich: „Positionierung ist [...] die entscheidende wissensbegründende Praktik [...]. Positionierung impliziert Verantwortlichkeit für die Praktiken, die uns Macht verleihen“ (Haraway 1995, 87). Mit der Betonung von der Situiertheit des Wissens verbindet Haraway die Hoffnung „eine Verantwortlichkeit dafür zu entwickeln, zu welchem Zweck wir zu sehen lernen“ (ebd., 82).
R e p r ä s e n t a t i o n s ve r h ä l t n i s s e Aus der ungleichen Verteilung der Mittel und Möglichkeiten, sich (u. a. im wissenschaftlichen Diskurs) selbst wirkungsvoll zu (re-) präsentieren, resultiert, dass der Großteil der Forschungen im Bereich sozialer Differenz, Migration und Rassismus aus einer gesellschaftlich privilegierten Position heraus über Menschen, die eine eher deprivilegierte, mit weniger Repräsentations- und Definitionsmacht ausgestattete Position einnehmen, durchgeführt wird. Eine angemessene strukturelle Verteilung der Machtmittel zur wissenschaftlichen (Selbst-)Repräsentation ist unbedingt erforderlich, ein Mehr an Untersuchungen und Forschenden, die aus Positionen von als ethnisch oder kulturell ‚anders‘ Markierten ihren Blick auf den Forschungsgegenstand richten und sprechen, überaus wünschens- und erstrebenswert. Jedoch kann die Antwort auf die Frage nach wirkungsvollen Instrumenten, mit Hilfe derer eine angemessene Forschung und Repräsentation gelingt, nicht in der Forderung ‚nur Minorisierte sprechen über Minorisierte‘ liegen. Denn allein aufgrund einer von Forschenden und ‚Beforschten’ geteilten sozialen Positionierung, kann noch nicht
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davon ausgegangen werden, dass tatsächlich gleiche Erfahrungen der Marginalisierung und Diskriminierung aufgrund von Kategorisierungen und Bedeutungskonstruktionen gemacht werden und übereinstimmende Deutungsmuster vorhanden sind. Eine solche Annahme würde unter anderem mit Reduktionismen und der Ignoranz sozialer Positionierungen entlang anderer, einflussnehmender Differenzkategorien, wie etwa der sozialen Schicht, einhergehen. Darüber hinaus ist das Forschen in einer solchen Konstellation noch kein Garant für eine ‚bessere‘ Forschung, die sich dann quasi von selbst ergibt – denn soziale Zugehörigkeiten allein sagen noch wenig über vorhandenes Reflexionswissen, wissenschaftliche Fähigkeiten, Motivation oder Forschungshaltung aus. Allerdings, so lässt sich einwenden, ist die Wahrscheinlichkeit, dass in den Blick gerät, was bei Mehrheitsangehörigen aufgrund verinnerlichter Selbstverständlichkeiten unberücksichtigt bleibt, größer, das Sehen und Wahrnehmen mitunter ein anderes, muss das Einnehmen von Perspektiven, die von einer mit Macht ausgestatteten Position abweichen, nicht in gleicher Weise gelernt werden. Obgleich diese Beispiele von Faktoren auf eine reflexive Forschung mit Sicherheit in positiver Weise Einfluss nehmen können, lassen sie sich doch keinesfalls verallgemeinern. Die Forderung nach ‚authentischen Stimmen‘, ungeachtet ihres Gehaltes, birgt neben der weiteren Verfestigung von Wir-Sie-Gruppen auch die Gefahr, dass Inhalte dann in besonderer Weise Legitimation erfahren und Gehör finden, wenn sie bestimmten Herrschaftsinteressen zuträglich sind. Die „bloße Inklusion von mehr ‚Minorisierten‘ [kann] nicht die gewaltvollen Grenzziehungen ins Wanken bringen, die eine gleichwertige Partizipation differenter Kollektive verhindern“ (Castro Varela/Dhawan 2007, 41).4 Häufig, so Oliver Geden, geben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich selbst als kritisch verstehen, an, dass das Ziel der von ihnen durchgeführten, Angehörige marginalisierter Gruppen fokussierenden Untersuchungen sei, den ‚Beforschten’
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Spätestens mit diesem Absatz wird das Differenzdilemma, das in diesem Artikel konstitutiv ist, überdeutlich: Das Dilemma, durch die Benennung von Gruppen zur Reproduktion dieser und zu Kategorien des ‚Eigenen‘ und des ‚Anderen‘ beizutragen, obgleich das ‚eigentliche‘ Ziel die Kritik eben dieser Kategorisierung bzw. der aus ihr hervorgehenden Effekte und Verhältnisse ist.
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zu einer Stimme zu verhelfen und ihre Perspektive sichtbar zu machen; „den Prozessen und Mechanismen der Marginalisierung also zumindest diskursiv entgegen zu treten“ (Geden 2004, 77). Das Bestreben des Hörbarmachens dessen, was nicht zu hören ist, ist zwar dringend notwendig, bedeutet in der beschriebenen Konstellation von Forschenden und ‚Beforschten‘ jedoch immer auch, dass der Forscher oder die Forscherin quasi stellvertretend für andere deren Repräsentation übernimmt und mithin keine Stimme gibt, sondern mit „geliehener Stimme“ anstelle und im Namen anderer selber spricht (vgl. Straub 1999, 9). Dieses ‚Sprechen über‘ als machtvolle diskursive Praxis der Bedeutungserzeugung, ist nun nicht nur Repräsentation, sondern auch Beitrag zur Produktion dessen, was vermeintlich ‚nur‘ beschrieben wird: Das Nicht-Hörbare, der oder die ‚Andere‘ bzw. ihre Stimmen, werden durch wissenschaftliche Beschreibungspraxen in spezifischer Weise hervorgebracht und laufen immer auch Gefahr, verallgemeinert und festgeschrieben zu werden. Eine weitere Ambivalenz ergibt sich aus der eigentlich zu begrüßenden Erkenntnis, dass ein „Repräsentant [...], will er fremde Wirklichkeiten adäquat darstellen, zunächst in Erfahrung bringen [muss], wie die anderen sich selbst und ihre Welt beschreiben, verstehen und erklären“ (ebd., 9f.). Jürgen Straub spricht sich hier für eine Perspektive aus, die sich an den Interpretationen von Welt, wie sie sich aus der Sicht der ‚beforschten‘ Subjekte darstellen, orientiert. Mit dem Hervorheben dieses durchaus wichtigen Aspektes, dass es auf die Untersuchung der je ‚besonderen‘ Perspektiven, Erfahrungen und Selbstverständnisse von Individuen ankommt, wenn „fremde Wirklichkeiten“ mittels Forschung „adäquat“ repräsentiert werden sollen, wird jedoch zugleich eine ‚besondere‘, ‚andere‘ und ‚fremde‘ Wirklichkeit und damit Differenz als bereits vorgängig vorausgesetzt und die ‚Beforschten‘ wiederum als ‚Andere‘ markiert. Qualitative Sozialforschung trägt so durch die üblicherweise stattfindende Konzentration auf die Erfahrungen, Deutungen und Selbstverständnisse der ‚Anderen‘ und das Ziel ihrer Repräsentation immer auch dazu bei, Differenz in spezifischer Weise zu produzieren und ‚Beforschte‘ als ‚Andere‘ hervorzubringen. Vernachlässigt wird hingegen in der Regel der Blick auf die Konstruktionsbedingungen und das Verhältnis, die Relation zwischen als ‚anders‘ Markierten und Nicht- Anderen, zwischen ‚Be-
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forschten‘ und Forschenden und zwischen Individuum und Gesellschaft (vgl. Mecheril/Scherschel/Schrödter 2003, 108), obgleich das ‚Andere‘ nicht vom ‚Eigenen‘ zu trennen ist. Denn die „Konstruktion des Anderen ist in verschiedener Weise der Erzeugung und Bewahrung des Nicht-Anderen dienlich. Die Konstruktion ermöglicht die Identität der Nicht-Anderen, sie diszipliniert die Nicht-Anderen und schließt sie zusammen, zugleich bringt die Konstruktion des Anderen die eigene, auf Differenziertheit und Einzigartigkeit zurückgehende Vielgesichtigkeit ins Spiel“ (ebd.). Eindrucksvoll deutlich machen konnte diese Prozesse der Erzeugung von ‚Anderen‘ (und – implizit – ‚Nicht-Anderen‘) sowie der Konstruktion wirkmächtiger Bedeutungen und ihre Einbettung in Macht- und Herrschaftsverhältnisse im Rahmen von Beschreibungs- und Verstehensprozessen Edward Said in seinen Untersuchungen zum Orientalismus (1981). Er zeigt auf, wie ‚der Orient‘ erst durch das Bestreben westlicher ‚Experten‘, ‚den Orient‘ zu verstehen und zu erklären, als mit Bedeutungen versehener Gegenstand und Diskurs hervorgebracht wurde. Ihre Beschreibungen führten zur Produktion von ‚Wissen‘ in hegemonialen Machtverhältnissen, welches für die Legitimation von (kolonialen) Herrschaftsinteressen macht- und gewaltvoll instrumentalisiert wurde. Darüber hinaus arbeitet Said die fortwährende Beziehung zur parallelen, impliziten Konstruktion des ‚Eigenen‘ der Konstruierenden heraus. Festzustellen ist in diesem Zusammenhang also auch, dass Forschungen im Bereich von Migration und Rassismus es keineswegs mit vollkommen ‚Fremdem‘ und zu erforschendem Unbekannten zu tun haben: Aufgrund vielfältiger, in Diskursen zirkulierender sozialer Wissensbestände und der Beziehungen der ‚Anderen‘ zum ‚Eigenen‘ ‚kennen‘ ‚wir‘ die zu ‚Beforschenden‘ in gewisser Weise bereits, greifen ‚wir‘ auf bereits vorhandene Theorien und soziale Konstruktionen zurück, bringen sie neu hervor oder transformieren sie im Forschungsprozess. Es handelt sich mitnichten um einen weißen Fleck auf der Landkarte, der seiner Entdeckung harrt. Die Verbindung zum ‚Eigenen‘ der Repräsentierenden gerät in Forschungen, die das Ziel haben, ‚Andere‘ zu verstehen, nur allzu leicht aus dem Blick und in der Repräsentation anderer Perspektiven, Erfahrungen, Meinungen usw. mitunter ebenso schnell ins Hintertreffen, wie die Berücksichtigung einer gesellschaftlichen Ordnung, in deren Kräfteverhältnisse diese
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Stimmen ebenso eingelassen sind wie die Beschreibungs- und Interpretationspraxen der Repräsentierenden. Wissen und Macht, darauf weist Michel Foucault hin, sind untrennbar miteinander verbunden. Bezug nehmend auf die qualitative Sozialforschung konstatiert Ernst von Kardorff, dass Kenntnisse über „ausgeforschte Lebenswelten“ auch zu „verstärkter sozialer Kontrolle, Disziplinierung, geschickter Einbindung in Organisationsziele oder auch zur Manipulation genutzt werden“ können (Kardorff 42000/2005, 619f.). Und dies auch dann, wenn Forschung sich „programmatisch humanistischen und demokratischen Idealen oder Benachteiligten gegenüber verpflichtet“ fühlt (ebd.). Es stellt sich nun nicht nur die Frage, wessen Aussagen wann gehört bzw. nicht gehört werden, und wessen Stimmen damit überhaupt repräsentiert werden ‚müssen‘, damit sie Gehör finden, sondern auch die Frage, wer sich eigentlich wann und in wessen Interesse zu Wort melden und also legitimiert die Repräsentierendenrolle einnehmen darf. María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan gehen davon aus, dass trotz der Dilemmata, die mit einer Repräsentation von minorisierten Gruppen einhergehen, eine Form gefunden werden muss, wie etwa Spivak (1990) sie mit einem „strategischen Essentialismus“ vorschlägt, die es ermöglicht, neben dem über vor allem auch für minorisierte Gruppen zu sprechen (vgl. Castro Varela/ Dhawan 2007, 32). Castro Varela und Dhawan verbinden die Aufgabe der Repräsentation dabei nicht nur mit dem Ziel des Hörbarmachens, sondern auch mit einer Verantwortung für das Hörbarmachen von marginalisierten Stimmen, die jenen obliegt, die in der Lage sind, wirkmächtig zu sprechen. Repräsentierende bzw. „Fürsprecherinnen“ (ebd., 42), darauf weisen Castro Varela und Dhawan hin, übernehmen damit auch eine hohe Verantwortung für Bedeutungszuweisungen, Konstruktionsprozesse und Positionierungen der ‚Beforschten‘ und die damit einhergehenden möglichen Konsequenzen bezüglich des Wirkens auf gesellschaftliche Positionierungen und politische Instrumentalisierungen. Repräsentation zu verweigern ist ihnen zufolge also kein möglicher Weg. Stattdessen sehen sie die Notwendigkeit, die „Kategorien selbst, die unhinterfragt als Instrumente der Kritik fungieren“, möglichst wirkmächtig zu problematisieren (ebd., 32).
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Wenn nun Beschreibungen und ‚hörbare‘, weil aus machtvoller Position heraus artikulierte Diskursinhalte das produzieren, was sie vorgeben, lediglich ‚zu beschreiben, um zu verstehen‘, zugleich aber auf Repräsentationen nicht verzichtet werden kann, weil es in der Verantwortung der hörbar sprechen Könnenden liegt, für (und nicht lediglich über!) Marginalisierte zu sprechen, dann ergeben sich hieraus zwei Fragen: Zum einen wie repräsentierende Forschung unter Berücksichtigung aller benannter – und unbenannter – Dilemmata möglichst angemessen gestaltet werden kann. Zum anderen ist aber auch nach der möglichen Einflussnahme auf die Machtstrukturen zu fragen, die die Stimmen Marginalisierter begrenzen. In diesem Sinne kann also das Ziel reflexivkritischer Forschung nicht nur die möglichst angemessene und schadensbegrenzende Repräsentation bzw. das Sprechen über und für ‚Andere‘ sein, sondern dann hat Forschung als hörbarer, verhältnismäßig wirkmächtiger Diskursbeitrag auch die Aufgabe, Selbstverständlichkeiten und etablierte Normalisierungen zu hinterfragen, Bedeutungskonstellationen zu verschieben, Kategorien zu öffnen und auf Machtverhältnisse verändernd einzuwirken. Die Herausforderung besteht mithin nicht allein in der Inklusion marginalisierter Stimmen und ihrer möglichst angemessenen Repräsentation, sondern in dem Ausweiten von Diskurs- und Handlungsräumen sowie in der Veränderung und Neuetablierung von Strukturen, welche die Präsentation anti-hegemonialer und herrschaftskritischer Perspektiven und Wissensbestände zulassen.
P l ä d o ye r f ü r e i n e s u b j e k t o r i e n t i e r t e , i n t e r ve n i e r e n d e u n d p o l i t i s i e r e n d e F o r s c h u n g Aufgrund der obigen Argumentation plädiere ich im Folgenden für eine subjektorientierte, intervenierende und politisierende Forschung. Als eine mögliche wissenschaftstheoretische Perspektive und Forschungshaltung möchte ich im Folgenden eine den Grundannahmen der Kritischen Psychologie folgende, subjektorientierte Theorie des Forschens vorstellen. Sie kann für die reflektierte Berücksichtigung der angesprochenen Herausforderungen hilfreich sein: der ‚angemessenen‘ (Selbst-)Repräsentation, des Sprechens –
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oder besser – Forschens für (anstatt lediglich über), der Berücksichtigung der Relation zwischen Forschenden und ‚Beforschten‘ sowie zwischen Subjekt und Gesellschaft, der Problematisierung und Aufweichung etablierter Kategorien der ‚Anderen‘ und damit einhergehenden Bedeutungs- und Perspektivenverschiebungen, der Ausweitung von Diskurs- und Handlungsbegrenzungen als zu nutzendes widerständiges Potenzial von Forschung sowie der – damit in engem Zusammenhang stehenden – Frage nach dem ‚Nutzen‘ für die an der Forschung beteiligten Subjekte. Subjektorientierung im Sinne der Kritischen Psychologie heißt Forschen ausgehend vom Standpunkt des Subjektes unter gleichzeitiger Berücksichtigung der gesellschaftlichen Bedingungen, wie sie sich in der Lebenswelt des Subjektes als Bedeutungen vermittelt manifestieren. Gegenstand der Subjektwissenschaft Kritische Psychologie ist die „subjektive Bedeutung der konkreten Lebensumstände sowie die realen Möglichkeiten und Behinderungen, [der] an den eigenen Interessen und Bedürfnissen orientierten Einflussnahme auf diese“ (Osterkamp 2000, 36). Es geht der Kritischen Psychologie vor allem um das (dynamische) Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, wobei sie sich von der traditionellen Psychologie insofern abgrenzt, als dass ein zentrales Moment der Theorie die Überzeugung ist, dass nicht allein die Lebensbedingungen die Subjekte beeinflussen – keinesfalls determinieren! –, sondern, dass umgekehrt die Subjekte zugleich ihre Lebensbedingungen selbst produzieren und damit einerseits an der Aufrechterhaltung von (behindernden) Strukturen ebenso beteiligt sind, wie sie andererseits (potenziell) in der Lage sind, auf Bedingungen verändernd einzuwirken. Im Zentrum steht also der wechselseitige Prozess der Konstruktion und Beeinflussung von Subjekten und ihren Lebensbedingungen, in welchem das Subjekt eine aktive, eine handelnde Rolle einnimmt; fokussiert wird „der Zusammenhang zwischen dem Leben unter Bedingungen und der Möglichkeit der Veränderung der Lebensbedingungen durch die Betroffenen“ (Holzkamp 1997, 391).5 Damit vertritt die Kritische
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Jedoch sind, so Klaus Holzkamp, die „gesamtgesellschaftlichen Bezüge meiner individuellen Existenz [...] mir weder universell noch partiell unmittelbar gegeben, sondern ‚manifestieren‘ sich lediglich auf unterschiedliche Weise in meiner Lebenslage/Position“ (Holzkamp 1983, 358, Hervorhebung im Original). Damit sind „gesellschaftliche
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Psychologie einen Subjektbegriff, der die Widersprüchlichkeit von Subjektivität betont und Subjekte sowohl als Unterdrückte als auch als Unterdrückende, als Bestimmte und Bestimmende und – generell – als handlungsfähig innerhalb von bestehenden Machtverhältnissen wie auch gegen bestehende Machtverhältnisse begreift. Aus diesem Verständnis heraus ergibt sich ein widerständiges Potenzial, das es in der Forschung in dem Sinne zu berücksichtigen und zu fördern gilt, als dass die an einer Forschung beteiligten Subjekte6 in einem durch den Forschungsprozess angestoßenen oder verstärkten Reflexionsprozess sich ihrer Subjektpostionen bewusst(er) werden können und – im Falle der Mitforschenden – von Handlungsmöglichkeiten und -strategien nicht nur berichten, sondern – durch das Wahrnehmen begrenzender Bedingungen im Zuge der Reflexion – auch Möglichkeiten der Einflussnahme auf die beschränkenden Bedingungen und somit der Ausweitung von Handlungsfähigkeiten und -spielräumen erkennen können. Ähnlich wie Castro Varela und Dhawan in Anlehnung an Spivak ein Sprechen für anstelle eines Sprechens über postulieren, spricht Klaus Holzkamp sich im oben genannten Sinne für eine subjektwissenschaftliche Theorie und für Verfahren aus, die nicht ‚über’ sondern ‚für’ Menschen sind: Subjektwissenschaft soll dazu beitragen, „‚je mir‘ zur Klärung und Veränderung meiner eigenen Lebenspraxis“ zu verhelfen (Holzkamp 1985, 11). Kritische Psy-
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Verhältnisse dem Individuum nie in ihrer Totalität, sondern immer nur in Ausschnitten, mit unmittelbar nicht sicht- und erfahrbaren Verweisungszusammenhängen, gegeben“ und stehen „den situativunmittelbaren Kontexten [...] nicht auf die Stirn geschrieben“ (Markard 2000b, o. S.). Es bedarf daher einer Analyse der subjektiven Erfahrung einer konkreten Situation und der theoretischen Rekonstruktion der in beide hineinragenden gesellschaftlichen Strukturen (vgl. ebd.). Diese, als Bedeutungen zu fassenden Bedingungen, wie sie sich dem oder der Einzelnen in je konkreten Situationen präsentieren, repräsentieren zugleich Handlungsmöglichkeiten, zu denen die Subjekte sich verhalten können und müssen, sie determinieren ihr Handeln jedoch nicht (vgl. ders. 2000a, 8; Holzkamp 1983, 367). Als an der Forschung aktiv beteiligte Subjekte werden im Sinne der Kritischen Psychologie neben den (professionellen) Forschenden auch die bisher als ‚Beforschte‘ bezeichneten Mitforschenden begriffen.
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chologie dient also der Analyse des eigenen Handelns unter Bedingungen und der Erweiterung der Möglichkeiten, auf diese Bedingungen (gemeinsam mit anderen) verändernd einzuwirken. Mittels einer bereits im Forschungsprozess realisierten Praxis der Reflektion von Bedingungen sollen Aussagen über solche Bedingungen möglich werden, unter denen eine praktische Verfügungserweiterung und Verbesserung von Lebensqualität möglich sind (vgl. Holzkamp 1983b, 25). Subjektwissenschaft in diesem Sinne ist damit eine Theorie „zur Selbstverständigung, ein theoretisches Instrument, um [...] zu begreifen, was vor den eigenen Augen vor sich geht und das eigene Handeln daraufhin überprüfen zu können, wieweit es das, was es anzielt, eher verhindert als zu verwirklichen hilft“ (Osterkamp 2000, 39).7 Damit ist Ziel eines der Kritischen Psychologie folgenden subjektorientierten Forschungsansatzes nicht die Selbstdarstellung der ‚Anderen‘, der ‚Beforschten‘ zum Zwecke der Wissensvermittlung an den oder die Forschende, ein Vorgehen, wie auch Paul Mecheril, Karin Scherschel und Mark Schrödter es kritisieren, sondern das Schaffen von Räumen der Selbsterkundung und -präsentation (vgl. Mecheril/ Scherschel/Schrödter 2003, 104) in bewusster (und gewollter) Interaktion zwischen den am Forschungsprozess beteiligten Subjekten. Die Frage, wer von wem (auf wessen Kosten) lernt, ist hier keine einseitig zu beantwortende: Im Idealfall wird die Untersuchung zu einem dialogischen, wechselseitigen Prozess des Erkenntnisgewinns. Die Kritische Psychologie liefert mit ihrem Fokus auf das ambivalente Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft und 7
Im Sinne von Subjektwissenschaft als einer Theorie der Selbstverständigung und -erkundung der beteiligten Subjekte wird aufgrund des Begreifens von Mitforschenden als aktivem Teil des Forschungsprozesses zum einen die Notwendigkeit der Partizipation (vgl. Holzkamp 1983a, 543) und damit das wechselseitige, aufeinander bezugnehmende und beeinflussende Verhältnis zwischen Forschenden und Mitforschenden betont; Forschende können sich nicht als Nicht-Subjekte lediglich auf ‚Andere‘ beziehen. Zum anderen müssen Forschende wie Mitforschende, so Klaus Holzkamp, für einen gelingenden intersubjektiven Forschungsprozess ein gemeinsames Interesse (an der Erweiterung der Verfügung über die Lebensbedingungen) mit der Forschung verfolgen (vgl. Holzkamp 1983b, 26).
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der Betonung der Handlungsfähigkeit von Subjekten meines Erachtens wichtige Ansatzpunkte, die beim Umgang mit einigen der oben genannten zentralen Herausforderungen hilfreich sein können: Hervorgehoben wird zum einen die Fähigkeit des Menschen, sich subjektiv begründet zu Bedingungen ‚so oder auch anders‘ verhalten zu können sowie die Eingebettetheit seiner subjektiven Handlungsbegründungen in gesellschaftliche Bedingungen. Zum anderen wird davon ausgegangen, dass obgleich Handeln von begrenzenden Strukturen beschränkt ist, Subjekte dennoch in spezifischem Maße in der Lage sind, auf die das Handeln begrenzenden Strukturen Einfluss zu nehmen. Eine Untersuchung der subjektiven Handlungsbegründungen im Sinne der Kritischen Psychologie ist daher immer auch verbunden mit einer Analyse der das Handeln begrenzenden Strukturen. Diese Perspektive scheint mir geeignet zu sein, die Gefahr der essentialisierenden und homogenisierenden Beschreibungen von ‚Anderen‘ als anders Seiende ein Stück weit zu vermeiden und etablierte Konstruktionsinhalte kritisch zu hinterfragen sowie Perspektivenverschiebungen vorzunehmen, indem Wechselwirkungen zwischen subjektivem Erleben, Deuten und Handeln und objektiven Verhältnissen in den Blick geraten. Darüber hinaus kann der Forschungsansatz der Kritischen Psychologie einen umfassenderen Erkenntnisgewinn für alle beteiligten Subjekte anstoßen sowie als eingreifende Forschung Veränderungen im Zuge der Reflexion über die Möglichkeiten der Erweiterung der Handlungsfähigkeiten durch die Einflussnahme auf begrenzende Strukturen initiieren. Mit einem solchen Verständnis von Subjektwissenschaft steht dann nicht mehr das Subjekt im ‚klassischen‘ Sinne als besondere/r Einzelne/r mit ihren bzw. seinen Erfahrungen und Deutungen, die es von einem Außenstandpunkt zu beschreiben und als Repräsentantinnen oder Repräsentanten einer sozialen Gruppe zu beforschen gilt, im Mittelpunkt der forschenden Aufmerksamkeit, sondern vielmehr die Welt und ihre sich als Bedeutungen manifestierenden Bedingungen, wie das Subjekt sie deutend, denkend, handelnd und fühlend, ermöglichend und behindernd, erfährt (vgl. Markard 2000a, Absatz 18). „Aus diesem Grunde sind subjektwissenschaftliche Aussagen keine Aussagen über Menschen, schon gar keine zu Klassifikationen von Menschen [...], sondern Aussagen über erfahrene – und ggf. verallgemeinerbare – Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen“ (ebd., Absatz 15) und damit Aussagen über
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Verhältnisse zwischen Subjekten und Gesellschaft. Mit Ute Osterkamp lässt sich ergänzen, dass aufgrund der Vermitteltheit von objektiven Bedingungen über ihre gesellschaftlichen Bedeutungen „eine zentrale Aufgabe subjektwissenschaftlicher Forschung im Sinne Kritischer Psychologie darin [besteht], die Standortgebundenheit und ‚Oberflächlichkeit‘ herrschender Sichtweisen sowie die ihnen implizite Parteinahme für die bestehende Ordnung aufzuzeigen, um die vielen ‚Selbstverständlichkeiten‘, die unser Denken und Handeln bestimmen, auf ihre Interessenverhaftetheit hin überprüfen zu können“ (Osterkamp 2000, 36). Kritische Psychologie positioniert sich als „Wissenschaft der Kritik und Selbstkritik“ (Holzkamp 1997, 349). Ein Forschungsdesign, das die Grundsätze der dargelegten subjektwissenschaftlichen Theorie in seinem methodischen Vorgehen berücksichtigt, kann – wie gesagt – aufgrund des reflexionsorientierten Einbezugs der Mitforschenden, der Verknüpfung von subjektivem Erleben und gesellschaftlichen Bedingungen sowie dem Ziel der (gemeinsamen) Erweiterung der Verfügungsmöglichkeiten über die Lebensbedingungen, durchaus intervenierende, also verändernd eingreifende, und politisierende Effekte haben. Und dies sowohl mit Blick auf die beteiligten Subjekte mittels eines relativ unmittelbarem Erkenntnisgewinns im Sinne einer Bewusstwerdung sowie den daraus abgeleiteten (Handlungs-) Konsequenzen und einem damit verbundenen Einfluss auf ihre eigene Lebensqualität und ihre Umwelt, als auch hinsichtlich der zu veröffentlichenden Forschungsergebnisse, welche wiederum Einfluss auf wissenschaftliche (und öffentliche) Diskurse nehmen können. Davon ausgehend, dass Forschung in Bereichen wie Rassismus und Migration immer auch eine politische Stellungnahme, eine Positionierung im politischen Diskurs ist und zur Folge hat, darf sich Forschung in diesem Feld – ebenso wenig wie Forschende – nicht als objektiv, unpolitisch und/oder neutral beschreiben. Im Gegenteil sollten die eigene Involviertheit benannt und reflektiert sowie politisch-praktische Ziele im Sinne eines kritischen Hinterfragens von Subjekt-Objekt-Positionierungen, von ‚Selbstverständlichkeiten‘ und Perspektiven, von Zugehörigkeitsverhältnissen und Bedeutungszuschreibungen angestrebt werden. Forschung sollte „Kommunikationen zur Folge haben, welche einen Beitrag zum Bewusstmachen von Herrschaft und sozialer Benachteiligung
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leisten sowie eine Auseinandersetzung mit Mitteln ihrer Überwindung unterstützen“ (Mecheril 1999, 245) und auf diese Weise den Beteiligten mittels einer Kritik der Verhältnisse und der Entwicklung widerständiger Praxen zugute kommen.
Resümee Forschungsvorhaben im Gegenstandsbereich Rassismus und Migration, Differenz und Ungleichheit sind mit einer Vielzahl von Ambivalenzen und Dilemmata verwoben und verlangen von Forschenden die Übernahme von Verantwortung für die durch Forschung und Wissenschaft induzierten Effekte. Als gewichtiger Teil der Wissensproduktion sollten sie ebenso im Lichte der Aufmerksamkeit des Forschungsprozesses und seiner Reflexion stehen wie ihre Mitforschenden. Beide befinden sich während des Untersuchungsprozesses in einem unauflösbaren, dialektischen Verhältnis zu einander, das nicht ignoriert, sondern dessen spezifischer, produktiver Beitrag in den Forschungsprozess als konstituierendes Merkmal miteinbezogen werden muss. Eine Benennung des Ortes, von dem aus geforscht und gesprochen wird, sowie seine kritische Reflexion und das damit einhergehende Nachdenken über die eigenen Verstrickungen in hierarchisierte Verhältnisse und ihren Einfluss auf den Forschungsprozess sind unerlässlich. Notwendig ist daher neben einem reflexiven Fragen nach den möglichen (unintendierten) Effekten auch ein selbstkritisches Fragen nach den Motiven und Zielen, die mit einem Forschungsvorhaben verbunden sind. Hierbei gilt es neben der Dimension des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns auch die persönliche Ebene der Motivation in den Blick zunehmen; vor allem aber ist es notwendig, nach dem ‚Nutzen‘, der sich aus der Untersuchung für die mitforschenden Subjekte und den Konsequenzen, die sich auf diskursiver, Gesellschaft beeinflussender Ebene ergeben (können), zu fragen. Insbesondere sollte darüber nachgedacht werden, ob die Forschung zur Reproduktion bestehender gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse beiträgt oder Anknüpfungspunkte für ihre politische Legitimation bietet; oder aber, ob sie Ansätze bereitstellt, um soziale Ungleichheitsstrukturen zu hinterfragen und ins Wanken zu bringen. Damit ist Forschung im Kontext von Differenz und Ungleichheit – ob gewollt oder nicht – immer auch poli-
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tisch, denn mit ihrem Wirken bewegt sie sich im diskursiven Kampf um die Zuweisungen von sozialen Bedeutungen und Positionen, die soziale Ordnung strukturieren. Als zentraler Bezugspunkt für eine diesbezügliche Reflexion kann dann auch der Beitrag einer Forschung zur Aufrechterhaltung der Konstruktion von Gruppen des ‚Wir‘ und ‚der Anderen‘ benannt werden. Eine Wiederholung der Differenzbeschreibung und damit die Reproduktion von Differenz lässt sich, sofern sich das Forschungsinteresse auf Differenzproduktion und -erleben bezieht, nicht vermeiden (vgl. Mecheril/Scherschel/Schrödter 2003, 109), denn Differenzen müssen benannt werden, um nach ihren gesellschaftlichen und personellen Funktionen oder den Strukturen und Mechanismen ihrer Produktion befragt werden zu können. Damit ist qualitative Forschung im Bereich der Analyse sozialer Differenzen immer ein „erkenntnisgenerierendes und zugleich gegenstandskonstituierendes Medium“ (ebd.). Jedoch lassen sich die etablierten Bedeutungsinhalte der Differenzkategorien mittels Forschung kritisch hinterfragen, vervielfältigen, anders akzentuieren und in gewisser Weise mit ‚neuen‘ Inhalten, Perspektiven und Bedeutungen füllen. Letzten Endes kann so auch verdeutlicht werden, dass eine homogenisierende, essentialisierende und statische Aufteilung in Kategorien des ‚Wir‘ und ‚des oder der Anderen‘ für die Beschreibung von Wirklichkeit genauso wenig taugt, wie sie für die Entwicklung geeigneter ‚Lösungsansätze‘ für Probleme geeignet ist, die auf der strukturellen Ebene der Gesellschaft zu verorten sind. An dieser Stelle ist auch zu bemerken, dass die Tendenz von Forschungen im Bereich Rassismus und Migration, ihre Aufmerksamkeit lediglich ‚ethnischen‘ oder ‚kulturellen‘ Differenzen zu schenken, die vielfältigen anderen Zugehörigkeiten und Differenzkategorien, hinsichtlich derer Menschen sich unterscheiden, aber auch Gemeinsamkeiten aufweisen, jedoch nicht zu berücksichtigen und weder in der Datenerhebung, noch in der Analyse mit einzubeziehen, die Festschreibung von ‚Anderen‘ als ‚ethnisch‘ oder ‚kulturell ‚Andere‘ noch verstärkt und so zu reduktionistischen und vereinfachenden Betrachtungs- und Deutungsweisen einlädt. Eine kritische, subjektorientierte Migrations- und/ oder Rassismusforschung sollte hingegen gegenüber der möglichen Relevanz verschiedener, sich überschneidender Differenzkategorien aufmerksam sein und Menschen stets als mit vielfältigen
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Identitätsaspekten und Zugehörigkeiten umgehende Subjekte zur Geltung bringen. Die (zugeschriebene) ethnische oder kulturelle Zugehörigkeit macht lediglich einen, subjektiv mal mehr, mal weniger bedeutsamen Aspekt von Identität aus, welcher mit anderen Zugehörigkeiten, die (kontextabhängig) ebenfalls in je spezifischer Weise bedeutungsvoll sein können, vielfach verschränkt ist – und dies auch in Kontexten von Forschung, Diskriminierung und Rassismus.8 Verantwortlichkeit bedeutet vor dem Hintergrund der hier angestellten Überlegungen also vermeintliche Selbstverständlichkeiten und Normalitäten zu hinterfragen und etablierte Kategorien und ihre Bedeutungsinhalte kritisch zu beleuchten, Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen subjektivem Erleben und Handeln und gesellschaftlichen Verhältnissen deutlich zu machen sowie Strukturen und Bedingungen der ungleichen (Re-) Präsentationsverhältnisse und Handlungsmöglichkeiten zu identifizieren und zu kritisieren. Ziel einer solchen Forschung ist es, einen Beitrag zum Abbau von etablierten Begrenzungen zu leisten, wie sie etwa in Form von soziale Positionen festschreibenden Bedeutungszuweisungen existieren und so Einfluss zu nehmen auf die Ausweitung von Handlungsmacht, Selbstrepräsentations- und Partizipationsmöglichkeiten. Um diese – und andere – Aspekte einer Migrations- und Rassismusforschung zu reflektieren, die sich als kritische Forschung versteht und weiterentwickeln möchte, braucht es Räume, um über die vielfältigen und komplexen Herausforderungen und Dilemmata, die sich aus der Forschung mit und über Angehörige marginalisierter Gruppen ergeben, zu diskutieren und sich reflexiv mit ihnen auseinanderzusetzen; wenngleich dies an manchem Punkt schwierig, vielleicht auch verletzend für sich und andere ist. Denn die eigenen Verstrickungen zu reflektieren und sich unter Umständen die (Re-)Produktion negativer Effekte eingestehen zu müssen, obgleich doch Gegenteiliges bezweckt war und/oder zu Verletzungen anderer beizutragen bzw. Verletzungen zu erfahren, ist mit Sicherheit nicht schön. Ohne (Selbst-)Kritik sind Entwicklungsschritte und Annäherungen an eine Forschungspraxis, die der Komplexität des Themas gerecht werden kann, unmög8
Vgl. die Debatten zu Intersektionalität: etwa Crenshaw 1994; Lutz/ Wenning 2001; Davis 2008.
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lich. Neben der je individuellen Verantwortung von einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hinsichtlich des methodologischen Ablaufes und der ‚Verwendung‘ von Forschungsergebnissen und den damit verbundenen Gefahren, Dichotomisierungen und Hierarchisierungen zu reproduzieren und zu verstärken, ist dies auch eine Verantwortung einer Wissenschaftscommunity:9 Nur die kollektive Auseinandersetzung mit den Ambivalenzen von Migrations- und Rassismusforschung kann zu einer Verbesserung von Methodologien, einer über den individuellen Kontext hinausgehenden Sensibilisierung hinsichtlich des Umgangs mit der Untersuchung von Differenz, Differenzproduktion und Differenzerfahrung und eine Erweiterung der Möglichkeiten des differenzsensiblen, gesellschaftskritischen und damit auch interventionistischen, politischen Forschens führen; und damit zu einem Einmischen in den Diskurs um Andere und Nicht-Andere, um Repräsentationen und Ungleichheitsverhältnisse. Der vorliegende Artikel enthält eine Vielzahl an An- und Herausforderungen, die sich an Forschende und entsprechend auch an mich selbst richten. Wohlwissend, dass das Herausarbeiten notwendiger Hinweise und Forderungen in der Regel einfacher als ihre Berücksichtigung und Einhaltung im praktischen, wissenschaftlichen Tun ist, plädiere ich dafür, sich angesichts der komplexen und zum Teil widersprüchlichen Anforderungen nicht lähmen zu lassen, sondern möglichst reflektierend und vorsichtig vorzugehen. Der kritische Austausch und die Diskussion des Vorgehens im Forschungsprozess mit anderen stellen Instrumente dar, mit Hilfe derer eventuelle ‚Fehler’ erkannt und korrigiert werden können. Ein in diesem Sinne selbstkritisches Vorgehen kann so nicht zuletzt auch einen Beitrag zur Weiterentwicklung einer kritischen, selbstreflexiven Migrations- und Rassismusforschung leisten.
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Unter Bezugnahme auf Bourdieus Konzept der wissenschaftlichen Reflexivität spricht sich Mecheril für eine Auseinandersetzung mit dem sozialen und intellektuellen Unbewussten, das in Methoden und Handlungen einfließt, als „kollektive Unternehmung“ aus (vgl. Mecheril 1999, 244f.).
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(Un-)Tiefen der Macht. Subjektivie rung unter de n Be dingunge n von Ra ss is muse rfa hrunge n in der Migra tions ge sellsc haft ASTRIDE VELHO
Einleitung Dieser Beitrag möchte den Blick darauf lenken, dass minorisierte1 Subjekte nicht nur Unterwerfung und Herabwürdigung durch ein rassistisches, postkoloniales, postnationalsozialistisches und intersektionell operierendes Regime erfahren, sondern dass ihre Subjektivität durch diese Bedingungen miterschaffen wird. Wenn wir Subjektivierung von Minorisierten nicht allein im Zuge von Verbot und Untersagung verstehen, sondern auch als Angebot und Anrufung, durch die sich sowohl Ermöglichungs- als auch Restringierungsprozesse entwickeln (Mecheril 2006), drängt sich die Frage auf, welche psychische Form die Macht (Butler 2001, 8) im Kontext der „Internalisierung des Selbst als Anderes“ (Hall 1994, 20 und 135) und im Zuge von Assimilationsbestrebungen an1
Ich verwende den Begriff ‚Minorisierte’, da Rassismen keine Phänomene sind, die quasi natürlich sind, wie die so titulierte „Angst vor dem Fremden“ oder markierte kulturelle Differenz. Minorisierte werden durch Akte der Rassifizierung und Diskriminierung aus einer Position von Macht und Dominanz heraus erst gesellschaftlich produziert. Sie werden zu den ‚Anderen’ gemacht und somit minorisiert.
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nimmt. „Diese Frage erfordert es, die Theorie der Macht zusammen mit einer Theorie der Psyche zu denken, eine Aufgabe, der Autoren sowohl foucaultscher wie psychoanalytischer Orthodoxie ausgewichen sind“ (Butler 2001, 8). Dieser Beitrag möchte sich einer Antwort auf die Frage nähern, wie die psychischen Effekte von Macht als einer ihrer „heimtückischsten Hervorbringungen“ (ebd., 12) Bindung an Unterordnung im Kontext von Rassismuserfahrungen in der Bundesrepublik herstellen. Die Effekte der foucaultschen panoptischen Macht und der Selbsttechnologie des Geständnisses werden mit Hilfe von Psychodynamiken im Kontext von Traumatisierungen konkretisiert. Dies soll im Besonderen deshalb geschehen, da eine Vertiefung des Verständnisses über und eine Debatte um die Involviertheit Minorisierter in die Machtverhältnisse Grundlagen sind, um Handlungsfähigkeit und widerständige Praxen weiterentwickeln und vermehren zu können.
O t h e r i n g a l s a m b i va l e n t e P r a x i s Etienne Balibar (1990, 28) bezeichnet einen „Rassismus ohne Rassen“, „dessen vorherrschendes Thema nicht mehr die biologische Vererbung, sondern die Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen ist“, als gegenwärtig in westlichen Staaten. Astrid Messerschmidt (2010) führt in ihrem Beitrag in diesem Buch aus, dass in der postnationalsozialistischen Bundesrepublik „die dem Rassediskurs eigenen Eindeutigkeits- und Überlegenheitsbehauptungen“ auf den Kulturbegriff übergingen, „weil das Denken in Kategorien der ‚Rasse’ zwar offiziell vermieden wird, aber im Alltagsverstand lebendig und von dem historischen Bruch 1945 mehr oder weniger unberührt geblieben ist“ (Messerschmidt 2010, 51). Die Wirkmächtigkeit der Muster und Dynamiken, die im Kontext des kolonialen Dualismus von den edlen und unedlen ‚Wilden’ entstanden sind und Idealisierung, Versklavung, Ausbeutung und Mord zur Folge hatten, sind in modernisierter und damit veränderter Form heute ebenso präsent wie Muster und Dynamiken, die in der nationalsozialistisch perfektionierten Selektion, Vernutzung, Vertreibung, Auslöschung und Vernichtung von Menschen grausame Realität wurden. Die Erfahrungen des beständig zum/zur Anderen-gemacht-werdens, das in den postco-
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lonial studies als „Othering“ (Ashcroft et al. 2000, 156ff.) bezeichnet wird, sind kollektive Erfahrungen von Minorisierten. Sie sind nicht etwa eine bloße Vereinfachung und falsche Repräsentation, sondern basieren auf Herrschaft, Lust und Abwehr (Bhabha 1994, 75). Der Diskurs um Integration fußt auf der Vorstellung, dass es ‚die’ zu integrierenden festgeschriebenen kulturell Anderen gibt, die in eine einheitliche Gesellschaft Bundesrepublik eingepasst oder eingegliedert werden sollen, falls sie dieser dienlich sein können. Othering-Erfahrungen, die den sehr unterschiedlichen Formen von Rassismuserfahrungen zu eigen sind und weniger als die offen ausschließenden und aggressiven Akte ins Auge stechen, werden in diesem Beitrag zum Ausgangspunkt der Betrachtungen gemacht. Lawrence Grossberg (1999, 52) schreibt, dass „Erfahrung selbst ein Produkt von Macht ist und dass deshalb das, was am offensichtlichsten ist und am wenigsten in Frage gestellt wird, oft am stärksten von Machtbeziehungen durchdrungen ist.“ Othering wird nicht deshalb als Fokus gewählt, da beispielsweise die Existenzialität der Erfahrungen aufgrund staatlicher Maßnahmen, durch die seit 1993 in der Bundesrepublik Deutschland mindestens 375 Flüchtlinge ums Leben kamen (Antirassistische Initiative e. V. 2009), oder die mörderische Dimension rechtsextremer Gewalt im wiedervereinigten Deutschland, die bisher 143 Todesopfer forderte (Amadeu Antonio Stiftung, 2009), negiert werden soll. Es ist auch nicht Ansinnen dieses Beitrags, den Blick von einem europäischem Grenzregime abzuwenden, das das Mittelmeer in ein Massengrab verwandelt hat, sowie von einer Ausweisungsund Abschiebepraxis, die sogar vor Jugendlichen nicht halt macht, die ihre Kindheit in diesem Land verbracht haben. Genauso wenig sollen Alltagsrassismen, verweigerte Gleichstellung, der verwehrte Zugang zu Ressourcen, Bildung, Arbeitsmarkt und Formen der Marginalisierung sowie gesellschaftlicher Ausschluss durch Einbeziehung (Terkessidis 2004) unterschlagen werden. Abgesehen davon geht es ebenso wenig um die Wiederholung eines neoliberalen Gestus im antirassistischen Gewand, der die Verantwortung, mit den herrschenden Verhältnissen zurecht zu kommen, lediglich an die minorisierten Subjekte zurück verweist. Othering als Voraussetzung und Konstante in der Normalität der sehr heterogenen Formen von Rassismuserfahrungen wird als Meta-Ebene und Re-
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ferenzpunkt gewählt, um sich anhand dessen der Frage anzunähern, wie Subjektivierungsprozesse von Minorisierten beschrieben, damit fass- und diskutierbarer und hoffentlich auch in einem kollektiven Sinne veränderbarer werden können.
Un-/Sichtbarkeit Die Normalität des Otherings schafft und klassifiziert erst die, die als anormal gelten. Das im Kontext von Rassismuserfahrungen zum/zur Anderen gemacht werden produziert beständige Sichtbarkeit – eine Sichtbarkeit der dadurch Minorisierten, während die, die diese minorisierten Anderen erst produzieren oder konstruieren, unmarkiert bleiben. Frantz Fanon (1980, 76) beschreibt die Unentrinnbarkeit und Totalität rassistischer Macht in zwischenmenschlichen Interaktionen als „gefangen sein im Höllenkreis“: „Wenn man mich liebt, dann sagt man mir, dass man mich trotz meiner Hautfarbe liebe. Verabscheut man mich, dann fügt man hinzu, dass dies nichts mit meiner Hautfarbe zu tun habe.“ Hinzugefügt werden könnte noch: Oder man sagt mir, man liebe mich gerade wegen meiner Hautfarbe. Mit dem Beispiel des Panopticons macht Foucault (1976) deutlich, wie moderne und diskursive Macht auf Menschen wirken kann, ohne offensichtliche Gewalt und Kontrolle auszuüben. Dieses „verallgemeinerungsfähige Funktionsmodell“, das die „Beziehung der Macht zum Alltagsleben der Menschen definiert“ und tatsächlich „eine Gestalt politischer Technologie“ ist, „die man von ihrer spezifischen Verwendung ablösen kann und muß“ (Foucault, zit. n. Dreyfus et al. 1987, 220), beschreibt, wie Fremdkontrolle zu Selbstkontrolle wird, da Gefängnisinsassen nach dem Plan des panoptischen Gefängnisses einer ständigen Sichtbarmachung unterworfen sind, die ihr Handeln wirkungsvoll beeinflusst. „Das Panopticon ist eine anpassungsfähige und neutrale Technologie zur Individuierung und Ordnung von Gruppen“ (ebd., 221). „Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selbst aus; [...] er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung“ (Foucault 1977, 260; zit. n. Muhle 2008) Im bundesdeutschen Integrationsdiskurs wird von den „Ausländern“ Assimilation gefordert. Assimilation erfordert Unsicht-
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barkeit. Tatsächliche Unsichtbarkeit wird von der Mehrheitsgesellschaft jedoch nicht toleriert, da in der Abgrenzung zu dem/der ‚Anderen’ das eigene ‚Ich’ im ‚Wir’ als Mehrheitszugehörige erst spürbar wird. Das Gegenüber dient als Projektionsfolie für eigene Wünsche und Sehnsüchte und soll diese bedienen, ebenso wie es zur Abwehr eigener negativ konnotierter Anteile genutzt wird. Der langweilige, graue Alltag wird durch den Vergnügungswert multikultureller Würze als Massenkultur erst interessant (hooks, 1994). „Das einfache, unschuldige Leben; der Mangel an sozialer entwickelter Organisation und ziviler Gesellschaft; Menschen, die in reinem Naturzustand leben; die freie offene Sexualität, die Nacktheit, die Schönheit der Frauen“ (Stuart Hall 1994, 160) und Männer sind machtvolle Phantasien, die vom Beginn des Kolonialismus bis heute wirksam sind. Sie sind im Sinne einer Exotisierung, Idealisierung und Sexualisierung das Pendant zu negativ bedachten Vorstellungen von traditioneller und patriarchaler Rückständigkeit, die sich momentan im Besonderen gegen die als Muslime identifizierten Frauen und Männer richtet und der damit einhergehenden Verachtung und dem offenem Ausschluss. Die Festschreibung auf Natürlichkeit und Ursprünglichkeit, die Wahrnehmung eines exotischen Gegenübers gepaart mit Assimilierungsdruck schaffen paradoxe Botschaften wie „bleibe so anders wie du bist, aber werde unsichtbar.“ Etwas werden zu sollen, das nicht gelingen kann, dies kann dem Entstehen von Paranoia Vorschub leisten (vgl. Lemert 1972). Der Prozess des Herausstellens, der Sichtbarmachung, ist in seinen Auswirkungen paradox und komplex, da er andererseits mit einer Unsichtbarmachung der betreffenden Person, ihrer Individualität, einhergeht. In den USA wird u. a. von Anderson J. Franklin (2007) ein „Invisibility Syndrom“ thematisiert, da die kumulativen Erfahrungen der beständigen Kränkungen oder Mikroaggressionen zu einem Gefühl der Unsichtbarkeit führen können, das die effektive Nutzung der eigenen Ressourcen, den Aufbau positiver Beziehungen und das Potenzial zu einer befriedigenden Lebensführung im Generellen beeinträchtigt.
