Radikales Denken. Zur Aktualität Susan Sontags [1. ed.] 9783037349298


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German Pages 287 [288] Year 2017

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Table of contents :
Radikales Denken
7 - Vorwort
19 - Zu diesem Buch: Einladung zum Querlesen
23 - Susan Sontag und Deutschland
42 - California Susan
89 - Hip Susan
105 - »I've heard people use it in bars...«
129 - Was soll's
135 - Das Theater der Theorie
151 - Krankheit und Avantgarde
169 - Reproduktionsmedizin als Metapher
185 - Das Leid von Susan Sontag betrachten
195 - Unsaubere Schnittflächen
219 - Kriegsfotografie als Pornografie
237 - Ethik und Ästhetik des Sehens
259 - Andante Calmo
267 - Nin, Sontag, Preciado, Rehberg
281 - Dass ich sie immer verteidigen würde
284 - Autorinnen und Autoren
286 - Nachweise
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Radikales Denken. Zur Aktualität Susan Sontags [1. ed.]
 9783037349298

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Radikales Denken Zur Aktualität Susan Sontags

Herausgegeben von Anna-Lisa Dieter und Silvia Tiedtke

diaphanes

Einige der hier veröffentlichten Beiträge gehen zurück auf das Symposium Radikales Denken. Zur Aktualität Susan Sontags, das vom 27.–29. November 2014 in den Münchner Kammerspielen stattfand.

Die Herausgeberinnen danken der Brougier-Seisser-Cleve-Werhahn-Stiftung (www.bscw-stiftung.de) für die Förderung dieses Buches und dem Internationalen Doktorandenkolleg Mimesis an der LMU München (www.mimesis-doc.lmu.de), das den Erwerb der Bildrechte für das Cover ermöglicht hat.

Alle Rechte vorbehalten © diaphanes, Zürich 2017 ISBN 978-3-03734-929-8 Titelabbildung: Illustration von Wendy MacNaughton, editiert von Maria Popova, Text von Susan Sontag, erstellt für brainpickings.org. Vignetten: Claudia Lieb Satz, Layout: 2edit, Zürich Druck: Steinmeier, Deiningen www.diaphanes.net

Inhalt Anna-Lisa Dieter, Silvia Tiedtke Vorwort Zu diesem Buch: Einladung zum Querlesen

7 19

»Kein anderes Buch war in meinen Leben so wichtig wie Der Zauberberg« Michael Krüger Susan Sontag und Deutschland

23

Laurence A. Rickels California Susan

42

»Eine tiefe Sympathie, modifiziert durch Abscheu« Jens-Christian Rabe Hip Susan. Susan Sontag, Roland Barthes, Umberto Eco und die Antwort auf die Frage, was wirklich originelle Kulturkritik eigentlich ausmacht

89

Eckhard Schumacher »I’ve heard people use it in bars…« Über Susan Sontag, Christopher Isherwood und die Listen des Camp

105

Heide Schlüpmann Was soll’s

129

Eva Meyer Das Theater der Theorie

135

»Zwei Staatsbürgerschaften, eine im Reich der Gesunden und eine im Reich der Kranken« Nicola Behrmann Krankheit und Avantgarde. Sontags Metaphern

151

Ina Hartwig Reproduktionsmedizin als Metapher Bilder von Geburt und Tod

169

Martin Zeyn Das Leid von Susan Sontag betrachten

185

»Endloser Krieg: endlose Bilderflut« Elisabeth Bronfen Unsaubere Schnittflächen Mit Susan Sontag den Krieg betrachten

195

Tanja Zimmermann Kriegsfotografie als Pornografie Susan Sontag über die Folterfotos aus Abu Ghraib

219

Carolin Emcke, Juliane Rebentisch, Daniel Schreiber Ethik und Ästhetik des Sehens Ein Gespräch über die Aktualität Susan Sontags