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Double-Binds Double-Binds wie Exotisierung/Bewunderung und Verachtung/ Gewalt/Auslöschung sowie Ausschluss und Einbeziehung sind alltägliche Erfahrungen von Minorisierten in der Bundesrepublik, die sowohl in Interaktionen als auch strukturell, institutionell, medial und diskursiv vermittelt zu Tage treten. In welcher Weise dies geschieht, ist abhängig von dem momentanem Zeitgeist, Privilegien und intersektionellen Verschränkungen und Gleichzeitigkeiten von Machtverhältnissen, in denen rassistisch Minorisierte leben. Rassismuserfahrungen sind widersprüchliche Erfahrungen, „das Spiel süßer und bitterer Worte [und auch Taten, d. V.] ist eine Form in der Rassismus produziert wird. Die Schwierigkeit, Rassismus zu identifizieren, ist nicht nur funktional für Rassismus, sondern ein Teil des Rassismus selbst“ (Ferreira 2003, 156, Hervorhebung im Original). Dies macht es schwer, sich Bewusstsein zu verschaffen und sich zur Wehr zu setzen. Mittlerweile wird in der psychoanalytischen Theoriebildung ein Orientierungsund Sicherheitsbedürfnis als vital, das heißt für das Leben des Individuums bedeutsam, diskutiert (Fischer/Riedesser 1998, 140). Das existenzielle Bedürfnis nach Orientierung kann auf „systematische und subjektiv auswegslose Diskrepanzen“ treffen, „wie beispielsweise in Double-Bind-Situationen“ (ebd.). Anthony Wilden beschreibt Bedingungen, die eine Double-Bind-Situation zu einer Situation sozialer Traumatisierung werden lassen (ebd., 130): Ein Opfer, das aus einer Machtposition heraus auserwählt wurde, erfährt wiederholte, paradoxe, selbstwidersprüchliche Handlungsaufforderungen und Verhaltensvorschriften, die es daran hindern, sich der pathologischen Kommunikation zu entziehen. Zunächst werden wir uns anhand der Selbsttechnologie des Geständnisses oder des Bekenntnisses, zu der Minorisierte in alltäglichen Praxen aufgefordert werden, der Frage zuwenden, welche Hinweise uns Foucault (1993, 24ff.) zu Subjektivierungsprozessen von Minorisierten im Kontext des Integrationsdiskurses liefern kann. Erst daran anschließend wird dann, um die verwendeten foucaultschen Analysen aus psychologischer Perspektive zu betrachten, auf Dynamiken im Kontext traumatischer Erfahrungen eingegangen.
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G e s t ä n d n i s u n d S u b j e k t i vi e r u n g Foucault beschreibt als wesentliche Aufgabe moderner Machttechniken zu normalisieren und einzuschließen, doch können diese ebenso ausschließend und todbringend wirken (vgl. Muhle 2008). Othering arbeitet mit Normen und Normalitäten, häufig ohne offensichtliche Gewalt und Kontrolle auszuüben, wie die von Foucault beschriebene Disziplinarmacht. Minorisierte Subjekte entstehen, werden produziert und bilden sich selbst. Foucaults Konzept der Gouvernementalität differenziert zwischen Herrschafts- und Selbsttechnologien. Subjektivierungsprozesse finden nicht nur durch Disziplinierung und Unterwerfung, sondern mit Hilfe von Techniken des Selbst statt. Sie ermöglichen Individuen „mit eigenen Mitteln bestimmte Operationen mit ihren Körpern, mit ihren eigenen Seelen, mit ihrer eigenen Lebensführung zu vollziehen, und zwar so, dass sie sich selber transformieren, sich selber modifizieren und einen bestimmten Zustand von Vollkommenheit, Glück, Reinheit, übernatürlicher Kraft erlangen“ (Foucault 1984, 35f.). Effekte der Selbsttechnologien können sehr unterschiedlich sein. Selbstverhältnisse entstehen, die ethisch und individuell ein Hinauswachsen über die von der Herrschaft vorgegeben Bahnen herstellen und/oder auch eine weitere Verankerung von hegemonialer Normalität in Form eines Bewusstseins über sich selbst in den Subjekten vorantreiben, auf die dieser Beitrag hauptsächlich eingehen wird. Integration wird zwar inzwischen häufig als zweiseitiger Prozess präsentiert, die gravierende Präsenz von Diskriminierung und Rassismus werden jedoch unterschlagen, lediglich eine gewisse Offenheit und Toleranz der Mehrheitsangehörigen werden angemahnt und Angebote beruflicher und deutschsprachiger Förderungsmaßnahmen offeriert (vgl. Castro Varela 2008). Mit dem Nationalen Integrationsplan wird unter dem Slogan „Fordern und Fördern” definiert, dass Migrant/inn/en die sind, die sich integrationsbereit zeigen und ihre Integrationsfähigkeit unter Beweis stellen sollen (ebd.). Melanie Klaric (2009, 143) versteht den „Integrationsimperativ“, durch den ihre Interviewpartner/innen aufgrund „rassistischer Differenzmarkierung“ aus dem mehrheitsdeutschen ‚Wir’ herausgeschrieben werden, als Herrschafts- oder Regierungstechnologie im Sinne Foucaults, die „Effekte auf alle Personen hat, die
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sie mit einem Migrationshintergrund markiert“. „Integration wird zum Imperativ bei gleichzeitiger permanenter Reproduktion von Fremdheit“ (ebd., 23). Das „Verhalten von Integration“ bezeichnet sie „als Selbsttechnologie, die als individuell zu erbringende Leistung, in die Verantwortung von Individuen gestellt wird“ (ebd., 46). Auf die historisch gewachsene foucaultsche Selbsttechnologie des Geständnisses wird im Folgenden Bezug genommen: Stellen wir uns eine minorisierte Person vor, die sich innerhalb des virulenten Integrationsdiskurses befindet; einer Realität, die diskriminiert, da sie die Abweichung von der Norm definiert, dann die als anormal Geltenden für ihre Andersheit kritisiert und den Einzelnen assimilative Praktiken nahe legt, um eine ‚gute Migrantin’ oder ein ‚guter Migrant’ zu sein, die/der Bereitschaft und Fähigkeit zur Integration zeigen sollte. Insbesondere diejenigen, die als nichtwestlich oder gar islamisch gelten, werden als kulturell „absolut different“ und weit entfernt von Modernitätsvorstellungen verortet (Castro Varela 2008). Es besteht beständig die große Gefahr, als integrationsunwillig zu gelten. Innerhalb dieses Diskurses bekennt sich eine Person zu ihrer Assimiliertheit. Das Bekennen zur hegemonialen Vorstellung der vollständigen Anpassung und Selbstaufgabe basiert auf einem impliziten Geständnis in einer Situation permanenter Sichtbarmachung: „Ja, ich bin ein Anderer“ oder „ja, ich bin eine Andere“. Diese Anerkennung des hegemonialen Ge-othered-Werdens und das assimilative Bekennntnis führt als Selbstrepräsentation zu einem Prozess, der, Foucault folgend, im Sinne einer Identifikation innere Veränderung bei dem/der Minorisierten bewirkt. Ein die Sichtbarkeit bestätigendes, sich selbst als Anderes sehendes, assimiliertes Subjekt wächst heran, wird erschaffen. Ein Subjekt, das beständig darum bemüht ist, Modernität und die Zugehörigkeit sowie die Anerkennung des Phantasmas der deutschen oder westlichen Kultur zu beweisen. Ein Selbstbild, eine eigene Wahrheit eines sich integrationswillig und auch integrationsfähig präsentierenden Subjekts entsteht, das, falls es als männlich und islamisch gilt, wiederum dem Verdacht ausgesetzt ist, ein „Schläfer“ zu sein (ebd.) und das generell jederzeit wieder auf den Platz der unintegrierbaren Migranten zurück verwiesen werden kann.
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Aber dies ist noch nicht alles: Gleichzeitig wird Minorisierten im Kontext multikultureller oder interkultureller Diskurse abverlangt, dass sie als Andere authentische Bekenntnisse und Praxen liefern, die ‚exotische Würze’ in den grauen bundesdeutschen Alltag bringen, sei es beispielsweise durch ihre Erscheinung, kulinarisch, künstlerisch, in Liebesbeziehungen oder auch als exotische Kinder Mehrheitsangehöriger. Auch hier kann die Selbsttechnik des Bekenntnisses zu Identifizierungsprozessen und somit zu Selbst-Ethnisierung oder -Kulturalisierung führen, die wiederum die Internalisierung des Selbst als Anderes forciert. Paradox ist zudem, dass innerhalb des rassistischen Diskurses im Kontext von den sich selbst enthüllenden und sichtbargemachten Anderen Bekenntnisse zu ambivalenten Praktiken abverlangt werden und zugleich die Erwartung an das minorisierte Subjekt gestellt wird, ein einheitliches Selbst zu erzeugen, denn sonst säße es ja ‚zwischen den Stühlen’. Minorisierte befinden sich nicht lediglich zwischen den oben beschriebenen Assimilations- und Ethnisierungsforderungen, sondern sie werden „gleichermaßen zu Objekten der Angst und der Hoffnung“, da die Diskussion um Integration an „Sicherheitsfragen und Fragen des demographischen Wandels“ gekoppelt wird (Castro Varela 2008, 83). „In der Folge werden sie unter die Beweislast der gelungenen Integration gestellt“ und es ergibt sich für viele auch hier eine „unerträgliche Double-Bind-Situation“ (ebd.). In der paradoxen bundesrepublikanischen Normalität muss die eigene Nützlichkeit beständig erneut bewiesen werden. Foucault (1993, 62) formuliert, dass „die Enthüllung des Selbst ein Verzicht auf das Selbst“ ist. Die im Zuge des Othering, des Integrationsimperativs und des Nützlichkeitsdiskurses abgegebenen Geständnisse und Bekenntnisse Minorisierter formen als Selbsttechnologie ein Bewusstsein, eine Andere/ein Anderer zu sein. Der Verzicht auf das Selbst kommt einer Internalisierung des Selbst als Anderes, einer Identifikation mit Assimilationsanforderungen, einer symbolischen Auslöschung gleich. Grada Kilomba (Ferreira 2003, 149) macht anhand einer afrodeutschen Frau, die als Schwarze in einem „modernen Primitivismus, als „authentische und sexualisierte Andere“ eingekerkert und der Natur nahe stehend beschrieben wird, unter Bezugnahme auf koloniale Muster deutlich, wie sich Othering in intersektioneller Weise der Verschränkung und Gleichzeitigkeit verschiedener
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Dimensionen sozialer Ungleichheit, als Gendered Racism manifestieren kann. Kilomba beschreibt die Wirkung auf das Selbstverständnis insofern, dass „man nur durch sein eigens entfremdetes Selbstbild existieren“ kann, „das durch die Weißheit konstruiert wird“ (ebd.). Fanon führt im Kontext von Kolonialerfahrung aus, „dass das, was man die schwarze Seele nennt, häufig ein Konstrukt der Weißen ist“ (Fanon 1980, 12) und spricht in Anbetracht der unbewussten Prozesse bei seinen Patienten von „halluzinatorischer Laktifizierung“ (ebd., 66). Ein Minderwertigkeitskomplex existiert in Folge eines doppelten Prozesses, den er zunächst als ökonomischen bezeichnet, der sich sodann durch die Verinnerlichung oder Epidermisierung der Minderwertigkeit fortsetzt (ebd., 10). Wie kann die Internalisierung des Selbst als Anderes, die Wirkung panoptischer Macht auf Minorisierte und die Selbsttechnik des Gestehens und Bekennens aus der Perspektive der Psyche erklärt werden? Althusser (1997, 32) formuliert, dass mittels der „Ideologie“ die Individuen als Subjekte angerufen werden. Ihm folgend kann gesagt werden, dass die Ideologie Rassismus „derart wirkt“, dass durch Anrufung aus der Masse der Individuen Subjekte „rekrutiert oder diese Individuen in „Subjekte verwandelt“ werden. Judith Butler (2001, 10f.) stellt die Frage, warum der durch die Stimme des Polizisten angerufene Passant in Althussers Beispiel sich als Subjekt zur Stimme des Gesetzes umwendet und welche Auswirkungen diese Umwendung auf die Entstehung eines gesellschaftlichen Subjekts hat. „Ist es ein schuldiges Subjekt, und falls ja, wie ist es schuldig geworden?“ (ebd.) Weshalb bleibt die Macht des Otherings nicht außen am minorisierten Subjekt stehen, sondern gerät es in die Position des/der Schuldigen und liefert Geständnisse und Bekenntnisse ab, die es wiederum an eine minorisierte Identität fesseln?
Rassismus als Trauma Grada Kilomba legt dar, dass Rassismus selten als Trauma wahrgenommen und benannt wird und wertet dies als Symptom dafür, dass insgesamt die Geschichte der rassistischen Unterdrückung und deren psychologischen Auswirkungen innerhalb des westli-
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chen Diskurses bisher vernachlässigt wurden (Ferreira 2004, 173f.). Sie weist darauf hin, dass Fanon uns daran erinnern will, dass das Trauma des Schwarzen Subjekts in dem absoluten Anders-Sein in Relation zum weißen Subjekt liegt (Kilomba 2007, 98): „Schon sezieren mich die weißen, die einzig wahren Blicke. Ich bin fixiert. [...] Ich bin verraten. Ich fühle, ich sehe in diesen weißen Blicken, dass nicht ein neuer Mensch Einzug erhält, sondern ein neuer Typus von Mensch, eine neue Gattung. Eben ein Neger!“ (Fanon 1980, 76). Auch in der internationalen Forschung wird Rassismus u. a. als traumatische Erfahrung diskutiert. BryantDavis/Ocampo (2005) ziehen Parallelen zwischen anerkannten Traumata, z. B. durch Vergewaltigung oder häusliche Gewalt, und multiple Formen rassistischer Übergriffe. Als Ergebnis einer USamerikanischen Metastudie beschreibt Carter (2007), dass Rassismuserfahrungen als kritische Lebensereignisse wirken können und traumatischen Stress verursachen. In diesem Zusammenhang sieht er auch die allgemein in der US-amerikanischen Forschung bei People of Color ermittelte überdurchschnittliche Häufigkeit von Symptomen, die mit denen der Posttraumatischen Belastungsstörung identisch sind. Speight (2007) kritisiert an Carters Studie allerdings das Ausblenden von Internalisierungsprozessen. In Definitionen von Trauma, die sich nicht an den Begrenztheiten der nationalen und internationalen Diagnosemanualen ICD 10 und DSM IV orientieren, geht es um die subjektive Bedeutung, die eine traumatische Situation für die betroffene Persönlichkeit annimmt, wie beispielsweise die Infragestellung der zentralen Momente eines Lebensentwurfs und weniger um die objektive Intensität der traumatischen Faktoren (Fischer/Riedesser 1998, 84 und 355). Mark Terkessidis (2004, 173ff.) beschreibt u. a. im Kontext von Fragen wie: „Woher kommst Du? Wann gehst Du wieder zurück?“, dass die von ihm interviewten „MigrantInnen zweiter Generation“ über eine „Urszene“ berichteten, in der ihnen erstmals bewusst gemacht wurde, dass sie aus dem deutschen Kollektiv, zu dem sie sich zugehörig fühlen, ausgegliedert werden. Ihr Weltbild, die Selbstverständlichkeit ihrer Zugehörigkeit, wurde erschüttert und dies wurde durch weitere Erlebnisse verstärkt. Die Verweisung auf einen anderen Ort (ebd., 180ff.), die wiederum deutlich macht, dass der Platz der minorisierten Person auch räumlich außerhalb Deutschlands und dem Kollektiv anzusehen ist, trägt die gleich Wirkung. Othering, das Differentmachen, kann
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als subjektive Erfahrung das Selbst- und Weltverständnis beeinträchtigen. Eine „Urszene“, der andere Erfahrungen des Otherings vorausgehen und/oder nachfolgen, stellen den Lebensentwurf erstmals bewusst existenziell in Frage. Carter (2007) beschreibt, dass Traumatisierung durch einen Vorfall entstehen kann, doch zumeist ein Prozess ist, in dem ein weiteres Ereignis den Stresslevel so anhebt, dass die Grenze zum Trauma überschritten wird. Fischer und Riedesser (1998, 124) nehmen Bezug auf den von Masud Khan entwickelten Begriff des kumulativen Traumas: „Eine Abfolge von traumatischen Ereignissen oder Umständen, die jedes für sich subliminal bleiben können, in ihrer zeitlichen Abfolge und Häufung jedoch die restitutiven Kräfte des Ich so sehr schwächen, dass insgesamt eine oft sogar schwertraumatische Verlaufsgestalt entsteht. Immer von neuem wird die ‚Erholungsphase’ unterbrochen. Die ständige Wiederholung durchbricht die Abwehrbarriere und hinterlässt tiefe Spuren im Persönlichkeitssystem.“ Zu der Existenzialität der Erfahrungen trägt außerdem bei, dass gesellschaftliche Akzeptanz von Einwanderung davon abhängig gemacht wird, ob Migrant/inn/en die Gesellschaft durch kulturelle Konsumangebote und ökonomische Dienstleistungen bereichern (Ha 2003, 92f.). Seit der Debatte um das Zuwanderungsgesetz hat sich eine breite Koalition von Gewerkschaften, Bündnis 90/Die Grünen bis hin zu Christlich-Konservativen und Arbeitgeberverbänden für eine kontrollierte Zuwanderung ausgesprochen, da sie die gesellschaftliche Modernisierung Deutschlands vorantreibe (ebd.). Die Nützlichkeit von Zuwanderung als Stütze für den Wirtschaftsstandort Deutschland und als Allheilmittel gegen den demographischen Schwund wird beschworen (Kabis 2004, 90). Die Existenzialität der Erfahrung des Otherings, der Verweigerung von Zugehörigkeit und der Erfahrungen des Ausschlusses sind eingebettet in die Anforderung an Minorisierte, sich durch Nützlichkeit ein gewisses Daseins- und Lebensrecht zu verschaffen, was eine weitere Prekarisierung der Lebenssituation begünstigt. Fischer und Riedesser (1998, 79) beschreiben in ihrer TraumaDefinition, dass die Traumatisierung mit einer Erschütterung des Selbst- und Weltbildes einhergeht. Die Veränderung, Störung oder Erschütterung des Selbstverständnisses, die gleichzeitig auch Einfluss auf das Weltverständnis hat, beschreibt Fanon (1980, 73) folgendermaßen: „An jenem Tag, da ich desorientiert war, außer-
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stande, mit dem anderen, dem Weißen draußen zu sein, der mich unbarmherzig einsperrte, begab ich mich weit, sehr weit fort von meinem Dasein und konstituierte mich als Objekt.“
Internalisierung und Identifikation Anhand von individuellen Trauma-Phänomenen (vgl. Kühner 2008, 40ff.), Internalisierungs- und Identifikationsprozessen, den „Spuren des Täters im Opfer“, der Introjektion und Schuld werden im Weiteren beispielhaft die Auswirkungen von Rassismuserfahrungen auf das Selbst, das nicht nur zum Objekt, sondern gleichzeitig zum minorisierten Subjekt wird, erläutert. Aus traumatologischer Perspektive wird im Folgenden eine Annäherung an die von Stuart Hall benannte „Internalisierung des Selbst als Anderes“ (1994, 20 und 135) unternommen. Die Internalisierung des Selbst als Anderes kennzeichnet den Prozess der Internalisierung, „innerhalb dessen Elemente oder Relationen der äußeren Welt im Binnenraum eines Organismus aufgenommen werden. Auf psychologisch erfassbarer Stufe geht es dabei um deren mentale Repräsentierung in einem seelischen Binnenraum“ (Seidler 2000, 351). Eine traumatische Situation wird komplexer, wenn der Täter zugleich eine enge Beziehung zu dem Opfer hat. Fischer und Riedesser (1998, 125 und 340) verwenden in ihrem „Lehrbuch der Psychotraumatologie“ in diesen Fall den Begriff des „Beziehungstraumas“. Viele Beziehungstraumata sind durch ihren Wiederholungscharakter dem Typus der kumulativen Traumaentstehung zuzurechnen (ebd., 124). Traumata werden hier oft durch enge Bindungspersonen hervorgerufen, die eigentlich Sicherheit und Schutz bieten sollten. Opfer geraten in die paradoxe Situation, Hilfe und Schutz bei den sie traumatisierenden Personen suchen zu müssen. Die Beziehungsschemata werden aufgrund langanhaltender, unangemessener Beziehungserfahrungen traumatisch verzerrt. Carol Camper (1994, 165ff.), eine Schwarze Amerikanerin, die von einer weißen kanadischen Familie adoptiert wurde, beschreibt, wissend um ihre eigenen (Kindheits-)Erfahrungen, mit kritischem Blick die Verhältnisse zwischen weißen Müttern und ihren Schwarzen Kindern:
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„As a mother, I know that giving birth to a child and mothering it, is the closest thing in society to ‚owning‘ another human being. [...] The ownership of children by their mothers is rarely challenged. Mothers control, shape and influence children as no one else ever will. In the context of racism and colonialism, the mothering of a Black child by a white mother might not be all that benign. […] I have my own feelings about being ‚owned‘ that comes out of the controlled, abusive atmosphere of my home. Race, plus being kept culturally isolated contributed to my feeling like a ‚specimen‘ while the abuse confirmed my status as chattel. I find that many of the mixed race young adults that I encounter have been raised outside the Black community and their struggle around identity is sometimes a painful, difficult one. […] We know that white people often exoticize Black sexuality. Are these women doing more than that? Are they exoticizing their own children? Are they trying to make a statement about race? Is it their naive idea that racial mixing eliminates racism? Is this their answer to some Black ex-lover´s accusation of racism? ‚How could I be racist? My own child is Black!‘“
Konstellationen, in denen Minorisierte in großer Abhängigkeit von der den Rassismus ausübenden Person stehen, können Gefühle von Hilf- und Schutzlosigkeit und tiefgreifende Beziehungstraumata begünstigen. So sind beispielsweise Kinder, die Minorisierte sind und bei Mehrheitsangehörigen aufwachsen, oder Ehepartner, deren Aufenthaltsstatus und ökonomisches Überleben von dem Fortbestand der Ehe abhängig ist, besonders gefährdet. Langfristige kumulative Beziehungstraumata nehmen bisweilen die Form von Double-Bind-Situationen an (Fischer/Riedesser 1998, 125). Da den rassistischen Zuschreibungen ohnehin auf Grund ihres Dualismus (von z. B. Exotisierung und Verachtung) Doppelbödigkeit und Ambivalenz inhärent sind, liegt es nahe, dass gerade in engen Beziehungen eine kumulative Traumatisierung stattfinden kann. Zum Beziehungstrauma kommt hier ein Orientierungstrauma hinzu, da das Vertrauen in die eigenen Kognitionen untergraben wird (ebd.). Der pathogenetische Moment im Kontext von Traumatisierungen wird auf der psychosozialen Ebene als „Funktionsumkehr eines Beziehungsschemas“ beschrieben (ebd., 88). Betroffene Personen verlieren die Fähigkeit „zwischen nützlichen und schädlichen Beziehungsangeboten zu unterscheiden und gleichzeitig noch die Grenzziehung zwischen Selbst und Außen“ vorzunehmen (ebd.). Eine Invasion des Täters in das Selbst des Opfers, eine traumabedingte Subjekt-Objekt-Verschmel-
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zung, findet statt, die entweder zu einer Selbstaufgabe zugunsten des Täters führen kann oder Fähigkeiten erfordert, die verletzte Integrität des Selbst wiederherzustellen (ebd., 294). Nivedita Prasad (1994, 161ff.) beschreibt an einem Beispiel, welches Ausmaß Assimilationsdruck in einem Beziehungsgeschehen, das als Beziehungstrauma zu bezeichnen ist, annehmen kann. Herr M., der mit 19 Jahren aus Indien zum Studium nach Deutschland kam, meldete sich für einen Anfängerkurs in Hindi an, obgleich er, wie sich später herausstellte, sein Abitur in Hindi absolviert hatte. Er heiratete nach der Einreise eine deutsche Frau, in der Beziehung spielte es keine Rolle, dass er aus Indien war. Er zeugte Kinder, die eine deutsche Sozialisation genossen. Nach Indien reiste er kein einziges Mal. Seine Assimilation war so umfassend, dass er erst, nachdem ihm klar wurde, dass er Teile seiner Persönlichkeit leugnen musste, um die Harmonie der Ehe zu garantieren, wieder Zugang zu den vorhandenen Hindikenntnissen fand. In Beziehungstraumata ist die traumatisch bedingte Orientierungsstörung äußerst nachhaltig, da das Urvertrauen in die Zuverlässigkeit sozialer Beziehungen und das Selbstvertrauen generell erschüttert werden können (Fischer/Riedesser 1998, 125). Die aus traumatologischer Sicht beschriebene Beschäftigung und partielle Identifizierung mit dem/der Täter/in, „die Spuren des Täters im Opfer“, können als „komplexes Beziehungsgeschehen analysiert werden“ (Kühner 2008, 50). Prasad (1994, 161ff.) führt aus, dass Rassismus/Kolonialismus auch zu einer radikalen Überidentifikation mit der Dominanzgesellschaft führen kann und sich manchmal, wie das veränderte Erscheinungsbild von Michael Jackson zeigte, das sich immer mehr der weißen Norm anglich, sogar auf die physische Erscheinung erstrecken kann. Subtilere Formen der Verinnerlichung, die ebenso das Selbstverständnis beeinträchtigen und den Alltag von Minorisierten bestimmen, beschreibt Prasad (ebd., 163) mit einem Zitat von Anja Meulenbelt: „Wenn wir uns anschauen, was verinnerlichte Unterdrückung für Juden bedeutet, dann vor allem der Versuch, nicht dem jüdischen Stereotyp zu entsprechen“. Das Selbstbild wird im Prozess der Verinnerlichung nicht nur durch die bloße Übernahme der Zuschreibungen geprägt und womöglich erschüttert, sondern auch in dem Versuch, sich von diesen abzusetzen.
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Die Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Kolonisierten kommentiert Fanon (1980, 120) selbstreflexiv als unausweichlich: „Nichts zu machen: ich bin ein Weißer. Und unbewusst misstraue ich allem, was schwarz in mir ist, also der Totalität meines Seins.“ Hiermit macht Fanon Widersprüche deutlich, die in der Internalisierung des Selbst als Anderes im Zuge von Othering-Erfahrungen liegen. Hall umschreibt die Internalisierung des Selbst als Anderes damit, dass Rassismus „auch innerhalb der dominierten Subjekte wirksam“ ist und Betroffene dazu gebracht werden, sich selbst als „die Minderwertigen“ zu erfahren (Hall, 1994, 20 und 135). Dies skizziert Fanon ebenso, denn er beschreibt seine Existenz als „schwarz“ und er misstraut der Totalität seines schwarzen Seins. Andererseits sind Dynamiken der Assimilation virulent. In der unbewussten Identifikation mit und Anpassung an hegemoniale Normen beschreibt er sich hier als „Weißer“, da sei nichts zu machen, der sich im Zuge der Internalisierung als schwarzer Anderer selbst misstraut. Erfahrungen des Otherings stellen widersprüchliche Dynamiken her: Prozesse der Internalisierung des Selbst als Anderes finden in paradoxer Bewegung zu oder mit assimilativen Identifikationen statt. Dynamiken der Identifikation und Internalisierung können als Strategien des Überlebens und der Beibehaltung von Handlungsfähigkeit verstanden werden. Das minorisierte Selbst ist in seinen Subjektivierungsprozessen Schauplatz internalisierter Andersheit und Assimilationsbestrebungen. Dies verweist auf die subjektivierende Wirkung von Rassismuserfahrungen, die in Ambivalenzen, Paradoxien und Schuldgefühlen eingebettet ist. Hirsch differenziert Identifikation von Introjektion (1997, 106): „Identifikation ist ein Prozess, in dem auf der Basis eines Aspekts einer Objektrepräsentanz eine Veränderung in der Selbstrepräsentanz stattfindet. Man könnte in gewisser Weise sagen, dass ein Objekt in das Selbst hineingenommen wurde“, wenn beispielsweise ein weißes Erscheinungsbild als Norm verinnerlicht wurde und diese Identifikation dazu führt, dass Minorisierte sich dabei ertappen, über ihr eigenes nicht-blondes Spiegelbild im ersten Moment immer wieder erstaunt zu sein.
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Introjekt und Schuld Die Introjektion hingegen ist laut Hirsch im Gegensatz zur Identifikation „sozusagen das Aufrichten eines inneren Begleiters, mit dem man im Dialog stehen kann, der aber nicht Teil der Selbstrepräsentation ist (ebd.). Das Introjekt ist so eher wie ein Beifahrer, jemand der einem entweder freundlich oder unfreundlich erzählt, was man tun soll, und mit dem man einen unbewussten Austausch haben kann, genau wie er bewusst auch mit einem realen äußeren Objekt stattfinden kann“ (ebd.). Ein Introjekt als fremdkörperartiges Gebilde kann neben Schuldgefühlen, Selbstwerterniedrigung, Strafbedürfnis und Aggression erzeugen. Es spricht, bildlich gesehen, zu dem minorisierten Subjekt in paradoxen Handlungsaufforderungen: Dieses soll sich als Anderes zeigen und sich an hegemonialer Norm assimilieren. Obgleich Rassismuserfahrungen nicht gleichzusetzen sind mit Erfahrungen von Folter, kann im Kontext von traumatischen Rassismuserfahrungen die Grenze zwischen dem Individuum, seinem seelischen Haushalt und den durch die soziale Umwelt erfahrenen Rassismen einbrechen: „Schwere Traumatisierung bedeutet massive Grenzüberschreitung, ein Einreißen der Grenze zwischen Subjekt und Objekt, Täter und Opfer. Der Implantation des Bösen durch den Folterer folgt die Introjektion, das Einrichten einer entsprechenden ‚tyrannischen Instanz’ im Opfer selbst, die es nun weiter entwertet und schuldig spricht – das Introjekt macht Schuldgefühle“ (Hirsch 2000, 642).
Fanon beschreibt, wie oben bereits ausgeführt, dass er allem misstraut, was schwarz in ihm ist, also der Totalität seines Seins. Aktualisierte Schuld, die er im Zusammenhang mit seiner Existenz als Schwarzer als „Verantwortung“ tituliert, die er persönlich und gleichzeitig als erklärter Repräsentant einer Gruppe verspürt, beschreibt er infolge einer Situation, in der ein kleines weißes Mädchen über ihn in der Öffentlichkeit zu seiner Mutter sagt: „Schau mal Mama, ein Neger!“ (Fanon 1980, 73) Die Mutter beschwichtigt das Mädchen damit, dass er ein „schöner Neger“ sei. Fanon beschreibt: „Ich war verantwortlich für meinen Körper, auch verantwortlich für meine Rasse, meine Vorfahren. Ich maß mich mit objektivem Blick, entdeckte meine Schwärze, meine ethnischen
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Merkmale – und Wörter zerrissen mir das Trommelfell: Menschenfresserei, geistige Zurückgebliebenheit, Fetischismus, Rassenmakel [...].“ Schuldgefühle entstehen. Ein „Fremdkörper im Selbst“, ein Introjekt, lässt das primär unschuldige Opfer unter schweren Schuldgefühlen leiden, während die Täter weder Schuldgefühle haben, noch irgendeine Schuld anerkennen (Hirsch 2000, 642). Dies beschreibt Mathias Hirsch nicht nur in Bezug auf durch Bezugspersonen traumatisierte Kinder, sondern auch als charakteristisch für schwere Beziehungstraumata im Erwachsenenalter (ebd.). Durch eine Identifikation mit dem Introjekt wird das Schuldgefühl vermindert und das Ich kommt zunehmend zur Ruhe (ebd., 109). Ein Introjekt kann nicht aufgegeben werden, da mit seiner Aufgabe die Anerkennung und Wiederbelebung des unerträglichen Traumas verbunden wäre (ebd., 108).
D e r O r t d e r M a c h t , d e r Am b i v a l e n z , des Wissens und der Widerständigkeit Die Paradoxie, in der das schuldige minorisierte Subjekt steckt, scheint eine Endlosschleife zu sein, die umso prekärer wird, je vehementer Traumadynamiken von Internalisierung, Identifikation und Introjektion wirksam werden: Die permanente Sichtbarmachung als Andere/r, als Projektionsfläche zur Konstituierung von Hegemonialität und dem Selbst der Mehrheitsangehörigen bewirkt die Internalisierung des Selbst als Anderes, das sich im Geständnis oder Bekenntnis, eine solche Person zu sein, weiter verinnerlicht und fixiert und zugleich die Schuldigkeit vermehrt, so sichtbar ein/e Andere/r zu sein. Das minorisierte Selbst strebt nach Assimilation, es identifiziert sich mit rassistischer/hegemonialer Norm, da dies beispielsweise vermittelt durch den Integrationsdiskurs Zugehörigkeit und ein Entkommen aus der ewigen Sichtbarmachung und Internalisierung des Andersseins in Aussicht stellt. Außer durch assimilative Praktiken kann das minorisierte Subjekt versuchen, seine Prekarisierung und Schuld partiell zu mindern, indem es Nützlichkeitsbeweise zu erbringen versucht, die es wiederum auf das beständig kulturell Andere verweisen, das multikulturellen Mehrwert für die deutsche Gesellschaft produziert oder die es als Arbeitskraft zum Lückenbüßer demographischer Probleme der Mehrheitsge-
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sellschaft macht. Aus der Schuld, ein/e Andere/r zu sein, als Position, auf die das minorisierte Subjekt beständig zurückgeworfen wird, aus der Paradoxie zwischen beständigen Ethinizitäts-, Unsichtbarkeits- und Nützlichkeitsanforderungen führt kein Weg heraus, außer Minorisierte gehen ihn selbst und das tun sie glücklicherweise – auch. Annette Spindler (2006) macht anhand von Biographien in der Bundesrepublik inhaftierter Jugendlicher „mit Migrationshintergrund“ deutlich, wie sich durch die gesellschaftliche Verweigerung einer anerkannten Männlichkeit und der Reduzierung auf den Körper Männlichkeitskonstruktionen und Rassismuserfahrungen verschränken. „Die Biographien der Jugendlichen verweisen ständig auf Elemente der Repression, des Autoritarismus und des Zwangs, angesiedelt im Flüchtlingsheim, im Ausländergesetz, im Arbeitsverbot für die Eltern, im Gefängnis, im Nicht-Zugeständnis politischer Rechte, in der Verweigerung eines gerechten Zugangs zu Bildung“ (ebd., 325). Den Jugendlichen werden „Selbsttechnologien nicht zugestanden, weder zugetraut noch gebilligt“ (ebd., 323f.), d. h. ein unternehmerisches Selbst (Klaric 2009), das sich in die bestehende Ordnung scheinbar selbsttätig und freiwillig einfügt, wird ihnen nicht zugestanden. Für ihr Scheitern werden die Jugendlichen aufgrund der ihnen zugeschriebenen Klischees von traditionellen und patriarchalen Lebensweisen selbst verantwortlich gemacht. Ihr Geschlecht, das „im biographischen Verlauf immer mehr an Reduktion erfährt, auf wenige, negativ konnotierte Attribute zusammenschrumpft“, wird „zum Verstärker oder Grund des Ausschlusses“ (Spindler 2006, 326). „Widerstandsversuche zeigen sich darin, den Körper extrem einzusetzen oder ihn zu zerstören, auszulöschen“ (ebd.). Die Drohung, die hinter dem bundesdeutschen Integrationsimperativs steckt, ist in tragischer und erbarmungsloser Weise war geworden: Wer nicht den aufgestellten Verwertungs- und Nützlichkeitskriterien entspricht und sich hier dienlich zeigt, kann als unintegrierbar ausgesondert, weggesperrt oder ausgewiesen werden. Insofern hat der Integrationsdiskurs eliminierende Qualität. Das dieser Logik zugrunde liegende zerstörerische Potenzial, das hier innerhalb intersektioneller Verschränkungen von Machtverhältnissen wirksam ist, können Minorisierte in dieser Ausweglosigkeit gegen sich oder andere richten.
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Hirsch (1997, 103) führt aus, dass es aber nicht das Trauma allein ist, das die Introjektion bewirkt, denn „es kommt hinzu, dass niemand da ist, der dem Opfer die Qualität des Traumas und die Realität seiner Wahrnehmung bestätigen könnte.“ Wie Mark Terkessidis (2004) feststellt, fehlt bei so genannten MigrantInnen der zweiten Generation in der Bundesrepublik ein generelles Wissen um Rassismus. Das Konzept des Informationstraumas wurde von dem nordamerikanischen Psychoanalytiker und Traumaforscher Mardi Horowitz (1979) entwickelt. Fischer und Riedesser (1998, 86ff.) führen aus, dass ein kritisches Ereignis im Informationstrauma-Konzept umso traumatisierender wirken kann, je größer seine Distanz zu den Vorerwartungen der betroffenen Persönlichkeit ist. Trauma sollte jedoch nicht nur aktuell, sondern auch aus der Lebensgeschichte heraus verstanden werden, denn eine vorherige unbewältigte Traumatisierung beeinflusst, wie das aktuelle Ereignis mit der psychischen Struktur interagiert und kann beispielsweise auf bereits versagende traumakompensatorische Strategien treffen. Andererseits könnte eine wirklich verarbeitete traumatisierende Vorerfahrung wiederum eine „immunisierende“ Wirkung haben (ebd.). Zu berücksichtigen ist, dass die von Astrid Messerschmidt (2010) in diesem Band dargelegten postnationalsozialistischen Abwehrmuster eine Täter-Opfer-Umkehr zur Folge haben. Rassismus wird außerhalb der Mitte der Gesellschaft als rechtsextremes Randphänomen präsentiert oder der als abgeschlossen betrachteten Epoche des NS zugeordnet. Insbesondere dadurch, dass die Existenz von Rassismus nicht gänzlich geleugnet wird, wird er scheinbar thematisiert, aber eine eigentliche Auseinandersetzung damit verhindert. Dies erschwert Minorisierten, ein Bewusstsein zu entwickeln und aus den Dynamiken von Schuldgefühlen, Introjektion und Identifikation heraustreten zu können. Das generelle Wissen um Rassismus mit seinen widersprüchlichen Double-Binds und das Wissen um die eigenen Verstrickungen und Traumatisierungen kann als kognitive Ressource Minorisierter in der Bewältigung der alltäglichen rassistischen Normalität bezeichnet werden. Die Betonung der Opferrolle war und ist nicht nur im feministischen Diskurs umstritten. Es besteht die Gefahr, dass Minorisierte pathologisiert und so wiederum fixiert werden, wie es auch im Integrationsdiskurs auf Grund der postulierten kulturellen Andersartigkeit geschieht.
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Trauma verweist einerseits auf die Verletzlichkeit des Individuums, auf eine unsichtbare seelische Wunde und gleichzeitig auch auf Leid, das jemandem durch andere Menschen und soziale Verhältnisse zugefügt wurde (Brunner 2004, 7f.). Eine Skandalisierung der Auswirkungen der Normalität des Rassismus auf Minorisierte, die der Autorin eminent wichtig erscheint, könnte durch Bezugnahme auf den Traumabegriff gefördert werden und so einer Verschleierung und Entpolitisierung der rassistischen Gewalthandlungen und Machtverhältnisse, wie sie durch den Integrationsdiskurs geschieht, entgegengewirkt werden. Die Skandalisierung der Verhältnisse fördert wiederum Sensibilisierung, Wissensgenerierung und die Handlungs- und Widerstandsfähigkeit Minorisierter. Rassismuserfahrungen als traumatisierende Normalität zu konzeptualisieren verdeutlicht auch die Verstrickungen Minorisierter in die (intersektionelle) Macht, die das minorisierte Subjekt erst erschaffen und beugt so einer auf Opferidentität basierenden Identitätspolitik vor. „Das Subjekt läßt sich durchaus so denken, daß es seine Handlungsfähigkeit von ebender Macht bezieht, gegen die es sich stellt, so unangenehm und beschämend das insbesondere für jene sein mag, die glauben, Komplizenschaft und Ambivalenz ließen sich ein für allemal ausrotten“ (Butler 2001, 22). Foucault setzt der Suche nach dem Außen der Macht ein Ende. Er markiert einen Ort, an dem angesetzt werden kann, denn Handlungsfähigkeit und Widerständigkeit können nur innerhalb der Machtbeziehungen existieren (vgl. Muhle 2008). Butler sieht die Orte der Ambivalenz und der Inkohärenz als Potenziale für widerständiges Handeln (Klaric 2009). Subversion kann dann stattfinden, wenn die Ambivalenz für eine Reflexion der Machtverhältnisse genutzt werden kann (ebd.). Multiple Double-Binds rassistischer Normalität stellen eine durch Ambivalenzen geprägte Realität her, die dementsprechende Anknüpfungspunkte offerieren. Die Analyse der bundesdeutschen rassistischen Verhältnisse unterliegt allzu oft einer historischen Amnesie, da die Analyse der Spezifik der postnationalsozialistischen Gegenwart außer Acht gelassen wird. Diejenigen, die sich bereits als Praktiker/innen oder Theoretiker/innen mit der Thematik beschäftigen oder gegen Rassismen engagieren, sind hier gefragt, eine Praxis weiter zu entwickeln, die sowohl psychoanalytische Ansätze mit einbezieht, die darauf hin-
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weisen, dass uns Wissen Macht über uns selbst verleiht, als auch Foucaults Ausführungen, dass Macht unser Wissen formt (vgl. Hutton 1993, 158), ohne dabei die Komplexität der Frage der Repräsentation zu vernachlässigen. Mark Terkessidis (2004, 201f.) betont in seinem Subjektivierungsbegriff die Selbstständigkeit, mit der Minorisierte den Rassismuserfahrungen begegnen. Subjektivierung versteht er als Ent-Identifizierung mit dem „DeutschSein“ und der zugewiesenen Identität als Andere/r, in der ein neuer Erfahrungsraum entsteht (ebd.). „Der Raum ist eine selbstständige Schöpfung, aber er wird stets auch von den Bildern der Einheimischen bewohnt“ (ebd.). Der Begriff Subjektivierung ist auf Individuen anwendbar, jedoch hat er auch eine kollektive Qualität, da sich „die Einzelnen zu jenem ‚Wir’ verhalten, das als Bild in ihnen verortet wird“ und so bleibt immer etwas Gemeinschaftliches (ebd.). Vulnerabilität entsteht aufgrund der Abhängigkeit menschlicher Existenz von anderen, denn kein Subjekt entsteht „ohne leidenschaftliche Verhaftung an jene“, „von denen es in fundamentaler Weise abhängig ist“ (Butler 2001, 12). „Das Konzept der Vulnerabilität“ thematisiert nicht nur die Risiken, die ein Subjekt verletzlich machen, sondern auch „die Ressourcen, die das Subjekt mobilisieren kann – oder eben nicht – um sich vor diesen Risiken zu schützen, um den Verhältnissen zu widerstehen“. (Castro Varela/Dhawan 2004, 220) Und dies ist, was den vorangegangenen Ausführungen unter anderem hinzugefügt werden müsste, denn es gibt „keine Machtbeziehung ohne Widerstand, ohne Ausweg oder Flucht, ohne möglichen Umschwung“ (Foucault, 2005, 261).
Literatur Althusser, Louis (1997): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Skizzen für eine Untersuchung, Berlin Amadeu Antonio Stiftung, http://www.mut-gegen-rechte-ge walt.de/news/meldungen/2009-rekordjahr, Stand: 4.12. 2009 Antirassistische Initiative e. V., Pressemitteilung, http://www. ariberlin.org/PE_deutsch_16.pdf, Stand: 2.11.2009 Ashcroft, Bill/Griffiths, Gareth/Tiffin, Helen (2007): Post Colonial Studies. The Key Concepts, Oxon, 156-158.
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Rassismus, Subjektivierungen, Bildungsarbeit
Getilgtes Wissen, überschriebene Spuren. Weiße Subjekti vierungen und a ntira ssis tische Bildungsarbe it ESKE WOLLRAD „Rassismus verletzt unsere ganze Gesellschaft, und bei genauem Hinsehen sind in jedem rassistischen System alle Menschen auf unterschiedliche Art betroffen. Weiße Menschen verlieren ihre Würde, wenn sie Rassismus ausüben oder geschehen lassen.“ (Sow 2008, 272)
Einleitung Seit Jahrhunderten investieren rassistische Gesellschaften unvorstellbar viel Energie in Zurichtungsmaschinerien, die Weiße Menschen davon überzeugen sollen, Rassismus ginge sie nichts an. Sorgfältig entwickelte ‚Trainingsprogramme’ vermitteln die Vorstellung, Rassismus sei Weißen Menschen wesenhaft fremd und stelle eine unbekannte Welt dar, der sich einzelne Weiße zuwenden (können), etwa weil sie ein Schwarzes Kind adoptiert haben oder Humanist_innen sind. Zuweilen scheint auch antirassistische Bildungsarbeit Bestandteil dieser ‚Programme’ zu sein, wenn suggeriert wird, Weiße als ‚Nichtbetroffene’ erhielten ohne fachliche Anleitung der ‚Betroffenen’ (Menschen of Color) keinen Zugang zum ‚Paralleluniversum Rassismus’. Oder Weiße werden als Tä-
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ter_innen definiert, die zu einer rassismuskritischen Haltung nur dann gelangen, wenn sie sich bewusst machen, dass auch sie den Opferstatus reklamieren können – nicht als Weiße, aber „als Jugendliche, Mädchen, Behinderte etc.“ (Holzkamp 1994, 24). Problematisch ist dieser Ansatz, weil er eine versteinerte Täter-OpferDichotomie entwirft, die keinen Raum für eine komplexe Perspektive lässt, welche Weißsein und rassistische Gewaltausübung auch unter dem Aspekt des Verlusts für Weiße selbst zu analysieren in der Lage ist. Das obige Zitat der Schwarzen deutschen Musikerin und Autorin Noah Sow verweist sowohl auf die Allgegenwart rassistischer Gewalt, die eine säuberliche Trennung von ‚Betroffenen’ und ‚Nichtbetroffenen’ verbietet, als auch darauf, dass Rassismus den Verlust von Würde für Weiße bedeutet, nicht nur, wenn sie ihn ausüben, sondern ebenso, wenn sie ihn geschehen lassen. Eigentlich wissen wir das – auch diejenigen von uns, die Weiß sind. Wir wissen, dass es sich bei Rassismus um eine strukturelle Gewaltform handelt, die auf alle Subjekte innerhalb einer rassistischen Gesellschaft wirkt, also sowohl auf Menschen of Color als auch auf Weiße. Nur ist dieses Wissen meist verschwunden, als hätte es jemand ausradiert. Es ist wie bei einem Palimpsest, einem mittelalterlichen Schriftstück, dessen ursprünglicher Text getilgt und das dann erneut beschrieben wurde. Der Text, also das Wissen darum, dass rassistische Gewaltausübung durch Weiße für diese auch einen Verlust von Würde bedeutet, ist getilgt oder unleserlich, doch sind die Spuren der Tilgung noch vorhanden. Dieser Beitrag fragt deshalb ebenso nach den Spuren getilgten Wissens wie nach seinen Überschreibungen. Er setzt voraus, dass dies aus Weißer Perspektive erfolgen kann, wenn der Referenzrahmen durch die Erkenntnisse Schwarzer Theoriebildung geprägt ist. Den Prozess, in dessen Verlauf Wissen erworben, getilgt und überschrieben wird, nenne ich Subjektivierung. Weiße Subjektivierungen bezeichnen folglich widersprüchliche Prozesse der Aneignung rassistischen Wissens, die nie vollständig und abgeschlossen sind. Die Problematisierung Weißer Subjektivierungen ist notwendig, soll aber weder Schuldgefühle noch Anklage kultivieren, sondern ist vielmehr ein Ausdruck von Professionalität und Intellektualität. Anne Broden und Paul Mecheril schreiben: „Nur eine selbstbezügliche und selbstkritische Professionalität und Intellektualität ist in der Lage, auf migrationsgesellschaftliche
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Dominanzverhältnisse angemessen zu reagieren“ (Broden/Mecheril 2007, 22). Weiße Selbstkritik ist selbstbezüglich, aber nicht selbstzentriert; sie reflektiert eigene Denk- und Verhaltensweisen als in Dominanzverhältnisse eingewobene, ohne von diesen vollständig bestimmt zu sein. Die von Broden und Mecheril eingeforderte selbstbezügliche und selbstkritische Professionalität und Intellektualität stellt insbesondere für Weiße Profis der interkulturellen und antirassistischen Bildungsarbeit eine Herausforderung dar, denn ihre Effizienz muss sich daran messen lassen, in welchem Maße sie Weißsein im Kontext der Auseinandersetzung mit Weißen Subjektivierungsprozessen reflektiert und problematisiert. Diese Reflektion stellt nicht deshalb eine besondere Herausforderung dar, weil es den Profis an ernsthafter Motivation mangelte, sondern weil spezifisch Weiße ‚typische’ Denk- und Handlungsmuster existieren, die immer wieder zur Überschreibung von Wissensspuren führen. Solche Weißen Muster beziehen sich nicht auf ein vermeintlich wesenhaft Weißes. Sie fokussieren Denk- und Verhaltensweisen, die rassistische Strukturen Weißen Menschen antrainiert. Dass es so etwas wie das ‚typisch Weiße’ geben könnte, ist in der bundesdeutschen Weißseinsforschung außerordentlich umstritten. Eine Reihe von Weißen Wissenschaftler_innen, die sich kritisch mit Weißsein in Deutschland auseinander setzen und sich dekonstruktivistisch orientieren, halten die Frage nach dem ‚typisch Weißen’ und folglich auch die Frage danach, inwieweit sie selbst dieses Typische reproduzieren, für obsolet. Die Ausblendung der eigenen Weißen Subjektposition ist dabei einerseits dem traditionellen wissenschaftlichen Duktus geschuldet, der eine ‚Objektivität’ der Wissenschaft suggeriert, andererseits stellt sie einen m. E. ‚typisch’ Weißen Herrschaftsgestus dar, der es ermöglicht, Weißsein als ein akademisch spannendes Thema zu behandeln, welches sich, wie jeder andere beliebige Forschungsgegenstand, auf die eine oder andere Weise theoretisch zerlegen lässt. Ich folge hingegen dem Ansatz von Maureen Maisha Eggers, die dafür plädiert, die „Grenze zwischen theoretischem Wissen und Erfahrungswissen“ (Eggers 2007, 246, Hervorhebung im Original) zu überwinden. Das bedeutet für mich, nicht nur meine eigene Weiße Subjektposition zu reflektieren, sondern zugleich eigene Erfahrungen als Ressource für Gesellschaftskritik zu nutzen, indem sie mit theoretischem Wissen zusammengeführt werden.