237

»Kunst ist Verführung« Michaela Melián Andante Calmo

259

Thomas Meinecke Nin, Sontag, Preciado, Rehberg Sechs Passagen aus dem Roman Selbst

267

Monika Rinck Dass ich sie immer verteidigen würde

281

Autorinnen und Autoren Nachweise

284 286

Anna-Lisa Dieter und Silvia Tiedtke Vorwort

(Cogito ergo boom).1

Wollte man Susan Sontags Denken räumlich entwerfen, so wäre eine vertikale Linie zu ziehen, die in einem Oben und einem Unten ihre zentralen Bezugspunkte fände. In der Tiefe verzweigten sich, der lateinischen radix entsprechend, die Wurzeln eines Denkens, das im etymologischen Wortsinn »radikal« ist. Leitmotivisch tritt dieses Wort in Sontags Essays immer wieder auf.2 Das ist die erste Bestimmung des Radikalen bei Sontag: ein Denken, das auf den Grund geht, das sich auf Ursprünge und Fundamente ausrichtet. Es schreibt sich, hip hin oder her, in die geistesgeschichtliche Tradition Europas ein. Sontag legitimiert ihre avantgardistische Argumentation, indem sie die antiken Fundamente der Kunst aufruft. Kein »Gegen Interpre­tation«, ohne auf das »früheste Erlebnis der Kunst« Bezug zu nehmen. Keine »Erotik der Kunst«, ohne an die »früheste Theorie der […] griechischen Philosophen« anzuknüpfen.3 Die Orientierung am Ursprung rührt an den Wunsch, selbst einen Ursprung zu setzen. Versteht man wie Sontag den Schriftsteller als jemanden, »der sich für ›alles‹ interessiert«,4 dann bietet sich Gelegenheit, Neues zu sagen, als originäre Denkerin aufzutreten. Eine Liste von Anmerkungen entfaltet erstmalig ein Phänomen, das zwar einen

1 Susan Sontag: »›Wider sich denken‹. Reflexionen über Cioran«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, übers. von Werner Fuld u.a., München 2003, S. 19–42, hier S. 20. 2 Vgl. z.B. Sontags zweiten Essayband, der Texte unter dem Begriff des Radikalen versammelt: Susan Sontag: Gesten radikalen Willens, übers. von Jörg Trobitius, Frankfurt 2011. 3 Susan Sontag: »Gegen Interpretation«, in: dies.: Kunst und Antikunst. 24 lite­ rarische Analysen, übers. von Mark W. Rien, München 2003, S. 11–22, hier S. 11, Hervorhebungen im Original. 4 Susan Sontag: »Dreißig Jahre später …«, in: dies.: Worauf es ankommt, übers. von Jörg Trobitius, München 2005, S. 347–354, hier S. 347.