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Dafür möchte ich zunächst zentrale, im Folgenden verwendete Begrifflichkeiten klären sowie eine Einordnung der Fragestellung in gegenwärtige Entwicklungen innerhalb der bundesdeutschen kritischen Weißseinsforschung vornehmen. Unter ‚Subjektivierungen’ verstehe ich jene gesellschaftlichen Prozesse, vermittels derer Menschen als Träger_innen vermeintlich klar umgrenzter Identitäten hergestellt werden. Ein solches Verständnis von Subjektivierungen setzt sich von der Vorstellung starrer Identitätskonzepte ab, verweist jedoch gleichzeitig darauf, dass Positionen zwar partiell verschoben werden können, aber grundsätzlich nicht frei wählbar sind. Die Gebundenheit der Wahl hängt mit der Vielzahl interdependenter Gewaltachsen und mit spezifischen Zeit-Raum-Konstellationen zusammen, die die jeweiligen Subjektivierungen prägen und immer wieder verändern. Weiße Subjektivierungen gründen in der Herstellung von Weißen als einer Gruppe, die als ‚normal’ und homogen sowie als sich außerhalb von Rassifizierungsdynamiken befindend repräsentiert wird. Im Verlauf ihrer Konstitution kann dabei auf ein Reservoir an Weißseinsfacetten zurückgegriffen werden, welches die Amerikanistin Sabine Broeck folgendermaßen beschreibt: „ein innerer Zwang, das Ungeformte formen zu wollen, sich der Umgebung aufzuzwingen; eine Unfähigkeit, Dinge so zu lassen, wie sie sind [...]; Ichbezogenheit; Naivität in Bezug auf Privilegien; eine verzweifelte, immer schon zum Scheitern verurteilte Besessenheit in Bezug auf gesellschaftliche und private Kontrolle; eine bestimmte Art grenzüberschreitender Neugier; die Selbstermächtigung, die Welt durch wertende Beobachtung zu erkennen (zu besitzen) [...]; die Weigerung, Zeugnis über das eigene Schmarotzertum abzulegen; ein Bestehen auf ethischen Werten, die vielleicht philosophisch zu befürworten sind, aber eines historischen Gedächtnisses entbehren [...]; ein Geburtsrecht auf Korrektheit; [...] die Annahme des westlichen weißen Individuums als Agens der Geschichte im Hegelschen Sinn; die Erkenntnis, das man am Universellen und nicht am Partikularen teilhat; ein Gefühl der persönlichen und historischen Unschuld; das Privileg, geben zu können.“ (Broeck 2002, 91f.) Menschen of Color bezieht sich laut Kien Nghi Ha, Nicola Lauré al-Samarai und Sheila Mysorekar auf jene Individuen und Gruppen, die „die gemeinsame, in vielen Variationen auftretende und
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ungleich erlebte Erfahrung [teilen], aufgrund körperlicher und kultureller Fremdzuschreibungen der Weißen Dominanzgesellschaft als ‚anders’ und ‚unzugehörig’ definiert zu werden.“ (Ha/Lauré al-Samarai/Mysorekar 2007, 12) Weiße Menschen bezeichnet alle Menschen, die sich nicht mit Rassismus auseinandersetzen müssen. Zur Großschreibung: Ich verwende die Begriffe „Schwarze Menschen“ und „Weiße Menschen“ nicht im essentialistischen Sinn, sondern als Strategie, um Herrschaftsverhältnisse überhaupt beschreibbar machen zu können. „Schwarz“ in der Großschreibung bezeichnet eine politische Kategorie im Sinne einer „Identität der Unterdrückungserfahrungen, die alle Gruppen von people of color einschließt“ (Piesche 1999, 204) und verweist auf das Widerstandspotenzial, das in der selbst-bewussten Bezeichnung Schwarzer Menschen seinen Ausdruck findet. „Weiß“ bezeichnet ebenfalls eine politische Kategorie, allerdings im Sinne von Machterfahrungen solcher Menschen, die als Weiß konstruiert sind und denen diese Macht meist nicht bewusst ist. Die Großschreibung von „Weiß“ ist mehrfach kritisiert worden, da sie eine Gleichsetzung mit dem politisch widerständigen Begriff „Schwarz“ nahe legt, und um dies zu vermeiden, wird in verschiedenen Publikationen „weiß“ kursiv gesetzt. M. E. erfolgt damit eine optische Heraushebung aus dem Text, welche weiß als bedeutsamer erscheinen lässt als Schwarz. Rassifizierung bezeichnet einen Prozess kognitiver Abrichtungen, in dessen Verlauf Zeichen auf Körper übertragen und diese entsprechend gewertet werden. Die Zeichen sind willkürlich: Nähmen wir das Zeichen ‚Ohr’, wäre eine Aufteilung der Menschheit in die ‚Rassen’ der Großohrigen und Kleinohrigen denkbar, verbunden mit einer Wertung, die beispielsweise den Kleinohrigen die höhere Intelligenz zuspricht. In den uns bekannten Rassifizierungsdynamiken ist das Zeichen ‚Hautfarbe’ prominent. Dies erfordert bezüglich der Farbbegriffe ‚schwarz’ und ‚weiß’ von den Farben im Tuschkasten zu abstrahieren, sie auf menschliche Haut zu übertragen und mit einer Werteskala zu unterlegen. Das unsichtbarste und folglich historisch wirkmächtigste Zeichen in der Geschichte der Rassifizierung ist das Blut. Gesellschaftstheoretischer Referenzrahmen: Den diesem Beitrag zugrunde liegenden Referenzrahmen bildet postkoloniale Kritik. Sie setzt beim „Fehlen einer kontinuierlichen und vor allem kriti-
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schen Aufarbeitung der deutschen Kolonialherrschaft“ (Lauré alSamarai 2004, 199) an und legt offen, in welchem Maß der deutsche Kolonialismus dazu beitrug, ‚Rasse’ als grundlegendes Ordnungsprinzip gesellschaftlicher Beziehungen zu etablieren. Postkolonialismus als herrschaftskritischer Diskurs setzt somit voraus, dass Echos kolonialrassistischer Gewalt gegenwärtig und wahrnehmbar sind, also Alltag, Denken, Politik und Kultur zutiefst prägen. Ferner gilt, dass „der postkoloniale Diskurs ein politisches Projekt ist, der nicht ohne die selbstreflexive Auseinandersetzung mit den multiplen Facetten gegenwärtiger Machtdimensionen gedacht werden kann.“ (Ha 2004, 69) Postkoloniale Kritik demontiert die Mythen klarer Grenzen zwischen ‚wir’ und ‚den anderen’, zwischen ‚eigen’ und ‚fremd’, zwischen ‚hier (oben)’ und ‚dort (unten)’. Gegen die Phantasie reinlicher Trennungen betont Postkolonialismus Vielheiten und Vermischungen und arbeitet – anders als hegemoniale Diskurse, die sich anmaßen, allumfassend „die Welt zu erzählen“ (Morrison 1995, 94) – mit Bruchstücken und Montagen, deren offene Facetten sich im stetigen Wandel befinden. Postkoloniale Theorie- und Kulturproduktionen lassen sich als Landkarten lesen, „in denen Geschichten und Geografien längst ineinander fallen: Hier mündet der Rhein in den Golf von Genua und die Elbe in den Bosporus; hier werden die ostfriesischen Inseln vom Pazifik umspült; hier kann man vom Erzgebirge aus über das Mekong-Delta blicken; hier ist der Atlantik nicht breiter als die Spree. Die Gesichter der Menschen am Ufer sind klar zu erkennen, ihre Stimmen deutlich zu hören.“ (Ha/Lauré al-Samarai/Mysorekar 2007, 21)
Weiße Subjektivierungen im Kontext der Entwicklung kritischer Weißseinsforschung in Deutschland „Schwarze Menschen haben aus Überlebensnotwendigkeit schon vor ein paar hundert Jahren überall auf der Welt kritische Weißseinsforschung betrieben, indem sie die Verhaltensweisen und sozialen Realitäten weißer Menschen benannten und analysierten.“ (Sow 2008, 274) Dies gilt auch für die kritische Weißseinsforschung in Deutschland: Sie lässt sich explizit zurückverfolgen auf die Erste Schwarze Bewegung in Deutschland in den 1920er Jah-
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ren, setzt sich Mitte der 1980er Jahre mit dem Erscheinen der Anthologie Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte (Oguntoye/Opitz/Schultz 1986) fort und brachte 2005 die Anthologie mit dem Titel Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland (Eggers/Kilomba/Piesche/Arndt 2005) hervor, welche eine Vielfalt von Zugängen dokumentiert, die sich unter anderem in unterschiedlicher Weise mit der Normativität von Weißsein auseinander setzen. Dabei sind „Prozesse der Dekonstruktion weißer Normalitäten [...] integrierte und essentielle Bestandteile der vielschichtigen Schwarzen Befreiungs- und Widerstandskämpfe in weißen hegemonialen Machtzusammenhängen“ (Piesche 2005, 14). Die 2007 erschienene Anthologie re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland eröffnet den „Raum für das Neu-Entwerfen und Artikulieren eigenständiger Geschichten und Diskurse“ (Ha/Lauré al-Samarai/Mysorekar 2007, 12) von People of Color in Deutschland. In jüngerer Zeit entstanden auch Ansätze von Weißen Deutschen, die sich der Weißseinsforschung im akademischen Bereich widmen und oft durch US-amerikanische Studien der Critical Whiteness Studies inspiriert wurden. Sie vertreten eine zum Teil radikal dekonstruktivistische Position, indem sie etwa betonen, dass es sich bei ‚Rasse’‚ ‚Weißsein’, ‚Schwarzsein’ etc. um Konstruktionen handelt, die es als solche zu entlarven gilt. Dabei tritt der Aspekt der Realität, d. h. den realen Folgen der Konstrukte (beispielsweise die Privilegien, über die Weiße verfügen) in den Hintergrund und damit die Bedeutung rassifizierter Subjektpositionen. Vereinfacht gesagt: Wenn Weißsein nichts anderes als ein Konstrukt ist, dann gibt es kein ‚Weißsein’, keine ‚Weißen’ und folglich auch keine ‚Weißen Privilegien’. Dekonstruktivistische Ansätze dieser Art sind problematisch, weil sie die Macht realer Gewaltverhältnisse trivialisieren und die tatsächlichen Auswirkungen von Konstruktionsprozessen auf diese Weise aus dem Blick geraten. Die einseitige Betonung des fiktionalen Charakters von Weißsein läuft außerdem Gefahr, Weißsein zu entpolitisieren und ist verbunden mit einer Abwehr von „praxis- und handlungsorientierten lokalen Schwarzen Kritiken und einer dahingehenden Auseinandersetzung mit dem eigenen Weißsein“ (Piesche 2005, 15). Somit positionieren sich diese Weißseinsforscher_innen weder selbst- noch herrschaftskritisch (so z. B. Tißberger et al.
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2006). Wenn Weißseinsforschung dem Motto folgt „Wir brauchen keine Schwarzen, um uns über Weißsein auseinander zu setzen“, repräsentiert sie lediglich eine Rezentrierung Weißer Normativität. Zwar stellt sie „die Diskursivität von Weißsein in den Fokus der Auseinandersetzung, verschleiert jedoch die privilegierte Position des weißen sprechenden Subjektes.“ (Piesche 2005, 17) Eine kritische Weißseinforschung, die ihrem Namen gerecht werden will, richtet den Blick gleichermaßen auf Weißsein als Konstrukt und als Realität, als Fiktion und als Tatsache, denn nur auf diese Weise werden beide Aspekte in ihrem Spannungsverhältnis zueinander analysierbar. Kritische Weißseinforschung ist an die Traditionen einer Schwarzen Wissensproduktion gebunden, die Erkenntnis- und Gesellschaftskritik als unauflöslich zusammengehörig definiert und eine (selbst)reflexive Auseinandersetzung fordert, welche sich sowohl auf Weiße als auch auf Menschen of Color bezieht und mit selbstzentrierter Nabelschau nichts zu tun hat. Ihre Herausforderung besteht darin, Vergesellschaftungsprozesse innerhalb struktureller Machtdimensionen in ihrem ganzen Ausmaß zu erfassen und gleichzeitig unterschiedliche und widersprüchliche Formen von Aneignungen und Verarbeitungen dieser Dimensionen präzise zu analysieren. Zu eben jenem Feld der Aneignungen und Verarbeitungen gehört die Frage nach Weißen Subjektivierungen.
„Welche Vorurteile über Weiße sind Ihnen bekannt?“ Vor vielen Jahren hielt die afrikanisch amerikanische Aktivistin Elena Featherstone einen Vortrag in Berlin und fragte die Weißen Anwesenden: „Welche Vorurteile über Schwarze sind Ihnen bekannt?“ Es kam eine ganze Reihe von Antworten darauf, wobei es den Weißen, die antworteten, offenkundig nicht schwer fiel, die Vielzahl rassistischer Stereotype zu wiederholen. Dann fragte Featherstone die Anwesenden of Color: „Welche Vorurteile über Weiße sind Ihnen bekannt?“ Zunächst trat eine große Stille ein, erst nach und nach erfolgten Antworten wie: „Weiße sind steif“,
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„Weiße haben keinen Humor“, „Weiße sind naiv“, „Weiße riechen seltsam“, „Weißen kann man nicht trauen“ usw.1 Ich kann mich noch genau an meine Reaktion erinnern: Ich war verblüfft – und wütend. Verblüfft war ich, weil die Äußerungen der anwesenden Menschen of Color unzweideutig feststellten: Es gibt Weiße. Dies ist insofern bemerkenswert, als sich die meisten Weißen nicht als Weiß sehen. Sie verhalten sich wie kleine Kinder, die sich die Augen zuhalten und meinen, weil sie für sich selbst unsichtbar sind, sähen andere sie auch nicht. Weiße sehen sich in der Regel nicht als Weiß und nehmen automatisch an, alle anderen sähen das ebenso. Dies galt auch für mich. Ich wuchs in Norddeutschland auf, in der bürgerlichen Mittelschicht, in einem links orientierten Elternhaus. Ich engagierte mich früh politisch, links, feministisch, lesbisch, und gegen Rassismus zu sein, gehörte gewissermaßen zum guten Ton. Rassismus war für mich etwas, das immer da stattfand, wo ich nicht war, und das Leuten widerfuhr, die ich nicht kannte. Rassisten, das waren für mich Skinheads, Neofaschisten, die Schwarze verprügelten und Flüchtlingsheime anzündeten, und mit denen hatte ich wahrhaftig nichts gemein. Damit definierte ich Rassismus ausschließlich als intentional und physisch verletzend – eine klassische Weiße Distanzierungsstrategie; eine Taktik, um meine eigene privilegierte Position diskursiv zu neutralisieren. Verblüfft war ich auch, weil die Äußerungen der Menschen of Color beim Vortrag voraussetzten: Es gibt Weiße als Kollektiv. In rassistischen Gesellschaften gelten Menschen of Color immer als Repräsentantinnen und Repräsentanten ihrer Gruppe, Weiße hingegen nie. Ich werde nie gefragt: „Und was sagen Sie als Weiße dazu?“ Oder: „Na, als Weiße sind Sie natürlich Expertin auf diesem Gebiet!“ Oder „Diese Karriere ist doch eher untypisch für Leute wie Sie, oder?“ Oder „Das ist bestimmt nicht leicht für Sie, in Deutschland zu leben – so fern der Heimat!“ Selbstverständlich gibt es Weiße als Kollektiv, nur werden sie nicht so benannt. Stattdessen existieren Codes, die alle verstehen: Ist von „Deutschen“
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Im Sommer 2009 wiederholte ich die Frage im Kontext einer Veranstaltung, die von Schwarzen Aktivist_innen organisiert worden war. Diesmal erfolgte keine Stille, vielmehr wurde umgehend eine ganze Reihe von Stereotypen zu Weißen genannt.
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die Rede, sind Weiße Deutsche gemeint, denn im „Deutschen“ ist das Weiße vermeintlich naturgemäß enthalten. Mein zweites Gefühl nach diesen Äußerungen der Menschen of Color war Wut. Keine Weiße Antirassistin ist wütend auf Schwarze Menschen, wenn diese sich über Weiße äußern. Offiziell war ich also nicht wütend – inoffiziell doch. Ich denke, es ist wichtig, den Gründen für dieses Gefühl nachzugehen, denn sie sind Bestandteil eines kollektiven Zurichtungsprozesses: des becoming white, des Weißwerdens. Als Weißer Mensch in einer rassistischen Gesellschaft sozialisiert zu werden bedeutet unter anderem, ganz selbstverständlich den Status als einmaliges und unverwechselbares Subjekt zu beanspruchen. Das Konzept des Subjekts als ein vernunftbegabtes und autonom urteils- und handlungsfähiges Individuum geht zurück auf die Aufklärung, die das ‚Subjekt’ als Weiß und männlich entwarf und diesem ‚typisierte Objekte’, die rassisch Geanderten2, die sog. Nicht-Weißen, gegenüber stellte, welche der Vater des deutschen Rassedenkens, Immanuel Kant, ebenso ausführlich wie gewaltvoll klassifizierte (Wollrad 1999, 261-266). Somit ist nicht nur der Anspruch, als Individuum gesehen und behandelt zu werden, historisch unmittelbar mit Weißsein (und Mannsein) verknüpft, sondern ebenso das vermeintliche Naturrecht, ‚Andere’ zu objektivieren, als Kollektiv zu markieren und abzuwerten. Die Geanderten haben die stummen Objekte zu sein bzw. die Opferrolle einzunehmen. Ich denke, meine Wut rührte auch daher, dass meine Erwartungshaltung, Menschen of Color würden, wenn sie sich äußern, dies als Opfer tun, buchstäblich ent-täuscht wurde. Ich erwartete von ihnen möglichst grauenhafte Berichte über rassistische Gewalt, um dann empört meine Abscheu vor Derartigem zu äußern, eine Haltung, die Maureen Maisha Eggers mit dem Satz zusammenfasst: „Schwarze müssen immer erst über den
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Der Begriff der „Geanderten“ rekurriert auf Prozesse des „Anderns“, die Toni Morrison als „dismissive ‚othering’ of people“ (Morrison 1993, X) bezeichnet – leider in der deutschen rororoÜbersetzung mit „abfälliges Ausgrenzen von Menschen“ (Morrison 1995, 13) widergegeben. Jedoch geht es beim „othering“ nicht um Ausgrenzung, sondern um die gewaltvolle Herstellung bestimmter Menschen als „Andere“. Der Begriff der „Geanderten“ soll dies deutlich machen.
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Boden bluten.“3 Und eben diesem haben sich die Menschen of Color während des Vortrags von Featherstone verweigert, indem sie die Definitionsmacht ergriffen, die angeblich ‚Neutralen’ rassisch markierten und kollektiv bewerteten. Damit zerstörten sie die Weiße Illusion, es gäbe keinen Blick zurück, es gäbe keine Schwarze Ethnologie, deren Untersuchungsobjekt Weiße Menschen sind.
Ent-Täuschungen Vor einiger Zeit führte ich zusammen mit einer Weißen Kollegin einen Workshop zum Thema „Weißsein und Geschlecht“ durch, an dem auch Schwarze Studierende teilnahmen. Während dieser Veranstaltung stellte ich eine rassistische Frage. Ich war entsetzt und fassungslos: Wie konnte so etwas geschehen nach so vielen Jahren antirassistischer Arbeit?4 Nach zahlreichen Auseinandersetzungen und Gesprächen, vor allem mit meiner ‚Bezugsgruppe’, wurde mir klar, dass ich im Laufe der Jahre ein typisch Weißes Selbstverständnis entwickelt hatte, das auf drei Illusionen basiert. Erstens: Ich kann Rassismus verlernen. Zweitens: Ich kann das allein. Drittens: Ich bin die bessere Weiße, deshalb kann ich ignoranten Weißen etwas beibringen.
I c h k a n n R a s s i s m u s ve r l e r n e n Als ich begann, mich mit meinem Weißsein auseinander zu setzen und mir klar wurde, wie tief meine Denk- und Verhaltensweisen rassistisch geprägt sind, beschloss ich, unverzüglich etwas dagegen zu unternehmen. Ich dachte, wenn ich mich selbstkritisch mit Rassismus auseinander setze, wenn ich von Schwarzen Frauen lerne und alle Bücher lese, die es dazu gibt, dann bin ich eines Tages – ich dachte, so etwa in zwanzig Jahren – keine Rassistin mehr. Als ich das einer Schwarzen Freundin erzählte, sagte sie nur: „Zwanzig Jahre? Du bist aber optimistisch!“
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Vortrag in Meißen am 17.09.2003. Ich habe an anderer Stelle meine rassistische Äußerung, den Kontext sowie die Folgen für die Bündnisarbeit mit Schwarzen Aktivistinnen ausführlich dargestellt; vgl. Wollrad 2005, 175-188.
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Der Begriff des ‚Verlernens’ begegnet auch in antirassistischer Bildungsarbeit und ist problematisch, wenn er so verstanden wird, als münde das Verlernen früher oder später in einen rassismusfreien Zustand. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass meine Vorstellung, ich könne meinen Rassismus zügig loswerden, typisch ist für Weiße, die beginnen, sich mit dieser Gewaltstruktur auseinander zu setzen. Die afrikanisch amerikanische Schriftstellerin Toi Dericotte macht darauf aufmerksam, dass Schwarze Menschen seit Generationen und ihr Leben lang mit den Wunden des Rassismus leben müssen, während „Weiße Menschen, wenn ein tiefer Schmerz in Bezug auf Rassismus enthüllt wird, oft wollen, dass er unverzüglich behandelt und geheilt wird und sie von ihm erlöst sind“ (Dericotte 1997, 189; Übersetzung E. W.). So ging es mir auch: Ich wollte erlöst sein. Auf dem Weg zur ‚Erlösung’ habe ich etwas inszeniert (und inszeniere es noch), das ich ‚Einzelkämpferinnentum’ nenne.
Ich kann das allein Mein Selbstbild war (und ist) das der Weißen Antirassistin als vereinzelte Erscheinung mit Seltenheitswert. Es gibt ein Bändchen von Amoja Three Rivers mit dem Titel Kulturelle Etikette. Ein Ratgeber für die wohlmeinende Antirassistin (1994). Die Eine! Der Singular verstärkt den Eindruck, dass Antirassismusarbeit Weißer Menschen eine persönliche Angelegenheit sei, die der/die Einzelne allein bewältigen muss. Die Weiße Soziologin Ruth Frankenberg stellte in einer Analyse von Interviews mit Weißen Antirassistinnen fest, dass jede „ihr Streben nach Rassismusbewusstsein eher als eine private Reise, denn als eine kollektive oder soziale beschrieb. Die Folge davon war, dass das Thema der Komplizinnenschaft Weißer Frauen mit Rassismus drohte, eine eher existentielle denn politische Frage zu werden.“ (Frankenberg 1993, 168f.; Übersetzung E. W.) Die Weißen Aktivistinnen beschrieben ihr Engagement als eine beschwerliche Reise, geprägt von Einsamkeit und dem kontinuierlichen Scheitern an der Übermacht des institutionellen Rassismus (Thomson 1996, 101). Die Vorstellung, dass Menschen of Color Kollektive brauchen, während Weiße allein arbeiten, hat etwas mit der bereits ange-
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sprochenen ‚Betroffenheit’ zu tun. Wenn Weiße mit der Gemeinsam-Betroffenheits-Rhetorik beginnen („ich als Frau/Lesbe/ Behinderter bin ja auch…“), weisen (nicht nur) Weiße Antirassistinnen nachdrücklich darauf hin, dass in Bezug auf Rassismus Weiße grundsätzlich nicht das empfinden können, was Menschen of Color empfinden, und dass die respektlose Ich-Auch-Beteuerung häufig den Schmerz betäuben soll, den diese Kluft hervorbringt. Die Problematisierung einer vermeintlichen Co-Betroffenheit Weißer kann – so unumgänglich sie ist – Weiße Antirassistinnen aber auch in eine Position der diskursiven Unverletzlichkeit manövrieren: Weil sie nicht betroffen sind, sind sie nicht zu treffen. Die Markierung der Nichtbetroffenheit legt sich um sie wie ein Schutzmantel, an dem alle rassistischen Äußerungen und Verhaltensweisen abprallen. Folglich kann eine Weiße problemlos allein losmarschieren, weil das rassistische Umfeld ihr nichts anhaben kann. Obwohl es mir nicht bewusst war, habe ich diese Meinung lange vertreten – um den Preis der Trivialisierung der eigenen Verletzungen. Eine Begebenheit: In Oslo fand eine Konferenz statt, zu der ich als Referentin eingeladen war. Hinter dem Konferenztitel „Crossroads“ stand ein Konzept, das auf dem intersektionalen Ansatz der afrikanisch amerikanischen Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Williams Crenshaw beruht. Dieser definiert verschiedene Gewaltachsen wie Rassismus, Sexismus und Klassenherrschaft als sich kreuzende und ermöglicht somit eine vieldimensionale gesellschaftskritische Perspektive. Allerdings war mir schon im Vorfeld unbehaglich zumute, weil sich herausstellte, dass zum Themenfeld „Whiteness“, zu dem ich eingeladen war, ausschließlich Weiße Frauen sprechen sollten, deren Referate meist nicht auf Herrschaftskritik zielten, sondern teilweise hegemonialen Viktimisierungsdiskursen Vorschub leisteten, da sie beispielsweise von Weißen Frauen handelten, die in vorwiegend von Menschen of Color bewohnten Stadtvierteln leben und als diskriminierte Opfer Schwarzer Dominanz präsentiert wurden. Der Weiße Moderator der Whiteness-Einheit war mir nicht bekannt; er sei der renommierteste Sozialanthropologe des Landes und forsche zur kulturellen Komplexität Norwegens, wisperte mir eine Studentin bei Beginn der Veranstaltung ehrfürchtig zu. Nach meinem Vortrag gab der Anthropologieprofessor einen Stehgreif-Kommentar ab unter Verwendung einer Vielzahl rassistischer Wörter und kolo-
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nialrassistischer Bezeichnungen, unter anderem für die afrikanischen Nationen der San und der Khoi-Khoi. Diese Worte trafen mich wie ein Schlag, und mir stiegen die Tränen in die Augen. Nachdem er geendet hatte, wendete ich mich an das Publikum und sprach davon, wie sehr Worte verletzen können, dass es keinen Rassismus gibt ohne Sprache, und wie sehr mir daran läge, sorgfältig zu überprüfen, welche Worte wir wählen. Die Zuhörer_innen (überwiegend Weiß und weiblich) schienen verlegen bis peinlich berührt. Dann wandte ich mich an den Moderator und sagte ihm, dass mich seine Wortwahl sehr verletzt hätte. Er wechselte daraufhin das Thema, bemerkte jedoch kurz, dass es ihm leid täte, wenn mich seine Worte verletzt hätten – „als Frau“. Weitaus bedeutsamer als die Begebenheit selbst war mein Fazit nach der Konferenz: Sollte ich je wieder in Skandinavien im Sommer einen Vortrag halten, nehme ich eine Augenmaske mit, sodass ich trotz mitternächtlichen Lichts morgens ausgeschlafen bin und nicht wieder die Fassung verliere. Somit schien ich nur den Kontrollverlust zu bedauern, unbeantwortet hingegen blieb die Frage nach dem Umgang mit meinen Verletzungen. Nach der Rückkehr nach Deutschland äußerte ich mich über das Verhalten des Professors empört und verärgert. Heute denke ich allerdings, dass uns etwas ganz Entscheidendes verbindet – nämlich der Glaube an einen zentralen Mythos des white club: Weiße werden durch Rassismus nicht verletzt. Da sich ergo keine Weiße Person durch Rassismus verletzt fühlen kann, deutete der Professor meine Reaktion um, indem er das Paradigma von ‚Rasse’ auf Gender verschob – von der Weißen zur Heulsuse. Ich wiederum verschob meine Befindlichkeit von antirassistisch illegitimem Verletztsein zur antirassistisch legitimen Empörung. Als illegitim gilt also bereits die Thematisierung der Möglichkeit, dass Rassismus auch Weiße verletzt. Zum einen besteht die berechtigte Befürchtung einer unbotmäßigen Grenzüberschreitung, wenn der Eindruck entsteht, eine Weiße Person reklamiere für sich dieselben Gefühle wie Menschen of Color, verleugne ihr Weißsein und positioniere sich als ‚Schwarze ehrenhalber’ (Mayer 1997, 125). Zum anderen gibt es politische Gründe, Weiße Verletzlichkeit zu dethematisieren, denn sie ist bereits Bestandteil hegemonial-rassistischer Diskurse, die Weiße als Opfer von Schwarzen konstruieren. Während sich diese Rhetorik in den USA auf Weiße bezieht, die vermeintlich keine Jobs mehr bekommen, weil Afri-
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kanische Amerikaner_innen, Latinos/as und Asiatische Amerikaner_innen bei Einstellungen ‚bevorzugt’ würden, ist in Deutschland zunehmend von einem anti-Weißen ‚Rassismus’ die Rede. So schrieb der FAZ-Journalist Frank Schirrmacher vom ‚Rassismus’, den junge muslimische Männer, vor allem solche türkischer und libanesischer Herkunft, gegen die ‚Mehrheit’ (er meint Weiße Deutsche) ausübten: „Uns war historisch unbekannt, dass eine Mehrheit zum rassistischen Hassobjekt einer Minderheit werden kann.“ (FAZ, 15.1.08) Die Einstellung dieser ‚Minderheit’ rückt er dann in die Nähe nationalsozialistischer Ideologie: „Zur Klarheit, die vom Staat gefordert ist, gehört auch, dass man ausspricht, dass die Mischung aus Jugendkriminalität und muslimischem Fundamentalismus potentiell das ist, was heute den tödlichen Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts am nächsten kommt.“ (ebd.) Ein weiterer Faktor neben dem vermeintlich anti-Weißen ‚Rassismus’ ist eine wachsende Rhetorik Weißer männlicher Verletzlichkeit: Der Fokus titelte im Herbst 2009: „Benachteiligt? Wer denn?“, und zeichnete das Bild des Weißen deutschen Mannes als Verlierer der Wirtschaftskrise und chronischer Loser im Bildungssystem. „Weiblichkeit wird prämiert, Männlichkeit diskriminiert.“ (Klonowsky/Wendt 2009, 93) Zitiert wird in diesem Beitrag eine Umfrage der Welt online, der zufolge eine deutliche Mehrheit der Befragten der Meinung war, nicht Frauen, sondern Männer seien die eigentlich Benachteiligten. Vor dem Hintergrund eines Szenarios, das Jugendliche mit Migrationshintergrund als die ‚wahren’ Rassisten entwirft, die ‚wehrlose’ Weiße Männer verprügeln, welche selbst strukturell ‚diskriminiert’ und ‚Opfer’ weiblicher Dominanz sind, muss jede antirassistische Rede von Weißer Verletzlichkeit kontraproduktiv anmuten. Der Umgang mit Widersprüchlichkeiten fällt (nicht nur) in antirassistischen (feministischen) Kontexten schwer. Meist wird Weißsein ausschließlich mit Macht, Privilegien und dem Zufügen von Verletzungen verbunden und folglich Weiße Unverletzlichkeit unausgesprochen als Tatsache angenommen. In diesem Zusammenhang machte die Weiße jüdische Aktivistin Joanie Mayer eine Beobachtung, die mit einer solchen Annahme Weißer Unverletzlichkeit korrespondiert. In ihrer Studie interviewte sie Weiße antirassistische Aktivistinnen und stellte unter den Befragten die Tendenz fest, die Häufigkeit ihres rassistischen Fehlverhaltens zu
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übertreiben. Dies – so Mayer – nahm oft die Form humorvoller Selbstverurteilung an, tatsächlich war es jedoch für viele der Befragten schwierig, sich an konkrete Beispiele zu erinnern (Mayer 1997, 65). Des Weiteren beobachtete Mayer in ihrer Studie unter Weißen Aktivistinnen die Tendenz, eigene Erfahrungen des Unterdrücktwerdens im Zusammenhang mit antirassistischer Arbeit als nachrangig zu behandeln (Mayer 1997, 70) – beispielsweise in den Äußerungen Weißer Lesben, Rassismus sei grundlegender als Heterosexismus. M. E. weisen diese Tendenzen auf das Bedürfnis nach ein-deutiger Selbstpositionierung als Weiße Täterin hin, da die Häufigkeit des eigenen rassistischen Verhaltens sogar übertrieben und eine Hierarchie der Gewaltachsen konstruiert wird, an deren Spitze Rassismus steht. Ein Zugang, der Komplexitäten und Widersprüche sichtbar macht, scheint hingegen die Integrität der antirassistischen feministischen Positionierung zu gefährden. Das Phänomen des antirassistischen Einzelkämpfertums in Verbindung mit der Vorstellung Weißer Unverletzlichkeit und Nichtbetroffenheit ist insofern rassismusunterstützend, als es Wieße Kollektive daran hindert, alternative Räume zu kreieren, innerhalb derer Widersprüche verhandelt, Tabus angesprochen und alle Ressourcen (auch Verletzungen durch Rassismus) nutzbar gemacht werden können, um gemeinsam gegen rassistische Gewalt vorzugehen. Hinzu kommt, dass insbesondere jene Weißen Einzelkämpferinnen, die schon jahrelang antirassistisch arbeiten, oft insgeheim die Vorstellungen hegen, ihr Rassismus sei über die Jahre kontinuierlich weniger geworden, sodass sie nunmehr zu den ‚besseren Weißen’ zählen.
Ich bin die bessere Weiße, deshalb kann ich ignoranten Weißen etwas beibringen Dieser Illusion vom Bessersein liegt die Vorstellung einer linearen Entwicklung von ‚schlechter zu besser’ zugrunde, welche die Verheißung der Moderne von kontinuierlichem Fortschritt widerspiegelt. Die Vorstellung vom Bessersein dient als Berechtigung dafür, die Rolle als Leiter_in in bildungspolitischen Prozessen einzunehmen. Von Weißen Teilnehmenden antirassistischer Bildungsveranstaltungen wird diese Rolle gleichermaßen gewünscht wie verabscheut. Die Abscheu äußert sich in Bemerkungen wie „Die hält
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sich wohl für was Besseres“. Dennoch ist der Wunsch nach einem so genannten Profi bei Weißen durchaus vorhanden: „Die kennt die Rezepte, die mir Sicherheit geben. Sie hat die Listen mit den No-No-Wörtern und Handlungsanweisungen“. Die Rolle des antirassistischen Weißen Profis beinhaltet also nicht nur die Imagination eines ‚Besserseins’ im Sinne von mehr Wissen und mehr Erfahrung, sondern vor allem im Sinne einer höheren moralischen Qualität. Wenn es stimmt, dass Weiße von Rassismus profitieren, dann sägen Weiße Antirassist_innen gewissermaßen an dem Ast, auf dem sie sitzen. Das bedeutet, in dieser Denkfigur erfolgt das Engagement Weißer gegen Rassismus nicht aus Eigennutz, sondern wurzelt in moralischen Werten. Somit wären Weiße Antirassist_innen Menschen of Color überlegen, denn letztere engagieren sich vornehmlich aus Eigennutz gegen Rassismus, Weiße hingegen rein aus uneigennützigen ethischen Motiven. Diese Illusion der ‚besseren Weißen’ setzt das noble Motiv des Eintretens für Gerechtigkeit als selbstverständlich voraus, dabei ist dieses oft – wenn auch unausgesprochen – nicht das vorrangige (oder sogar überhaupt nicht vorhanden). Motive von Weißen können sein: „Politisches Eigeninteresse: Wenn es möglich ist, Schwarze umzubringen, werden auch die Repressionen gegen Linke, Lesben ... zunehmen. [...] Pragmatische Erwägungen: Ich kann im interkulturellen Bereich einen interessanten Tätigkeitsbereich finden. Professionelle Erfahrungen: Ich werde meinen KlientInnen einfach nicht gerecht, wenn ich mich nicht mit Rassismus auseinandergesetzt habe.“ (Weiß 1998, 277f.) Neulich sagten Weiße antirassistische Aktivist_innen aus dem autonomen Spektrum auf meine Frage, aus welchem Grund sie diese Arbeit tun: „Irgendjemand muss es ja machen.“ Es scheint, als sei antirassistische Arbeit in bestimmten politischen Zusammenhängen eine Pflicht oder Bürde, unauflöslich verbunden mit gesundheitsgefährdender Knochenarbeit, konfliktbeladenen stundenlangen Plenumsdiskussionen, Mühen und Plagen aller Art, aber niemals freudvoll. Wie lange trägt eine solche Motivation? Und bedeutet dies nicht, dass sich die pflichtbewussten Aktivist_innen – gäbe es andere, die die Arbeit übernähmen – erleichtert anderen Dingen zuwenden würden? Die Frage der Motivation hat viel mit der Qualität unserer Arbeit zu tun. Im Hinblick auf Weiße Antirassist_innen möchte ich behaupten, dass wir viel zu wenig darüber sprechen, warum wir
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diese Arbeit machen. Ich behaupte weiter, dass dieses Weiße Schweigen zu unseren Beweggründen, aber auch zu unserer Wut, unserer Verletztheit oder anderen missliebigen Gefühlen uns daran hindert, tragfähige Bündnisse mit Menschen of Color und auch untereinander aufzubauen. Wir brauchen diese Bündnisse, wenn wir nachhaltige gesellschaftliche Veränderungen bewirken wollen, und wir brauchen sie auch, um zu erkennen, wie Prozesse Weißer Subjektivierung verlaufen und was ‚typisch Weiß’ ist. Ich glaube kaum, dass irgendein_e Weiße_r Antirassismustrainer_in die Notwendigkeit von Bündnissen mit Menschen of Color bestreiten würde, nur wird diese oftmals ausgeblendet, wenn es um die eigene Weiße Professionalität geht. Eines der Themen, die ich in Fortbildungen mit Weißen Antirassismustrainer_innen behandele, ist das Qualitätsmanagement. Das heißt, ich stelle die Frage nach der Evaluation unserer Arbeit und danach, wer über die Qualität unserer Weißen Antirassismusarbeit befindet. Weiße selbst? Die Weißen Teilnehmer_innen der Fortbildungen? Tatsächlich ist häufig die Antwort auf die Frage, wer das Antirassismuskonzept in erster Linie evaluiert: der/die Träger, in der Regel Weiß dominierte Gremien. Durchgeführt werden die Maßnahmen meist von Weißen Profis (was nicht ausschließt, dass die eine oder andere professionelle Person of Color eingeladen wird), die dann in feedbacks die Meinung der Weißen Teilnehmenden einholen. Es entsteht der Eindruck, Qualitätsmanagement auf dem Gebiet antirassistischer Arbeit sei eine rein Weiße Angelegenheit. In dem von mir entwickelten Fragebogen zu Weißen Subjektivierungen findet sich unter anderem die zu diskutierende Aussage: „‚Über die Qualität Weißer antirassistischer Arbeit entscheiden Schwarze Expert_innen/Expert_innen of Color.’ Bitte kommentieren Sie diese Behauptung.“ In den anschließenden Gesprächen stellte sich heraus, dass oftmals die Teilnehmer_innen verblüfft waren, weil sie die Möglichkeit der Evaluation durch Expert_innen of Color gar nicht in Betracht gezogen hatten, die Idee jedoch interessant fanden. Weiße Profis antirassistischer Bildungsarbeit sehen Schwarze sicherlich nicht als Objekte, sondern als (zumindest potentielle) Bündnispartner_innen, aber als Expertinnen und Experten? Dieser Frage nachzugehen und Erkenntnisse zu gewinnen ist wichtig, aber es ist etwas ganz anderes, die Erkenntnisse umzusetzen. Ich kritisiere das Phänomen der ‚Einzelkämpferin’, den-
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noch führe ich antirassistische Fortbildungen allein durch. Ich weiß um die Illusion der ‚besseren Weißen’ und bin doch immer wieder bereit, diese Rolle zu spielen. Ich fordere die Evaluation durch Expert_innen of Color ein, profitiere von ihrer Expertise jedoch nur informell durch Kommentare Schwarzer Kolleginnen. Hinzu kommt, dass sich das Schweigen unter jenen von uns, die im Bereich antirassistischer Bildungsarbeit und interkultureller Pädagogik arbeiten, offenbar besonders schwer brechen lässt, weil es uns an Vertrauen fehlt. Dies betrifft auch das Vertrauen untereinander, aber in erster Linie das fehlende Vertrauen in uns selbst. Als Profis sind wir dazu ausgebildet, bei Weißen Zweifel an ihrer Wahrnehmung und Einschätzung von ‚Wahrheit’ hervorzurufen. Die Hermeneutik des Verdachts soll Misstrauen gegenüber Vertrautem und vermeintlich ‚Normalen’ wecken und dazu ermutigen, sich mit komplexen Realitäten zu konfrontieren. Aber was sind diese Realitäten? Der epistemologischen Schlüpfrigkeit, die die Frage, ob Weiße als Mitglieder des Systems Weißer Vorherrschaft „das Dominanzverhältnis, gegen das sie sich engagieren, überhaupt klar erkennen können“ (Weiß 1999, 34), zum Ausdruck bringt, entkommt keine Weiße Person, die sich antirassistisch engagiert. Da Weiße Profis im Bereich antirassistischer Bildungsarbeit und interkultureller Pädagogik als Vorbilder fungieren, die in überzeugender Weise zu gesellschaftskritischer Reflexion und Selbstkritik ermuntern sollen, müssen sie sich dieser Schlüpfrigkeit in besonderer Weise bewusst sein, sowohl hinsichtlich des theoretischen Wissens als auch des Erfahrungswissens. Paradoxerweise führt die epistemologische Schlüpfrigkeit dazu, dass sich viele Weiße Profis entgegen ihrer widerständigen Absichten am Überschreiben jenes Wissens von der Betroffenheit Weißer beteiligen. Die Legitimitätsfrage führt zu einer verschärften Selbstkontrolle bezüglich dessen, was antirassistisch korrekt ist und was nicht. Zum antirassistisch Illegitimen gehören auch Gefühle des Verletzwerdens durch Rassismus, die als Schwächung der eigenen Positionierung wahrgenommen und folglich ignoriert werden, obwohl sie einen Weg zu jenen getilgten Spuren legen, die Zeugnis von der Würde ablegen, die Weiße durch Rassismus verloren haben. Zur antirassistischen Professionalität gehört demnach nicht nur anzuerkennen, dass „niemand, ob Schwarz oder Weiß, den Schmerz spüren möchte, den Rassismus verursacht“ (Dericotte
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1997, 18, Übersetzung E. W.), sondern ebenso, unsere Überschreibungen des Schmerzes als Bestandteil kollektiver gewaltvoller Zurichtungen zu begreifen. Wenn es gelingt, diese Dimension zur Sprache zu bringen, wird deutlich, dass Rassismus niemanden ungeschoren davon kommen lässt. Eine rassistische Welt ist für niemanden die beste aller Welten, auch nicht für Weiße. Ich danke Patricia Saad, Nicola Lauré al-Samarai und Jutta Jacob für ihre kritischen Kommentare.
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Ras sis musrele va nte Differenz praxe n im ele me ntarpä da gogisc he n Kontext. Eine empirische Annäherung CLAUDIA MACHOLD
Einleitung Rassismus ist ein Phänomen, das in engem Zusammenhang mit Normalitätsvorstellungen über gesellschaftliche Zugehörigkeitsverhältnisse steht und Teil des gegenwärtigen und vergangenen gesellschaftlichen Kontexts in Deutschlands ist. Normalitätsvorstellungen können als das Resultat von diskursiven Praxen verstanden werden, in denen Unterschiede hergestellt werden. Bezogen auf Rassismus heißt das, es werden Vorstellungen produziert, die einen Unterschied zwischen einem natio-ethno-kulturellen Wir und Nicht-Wir machen und dabei an hierarchisierende soziale Ordnungstraditionen anknüpfen (vgl. Mecheril/Melter 2009, 17). Dieser Unterschied wird sodann zur Basis von Bedeutungsproduktionen und gleichzeitig wird er in ihnen immer erst wieder produziert. Diesen Annahmen zu Rassismus und der Produktion von Bedeutungen liegt eine sprachbegründete Vorstellung der Konstruktion von Wirklichkeit zugrunde, die mit Stuart Hall hier über den Kulturbegriff gefasst werden soll. Kultur wird verstanden als bedeutungsschaffende Praxis („signifying practices“) (Hall 2009a und 2009b), in der Bedeutungen durch (das tun von) Differenz hergestellt werden. Sprache ist dabei dasjenige Medium, durch das Bedeutungen produziert werden, weil es als repräsentatives System operiert, in dem Zeichen in einem System von Dif-
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ferenzen so angeordnet sind, dass Bedeutungen sich immer erst aus der Relation zu von ihnen differenten Zeichen ergeben. Angedeutet ist hier ein Kulturverständnis, das innerhalb der britischen Cultural Studies, die ich als eine bestimmte Herangehensweise (vgl. Mecheril/Witsch 2006, 7) zur empirischen Beschäftigung mit der kulturellen Sphäre von sozialer Wirklichkeit verstehe, verortet werden kann. Kultur wird verstanden als ein Kampf um Bedeutungen, „ein nie zum Stillstand kommender Konflikt über Sinn und Wert von kulturellen Traditionen, Praktiken und Erfahrungen“ (Winter 2001, 45). Es ist „eine Perspektive, die von den CS eingebracht wird, um die polyphonen, stets umstrittenen und umkämpften, komplexen Prozesse der Konstruktion von sozialen Differenzen und Identitäten zu beschreiben und zu untersuchen“ (Mecheril/Witsch 2006, 9). Wenn Rassismus als diskursive Praxis verstanden wird (vgl. Hall 2000), die der Welt einen bestimmten „Sinn“ gibt (vgl. Miles 1991, 26) und Einzug erhalten hat in die Gesellschaft, in ihre Bilder, Erzählungen und gesellschaftlichen Institutionen (vgl. Rommelspacher 2002, 132), dann lassen sich kulturelle Praxen dahingehend beobachten, wie in ihnen rassismusrelevante Bedeutungen hergestellt werden. Rassismus als soziales und gesellschaftliches Phänomen, das sich auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Zusammenlebens in sich wandelnder Form manifestiert, soll hier in seiner Wirksamkeit auf der interaktiven Ebene, die ich in ihrer Verschränktheit mit der ideologischdiskursiv-kulturellen Ebene betrachte, in den Blick genommen werden (vgl. Mecheril/Melter 2009, 15). Ich werde in diesem Artikel die Beobachtung von kulturellen Praxen fokussieren, die von Kindern in ihren Interaktionen hervorgebracht werden. Ausgangspunkt ist mein derzeit noch laufendes Dissertationsprojekt, in dem ich pädagogische Institutionen, wie eine Kindertagesstätte (Kita), als kulturelle Räume verstehe, in denen Bedeutungen ausgehandelt werden. Mit der Frage nach Unterscheidungspraxen von Kindern interpretiere ich die beobachteten Praxen im Hinblick auf die in ihnen hergestellten Differenzen. Dabei zeigt sich die Normalität von gesellschaftlich relevanten Unterscheidungsphänomenen wie Rassismus umso eindrücklicher, als deutlich wird, dass sie bereits Teil kindlicher Bedeutungsproduktionen und insofern Teil ihrer Alltagskultur sind. Im Weiteren werde ich eine Unterscheidungspraxis zum Thema machen, anhand derer
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ich aufzeige, inwiefern sie als rassismusrelevant verstanden werden kann.
(Rassismusrelevante) Unterscheidungspraxen Es ist Mittagszeit. Die Kinder setzen sich an die Tische, an denen in Kürze Mittag gegessen wird. Enis, Julian und noch zwei andere Jungs sitzen an einem Tisch. Julian wird vorgeworfen, dass er die Hände noch nicht gewaschen hat. Die beiden reden auf ihn ein. Ich höre, wie jemand zu Enis sagt: „Deine Haut ist schwarz, die musst Du abwaschen.“ Ich gucke zu den Jungs und sehe, wie Enis seine Arme mit hochgeschobenem Ärmel in der Mitte des Tischs liegen hat. Er zieht sie zurück. Seine Stimme wird lauter und er packt Julian am rechten Arm und sagt zu Mareike (Erzieherin): „Der will seine Hände nicht waschen.“
Die weitere Argumentation werde ich anhand dieses Auszugs aus einem Beobachtungsprotokoll meiner Forschung entfalten. Da ich selber diejenige bin, die in einer Kita die teilnehmende Beobachtung durchgeführt hat, bin ich das in diesem Auszug zum Vorschein kommende „Ich“. Bereits im Schreibstil des Protokolls wird deutlich, dass ich nicht unvoreingenommen beobachte, sondern bestimmte Aufmerksamkeitsrichtungen habe. So markieren die Formulierungen „ich höre“ und „ich sehe“ die gesteigerte Fokussierung meiner Beobachtung in einem bestimmten Moment, die sodann in der Wiedergabe direkter Rede mündet. Weiter trete ich darin als Beobachterin in Erscheinung, was die Subjektivität der Wahrnehmung unterstreicht und so vielleicht eine gewisse Unsicherheit anzeigt, ob das Geschehene sich wirklich so darstellt. Für die Analyse galt es insofern zu fragen, was geschieht hier? Im Anschluss an diese Frage werde ich hier eine Lesart entwickeln, die das Geschehen als rassismusrelevante Unterscheidungspraxis fasst. Dazu biete ich eine Interpretation an, die durch Kontextualisierung versucht zu plausibilisieren, inwiefern in dieser Praxis Zeichen verwendet werden, die im Zusammenhang mit rassistischen Diskursen stehen. Hierbei nicht von rassistischen, sondern von rassismusrelevanten Unterscheidungspraxen zu sprechen, schließt an Anja Weiß’ Argumentation an, die von Rassismusrelevanz dann spricht, „wenn ich die Relevanz einer Handlung für die Reproduktion von Rassismus vermute und explizie-
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ren kann, wenn es aber nicht möglich ist, empirisch nachzuweisen, dass sie ausschließlich oder teilweise durch rassistische Delegitimierung verursacht wird“ (Weiß 2001, 81). Dies ist ein methodologisches Argument, dem ich mich in diesem Artikel anschließe, weil ich für die hier analysierte Szene zwar den Zusammenhang dieser Praxis mit rassistischen Diskursen zu plausibilisieren versuche, jedoch nicht eindeutig aufzeigen kann. Zu diskutieren wäre in diesem Zusammenhang – allerdings an anderer Stelle – inwiefern überhaupt Eindeutigkeit in Forschung herstellbar ist und ob es aus erkenntnispolitischen Gründen nicht vielmehr notwendig wäre, von rassistisch zu sprechen. Ebenso wie sich im Protokoll zeigt, dass meine Aufmerksamkeit durch ein bestimmtes Geschehen gesteigert wird und ich es in besonderer Weise wahrnehme, so sind auch meine weiteren Analyseschritte durch Aufmerksamkeitsrichtungen bestimmt. Sie ergeben sich aus meinem Erkenntnisinteresse, theoretisch und methodologischen Annahmen und meinen (berufs-)biographischen (Differenz-)Erfahrungen. Ohne all diese Dimensionen, die Einfluss auf einen Erkenntnisprozess haben, an dieser Stelle ausführen zu können, möchte ich doch bereits hier kurz markieren, worum es auch im Weiteren vor allem gegenständlich und weniger methodologisch gewendet, gehen wird: Positionierungen. In diesem Zusammenhang erscheint sodann die Frage relevant, wer über wen wie spricht. Kann ich in diesem Text zumindest suggerieren, dass es eine Sprecherin mit einer bestimmten Identität gibt und insofern das „Ich“ des Protokolls identifizieren – und dies noch anhand einer Verortung als weiße, mehrheitsangehörige Akademikerin konkretisieren – so ist dies im Hinblick auf diejenigen, über die gesprochen wird, prekärer. Wenngleich das Protokoll die direkte Rede verwendet und somit den Anschein produziert, dass ‚jemand’ diesen einen Satz genau so gesprochen hat, so bleibt es immer noch ein Text in der Autorinnenschaft der Beobachterin, die einem beobachtetem Geschehen eine bestimmte Bedeutung verleiht. Ich möchte mit diesen Überlegungen darauf hinweisen, dass es sich hier nicht um identifizierbare, präsente Personen handelt, sondern um textualisierte Identitäten (vgl. Britzman 2000). Ich werde also keine Aussagen darüber machen können, was diese Personen hier erlebt haben oder gar, wie sie sind, sondern lediglich eine Lesart entwickeln können, die ihre Praxen in verschiedenen Theoretisierungen identifiziert (und da-
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mit fixiert), diesen Praxen insofern eine weitere – nun theoretisierte – Bedeutung verleiht und darauf aufbauend empirisch begründete Aussagen über rassismusrelevante Unterscheidungspraxen treffen. Da Rassismus ein Phänomen ist, das Individuen gesellschaftlich verortet, also Subjektpositionen (s. u.) zuweist, komme ich in einer Forschung zu Rassismus nicht umhin, diese Wirklichkeit auch in der Beobachtung abzubilden. Daran zeigt sich ein methodologisches Dilemma von Bezeichnungspraxen (vgl. auch Diehm/Kuhn/Machold 2009): Indem ich in einem Beobachtungsprotokoll Angaben festhalte, die Auskunft über strukturelle Positionierungen (i. S. von Subjektpositionen) geben, laufe ich Gefahr, an rassismusrelevante Repräsentationen anzuschließen. So wäre es mir möglich, den beteiligten Akteuren bspw. Einschätzungen über die ‚Farbe’ ihrer Haut zuzuweisen oder eine Kennzeichnung wie ‚mit spanischem Migrationshintergrund’ vorzunehmen. Diese Bezeichnungspraxis würde sodann zwar Klärung im Hinblick auf die Subjektpositionen der Akteure verheißen, sie jedoch gleichzeitig in diesen Positionen, die Teil rassismusrelevanter Unterscheidungen sind, fixieren. Andererseits läuft die Enthaltsamkeit Gefahr, Subjektpositionen zu verharmlosen oder unsichtbar zu machen, da der Eindruck entstehen kann, dass Subjektpositionen irrelevant für die Aushandlung von Bedeutungen seien. Damit aber werden real erfahrene Unterdrückungsverhältnisse verharmlost. Für die weitere Argumentation, die das Geschehen als rassismusrelevant identifiziert, steht die Frage im Mittelpunkt, wie Enis Position situativ hervorgebracht wird. Diese Hervorbringung geschieht dabei jedoch in einem Raum, in dem Enis als Kind von Migranten aus der Türkei über-situativ als rassistisch dominiert (Weiß 2001) verortet werden kann. Nach diesen methodologischen Überlegungen komme ich nun zu einer Lesart des Beobachtungsprotokolls, anhand derer ich im Weiteren in analytischer Trennung die folgenden Aspekte ausführen werde: erstens der Bezug auf Regeln als rassismusrelevante Unterscheidungspraxis, zweitens positioning und agency in Bezug auf Regeln als rassismusrelevante diskursive Praxis. In diesem Ausschnitt aus Geschehnissen in einer Kita zeigt sich eine Unterscheidungspraxis, die vollzogen wird, indem die Einhaltung von Regeln eingefordert wird. Es wird Bezug genommen auf die Regel des Händewaschens. Bei dieser Regel handelt
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es sich zunächst um eine Richtlinie der Kita, die besagt, dass die Hände vor dem Mittagessen gewaschen werden müssen. Indem die Akteure Julian einen Vorwurf machen, verweisen sie implizit auf diese Regel. Sie scheint allgemein gültig, da ihre Einforderung nicht explizit begründet werden muss. Enthalten ist hierbei eine zeitliche Dimension („noch nicht“), die die Möglichkeit impliziert, das angemessene Verhalten noch auszuführen, also die Hände noch zu waschen. Die Einforderung dieser Regel verstehe ich als Unterscheidungspraxis, weil sie die Differenz zwischen ‚schon gewaschenen Händen’ und ‚noch nicht gewaschenen Händen’ herstellt und damit gleichzeitig die Differenz zwischen denjenigen, die um die Regel wissen und sie befolgen und denjenigen, die sie nicht befolgen, hervorbringt. Weiter wird im Folgenden die zu waschende Hand mit der abzuwaschenden „schwarzen Haut“ gleich gesetzt, indem nun direkt („du musst“) zur Regelbefolgung aufgefordert wird („Deine Haut ist schwarz, die musst Du abwaschen“). Wird zunächst also zur Herstellung gewaschener Hände aufgefordert, ist es nun die gewaschene Haut, die eingefordert wird. Unterschieden wird dabei zwischen „schwarzer“ Haut (explizit), die durch das Abwaschen das „Schwarz“ verlieren soll, und ‚weißer’ Haut, die als Zielzustand impliziert wird. Deutlich wird hier, dass es sich bei diesen Regeln sowohl um Richtlinien für situatives Verhalten handelt, als auch um bestimmte Normen, die in ihnen erfüllt werden sollen. So kann das Geschehen so interpretiert werden, dass sich zum einen eine Hygienenorm ‚sauberer Körper’ und zum anderen eine rassismusrelevante Norm ‚weißer Körper’ zeigt. Insofern stellen die Akteure, die hier eine Einhaltung von Regeln einfordern, eine Differenz zwischen normadäquatem/n- und norminadäquatem/n Verhalten und Körpern her.
Der Bezug auf Regeln als r a s s i s m u s r e l e va n t e U n t e r s c h e i d u n g s p r a x i s Der Bezug auf Regeln als Unterscheidungspraxis hat Relevanz für die sozialen Verhältnisse zwischen den beteiligten Akteuren in dieser Situation. Sie verleiht denjenigen Kindern, die eine Regel einfordern und denen dabei statt gegeben wird, eine situativ dominante Position und Deutungshoheit über die einzuhaltenden
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Normen. Diese Lesart von kindlichen Praxen wird aus einer machttheoretisch informierten Perspektive in einer Studie von Jordan/Cowan/Roberts (1995) in Abgrenzung zu entwicklungspsychologischen, moraltheoretischen und sozialisationstheoretischen Überlegungen entwickelt. Die Autorinnen verstehen Regeln als „powerful ‚knowledge’ in the Foucauldian sense which children become increasingly adept at using in their early years in educational institutions” (dies. 1995, 339). Sie fassen den Bezug von Kindern auf Regeln im elementarpädagogischen Kontext als eine Strategie, durch die Kinder Macht bekommen. Dabei verstehen sie den Einsatz von Regeln als gewaltlose, diskursive Strategie (im Gegensatz zu physischen Strategien). Regeln konzeptualisieren sie als „prescriptions or prohibitions of behaviour that are universal in application, or at least are meant to apply equally to all individuals within a particular population. Such rules may, in conversation, have characteristic semantic markers like the words and phrases must, got to, have to, and not allowed; frequently, however, they have to be deduced from less specific wording that can be seen as referring back to a rule, unstated in this particular context, but familiar to all those engaged in the interaction” (dies. 1995, 340). Das Wissen um die von Erwachsenen zur Verhaltenskontrolle verhängten Regeln eignet sich im Besonderen, um situativ Macht zu erlangen. Jordan/Cowan/Roberts zeigen auf, dass die Anrufung dieser Regeln als „discursive weapon“ von Kindern verwendet wird, um ihre eigenen Vorstellungen durchzusetzen, das Verhalten anderer Kinder zu kontrollieren und sich selber vor dieser Kontrolle zu schützen (vgl. ebd.), insbesondere in einem Kontext, in dem Gewalt verboten ist. Diese Perspektive ist interessant, weil die Praxen der Kinder im Hinblick auf die in ihnen produzierten Bedeutungen und in ihrer sozialen Relevanz in den Blick kommen. Dabei verschiebt sich der Fokus von Betrachtungen, die über die Regelverwendung eher auf die Entwicklung des individuellen Kindes zurück schließen, hin zu der Frage, wie Menschen in ihren frühen Jahren bereits an der Herstellung von Unterschieden beteiligt sind bzw. in sie eingeübt werden. Weiter stellt dieser Ansatz die Überwindung des Dualismus von Struktur und Handeln dar, da er eine Lesart ermöglicht, in der historisch geronnenes Wissen und Strukturen in Praxen verwendet bzw. wiederholt werden. So ergibt sich die Bedeutung der Praxen nicht aus angenommenen Intentionen der Kinder, sondern steht im Zu-
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sammenhang mit den in ihnen verwendeten Zeichen und Repräsentationen, die wiederum im Hinblick auf ihre Verweisungen und insofern auf ihren Kontext betrachtet werden müssen. Für die Betrachtung der im Zentrum stehenden Praxis unter der Aufmerksamkeit auf ihre Bedeutungsstiftung ist insofern ihre Kontextualisierung notwendig. Kontextualisierung verstehe ich hier als einen methodischen Schritt, in dem ich in Anschluss an Slacks Bezug auf Grossberg „map the context – not in the sense of situating a phenomenon in a context, but in mapping a context, mapping the very identity that brings the context into focus” (Slack 1996, 125). Dabei kann der Kontext nicht als etwas den Praxen Äußerliches verstanden werden, sondern „the context is not something out there, within which practices occur or which influence the development of practices. Rather, identities, practices, and effect generally, constitute the very context within which they are practices, identities or effects” (Slack 1996, 125, Hervorhebung im Original). In diesem Rahmen werde ich sodann versuchen zu kontextualisieren, indem ich die in den bedeutungsgebenden Praxen relevant werdenden Zeichen in ihrer historisch-diskursiven Gewordenheit betrachte. Argumentieren möchte ich, dass die Aufforderung, die Hände vor dem Essen zu waschen, an eine Hygienenorm anschließt, die sich im Zuge einer bürgerlichen Hygienebewegung im Verlauf des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchgesetzt hat: „Zu den Zielen der Hygienebewegung als einem bürgerlichen Instrument der Gesundheitsvorsorge sowie der Sozial-, Kultur- und Geschlechterpolitik zählte die Popularisierung neuer gesundheitsbezogener wissenschaftlicher Erkenntnisse und die Transformation der Alltagspraktiken nach hygienischen Vorstellungen“ (Breuss 2006, 108). Es waren insbesondere Frauen, die durch diese Bewegung adressiert und in einer bestimmten Art konstruiert wurden. Es oblag ihnen, die Ziele der Hygienebewegung, insbesondere im familialen Kontext und dabei auch im Rahmen der Erziehung, umzusetzen. „Hygiene bzw. Sauberkeit wurden zu Ordnungsund Strukturbegriffen, zu zentralen Zivilisationskategorien der bürgerlichen Gesellschaft, zum Inhalt von und Maßstab für ‚Kultur’. Hygiene ist als ein bürgerliches Projekt zu verstehen, in dem sich verschiedene Interessen bündelten: Herrschafts- und Disziplinierungsabsichten ebenso wie fürsorgliches Engagement, Aufklärung des Volkes ebenso wie dessen Entmündigung, bürgerliche
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Distinktionsbedürfnisse ebenso wie die Erhebung der bürgerlichen Lebensweise zur allgemein gültigen Norm“ (ders. 2006, 110). Wenngleich die Entfaltung der bürgerlichen Hygienebewegung in der Entwicklung des Kindergartens gesondert betrachtet werden müsste, so lässt sich doch festhalten, dass Hygiene und Körperpflege zentrale Ziele der Gesundheitserziehung im Kindergarten darstellen. Wenn also Kinder in ihren Praxen auf die Regeln des Händewaschens verweisen, artikulieren sich darin immer auch historisch geformte Vorstellungen von Sauberkeit. Die Kinder verwenden sie und geben Subjekten und Objekten eine Bedeutung, sie repräsentieren sie. Auch in dem Satz „Deine Haut ist schwarz, die musst du abwaschen“ zeigt sich eine bestimmte Repräsentation von Wirklichkeit. Ließt es sich im Kontext des Nachdenkens über Sauberkeit zunächst möglicherweise lediglich als die Aufforderung zu einem Reinigungsakt, so findet in diesem Imperativ eine Verknüpfung mit rassistischen Bedeutungen statt, die diese Praxis als rassismusrelevant erscheinen lassen. Rassismus kann verstanden werden als „eine soziale Praxis, bei der körperliche Merkmale zur Klassifizierung bestimmter Bevölkerungsgruppen benutzt werden, etwa wenn man die Bevölkerung nicht in Arme und Reiche, sondern z. B. in Weiße und Schwarze einteilt. Kurz gesagt, in rassistischen Diskursen funktionieren körperliche Merkmale als Bedeutungsträger, als Zeichen innerhalb eines Diskurses der Differenz. Es entsteht etwas, was ich als rassistisches Klassifikationssystem bezeichnen möchte, ein Klassifikationssystem, das auf ‚rassistischen’ Charakteristika beruht. Wenn dieses Klassifikationssystem dazu dient, soziale, politische und ökonomische Praxen zu begründen, die bestimmte Gruppen vom Zugang zu materiellen oder symbolischen Ressourcen ausschließen, dann handelt es sich um rassistische Praxen” (Hall 2000, 7). In dem hier interpretierten Geschehen wird Enis Haut das Attribut „Schwarz“ zugeschrieben. Die auf dieser Zuschreibung basierende Aufforderung, dies zu verändern, impliziert eine Normvorstellung, nach der Haut als nicht-‚schwarz’ und damit ‚weiß’ hergestellt werden müsse. Dieser Imperativ verweist dabei auf Annahmen von ‚weißen Körpern’ und ‚schwarzen Körpern’, die sich in Prozessen der Rassifizierung (zu racialisation s. u.) herausgebildet haben und Teil von rassistischen Diskursen sind, die die Menschheit in „Weiße“ und „Schwarze“ eingeteilt haben. Artikuliert werden hier also Zeichen, die Teil eines rassistischen Zeichensys-
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tems sind und insofern nicht ‚wirklich’ existieren, denn „wir können nur sehen, was wir bereits wissen. In jeder rassistischen Gesellschaft lernen Kinder, ‚in Farbe’ zu sehen, denn Weißsein und Schwarzsein sind keine objektiv vorfindbaren Kategorien. Weiße Menschen haben keine ‚weiße’ Hautfarbe, ebenso wenig wie Schwarze Menschen eine ‚schwarze’ Haut haben“ (Wollrad 2009, 164). Die in diesem Geschehen deutlich gewordene Verknüpfung von Hygiene mit rassifizierten Körpern kann ebenfalls in ihrer historischen Bedingtheit gesehen werden. So sind Vorstellungen entstanden, die „Weißsein als Inbegriff allen guten, Göttlichen, menschlichen und Schönen [verstehen], während Schwarzsein an das entgegengesetzte Ende der Werteskala verwiesen und als Inbegriff des Bösen, teuflischen, Nicht-menschlichen und hässlichen“ (Wollrad 2009, 164) verstanden wird. Insbesondere in kolonialen Praxen setzten sich Beschreibungen durch, „in denen die Europäer die Körper der lokalen Bevölkerung als dreckig, verkommen und häßlich charakterisierten. Die hygienischen Praktiken der Kolonialherren definierte man demgegenüber als Essenz der ‚Zivilisation’“ (Eckert 1997, 17). Die Verknüpfung von Hygiene mit rassistischen Diskursen lässt sich sehr interessant auch in Ergebnissen einer Studie von Anette Dietrich (2007) nachvollziehen. Sie befasst sich mit der Frage, inwieweit emanzipative, frauenrechtlerische Konzepte der bürgerlichen Frauenbewegung im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert mit kolonialen Diskursen korrespondierten und Vorstellungen „weißer Weiblichkeit“ konstruierten bzw. verstärkten (vgl. Dietrich 2007, 8). Sie kommt dabei u. a. zu der Erkenntnis: „Das Bild ‚weißer Reinheit’, das u. a. in den Sittlichkeitsdebatten hergestellt bzw. reproduziert wurde, entwickelte sich zu einem zentralen ideologischen Moment der kolonialen Herrschaft, das die Position von weißen Frauen aufwertete. Diskurse der bürgerlichen Frauenbewegung korrespondierten mit den kolonialrassistischen Konstruktionen weißer Weiblichkeit und verbanden mittels der Thematisierung von Sittlichkeit, Sexualmoral und Hygiene die Sorge um den gesunden ‚Volks’- und ‚Gesellschaftskörper’ mit sozialdarwinistischen und rassenhygienischen Motiven“ (dies. 2007, 379). Der angedeutete Nachvollzug der historischen Dimension in der Verknüpfung von Hygienewissen mit rassistischen Unterscheidungen kann als erstes Argument verstanden werden, die hier interpretierte Praxis als rassismusrelevant zu verstehen. Wei-
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ter zeigt sich darin – und dies ist das zweite Argument – dass in der Aufforderung, die Haut in einen nicht-‚schwarzen’ Zustand zu überführen, implizit an die rassismusrelevante Norm des Weißseins angeschlossen wird. Ihre Unsichtbarkeit ist dabei wiederum keineswegs zufällig, sondern ist Teil der Aufrechterhaltung dieser Norm. Zentral ist, dass in diesem Verständnis, Weißsein nicht als biologistische oder somatische Kategorie gedacht wird. „Es ist weder über Pigmentierung oder Komplexion zu erfassen, noch als ‚Natur’ (im Sinne Roland Barthes’ als Antithese zum Mythos) anzusehen. Der Begriff Weißsein bezieht sich nicht auf natürlich gegebene Sichtbarkeit, sondern um hergestellte, interpretierte und praktizierte Sichtbarkeit. Es geht nicht um ‚Hautfarbe’, sondern um die ideologischen Konstruktionen von ‚Hautfarbe’. In diesem Sinne ist Weißsein dann an Gewordensein gebunden und am ehesten über Begriffe ‚Position’ und ‚Identität’ zu verstehen. Dabei geht es nicht darum, ontologisierend oder essentialisierend die Existenz des ‚weißen Menschen’ oder einer ‚weißen Kultur’ zu postulieren, vielmehr ist Weißsein als eine Konstruktion des Rassismus zu lesen, die kollektive Wahrnehmungs-, Wissens-, und Handlungsmuster konstituiert hat. Damit präsentiert sich Weißsein als eine historisch und kulturell geprägte symbolische und soziale Position, die mit Macht und Privilegien einhergeht und sich auch unabhängig von Selbstwahrnehmungen und jenseits offizieller Institutionen individuell wie kollektiv manifestiert“ (Arndt 2005, 343). Hinzu kommt, dass Weißsein sich als historisch kontingentes und in gewissem Sinne „verhandelbares“ Phänomen zeigt (vgl. Wollrad 2005, 73 ff.). Wenngleich Forschung zu ‚race’ in der Kindheit im anglo-amerikanischen Kontext bereits eine langjährige Tradition hat (vgl. zum Überblick Mac Naughton/Davis 2009), so kann der explizite Bezug auf die Kategorie Weißsein auch für sie als eher neu angesehen werden. In einem gerade erschienen Buch zu „‚Race’ and Early Childhood Education“ findet Weißsein eine besondere Berücksichtigung, z. B. in der Frage, „how young children’s constructions of their racial identities are related to whiteness“ (Davis/Mac Naughton/Smith 2009, 51). Für den deutschsprachigen Kontext steckt die Forschung überhaupt zu ‚Rasse’ und Rassismus in der (frühen) Kindheit noch gänzlich in den Anfängen (hervorzuheben sind jedoch neuere Veröffentlichungen von Boldaz-Hahn 2008; Diehm/Kuhn 2005 und 2006; Eggers 2006; Leiprecht/Sulzer
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2007; Wagner/Sulzer 2009; Wollrad 2009). Interessant ist allerdings, dass sich in Analysen von Kinder- und Jugendliteratur zur Frage, wie sich in ihnen rassifiziertes Wissen vermittelt (vgl. Eggers 2006; vgl. Wollrad 2009), ein ähnliches Phänomen wie in dem Geschehen zeigt. Kinder- und Jugendliteratur wird in diesem Zusammenhang als wichtiges Instrument zur Aufrechterhaltung von Herrschaftsverhältnissen verstanden, weil schon die ganz Kleinen in der Akzeptanz von gesellschaftlichen Normativitäten trainiert würden (vgl. Wollrad 2009, 163). Als eine dieser Normativitäten bezeichnet Wollrad Weißsein: „Meist unausgesprochen repräsentiert Weißsein das Normale, das nicht Erwähnenswerte und Gewöhnliche“ (ebd.). Insbesondere in den ‚Klassikern’ Der Struwwelpeter (1844), Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (1960) und Pippi in Taka-Tuka-Land (1948) zeige sich „Schwarzwerden“ als Thema und „Weiß“ als Norm (vgl. Wollrad 2009, 167ff.). Schwarzsein wird weiter als unverschuldete Last konstruiert und Weißwerden als wünschenswerter Endzustand (vgl. Eggers 2006, 398). Die verwendete Regel im Hinblick auf Enis’ Haut impliziert in dieser Lesart also eine Norm, die ‚Schwarz’ hierarchisch zu ‚Weiß’ setzt, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass ‚Weiß’ nicht erwähnt, jedoch als wünschenswerter Endzustand implizit zum Ausdruck gebracht wird. Die Rassismusrelevanz zeigt sich in diesem Aspekt also darin, dass Zeichen verwendet werden, die sich in ihrer Machtförmigkeit im Zuge von Rassifizierungsprozessen herausgebildet haben. Wie bereits in dem Zitat von Arndt deutlich geworden ist, geht es jedoch um mehr als nur um die Verwendung von Zeichen, nämlich gleichsam um Position und Identität.
Positioning und agency in Bezug a u f R e g e l n a l s r a s s i s m u s r e l e va n t e diskursive Praxis Die Annahme, dass kulturelle Praxen Zeichen verwendende Praxen der Repräsentation von Wirklichkeit sind, soll hier nun im Hinblick auf ihre Bedeutung für Subjektivierungsprozesse ausgeführt werden. In kulturellen Praxen werden also nicht nur Bedeutungen verhandelt, sondern sie werden relevant für die in sie involvierten Subjekte und gehen dabei über die zuvor angesprochene situative Macht hinaus. In einem Satz, wie „Deine Haut ist
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schwarz, die musst du abwaschen“ wird sowohl die sprechende Person positioniert, als diejenige, die die Norm einfordern kann, als auch die Person, die darin angerufen wird. Mit dem Konzept des „positionings“ (Davies/Harré 1990) kann dargestellt werden, inwiefern Unterscheidungspraxen subjektivieren: „An individual emerges through the processes of social interaction, not as a relatively fixed end product but as one who is constituted and reconstituted through the various discursive practices in which they participate. Accordingly, who one is is always an open question with a shifting answer depending upon the positions made available within one’s own and others’ discursive practices and within those practices, the stories through which we make sense of our own and others’ lives. Stories are located within a number of different discourses, and thus vary dramatically in terms of the language used, the concepts, issues and moral judgements made relevant and the subject positions made available within them“ (Davies/Harré 1990, 46). Die Antwort auf die Frage „wer jemand ist“, ergibt sich in dieser Perspektive aus den unterschiedlichen diskursiven Praxen, in die ein Individuum involviert ist. Zentral in diesem Ansatz ist, dass Subjektivität zwar durch den Bezug auf die vorhandenen Diskurse entsteht, sie jedoch nicht deterministisch hervorgebracht wird, sondern Diskurse in Praxen situativ angenommen oder ignoriert werden können und gegen sie Widerstand geleistet werden kann. Weiter wird davon ausgegangen, dass Subjekte nicht an sozialen Orten fixiert sind, vielmehr konstruiert dieses Konzept „people as engaging in dynamic social relationships in which each participant creats and makes available positions for themselves and others to take up, ignore, or resist. Positioning theory provides a way to capture both continuous personal identity and discontinuous personal diversity. In order to do this, it focuses particularly on the exchanges produced in conversations” (Phoenix 2005, 105). Unter dem Fokus auf Konversationen kommen Prozesse interaktiven „positionings“ – das von Davies/Harré von „reflexiv positioning“, indem jemand sich selber positioniert, abgegrenzt wird – in den Blick, in denen das, was, jemand sagt, jemand anderen positioniert (vgl. Davies/Harré 1990, 48). In der Szene zeigt sich insofern eine Positionierung, in der jemand als die Hygieneregel des Händewaschens nicht einhaltend positioniert wird. Dies führt sodann zu einer Positionierung, in der jemand die rassismusrelevante Norm des Weißseins nicht erfüllt. Im An-
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schluss an rassismusrelevante Zeichen geschieht hier ein positioning, das auch als racialisation gefasst werden kann. Phoenix weist auf das Verhältnis von positioning und racialisation hin: „Racialization and positioning are complementary and mutually reinforcing theoretical concepts in that racialization can be seen as positioning in relation to race. According to positioning theory, what race, ethnicity, nationality, or religion mean for identity is not fixed, but flexible, shifting, and contested“ (Phoenix 2005, 107). Enis reagiert nun, indem er den Teil seinen Körpers, der im Zentrum des Tisches und damit der Aufmerksamkeit liegt, zurückzieht. Die verbale Anrufung der Haut wird hier nonverbal beantwortet. Der Gegenstand der Anrufung und der Verhaltensregel wird damit entzogen. Direkt im Anschluss an diesen Entzug wird Enis Stimme lauter „er packt Julian am rechten Arm.“ Nun ist er es, der in die dominante Position des Positionierens wechselt. Er wechselt von der Position desjenigen, dessen Haut angerufen wird und der zur Einhaltung einer Verhaltensregel und Norm aufgefordert wird, zu jemandem, der eine andere Person durch Übergriff auf ihren Körper ins Zentrum rückt und nun sein Missachten der Verhaltensregel Händewaschen zur Anzeige bei der Erzieherin bringt. Enis vollzieht einen Wechsel von der Position des ‚Angeklagten’ hin zur Position des ‚Anklagenden’ und damit auch von der Position desjenigen, der die Regel/Norm nicht erfüllt, hin zu einer Position, in der er sie erfüllt. Diese Position beinhaltet auch, legitimiert zu sein, die Nicht-Erfüllung dieser Verhaltensregel vor der Erzieherin anzuzeigen. Das, was vorher unter den ‚Jungs’ noch ein Vorwurf war, wird nun zur Anklage bei einer höheren Instanz. Aufzeigen lässt sich an dieser Interpretation eine Form von agency. Sie kann als Handlungsfähigkeit verstanden werden, als „discursively constructed as a positioning made available to some but not to others“ (Davies 1990, 341). Sie wird in diskursiven Praxen produziert. Dabei ist weiter wichtig, dass es Wahlmöglichkeiten gibt. „Choice“ versteht Davies als Zugang einer Person zu anderen Diskursen und die Mittel, sie zu mobilisieren (vgl. ders. 1990, 344). Enis produziert Uneindeutigkeit im Hinblick auf die ihm zugeschriebene Position. Er entspricht sowohl der Aufforderung, das seiner Haut zugeschriebene ‚Schwarz’ zu entfernen, indem er den im Mittelpunkt stehenden Teil seines Körpers entzieht. Gleichzeitig verhindert er die sprachliche Wiederholung der
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rassismusrelevanten Zeichen und insofern die Gefahr ihrer Verhärtung im Anschluss an rassistische Bedeutungen und Positionierungen. Situativ hat Enis hier den Zugang zu einer anderen Position, in der er als der Norm entsprechend in die machtvolle Position kommt, Julian als nicht der Norm entsprechend zu positionieren. Er ist also situativ handlungsfähig, indem er die Entfaltung rassismusrelevanter Bedeutungen durch ihre verbale Wiederholung nicht vollzieht. Gezeigt hat sich, dass Positionen nicht starr zu denken sind, sondern ausgehandelt werden können. Durch den Ansatz des positioning kommt in den Fokus, wie diskursive Praxen die Sprechenden und Hörenden in einer bestimmten Art und Weise konstituieren und gleichzeitig ist die Praxis des Positionings auch eine Ressource, durch die Sprechende und Hörende neue Positionen aushandeln können. Eine Subjektposition ist eine Möglichkeit, in bekannten Formen zu sprechen. Eine Position ist das, was in und durch Sprechen hergestellt wird, „as the speakers and hearers take themselves up as persons“ (Davies/Harré 1990, 62). Diese Unterscheidung erklärt Diskontinuitäten in der Produktion des ‚self’ im Hinblick auf multiple und gegensätzliche diskursive Praxen und die Interpretation solcher Praxen, die von den Sprechenden und Hörenden eingebracht werden in Konversationen (vgl. ebd.). Es gibt also einen Unterschied zwischen einer Subjektposition und Positionen, die in Konversationen entstehen. Der Unterschied besteht darin, dass Subjekte aufgrund ihrer Subjektpositionen überhaupt nur Zugang zu bestimmten Sprechweisen haben, ihnen also andere nicht zugänglich sind. Gleichzeitig können sie in Konversationen durch diskursive Praxen auch Positionen aushandeln. Daraus entstehen Diskontinuitäten zwischen Subjektpositionen und den in diskursiven Praxen ausgehandelten Positionen in Konversationen.
Schluss Ich habe versucht, eine Praxis aufzuzeigen, in der die beteiligten Akteure positioniert werden und wie diese Positionierungen ausgehandelt werden. In Bezug auf Enis lässt sich dabei annehmen, dass ihm durch die Produktion von Uneindeutigkeit in dieser situierten Praxis Handlungsfähigkeit zukommt. Zu bedenken gilt es
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jedoch, dass es einen Unterschied macht, in eine Position verwiesen zu werden, in der man einen situativen Normverstoß begeht, den man leicht durch das Waschen der Hände aufheben kann, oder in eine Position verwiesen wird, in der man einer grundlegenden gesellschaftlich relevanten Norm – Weißsein – nicht entspricht und der Aufforderung der Befolgung dieser Norm nicht nachkommen kann. Es gibt also einen Unterschied zwischen einer situativ ausgeschlossenen Position und einer strukturell ausgeschlossenen Position. Übergreifend lässt sich jedoch festhalten, dass Kinder sich in diskursive Praxen einüben, in denen sie sich und andere als machtvoll oder machtlos positionieren, und so dominante gesellschaftliche Normen und damit im Zusammenhang stehende Normalitätsvorstellungen (re-)produzieren. Pädagogik muss sich fragen lassen, in welche Normen und damit Ordnungen sie auch implizit einübt. Wenn das Ziel von Elementarpädagogik ist, dass Kinder sich gesellschaftliche Normen aneignen, dann muss sie aufmerksam sein, welche Ordnungsweisen der Welt Gefahr laufen, nicht-intendiert bestätigt zu werden. Darüber hinaus hat dieser sehr mikroanalytische Blick gezeigt, dass es notwendig ist, genauer zu wissen, welche Bedeutung rassifizierte Zeichen in den Bedeutungsproduktionen und den damit verknüpften Aushandlungen von Identitäten in der Kindheit haben.
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Imme r noc h die Ande re n? Ein ra ssismuskritischer Blick a uf die Nor malitä t sc hulis c he r Bildungsbenachteiligung THOMAS QUEHL „He’s probably never allowed to talk at home. He needs communicative experience. I was thinking of referring him to a speech therapist. He probably never even got to use scissors at home.“ (Carolyn, Lehrerin, in: Delpit 1995, xii)
Einleitung Die Reproduktion von offiziellem, durch den Lehrplan autorisiertem Wissen, das Zuweisen unterschiedlicher Zukunftschancen im frühzeitig separierenden deutschen Schulsystem und das Hervorbringen von Wissen und sozialen Bedeutungen in den alltäglichen Abläufen und dem heimlichen Lehrplan der Schule gehören für Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Eltern zur Normalität ihrer – wenn auch unterschiedlichen – Schulerfahrungen. Diese Realität gilt weiterhin als normal, doch ist sie seit der Veröffentlichung der internationalen Schulleistungsstudien wie PISA und IGLU1 zunehmend in den Fokus gesamtgesellschaftlicher Debatten gerückt. Auffallend sind dabei die Ambivalenzen, mit denen 1
Siehe z. B. Deutsches PISA-Konsortium 2001; Bos u. a. 2004.
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der Umstand der in Deutschland besonders engen Koppelung zwischen Schulerfolg und sozialer und ethnischer Herkunft thematisiert wird. Herrscht einerseits – keineswegs abgesichert und häufig nur rhetorisch – ein Konsens darüber, dass mehr Bildungsgerechtigkeit herzustellen sei, so ist die Bildungspolitik andererseits bemüht, Veränderungen so kostenneutral wie möglich zu gestalten. Zwar werden Initiativen zur Fortentwicklung von Schule und Unterricht unter den Bedingungen lebensweltlicher Mehrsprachigkeit und Heterogenität entwickelt,2 doch weigern sich die bildungspolitisch Verantwortlichen beharrlich, die Voraussetzungen für eine flächendeckende Umsetzung positiver Schulentwicklungserfahrungen zu schaffen. Dieser Widerspruch spiegelt gleichermaßen die Ambivalenz des gesamtgesellschaftlichen Umgangs mit vom Bildungserfolg historisch eher ausgeschlossenen Gruppen wie auch das Zögern der Mehrheitsgesellschaft wider, die aus der verspäteten Erkenntnis, ein Einwanderungsland zu sein, erforderlichen institutionellen Konsequenzen zu ziehen. Das Bildungswesen zeigt sich dabei schnell als ein Schlüsselbereich, in dem eine Migrationsgesellschaft den Anspruch auf mehr Chancengleichheit und Partizipation institutionell-strukturell verwirklichen muss, während die Schule zugleich selbst zu einem zentralen Terrain wird, auf dem man um die Bedeutungen ringt, welche die allgemeine Debatte um Einwanderung, Multikulturalität und Mehrsprachigkeit wesentlich mit bestimmen. Im Gegensatz zum vorherrschenden ‚minimalistischen’ Konzept von Rassismus als individuellem Vorurteil (vgl. Gomolla 2009, 41) wurde die Perspektive der institutionellen Diskriminierung und des institutionellen Rassismus in die bundesdeutsche Debatte eingeführt. Ursprünglich in den US-amerikanischen und britischen politischen und (bildungs-)soziologischen Auseinandersetzungen entstanden (siehe z. B. Feagin/Booher Feagin 1986; Gillborn 1990), ist diese Perspektive für eine vertiefende Analyse jener Zusammenhänge wichtig, die im Rahmen institutioneller Routinen und Mechanismen Diskriminierungseffekte hervorbringen und aufrecht erhalten (vgl. z. B. Gomolla/Radtke 2007). Die folgende Beschäftigung mit der Normalität des Rassismus, die zur Schlechterstellung von Schülern und Schülerinnen mit Migrationshintergrund beiträgt, baut auf dieser Analyseperspektive auf. Ziel ist es 2
Siehe z. B. www.blk-foermig.uni-hamburg.de/.
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dabei, zu fragen, wie in jenes diskursive und bildungspolitische Feld eingegriffen werden kann, innerhalb dessen diese Bildungsbenachteiligung und Maßnahmen zu ihrer Überwindung thematisiert werden. Zu Beginn möchte ich im Sinne der Notwendigkeit, jeweils kontextspezifisch zu klären, welche „Arbeit“ der Rassismus „leistet“ (Hall 1994a, 129), einige schulspezifische Aspekte der Normalität des Rassismus skizzieren, die hinsichtlich der Bildungsbenachteiligung der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund3 bedeutsam erscheinen. In einem zweiten Schritt soll überlegt werden, mit welchen Perspektiven und Argumentationslinien Bestrebungen unterstützt werden könnten, die auf eine Verschiebung dieser Normalität der Debatten, der Bildungspolitik und der schulischen Wirklichkeit zielen. Diese Überlegungen fokussieren abschließend auf den Aspekten der Intersektionalität und der Ressourcenverteilung.
Die normalisierte Bildungsbenachteiligung Während sich in der Fachdiskussion der Fokus zunehmend auf einen Paradigmenwechsel hin zur Auseinandersetzung mit den Unzulänglichkeiten der Institution Schule und ihren organisatorischen sowie sprachdidaktisch-unterrichtlichen Bedingungen (vgl. z. B. Gomolla 2005; Fürstenau/Gomolla 2009; Gogolin 2008a und 2008b) verschiebt, dominieren gesamtgesellschaftlich weiterhin Diskurse, welche die Bildungsbenachteiligung der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund in erster Linie als Defizite bei ihren Familien verorten. Wenn Rassismus seine Wirkungsmächtigkeit durch das Ineinandergreifen der drei Ebenen der subjektiven Denk- und Handlungsweisen, der sozialen Bedeutungen und der gesellschaftlichstrukturellen Bedingungen entfaltet (vgl. Lang/Leiprecht 2000,
3
Die Bezeichnung ‚Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund‘ bleibt problematisch, insofern sie gesellschaftlich dominante Unterscheidungen und Normalitätsvorstellungen reproduziert. Aufgrund ihrer Anschlussfähigkeit an die aktuellen Diskussionen in Schule und Bildungspolitik verwende ich sie hier dennoch.
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450f.), so wirkt auch die Normalität des Rassismus auf diesen drei Ebenen: Auf der Ebene subjektiver Denk- und Handlungsweisen bewegen sich pädagogische Fachkräfte mit den Kindern und Jugendlichen und mit den Eltern normalerweise in einem Interaktionsraum, in dem Ethnisierungen, Kulturalisierungen und andere Formen rassistischen Wissens4 immer dann als Ressource von ihnen genutzt werden können, wenn das eigene pädagogische Handeln in seinen Unsicherheiten und seiner Begrenztheit erfahrbar wird. Dieser für den Elementarbereich beschriebene Zusammenhang (vgl. Wagner/Sulzer 2009, 216ff.) gilt, so möchte ich argumentieren, auch für die Schule und verweist letztlich auf die Einbindung der pädagogischen Professionalität in die institutionellen Rahmenbedingungen. Wenn Lehrkräfte das pädagogische Verhältnis zu den Eltern insgesamt kulturalisieren, dabei auf Stigmatisierungen und rassistische Zuschreibungen rekurrieren oder ihrer Unterrichtspraxis die Normalitätsvorstellung der Einsprachigkeit weitgehend unhinterfragt zugrunde legen, so geschieht dies nicht beliebig, sondern unter Rückgriff auf soziale Bedeutungen, die Ausdruck gesellschaftlicher Dominanzverhältnisse und in den institutionellen Rahmen eingeschrieben sind. Dieser Zusammenhang wurde sowohl unter rassismustheoretischer Perspektive herausgearbeitet, wobei den sozialen Bedeutungen eine entscheidende Vermittlungsfunktion zwischen subjektivem Alltagshandeln und den institutionellen Bedingungen zugeordnet wird (vgl. Lang/Leiprecht 2000, 450f.), als auch im Kontext der Bildungsbenachteiligung mehrsprachig aufwachsender Schüler und Schülerinnen (vgl. Cummins 2006, 52ff.). Auf der Ebene der Bedeutungen wirkt der Gewöhnungseffekt an den Rassismus in doppelter Weise. Erstens hat die Kulturalisierung des pädagogischen Verhältnisses zu den Eltern und die damit einhergehende, seit langem beobachtete Defizitperspektive, die die Ursache für die geringeren Schulerfolge von Schülern und
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Nach Mark Terkessides wird rassistisches Wissen in diesem Kontext als ein gesellschaftlicher Bestand von Erklärungen verstanden, die für jene, die auf sie zurückgreifen, nicht als realitätsverzerrende Vorurteile oder Stereotypen zur Verfügung stehen, sondern als Formen „sozialer Erkenntnis“ seitens der in der Gesellschaft dominanten Gruppe (ders. 1998, 59f.).
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Schülerinnen mit Migrationshintergrund in der sprachlichkulturell-sozialen ‚Andersartigkeit‘ ihrer Familien verortet, eine entlastende Funktion: sowohl für die Lehrkräfte, weil sie die Bildungsbenachteiligung dieser Schüler und Schülerinnen scheinbar erklärt, als auch für die bildungspolitische Debatte, weil der Diskurs den Status quo weitgehend aufrechterhält und grundlegende Veränderungen des institutionellen Rahmens blockiert. Die geringeren Schulleistungen von Schülern und Schülerinnen mit Migrationshintergrund werden plausibilisiert und erscheinen nicht als das, was sie sind: nämlich eine nicht erbrachte Leistung der Institution Schule. Zweitens führt das Ergebnis schulischen Handelns bzw. NichtHandelns nicht nur zur einer Ausschließungspraxis von materiellen Ressourcen, sondern auf der Ebene der Bedeutungen auch von symbolischen (vgl. Hall 2000, 7). Dabei wird diese Scharnierstelle zwischen subjektiven Denk- und Handlungsweisen und institutionell-gesellschaftlichen Bedingungen jeweils neu eingestellt und die Schule erweist sich als der Ort, an dem soziale Bedeutungen nicht „aufgeprägt“, sondern hervorgebracht werden (vgl. Apple 1982, 26). Die Dominanzverhältnisse in der Migrationsgesellschaft werden – wenn auch unter asymmetrischen Voraussetzungen – im Bildungssystem Prozessen des Aushandelns zugänglich gemacht, doch bringt die Schule dabei auch fortlaufend jene sozialen Bedeutungen hervor, mit denen die ‚Anderen‘ konstruiert werden. Die bildungssoziologische Figur des Arbeitermädchens vom Lande, in der man die Kumulation der mehrdimensionalen Benachteiligungen in den 1960er-Jahren abgebildet hatte, wurde mittlerweile von der Figur des Migrantenjungen aus ‚bildungsschwacher‘ Familie abgelöst (vgl. zusammenfassend Geißler 2008), bietet als solche aber eben auch Anschlussstellen für den Topos des männlichen muslimischen Jugendlichen bzw. jungen Mannes aus der Großstadt, dem im populären rassistischen Diskurs eine wesentliche Rolle zukommt (vgl. Scheibelhofer 2008). Auf der dritten Ebene der gesellschaftlich-strukturellen Bedingungen schlagen sich die rassistischen Effekte z. B. in der Überrepräsentation von Schülern und Schülerinnen mit Migrationshintergrund auf den Sonderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen nieder. Dieser Umstand muss als normalisiert gelten, insofern er seit Jahren unverändert fortbesteht. Entsprechendes gilt für die Überrepräsentation dieser Kinder und Jugendlichen auf den
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Hauptschulen wie auch für die hohe Zahl derer, die die Schule ohne einen Abschluss verlassen (siehe Kornmann 2006; Diefenbach 2007, 64ff.; Die Beauftragte der Bundesregierung 2007, 59ff.). Auf diese Weise können die vom Bildungssystem hervorgebrachten Ungleichheiten als Anknüpfungspunkte für gesellschaftlich vorhandene rassistische Bilder und Zuschreibungen dienen. Während die Schule in ihren Strukturen und Abläufen Ausdruck aktueller Dominanz- und Machtverhältnisse ist, bestätigt und produziert sie diese Diskurse gleichzeitig. Über Topoi wie ‚fehlende Deutschkenntnisse‘, ‚Integrationsunwilligkeit‘ oder ‚gewalttätige Jugendliche ausländischer Herkunft‘ werden Verbindungen zu anderen Elementen des rassistischen Diskurses hergestellt und es erfolgt eine Stützung des Diskurses über die ‚Anderen‘. Der Gebrauch rassistischer Argumentationsmuster zur Begründung der Bildungsbenachteiligung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund kann daher gegenwärtig auch dann weiter normalisiert werden, wenn die schulische Praxis, die diese Situation hervorbringt, in der Fachdiskussion grundlegend infrage gestellt wird.
Wider die Normalität: Die diskriminierungskritische und diskurssensible Schule Für die hier anstehende Frage der Normalität des Rassismus im Bildungswesen ist die Verwendung des Diskursbegriffes (vgl. Hall 2000) hilfreich, weil er an der zentralen Frage der Beziehung zwischen Makro- und Mikroebene ansetzt und in den Blick zu nehmen vermag, wie Aspekte von Wissen und Macht in der Bildungspolitik und in der Institution Schule miteinander verwoben sind. Entsprechend kann der Frage nachgegangen werden, wie Übertragungsprozesse z. B. von der Bildungspolitik zur Praxisebene im Klassenzimmer zu analysieren sind, ohne als eindimensionale und unmittelbare Übertragung gesehen zu werden (siehe z.B. Epstein 1993; Gillborn 1990). „Nach Foucault ist der Diskurs nicht nur immer mit Macht verknüpft; er ist vielmehr eines der ‚Systeme‘, durch die Macht zirkuliert. Das Wissen, das ein Diskurs produziert, konstituiert eine Art von Macht, die
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über jene ausgeübt wird, über die ‚etwas gewußt wird‘“ (Hall 1994b, 154, Hervorhebung im Original).
Sind die Diskurse dabei als Praktiken zu verstehen, „die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 1981, 74), so werden die Gegenstände nicht einfach bezeichnet, sondern konstituiert und eben gerade dieser Prozess wird gleichzeitig verborgen. So konstituiert der Diskurs, der ständig von der ‚Andersartigkeit‘ der mehrsprachig aufwachsenden Kinder und Jugendlichen ‚weiß‘, diese Schülerinnen und Schüler als Problem wie als Gruppe. Ohne diese Setzung kenntlich zu machen, bezieht er sich dabei einerseits auf den „idealen Schüler“ (Keddie 1971) und aktualisiert die Erwartungshaltung der Schule und zahlreicher Lehrkräfte gegenüber einem mittelschichtsorientierten Elternhaus. Andererseits knüpft der Diskurs an ein Konzept von Schule an, bei dem man traditionell von einer Einsprachigkeit der Schülerschaft und einer quasi natürlich erfolgenden Sprachentwicklung der Schülerinnen im Laufe der Schullaufbahn ausgeht (vgl. Gogolin 1994, 41ff.). Die Bedingungen, unter denen diese Prämissen entstanden, wurden dabei gleichsam unsichtbar gemacht und Einsprachigkeit als Normalität konstruiert – der ‚ideale Schüler’ ist nicht nur ein Mittelschichtskind, sondern wächst auch einsprachig auf. Lisa Delpit (1995) hat im US-amerikanischen Kontext eine solche Situation auf die anschauliche Formulierung gebracht, dass Lehrerinnen und Lehrer stets die „Kinder der Anderen“ unterrichten. Bedeutsam kann eine solche Perspektive auf die Diskurse aber auch sein, um zu klären, wie das Ineinandergreifen der Normalität des Rassismus und der Normalität von Schule und Bildungssystem konzeptionell zu fassen ist. Diskurse sind immer kontextualisiert und beziehen sich auf andere Diskurse und damit auf ein Umfeld, innerhalb dessen die Aussagen des Diskurses erst möglich oder aber begrenzt werden (vgl. Bublitz 2003, 58). So entsteht die Normalität des rassistischen Diskurses in Schule und Bildungssystem eben erst in Verbindung mit den dort vorhandenen anderen Diskursen z. B. von Lernen, Didaktik, Homogenität, Jungen, Computerspielen, Eltern oder Begabung. Auch wenn die zuvor genannte Aufschlüsselung in die drei Wirkungsebenen von Rassismus als Grundlage für Reflexionsprozesse der Beteiligten vor Ort dienen kann, so sind diese Stränge in der Schule doch auf
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das Engste mit dem Umfeld, also mit den ‚normalen‘ Aspekten alltäglicher Schulabläufe und -routinen verflochten. Für eine rassismuskritische Perspektive auf die Bildungsbenachteiligung und für die in den Bildungsinstitutionen Tätigen liegt eine der Herausforderungen deshalb darin, nicht nur zu reflektieren, wie diese Wirkungsebenen miteinander interagieren, sondern wie sie dabei zudem in Wechselbeziehungen treten zu den ganz gewöhnlichen Abläufen von Schule, zur Wissensvermittlung und zu den schulischen Machtverhältnissen. Es sind gerade diese Wechselbeziehungen, durch die sich die verschiedenen Aspekte des rassistischen Diskurses in den schulischen Alltag einschreiben und durch die umgekehrt ihre Alltäglichkeit normal und tendenziell unsichtbar wird, die den Diskurs im foucaultschen Sinne mächtig machen. Im Schulalltag sind die Elemente des rassistischen Diskurses somit stets in konkrete Interaktionen eingebunden, in die wiederum andere Fragen, wie beispielsweise die Motivationslage im Unterricht oder Konflikte im Klassenzimmer, einfließen.5 Verbunden hat sich der rassistische Diskurs aber ebenso mit der normativen Setzung der Einsprachigkeit der Institution ‚deutsche Schule‘, welche all jene Kinder und Jugendlichen, die zwei- oder mehrsprachig aufwachsen, zu ‚Anderen‘ werden lässt. Unter der hier anstehenden Fragestellung der Normalität der Bildungsbenachteiligung ist es unabdingbar, dass die Lehrerinnen und Lehrer ihre eigene Praxis im Hinblick auf mögliche Diskriminierungseffekte kritisch reflektieren. Dies betrifft die Auseinandersetzung mit organisatorisch-institutionellen Effekten, die möglicherweise unbeobachtet und akkumulierend z. B. bei der Zu5
So wurde in britischen, auch ethnographisch ausgerichteten Untersuchungen deutlich, dass die Bilder und Vorstellungen, welche Lehrkräfte von Schülern afrokaribischer Herkunft haben, die Art und Weise beeinflussen, in der Lehrkräfte Konflikte im schulischen Alltag handhaben. Afrokaribische Kinder und Jugendliche wurden überproportional häufig mit Sanktionen belegt und z. B. auch dann als Einzige bestraft, wenn mehrere Schüler verschiedener ethnischer Herkunft an einem Konflikt beteiligt waren. Im Ergebnis schlägt sich das in unterdurchschnittlichen Schulleistungen und in der überproportional hohen Zahl von Schulverweisen für diese Schüler und Schülerinnen nieder (vgl. zusammenfassend Gillborn 2006, 26ff.).