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Namen, aber noch keine Beschreibung hat: Camp. Pornografische Literatur, die der angloamerikanischen Kritik bis dahin nicht als Kunst gilt, wertet sie als Extremform des Literarischen gründlich auf. Dem Science-Fiction-Film widmet sie eine einflussreiche Form­ analyse, die das Genre mit einem Merkmalskatalog ausstattet. Eine neue Kunstform, die Anleihen bei der Malerei und beim Theater nimmt, erschließt sie wie wenige vor ihr als essayistischen Gegenstand: Happenings. Was bisher nur Eingeweihte kennen, hebt Sontag aus dem Untergrund ans Licht der Öffentlichkeit. Was jede kennt, aber keine bislang ernsthaft bedacht hat, findet Eingang in ihre Essays. Als eine der ersten Kritikerinnen begeistert sie sich für das Kino und schreibt ein Buch über oder besser gegen Fotografie, das zum Grundlagenwerk der Theorie und Geschichte dieser Kunstform wird.5 Fundamente legt Sontag auch für die Rezeption europäischer Literatur in den USA: Ihre Porträts entdecken die literarische Größe zuvor eher unbekannter Figuren wie Roland Barthes, Antonin Artaud, Walter Benjamin, Elias Canetti und W. G. Sebald. Sontags originelles Nachdenken über den Komplex von Krankheit und Metaphern verändert nachdrücklich den Blick auf Krebs und Aids. Werden heute die Sprechweisen und Vorstellungen kritisch geprüft, die diese Krankheiten mit Bedeutung überfrachten, so geht eine solche Sensibilität auf Sontag zurück. Der Essay, der bei Sontag ein Denken des Neuen ermöglicht, verfolgt keine Partikularinteressen oder Spezialprobleme, sondern verlegt sich auf die Bildung eines allgemeinen Bewusstseins von Modernität. Einzelne Figuren und Themen werden so ausgestaltet, dass sich an ihnen Antworten auf die großen Fragen ablesen lassen: Was ist Kunst? Was verstehen wir unter Literatur? Was heißt Denken? Wie sehen wir? Ihr Interesse für »alles«, so umfassend im Anspruch wie »radikal« in seiner Grundlegung, umfasst das Hochkulturelle wie das Populäre, das Extravagante wie das Alltägliche. Ein totalitäres Interesse, das  – Ironie des Antiakademismus  – ausgerechnet diejenige, die der Universität bewusst den Rücken kehrt, zu einer Gründungsfigur der Film- und Kulturwissenschaften macht. 5 Vgl. Eliot Weinberger: »Susan Sontag«, in: ders.: Orangen! Erdnüsse!, übers. von Peter Torberg, Berlin 2009, S.  45–65, hier S.  54 u. Daniel Schreiber: Susan Sontag. Geist und Glamour, Berlin 2007, S. 168 u. 175.

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Vorwort

Radikal ist Sontags Denken zweitens, weil es »bis zum Äußersten geht«, so eine geläufige Konnotation von »radikal«. Ihre Sprache tastet sich nicht vorsichtig an einen Gedanken heran, sondern formuliert überspitzt. Der Aphorismus, der eine Idee in eine Pointe presst, kommt unaufhörlich zum Einsatz. Der ideale Leser einer solchen Prosa ist ungeduldig. Keine Zeit, länger bei einem Gedanken zu verweilen.6 Wörter in den Händen des Schriftstellers begreift Sontag als »Pfeile im dicken Fell der Wirklichkeit«.7 Schreiben als Kampf, der in der Tradition der amerikanischen Kulturkritik für bestimmte Werte eintritt: Liebe zu Ideen, Komplexität, Ernsthaftigkeit.8 Ein Kampf gegen Stereotype und Philistertum, gegen intellektuelle Selbstgefälligkeit. Derart militantes Schreiben greift auf Metaphern zurück, die Gewalt in Bilder übersetzen. Dieser Rhetorik widerspricht Sontags scharfe Kritik an der Metapher in anderen Kontexten (der Krankheit, dem Krieg). Die Gewalt der Sprache ist dort besonders ausgeprägt, wo Sontag gegen einen klaren Gegner anschreibt. Sie kann allerdings auch an Stellen auftauchen, wo man sie nicht erwartet hätte: Kafka-Exegese ist »Massenvergewaltigung«, Interpretationen sind giftig »wie die Abgase der Autos«.9 Die Geste der Historisierung gleicht einer »raubgierigen Umarmung«.10 Sie ist dem Akt des Fotografierens verwandt, der »etwas Räuberisches« an sich hat. Wer einen anderen abfotografiert, begeht einen »sanfte[n] Mord«, Tatwaffe ist die Kamera, eine »Sublimierung des Gewehrs«.11 Benjamins Stil »sollte Foltern vollstrecken«.12 Und 6 Vgl. Susan Sontag: Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Tagebücher 1964–1980, übers. von Kathrin Razum, München 2013, S. 536 u. 541. 7 Susan Sontag: »Das Gewissen der Wörter. Rede bei der Entgegennahme des Jerusalem-Preises«, in: dies.: Zur gleichen Zeit. Aufsätze und Reden, hg. von Paolo Dilonardo und Anne Jump, übers. von Reinhard Kaiser, München 2008, S. 189– 201, hier S. 189. 8 Vgl. Stephan Isernhagen: Susan Sontag. Die frühen New Yorker Jahre, Tübingen 2016, S. 237f. 9 Sontag: »Gegen Interpretation«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 15f. 10 Sontag: »›Wider sich denken‹. Reflexionen über Cioran«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, a.a.O., S. 19. 11 Susan Sontag: »In Platos Höhle«, in: dies.: Über Fotografie, übers. von Mark W. Rien und Gertrud Baruch, München 2002, S. 9–28, hier S. 20. 12 Sontag: »Im Zeichen des Saturn«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, a.a.O., S. 127–148, hier S. 145.