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rückstellung, Klassenwiederholung und/oder Übergangsentscheidung Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund benachteiligen (vgl. Gomolla/Radtke 2007). Parallel dazu geht es jedoch – auch vor dem Hintergrund der zuvor angesprochenen Wechselbeziehungen – um die alltäglichen Situationen, in denen Lehrkräfte auf kulturalisierende, ethnisierende und essenzialisierende Zuschreibungen oder auf rassistische Vorurteile und Interpretationsschemata zurückgreifen können. Es ließe sich sagen, dass sich in einem Schulsystem, das insgesamt der sprachlichkulturell-sozialen Heterogenität der Schülerschaft nicht gerecht wird und Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund strukturell benachteiligt, die rassistische Normalität eben gerade durch die Folgen alltäglicher, im Einzelnen womöglich kaum wahrgenommener Prozesse, die den organisatorisch-institutionellen Entscheidungen vorgelagert sind, herstellt. Solche zeigen sich beispielsweise in mangelnder Kooperation mit den Eltern (vgl. Hawighorst 2009) und einer geringen Transparenz der pädagogischen Arbeit, weil die Erwartungen gegenüber dem Kind nicht sehr hoch sind, weil man zuwenig auf die sprachlichen Disponiertheiten der Familie einzugehen bereit ist oder weil man nicht ausreichend Informationen über die Vielfalt des familiären Hintergrundes in Erfahrung gebracht hat. Vorab lässt sich nicht bestimmen, in welcher Weise sich z. B. durch Kulturalisierungen begründete Versäumnisse pädagogischen Handelns, rassistische Wir-sie-Unterscheidungen, mangelnde Würdigung der Mehrsprachigkeit, eine Vernachlässigung der Elternbeteiligung oder eine diskriminierende Praxis bei der Leistungsbeurteilung auf die Schüleridentität und die Lernerfolge einzelner Kinder und Jugendlicher auswirken. Sich mit diskriminierenden Effekten und der Normalität des Rassismus im Alltäglichen auseinanderzusetzen, erfordert in den Schulen daher eine kontinuierliche Reflexion der Praxis, bei der nach dem jeweiligen Ineinandergreifen der individuellen Denk- und Handlungsweisen und der institutionellen Bedingungen ebenso gefragt wird, wie nach der eigenen Eingebundenheit und den Widersprüchen, die sich ergeben, wenn man in der Institution Schule tätig ist. Lehrkräfte müssen sich in diesem Zusammenhang sowohl mit ihren Bewältigungsstrategien auseinandersetzen als auch die gesellschaftlichen Verhältnisse in einer Weise ansprechen, die die schulischen und gesellschaftlichen Strukturen weder als etwas gänzlich Äußeres noch die handeln-
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den Akteure als vorurteilsbehaftete Einzelne oder lediglich selbst als Opfer des Systems Schule oder des dreigliedrigen Schulsystems versteht (vgl. Kalpaka 2009, 32ff.). Eine der ‚Arbeiten‘, die der rassistische Diskurs ‚leistet‘, besteht darin, dass er Vielfalt negiert, um Probleme ethnisieren und aus dem weiteren sozialen Kontext herauslösen zu können. Doch zeigt sich vielleicht gerade in der Schule deutlicher als im Rahmen anderer Institutionen die Heterogenität der Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund und damit die Vielfalt der Wechselwirkungen zwischen der sozialen Schicht, den familiären Bildungsressourcen, unterschiedlichen Sprachverhältnissen und diversen Religionspraxen. Vor diesem Hintergrund müssen Schule und Bildungssystem eine ‚Diskurs-Sensibilität‘ entwickeln, so dass sie in die Lage versetzt werden, in den internen Diskussionen, in der Schulentwicklungsarbeit und in der Außendarstellung die Lebens- und Lernbedingungen ihrer Kinder und Jugendlichen in einer nicht-diskriminierenden, nicht-ethnisierenden Weise zu beschreiben. In der Evaluation und der Reflexion der schulischen Prozesse müssen die Schulen jeweils klären, in welchen Bereichen die sprachlichkulturelle Herkunft ihrer Schüler und Schülerinnen bedeutsam ist und in welchen nicht. Charakteristischerweise werden in Bezug auf das Thema Sprache in Lehrerzimmergesprächen und Lehrerfortbildungen häufig Sätze wie „die deutschen Schüler sprechen auch kein richtiges Deutsch“ geäußert. Damit wird – beabsichtigt oder unbewusst – ein Unbehagen bezüglich der ethnisierenden Engführung gegenwärtigen Sprechens über Sprache zum Ausdruck gebracht. Gleichzeitig verweisen die Äußerungen auf die Erfahrungen der Lehrkräfte in Stadtteilen, die oft durch erhebliche soziale Benachteiligung gekennzeichnet sind. Es sind solche Alltagserfahrungen, Widersprüche und Dilemmata, die als Anknüpfungspunkte für diskurssensible und diskriminierungskritische Ansätze, für Reflexionsprozesse und für Maßnahmen innerhalb einer Schule dienen können.
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Bildungspolitische Normalität zwischen D o m i n a n z - u n d R e s s o u r c e n ve r h ä l t n i s s e n Seit das Bildungswesen auf Phänomene von Migration reagiert und die Auseinandersetzung – oft gleichzeitig – unter ausländerpädagogischen, interkulturellen, kritisch interkulturellen und antirassistischen und schließlich rassismuskritischen Perspektiven (vgl. Mecheril 2004; Scharathow/Leiprecht 2009) geführt wurde, ist die Thematisierung der Bildungsgerechtigkeit in der Migrationsgesellschaft von einem teilweise explizit gemachten, oft aber auch impliziten Spannungsverhältnis zwischen Fragen und geforderten Veränderungen auf der Ebene der Bedeutungen und solchen auf der Ebene der Strukturen gekennzeichnet. In der theoretischen Auseinandersetzung kann diese Spannung durch den zuvor genannten Diskursbegriff aufgehoben werden (vgl. Hall 2000, 8). Hinsichtlich des Abbaus der Bildungsbenachteiligung und der Normalität des Rassismus bleibt das Spannungsverhältnis jedoch insofern bedeutsam, als sämtliche strukturellen bildungspolitischen und schulischen Maßnahmen in ein von Dominanzverhältnissen bestimmtes gesellschaftliches Feld eingebunden sind. Daher kann bei allen Entwicklungsbereichen der Schule in der Migrationsgesellschaft wie Organisations- und Personalentwicklung, Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit, Curriculum, Didaktik und Materialien, Eltern- und Schülerpartizipation oder auch Leistungsmessung und Diagnostik (vgl. Krüger-Potratz 2005, 75) eine tendenziell differenzsensible, diskriminierungskritische und rassismuskritische Perspektive eingenommen werden, jedoch ebenso eine tendenziell differenz-unsensible, diskriminierende und rassistische. Aus dem Feld zwischen diesen Polen können Bemühungen zum Abbau struktureller Benachteiligungen von Schülern und Schülerinnen mit Migrationshintergrund unternommen, aber auch rassistisch konnotierte Bedeutungen abgerufen werden. Für die Reflexions- und Entwicklungsprozesse in Schule und Bildungspolitik ist es wichtig, um diese Pole zu wissen, um die jeweiligen Maßnahmen kritisch einschätzen zu können. Bildungspolitische Maßnahmen drohen dann innerhalb eines diskriminierenden Status quo zu verbleiben, wenn auf eine Auseinandersetzung mit der zugrunde liegenden ‚Normalität‘, den Prämissen und Dominanzverhältnissen verzichtet wird, oder aber,
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wenn man es bei allgemeinen Bildungsreformen versäumt, nach den Konsequenzen für benachteiligte Schülergruppen zu fragen. Zwei Beispiele mögen dies illustrieren:6 Seit 2007 wird bei allen Vierjährigen in Nordrhein-Westfalen der Sprachstandstest „Delfin 4“ (Fried 2007) durchgeführt. Kinder, bei denen ein sog. zusätzlicher Sprachförderbedarf festgestellt wird, erhalten eine Summe von 340,- €, die es der jeweiligen Kindertagesstätte ermöglicht, Personalstunden zur Förderung der deutschen Sprache einzukaufen. Die Fokussierung auf ein gemessenes ‚Defizit‘ orientiert sich an der Norm eines einsprachig aufwachsenden Kindes und suggeriert eine klar zu treffende Unterscheidung zwischen Förderbedürftigkeit und Nichtförderbedürftigkeit der deutschen Sprache.7 Letztlich blockiert die Maßnahme eine strukturelle Veränderung in den Kindertagesstätten. Denn statt eine integrative Sprachförderung im Sinne einer Sprachbildung für alle Kinder institutionell zu verankern, verbleibt sie in der Logik des Additiven, bei der die Zweisprachigkeit der Kinder ebenso wenig berücksichtigt wird wie die für eine strukturelle Veränderung erforderlichen personellen Ressourcen thematisiert werden. Statt sich auf die diagnostischen Kompetenzen der täglich mit den Kindern arbeitenden Pädagoginnen zu verlassen, entwickelte man unter Vorverlegung der Schulpflicht ein aufwendiges Verfahren, das wenige Ressourcen bereitstellt und welches vor allem – dies ist im hier zur Debatte stehenden Kontext von Bedeutung – die Einsprachigkeit als Normalität festschreibt. Zwar werden sowohl die ein- als auch die zweisprachig aufwachsenden Kinder getestet, doch bleibt die Erstsprache der Kinder, die auf dem Weg sind, in ihre Zweisprachigkeit ‚hineinzuwachsen‘, gänzlich unberücksichtigt.8 6
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Die angeführten Beispiele stammen aus Nordrhein-Westfalen, wo ich in einer Grundschule im Ruhrgebiet tätig und als Mehrheitsangehöriger, Lehrer und stellvertretender Schulleiter in die Institution Schule eingebunden bin. Es wurde darauf hingewiesen, dass den Bildungsplänen der Bundesländer generell eine Vorstellung von ‚normaler‘ Sprachentwicklung zugrunde liegt, die sich tendenziell auf einsprachige Kinder bezieht, und dass eine klare Grenzziehung zwischen Förderbedürftigkeit und Nichtförderbedürftigkeit der deutschen Sprache nicht möglich ist (vgl. Reich 2008, 15ff.). Eine solche Vorgehensweise wird der Lebens- und Entwicklungswirklichkeit der zweisprachig aufwachsenden Kinder nicht gerecht.
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Gleichermaßen diskriminierende Nebeneffekte dieser Sprachstandstests sind verunsicherte, mit auf den Prüfstand ihrer zweisprachigen Erziehung einbestellte Eltern und die Verhängung von Bußgeldern gegen solche, die ihr Kind nicht zum Test bringen. Doch die bildungspolitische und damit die schulische Normalität selbst befindet sich in einem umfassenderen Wandel. Dabei muss es als Dilemma der Debatte um mehr Bildungsgerechtigkeit für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund angesehen werden, dass parallel mit den PISA-Studien auch die Politikvorstellungen des PISA-Initiators OECD verstärkt Einzug in die bundesdeutsche Bildungspolitik erhielten.9 So können in Nordrhein-Westfalen Eltern seit Oktober 2007 die Grundschule für ihr Kind frei wählen. Wie in anderen Staaten auch kommt der freien Elternwahl eine Schlüsselrolle bei den mit dem Paradigma des Marktes operierenden Bildungsreformen zu, da hierin die Aspekte der Wahlfreiheit der Eltern und des Wettbewerbs zwischen den Schulen miteinander verknüpft und auf diese Weise „QuasiMärkte im Bildungswesen“ (Whitty 1997, 4) geschaffen werden. Die Bildungspolitik verschiebt so die Verantwortlichkeiten: Die Verantwortung für den Bildungserfolg überträgt man – zumindest symbolisch – auf die Eltern; sowohl auf jene der Mittelschicht, die sich als ‚Kunden’ angesprochen fühlen, als auch auf die anderen, die nicht über die Ressourcen verfügen, um solche Möglichkeiten zu nutzen. Der einzelnen Schule fällt hingegen die Verantwortung
9
Darüber hinaus vergibt der Test durch dieses Übergehen der Erstsprachen die Möglichkeit, Sprachentwicklungsverzögerungen und Kommunikationsbeeinträchtigungen etc. festzustellen – eine Funktion, mit der man die Durchführung des Tests bei den einsprachig aufwachsenden Kindern gerade begründet. Unterschiedlich akzentuiert und den jeweiligen nationalen Kontexten angepasst, umfasst die Umstellung auf eine an marktwirtschaftlichen Prinzipien orientierte Bildungspolitik gewöhnlich ein Paket von Elementen: Wettbewerb, Wahlfreiheit, Dezentralisierung, Management-Orientierung und sog. Performativität, also eine Zentralisierung der Entscheidungen zum Curriculum und zur Ergebniskontrolle, das ‚objektive‘ Messen von Qualitätsstandards und eine Steuerungsstrategie, die insgesamt verstärkt mit Beurteilungen, Vergleichen, Belohnungen und Sanktionen der Institutionen operiert (vgl. Ball 2006, 143f.).
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für eine dem Prinzip der Chancengleichheit verpflichteten und qualitativ guten Bildung zu. Bei der Schulwahlentscheidung steht der Rassismus als eine „flexible symbolische Ressource“ im von Karin Scherschel (2006) herausgearbeiteten Sinne zur Verfügung, wenn Eltern das neue Angebot der Bildungspolitik nutzen und auf die rassistische binäre Teilung als Interpretationsrahmen zurückgreifen, um die soziale Welt ‚Schule‘, in die ihr Kind eintreten soll, für sich zu strukturieren. Aus dem Feld rassistischen Wissens können sie dabei Elemente abrufen, die soziale Aspekte ethnisieren, die wahrgenommene Vielfalt der Kinder im Stadtteil in eine hierarchische Ordnung bringen und die Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu den ‚Anderen‘ machen, mit denen das eigene Kind nicht in eine Klasse gehen soll. Es zeigt sich, dass Ungleichheitsstrukturen tendenziell verfestigt werden, wenn bildungspolitisches Handeln zusätzliche Diskriminierungen entweder wissentlich in Kauf nimmt oder zumindest die Konsequenzen einer Reform nicht entsprechend antizipiert.10 Eltern können bei solchen Wahlentscheidungen auf politisch-mediale Diskurse rekurrieren, die einen negativen Einfluss des Anteils von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund auf den Leistungsstand der jeweiligen Schule immer wieder hervorheben. Möglich wird ein derartiger Rückgriff auf die symbolische Ressource Rassismus, indem man andere Aspekte der Lebens- und Lernbedingungen in unterschiedlichen Stadtteilen ausblendet. Zwar weisen Schülerinnen und Schüler in Schulen mit einem hohen Anteil an Jugendlichen mit Migrationshintergrund einen Leistungsrückstand gegenüber Schulen mit einer anderen Schülerzusammensetzung auf, berücksichtigt man jedoch den Umstand, dass in solchen Schulen die gesamte Schülerschaft im Hinblick auf andere relevante Faktoren wie die sozioökonomische Lage und allgemeine Grundfähigkeiten über weniger günstige Eingangsvoraussetzungen verfügt, so verschwindet der Effekt des Anteils an Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Das heißt
10 Internationale Untersuchungen zeigten seit langem, dass die Elemente marktwirtschaftlich ausgerichteter Bildungsreformen existierende Ungleichheiten und eine Segregation entlang der sozialen Schicht und der ethnischen Herkunft verschärfen (vgl. zusammenfassend Whitty 1997).
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„die verschiedenen Aspekte der Benachteiligung in Schulen sind [...] in einem Maße konfundiert, dass sich ihre Effekte kaum voneinander trennen lassen“ (Walter/Stanat 2008, 87).11 Die Schulen sehen sich in dieser Situation mit den politischmedialen Diskursen konfrontiert, müssen sich aber auch selbstkritisch fragen, inwiefern sie zumindest teilweise selbst an der Schaffung dieser Diskurse beteiligt waren. Denn im Bemühen um Ressourcen haben es die vom „monolingualen Habitus“ (Gogolin 1994, 41ff.) geprägten Schulen in den vergangenen Jahren oft versäumt, in ihren öffentlichen Darstellungen die Komplexität der Lebens- und Lernbedingungen ihrer Schülerschaft angemessen zu artikulieren und stattdessen selbst auf eine verkürzte und ethnisierte Darstellung zurückgegriffen. Der Begriff ‚Schule im sozialen Brennpunkt‘ wird in Alltags- wie in Lehrergesprächen häufig als Synonym für ‚Schule mit einer hohen Zahl von Kindern mit Migrationshintergrund‘ benutzt – und nicht selten darauf reduziert. Dies kann als Eingebundenheit der Schulen in dominante Diskurse verstanden werden, weist jedoch ebenso auf den Umstand hin, dass viele Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund unter schwierigen sozioökonomischen Bedingungen aufwachsen. So sind beispielsweise in Nordrhein-Westfalen 32,1% der Personen mit Migrationshintergrund einkommensarm, während dies nur auf 8,9% der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund zutrifft (Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW 2007, 290). Der Anteil der Erwerbslosen ist in NRW bei den Personen mit Migrationshintergrund (19%) mehr als doppelt so hoch wie bei jenen ohne Migrationshintergrund (8,2%) (ebd., 297). Ein rassismuskritischer Blick auf die Normalität der Bildungsbenachteiligung muss diese strukturellen Benachteiligungen mit in den Blick nehmen.
11 Die Untersuchungen beziehen sich nicht auf Grund-, sondern auf Sekundarschulen, da hier Daten aus PISA 2000 und PISA-E 2003 ausgewertet wurden. Im Fokus stand die Frage, inwiefern die Zusammensetzung der Schülerschaft einen eigenständigen Effekt auf die Leseleistungen hat (siehe Stanat 2006; Walter/Stanat 2008).
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S c h u l i s c h e r Al l t a g z w i s c h e n I n t e r s e k t i o n a l i t ä t u n d R e s s o u r c e n ve r t e i l u n g Abschließend soll nach Artikulationslinien gefragt werden, die dem Dilemma Rechnung tragen, einerseits Maßnahmen zur Überwindung der Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund verbindlich und damit flächendeckend einfordern zu müssen, dabei jedoch andererseits zu riskieren, Essentialisierungen zu reproduzieren und im Muster der rassistischen Logik, die auf dem Dualismus der Wir-sieUnterscheidung basiert, zu verbleiben (siehe auch Mecheril 2004, 204f.; Machold 2009). Die Aussagen eines Diskurses konstruieren ein Thema nicht nur in einer bestimmten Art und Weise, sondern begrenzen gleichzeitig andere Möglichkeiten, über dieses Thema zu sprechen (vgl. Hall 1994b, 150). Somit wäre zu fragen, welche diskursiven und handlungsbezogenen Räume sich eröffnen, wenn statt über die anderen Schüler und Schülerinnen anders über Schule und die Bedingungen schulischen Lehrens und Lernens gesprochen wird. Ich beschränke mich hier auf die Aspekte Intersektionalität und Ressourcenverteilung, die beide seit Beginn der Auseinandersetzungen um Migration und Schule, bei denen man die Analyseperspektive Rassismus zugrunde legte, bedeutsam waren. Die Überschneidung verschiedener Differenzlinien wie soziale Schicht, sprachlich-kulturelle Herkunft und Geschlecht beim Zustandekommen unterschiedlicher Schulleistungen ist eine Alltagserfahrung in den Schulen. Die Schülerin oder der Schüler betritt als je individuelle Persönlichkeit mit ihren bisherigen Lernerfahrungen und Lebensbedingungen die Schule und bildungspolitische Aussagen stellen mittlerweile die individuelle Förderung und die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler als Voraussetzungen pädagogischen Handelns weitaus stärker in den Mittelpunkt als dies noch vor einigen Jahren der Fall war. So fand in Nordrhein-Westfalen das Recht auf individuelle Förderung beispielsweise Eingang in das Schulgesetz (vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW 2007, Abschnitt 1/2, o. S.). Unter dem Blickwinkel Bildungsgerechtigkeit wird hingegen kritisch davor gewarnt, den Umgang mit Heterogenität auf einen „Blick auf das einzelne Kind“ und seinen individuellen Lernstand zu reduzieren (vgl. Fürstenau 2009, 61).
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„Schülerinnen und Schüler zeichnen sich nicht nur durch singuläre Persönlichkeiten, sondern auch durch soziale Zugehörigkeiten aus. Unterschiede in den Bildungsvoraussetzungen sind immer auch im sozialen Kontext zu verstehen, das heißt, die sozio-kulturellen Lebenslagen der Kinder und ihrer Familien sind als Bedingungsfaktor zu berücksichtigen“ (ebd.).
Folgt man also der Notwendigkeit „Verschiedenheit als individuelles und als strukturelles Merkmal wahrzunehmen und darauf bezogen adäquate Handlungsformen zu entwickeln“ (Leiprecht/Lutz 2005, 232, Hervorhebung im Original), so müssen Bildungspolitik und Schule klären, wie einerseits die individuelle Förderung der Kinder und Jugendlichen und andererseits eine strukturelle Stärkung der benachteiligten Gruppen sowie die verbindliche Verankerung entsprechender Maßnahmen aufeinander abgestimmt werden müssen, um eine größere Bildungsgerechtigkeit zu erlangen. Für den Aufbau eines pädagogischen Verhältnisses in der Schule und das Lernen ist es von grundlegender Bedeutung, die einzelne Schülerin und den einzelnen Schüler in den Mittelpunkt zu stellen. Als Lehrerin dabei den Gesichtspunkt der sprachlichkulturellen Differenz der Schülerin hervorzuheben, birgt in sich die Gefahr von Kulturalisierungen und statischen Zuschreibungen. Nicht minder negative Konsequenzen kann es jedoch haben, wenn differenzsensible Aspekte in der Schule weder unterrichtlich-didaktisch noch institutionell Berücksichtigung finden. Um den spannungsreichen und flexiblen Charakter dieses Feld für die Schule konzeptionell zu fassen, sollte man sich verdeutlichen, dass es sich bei Schulen um Orte handelt, an denen Differenzen konstruiert und soziale Identitäten nicht ‚aufgeprägt‘, sondern geschaffen, verhandelt und fortlaufend verändert werden. Dies bedeutet, dass die Differenzlinien (siehe z. B. Leiprecht/Lutz 2005) in der Schule jeweils neu verschränkt werden (können). Als nützlich erweist sich an dieser Stelle der im Kontext der Bilingualismusforschung unter diskriminierungskritischer Perspektive entworfene Rahmen von Jim Cummins (2006, 53ff.): Er erfasst die Haltungen und Praktiken der Lehrkräfte in ihrer Abhängigkeit von den gesamtgesellschaftlichen Machtbeziehungen zwischen benachteiligten Communities und den Institutionen der Mehrheitsgesellschaft und in ihrer Wechselwirkung zu den Strukturen
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des Bildungssystems. In diesem Spannungsfeld konzeptionalisiert Cummins die Mikrointeraktionen zwischen Lehrkräften und Schülerinnen als einen interpersonalen Raum, der sich aus diesen Zusammenhängen ergibt und in dem Wissen hervorgebracht und Identitäten ausgehandelt werden. Daraus wiederum resultiert eine Stärkung zwangsweise auferlegter oder aber eine Förderung kooperativer Machtbeziehungen. Richtet man im Anschluss daran den Fokus auf die Schülerinnen und Schüler, so können diese je nach inklusiver, diskriminierungskritischer oder hingegen auf Ausgrenzung und Assimilation setzender Ausrichtung schulischer Praktiken in ihren Schulleistungen und Identitäten gestärkt oder beeinträchtigt werden. Die Grundzüge dieser Konzeptionalisierung können auch auf die Frage der Intersektionalität bezogen werden und Schule wird dann als ein Ort sichtbar, an dem die Verschränkung der Differenzlinien eng mit den gesellschaftlichen Dominanzverhältnissen verbunden ist. Deutlich wird aber ebenfalls der dynamische Charakter der Verschränkungsprozesse, bei denen die Kategorien der sozialen Identitäten der Schüler und Schülerinnen weder als festgeschriebene Einheiten noch als soziale Konstruktionen zu verstehen sind, die vorab existieren und sich erst nachträglich verschränken. Stattdessen greifen sie so vollständig ineinander, dass sie einander gewissermaßen ‚Geschmack verleihen’ und Bedeutung geben (vgl. Archer 2003, 21). In ihrer Studie muslimischer Schüler in England spricht Louise Archer daher – in Anknüpfung an Halls Konzept der „New Ethnicities“ (1994c) – von „racialized masculinity“ (Archer 2003, 21). Gleichzeitig betont sie, dass Lehrkräfte ein wesentlicher Faktor bei der Identitätsproduktion der Schüler sind; sowohl hinsichtlich der Identitäten, die sich auf Ethnizität und Schichtzugehörigkeit beziehen, als auch in Bezug auf jene, die auf Maskulinität bezogen sind (vgl. ebd., 164). Die Perspektive der Intersektionalität kann m. E. dann zu einer Verschiebung rassistischer Normalität führen, wenn es den Schulen gelingt, sie bei ihren Reflexionen, Selbstevaluationen und Maßnahmen angemessen zu berücksichtigen, in ihrer Außendarstellung entsprechend zu artikulieren und auf diese Weise dichotomisierende Wir-sie-Unterscheidungen nicht nur zu vermeiden, sondern ihnen auch aktiv entgegenzutreten. Zu diesem Zweck müssen die Schulen und Kommunen jedoch in die Lage versetzt werden, benachteiligte Gruppen von Schülerinnen und Schülern
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gezielt zu unterstützen. Entsprechende Maßnahmen müssen über eine individuelle Förderung hinausgehen und dürfen eine ebenfalls zu leistende diskriminierungskritische Auseinandersetzung keineswegs ersetzen. Denn sowohl für den Schulbereich wie für die Elementarstufe ist jüngst zu Recht kritisiert worden, dass eine Förderung der Benachteiligten oder sogar strukturelle Veränderungen wie ein früherer Kita-Eintritt dann ein ‚Mehr vom Gleichen‘ bleiben, wenn nicht gleichzeitig eine explizite Auseinandersetzung mit vorhandenen Diskriminierungsmechanismen erfolge (vgl. Kalpaka 2009, 30; Wagner/Sulzer 2009, 221f.). Dies führt zur zweiten Argumentationslinie, mit der der Abbau der normalisierten Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund sinnvollerweise thematisiert werden muss: zur Frage der Ressourcenverteilung. Auch dabei kann es selbstverständlich nicht darum gehen, unter Verweis auf mangelnde Ressourcen vorhandene Diskriminierungseffekte, wie sie beispielsweise zentral an den Übergangsempfehlungen am Ende der Grundschulzeit aufgezeigt wurden (siehe z. B. Bos u. a. 2004, 211f.), zu rechtfertigen oder zu relativieren. Wenn man die Bildungsbenachteiligung zahlreicher Kinder und Jugendlicher mit Migrationshintergrund als eine mehrfache Benachteiligung begreift, bei der Aspekte der sprachlich-kulturellen Herkunft, der sozioökonomischen Situation und der Sozialisationsbedingungen in benachteiligten Stadtteilen eng miteinander verwoben sind (siehe Stanat 2006, 212f.), so wird das Ausmaß der Anstrengungen deutlich, die erforderlich sind, um hier zu einem tatsächlichen Abbau der Bildungsbenachteiligung zu kommen. Es liegt nahe, dass die bestehenden Unterschiede zwischen den Kommunen bis hin zu den zuweilen unterschiedlichen Bedingungen in den von Einwanderung geprägten Stadtteilen verschiedene Herangehensweisen und damit auch passgenauere, unterschiedliche Ressourcen erfordern. Aus rassismuskritischer Perspektive ließe sich fragen, mit welcher Entschlossenheit und entsprechend mit welchen Ressourcen die Mehrheitsgesellschaft bereit ist, den Benachteiligungen tatsächlich entgegenzutreten. Im Kontext der Critical Race Theory wurde die Frage nach dem politischen Willen, mit dem historisch die Mehrheitsangehörigen Maßnahmen zur Gleichberechtigung nur dann berücksichtigten, wenn es ihren eigenen Interessen entgegenkam, als Frage der Interessenkonvergenz bezeichnet (vgl. Taylor 2009, 5ff.). Birgit Rommelspacher
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thematisiert einen ähnlichen Aspekt in Bezug auf die Dominanzkultur, verweist jedoch darauf, dass diese als ein Geflecht von unterschiedlichen Machtdimensionen zu sehen ist, die in Wechselwirkung, aber durchaus auch in Widerspruch zueinander stehen können (vgl. 1995, 23).12 Meiner Auffassung nach ist dieser Aspekt für die Auseinandersetzung mit normalisierter Bildungsbenachteiligung deshalb von großer Relevanz, weil eine flächendeckende Umsetzung erfolgreicher Schulentwicklung in multikulturellen Stadtteilen nicht kostenneutral möglich sein wird. Strategien zur Überwindung institutioneller Diskriminierung in den unterschiedlichsten Bereichen wie Curriculum, Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit und Diagnostik oder auch organisatorische und didaktische Entwicklungen im Sinne einer durchgängigen Sprachförderung und einer Berücksichtigung der Bildungssprache (siehe Gogolin 2008a und 2008b) sind mittlerweile auch in Deutschland erprobt. Um die Bildungsbenachteiligung der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund wirksam abbauen zu können, ist es jedoch erforderlich, diese Erfahrungen in eine verbindlich umzusetzende Schulentwicklung aller Schulen und Schularten zu überführen. Als solche muss sie von den Lehrkräften angeeignet, weiterentwickelt und realisiert werden und es zeigt sich einmal mehr, dass Lehrerinnen und Lehrer in den gegenwärtigen Status quo rassistischer Normalität eingebunden und auch jene Akteure sind, die seine Überwindung mit herbeiführen müssen. Dies bedeutet, dass ihnen von der Bildungspolitik sowohl zeitliche Ressourcen zur Reflexion als auch zusätzliche Ressourcen für die Schulentwicklung bereitzustellen sind. 12 Rommelspachers Beschreibung, dass die patriarchale Herrschaft von der ökonomischen und der kulturellen gestützt wird, die daraus resultierende Geschlechterhierarchie aber durch das ökonomische Interesse an der Leistungskraft der Frauen gebrochen wird, lässt sich auf die gegenwärtige Situation im Feld von Migration und Bildung übertragen. So läuft seit der öffentlichen Diskussion um die PISA-Ergebnisse ein rassistisch konnotierter Subtext mit, der die deutsche Statistik durch ein Herausrechnen der Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund ‚verbessern‘ möchte. Diesem steht jedoch das ökonomische Interesse gegenüber, dass mehr Jugendliche – und damit auch solche mit Migrationshintergrund – höhere Bildungsabschlüsse erreichen.
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Wesentlich erscheint es daher, die Frage der Ressourcenausstattung nicht nur hinsichtlich der allgemeinen Unterfinanzierung von Bildung in Deutschland zu thematisieren, sondern aus rassismuskritischer Perspektive zu verdeutlichen, dass unterschiedliche Schülergruppen von der gegenwärtigen Ressourcenausstattung in unterschiedlichem Maße negativ betroffen sind. Diese Frage bei der Auseinandersetzung um rassistische Normalität und schulische Normalität expliziter anzusprechen, ermöglicht zudem einen Anschluss an die in den Bildungseinrichtungen relevanten Fragen. Im schulischen Alltag ist es häufig von erheblicher Bedeutung, ob beispielsweise Lehrerstunden für Teamteaching oder kleine Lerngruppen zur Verfügung stehen, ob Unterricht angemessen vertreten werden kann oder ausfällt, ob zusätzliche Zeit für förderdiagnostische Beobachtungen und entsprechende Planungen vorhanden ist, ob für Schüler und Schülerinnen, die Verhaltensauffälligkeiten zeigen, zusätzliches Personal zur Verfügung steht oder grundsätzlich sozialpädagogische Fachkräfte an der Schule tätig sind. Ebenso wichtig ist es, sich zu vergegenwärtigen, dass der gesamte Komplex sprachlicher Bildung, sei es in der Kindertagesstätte, der Grundschule oder im Fachunterricht der Sekundarstufen, zusätzliche, oder wie Hans Reich für den Elementarbereich jüngst formulierte, „geschützte Zeit [braucht], in der die Erzieherin sich nicht von den hundert Notwendigkeiten des Alltags ablenken lassen muss“ (2008, 93). Weder mehr Reflexionsprozesse noch mehr Ressourcen werden für sich allein die normalisierte Bildungsbenachteiligung überwinden. Vielmehr sind gemeinsame Anstrengungen in Schule und Bildungspolitik – und darüber hinaus – erforderlich, um diskriminierungskritische, diskurssensible und sprachenbewusste Perspektiven zusammenzuführen. Dies kann umso besser gelingen, wenn rassismuskritischen Ansätzen, bei denen der Auseinandersetzung mit Machtaspekten und Reflexionsprozessen ein zentraler Stellenwert zukommt, in Bildungspolitik und Schule eine größere Bedeutung zugemessen wird. Die für die Bildungspolitik Verantwortlichen sollten ebenso wie die Pädagoginnen und Pädagogen in den Schulen erkennen, dass sie rassismuskritische Perspektiven zugleich mit ihrer Schulpolitik, ihrer didaktischen Arbeit und ihren Schulentwicklungsprozessen fortentwickeln müssen, um zu einer anderen, der Migrationsgesellschaft angemessenen Normalität zu gelangen.
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Differe nz-Bildung. Zur Ins ze nie rung von Migrationsa ndere n im sc hulisc hen Kontext NADINE ROSE
Einleitung Nach der Reproduktion von Rassismus in der Schule zu fragen, ist aus meiner Sicht heute in Deutschland keineswegs eine Selbstverständlichkeit, aber es spricht einiges für diese Frage.1 So steht im 1
Dass dieses ‚ich’, das nachfolgend mehr oder minder offensichtlich spricht, von der Position einer ‚Weißen deutschen’ Mehrheitsangehörigen aus spricht, ist wohl auch in der – nur vermeintlich objektiven – Beschäftigung mit Thema und Beispielszene spürbar. Es ist ein Sprechen und Schreiben über, aber auch inmitten von Rassismus, das für mich mit einem Unbehagen verbunden ist: Soll, kann und darf ich als ‚Weiße deutsche’ Mehrheitsangehörige über Diskriminierungserfahrungen von ‚Schwarzen deutschen’ Minderheitsangehörigen schreiben und forschen? Es gibt den begründeten Verdacht, dass ich mir schreibend und forschend die im Mittelpunkt stehende Diskriminierungserfahrung eines Dominierten aneigne, sie enteigne, funktionalisiere und missverstehe – das kann ich leider nicht ausschließen, vielmehr mache ich mich dessen wahrscheinlich schuldig. Der einzige – und dabei keineswegs beruhigende – Grund, trotzdem zu schreiben und zu forschen, liegt in der Hoffnung, einer Ethik des Forschens zu genügen, die die Handlungs- und Artikulationsmöglichkeiten der beschriebenen Subjekte zu erhöhen, gesellschaftliche Benachteiligung zu thematisieren und an deren Über-
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Mittelpunkt dieses Artikels eine kurze Grundschulszene, in der ‚Differenzen’2 zwischen Schüler/inne/n wichtig (gemacht) werden, weshalb die Rassismusrelevanz3 dieser Szene nachfolgend analytisch rekonstruiert werden soll. Orientiert wird diese Analyse von einem Nachdenken, das sich in bildungstheoretischer Perspektive für Subjektwerdung und Subjektivierung im Rahmen von rassistischer Normalität in Deutschland interessiert. Als Ziel dieser Auseinandersetzung lässt sich deshalb angeben, Rassismus und Bildung so zusammen zu denken, dass sich über rassismusrelevante Bildungsprozesse sprechen lässt – eine ziemlich ungewöhnliche Kombination, wenn man bedenkt, dass bei Bildung, im Unterschied zu Rassismus, eigentlich davon ausgegangen wird, sie solle (möglich) sein (vgl. exemplarisch Klafki 1998, 239). Im Versuch dieser empirischen Annährung an solche rassismusrelevanten Bildungsprozesse in der Schule wird nicht nur die relative Unsichtbarkeit solcher Prozesse, sondern auch die Unsichtbarkeit von Diskriminierungserfahrungen rassistisch Dominierter deutlich. Nachfolgend soll zunächst eingekreist werden, was als Subjektivierung unter den Bedingungen von rassistischer Normalität verstanden werden kann. Anschießend wird das Verhältnis von Subjektivierung und Bildung umrissen. Anhand der Beispielszene „Arme Hirten“ lassen sich sowohl die Deutungen des Erzählen-
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windung zu arbeiten (vgl. Mecheril 1999, 234ff.) versucht. Eine gewisse Demut im und selbstreflexive Hinterfragung meines Schreibens scheint mir dafür hilfreich. Die Schreibweise, einige Begriffe in einfache Anführungszeichen zu setzen, dient als Hinweis darauf, dass ich deren Konstruktionscharakter hervorheben und mich von deren problematischen essentialisierenden Implikationen distanzieren möchte. Im Anschluss an Anja Weiß spreche ich vorzugsweise von „Rassismusrelevanz“ und „rassismusrelevanten“ Handlungen oder Äußerungen (vgl. Weiß 2001, 81) statt von „rassistischen“. Den Vorteil dieses Begriffes für konkretes Handeln sehe ich – wie sie – darin, dass er nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie letzterer an Intentionalität gekoppelt werden kann und damit dem oft als moralisierend empfundenen Unterton von „rassistisch“ ein Stück weit entgeht. Anja Weiß konzipiert „Rassismusrelevanz“ eher als Einladung, die „Relevanz einer Handlung für die Reproduktion von Rassismus“ gemeinsam zu untersuchen (ebd.), was mir für eine analytische Perspektive angemessener erscheint.
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den als auch die erzählte Situationen selbst analysieren. Abschließend wird auf der Basis dieser Rekonstruktion die subtile Ordnung skizziert, in deren Rahmen rassismusrelevantes Handeln in der Schule subjektivieren und bilden kann.
Subjekt und Rassismus: Subjektivierung unter d e n B e d i n g u n g e n vo n r a s s i s t i s c h e r N o r m a l i t ä t Wer – wie ich – im Rahmen eines Bandes zur Subjektivierung und Normalisierung in der Migrationsgesellschaft spricht bzw. schreibt, gibt damit implizit Rassismus als eine wirksame ‚Normalität’ zu verstehen. Dadurch wird Rassismus nicht nur in der Mitte der Gesellschaft verortet, sondern es wird auch auf eine Verhältnisbestimmung von Rassismus und Norm angespielt (vgl. Kalpaka/Räthzel 1990, 16f.). ‚Normalität’ verweist auf etwas Selbstverständliches, Alltägliches von dem hier die Rede sein wird, auf eine alltägliche Normalität des Rassismus, wie sie Rudolf Leiprechts Begriff des Alltagsrassismus benennt (vgl. Leiprecht 2001). Rassismus als ‚normal’ zu betrachten, deutet aber auch eine Perspektive an, die davon ausgeht, dass die Durchsetzung und Aufrechterhaltung von Normen und Normalitätsvorstellungen, die ordnend in das gesellschaftliche Miteinander der Menschen eingreifen, rassismusrelevant sind. Diesem Aspekt der Wirksamkeit von Rassismus möchte ich mich mit Hilfe des Begriffes Subjektivierung nun ausführlicher zuwenden. Poststrukturalistische TheoretikerInnen wie Judith Butler oder Michel Foucault verweisen darauf, dass Normen nicht nur das Handeln von Menschen regulieren, sondern auch das, was Menschen als ihre ‚Identität’ begreifen, maßgeblich bestimmen. Mit dem Begriff der Subjektivierung werden solche Praxen bezeichnet, in denen Individuen in ihrer Unterwerfung unter die gesellschaftlichen Normen überhaupt erst als ‚Subjekte’ konstituiert werden. In Weiterentwicklung von Althussers Verständnis einer gesellschaftlichen Anrufung des Individuums durch ideologische Staatsapparate (vgl. Althusser 1977) steht Subjektivierung für denjenigen Vorgang, in dem der oder die Einzelne in die herrschenden (diskursiven) Ordnungen der Gesellschaft eingepasst wird und in ihnen seine oder ihre Position als ‚Subjekt’ erhält.
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Es ist vor allem Foucault, der verdeutlicht, dass jegliches Sprechen als ‚Subjekt’ gerade voraussetze, eine Subjektposition innerhalb von Diskursen einzunehmen und damit zum „Untertan/ Subjekt“ in Machtbeziehungen und Diskursreglementierungen zu werden (Foucault 1986, 78). Er ist es auch, der die Kategorie des Subjekts – vormals Garant für Handlungsfähigkeit und Willensbegabung – direkt an solches Reguliert-Sein koppelt, so dass das Subjekt fortan (nur) als Subjekt in der Unterwerfung unter normierende Zwänge im Diskurs erscheint. Stärker als Foucault betont Judith Butler im Vorgang der Subjektivierung aber dessen paradoxe Machtwirkung, weil er das Subjekt sowohl ermögliche als auch reguliere (vgl. Butler 2001, 7f.). In Butlers Perspektive bedeutet diese Erkenntnis vor allem, dass „das Subjekt weder durch die Macht voll determiniert ist noch seinerseits die Macht determiniert (sondern immer beides zum Teil)“ (ebd., 22, Hervorhebung im Original). Deshalb liest sie die Wiederholung der Normen durch das Subjekt sowohl als Form der Anerkennung und Sedimentierung dieser Normen, als auch pozentiell als ein widerständiges, ein subversives Moment von Machtausübung. Vor dem Hintergrund solcher Vorstellungen von Subjektivierung liegt es nahe, Rassismus als Teil einer machtvollen symbolischen Ordnung zu verstehen, die sich anhand von Normen konkretisiert und dabei Subjekte formt, ermächtigt und reglementiert. Wenn wir, wie Stuart Hall es nahe legt, Rassismus als Diskurs, als Teil eines historisch spezifischen kulturellen Systems begreifen, in dem Dominierte wie Dominante sich selbst entwerfen und sozialen Sinn produzieren (vgl. Hall 2001, 13ff. und Hall 1994, 135), dann tragen die Subjekte Spuren dieser Ordnung. Das vorgeschlagene Verständnis einer Subjektivierung im Rassismus läuft folglich auf die leitende These hinaus, dass es unter den Bedingungen einer auch rassistisch strukturierten symbolischen Ordnung keine Subjekt-Werdung außerhalb des Rassismus geben kann, wohl aber unterschiedliche Verstrickungen (vgl. auch Eggers/Kilomba/Piesche/ Arndt 2005). Da Rassismus sich als Teil hegemonial wirksamer (Differenz-) Ordnungen erweist (vgl. Mecheril 2008, 2), als ein Klassifikationssystem, das Dominanz produziert und sichert, wird er aber vornehmlich für subaltern positionierte Subjekte, insbesondere in Diskriminierungserfahrungen, konkret und explizit. Ein Umstand, der Ruth Frankenberg dazu inspiriert hat, Privilegierung als das
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Hindurchgehen durch gläserne Türen zu beschreiben, die sich automatisch öffnen (vgl. Frankenberg 1996, 55). Auch wenn sich also jede Subjekt-Werdung im Rahmen von Rassismus lesen lassen kann, so werden in diesem System idealtypisch gesprochen diametral aufeinander bezogene Subjekt-Positionen erzeugt, die in ganz unterschiedlich eindringlicher Weise von dieser Ordnung betroffen sind: Rassismus produziert ‚Eigene’ und ‚Fremde’, ‚selbstverständlich Zugehörige’ und ‚weniger selbstverständlich Zugehörige’ gerade nicht als Gleichwertige.4 Aus rassismustheoretischer Perspektive ist es dabei unmittelbar entscheidend, diese Positionen und Selbst-Positionierungen nicht essentialisierend, sondern vielmehr als relational aufeinander bezogene zu verstehen, in denen Dominanzverhältnisse ihren Ausdruck finden. Paul Mecheril schlägt deshalb vor, die Anderen (in) dieser Ordnung als konstruierte ‚Andere’, als „Migrationsandere“ zu verstehen.5 Er sagt: „‚Migrationsandere’ sind Ausdruck einer gesellschaftlichen […] Relation. ‚Die Anderen’ stellen eine Konkretisierung politischer und kultureller Differenz- und Dominanzverhältnisse dar. ‚Migrationsandere’ ist also ein Wort, das zum Ausdruck bringt, dass es ‚Migranten’ und ‚Ausländerinnen’ und komplementär ‚Nicht-Migranten’ und ‚Nicht-Ausländerinnen’ nicht an sich, sondern nur als relationale Phänomene gibt“ (Mecheril 2004, 24, Hervorhebung im Original).
Das diskursive, also differenzierende und positionierende Wirken einer auch rassistisch strukturierten diskursiven Ordnung wird vor diesem Hintergrund folglich als eines verstehbar, das bestän4
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Dass die bedeutsamen Differenzlinien dabei subjektbezogen nicht allein unter Rassismus zu (er)fassen, sondern auch andere Differenzordnungen (Sexismus, Klassismus etc.) im Spiel sind, darauf hat bereits Birgit Rommelspacher (1995) mit ihrem Begriff der Dominanzkultur hingewiesen. Insbesondere Ansätze zu Intersektionalität (vgl. exemplarisch Lutz 2001) nehmen sich dieser Erkenntnis auch in empirischer Perspektive an (vgl. exemplarisch Gutiérrez-Rodríguez 1999). Eine solche Sprechweise hat zudem den Vorteil, dass sie sich vom symbolischen Standpunkt der ‚Anderen’ aus entwirft und somit symbolisch die Dominanzverhältnisse umkehrt, weil sie die Dominanten als Abweichung konstruiert.
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dig „(natio-ethno-kulturell) Andere“ (ebd., 19) in Abgrenzung von ‚Eigenen’ produziert – womit es vornehmlich zur Selbstvergewisserung der ‚Eigenen’ dient, wie Hall anmerkt (vgl. Hall 1999, 93). Vor dem Hintergrund dieser kurzen theoretischen Rahmung meines Vorhabens möchte ich nun empirisch genau jenen Einschreibungen nachforschen, die im Sinne solcher diskursiver Ordnungen einige Menschen zu Migrationsanderen machen bzw. werden lassen. Da mich diese Einschreibungen – wie angekündigt – aus bildungstheoretischer Perspektive interessieren, soll nachfolgend auch das zugrunde liegende Bildungsverständnis kurz umrissen werden.
Bildung, Rassismus und Subjekt(ivierung): Rassismusrelevante Bildungsprozesse? Im Unterschied zur ‚Normalität’, die ich gerade für Rassismus und Subjekt-Werdung im Rassismus herausgestellt habe, wird Bildung gern als etwas außergewöhnliches verstanden – jedenfalls dort, wo sie nicht schlicht mit formaler Bildung gleichgesetzt wird. Mit dem Bildungstheoretiker Winfried Marotzki lässt sich Bildung zunächst einmal als „Transformation grundlegender Welt- und Selbstverhältnisse“ (Marotzki 1990, 41ff.) verstehen. Bildung wird hier als umfassender Veränderungsprozess konzipiert, vor allem als Veränderung grundlegender Kategorien, sie müsste also deutlich über das Normale, also auch über bereits bestehende Positionierungen eines Subjekts hinausgehen. Aus diskurstheoretischer Perspektive lassen sich nun mindestens zwei Einwände gegen diese Fassung des Bildungsbegriffes vorbringen: Zum einen erweist sich Bildung hier als hochgradig subjektzentriert gedachter Prozess, d. h. sie „setzt ein Ich voraus, das sich bildet“ (Koller 1999, 147).6 Zum anderen lässt sich darauf hinweisen – und das ist eher mein Punkt im Anschluss an Butler und Foucault –, dass dieses Subjekt (der Bildung) erst in anhaltenden Prozessen der Subjektivierung zu einem Subjekt gemacht
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Hans-Christoph Koller setzt im Rückgriff auf Lyotads WiderstreitKonzept genau an diesem Punkt mit seiner diskurstheoretischen Reformulierung des Bildungsbegriffes an (vgl. ausführlich Koller 1999).
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wird. Dieser Hinweis akzentuiert zunächst, dass jedes Subjekt im Diskurs notwendig unabgeschlossen konstituiert wird. Eine machtanalytisch informierte diskurstheoretische Perspektive nötigt aber vor allem dazu, Subjekte als Träger und Trägerinnen eines gesellschaftlichen Zusammenhangs zu verstehen, der machtvoll und produktiv zugleich ist. Vor einem solchen diskurstheoretischen Hintergrund erweist es sich eher als unangemessen, Bildung als offenen oder gar selbst bestimmten Transformationsprozess eines Subjekts zu denken. Vielmehr liegt es in dieser Perspektive nahe, dass Bildung sich keineswegs klar von Prozessen der Subjektivierung/ Unterwerfung abgrenzen lässt, so die zweite leitende These. Bildung interessiert mich gerade dort, wo sie sich mit solchen paradox-machtvollen Prozessen der Subjektivierung verbindet. Dies impliziert, Bildung und Subjekte konsequent im Rahmen der gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Ermöglichung, insbesondere des Rassismus, zu betrachten. Diese Perspektive steht einer normativen Aufladung von Bildung als Zielbegriff eher entgegen, weil sie von der Verbindung von Bildungs- und Subjektivierungsprozessen im Rahmen einer auch rassistisch strukturierten Ordnung ausgeht, die machtvolle Unterscheidungspraxen und Normalitätsvorstellungen hervor bringt. Wenn es nun nachfolgend darum gehen soll, sich solchen rassismusrelevanten Bildungs- und Subjektivierungsprozessen empirisch anzunähern, so wird dabei einem alltäglich-beiläufigen und trivial erscheinenden Handlungsvollzug durch die Analyse besondere Beachtung geschenkt. Das Nachdenken über rassismusrelevante Bildungsprozesse ruht in der hier vorgeschlagenen Perspektive auf der Analyse rassismusrelevanter Alltagspraktiken auf. Die Beispielszene „Arme Hirten“ wird dabei einer wie durch ein Vergrößerungsglas exponierten Betrachtungsweise ausgesetzt, die auf die relative Unsichtbarkeit dessen verweist, was hier als rassismusrelevant thematisiert werden soll. Es gehört deshalb auch zum Ziel dieser empirischen Analyse, insbesondere die Subtilität rassismusrelevanter Bildungsprozesse herauszuarbeiten.
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R a s s i s m u s r e l e v a n t e Al l t a g s p r a k t i k e n – D i e B e i s p i e l s z e n e „ Ar m e H i r t e n “ Für eine empirische Annährung7 an rassismusrelevante Alltagspraktiken wären sicherlich verschiedene methodische Zugangsweisen denkbar, wie etwa ethnographische Beobachtungen (vgl. Youdell 2004), diskursanalytische Sprach- oder Dokumentenanalysen (vgl. Jäger 1991) sowie thematisch fokussierte Befragungen (vgl. Terkessidis 2004). Vor dem Hintergrund meines Interesses für Prozesse der Subjekt-Werdung und Bildung bietet ein biographisch orientierter Zugang allerdings den Vorteil, nicht nur die Eigenlogik der Befragten umfassend zu berücksichtigen, sondern auch Anhaltspunkte für den individuellen Umgang mit rassismusrelevanten Alltagspraktiken gewinnen zu können. Die damit vorgeschlagene Forschungsperspektive fokussiert also auf die biographischen Spuren rassismusrelevanter Alltagspraktiken. Es stellt sich die Frage, welche Einschreibungen im Sinne eines bildend und subjektivierend wirksamen Rassismus sich am Material biographischer Interviewtexte interpretativ erschließen und rekonstruieren lassen.
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Problematisch an einer solchen empirischen Annäherung ist sicherlich, dass sie sich einer identifizierenden Logik kaum vollständig entziehen kann, sondern sie eher begünstigt. Das ist nicht nur im Hinblick darauf bedenklich, weil damit eine ‚Objektivierung’ des Erzählten einhergeht, die ich als Form der Aneignung, Enteignung und des Missverständnisses von Diskriminierungserfahrungen Dominierter bereits eingangs problematisiert habe. Auch gebärdet sich eine solche empirische Analyse als Ort der Generierung von ‚Wahrheiten’ über die betrachteten Phänomene, wie Rassismus und Bildung, die mir ebenfalls schwierig erscheint. Sowohl Rassismus als auch Bildung scheinen sich einer identifizierenden Logik eher zu widersetzen, weshalb sie oft genug hinsichtlich ihrer ‚Objektivität’ und als Bezugspunkte für empirische Analysen angezweifelt werden (vgl. zu Rassismus: Schrödter 2007; zu Bildung: Schäfer 2007). Weil ich es keineswegs einfach finde, die Frage: „Wer entscheidet eigentlich darüber, dass oder ab wann etwas rassistisch oder rassismusrelevant oder eine bildende Erfahrung ist?“ zu beantworten, kann diese Analyse kaum mehr als eine Lesart, die (strategische) Modellierung eines Problems sein.
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Anhand eines kurzen Interview-Ausschnittes wird die Frage nach Diskriminierungs- und Positionierungserfahrungen aus der Perspektive eines rassistisch Dominierten konkret beleuchtet. Der Ausschnitt ist einem narrativ-biographischen Interviewtext entnommen, den ich unter dem Pseudonym Bayram Özdal* in meiner Promotion ausführlich diskutiere.8 Ausgewählt wurde daraus eine kurze Szene, die im institutionellen Kontext der Schule, genauer einer großstädtischen Grundschule, situiert ist. Es handelt sich um die Erzählung eines Krippenspiel-Arrangements, wie es in Bayrams* Grundschulklasse initiiert wurde. Das Besondere an diesem Krippenspiel ist nun, dass jene vier Kinder der Klasse, die als ‚Ausländer’ kenntlich gemacht werden, sich in diesem Arrangement in der Rolle der Hirten wieder finden und ihr Sprüchlein „Arme Hirten sind wir …“ rezitieren. Im Interviewtext klingt die erzählte und erlebte Sequenz, auf die ich fortan als sog. HirtenSzene zurückgreife, wie folgt: „Aber, aber (.) eins/ eins kann ich niemals vergessen, weil es war wirklich/ wir haben so´n Theaterstück gehabt. [ I: mmh] Krippenkind, also Krippenspiel. [ I: mmh] Und dann braucht man vier Hirten (.) drei Könige (.) das Kind (.) Mutter, Vater und vier Hirten waren natürlich/ türlich vier Ausländer! [ I: Ja-a] Und dieser eine Satz: „Arme Hirten sind wir.“ Das/ das habe ich immer noch nicht/ damals schon hab ich schon gedacht, also das kann doch nicht sein. Drei Könige, drei Deutsche. [I: leises lachen] Mutter, Vater, alles Deutsche. [I: leises lachen] Aber vier Hirten, waren vier Ausländer! [I: mmh] Ich fand die Lehrerin total nett, (*Frau S.) hieß sie. [I: mmh] Aber, das kann ich ihr niemals verzeihen, [I: mmh] das/ das geht nicht.“ (B 104 - 113)
Diese Szene gilt es nachfolgend auf zwei unterschiedlichen Ebenen der Inszenierung zu interpretieren und analysieren: Einerseits 8
Die Promotion soll im Jahr 2010 abgeschlossen und anschließend veröffentlicht werden. Durch die nachfolgend angewendete Markierung des Pseudonyms Bayram mit einem Sternchen (*) soll einer unhinterfragten Gleichsetzung des Interviewten mit der Figur Bayram* entgegen gearbeitet werden. Dem liegt die methodologische Annahme zugrunde, dass meine Aussagen sich nur auf den Text und das im Text inszenierte ‚ich’ beziehen können, nicht jedoch auf eine ‚reale Person’ hinter dem Text (vgl. ausführlich Rose 2004, 29ff., Mecheril 2003, 32ff., Koller 1993).
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soll die Ebene, wie im Interview von der Krippenspielszene erzählt wird, beleuchtet werden. Hierbei steht die Frage im Zentrum, wie die Szene im Interview selbst inszeniert wird und welchen Umgang mit der Krippenspielszene der Erzählende in seiner Darstellung zeigt. Anschließend wird darauf reflektiert, wovon hier erzählt wird, d. h. die Inszenierung des Krippenspiels selbst wird in rassismuskritischer Hinsicht befragt – wobei beide Ebenen selbstverständlich ineinander greifen und es sich eher um eine analytische Trennung handelt. Methodologisch gesprochen orientiert sich die erste Analyseebene eher an linguistisch-psychologisch orientierten Narrationsanalysen (vgl. grundlegend Schütze 1984, auch Rosenthal 2007), während die zweite Analyseebene eher an eine ethnographische Perspektive von Situationsanalysen anschließt, die eine Befremdung mit dem Selbstverständlichen voraussetzt (vgl. Geertz 1983; Hirschauer/Amann 1997).
N a r r a t i o n s a n a l yt i s c h e An a l ys e e b e n e : Skandalisierung einer Diskriminierung Die biographische Situation der Krippenspiel-Inszenierung in der Grundschule wird vom Erzähler in einer Weise eingeführt und kommentiert, die nicht nur ihre biographische Bedeutsamkeit hervorhebt („kann ich niemals vergessen“), sondern ebenso eine mit Unverständnis verbundene Negativbewertung des Dargestellten transportiert („das kann doch nicht sein“). Was hier präsentiert wird, erweist sich für Bayram* als unvergessliche und gleichzeitig unglaubliche Situation, ihre Darstellung trägt deutlich einen Zug von Empörung. Wenn wir das Gesagte genauer betrachten, erweist es sich zunächst als durchaus erstaunlich, mit wie wenigen Informationen hier die Skizzierung der Hirten-Szene gelingt. Diese Skizze funktioniert zunächst vor allem deshalb, weil die Reihung der Schlagworte „Theaterstück“ und „Krippenspiel“ aufgrund der starken kulturellen Verbreitung der zugehörenden Praxis in Deutschland ein relativ deutliches Bild erzeugt. In seiner Darstellung hebt der Erzähler dabei hervor, dass aus dem gesamten Rollenrepertoire gerade die Rollen der Hirten mit großer Selbstverständlichkeit („natürlich“) vollständig von den einzigen vier ‚anderen’ Kindern der Klasse („Ausländern“) besetzt werden, wodurch der Prozess
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der Rollenverteilung selbst nur vom Ergebnis her gezeigt wird. Die Charakterisierung der Hirten-Rollen wird dabei mit Hilfe des zentralen Satzes der Rolleninhaber vorgenommen: „Arme Hirten sind wir“. In seiner Reflexion auf diese Rollenverteilung macht der Erzähler deutlich, dass er bereits in der geschilderten Situation mit dieser Rollenverteilung nicht einverstanden war. Wie um das für ihn Unfassbare zu verdeutlichen, hebt er noch einmal hervor, dass alle anderen Rollen des Stückes von als ‚deutsch’ charakterisierten Schüler/inne/n besetzt wurden und damit offenbar nicht für die vier als ‚ausländisch’ markierten Schüler zur Verfügung standen. Erst im letzten Satz der Darstellung wird jedoch deutlich, dass diese Rolleneinteilung nicht das unbefriedigende Ergebnis einer kindlichen Verhandlung über die Rollenvergabe ist, sondern dass der Lehrerin hierfür eine moralische Verantwortung zugesprochen wird, wenn es heißt: „das kann ich ihr niemals verzeihen“. Gleichzeitig wird die moralische Verfehlung der Lehrerin explizit auf die Situation eingeschränkt, weil sie allgemein als „nett“ charakterisiert wird. In dieser Hirten-Szene wird dabei nicht nur eine erlebte Situation aus der Grundschulzeit erzählend ausgestaltet, sondern im Rahmen dieses Erzählens erfolgt auch eine Einordnung dieser Szene, die den Umgang Bayrams* mit der Situation verdeutlicht: Weil diese Szene als ein unvergessliches Erlebnis eingeführt wird, bei dem die Frage des Verzeihens eine gewichtige Rolle spielt – der Erzähler kann der Lehrerin dieses Krippenspiel-Arrangement gerade nicht verzeihen – erhält die gesamte Situation über den letzten Satz eine explizite moralische Aufladung. Was sich bereits in der Formulierung „das kann doch nicht sein“ andeutete, nämlich, dass es um etwas geht, das es eigentlich nicht geben kann, erhält dadurch eine weitere Ausformulierung: Es handelt sich um eine Szene, die es aus der Perspektive des Erzählenden eigentlich nicht geben sollte. Die gesamte Darstellung des Krippenspiel-Arrangements kann sich folglich als ausdrückliche Skandalisierung der gezeigten Praxis (doing) Krippenspiel-Arrangement in der Grundschule lesen lassen. Indem die Szene in dieser Weise erzählt wird, kann nicht nur auf die moralische Verfehlung der Lehrkraft, sondern auch auf eine diskriminierende Ungleichbehandlung in der Grundschulklasse aufmerksam gemacht werden: Die Zuweisung der Hirten-Rollen an diejenigen Schüler der Klasse, die als Migra-
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tionsandere klassifizierbar sind, wird hier als konkrete Diskriminierungserfahrung Bayrams* zu verstehen gegeben. Um diese Diskriminierungserfahrung als solche kenntlich machen zu können, wird dabei gerade ein Verständnis vorausgesetzt, das die in der Rollenvergabe gezeigte Ungleichbehandlung der ‚Ausländer’ in Abgrenzung zu den ‚Deutschen’ als problematisch einstuft. Damit bewegt sich dieser Hinweis auf eine konkrete Diskriminierungserfahrung allerdings selbst in einem stigmatisierenden Grunddilemma, auf das bereits Ulrike Hormel (2007) im Zusammenhang mit der Anti-Diskriminierungsgesetzgebung aufmerksam gemacht hat: So erfordert das Zur-Anerkennung-Bringen eines Diskriminierungstatbestandes gewissermaßen notwendig nationalisierende, ethnisierende oder kulturalisierende Selbstbeschreibungen der Diskriminierten, gegen die sich der Diskriminierungsschutz gerade wenden sollte (vgl. Hormel 2007, 233f.). Trotz dieses Grunddilemmas erweist sich der gezeigte Umgang mit der Diskriminierungserfahrung als in mehrfacher Hinsicht überaus bemerkenswert: a) nicht nur wird die Ungleichbehandlung als diskriminierend registriert, was angesichts eines Alters von etwa zehn Jahren nicht unbedingt selbstverständlich ist, b) wird sie retrospektiv ausdrücklich als Diskriminierungserfahrung präsentiert, die eine Anklage der Situation im Rahmen einer – wenn auch begrenzten – Öffentlichkeit ermöglicht und c) scheint ihr ein eher strukturell-institutionelles Diskriminierungsverständnis zugrunde zu liegen, weil der Lehrerin zwar die moralische Verantwortung für die Situation angelastet, aber offenbar nicht von einem intentionalen, also absichtsvoll diskriminierenden Handeln ausgegangen wird (vgl. theoretisierend: Feagin/Booher Feagin 1986, 28), da die freundliche Charakterisierung der Lehrerin dem widerspricht. Um die diskriminierende Wirkung dieser Szene zu verdeutlichen und sie als rassismusrelevante Alltagspraktik weiter zu konturieren, soll nachfolgend explizierend die durch das Krippenspiel-Arrangement entworfene Situation analysiert werden.
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S i t u a t i o n s a n a l yt i s c h e An a l ys e e b e n e : R e p r o d u k t i o n r a s s i s m u s r e l e va n t e r S t e r e o t yp e i m s c h u l i s c h e n K o n t e x t Mein Vorschlag ist nun, das vom Erzähler als Diskriminierungspraxis skandalisierte Krippenspiel-Arrangement als Alltagspraxis innerhalb der Schule explizit unter der Frage zu entfalten, was hier eigentlich Rassismusrelevantes passiert. Dabei werde ich mich allerdings auf drei zentrale Aspekte beschränken: a) die dominanten Differenzschemata bei der Inszenierung von ‚ausländisch’ markierten Schülern als „arme Hirten“ und b) die dieser Rollenvergabe zugrunde liegende Interpretation einer schauspielerischen Äquivalenz unter der Bedingung von c) organisationsspezifisch eingeschränkten Wahl- und Handlungsoptionen der Schüler/inne/n im Rahmen von Schule. Zu a) Es sind einige Kinder in dieser Klasse, denen die Rolle der „armen Hirten“ ziemlich selbstverständlich auf den Leib geschrieben scheint und angetragen wird. Aus der Entscheidung, Bayram* und die drei weiteren migrationsanderen Mitschüler die Rollen der Hirten spielen zu lassen, ergibt sich vermutlich auch die Konsequenz, sie einer größeren Öffentlichkeit wie z. B. anderen Mitschüler/inne/n, Eltern, anderen Lehrkräften, etc. später im Rahmen einer Schulaufführung als „arme Hirten“ zu präsentieren. Warum erscheint die Rolle der „armen Hirten“ als besonders passend für diese vier Schüler? Die Schüler bestätigen mit ihren Rollen bestehende und sich verändernde ethnisierte Bilder von Migrationsanderen – so meine These. Das verweist nicht nur darauf, dass dieser Rolleneinteilung ihre Wahrnehmung als Migrationsandere bereits vorausgeht, sondern dass diese Wahrnehmung als Migrationsandere nun öffentlichkeitswirksam re-inszeniert und somit weiter ausformuliert und gefestigt wird. Wenn man die Rolle der „armen Hirten“ als Bild und als Positionszuweisung innerhalb einer hierarchischen oder hierarchisierten Ordnung von natio-ethno-kulturell codierter Differenz versteht, so lassen sich drei interagierende Differenz-Schemata ausweisen, die im Bild der ‚Ausländer’ als „arme Hirten“ bemüht werden, und es lassen sich ebenso zwei zentrale Mechanismen der Herstellung und Inszenierung von Migrationsanderen zeigen. Dies soll etwas ausführlicher erklärt werden, indem wir uns näher
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mit dem Bild der „armen Hirten“ beschäftigen. Was ist das für ein Bild? Wie sehen sie gewöhnlich aus, diese „armen Hirten“? Insbesondere in der hierzulande verbreiteten christlichen Interpretation, die durch den Rahmen des Krippenspiels nahe gelegt wird, aber vielleicht auch im dadurch beeinflussten Alltagsverständnis, steht der Hirte als Symbol für den einfachen Menschen aus dem Volk – präziser müsste man wohl formulieren, den einfachen Mann. So weckt der Begriff Hirte hierzulande eher die Assoziation eines Mannes, weniger einer Frau, mit wettergegerbtem Gesicht, vielleicht mit funktionaler, einfacher, nicht eben modischer Kleidung. In Wikipedia werden Hirten beispielsweise als Menschen charakterisiert, die körperliche Arbeit verrichten, Nutztiere versorgen, sich im ländlichen Raum bewegen, einen nomadischen Lebensstil aufweisen können und deren Aufgabe es ist, ihr Vieh zu beschützen (vgl. Wikipedia 2009). Insbesondere im Rahmen der christlichen Interpretationen wird aufgrund ihres Tätigkeitsbereiches das gesellschaftliche Ansehen von Hirten als gering eingestuft: „Der Engel verkündet den Hirten, also einer prestigeschwachen sozialen Unterschicht, die Geburt des Herrn“ (EKD 2009a, Hervorhebung Nadine Rose). Wenn sich nun die vier einzigen ‚Ausländer’ der Klasse alle in der Rolle der Hirten wieder finden, werden sie im Rahmen der Inszenierung gerade zu prototypischen Hirten verallgemeinert: D. h. in der Rolle der Hirten werden sie als solche Vertreter einer armen Bevölkerungsschicht gezeigt, von denen oft angenommen wird, es mangele ihnen an Bildung ebenso wie an Besitz. Ungeachtet der Frage, ob in stereotypen Bildern von Hirten Einfachheit romantisiert oder als Rückständigkeit diffamiert wird, werden im Bild von den „armen Hirten“ zwei Differenz-Schemata bemüht, die mit dem der Auswahl zugrunde liegenden Schema der Differenz zwischen ‚Einheimischen’ und ‚fremden Anderen’ interagieren: So verbindet sich im Bild der Hirten ihre ‚natioethno-kulturelle Differenz’ mit den ihnen zugeschriebenen Polen ‚Rückständigkeit’ und ‚Unterschichtzugehörigkeit’ in einer Weise, die man als Naturalisierung des unterprivilegierten Status von Migrationsanderen verstehen kann, wie folgende Graphik zu illustrieren sucht.
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Abbildung 1
Im Rückgriff auf die miteinander harmonisch interagierenden Schemata der Differenz lässt sich also herausarbeiten, dass die betroffenen Schüler in ihren ohnehin stereotypen Rollen als „arme Hirten“ ein gängiges Stereotyp von ‚Anderen’, genauer von Migrationsanderen, reproduzieren: Sie werden in ihren Rollen explizit als ‚ärmer’ dargestellt und öffnen damit auch den Raum für solche rassistischen Imaginationen, die ‚Anderen’ generell weniger Bildung oder gar Kulturbegabung zusprechen. Die Re-Präsentation der migrationsanderen Schüler in der Rolle der „armen Hirten“ stärkt damit aus meiner Sicht die Selbstverständlichkeit, mit der abwertende Stereotype über die natio-ethno-kulturelle Differenz solcher ‚Anderen’ weiter wirksam sind und sein können. Im Aufrufen und Anwenden der drei Differenz-Schemata (Modernitäts-, Status- und natio-ethno-kulturelles Differenz-Schema) erfolgt aber nicht nur die Re-Präsentation der migrationsanderen Kinder gemäß bestehender rassismusrelevanter Sehgewohnheiten. Gerade weil sie hier unterschiedslos als „arme Hirten“ inszeniert werden, verwischt auch jede Notwendigkeit ihrer Differenzierung untereinander – es handelt sich ohnehin um die am wenigsten individualisierten Charaktere des Stückes. Insofern werden die Kinder in ihrer Inszenierung als Hirten nicht nur abgewertet, sondern auch als unterschiedslos oder wenig individualisiert zu verstehen gegeben, sie erscheinen nicht als Einzelne, sondern als undifferenzierte Gleiche. Die Repräsentation einzelner markierter Kinder als „arme Hirten“ buchstabiert somit die Posi-
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tionierung der betroffenen Kinder als Migrationsandere aus; sie bestätigt sie als ‚Andere’ innerhalb einer Gesellschaft mehrheitlich Sesshafter und Besitzender, indem sie sie als ‚Andere’ undifferenziert gleich erscheinen lässt und zudem ihren unterprivilegierten Status als ‚Andere’ normalisiert. Die in der Krippenspielinszenierung vollzogene (Re-)Konstruktion der Kinder als Migrationsandere vollzieht sich folglich ebenso über die zwei zentralen rassismusrelevanten Mechanismen Abwertung und egalisierende Gruppenkonstruktion. Man muss kein Kind sein, um die Rolle der Mutter Jesu, des Engels oder der Könige als prestigeträchtiger denn die der Hirten einzustufen, auch wenn die christliche Logik des Stückes gerade nahe legt, dass für Gott niemand zu gering ist, weshalb gerade den Hirten als Ersten die frohe Botschaft verkündet wird (vgl. EKD 2009a). Zu b) Folgt man dieser rassismuskritischen Analyse so fällt noch eine weitere Normalisierung in dieser Situation auf, weil die Lehrerin mehr tut als lediglich den als ‚ausländisch’ identifizierbaren Teil ihrer Schüler/innen in besonders passend erscheinenden Rollen zu (re-)präsentieren. Der Akt der Rollenverteilung ist dabei nicht nur als Zuweisung bestimmter Positionen innerhalb des Stückes zu verstehen, ihm liegt bereits eine Interpretation des Stückes selbst zugrunde, die einer kurzen weiteren Reflexion bedarf: Weil das Repertoire an Rollen im Krippenspiel bereits vorgegeben und damit festgelegt ist, stellt die Vergabe der Rollen auch einen Akt der Interpretation dar, in dem zwischen der historischen Person, die verkörpert werden soll, und der sie bekleidenden Person eine schauspielerische Äquivalenz nahe gelegt wird – so die These. Stünde eine möglichst naturalistische Wiedergabe der Szenerie an der Krippe Jesu im Vordergrund, so müssten wohl alle Kinder optisch eher aussehen wie die „armen Hirten“, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass sich die Szene vor ungefähr 2000 Jahren im heutigen Gebiet des Staates Israel zugetragen hat. Zum damaligen Zeitpunkt gab es allerdings (noch) keine Unterscheidungskriterien, die insbesondere die Hautfarbe als Markierungspunkt behaupteter rassischer Differenz nutzen konnte. So wurden explizite (als wissenschaftlich erachtete) Rassentheorien vor allem im 19. Jahrhundert formuliert, wie bspw. Arthur de Gobineaus Werk Die Ungleichheit der Menschenrassen von 1853. Ohne die rassismustheoretisch überaus defizile Frage nach dem kulturhistorischen Beginn rassistischer Unterscheidungen hier beantworten zu wollen, lässt
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sich vermuten, dass der Urszene des Krippenspiels noch kein natio-ethno-kulturelles Differenzschema zugrunde lag, wie es heute verfügbar ist. So führt Karin Priester in ihrer Sozialgeschichte des Rassismus (2003) zur Antike gerade aus: „Ein Grund, warum sich nicht schon in der Antike das Bild des Schwarzen als Sklave ausprägte, lag an der multiethnischen Zusammensetzung der römischen Sklavenscharen. Da stand ein blonder, blauäugiger Gote neben einem Syrer auf dem Feld, ein dunkelhaariger Grieche neben einem rothaarigen Britannier. Die Hierarchisierung erfolgte noch ‚farbenblind’ je nach Sieg, Eroberung und anschließender Versklavung der Gefangenen “ (Priester 2003, 23).
Ein keineswegs „farbenblindes“ natio-ethno-kulturelles Schema der Differenz wird erst in den nachfolgenden Übersetzungen wirksam, beispielsweise in der heutigen Adaption der Krippenspiel-Szene in einen, sagen wir mal westfälischen oder bayrischen Kontext: Wenn plötzlich alle Kinder bis auf die Hirten ‚Weiß’ sind, dann findet darin eine dominante Setzung von ‚Weiß-Sein’ als Normalität ihren Ausdruck, die auf einer historischen Konstruktion aufruht, einer Mystifizierung von ‚Weiß-Sein’ als Berufen-Sein, als Gut-Sein, als Modern-Sein, als Gottesgleich-Sein etc. (vgl. Arndt 2005, 27f.; auch Hall 1994, 135f.). Gerade die heutige Interpretation der Szene unter Rückgriff auf natio-ethno-kuturelle Differenz-Konstruktionen setzt dabei aber mindestens zwei Verschiebungen ins Werk, auf die ich kurz abschließend hinweisen möchte. Nicht nur erscheint in der hier gewählten Kippenspielinterpretation die Familie Jesu insgesamt, sichtbar über Josef und Maria, aus Sicht der Dominanten oder Mehrheitsdeutschen als solche wie ‚wir’. Auch wird die im Stück angelegte Rolle vom „guten Mohren“ – wie sie im Bild der „Weisen oder Heiligen aus dem Morgenland“ durchaus angelegt ist (vgl. EKD 2009b) – in dieser Re-Interpretation des Stückes durch die Rollenverteilung der Lehrerin vermutlich eher unsichtbar gemacht. Laut Peter Martins historischer Analyse zu AfrikanerBildern in Deutschland würde eine solche Unsichtbarkeit dem zunehmenden Verschwinden der Figur des „edlen Mohr“ im deutschsprachigen Raum ab dem 13. Jahrhundert entsprechen
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(Martin 2001; vgl. auch Arndt 2001).9 Der bloße Versuch, eine naturalistische Nähe zwischen der historischen Situation und der schulischen Krippenspiel-Inszenierung zu erzeugen, hätte also prinzipiell auch ganz andere Rollenverteilungen als ebenso plausibel erscheinen lassen. Unter den gegebenen Umständen spricht aber einiges für diese Interpretation – weil sie, so jedenfalls meine Deutung, heutige Seh- und Denkgewohnheiten hierzulande eher bestätigt und sich damit im Rahmen rassistischer Selbstverständlichkeiten bewegt. Zu c) Unter der Frage „Was passiert hier eigentlich Rassismusrelevantes?“ fällt aber schließlich auch auf, dass uns Informationen dazu fehlen, wie der in seinem Ergebnis überaus entscheidende Prozess der Rollenvergabe überhaupt ablief: Wir wissen nicht, ob die Lehrerin eine Rollen-Empfehlung für jeden Schüler und jede Schülerin ausgesprochen hat oder ob sie die Rollen direkt zugeteilt hat. Es erscheint aber aufgrund der Darstellung eher als unwahrscheinlich, dass alle Kinder selbst ihre Rollen aussuchen durften. Deutlich wird am Beispiel dieser Hirten-Szene, dass die betreffende Grundschule, aber auch die Institution Schule insgesamt, ein Kontext ist, in dem individuelle Wahl- und Handlungsmöglichkeiten insbesondere von Schüler/inne/n aufgrund organisatorischer Erfordernisse begrenzt werden (müssen) – selbst in Situationen, die relativ umfangreiche Eigenaktivität von Schüler/inne/n erfordern und dementsprechend zunächst als relativ offene Handlungsräume erscheinen (vgl. dazu auch die wunderbare, performative Analyse einer klasseninternen Auswahlsituation in Körper, Geschlecht und Inszenierung von Anja Tervooren 2001). Im schulischen Kontext obliegt der Lehrkraft nicht nur die Verantwortung für das Unterrichtsgeschehen, sondern oft auch die Entscheidungsgewalt – in diesem Fall vermutlich die, wer welche Rolle spielen sollte. Diese Besonderheit des schulischen Kontextes fällt vor allem dann auf, wenn man sich fragt, in welchem außerschulischen Kontext es vorstellbar wäre, in einem The-
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Gleichwohl ist auch die Figur des „edlen Mohr“ aus rassismustheoretischer Perspektive keineswegs unproblematisch, weil sie, wie Hall sagen würde, in der stereotypen Spaltung der ‚Anderen’ (edel vs. bedrohlich) verbleibt – wobei beide dominanten Repräsentationsformen der ‚Anderen’ diese beständig verfehlen (vgl. Hall 1994, 155ff.).
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aterstück eine Rolle zu spielen, die man – wie Bayram* – nicht mag oder bekleiden möchte. Wäre es unter anderen Bedingungen und in einem anderen Kontext nicht leichter vorstellbar, dem Unbehangen, eine Rolle verkörpern zu sollen, in der man sich explizit nicht wohl fühlt, Ausdruck zu verleihen? Verbindet man nun dieses letzte Argument, das die Organisation Schule als einen in besonderer Weise durch institutionell legitimierten Zwang strukturierten Raum ausweist, mit den beiden vorhergehenden Argumenten, so drängt sich folgende Überlegung auf: Im Rahmen von Schule werden nicht nur rassistische Stereotype von Migrationsanderen (re-)produziert, sondern einzelne Individuen werden durch schulisch legitimierbaren Zwang entlang dieser Stereotype auch insofern gebildet, als ihre Identifizierung mit diesen Stereotypen für sie selbst ebenso wie für andere nahe gelegt wird. Vor dem Hintergrund dieser ausführlichen Analyse der beschriebenen Situation kann ich Bayrams* Bilanzierung der Hirten-Szene nur zustimmen: „Das geht nicht!“
Eine subtile Ordnung: S u b j e k t i vi e r u n g , B i l d u n g u n d R a s s i s m u s Ausgangspunkt dieser Analyse war die Frage nach der Reproduktion von Rassismus in der Schule und das Interesse an Prozessen der Subjektivierung und Subjekt-Werdung im Rahmen von rassistischer Normalität in Deutschland. Unter der leitenden Frage, wie Bildung, Subjektivierung und Rassismus im Hinblick auf die Konstitution von Subjekten zusammengedacht werden können, lassen sich auf der Basis der Szene „Arme Hirten“ nun abschließend einige Anhaltspunkte notieren. Bezogen auf rassismusrelevantes Alltagshandeln in der Schule fällt auf, dass in der Krippenspiel-Inszenierung performativ, also im Handlungsvollzug, im konkreten Agieren der Akteure, eine Ordnung hergestellt wird: 1. ist dies eine Ordnung, in der die Privilegierung der Mehrheitsangehörigen zu keinem Zeitpunkt in Frage steht, sondern vielmehr unterstrichen und untermauert wird: Offenbar steht kein ‚deutsches’ Kind angesichts der zur Verfügung stehenden Besetzungsoptionen in der Gefahr, sich in der Rolle eines „armen Hirten“ wieder zu finden. Von diesem Identifikationsangebot schei-
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nen Mehrheitsangehörige auf selbstverständliche Weise ausgeklammert. 2. ist dies eine Ordnung, in der die Dominanz von Mehrheitsangehörigen sich als institutionell abgesichert erweist, wenn die machtvollste Person in dieser Situation Mehrheitsangehörige ist und von ihrer qua Hierarchie gesicherten Macht Gebrauch machen kann: Die Lehrerin inszeniert nicht nur ihre Interpretation der Krippenspiel-Szene, sondern sie steuert auch die Rollenentwürfe und die Rollenverteilung. 3. ist dies eine Ordnung, in der die der Rollenvergabe zugrunde liegende Differenzierung der Schüler/innen nach natio-ethnokulturellen Kriterien sich ebenso wie die Interaktion der Differenzschemata als weitestgehend selbstverständlich erweist und offenbar schwer zu hinterfragen ist: Für die meisten Beteiligten wie Zuschauenden ergibt sich aus der Rollenbesetzung der Hirten vermutlich keine Irritation und es wäre vermutlich keineswegs einfach, ihnen den Diskriminierungsgehalt dieser Szenerie zu erläutern. 4. ist dies eine Ordnung, in der die Minderheitsangehörigen sowohl in ihrem Agieren auf der Bühne als auch in ihrer Artikulation von eigenen Wünschen eingeschränkt erscheinen: In ihren Rollen als „arme Hirten“ bestätigen die Kinder bestehende Stereotype und festigen das Bild ihrer ‚Einfältigkeit’ und auch Bayrams* innerer Widerspruch gegen die Rolleneinteilung bleibt offenbar ungehört, insofern er für die Situation selbst keine direkten Konsequenzen zu zeitigen scheint. Wenn diese erste Zusammenfassung Anhaltspunkte für die subjektivierenden Effekte der betrachteten Szene liefert, so bleibt nach einer darüber hinaus gehenden bildenden Wirkung der rassismusrelevanten Praktiken und Ordnungen zu fragen. Hier liegen einige Vermutungen nahe, die allerdings eher verdeutlichen, dass rassismusrelevante Bildungsprozesse für Minderheitsangehörige keineswegs erstrebenswert sein müssen: • Für die Minderheitsangehörigen, die diese Szene schauspielernd erleben, könnte sich als Bildungsherausforderung die Erfahrung erweisen, dass ihnen ihre Rolle deswegen auf den Leib geschrieben scheint, weil ihr Körper im Rahmen der sozialen Ordnung in einer Weise lesbar ist, die eine unvorteilhafte Positionierung nahe legt.
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Für Bayram*, der diese Szene explizit als diskriminierend erlebt, könnte diese Erfahrung zur konkreten Bildungsherausforderung im Sinne einer persönlich zu leistenden Bewältigung von Diskriminierungserfahrungen werden. Für diejenigen Mehrheitsangehörigen, denen diese Szene als Diskriminierungsszene erzählt und gezeigt wird, kann die herausgearbeitete Rassismusrelevanz dieser Szene zur Bildungsherausforderung im Sinne einer Sensibilisierung für rassismusrelevantes Alltagshandeln werden.
So hat diese Betrachtung durch das Vergrößerungsglas, wie ich die Analyse zu Beginn eingeführt habe, neben einer grundsätzlichen Sensibilisierung gegenüber der Frage „Was passiert hier eigentlich Rassismusrelevantes?“ aus meiner Sicht zwei wichtige Gewinne. Diese Gewinne weisen über Momente einer Reproduktion von Rassismus durch die Analyse selbst und eine Bestätigung der Sichtweise derjenigen hinaus, die von Rassismus profitieren: Zum einen wird die Sichtweise der negativ von Rassismus Betroffenen in Diskriminierungssituationen gestärkt. Zum anderen ermöglicht gerade der Hinweis auf die eher strukturelle Komponente von rassismusrelevantem Alltagshandeln einen Dialog, in dem es nicht um die Unterstellung rassistischer Intentionen einzelner Akteure, sondern um Rassismus als grundsätzliche Herausforderung für sozial Handelnde, insbesondere für Mehrheitsangehörige, gehen kann.
Literatur Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg Amesberger, Helga/Halbmayr, Brigitte (2008): Das Privileg der Unsichtbarkeit. Rassismus unter dem Blickwinkel von Weißsein und Dominanzkultur, Wien Arndt, Susan (2001): Afrikabilder. Studien zu Rassismus in Deutschland, Münster Arndt, Susan (2005): Weißsein. Die verkannte Strukturkategorie Europas und Deutschlands, in: Eggers, Maureen Maisha/Kilomba, Grada/Piesche, Peggy/Arndt, Susan (Hg.) (2005): My-
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Kritik und Stabilis ierung vo n Rassismus in der politis ch-historisc hen Bildung zum Nationalsozialis mus TOBIAS LINNEMANN
Einleitung Dieser Artikel betrachtet, wie in der Erinnerung an den Nationalsozialismus gegenwärtige Rassismen einerseits implizit kritisiert und andererseits stabilisiert werden. Dies geschieht anhand der Interpretation einer konkreten pädagogischen Situation. Aus den Überlegungen werden Schlüsse für die kritische Reflexion von erinnerungspädagogischen Angeboten im Kontext der postkolonialen und postnationalsozialistischen (Migrations-)Gesellschaft gezogen. Erinnerung ist, nach Astrid Messerschmidt, zu verstehen als diskursives Phänomen der Aneignung der Vergangenheit aus der Gegenwart heraus. Es geht um ein Erinnerungsverhältnis, „was weder nur Gegenwart noch authentische Vergangenheit ist, sondern etwas Drittes – erinnerte Vergangenheit“ (Messerschmidt 2003, 118). Die Betonung der Gegenwärtigkeit der Vergangenheit richtet sich in Anschluss an Walter Benjamin gegen die vorherrschende Idee der Abschließbarkeit von Geschichte. Erinnerung steht dabei immer in der Gefahr, vereinnahmt zu werden. Die Praxis der Erinnerung und die Praxis der Ent-Inne-
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TOBIAS LINNEMANN
rung1 ereignen sich im Rahmen von Herrschaftsinteressen. Als „Gefährliche Erinnerungen“ (vgl. ebd., 116 mit Bezug auf Johann Baptist Metz und Herbert Marcuse) können solche verstanden werden, die die Kontinuität von Herrschaft bedrohen. Die Migrationsgesellschaft, in der koloniale und nationalsozialistische Bilder und Machtverhältnisse nachwirken, ist der Kontext, in dem die Aneignung und Aushandlung von Erinnerung stattfindet: Erinnerung geschieht innerhalb von rassifizierten2 Dominanzverhältnissen. Die Migrationsgesellschaft und Lerngruppen in dieser Gesellschaft sind heterogen verfasst. Heterogenität ist hier relevant in Hinblick auf vielfältige familiäre Verstrickungen mit Geschichte und in Hinblick auf Geschichten, die in das kollektive Gedächtnis eingebracht werden. Etablierte Erinnerungspolitiken werden durch unterschiedliche Verhältnissetzungen und durch andere eingebrachte Erinnerungen irritiert. Erinnerungsverhältnisse sind dadurch gekennzeichnet, dass Mehrheits-Perspektiven auf Geschichte vorherrschend repräsentiert sind, während andere Perspektiven marginalisiert werden. Die Gesellschaft ist zudem dadurch gekennzeichnet, dass diese Verhältnisse Menschen entlang von Rassifizierungen positionieren:3 Menschen machen in dieser Gesellschaft alltägliche und 1
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3
Der Begriff der Ent-Innerung bezieht sich auf den Prozess, aktiv Aspekte (z. B. von unbequemen Erinnerungen) nicht zu erinnern, diese zu überdecken oder zu verleugnen. Der Begriff weist auf die Erinnerungen hin, die in der Konstruktion der Vergangenheit ausgeschlossen werden. Zum Begriff der Ent-Innerung vgl. Aikins 2008. Zum hier verwendeten Begriff von Rassismus vgl. in Bezug auf Rassismus als Herrschaftsverhältnis Miles 1999; in Bezug auf die (post-) kolonialen Muster von (Alltags-)Rassismus Kilomba 2008, 40ff. und in Bezug auf Rassismus als ideologischen Diskurs Hall 2000b. So schreibt Hall: „Wir alle haben einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit, eine spezifische Geschichte und Kultur, von denen aus wir schreiben und sprechen. Was wir sagen, steht immer ‚in einem Kontext’ und ist positioniert“ (1994b, 26). Diese Positionierung bezieht sich im Sinne einer Dezentrierung des Subjektes sowohl auf die Reaktion als auch auf die Aktion von Subjekten (vgl. Supik 2005, 14). Positionierung meint somit gleichermaßen Momente der Passivität, in denen innerhalb von Diskursen und durch diese Subjekte konstituiert werden. Gemeint sind auch Momente der Aktivität, in
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KRITIK UND STABILISIERUNG VON RASSISMUS
strukturelle Rassismus- und ‚othering‘-Erfahrungen, während Mehrheitsangehörigen wie mir das Privileg zukommt, keine Rassismuserfahrungen zu machen. Darüberhinaus zeigen sich in Erinnerungspraktiken aktuelle Auffassungen und Selbstverständnisse nationaler Identität. Unterschiedliche Konzepte natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit4 werden im Raum der Erinnerung verhandelt. Die gegenwärtige Anwesenheit von Menschen, die durch Ein- und Ausschließungsprozesse als Minderheiten konstruiert werden, bricht das hegemoniale Bild und Verständnis von Zugehörigkeit und stellt Sicherheiten der Mehrheit in Frage. Für politisch-historische Bildungsarbeit besteht die Herausforderung, die Verknüpfung von kollektivem nationalem Erinnern und Herkunft aufzubrechen. Sie steht vor der Aufgabe, dem vereinnahmenden Gebrauch von Erinnerung zur Markierung eines nationalen Kollektivs entgegen zu treten. Dieser Text verfolgt das Interesse aus herrschafts- und machtkritischer Perspektive für ‚bessere’ Erinnerungs-Verhältnisse einzutreten, ohne genau sagen zu können, wie diese aussehen. Zentral ist, die Dynamik der Macht in diesem spezifischen Kontext zu verstehen und Möglichkeiten von Veränderungen der Erinnerungs-Bedingungen und -Verhältnisse sichtbar zu machen (vgl. Grossberg 1999, 62). Der Fokus dieses Textes liegt auf dem Aspekt der Erinnerung in einem Kontext, in dem sich durch Rassismus unterschiedlich positionierte Subjekte bewegen. Vernachlässigt werden Überlegungen zu angemessener politisch-historischer Bildungsarbeit im Kontext der Migrationsgesellschaft, wie z. B. die Verknüpfung mit der Erinnerung an deutsche Kolonialverbrechen (vgl. Messerschmidt 2006; Ehmann 2006), eine interkulturellen Erinnerungsarbeit (vgl. Gryglewski 2006), eine Pädagogik der multiperspektivischen Beziehungsgeschichte (vgl. Akhanlı 2006; Kux 2006) oder die Erinnerung anderer Genozide und Menschenrechtsverletzungen (vgl. Brumlik 2004). Im Rahmen einer qualitativ empirischen Studie wurde untersucht, wie in pädagogischen Settings der Erinnerung an den Na-
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denen die konstituierten Subjekte aktiv mit ihren Positionen umgehen, aus diesen heraus handeln, schreiben und sprechen. Zum Begriff der natio-ethno-kulturellen (Mehrfach-)Zugehörigkeit vgl. Mecheril 2003.
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tionalsozialismus Verknüpfungen von Geschichte und Gegenwart kommunikativ hergestellt werden. Der Text stellt eine konkrete Seminarsituation an einem außerschulischen Bildungs- und Gedenkort dar, die von mir teilnehmend beobachtet, aufgezeichnet und analysiert wurde. Anhand von Interpretationen der Situation werden die Artikulation von Widerstand und die De-Thematisierung aktueller Rassismen als Momente der Politisierung und Entpolitisierung von Erinnerung herausgearbeitet. Abschließend sollen aus den Interpretationen Überlegungen für Bedingungen einer kritisch-reflexiven subjektorientierten Erinnerungsarbeit angeregt werden. Dabei steht die Reflexion von Positioniertheiten und Perspektiven im Mittelpunkt.
G e b r a u c h vo n E r i n n e r u n g Mit Astrid Messerschmidt und Rudolf Leiprecht ist sowohl ein Gebrauch von Erinnerung an Rassismen im Nationalsozialismus5 problematisch, der die Thematisierung von aktuellen Rassismen umgeht, als auch ein Gebrauch, um aktuellen Rassismen zu begegnen. Neben der Betonung der Erinnerung von kolonialer Geschichte hebt Messerschmidt hervor, dass die Beschäftigung mit den Geschichten von Rassismen nicht zum Vorwand werden darf, um der Auseinandersetzung mit aktuellen Rassismen auszuweichen (vgl. Messerschmidt 2003, 203). Andererseits stellt Leiprecht fest: „Wenn allerdings über Holocaust und Kolonialismus informiert wird, um damit alltäglichen Rassismen zu begegnen, dann handelt es sich […] um einen unnötigen Umweg: Ablehnung von Rassismen, soziale Empathie und Sensibilität [bei weiß positionierten Menschen,6 TL] gegenüber Rassismuserfahrungen lassen
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Zum Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus vgl. z. B. Messerschmidt 2006. ‚Schwarz’ und ‚weiß’ sind als politische Bezeichnungen für marginalisierte und privilegierte Positionierungen in einer rassifizierten Ordnung zu verstehen. Ich übernehme die Schreibweisen von ‚Schwarz’ und ‚weiß’ der Herausgeberinnen des Buches Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Beide Schreibweisen verweisen auf den Konstruktionscharakter der Kategorien (vgl. Eggers/Kilomba/Piesche/Arndt 2005, 13).
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KRITIK UND STABILISIERUNG VON RASSISMUS
sich vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen Realität ausreichend begründen“ (Leiprecht 2005, 107). Dies stellt ein Spannungsfeld dar, in dem pädagogische Vorhaben der Erinnerung eingelagert sind. So bedeutet eine durch Erinnerung legitimierte Nicht-Thematisierung von gegenwärtigen Rassismen, dass die Konstellation7 von Erinnerung zu der Seite der Gegenwart kippt (Messerschmidt 2003, 231). Das heißt, dass gegenwärtige Verhältnisse stabilisiert werden, indem Rassismus allein in der Vergangenheit verortet wird. Andererseits kann auch eine Thematisierung der Vergangenheit, um gegenwärtigen Rassismen zu begegnen, in anderer Weise ein Kippen zu der Seite der Gegenwart bedeuten: Erinnerung steht in der Gefahr, einzig für eine Kritik der Gegenwart instrumentalisiert zu werden. Leiprecht hält mit Verweis auf Matthias Heyl fest, dass Auseinandersetzungen von Jugendlichen mit der Vergangenheit „stumpf“ bleiben, wenn die Reflexion von aktuellen Diskriminierungsmechanismen, die den Jugendlichen „zum Teil selbst [vertraut]“ (Leiprecht 2005, 107) sind, fehlen. Er hebt hervor, „dass der kritische Blick zurück geradezu eine gegenwartsbezogene Basis [benötigt]“ (ebd.). Die Betonung liegt hier darauf, dass eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Nationalsozialismus zwar nicht notwendig ist, um gegenwärtige Rassismen zu problematisieren, dass aber in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eine gegenwartsbezogene Basis unausweichlich ist. Die gegenwartsbezogene Basis von Rassismus zielt hier vor allem auf die Reflexion von gegenwärtigen Diskriminierungsmechanismen. Messerschmidt plädiert für eine Sensibilität, wie Erinnerung „Stein des Anstoßes“ (Messerschmidt 2003, 228) für die Infragestellung aktueller gesellschaftlicher Verhältnisse werden könne. Bezogen auf die gegenwartsbezogene Basis von Rassismus kann das bedeuten, zu fra-
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Der Begriff der Konstellation verweist nach Walter Benjamin auf die Gegenwärtigkeit der Geschichte. Die Vergangenheit geht nicht in der Gegenwart auf, aber ist nur aus der Gegenwart heraus überhaupt zugänglich. Benjamins Geschichtsbild wendet sich mit der Betonung der Gegenwärtigkeit der Vergangenheit gegen die Vorstellung, dass Geschichte abschließbar sei. Es besteht jedoch stets die Gefahr der Vereinnahmung der Vergangenheit durch die Gegenwart, ein Kippen zur Seite der Gegenwart (vgl. Messerschmidt 2003, 116ff.).
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gen, wie im Gebrauch der Erinnerung gegenwärtige Verhältnisse von Rassismus kritisiert oder stabilisiert werden. Dieser Zusammenhang ist ein Hinweis auf die immer vorhandene innere Spannung der Erinnerung, die in ihrem stets vorhandenen stabilisierenden und kritischen Potenzial (u. a. bezogen auf Rassismus) besteht. Erinnerung enthält das Potenzial von politisierenden Effekten (d. h. der Kritik und Emanzipation) und von entpolitisierenden Effekten8 (d. h. der Stabilisierung und Unterwerfung, vgl. Messerschmidt 2006, 166). Der Text will rekonstruieren, welche Bedingungen in dem pädagogischen Setting für die beteiligten Akteur_innen geschaffen werden und welche Verknüpfungen von Gegenwart und Geschichte dabei ermöglicht oder verunmöglicht werden. Zentral ist, welche Effekte der Ent-Politisierung (Stabilisierung von Rassismen) und der Politisierung (Kritik von Rassismen) dabei in Erscheinung treten.
D i e V e r g e g e nw ä r t i g u n g d e r G e s c h i c h t e v o n Hans-Jürgen Massaquoi Zunächst soll der Rahmen der Untersuchung kurz vorgestellt werden: Ich habe an zwei unterschiedlichen Orten (ein Gedenkort, ein Ort der Jugendbegegnung) vier verschiedene Settings untersucht, in denen mit Jugendlichen verschiedene Aspekte des Nationalsozialismus erinnert wurden. Das Geschehen habe ich teilnehmend beobachtet, an dem einen Ort mitgeschnitten und an dem anderen Ort protokolliert. In einer ethnographischen Einstellung wurde das erhobene Material interpretiert, geleitet von Clifford Geertz’ Frage „What the hell is going on here?“. Erkenntnisleitendes Interesse war die Frage, wie in diesen Settings Verknüpfungen von Gegenwart und Vergangenheit hergestellt werden. Für diesen Text habe ich eine Sequenz ausgewählt, in der Rassismus im Kontext des Nationalsozialismus zum Thema wird. Antisemitismus wird in dieser Sequenz nicht angesprochen. Die Situation, in der sich Jugendliche mit der Geschichte von Hans-Jür-
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Der gewählte Begriff Entpolitisierung kann hier irritierend sein, da Stabilisierung von Herrschaft auch als politisch-konservativ zu verstehen ist, also als Politisierung. Zur Polarisierung verwende ich jedoch den Begriff der Entpolitisierung.
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gen Massaquoi9 beschäftigen, ist eingebettet in einen Studientag in einer Gedenkstätte unter dem Titel „Widerstand“. Neben den Jugendlichen, dem pädagogischen Mitarbeiter und mir sind zwei Lehrerinnen in der Situation anwesend. An dem Studientag haben Jugendliche mit und ohne (potenzielle) Rassismuserfahrungen teilgenommen, während alle beteiligten Erwachsenen weiße Mehrheitsangehörige waren. Im Rahmen des Studientages werden verschiedene Formen von Widerstand im Nationalsozialismus thematisiert (z. B. die Rettung von jüdischen Menschen, der Kampf von Partisan_innen, der Aufstand im Warschauer Ghetto, die Edelweißpiraten und Swingkids10). In der konkreten Situation führt der mehrheitsangehörige pädagogische Mitarbeiter eine Methode, hier „Körperbild“ genannt, durch. In vier Kleingruppen werden auf einem großen Papier in Lebensgröße die Umrisse eines Menschen aufgemalt. An verschiedenen Stellen des Körperbildes sollen auf der Grundlage von Texten aus den Perspektiven der jeweiligen Personen11 Bezüge zu Aspekten ihrer „Lebensgeschichte“12 aufgeschrieben werden. Es lässt sich sagen, dass mit der Methode (Aneignungs-)Bedingungen für die Jugendlichen geschaffen werden, sich selbst in ein 9
Hans-Jürgen Massaquoi wurde 1926 in Hamburg als Kind einer weißen deutschen Krankenschwester und eines Schwarzen Diplomatensohnes des liberianischen Generalkonsuls geboren. Nach 1945 lebte er in Liberia und bis heute in den USA. Er hat seine Lebensgeschichte in den Büchern Neger, Neger, Schornsteinfeger! Meine Kindheit in Deutschland (im englischen Original Destined to Witness) und Hänschen klein ging allein ... Mein Weg in die Neue Welt veröffentlicht. 10 Edelweißpiraten ist die Bezeichnung für informelle Gruppen von unangepassten, teils oppositionellen Jugendlichen zur Zeit des NS. Swingkids oder Swingjugend bezieht sich auf eine oppositionelle Jugendkultur in großen deutschen Städten. 11 Neben Hans-Jürgen Massaquoi werden die Geschichten einer deutschen Jüdin (‚Inge’), eines (weißen und nicht-jüdischen) Edelweißpiraten und eines (weißen und nicht-jüdischen) Swingkids thematisiert. 12 Was hier von dem Mitarbeiter als Lebensgeschichte bezeichnet wird, bezieht sich auf den Lebensausschnitt der Zeit des Nationalsozialismus. Der Begriff Lebensgeschichte erscheint somit an dieser Stelle unscharf.
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Verhältnis zu dem Vergegenwärtigten zu setzen, d. h. zu Vergangenem, das kommunikativ gegenwärtig gemacht wird. Auf diese Weise wird die Komplexität der Geschichte des Nationalsozialismus (notwendigerweise) reduziert und so ein Lerngegenstand konstruiert. Dies geschieht in der Fokussierung auf die Biographien von Hans-Jürgen Massaquoi.13 Die biographische Sicht auf Geschichte konstruiert den Blick des Subjektes auf den komplexen Zusammenhang von gesellschaftlicher Struktur und Subjekt. Dies geschieht aus der Perspektive eines Subjektes, dessen Position aus Subjektivierungsprozessen hervor gegangenen ist.14 Die Fokussierung auf die Biographie von Massaquoi ermöglicht, den Aspekt der Verfolgung Schwarzer Menschen im Nationalsozialismus15 im Anschluss an seine Geschichte und Erfahrungsebene zu thematisieren. Dabei wird seine Lebensgeschichte auf den Ausschnitt der Verfolgung im Nationalsozialismus reduziert und essentialisiert. Es interessiert ausschließlich Hans-Jürgen Massaquois Erfahrungsebene als Verfolgter bzw. widerständig Handelnder im Nationalsozialismus, nicht sein Leben davor und danach oder z. B. seine Geschichte als Swingjugendlicher (vgl. Massaquoi 1999, 184ff.). Diese Aspekte werden in dem bereit gestellten Textausschnitt nicht angesprochen. Es wird über Massaquoi gesprochen, weil er aufgrund bestimmter (zugeschriebener) Merkmale verfolgt und diskriminiert wurde bzw. weil er aufgrund der Verfolgung „zum Widerstand verdammt gewesen“ ist, wie es der Mitarbeiter formuliert (Beobachtungsprotokoll m5sz4c/1). Eine spezifische Form der Subjektivierung wiederholt sich im vergegenwärtigenden Setting.
13 Die Kleingruppe hat mit Ausschnitten aus dem Buch Neger, Neger, Schornsteinfeger gearbeitet (Massaquoi 1999, 71ff.). 14 Für den u. a. in der Biographieforschung thematisierten subjektiven Blick auf den Zusammenhang von Gesellschaft und Subjekt vgl. Dausien/Alheit 2000. 15 Zu den Geschichten von anderen Schwarzen Menschen im Nationalsozialismus in Deutschland vgl. z. B. Okpara-Hofmann 2004; Lauré al-Samarai 2004; Fava 2007.
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KRITIK UND STABILISIERUNG VON RASSISMUS
Erfahrungen und Widerstand Im Folgenden wird betrachtet, wie Bedingungen geschaffen werden, die ein spezifisches Sprechen über Massaquois Erfahrung als Widerstand ermöglichen und wie durch die Jugendlichen eine Verknüpfung der Geschichte von Hans-Jürgen Massaquoi mit Widerstand hergestellt wird. Diese Verknüpfung wird anschließend unter der theoretischen Perspektive der Artikulation analysiert. Im Verlauf des Studientages wird der Begriff des ‚Widerstandes’ formiert, differenziert und geprägt. In der Überleitung zu der Kleingruppe, die sich mit der Geschichte von Hans-Jürgen Massaquoi beschäftigt hat, sagt der Mitarbeiter, dass die zwei bisher besprochenen Gruppen (Swingkids und Edelweißpiraten) trotz allem als zugehörig und arisch galten. „Für die Personen, die wir jetzt sehen, gilt das nicht“. Sie seien „zum Widerstand verdammt“ gewesen. „Ihnen bleibt nichts anderes übrig“ (m5sc4c/1). Mit dieser Aussage des Mitarbeiters wird Widerstand in Bezug auf marginale, verfolgte Positionen und in Bezug auf „als arisch geltend“ privilegierte Positionen unterschieden. Die Tatsache, nicht als zugehörig und arisch zu gelten, wird unzertrennlich mit Widerstand verknüpft. Dabei wird Widerstand auf den zwangsläufigen Effekt der Struktur reduziert. Wenn gesagt wird „sie seien zum Widerstand verdammt gewesen“, also quasi von der Struktur dazu determiniert,16 wird ein Begriff von Widerstand entworfen, der nicht der ‚Entscheidung’ des Subjektes unterliegt. Die Herstellung der Bedeutung „Massaquoi ist zum Widerstand verdammt“ stellt eine Bedingung für das weitere Sprechen in der Sequenz über Hans-Jürgen Massaquoi dar. Durch diese Bedingung nahe gelegt erzählen die Jugendlichen Massaquois Geschichte als Widerstandsgeschichte. In der Erzählung werden Diskriminierungsmechanismen zitiert und seine Widerstandserfahrung wird als spezifisch erzählt und erzeugt. Die Erzählung einer Widerstandsgeschichte ist in dieser Sequenz an-
16 Es besteht eine Spannung der Verständnisse von Widerstand als Struktureffekt und Widerstand als souveräne Subjektentscheidung. Angemessen erscheint es, diese Spannung aufrecht zu erhalten. Vgl. dazu die Diskussion um agency in den Cultural Studies (Mecheril 2006, 137ff.).
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gewiesen auf die Erzählung einer Diskriminierungsgeschichte. Die Diskriminierungserfahrungen, die Hans-Jürgen Massaquoi gemacht hat, werden beschrieben und wiederholt, um ihn als Repräsentant für eine Form der Widerständigkeit thematisieren zu können. So wird durch einen Jugendlichen erwähnt, dass er „von anderen gehänselt [wurde], zum Beispiel mit ‚N ... r, N ... r Schornsteinfeger'“ (m5sc4c/2) und dass er in die Hitlerjugend wollte, „aber [er] durfte nicht wegen seiner Hautfarbe“ (m5sc4c/ 3). In der Benennung der Diskriminierung geschieht eine Verschleierung der rassistischen Verhältnisse. Es wird ein kausaler Zusammenhang hergestellt zwischen dem nicht „rein dürfen“ und der Hautfarbe. Die rassistische Ordnung, die das Konstrukt Hautfarbe mit Privilegien und Ausschlüssen verknüpft, wird nicht thematisiert. Die Thematisierung der Geschichte von Massaquoi als Widerstandsgeschichte ist darauf angewiesen, auch seine Erfahrungen der rassistischen Diskriminierung zu thematisieren, wobei hier rassistische Verhältnisse unbewusst verschleiert werden. In der Erzählung der Widerstandsgeschichte wird auch die Spezifik der Widerstandserfahrung von Massaquoi als Schwarzem Deutschen erzählt. Das wird deutlich in der Formulierung eines Jugendlichen: „Er hatte auch mit Widerstand zu tun, bloß im anderen Sinne“ (m5sc4c/2). Betont wird in dieser Aussage der „andere Sinn“ des Widerstandes im Fall von Hans-Jürgen Massaquoi. Die Aussage verweigert sich einem dominanten Diskurs, der evtl. Hans-Jürgen Massaquois Verhalten (implizit) die Widerständigkeit absprechen würde. Das „anders“ grenzt Massaquois Widerstandserfahrung als Schwarzes Kind und Jugendlicher im nationalsozialistischen Deutschland ab von den zuvor vorgestellten Repräsentanten und deren Sinn von Widerstand. Massaquois Erfahrung wird als Widerstandserfahrung anerkannt und in Abgrenzung zu denen der Edelweißpiraten und Swingjugendlichen als „anders“ markiert. Darin wird zum einen die subjektivierende Konstruktion der ‚Anders-Heit’ wiederholt, zum anderen die Anders-Heit der Positioniertheit reflektiert. Dem Widerstandsbegriff in Bezug auf Hans-Jürgen Massaquoi wird in zwei Aussagen von Jugendlichen Bedeutung zugewiesen. So sagt ein Jugendlicher, das sei Widerstand gewesen, weil er die „Flucht nach vorne“ angetreten habe. Eine andere Jugendliche sagt, dass es Widerstand gewesen sei, dass er nicht flüchten woll-
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te, sondern die Dreistigkeit hatte, zur HJ [Hitlerjugend] zu gehen. Er sei dreist gewesen und hätte sich nicht versteckt. „Er steht zur Hautfarbe“ (m5sc4c/4). Widerstand erhält hier die Bedeutung, sich nicht zum ausgeschlossenen Objekt machen zu lassen, sondern als teilhabendes Subjekt zu handeln und selbstverständlich Handlungsfähigkeit zu behaupten und einzufordern. Es drückt den offensiven Umgang mit der zugeschriebenen Position aus, sich gegen diese Position zu wehren. Anhand dieser Sequenz wurde deutlich, dass unter einer spezifischen Bedingung, Massaquois Geschichte als (spezifische) Form von Widerstand erinnert wird. Diese herausgearbeitete Lesart des Geschehens wird im Folgenden aus der Perspektive der Artikulation theoretisiert. Mithilfe dieser theoretischen Perspektive lässt sich die politisierende Dimension dieser Erinnerungspraxis verdeutlichen.
Ar t i k u l a t i o n vo n R a s s i s m u s u n d W i d e r s t a n d Zunächst wird der Begriff der Artikulation kurz erläutert, um ihn dann auf die besprochene Sequenz zu beziehen. Artikulation meint in seiner Doppeldeutigkeit neben „Äußerung“ mit Hall gesprochen eine „nicht notwendige Verbindung“. Dabei handelt es sich um eine „Verbindung oder eine Verknüpfung, die nicht in allen Fällen notwendig als ein Gesetz oder Faktum des Lebens gegeben ist, aber die bestimmte Existenzbedingungen verlangt, um überhaupt aufzutreten“ (Hall 2004, 65). Artikulation bedeutet das Herstellen einer neuen Beziehung aus einer anderen Beziehung (vgl. Grossberg 1999, 65). Von Artikulation ist in der vorliegenden Sequenz zu sprechen, wenn die Biographie von Hans-Jürgen Massaquoi unter dem Titel und der Perspektive ‚Widerstand’ thematisiert wird. Die Handlungen von Massaquoi werden so als widerständige Handlungen gelesen. Hans-Jürgen Massaquoi selbst beschreibt sein Handeln nicht als Widerstand (zumindest nicht in der deutsch-sprachigen Übersetzung seines Buches Destined to witness). Erst durch die Thematisierung unter der Perspektive Widerstand (was in ‚Widerstand’ bejahender Weise geschieht) wird in diesem Kontext seine Geschichte zu einer Geschichte des Widerstandes. Es findet eine Artikulation von Massaquois Leben und Praktiken mit Widerstand statt: Seine Praktiken werden als wider-
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ständig re-artikuliert. An anderen möglichen Lesarten seiner Geschichte (Zuschreibung einer Opferperspektive, Naivität, Verhandeln von Zugehörigkeit)17 wird deutlich, dass die Verbindung der Rassismuserfahrung und Widerstand im weißen Dominanzdiskurs keine notwendige Verbindung ist, sondern eine, die unter den kontextuellen Bedingungen des Seminargeschehens existieren kann. Es wird somit eine nicht-notwendige Verknüpfung von (ideologischen) Elementen in einem politischen Diskurs (Rassismus und Widerstand) hergestellt. Diese Artikulation versetzt Hans-Jürgen Massaquoi in einen Diskurs jenseits eines dominanten Opferdiskurses. Durch Artikulation wird eine für den weißen Dominanzdiskurs neue bzw. marginale Beziehung hergestellt. Durch ein Nachdenken und Sprechen über Hans-Jürgen Massaquoi aus diesem von dem Mitarbeiter vorgegebenen Fokus wird sichtbar, was sonst aus weißer Perspektive nicht notwendigerweise sichtbar werden würde. Den Jugendlichen wird in der gegenwärtigen Situation der Begriff, das Konzept, der Diskurs ‚Widerstand’ zur Verfügung gestellt. Unter dieser Bedingung erzählen und denken sie die Lebenserfahrung von Massaquoi – anders als vermutlich hegemonial nahe gelegt – als ‚widerständig’. Es wird durch (pädagogische) Praxen eine Struktur geschaffen, die wiederum spezifische Praxen der Artikulation nahe legt und begünstigt. Die kontextuellen Bedingungen der Neu-Artikulation sind eingebettet in ein Gefüge aus historisch entstandenen diskursiven Verknüpfungen von Bedeutungsbeziehungen.18 Die hier entstan-
17 Diese anderen Lesarten sind vor allem aus weißer Perspektive plausibel. Hier wird deutlich, dass die Nicht-Notwendigkeit der Verknüpfung und die Hegemonialität eines Opferdiskurses vor allem aus weißer Mehrheitsperspektive bestehen. Es ist anzunehmen, dass aus Schwarzen/People of Color-Perspektiven das Unterfangen, Rassismus jenseits eines Opferdiskurses zu lesen, keine innovative Re-Artikulation ist. Wie Piesche schreibt, ist der Schwarzen Perspektive immer schon ein widerständiger Blick auf weiß-sein eingelagert ist (vgl. Piesche 2005, 14). Auf die Bedeutung von Positionierungen in der Vergegenwärtigung werde ich an späterer Stelle weiter eingehen. 18 Hier ließe sich – mit Grossberg gesprochen – eine Rekonstruktion von Artikulationsbeziehungen vornehmen (vgl. Grossberg 1999, 63),
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dene Bedeutungsbeziehung, Hans-Jürgen Massaquois Geschichte als widerständige Geschichte zu erzählen, ist zu lesen als artikulierende Bewegung in „the battleground of ideas“ (Hall/Roberts/ Critcher/Jefferson/Clarke 1978, X) – als Intervention in ein Feld, in dem Deutungen und Ideen umkämpft sind. Auf der Ebene der diskursiven Kämpfe um die Legitimität der Benennung und Deutung von bestimmten Praxen und Lebensgeschichten stehen unterschiedliche Widerstandsbegriffe und Deutungsmuster in Konkurrenz zueinander. Das Seminargeschehen ist eingebettet in ein Ringen um Begrifflichkeiten,19 und legt in diesem Ringen einen bestimmten Begriff von Widerstand nahe. Der Versuch, im weißen Dominanzdiskurs verdeckte deutsche Geschichte (von alltäglichem Widerstand aus der verfolgten Position eines Schwarzen Deutschen im Nationalsozialismus) zu entdecken ist als politisierter Akt im Ringen um hegemoniale Deutungen zu lesen. Erinnerungspraxis wirkt hier einer strukturellen Form von Ent-Innerung entgegen. Handeln und Sprechen im Kontext von Vergegenwärtigung kann verstanden werden als eine „Intervention bei der Entstehung von Kontexten und Macht“ (Grossberg 1999, 67). So ist auch die artikulierende Erzählung einer widerständigen Geschichte über Rassismus als Intervention bei der Entstehung eines Erinnerungskontextes zu lesen. Sie ist eine Intervention in den machtvoll gestalteten Erinnerungsdiskurs. Derartige diskursive Interventionen stehen in einem Zusammenhang mit der Verknüpfung mit sozialen Kräften. Um diesen Zusammenhang näher zu beleuchten werde ich im Folgenden einen weiteren Aspekt aus Halls Verständnis von Artikulation heranziehen.
die eine opferisierende Perspektive hegemonial werden ließen und lassen. 19 Auch innerhalb der Sequenz wird dieses Ringen deutlich: So ist der Einwurf der Lehrerin, von Hans-Jürgen Massaquois Erfahrung als „Missbilligung“ zu sprechen, Teil dieses Ringens. Diese Deutung lässt den Ausschluss undramatisch erscheinen und verharmlost so die Praxis der Diskriminierung und verschleiert und banalisiert die gewaltvolle Dimension.
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Ar t i k u l a t i o n e n u n d p o l i t i s c h e P o s i t i o n e n Artikulation meint neben dem bisher erläuterten Verständnis auch die Verbindung eines Diskurses mit sozialen Kräften, mit denen er unter passenden Bedingungen verbunden sein kann, aber nicht sein muss. Mit diesem Verständnis von Artikulation lässt sich fragen, wie unter spezifischen Umständen, diskursive Elemente mit bestimmten politischen Subjekten artikuliert werden (vgl. Hall 2000a, 66). Artikulation kann verstanden werden als nicht-notwendige Verknüpfung zwischen einer sozialen Kraft und der Ideologie, die den Prozess, durch den die Subjekte gehen, begreifbar macht. Dadurch werden neue soziale und politische Positionen auf die historische Bühne gebracht: Ein neuer Zusammenhang von sozialen und politischen Subjekten kann entstehen (vgl. ebd., 69). Die sozialen Kräfteverhältnisse, die in diskursiven Kämpfen verhandelt werden, können gleichsam Bedingung sein für eine nicht-intentionale, aber doch relativ autonome politische Selbstermächtigung. Zentral ist, wie neue, „für die Individuen humanere“ Verknüpfungen stattfinden können (Grossberg 1999, 66). Dabei ist immer zu bedenken, dass Reartikulation stets innerhalb der „Begrenzung durch Verhältnisse“ (Mecheril 2005, 126) gedacht werden muss. Im Anschluss an diese Überlegungen lässt sich danach fragen, welche gegenwärtigen politischen Positionen unter den Erinnernden in der Sequenz durch die Artikulation von Widerstand und der Erfahrung von Massaquoi potenziell ermöglicht werden20 Weiter lässt sich danach fragen, wodurch diese potenzielle Verknüpfung mit sozialen Kräften begrenzt ist. Die artikulierte Verknüpfung ist in unterschiedlicher Weise relevant für Menschen, die selbst Rassismuserfahrungen machen und für Menschen, die keine Rassismuserfahrungen machen. Zu-
20 Da die Untersuchung auf die Beobachtung des Settings begrenzt war und z. B. keine Befragung der Teilnehmenden stattgefunden hat, kann ich keine Aussage darüber treffen, inwieweit ‚tatsächlich’ politische Positionierungen bei den Jugendlichen ermöglicht werden. Ich kann ausschließlich darüber sprechen, welche potenziell ermöglichenden Bedingungen geschaffen werden. Die Jugendlichen thematisieren eigene gegenwärtige Positionierungen innerhalb des Settings nicht.
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nächst betrachte ich, welche Möglichkeiten durch die Artikulation für Jugendliche of Color21/Jugendliche mit Rassismuserfahrungen22 geschaffen werden23. Die Erfahrung von Hans-Jürgen Massaquoi ist eine Erfahrung, die Analogien mit Erfahrungen von gegenwärtig in Deutschland lebenden Schwarzen Jugendlichen/Jugendlichen of Color/Jugendlichen mit Migrationshintergrund aufweist. Rassismus wird in der Gegenwart in modifizierter Form wirksam. Implizit findet eine Politisierung der Lebenswirklichkeit von diesen Jugendlichen24 statt. Potenziell werden sie durch den Rückgriff auf einen Widerstandsdiskurs ermächtigt. Das pädagogische Setting kann gelesen werden als Bereitstellung von symbolischen Ressourcen, für eine Re-Artikulation der Subjekt-Positionen der Jugendlichen. Der Rekurs auf den Widerstandsdiskurs innerhalb des Bildungssettings ermöglicht es den Subjekten potenziell, sich innerhalb eines bestimmten (nicht hegemonialen) Deutungsmusters als ‚widerständig’ zu begreifen. Es wird ein Feld potenzieller Deutungsmuster geöffnet, das ein Selbstverständnis als politisches
21 Zum Begriff People of Color vgl. Ha 2007. 22 Es sind auch Jugendliche gemeint, die aufgrund von brüchigen weißen Identitäten (z. B. Jugendliche ost-europäischer oder süd-europäischer Herkunft) ‚othering'- und Ethnisierungs-Erfahrungen in der Bundesrepublik machen. 23 An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass die epistemische Perspektive meiner Betrachtung begrenzt ist. Weiß-Sein – der privilegierte Ort, keine Rassismuserfahrungen zu machen – ist der machtvolle Ort der Erkenntnis, von dem aus ich betrachte und schreibe. 24 Dabei ist selbstverständlich nicht davon auszugehen, dass alle Jugendlichen, die ich als Teil dieser konstruierten Gruppe verorte, in homogener Weise Vergangenheit aneignen. Sie als Gruppe zu konstruieren bedeutet nicht, anzunehmen, dass sie sich auf gleiche Weise verorten, dass sie ähnliche Auffassungen des Begriffes Rassismus haben oder dass sie sich Vergangenheit in ähnlicher Weise aneignen. Auf die heterogene Aneignung von Vergangenheit durch Jugendliche of Color macht die Studie von Viola Georgi aufmerksam. Sie unterscheidet vier Typen der Aneignung von Geschichte. Ein Typ („Fokus: Opfer der NS-Verfolgung“) entspricht der hier verhandelten Bezugnahme (vgl. Georgi 2003, 300f.). Hier geht es vor allem darum, wie in dem Setting ermöglichende Angebote für Jugendliche of Color geschaffen werden.
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Subjekt möglich machen kann. Dieses Selbstverständnis kann gekennzeichnet sein durch eine antirassistische bzw. rassismuskritische25 Selbstermächtigung. Für weiß-mehrheitsdeutsch privilegiert positionierte Jugendliche besteht auch ein implizites Potenzial in der Artikulation von Hans-Jürgen Massaquois Geschichte mit Widerstand, was von dem soeben beschriebenen Potenzial zu unterscheiden ist. Sie machen, genau wie ich als Beobachter und Autor, keine Rassismuserfahrungen. Daher macht es wenig Sinn, von widerständigen Subjekte im Sinne von selbst ermächtigten Subjekten zu sprechen. Der widerständige Moment kann vielmehr in der Möglichkeit liegen, weiße paternalistische Zuschreibung eines Opferstatus an Menschen, die Rassismuserfahrungen machen, zu reflektieren und zu irritieren/irritosieren.26 Die Artikulation ermöglicht potenziell eine Positionierung als politisches Subjekt, indem nahe gelegt wird, im weißen Dominanzdiskurs verbreitete Wahrnehmungen von People of Color als Opfer zu hinterfragen. Die Artikulation von Widerstand bietet das Potenzial, aus der Erinnerung von Vergangenheit heraus machtvolle Diskurse der Gegenwart zu kritisieren. Neben diesem politisierenden Potenzial wird in einer anderen Sequenz ein weiterer Aspekt des impliziten herrschaftskritischen Potenzial für privilegiert positionierte Menschen erkennbar. In der folgenden Sequenz, die nicht wie die bisherigen Überlegungen in direktem Zusammenhang zu der Artikulation von Hans-Jürgen Massaquois Erfahrungen und Widerstand steht, werden Handlungsspielräume in einer privilegierten Position der NichtVerfolgten thematisiert: „Der Mitarbeiter sagt, an dem Beispiel Hans Massaquoi könne man sehen, dass es davon abhänge, wem man begegne. Zum Beispiel unter25 Die Reflexivität meiner eigenen Eingebundenheit in das Phänomen Rassismus wird durch den Begriff Rassismuskritik stärker nahe gelegt als durch den Begriff Antirassismus. Dennoch halte ich an dem Begriff Antirassismus fest, da ich Rassismus für ein Verhältnis halte, was nicht nur kritisiert, sondern auch überwunden werden sollte. Zu den Begriffen Antirassismus und Rassismuskritik vgl. Mecheril 2004, 200ff. 26 Irritose meint als Neologismus aus Irritation und Metamorphose eine produktive Irritation, die eine nachhaltige Bildungserfahrung darstellt, z. B. die Verschiebung von dominanten Bildern.
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scheide sich die Begegnung mit der [weißen] Frau [die ihn darauf hinweist, dass ‚Nicht-Arier’ nicht auf dem Spielplatz spielen dürfen] und der mit dem [weißen] Parkwächter [der ihm sagt, er solle das Schild auf dem Spielplatz übersehen]. Deutlich würde, dass es häufig Handlungsspielräume gegeben hätte.“ (m5sc4c/10)
Der Verweis auf Handlungsspielräume von privilegierten Subjekten durch den Mitarbeiter ist auf verschiedenen Ebenen bedeutsam, von denen ich zwei hervorheben werde: zum einen eine erinnerungspolitische Ebene, zum anderen eine gegenwartsbezogene Ebene. Der Hinweis auf Handlungsspielräume ist auf einer erinnerungspolitischen Ebene bedeutsam, da er (hegemonialen?) Auffassungen entgegen steht, dass ausschließlich ‚die Nazis’ am Nationalsozialismus beteiligt waren. Hier liegt die Betonung darauf, dass auch die breite Bevölkerung der nicht-verfolgt privilegierten Deutschen Handlungsspielräume hatte, in denen Entscheidungen für oder gegen Mitwirken an Diskriminierungen, Verfolgung und Massenmord getroffen wurden. Darauf verweist auch Leiprecht mit seinem Vorschlag, die Gesellschaft der Shoa zu thematisieren, worin die Menschen der Mehrheitsgesellschaft unter spezifischen historischen Bedingungen Entscheidungen treffen: Wegschauen, Mitmachen, zu Täter_innen,27 Unterstützer_innen, Zuschauer_innen, Mitläufer_innen, Helfer_innen etc. werden. Es werden Subjekte erkennbar, „die vor dem Hintergrund ihrer sozialen Positionierungen und darauf gerichteter rassialisierender Zuschreibungen einen bestimmten Möglichkeitsraum hatten“ (vgl. Leiprecht 2005, 108f.). Es gab Positionierungen, in denen der Raum extrem eingeschränkt war, aber auch Optionen, sich aktiv gegen Verfolgung und Vernichtung einzusetzen. Es lässt sich von einer (potenziell) unbequemen Erinnerung sprechen. Bezogen auf den gegenwärtigen Kontext der Erinnerung stellt diese Anmerkung privilegiert positionierten Personen ein Deutungsmuster bereit, um sich in gegenwärtigen Ordnungen28 als
27 Zum Täter_innenbegriff vgl. Messerschmidt 2003, 53. 28 Hier vor allem bezogen auf rassifizierte Ordnungen. Es lassen sich Analogien von Spielräumen in anderen machtvoll hierarchisch privilegierend und marginalisierend strukturierten Ordnungen finden
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ein politisch handlungsfähiges Subjekt mit Handlungsspielräumen zu begreifen. Dem Deutungsmuster entsprechend ist es möglich, nicht dermaßen mitzuwirken an Akten der Demütigung, sondern Demütigungen mit Ausnutzung von Handlungsspielräumen zu unterbrechen. Darin ist implizit das Angebot enthalten, eigene Spielräume (in Bezug auf Rassismus) zu erkennen, zu nutzen und zu verändern. Es ist deutlich geworden, dass das artikulierende Lesen der Handlungen von Hans-Jürgen Massaquoi als Widerstand eine Politisierung der Erinnerung bedeutet. So handelt es sich im diskursiven Kampf um Deutungen, um eine den hegemonialen Diskurs herausfordernde Deutung. Gleichzeitig bleibt das Potenzial für die teilnehmenden Jugendlichen, sich selbst als (widerständige bzw. mit Handlungsspielräumen ausgestattete) politische Subjekte zu begreifen, implizit und begrenzt. Es lässt sich fragen, welche Bedingungen nahe legen, dass das Potenzial bleibt und die Ideologie nicht explizit gemacht wird, die den Prozess, durch den die Subjekte gehen, begreifbarer macht. Eine Bedingung dafür, dass die Artikulation von Widerstand und Rassismuserfahrung nicht mit gegenwärtigen sozialen Kräften und Kämpfen verbunden wird, ist möglicherweise, dass in dem Setting ein ausdrücklicher Bezug auf gegenwärtige Verhältnisse ausbleibt. Durch den alleinigen Bezug des Widerstandsbegriffes auf die Vergangenheit sind die Bedingungen für die Artikulation mit gegenwärtigen politischen Subjekten eher ungünstig. Das Ausbleiben eines Gegenwartsbezuges wird im Folgenden näher betrachtet als Phänomen der De-Thematisierung der Gegenwart.
De-Thematisierung der Gegenwart Exemplarisch werde ich die De-Thematisierung der Gegenwart anhand einer Sequenz betrachten, in der der Begriff ‚Arier’ thematisiert wird. Der Begriff und implizit das dahinter stehende Konzept werden in diesem Setting allein in der Vergangenheit situiert. Mit der (notwendigen, aber ausschließlichen) Thematisierung geht (Geschlechterordnung, Heteronormativität, ableistische Ordnung …).
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die De-Thematisierung von gegenwärtigen Rassismen einher. In folgender Sequenz wird zunächst deutlich, wie der Begriff ‚Arier’ zum abgeschlossenen Phänomen wird, was mit der Gegenwart nichts zu tun hat: „Der Mitarbeiter sagt, er wolle ein Wort ansprechen. Er hat ‚Arier’ an die Tafel geschrieben. Er sagt, ‚Arier’ sei ein Begriff, den die Nazis benutzt hätten. Er sage das jetzt nicht als Vorwurf. Es sei ein ‚Nazibegriff’. Es sei nicht wie Türken aus der Türkei oder Kroaten aus Kroatien. ‚Arier gibt es so gar nicht’. Er streicht ‚Arier’ auf der Tafel durch.“ (m5sc4c/9)
Der Mitarbeiter versucht mit der Aussage „Arier gibt es so gar nicht“ und der Kontextualisierung als „Nazibegriff“ eine Dekonstruktion und Kontextualisierung des Begriffes ‚Arier’. Durch das Durchstreichen von ‚Arier’ wird in diesem Kontext der Begriff gleichzeitig delegitimiert. Mit der Aussage, es sei nicht wie ‚Türken’ aus der Türkei oder ‚Kroaten’ aus Kroatien wird gleichzeitig ein herrschaftliches Konzept nationaler Abstammung und Zugehörigkeit aktualisiert und stabilisiert, erscheint also als legitime Konstruktion, die nicht zum Thema gemacht wird. Das zentrale Thema der Konstruktion der „Herrenrasse“ und die gegenwärtigen Nachwirkungen der Konstruktion29 werden de-thematisiert: Die Imaginierung des deutschen Territoriums als ein homogenes weißes und daraus resultierende Konzepte der Zugehörigkeit, die sich z. B. in Alltagsrassismuserfahrungen von „Anderen Deutschen“ bemerkbar machen (vgl. Mecheril 1997), werden nicht zum Thema. Analog zu dieser Begriffshistorisierung findet auch eine Historisierung des Phänomens Rassismus statt. Es geschieht eine DeThematisierung von Verbindungen von Gegenwart und Vergangenheit. Das Konzept des „Ariers“ und analog dazu die Erfahrung von Rassismus (am Beispiel von Hans-Jürgen Massaquoi) werden 29 Der „Arierparagraph“ (dritter Paragraph des „Gesetz[es] zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom April 1933) definiert „nicht arisch“ explizit nur als „jüdisch“. Das Nürnberger Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935 hingegen hält die Konstruktion von „deutschblütig“ und von „artfremdem Blut“ fest. Es ist davon auszugehen, dass als „artfremd“ konstruierte Menschen ebenfalls als „nicht arisch“ galten, vgl. Fava 2007.
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einzig in der Vergangenheit verortet, also implizit als überwunden markiert. Der Blick richtet sich nicht auf aktuelle Ausprägungen und Erscheinungen des Rassismus. Heutige Nachwirkungen des Nationalsozialismus und Kolonialismus – post-nationalsozialistische Erscheinungen, die mit post-kolonialen Erscheinungen zusammen fallen – werden de-thematisiert.30 Mit der einseitigen Thematisierung von ‚Arier’ geht die DeThematisierung von ebenfalls problematischen Begriffen wie „farbig“ (Bauer/Petrow 2004), „Mischling“ (Arndt/Theuerkauf 2004), „halb-halb“ (Kilomba 2008, 88), die in dem Setting ungebrochen verwendet werden, einher. Die ausschließliche Delegitimierung eines Begriffes bedeutet implizit die Legitimierung anderer Begriffe, sowohl für die Betrachtung der Gegenwart, als auch für die Betrachtung der Vergangenheit. Andere Begriffe, die nicht angesprochen werden, erscheinen unproblematisch. So ist die Bezeichnung „farbig“ problematisch, da es zum einen nicht der Selbstbezeichnung von Hans-Jürgen Massaquoi entspricht, die er in seinem Buch Destined to witness (oder zumindest in der deutschsprachigen Übersetzung, mit der gearbeitet wurde) wählt. Zum anderen ist im gegenwärtigen Diskurs ‚farbig’ eine zuschreibende Fremd-Bezeichnung, die vor allem von Schwarzen Menschen abgelehnt wird.31 ‚Farbig’ bestätigt die Nicht-Markierung von weißsein und die Markierung der Abweichung, die in abhängiger Relation zum unmarkierten ‚weiß’ steht. Ein kolonialer Begriff wird aus der postkolonialen und post-nationalsozialistischen Gegenwart heraus als Bezeichnung von nationalsozialistisch situiertem Geschehen genutzt. Die Etablierung von ‚farbig’ als Bezeichnung für Hans-Jürgen Massaquoi und die Nicht-Problematisierung dessen, stabilisieren somit den weißen Herrschaftsmechanismus der dominanten Bezeichnung und die Konstruktion der Abweichung der Anderen. Vergegenwärtigung aktualisiert hier Muster der
30 Zum Zusammenhang von der Konstruktion von ‚weiß-sein’ und ‚arisch-sein’ im deutschen Kontext vgl. Gerbing/Torenz 2007, 13ff. sowie Walgenbach 2005, 384ff. 31 Vgl. z. B. die Stellungnahme von der braune mob e. v. – schwarze deutsche in medien und öffentlichkeit (2009). Der Verein wurde von Schwarzen Menschen gegründet, die in den deutschen Medien und/oder Öffentlichkeit tätig sind. Der Verein versteht sich als Schwarze media-watch Organisation.
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Dominanz, ohne diese zu reflektieren oder in ihrer Präsenz und Wirkung zu destabilisieren, zu irritieren bzw. zu irritosieren. Wenn diese Muster allein in der Vergangenheit verortet werden, besteht die Gefahr das ‚heute’ zu entlasten und nicht kritisch zu betrachten. Wie bereits zu Beginn erwähnt, formuliert Messerschmidt dazu: „Dient allerdings die Konzentration auf die Geschichte des Nationalsozialismus […] dazu, sich nicht mit den aktuellen Rassismen zu befassen, so wird Erinnerung als konservierende Maßnahme der Bewahrung des Vergangenen aufgefasst, anstatt die aus ihr hervorgehenden Wirkungen auf die Gegenwart zu reflektieren“ (Messerschmidt 2003, 203). Ich möchte dies einen Effekt der Ent-Politisierung von Erinnerung nennen. Es lässt sich sagen, dass in diesem Setting eine ambivalente Spannung besteht. Diese liegt darin, dass die politisierenden Momente der Artikulation von Widerstand und Rassismus in einem Widerspruch stehen zu den entpolitisierenden Momenten der Verfestigung von Herrschaftsmechanismen und der Historisierung von Rassismus. Es kann davon ausgegangen werden, dass der politisierende Effekt der Artikulation durch die entpolitisierende De-Thematisierung von Gegenwart zumindest relativiert wird.
Konsequenzen für die politische Bildungsarbeit Aus den dargestellten Interpretationen und Theoretisierungen einer konkreten Sequenz lassen sich Konsequenzen für die Reflexion politisch-historischer Bildungsarbeit abstrahieren. So lässt sich zum einen die Notwendigkeit erkennen, die Kontinuität von Bildern und Strukturen in der Gegenwart zu reflektieren und zu thematisieren. Dies erfordert eine „fundamentale Unterscheidung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustände von den vergangenen als auch ihre Verbindung und ihre mit Vorsicht und ohne unangemessene Gleichsetzung freizulegenden Analogien“ (Messerschmidt 2003, 186). Eine Thematisierung, die Analogien aufzeigt, ohne gleichzusetzen, kann einer De-Thematisierung und damit einhergehender Ent-Politisierung der gegenwärtigen Aneignung von Erinnerung entgegen wirken. Für die politisch-
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historische Bildungsarbeit ergibt sich die Notwendigkeit, Kontinuitäten und Brüche zu benennen. Zum anderen ist deutlich geworden, dass eine Chance darin liegt, Erinnerung unter einer spezifischen Perspektive, wie hier Widerstand, zu arrangieren. Dieses Arrangement kann ein Erinnern ermöglichen, das ein Angebot für eine politisierende Artikulation der eigenen Position schafft. So könnten für Personen of Color Möglichkeiten entstehen, das eigene gegenwärtige Handeln als widerständig zu begreifen. Für privilegierte Personen kann die Wahrnehmung von Handlungsspielräumen und die Reflexion eigener Paternalismen möglich werden. Wenn diese potenziellen Gegenwartsbezüge reflektiert werden, kann es möglich werden, zu erinnern, ohne in einem der Pole des Spannungsfeldes „Erinnern um Gegenwart auszuweichen“ und „Erinnern um Gegenwart zu thematisieren“ aufzugehen. An einigen Punkten der Analyse ist deutlich geworden, dass die Positioniertheiten der beteiligten Akteur_innen (meine eigene eingeschlossen) bedeutsam sind. Die Reflexion von Positioniertheiten und Perspektiven erscheint mir zentral für die politischhistorische Bildungsarbeit. Messerschmidt betont, dass mit einem erinnerungdiskurs-kritischen Zugang „die Begrenztheit der eigenen Perspektive zum Gegenstand einer Kritik der Erinnerung“ (Messerschmidt 2003, 11) wird. So hebt Messerschmidt hervor, dass besonders die – dem Anbieten eines Bildungsprozesses zur Shoa inhärente – Parteilichkeit für die Opfer nicht zum Ruhekissen für eine Nicht-Auseinandersetzung mit der eigenen Position werden darf. Es besteht die Gefahr, sich der eigenen Sache allzu sicher zu sein (vgl. Messerschmidt 2003, 254). Eine Praxis der Erinnerung, die sich stets gegen eine Vereinnahmung der Vergangenheit wehrt und die eigene Erinnerungs-Perspektive mitreflektiert, macht eine Identifikation mit den Verfolgten schwieriger. Der Reflexion von Positionierung möchte ich mich annähern, indem ich Fragen aufwerfe. Das will ich auf zwei Ebenen tun: Auf der Ebene von Positioniertheiten im Rahmen von pädagogischem Handeln und auf der Ebene meiner eigenen Positionierung, bezogen auf diesen Text. Dabei geht es vor allem um die Akteur_innen, die professionell Erinnerung als Bildungsprozess initiieren. Sie tragen die Verantwortung für das Spannungsfeld von ‚Auftrag’ (verbunden mit dem historischen Gegenstand) und einer ‚Berufsethik’ (keinen
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moralischen Druck auszuüben oder ein politisches Urteil vorzugeben, vgl. ebd., 233). Sie schaffen die lokalen Bedingungen für Erinnerungen. Und sie moderieren, lenken, bedingen ebenfalls die „relativ autonomen“ Aneignungen von Vergegenwärtigung. Dazu ist es unerlässlich, auch den Sinn, der dem eigenen Tun durch die Vergegenwärtigung gegeben wird, zu reflektieren (vgl. ebd., 115). Diese Reflexion ist notwendig, um die Vergegenwärtigung nicht als Legitimation der eigenen Erinnerungsform zu funktionalisieren. Teil dieser Reflexion ist der Bezug auf die eigene Erinnerungsgeschichte und die eigenen Aneignungen der Geschichte. Das macht die Reflexion der Motive und der Art und Weise, wie die Geschichte pädagogisch zum Einsatz kommt (vgl. ebd., 255), möglich. Hierin sehe ich eine Voraussetzung, um im angeleiteten subjektorientierten kritischen Bildungsprozess Jugendlichen die Auseinandersetzung mit Geschichte zu ermöglichen. In der Analyse ist deutlich geworden, dass in einer spezifischen Thematisierung der Geschichte des Nationalsozialismus das Potenzial liegt, gegenwärtige politische Subjekte mit Diskursen zu verbinden. Wenn ich davon ausgehe, dass es angemessen ist, in der Thematisierung des Nationalsozialismus gegenwärtige Rassismen nicht zu de-thematisieren, kommt die Frage auf, inwieweit es angemessen ist, dabei auch die aktuellen Rassismuserfahrungen der beteiligten Jugendlichen zu thematisieren. Wenn es um die Möglichkeiten geht, Bedingungen zu schaffen, in denen Jugendliche Vergegenwärtigungen auf eigene gegenwärtige Erfahrungen von Rassismus und von Dominanz beziehen können, gelangen die Eingeschränktheit der eigenen Perspektive und Auslassungen anderer Perspektiven besonders in den Blick der Reflexion. Es lassen sich unter anderem folgende Fragen formulieren: • Was bedeutet es, als weiß-mehrheitsdeutsch nicht-jüdisch privilegiert positionierte Pädagog_innen in heterogen zusammengesetzten Gruppen die Geschichte des Nationalsozialismus und Gegenwartsbezüge zu thematisieren? • Inwieweit ist in der privilegierten Position der Nicht-Erfahrung von rassifizierter Diskriminierung von weißen Pädagog_innen die Anleitung einer nicht-zuschreibenden und nicht-verletzenden Auseinandersetzung mit Rassismuserfahrungen möglich?
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Welchen Unterschied macht es, ob jemand aus privilegierter weißer Position ein Angebot zur Selbstermächtigung an Jugendliche of Color macht oder aus einer Position of Color?
Es erscheint mir wichtig, die Begrenzungen, die mit dominanten Positionen verbunden sind, situativ zu reflektieren und zu markieren, um Dominanzverhältnisse sichtbar zu machen und um Grenzüberschreitungen und Zuschreibungen als Pädagog_in zumindest einzuschränken. Konsequent erscheint mir deshalb, meine eigene Positioniertheit und mein eigenes Selbstverständnis im Engagement für das Erinnern der Geschichte zu reflektieren: • Was würde es bedeuten, im Text die privilegierte Position von anderen (z. B. dem pädagogischen Mitarbeiter) zu benennen und meine eigene nicht zu benennen? • Inwieweit ist meine schreibende und forschende Aneignung von ‚Widerstand’ aus meiner privilegierten weiß-mehrheitsdeutschen nicht-jüdischen Positionierung32 und als Nachfahre von Mittäter_innen, von Nicht-Verfolgten und Nicht-Widerstandsaktiven ein Gebrauch der Erinnerung und eine Profilierung und Absicherung meiner eigenen Position? • Was bedeutet es, dass ich als Mensch, der im Gegensatz zu Menschen of Color/Schwarzen Menschen/Menschen mit Migrationshintergrund keine strukturellen oder alltäglichen Rassismuserfahrungen macht, über Artikulation von Rassismuserfahrungen und Widerstand schreibe und publiziere? • Was bedeutet es, dass ich mit dem Akt der Selbstpositionierung, um einer Verschleierung meiner dominanten Sprechpositionen entgegen zu wirken, die zu überwindende Ordnung wiederhole?
32 Was bedeutet es, in der Benennung meiner Selbstpositionierung andere privilegierte Positionierungen (z. B. als männlich, ohne Behinderung, nicht-pathologisiert, akademisch gebildet, mittelschichtszugehörig … positioniert) zu vernachlässigen und die Intersektionalität dieser Differenzlinien nicht weiter zu thematisieren?
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Was bedeutet es, dass ich mit der kritischen Betrachtung meines weiß-Seins von Schwarzen (Alltags-)Kämpfen33 profitiere, indem der Bezug auf diese Errungenschaften meine Reflexion ermöglicht und ich dadurch (mein) weiß-Sein wiederum in den Mittelpunkt rücke? Was bedeutet es, dass ich mit diesem Text den Dominanzdiskurs der Repräsentation34 (Etablierte spreche über Außenseiter_innen) und die Dominanz der interkulturellen Debatte und der Erinnerungsdebatte durch Mehrheitsangehörige fortführe? Wie bin ich mit meiner Position und dieser Arbeit in Erinnerung und Vergegenwärtigung verstrickt und was bedeutet meine Identifikation mit den Verfolgten und Widerstand Leistenden? Was bedeutet die Benennung meiner eigenen Position und Begrenzungen, die durch den weißen Dominanzdiskurs hervorgebracht sind, für diesen Text?
Es erscheint mir wichtig, dass Erinnerungsprozesse und die Auseinandersetzungen mit Positioniertheiten – der eigenen, sowie der aller Beteiligten – in Bewegung bleiben. Dazu gehört eine Selbstreflexion der Beteiligten, der eigenen (begrenzenden) Perspektive und der Position, aus der heraus Geschichte vergegenwärtigt und angeeignet wird. Eine derartige Verortung kann zum „Ausgangspunkt radikaler engagierter Kritik“ (Messerschmidt 2003, 84) werden.
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33 Vgl. z. B. Piesche 2005 oder hooks 1994, 204ff. zu der Entstehung der kritischen Reflexion von weiß-sein aus Schwarzen (Alltags-) Kämpfen. 34 Zum Dominanzdiskurs der Repräsentation vgl. Broden/Mecheril 2007, 17ff.
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TOBIAS LINNEMANN
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Die Norma lität des Ra ssis mus in interkultureller Bildungsarbeit. Reflex ione n e ige ne r Praxis ANDREAS FOITZIK
Einleitung Es hat sich in den letzten zwanzig Jahren ein großer Markt von interkulturellen Fortbildungsveranstaltungen entwickelt. Mit diesem Beitrag möchte ich für das Spektrum von Anbieter/inne/n, das rassismuskritischen Fragestellungen gegenüber prinzipiell offen gegenübersteht, untersuchen, inwieweit – gefördert durch bestimmte Settings und eine bestimmte inhaltliche und pädagogische Dynamik – in diesen Fortbildungen trotzdem Elemente rassistischer Denk- und Handlungsweisen reproduziert werden. Ausgehen werde ich dabei von meiner eigenen Praxis in diesem Feld. Ich möchte den Weg reflektieren, auf dem ich nach einer rassismuskritisch geprägten Studienzeit und politisch relativ eindeutigen Positionierungen in den 1980er Jahren auf dem Markt des Interkulturellen ‚Karriere’ gemacht habe. Das Feld, in dem ich mich dabei bewegt habe und bewege, reicht von ein- oder zweitägigen Fortbildungen für Behörden oder Einrichtungen der Sozialen Arbeit über die Leitung von Projekten der Interkulturellen Öffnung und berufsbegleitenden Weiterbildungen für Pädagoginnen
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ANDREAS FOITZIK
und Pädagogen und schließlich zu einer Leitungsstelle für einen Jugendmigrationsdienst bei einem diakonischen Träger.1 Die hier vorgelegte Praxisreflexion will nicht die eigene Arbeit und die Arbeit derer, die in ähnlicher Weise arbeiten, schlechtreden, sondern hat das Ziel, Ansatzpunkte für eine Thematisierung des Rassismus in interkulturellen Fortbildungen zu finden. Die Logik des Interkulturellen folgt eher einer horizontalen Differenz, betont damit das Nebeneinander verschiedener Gruppen und deren kulturelle Unterschiede. Eine rassismuskritische Perspektive thematisiert dagegen eine vertikale Differenz, sieht diese Gruppen also nicht herrschaftsfrei und gleichberechtigt nebeneinander stehen, sondern betont deren strukturell unterschiedliche Machtposition. Von Rassismus rede ich demnach, wenn eine – meist ethnisch definierte – Gruppe von einer anderen Gruppe konstruiert und abgewertet wird und zugleich diese abwertende Gruppe in einer gesellschaftlichen Position ist, diese Abwertung auch in verschiedenen Formen der Diskriminierung wirksam werden zu lassen. Ich folge damit einer verbreiteten Definition, wie sie auch im Vorwort des aktuellen Sammelbandes „Rassismuskritik“ prägnant zusammengefasst wird: „Der Kern rassistischen Denkens besteht hierbei in der Figur der zumeist herabwürdigenden und benachteiligten binären Unterscheidung zwischen einem sozial konstruierten natio-ethno-kulturellen Wir und Nicht-Wir, die durch ein komplexes [...] System gesellschaftlicher Praktiken [...] aufrecht erhalten und legitimiert wird.“ (Scharathow/Leiprecht 2009, 10) Mit der Rede von der „Normalität des Rassismus“ wird zum Ausdruck gebracht, dass „Rassismus sich in dem Sinne auf Normalität bezieht, dass er Normalität produziert, aber auch voraussetzt. Rassismus rekurriert auf Normalitätsvorstellungen und ermöglicht diese“ (Mecheril 2007, 4). Er ist „normal“ im Sinne von alltäglich, banal und gewöhnlich. Er fällt nicht mehr als solcher auf, kann und muss daher im Alltag auch nicht problematisiert werden. Im Kontext dieses Beitrags und der drei Kriterien der
1
In diesem Beitrag beschränke ich mich auf eine Reflexion der Fortbildungsarbeit. Für den Bereich Beratung verweise ich auf den Betrag Das Lob der Haare in der Suppe – Selbstreflexivität Interkultureller Öffnung, vgl. Foitzik/Pohl 2009. Für meine Leitungstätigkeit ließe sich vieles ähnlich darstellen.
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oben skizzierten Rassismusdefinition folgend, reflektiere ich somit Praxen der interkulturellen Fortbildungsarbeit danach, inwieweit in ihnen (1) Konstruktion, (2) Abwertung und (3) Macht von ethnisch ‚Anderen’ so selbstverständlich eingeflochten sind, dass es auf den ersten Blick nicht als ein Ausdruck des Rassismus erkennbar ist. Dabei gehe ich von der These aus, dass wir in dem hier behandelten interkulturellen Handlungskontext vor allem eine Praxis der Dethematisierung, des mehr oder weniger bewussten Verschweigens ‚vertikaler’ rassistischer Strukturen in der ‚horizontalen’ Thematisierung von Interkulturalität vorfinden. Wer sich in einer rassistisch strukturierten Gesellschaft auf dem Markt des Interkulturellen begibt – und das wird jeder und jede tun müssen, die oder der in diesem Feld den Lebensunterhalt verdienen will – wird hier schwerlich oder nur in wenigen Nischen einen konsequent rassismuskritischen Ansatz umsetzen können. Es wird also wenig überraschen, dass wir die „Normalität des Rassismus“ auch in Feldern finden, in denen man sie vielleicht zunächst nicht vermutet. Bezogen auf das Feld der Pädagogik steht dies auch in einer engen Kopplung mit der Tradition der Disziplin der „interkulturellen Pädagogik“. In den letzten Jahrzehnten sind hier zwei wesentliche, sich ergänzende Strömungen auszumachen. Die Ausländerpädagogik als Sonderpädagogik in den 1970er Jahren einerseits und die Betonung der Begegnung mit den Anderen als Bereicherung im Diskurs des Interkulturellen Lernens in den 1980ern andererseits (Mecheril, 2004, 83ff.). Beide Strömungen haben in der Praxis der Sozialen Arbeit bis heute signifikante Spuren hinterlassen. Wenn das Thema Migration überhaupt wahrgenommen wird, dann oft mit dem Defizitblick und einer daraus folgenden kompensatorischen Praxis oder aber in einer Idealisierung des Nebeneinander der Kulturen. Anders ausgedrückt: Es gibt eine Tradition, die gekennzeichnet ist durch Konstruktion, Abwertung und die Nichtthematisierung von Machtverhältnissen. Zugleich gibt es eine zweite Tradition, die sich davon abhebt und zumindest die Abwertung zurückzunehmen sucht. Bezogen auf die beiden Stichworte Gruppenkonstruktion und Nichtthematisierung von Machtverhältnissen scheint die Tradition der Ausländerpädagogik in der Interkulturellen Pädagogik hingegen weitgehend ungebrochen.
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In einem ersten Teil möchte ich ausgehend von diesen Gedanken meine „interkulturelle“ Fortbildungspraxis hinterfragen. In einem zweiten Teil gehe ich in zwei Versuchen den Gründen nach, wie ich in meiner beruflichen Entwicklung von „antirassistischen“ Anfängen zu eben dieser interkulturellen Praxis gekommen bin: die Dynamik der eigenen Berufsrolle im interkulturellen Markt sowie grundsätzliche pädagogische Überlegungen. In einem letzten Teil werde ich einige Marksteine für eine Orientierung in Widersprüchen2 andeuten.
K o n s t r u k t i o n u n d Ab w e r t u n g Interkulturelle Fortbildungen, Projekte, Tagungen etc. tragen bereits durch ihr grundsätzliches Setting zur Konstruktion von sozialen Gruppen bei. Alle Beteiligten haben zu jeder Zeit dieser Veranstaltungen im Kopf, dass es eben um die ‚Anderen’, die ‚Ausländer’ geht. Damit fördern wir den Prozess der Gruppenkonstruktion. Für die Betroffenen hat dies unmittelbare Auswirkungen, die mit dem Begriff Othering, beschrieben werden. Der Prozess der Benennung von Gruppen macht den Anderen erst zum Anderen. Indem ich eine Person als Mitglied dieser Gruppe wahrnehme, wird sie, ob sie will oder nicht, zu einem Teil dieser Gruppe. Ich stelle mit der Benennung eine Realität her. Eske Wollrath (2007) beschreibt diesen Prozess als „gewaltvolle Herstellung bestimmter Menschen als ‚Andere’“ und unterscheidet dies von dem Prozess der Ausgrenzung. Im Rahmen Interkultureller Trainings ist dieses Anderssein in erster Linie ‚kulturell’, und zwar in der Regel ethnisch-kulturell, bestimmt. In den Erwartungen der Teilnehmenden, aber auch in den Ansätzen der meisten Fortbildungen geht es im Kern um die Vermittlung Interkultureller Kompetenz. Dieser Begriff verweist direkt auf die besondere Bedeutung der kulturellen Differenz zwischen den Akteuren der Interaktion, die in der Fortbildung zur Debatte stehen. Damit wird die Kulturzugehörigkeit als – zumindest tendenziell – problemschaffend hervorgehoben. Sicherlich können kulturelle Prägungen einen Einfluss auf das Denken, Füh2
Ausführlicher zu diesem Gedanken in dem Text Von guten Menschen und anderen Widersprüchen, vgl. Foitzik/Marvakis 1997.
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len, Handeln und Interaktionen haben und auch zu Missverständnissen führen. Mit dem Fokus auf die kulturelle Differenz wird jedoch nahegelegt, bei Störungen, Misserfolg und Unverständnis reflexartig auf das Erklärungsmuster von ethnisch/national definierter Kultur zurückzugreifen. Die Problematisierung dieses kulturell deutenden Blickes ist immer auch Gegenstand der Fortbildungen. Doch auch wenn wir uns in den Fortbildungen um Dekonstruktion von allzu engen Gruppenkonstruktionen bemühen und diese selbst zum Thema machen, bleibt das gesamte Setting der Veranstaltung und die damit nahegelegten kulturalisierende Denkweisen und Bilder doch wirkmächtiger als manche kritische Anmerkung der Seminarleitung. Dieses Dilemma lässt sich innerhalb des Settings nie völlig auflösen, da wir durch das Sprechen über das Thema nicht umhin kommen, auch Gruppen zu benennen. Wir entgehen diesem Othering-Effekt auch nicht allein durch eine Thematisierung von Diskriminierung und Rassismus. Auch hier besteht die Gefahr, die eigene Praxis als Reaktion auf den rassistischen Diskurs zu entwickeln und dann beispielsweise die Rede über ‚Ausländer’ entgegenzutreten, dabei aber eben auch über diese ‚Gruppe’ zu sprechen und damit deren Besonderung und potenzielle Aussonderung ungewollt zu fördern. Die Reduzierung des ‚Anderen’ auf sein Opfersein verweigert ihm in ähnlicher Weise den Subjektstatus wie die Reduzierung auf die Herkunft. Neben der Konstruktion wird auch eine Abwertung der ‚Anderen’ durch das Setting interkultureller Fortbildungen gefördert, selbst dann, wenn diese als ‚gleichwertig’ oder gar als Bereicherung dargestellt werden. Indem die ‚Ausländer’ oder auch ‚Menschen mit Migrationshintergrund’ zu Themen in Fortbildungen werden, ist nahegelegt, dass es ein Problem mit ihnen gibt. Im Kontext dieser Fortbildungen besteht somit eine innere Logik, sie als Menschen wahrzunehmen, die in besonderer Weise Probleme haben oder Probleme machen. So entgeht man schwerlich der Falle des Defizitblicks und damit einer tendenziell abwertenden Haltung. Dies vor allem auch deswegen, weil die Beteiligten, die Seminarleitung und die Teilnehmenden geprägt sind von der Normalität des ‚Entwicklungshilfe-Denkens’. Wir, der zivilisiertere Teil der Welt, müssen dem Rest der Welt helfen, sich dorthin zu entwickeln, wo wir schon sind. Diese Entwicklungshilfe-Idee wird im
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Alltagsdenken übertragen auf Menschen, deren Herkunft mit den zu entwickelnden Ländern assoziiert wird. Wird dieser Blick selbst nicht bearbeitet, bleibt er in den Fortbildungen wirksam.
Interkulturelle Handlungstechniken unter Verdacht? Die Frage der Macht möchte ich unter der Fragestellung betrachten, inwieweit ein bestimmtes Konzept ‚interkultureller’ Fortbildungen dazu beiträgt, Privilegien und Einfluss der Mehrheitsangehörigen, die den Großteil der Fortbildungsteilnehmenden darstellen, abzusichern. Viele Übungen im Bereich interkultureller Fortbildungen zielen darauf ab, den ‚Anderen’ zu verstehen. Die Teilnehmenden versetzen sich – methodisch angeleitet – in den gedachten Anderen hinein und sollen so einen angemesseneren Umgang mit diesen lernen. Einem Gedanken von Paul Mecheril (2004, 127) folgend wohnt dieser Vorstellung, das jeweilige Gegenüber verstehen zu können, immer auch Machtförmigkeit inne. Da ich mein Gegenüber nur in meinen eigenen Wahrnehmungsstrukturen, Begriffen, Denkmöglichkeiten erfassen kann, bedeutet Verstehen immer auch eine Aneignung des ‚Fremden’ durch Assimilation. Stehen also auch Methoden, die der Idee des Verstehens folgen, unter dem Verdacht, Vereinnahmungs- und Kolonisierungsmethoden zu sein? Ich möchte dieser Frage anhand zweier Übungen aus meiner eigenen Fortbildungsarbeit nachgehen. Ich beginne viele Seminare mit einer Übung, in der ich mit den Erfahrungen der Teilnehmenden bei erlebten eigenen Umzügen, Ortwechseln arbeite. In dieser Übung werden immer wieder erstaunliche Geschichten erzählt von Befremdungen, erlebten Abwertungen und Ausgrenzungen. Sie eignet sich auch gut als Zugang zu einem Verständnis des Prozesses des ‚Othering’. Teilnehmende berichten ihre Erfahrung, wie sie nach dem Umzug beispielsweise aus Schwaben nach Berlin dort allein schon an der Sprache als ‚Nichtzugehörig’ erkannt wurden und wie sie das verunsichert hat. Immer wieder ist auch die Erfahrung der Abwertung aufgrund der eigenen Herkunft damit verbunden, in dem genannten Beispiel u. a. durch den oftmals formulierten Satz „Sag doch noch mal was auf Schwäbisch, das klingt so süß.“
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Trotz eindringlicher Hinweise ist dabei allerdings nie der Gefahr zu entgehen, dass der Umzug beispielsweise vom Dorf in die Stadt gleichgesetzt wird mit weit einschneidenderen – mit Rassismuserfahrung verbundenen – Migrationsgeschichten. Aber die Teilnehmenden haben nun einen Begriff für erlebte Fremdheit. Sie können das einsortieren in ihre Gedankenwelt. Ich erkaufe mir dabei – so könnte man zugespitzt formulieren – einen persönlichen Zugang der Teilnehmenden zum Thema Migration zu dem Preis der Verharmlosung des Rassismus. Eine andere Standardübung ist ein Spiel mit zwei Stadtplänen,3 eine Übung im Umgang mit Differenz. Zwei Teilnehmende haben – optisch von einander getrennt – die Pläne der gleichen Stadt vor sich liegen. Die eine soll den anderen von Punkt A nach B führen, ohne zu wissen, dass sich die Pläne in wesentlichen Merkmalen unterscheiden. Die beiden werden sich verständigen können, wenn sie sich die Zeit nehmen, beide Pläne genau zu beschreiben und nach Gemeinsamkeiten zu suchen, wenn sie anerkennen, dass der Plan des anderen nicht besser oder schlechter, sondern einfach anders ist, wenn sie nicht einfach losfahren, sondern sich vergewissern, dass sie beide auf dem gleichen Weg sind. Auch hier gibt es also durchaus Potenzial für eine Reflexion der Themen Konstruktion und Abwertung des Anderen. Gleichzeitig zielt die Übung sehr klar darauf ab, Kommunikationsregeln zu erarbeiten, die Verständigung in einer Situation der Differenz ermöglichen sollen. Immanentes Ziel dieser Übungen ist, die Teilnehmenden handlungsfähiger zu machen in solchen (Kommunikations-)Situationen. Berücksichtigen Teilnehmende diese Regeln in der Arbeitssituation, ist dies sicherlich besser, als wenn sie kulturell dominant und unreflektiert den jeweils eigenen Plan durchsetzen würden. Aber stehen diese Regeln nicht trotzdem im Verdacht, Kommunikationstechniken zu sein, die den Teilnehmenden dazu verhelfen, in ihrem jeweiligen Umfeld in einer Weise handlungsfähig zu werden, dass sie Probleme kommunikativ in den ‚Griff kriegen’, die letztendlich in der rassistischen Struktur der Gesellschaft begründet sind? Ist eine so verstandene interkulturelle Kommunikation in dem Sinne eine Herrschaftstechnik, als sie hilft, eigene, weiße Privilegien abzusichern? 3
Zuerst veröffentlich in Arbeitskreis Interkulturelles Lernen, Diakonisches Werk Württemberg 2001, D-18.
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S p u r e n s u c h e o d e r d i e D yn a m i k d e s interkulturellen Marktes Es gibt auch andere Fortbildungsveranstaltungen zum Thema Einwanderungsgesellschaft: Ein rassismuskritisches Seminar würde sich konsequent der Konstruktion von Gruppen, dem Reden über die Anderen zu verweigern suchen, von den Teilnehmenden mitgebrachte Bilder problematisieren, eine Antidiskriminierungsperspektive und damit eine parteiliche Haltung für von Rassismus betroffene Menschen fördern. Die hier formulierte Kritik Interkultureller Trainings bezieht sich also auf eine spezifische Form des Umgangs mit dem Thema. Ich rede dabei in erster Linie über meine eigene Praxis, auch weil ich vermute, dass mein Werdegang von einer antirassistischen politischen Praxis hinein in das ‚Gewerbe’ des Interkulturellen in gewisser Weise typisch ist. Ich bin einer der Mehrheitsangehörigen, die sich in dem Geschäft des Interkulturellen etabliert haben, die bewusst in Kauf genommen haben, dass darin eine rassismuskritische Perspektive immer wieder ‚zu kurz’ kommt. Vor Beginn meiner Seminartätigkeit hatte ich mich in verschiedenen Kontexten mit der eigenen privilegierten Position als weißer, deutscher und intellektueller Mann in einer von der triple oppression durch Rassismus, Sexismus und Klassenherrschaft gekennzeichneten Gesellschaft beschäftigt. Wie kam es, dass diese Ausgangspunkte, kaum dass ich ‚im Geschäft’ war, kein Thema mehr waren? Trotz verschiedener kollegialer, vorwiegend weißer Diskussionszusammenhänge ist hier manches ‚hinter meinem Rücken’ gelaufen. Spuren finde ich in der beschriebenen Dynamik des Interkulturellen verbunden mit dem auch spezifischen ‚Markt’ in Deutschland. Mir war immer bewusst: Schon der Titel der Seminare ist ‚eigentlich’ problematisch. Der Begriff ‚interkulturell’ reproduziert schon die Reduzierung des Diskurses auf die kulturelle Perspektive und blendet damit beispielsweise rassismus- oder diskriminierungskritische Fragestellungen aus. Matthias Lange und Nils Pagels resümieren für Begriffe wie Interkulturelle Öffnung,4 Interkulturelles Lernen, Interkulturelle 4
Interessant wäre es, der Frage nachzugehen, warum hier ein unübersetzbarer deutscher Begriff eingeführt wurde.
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Kompetenz, dass „die gemeinsame Diskussionsgrundlage häufig lediglich in dem stillschweigenden Konsens (bestehe), dass das Thema irgendwas mit Ausländer(inne)n zu tun habe und damit, wie die Einheimischen mit ihnen umzugehen haben“ (Lange/Pagels 2001, 65). Die Begriffe entstammen den 1980er Jahren, der Hochzeit der Rede von der multikulturellen Gesellschaft. Für den Fortbildungsmarkt hieß dies, dass der Boden bereitet und interkulturell gesellschaftlich anschlussfähig war. Die ‚Interkulturell’-Begriffe sind typische Container-Begriffe, unter denen sich jede/r vorstellt, was sie/er will. So versprechen sie den einen ein kritisches gesellschaftspolitisches Potenzial und den anderen tun sie doch nicht weh.5 Ihr Erfolg liegt im Wesentlichen darin begründet, dass sie theoretisch und praktisch wenig eindeutig und damit in vielerlei Weise interpretierbar sind. Begriffe wie Antirassismus oder Antidiskriminierung haben es dagegen auf dem deutschen Markt eindeutig schwerer. Bei den üblichen ‚Kunden’ wie Stadtverwaltungen, Verbänden, Akademien scheinen sie eher politischen Aktivismus als Professionalität zu signalisieren. Manche Auftraggeber/innen weisen auch auf ihr eigenes ‚Problem’ mit den Nutzer/inne/n hin. Sie wären es, die sich dann zu den Fortbildungen nicht anmelden würden. Solche Fragen stellen sich Menschen, die mit dieser Arbeit freiberuflich ihren Lebensunterhalt bestreiten, schon bei der Selbstbenennung im Marktauftritt, also beispielsweise bei der Visitenkarte, der Homepage oder dem Veranstaltungsflyer. Geht man als Anleiter/in von rassismuskritischen Lernprozessen auf den Markt oder verkauft man sich besser als „Interkultureller Trainer“, ein Titel der die Trainierbarkeit von interkulturellen Handlungstechniken nahe legt? Bei der Ausschreibung der Veranstaltungen legt oft der beauftragende Träger selbst Wert auf eine nicht abschreckende Etikettierung. Selten gibt es ausreichend Platz für eine differenzierte Darstellung der eigenen Arbeitsweise. Also nutzt man doch eingeführte ‚Markennamen’. Dabei spielt sicher auch die Vorstellung eine Rolle, dass ich über eine nicht abschreckende Bewerbung Menschen für eine Auseinandersetzung 5
Für das Konzept der Interkulturellen Öffnung habe ich dieses Phänomen und das trotzdem darin enthaltene kritische Potenzial an anderer Stelle ausführlicher diskutiert, vgl. Foitzik/Pohl 2009.
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gewinne, in der sie dann doch wichtige Lernprozesse machen können, dass ich mit einer ‚problematischen Etikette’ viel ‚Gutes’ erreichen kann. Es geht hier nicht darum, solche taktischen Überlegungen generell zu kritisieren. Ich sehe in meiner eigenen Entwicklung nur auch den Preis, den ich dafür mehr unbewusst in Kauf genommen habe. Die eine Frage ist, ob, salopp gesprochen, nicht irgendwann nicht nur ‚interkulturell’ draufsteht, sondern auch ‚interkulturell’ drin ist, also herrschafts- und rassismuskritische Fragstellungen ausgeklammert bleiben. Die Logik des NichtAbschrecken-Wollens tendiert dazu, sich im Seminar fortzusetzen. Ich komme darauf zurück. Eine zweite Reflexionsfrage zielt auf die ungewollten Effekte dieser taktischen Selbstbenennung. Wenn ich mich den Marktgepflogenheiten ‚unterwerfend’ „Interkultureller Trainer und Berater“ nenne, trage ich zu der Tendenz bei, dass die Ansätze gesellschaftsfähig bleiben, die gesellschaftliche Verhältnisse nicht direkt zum Gegenstand machen und dadurch auch herrschaftsstabilisierend wirken. Auf einer dritten Ebene geht es noch einmal um die soziale Position, von der aus ich mich in diesem Markt bewege. In dem ich diesen Markt besetze, besetze ich ihn auch als Mehrheitsangehöriger und trage damit auch zu einem Aufrechterhalten des Status Quo bei: In der interkulturellen Bildung arbeiten – nach meiner Wahrnehmung – immer noch mehrheitlich Mehrheitsangehörige. Auch wenn viele Auftraggeber/innen großen Wert drauf legen, dass Migrantinnen und Migranten in den Teams beteiligt sind, werden wichtige Positionen oft von ‚weißen’ Trainerinnen und Trainern besetzt. Trainer/innen, die dieses Feld in der beschriebenen Fokussierung auf das Interkulturelle besetzen, betreiben ihre eigene berufliche Etablierung auch auf Kosten derer, die aufgrund ihrer Lebensgeschichte und gesellschaftlichen Positionierung nicht so einfach auf diese Dethematisierung von Herrschaftsverhältnissen zurückgreifen können oder wollen.
Das Dilemma der pädagogischen Rolle Der Wandel vom ‚antirassistischen Aktivisten’ zum „Interkulturellen Trainer“ hat aber neben der beschriebenen Dynamik des interkulturellen Marktes noch eine andere Logik. Überspitzt gespro-
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chen: Ich begegne den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einer Ausländerbehörde nicht mehr als politischen Gegnern bei einem Go-In, sondern als Teilnehmenden meiner Fortbildung. Während bei Veranstaltungen der politischen Bildungsarbeit davon auszugehen ist, dass die Teilnehmenden in irgendeiner Weise an einer Auseinandersetzung mit den politischen Verhältnissen interessiert sind, ist das Interesse von Teilnehmenden in beruflich orientierten Fortbildungsseminaren auf eine Verbesserung ihrer Praxis bezogen: im gesellschaftskritischen Lernprozess ‚günstigeren’ Fall um eine qualitative Verbesserung der eigenen Arbeit, im ungünstigeren Fall um das an sich berechtige Interesse der Erleichterung der eigenen Arbeit. Eine kritische Reflexion der eigenen Position führt aber nicht – oder zumindest nicht unmittelbar – zu einer Erleichterung der Arbeit, sondern nötigt es einem ab, die ohnehin als aufreibend erlebte Praxis noch komplizierter zu machen. Es war meine Befürchtung über die Jahre, von diesen Teilnehmenden als moralische Instanz erlebt zu werden, als „Ausländer“-Lobby, als Gutmensch, der von der sich in ihrer Arbeitssituation niederschlagenden Realität der Einwanderungsgesellschaft keine Ahnung hat, dessen kritische Fragen daher allenfalls zu einer reflexartiger Rechtfertigung und damit eher zu einer Verfestigung der eigenen Position beitragen. Es war meine Befürchtung, von dieser Position aus nichts in Bewegung zu bringen, also auf eine Art auch wieder stabilisierend zu wirken. Aus dieser Befürchtung entwickelte sich die These, dass eine explizit rassismuskritische Haltung in einer Fortbildung den Kontakt zu den Teilnehmenden negativ beeinflussen oder auch verhindern kann. Ich habe daher meine Rolle als neutraler Organisator eines Lernprozesses definiert (Arbeitskreis Interkulturelles Lernen, 2001, G – 15): • „Ich will die anderen nicht da oder dort hin bringen, nicht überzeugen und versuche, das Lehrer-Schüler-Verhältnisses etwas aufzulösen. • Ich versuche, die anderen in ihren Begründungen ernst zu nehmen, ihre Gründe anzuhören und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. • Vielleicht ist es möglich, gemeinsam auf gesellschaftliche Behinderungen oder institutionelle Strukturen zu kommen, die ein bestimmtes Verhalten nahe legen.
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Unterschiedliche Positionen können dabei durchaus deutlich werden, wichtig ist, sie auf unterschiedliche Wertentscheidungen zurückzuführen und meinem Gegenüber nicht das Gefühl zu geben, dass er/sie falsch liegt, sondern einfach wo anders steht. Als Trainer ist mein Hauptziel, der TeilnehmerIn zu helfen, die eigene Position und das eigene Verhalten besser zu verstehen und Handlungsalternativen anzuregen, die für sie allerdings eben nur dann interessant sein können, wenn sie eine konkrete Verbesserung und nicht nur einen moralischen Anspruch bedeuten.“
Die verbreitete Rede davon, „die Teilnehmer abzuholen, wo sie stehen“, kann auch eine bequeme Begründung dafür sein, die eigene Position an der vorgestellten Position der Teilnehmenden zu orientieren, um diese nicht zu überfordern, heißt eben auch, sich selber das Leben nicht all zu schwer zu machen. So habe ich beispielsweise bei einer Fortbildungsreihe mit Mitarbeiter/innen einer Ausländerbehörde und eines Sozialamtes einer westdeutschen Großstadt, die schon eine Trainerin ‚verschlissen’ hatten, auf manche, Migrant/innen abwertende Bemerkung der Teilnehmenden nur sehr vorsichtig reagiert, um in einem guten Kontakt mit der Gruppe zu bleiben. Die Übungen waren sehr an dem überfordernden Alltag der Teilnehmenden ausgerichtet. Erst als ich von der Gruppe akzeptiert wurde, habe ich sie auch mehr herausgefordert. Trotzdem zielt die oben beschriebene Haltung, mich als Moderator eines Lernprozesses zu verstehen, auf ein für die Erwachsenenbildung m. E. angemessenes Rollenverständnis ab. Kein Mensch will sich gerne belehren lassen. Lernwiderstände, oft auch in Form von Zerstreutheit, Ermüdung, mehr oder weniger offene Auflehnung, sind die Folge. Dies vor allem dann, wenn die Fortbildung von den Teilnehmenden nicht selbst gewählt wurde, sondern beispielsweise im Rahmen eines Öffnungsprozesses ‚von oben’ angeordnet ist. Hier mischen sich dann in besonderer Weise Widerstände gegen allgemeine Arbeitzumutungen mit den Inhalten der Fortbildung. In diesen Kontexten habe ich den Druck, den Teilnehmenden ‚entgegen zu kommen’, besonders stark empfunden.
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Wie kann es gelingen, dass die Teilnehmenden zu Subjekten des Lernprozesses werden? Ein Ansatzpunkt kann sein, sie im Rahmen der Auftragsklärung so mit einzubeziehen, dass sie mitgestalten können, wie und mit welchen Zielen gelernt wird. Dies ist besonders wichtig, wenn der/die (geldgebende) Auftraggeber/in, mit der/dem im Rahmen der Beauftragung oder der Ausschreibung eine mehr oder weniger formelle Auftragsklärung stattgefunden hat, andere Interessen mit der Fortbildung verbindet als die Teilnehmenden, die dann wiederum anders sein können als mein eigenen Ziele als Seminarleiter. Eine Möglichkeit, die Teilnehmenden unter diesen Bedingungen ‚im Spiel’ zu halten, ist Transparenz. Der von ‚oben’ und durch meine eigene Position sowie meine Kompetenz abgesteckte Spielraum muss klar sein, wenn die Teilnehmenden ernsthaft ihre Erwartungen formulieren können sollen.
Lernen durch Verunsicherung – D a s D i f f e r e n z d i l e m m a a l s Au s g a n g s p u n k t Ich möchte nun einige Ansatzpunkte diskutieren, die zum einen die beschriebenen Dilemmata aufnehmen, darin aber nach einer Perspektive suchen, aus der Position des Mehrheitsangehörigen eine gesellschaftliche Auseinandersetzung zu unterstützen, die die eigene Verwobenheit in (rassistische) Lebensbedingungen thematisiert. Eine wichtige Voraussetzung dafür scheint mir, dass in der beschriebenen Aushandlung der Auftragsklärung die eigene Rolle mehr oder weniger explizit als Störer, als Verunsicherer6 benannt wird. Um so arbeiten zu können, brauche ich die ebenfalls mehr oder weniger explizite Erlaubnis der Teilnehmenden. Ich werbe dafür, dass Verunsicherung ein wesentlicher Bestandteil von einer in der Migrationsgesellschaft notwendigen Handlungskompetenz ist.
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Für den Bereich der Beratertätigkeit im Rahmen von Prozessen der Interkulturellen Öffnung habe ich diese Störerrolle ausführlicher beschrieben, vgl. Foitzik/Pohl 2009; im Rahmen einer Arbeitshilfe für eine migrationssensible Elternbildungsarbeit in Altan/Foitzik/ Goltz 2009.
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Dass bei Lernprozessen, die mit dem Thema Differenz zu tun haben, Verunsicherung notwendig ist, versuche ich bei den Fortbildungen zu thematisieren und zu begründen: • Die schwarze Dichterin Pat Parker schreibt in ihrem Gedicht mit dem Titel „Für die Weiße, die wissen möchte, wie sie meine Freundin sein kann: Erstens: Vergiss, dass ich schwarz bin. Zweitens: Vergiss nie, dass ich schwarz bin“ (zitiert nach Arbeitskreis Interkulturelles Lernen 2001). Dieses Grunddilemma jeder differenzsensiblen Perspektive als Gratwanderung ihrer gleichzeitigen Unvermeidlichkeit und Unmöglichkeit birgt in sich eine Verunsicherung, weil beides gleichzeitig nicht möglich ist, Handeln somit immer unter dem Verdacht steht, ‚falsch’ zu sein. • Auch die oben beschriebene Thematisierung des Otherings, der fast unvermeidlichen eigenen Beteiligung an der Konstruktion von Gruppen, wirkt auf Teilnehmende oft sehr verunsichernd. Auch hier wird die Unauflösbarkeit des Dilemmas sehr deutlich. Ein Beispiel, das immer wieder ‚funktioniert’, ist eine Reflexion der „Woher kommst du?“-Frage. Problematisiert man diese zur Kontaktaufnahme von Mehrheitsangehörigen mit ‚Anderen’ häufig vorkommende Frage, stößt man regelmäßig auf Widerstände in der Gruppe („Warum soll man das nicht fragen dürfen“; „Darf man denn nun gar nichts mehr sagen, das signalisiert doch mein Interesse ...“). Diesen Widerstand in fruchtbare Lernprozesse zu überführen, setzt voraus, nicht die Frage oder die/den Fragestellende in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen zu thematisieren, die aus dieser ‚unschuldigen’ Frage einen Akt machen, der zum Ausschluss aus der rassistisch strukturierten Ordnung führt. Auch die gesellschaftlichen Bedingungen, die die Frage „Woher kommst du?“ zu einer Frage der Unterscheidung und Ausgrenzung machen und damit rassistische Wirkungen zeigen, müssen angesprochen werden. • Schließlich ist auch die bereits genannte Unmöglichkeit des Verstehens eine weitere Quelle von Verunsicherung. Ziel von Differenz-Fortbildungen kann nicht eine Verhaltenssicherheit durch Kenntnis des Anderen sein, sondern eine Sensibilisierung für mögliche Differenzen, die in der Begegnung nicht aufgelöst werden können, also ausgehalten werden müssen. Diese ‚Erkenntnis’ bietet nicht mehr Sicherheit, sondern ver-
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mindert die Gewissheit, den Anderen richtig verstanden zu haben. Nun liegt das berechtigte Interesse der Teilnehmenden – wie oben umrissen – in der Vereinfachung oder Verbesserung der eigenen Arbeitssituation. Verunsicherung muss also immer mit dem Anspruch auf Handlungsfähigkeit verbunden sein. Sie darf aber nicht zur Lähmung („Ich will es nicht falsch machen ...“) führen. Es geht darum, die Teilnehmenden zu ermutigen, sich auf einen fehlerfreundlichen und kreativen Lernprozess einzulassen, der geprägt ist von dem Mut zu handeln und Fehler zu machen, von der Bereitschaft, sich dabei immer wieder verunsichern zu lassen und das eigene Handeln zu reflektieren, sowie der Offenheit, daraus für das nächste Mal zu lernen (vgl. Mecheril 2004). Mit der Kopplung von Verunsicherung und eine auf Handlungsfähigkeit zielende Entlastung stehen wir in der neuerlichen Gefahr der Dethematisierung von Machtverhältnissen. Die Ermutigung zum fehlerfreundlichen Handeln ist unumgänglich, birgt aber auch die Gefahr, eine Entlastung in dem Sinne zu bewirken, dass eine Auseinandersetzung mit eigenen Privilegien nicht notwendig wird. Dieses Dilemma begegnet mir immer wieder in meinen Versuchen, das offene Sprechen über Rassismus in meinen Seminaren zu fördern. Welchen Kontext muss ich herstellen, um das Sprechen über Rassismus möglich zu machen und welchen Preis zahle ich dafür? Eine mögliche Strategie, das Reden über Rassismus ‚leichter’ zu machen, ist, Rassismus tendenziell zu verharmlosen, z. B. indem darauf hingewiesen wird, dass sich Mehrheitsangehörige nicht jenseits einer rassistisch strukturierten Gesellschaft positionieren können, um damit den rassistischen Verstrickungen zu entgehen. Auch der Satz, „wir (Mehrheitsangehörige) sind alle Rassisten, eben weil wir in diesem System leben, das unsere Bilder prägt und das unserem Handeln auch den Rahmen gibt,“ ist nicht hilfreich, um gewaltvolle rassistische Strukturen angemessen zu thematisieren, geschweige denn aufzubrechen. Diese Relativierungen, diese tendenziellen Verharmlosungen, haben den positiven Effekt, mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ins Gespräch zu kommen, aber sie können zum einen für Menschen mit Rassismuserfahrung eine ganz andere, verletzende Dimension haben. Darüber hinaus erkaufe ich mir die Möglichkeit
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des Redens damit, dass ich die jeweilige Beteiligung der Anwesenden an dem rassistischen System nur am Rande behandle und nicht in den Mittelpunkt stelle. Vor diesem Hintergrund möchte ich noch einmal auf das oben beschrieben Kulturdilemma zurückkommen. Dass eine Auseinandersetzung mit dem Dilemma der Differenz gelingen kann, ohne, wie oben beschrieben, durch das Setting zu einer Kulturalisierung beizutragen, zeigt das Feedback einer Teilnehmerin einer mehrteiligen‚ interkulturellen’ Inhousefortbildung. Diese Fortbildungsreihe war Teil eines Öffnungsprozesses einer Jugendhilfeeinrichtung. Die Schulleiterin einer Erziehungshilfeschule hatte an dieser Fortbildung mit einigen Lehrerinnen und Lehrern aus ihrem Kollegium teilgenommen. Von dem kritischen Schulleiterkolleg/inn/ en einer anderen Schule wurde die Schulleiterin gefragt, was sich dadurch im Schulalltag merklich verändert habe. Ihre spontane Antwort war: „Wir wissen nun, auch Türken haben eine Pubertät.“ Natürlich wusste sie das auch zuvor, doch sie bestand darauf, mit dieser Metapher einen in vielen Situationen spürbaren Wandel im pädagogischen Handeln an ihrer Schule zu beschreiben. Hätte sie vorher jede problematische Situation mit Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund nahezu reflexartig mit der Kulturbrille7 wahrgenommen und interpretiert, würde sie nun zunächst die Fragen stellen, die sie bei nicht zugewanderten Schülerinnen und Schülern auch stellen würde. Mit dem Migrationshintergrund zusammenhängende Fragen seien damit nicht ausgeblendet, sondern bleiben Teil des fachlichen Blicks.
R e f l e x i o n vo n P r a x i s f r a g e n Doch dieses Beispiel zeigt, wie dünn das Eis ist: Die Schulleiterin erwähnte als zweite sichtbare Veränderung im Schulalltag, dass die Kolleginnen und Kollegen viel gelassener wären, wenn die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund selbst die ethnische Karte ziehen würden oder bestimmte Entscheidungen der Lehrerinnen und Lehrer als „rassistisch“ kritisierten. Die Gelassenheit im Umgang mit dem Rassismusvorwurf kann auch eine 7
Zu dem Konzept von Kulturbrille, Migrationsbrille, Diskriminierungsbrille usw. vgl. Altan/Foitzik/Goltz 2009, 40ff.
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Möglichkeit sein, sich notwendigen Auseinandersetzungen zu entziehen. So ist es sicherlich wichtig, mit den Teilnehmenden ein professionelles Handwerkszeug zu entwickeln, mit dem sie prüfen können, inwieweit der Rassismusvorwurf in erster Linie eine Provokation ist. Gleichzeitig darf er nicht nur in dem Sinne als ‚berechnende Waffe’ entlarvt werden. Es geht darum, mit den Teilnehmenden eine Idee zu entwickeln, wie sie mit den Jugendlichen reflektieren, ob in dem konkreten Fall nicht zurecht eine rassistische Diskriminierung angesprochen wird. Dies verweist darauf, dass bei Fortbildungen weniger die Wahl der Übungen bedeutsam ist, als vielmehr die spezifische Art und Weise der Reflexion von Praxis relevant wird. An einem Beispiel aus einer gemeinsamen Bearbeitung einer konkreten Situation mit María do Mar Castro Varela möchte ich den Versuch einer rassismuskritischen Praxisreflexion skizzieren.8 Eine Mitarbeiterin einer stationären Einrichtung berichtet folgende ‚typische’ Problemkonstellation. Ein türkischer Junge verweigert die Mithilfe bei der Hausarbeit mit dem Argument „Das ist bei uns nicht üblich, türkische Männer machen das nicht!“ Vor dem Hintergrund bestehender Bilder über „die türkische Familie“ ist dieses Argument der Jugendlichen naheliegend und daher glaubwürdig. Die Mitarbeiterin steht in der konkreten Situation damit vor einer doppelten Handlungsanforderung. Sie muss sich zum einen in der Sache verhalten (… muss der Junge spülen oder nicht?) und zum anderen die eigene Position begründen. Wird sie im Sinne einer kultursensiblen Empathie den Jugendlichen aufgrund der vorgebrachten Differenz ‚anders’ behandeln, ihm also beispielsweise in Absprache mit den anderen Jugendlichen einen anderen Dienst zuteilen, oder aber im Sinne eines pädagogischen Konzeptes des Alltagslernens darauf bestehen, dass der türkischstämmige Junge die Hausarbeit erledigt? In allen Fällen hat sich die Mitarbeiterin bereits dafür entschieden, dass es sich um einen interkulturellen Konflikt handelt. Was wissen wir aber wirklich über den Konflikt? Zunächst nur, dass der Jugendliche die ethnische Karte („wir Türken“) zieht, um ein konkretes Interesse („keine Hausarbeit“) durchzusetzen. Für die Entwicklung des Konfliktes entscheidend ist nun nicht die Frage, welche pädagogische Entscheidung die Mitarbeiterin 8
Vgl. Foitzik/Pohl 2009.
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fällt, sondern wie sie diese diskursiv begründet. Im vorliegenden Fall hat die Kollegin mit dem Satz „Das ist uns egal, bei uns ist das so, dass auch Männer sich an der Hausarbeit beteiligen!“, die ethnische Polarisierung des Jugendlichen aufgenommen. „Wir“ meint dann nicht „nach unserer Hausordnung“, oder „nach unserem pädagogischen Verständnis“, sondern „bei uns in Deutschland“. Indem sie in dieser Weise auf dem von dem Jugendlichen vorgegebenen Spielfeld bleibt, bleibt ihr zum einen nur die Lösung über Dominanz, zum andern bestätigt sie dem Jugendlichen, dass dieses ethnische Argumentation ein diskursives Feld ist. Der Jugendliche erlebt in der Sozialarbeiterin die Vertreterin eines Entwicklungshilfedenkens, erfährt eine Abwertung der eigenen kulturellen Argumentation. Was würde sich verändern, wenn die Mitarbeiterin folgendermaßen argumentieren würde: „Bei uns in Deutschland ist das leider auch so, dass Männer kaum Hausarbeit machen. Auch andere Jungs kennen das nicht aus ihrer Familie und trotzdem müssen sie es hier machen. Weil wir hier für unsere Wohngemeinschaft entschieden haben, dass die Mädchen nicht die Arbeit für die Jungs mitmachen. Aber dass das erst mal ungewohnt ist, wenn man das von zuhause nicht kennt, verstehe ich gut.“ Die Mitarbeiterin verlässt das vom Jugendlichen vorgeschlagene ethnische Spielfeld nicht. Dies hätte sie getan, wenn sie dem Jugendlichen beispielsweise unterstellt hätte, dass er das Argument nur als Vorwand benutzt, weil er zu faul sei. Sie erkennt also eine kulturelle Differenz als möglichen Hintergrund für das Verhalten des Jungen prinzipiell an. Gleichzeitig verschiebt sie das Spielfeld, da hier nun nicht mehr Türken gegen Deutsche spielen, sondern kulturelle Normen von Männern zum Gegenstand werden. Wenn die kulturelle Differenz für den Jungen hier eine wirkliche Bedeutung hat, ist nun das Feld für eine offene Auseinandersetzung geöffnet – unabhängig von den möglichen Entscheidungen in der Sache. Methodisch kann es hier nicht darum gehen, die Protagonistin einer falschen Praxis zu überführen. Es ist mit der Gruppe gemeinsam und auf der Basis der in Übungen und Diskussion vermittelten Impulse zu erarbeiten, welche Dilemmata und Fallstricke, aber auch welche Handlungsoptionen aus dieser Situation entwickelt werden können. Das Psychodrama, aber auch ver-
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schiedene theaterpädagogische Ansätze, bieten hier gute Bearbeitungsformen, die die Protagonistin selbst zu Forscherin in eigener Sache machen.9
Schluss Die für mich wieder neu aufgegriffene Auseinandersetzung mit rassismuskritischen Fragen10 hat meine Praxis verändert. Ich reflektiere die unintendierten Effekte der ‚erfolgreichen’, weil AhaEffekte auslösenden Methoden und thematisiere stärker auch die eigene weiße Position. Erleichtert wird dies sicherlich dadurch, dass die Teilnehmenden von berufsbegleitenden Weiterbildungen11 offener sind als beispielsweise die zu der Fortbildung mehr oder weniger genötigten Mitarbeiter/innen einer Behörde oder auch eines Verbandes. Interkulturelle Trainings können dann ein rassismuskritisches Potenzial entfalten, wenn die eigenen Arbeitsmethoden und -settings immer wieder auf einer Metaebene selbst infrage gestellt werden. Reflexionsfragen können sein: • Welche Spuren hinterlässt die Arbeit? Welche sind intendiert, welche unintendiert? Was wird bewusst in Kauf genommen? • Enthalten die Ansätze eine gesellschaftsverändernde Perspektive? Auch bisher sind Teilnehmende eher verunsichert aus meinen Fortbildungen gegangen, auch bisher habe ich ihnen Ungewohntes zugemutet, aber immer im Rahmen des ‚für alle Erträglichen’. Auch bisher habe ich das ‚Reden über die Anderen’ in den Fortbildungen kritisch infrage gestellt und sah mich dabei immer wieder mit den Wahrnehmungen der Teilnehmenden konfrontiert, die
9 Vgl. Foitzik 2005. 10 Vor allem durch die Auseinandersetzung mit der neueren Literatur zur Migrationspädagogik, durch die jährlichen rassismuskritischen Fachgespräche von IDA-NRW und zuletzt auch durch das Buch Spurensicherung. Reflexion von Bildungsarbeit in der Einwanderungsgesellschaft von Elverich/Kalpaka/Reindlmeier 2006. 11 Z. B. „Pädagogisches Handeln in der Einwanderungsgesellschaft“ (www.pjw-bw.de).
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meinen ‚moralischen Zeigefinger’ problematisierten. Den Schritt zu gehen, nicht nur das Reden über die Anderen zu kritisieren, sondern mit dem Reden über das ‚Wir’ zu beginnen, habe ich bislang aus den oben genannten Gründen nicht ‚gewagt’. Hier sollten die Impulse aus Antirassismus- und Empowermenttrainings,12 entwickelt vor allem von Menschen mit Rassismuserfahrung, aufgegriffen werden. Bei der Beschreibung der Idee geschlossener Lernräume für Menschen mit Migrationshintergrund wird deutlich, wie viel in Bewegung kommt, wenn die ‚Anderen’ sich das Recht nehmen, sich selbst ihrer Räume zu bemächtigen. Zugleich wird deutlich, dass das Anderssein ein Konstrukt ist, dass die Anderen sich auch selbst ‚different’ sind. Für den hiesigen Diskurs ebenso wichtig und vielleicht noch provozierender, weil ungewohnter, ist die Initiierung von geschlossenen Diskursen auch unter den ‚Nicht-Anderen’, unter den ‚Weißen’. Wichtig für die Akteure in diesem Feld der Widersprüche sind rassismuskritische Reflexionsräume zur Selbstvergewisserung und Selbstverunsicherung.
Literatur Altan, Melahat/Foitzik, Andreas/Goltz, Jutta (2009): Eine Frage der Haltung. Eltern(bildungs)arbeit in der Migrationsgesellschaft. Eine praxisorientierte Reflexionshilfe, Stuttgart, Aktion Jugendschutz Baden-Württemberg e. V. Arbeitskreis Interkulturelles Lernen, Diakonisches Werk Württemberg, Redaktion: Andreas Foitzik (2001): Trainings- und Methodenhandbuch. Bausteine zur interkulturellen Öffnung, Stuttgart: Diakonisches Werk; Bezug: [email protected] Elverich, Gabi/Kalpaka, Annita/Reindlmeier, Karin (2006): Spurensicherung – Reflexion von Bildungsarbeit in der Einwanderungsgesellschaft, Frankfurt a. M./ London
12 Konzepte von Empowermentworkshops werden beispielsweise in dem Buch Spurensicherung. Reflexion von Bildungsarbeit in der Einwanderungsgesellschaft von Elverich/Kalpaka/Reindlmeier 2006 vorgestellt und diskutiert.
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Foitzik, Andreas/Marvakis, Athanasios (1997): Tarzan – was nun? Internationale Solidarität im Dschungel der Widersprüche, Hamburg Foitzik, Andreas (2005): Soziodramatische Arbeitsformen in interkulturellen Trainings, unveröffentlichte Abschlussarbeit der Weiterbildung zum Psychodramaleiter am Moreno-Institut Stuttgart Foitzik, Andreas (2005): Vergiss, vergiss nie ... – Jugendhilfe im Einwanderungsland. Ein Handbuch, Stuttgart, Diakonisches Werk Württemberg, Abteilung Kinder, Jugend und Familie, Bezug: [email protected] Foitzik, Andreas/Pohl Axel (2009): Das Lob der Haare in der Suppe. Selbstreflexivität Interkultureller Öffnung, in: Scharathow, Wiebke/Leiprecht, Rudolf: Rassismuskritik, Band 2: Rassismuskritische Bildungsarbeit, Schwalbach/T. Kalpaka, Annita (1996): Die Bedeutung der Perspektivübernahme für Verstehensprozesse in Erwachsenenbildung und Supervision, Abschlussarbeit für die Supervisionsausbildung am Institut des Rauhen Hauses für Soziale Praxis, Hamburg Lange, Matthias/Pagels, Nils (2001): Interkulturelle Kompetenz – Überlegungen zu kommunalen Ansätzen und Strategien einer interkulturellen Öffnung, in: Leiprecht, Rudolf u. a. (Hg.): International Lernen, Frankfurt a. M./London Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik, Weinheim/Basel Mecheril, Paul (2007): Die Normalität des Rassismus, in: IDANRW (Hg.): Tagungsdokumentation des Fachgesprächs zur „Normalität und Alltäglichkeit des Rassismus“ am 14./15. September 2007, www.ida-nrw.de/html/Tagungsdoku_All tagsrassismus.pdf, Stand: 12.01.2010 Scharathow, Wiebke/Leiprecht, Rudolf (2009): Rassismuskritik, Band 2: Rassismuskritische Bildungsarbeit, Schwalbach/T. Wollrad, Eske (2007): Getilgtes Wissen, überschriebene Spuren. Weiße Subjektivierungen und antirassistische Bildungsarbeit, in: IDA-NRW (Hg.): Tagungsdokumentation des Fachgesprächs zur „Normalität und Alltäglichkeit des Rassismus“ am 14./15. September 2007, www.ida-nrw.de/html/Tagungs doku_Alltagsrassismus.pdf, Stand: 12.01.2010
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Au torinne n und Autore n Broden, Anne, ist Projektleiterin des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit in Nordrhein-Westfalen (IDA-NRW) und arbeitet dort zu den Themen Rassismuskritik, Rechtsextremismus und Pädagogik in der Migrationsgesellschaft. Aktuelle Veröffentlichung u. a.: Anne Broden (2009): Verstehen der Anderen? Rassismuskritische Anmerkungen zu einem zentralen Topos interkultureller Bildung, in: Wiebke Scharathow/ Rudolf Leiprecht (Hg.): Rassismuskritik, Band 2: Rassismuskritische Bildungsarbeit, Schwalbach/T. Eggers, Maureen Maisha, Dr. phil., Professorin für Kindheit und Differenz (Diversity Studies) an der Hochschule MagdeburgStendal. 2005-2008 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Studiengang Gender Studies an der Humboldt Universität Berlin. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Schwarze Aktivist_innen in Deutschland. Doing Diversity im Vorschul- und Grundschulalter sowie die Verknüpfung von African Feminist Thought mit gegenwärtigen Realitäten, Fragestellungen, Phänomenen und Problemen in Deutschland. Aktuelle Veröffentlichung: Maureen Maisha Eggers/Grada Kilomba/Peggy Piesche/Susan Arndt (Hg.) (2005): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster Foitzik, Andreas, Diplompädagoge und Psychodramaleiter, arbeitet seit über zehn Jahren als freiberuflicher Fortbildner und Organisationsberater, u. a. Leitung der Weiterbildung „Pädagogisches Handeln in der Einwanderungsgesellschaft“ (www.pjw-bw.de). Seit 2007 in Teilzeit Leiter des Jugendmigrationsdienstes Reutlin-
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AUTORINNEN UND AUTOREN
gen. Aktuelle Veröffentlichungen: Andreas Foitzik (2008): Vergiss, vergiss nie ... – Jugendhilfe im Einwanderungsland, Stuttgart; Andreas Foitzik/Melahat Altan/Jutta Goltz (2009): Eine Frage der Haltung. Eltern(bildungs)arbeit in der Migrationsgesellschaft. Eine praxisorientierte Reflexionshilfe, Stuttgart Jäger, Margarete, Dipl. Oec und Dr. phil., stellvertretende Leiterin des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS), Arbeitsschwerpunkte: Diskurstheorie, Diskursanalysen zu Migration, Gender, Krieg und jüdischer Publizistik im 19. Jh. Aktuelle Veröffentlichungen: Michael Brocke/Margarete Jäger/Siegfried Jäger/Jobst Paul/Iris Tonks (2009): Visionen der gerechten Gesellschaft. Der Diskurs der deutsch-jüdischen Publizistik im 19. Jahrhundert, Köln; Margarete Jäger/Siegfried Jäger (2007): Deutungskämpfe. Theorie und Praxis Kritischer Diskursanalyse, Wiesbaden Linnemann, Tobias, hat an der Universität Bielefeld Erziehungswissenschaften studiert. Er arbeitet freiberuflich in der politischen Bildungsarbeit und nimmt Lehraufträge an der Universität Bielefeld zu der kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen WeißSein und an der Universität Flensburg zu kritischen Perspektiven auf die Erinnerung von NS-Geschichte wahr. Machold, Claudia, ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld in der AG 10 Migrationspädagogik und Kulturarbeit tätigt. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der qualitativen (ethnographischen) Migrations-, Rassismus- und Kindheitsforschung sowie differenzsensiblen und rassismuskritischen Pädagogik. Aktuelle Veröffentlichung: Claudia Machold: (Anti-)Rassismus kritisch (ge-)lesen. Verstrickung und Reproduktion als Herausforderung für die pädagogische Praxis. Eine diskurstheoretische Perspektive, in: Wiebke Scharathow/Rudolf Leiprecht (Hg.): Rassismuskritik, Band 2: Rassismuskritische Bildungsarbeit, Schwalbach/T., 379396. Mecheril, Paul, Uni.-Prof. an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Leiter des Instituts für Erziehungswissenschaft. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Cultural Studies; Methodologie interpretativer
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Forschung; Pädagogische Professionalität; Interkulturelle Bildung; Migrations- und Rassismusforschung. Aktuelle Veröffentlichungen: Paul Mecheril/María do Mar Castro Varela/İnci Dirim/Annita Kalpaka/Claus Melter (2010): Migrationspädagogik, Weinheim/Basel; Claus Melter/Paul Mecheril (2009): Rassismuskritik, Band 1: Rassismustheorie und -forschung, Schalbach/T.; Paul Mecheril/Inci Dirim (Hg.) (2009): Migration und Bildung. Soziologische und erziehungswissenschaftliche Schlaglichter, Münster; Paul Mecheril/Sabine Hornberg/Gregor Lang-Woytasik/Inci Dirm (Hg.) (2009): Beschreiben – Verstehen – Interpretieren. Stand und Perspektiven International und Interkulturell Vergleichender Erziehungswissenschaft in Deutschland, Münster Messerschmidt, Astrid, ist Professorin für Interkulturelle Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe mit den Arbeitsschwerpunkten zeitgeschichtliche Bildungsprozesse und Erinnerungskultur, Pädagogik und Erwachsenenbildung in der Einwanderungsgesellschaft, Kritische Bildungstheorie, Pädagogische Geschlechterforschung. Aktuelle Veröffentlichung: Astrid Messerschmidt (2009): Weltbilder und Selbstbilder. Bildungsprozesse im Umgang mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte, Frankfurt Quehl, Thomas, studierte Grundschul- und Kunstpädagogik an der Hochschule der Künste Berlin und Education (MA) am Institute of Education, University of London, und arbeitet als stellvertretender Schulleiter an einer Grundschule in Duisburg. Veröffentlichungen zu rassismuskritischer Bildung in England und Deutschland, diskriminierungskritischer Institutions- und Unterrichtsentwicklung und zur Zweitsprachen- und Lesedidaktik im Primarbereich. Lehraufträge an der Universität Bielefeld, Tätigkeiten in der Lehrerfortbildung. Rose, Nadine, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HelmutSchmidt-Universität Hamburg im Bereich Allgemeine Erziehungswissenschaft, insbesondere interkulturelle und vergleichende Bildungsforschung. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Migrationspädagogik, Diskriminierung und Rassismus, Bildungstheorie, Biographieforschung. Aktuelle Veröffentlichung: Britta Hoffrath/Claudia Machold/Nadine Rose u. a. (2010): Es
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AUTORINNEN UND AUTOREN
macht einen Unterschied – Eine Differenz thematisierende, (de) konstruierende Lesehilfe, in: Fabian Kessel/Melanie Plößer (Hg.): Differenzierung, Normalisierung, Andersheit, Wiesbaden. Scharathow, Wiebke, Dipl.-Pädagogin (Interkulturelle Pädagogik), wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Diversitätsbewusste Sozialpädagogik, Universität Oldenburg. Arbeitsschwerpunkte: Rassismusforschung, rassismuskritische Bildungsarbeit, Diversity Education, Internationale Jugendarbeit. Promotionsprojekt zu Diskriminierungserfahrungen und Handlungsstrategien von jungen Erwachsenen. Tätigkeiten in der Bildungsarbeit. Aktuelle Publikation: Wiebke Scharathow (2009): Der Islam als Thema in der Bildungsarbeit – Reflexionen in rassismuskritischer Perspektive, in: Wiebke Scharathow/Rudolf Leiprecht (Hg.): Rassismuskritik, Band 2: Rassismuskritische Bildungsarbeit, Schwalbach/T. Velho, Astride, Erzieherin, Dipl. Psychologin, lebt in München und war im Flüchtlings- und Migrationsbereich tätig. Derzeit promoviert sie als Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung zum Thema „Subjektivierung unter den Bedingungen von Rassismuserfahrungen in der BRD – Implikationen für Selbstorganisationen und psychosoziale Praxis.“ Wollrad, Eske, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und gehört auch dem universitären Team der Ombudsstelle Antirassismus an. Sie promovierte zu afrikanisch amerikanischer feministischer Theorie und Theologie, forscht zu Rassismus, den Critical Whiteness Studies, Weißsein und Postkolonialismus. Aktuelle Veröffentlichung: Eske Wollrad/Jutta Jacob/Swantje Köbsell (Hg.) (2010): Gendering Disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht, Bielefeld
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Kultur und soziale Praxis Sylke Bartmann, Oliver Immel (Hg.) Das Vertraute und das Fremde Differenzerfahrung und Fremdverstehen im Interkulturalitätsdiskurs Juni 2010, ca. 240 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1292-9
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