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die Kriegspropaganda der Bush-Regierung hält Sontag für so dumm, dass ihre Verbreitung wie eine Lobotomie wirke, ein medizinischer Eingriff unvorstellbarer Brutalität, der dem Gehirn gezielt Schnitte zufügt.13 Die Aggression, die sich an der Textoberfläche metaphorisch ausdrückt, lässt einen gewaltförmigen Grund vermuten, auf dem sich Sontags Schreiben vollzieht. Die Kombination aus kämpferischem Ton und Höchstmaß an Ernsthaftigkeit hat einen Nebeneffekt: Sontags Essays sind auffallend humorlos.14 Was sich hier als eine weitere, dritte Eigenschaft des Radikalen abzeichnet, ist die Unausgewogenheit der Positionen, die Sontags Schreiben charakterisiert. Gesten des Abwägens, Relativierens, Ausbalancierens sucht man vergebens. Ein zurücknehmendes »Vielleicht« findet sich zwar in manchen ihrer Texte, ihren Ton bestimmt es aber nicht. Kein Zögern, kein Zweifeln, das sich in der Verfertigung der Gedanken bemerkbar machen würde. Kein Eingeständnis der zwangsläufig einseitigen Thesenführung. Wenig Versuch, viel Ge­ wissheit. Die Erwartungen, die sich an den Namen der Gattung knüpfen, werden enttäuscht. Sich für »alles« zu interessieren, über »alles« zu schreiben, dabei »alles« in den Blick zu nehmen, bedeutet hier offenbar auch: »alles« zu wissen. Sontags essayistischer Auftritt ist souverän, kürzt alles Zaghafte aus der Formel des Essays heraus. Anstiftung zur Unmittelbarkeit ist die vierte Bestimmung des Radikalen in Sontags Denken. Wer nach einem roten Faden sucht, der sich durch ihr heterogenes Werk zieht, wird auf die sinnliche Erfahrung stoßen, für die sie ein Leben lang eintritt, in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen. Am Anfang steht ein Schlachtruf, der die Kunst von der Interpretation befreien will, um statt »Inhalt« »Form« sichtbar zu machen. Kunst soll wieder sinnlich erfahrbar werden: »Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu fühlen.«15 Diese Forderung kehrt als Vorwurf wieder, wenn Sontag Fotografie als Entzug von Erfahrung beschreibt. Wer

13 Vgl. Susan Sontag: »One year after«, in: dies.: At the Same Time. Essays and Speeches, hg. von Paolo Dilonardo und Anne Jump, New York 2007, S. 118–123, hier S. 123. Der Verweis auf die Lobotomie geht in der deutschen Übersetzung verloren. 14 Vgl. Weinberger: »Susan Sontag«, in: ders.: Orangen! Erdnüsse!, a.a.O., S. 51. 15 Sontag: »Gegen Interpretation«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 22.

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Vorwort

f­otografiert, macht keine Erfahrung, sondern ein Foto. Wer sich ein Foto anschaut, hat nicht Teil an einem Ereignis, sondern am Duplikat dieses Ereignisses. Das hat auch weitreichende Folgen für das ethische Empfinden. In eine ähnliche Richtung argumentiert Sontag, wenn sie sich dafür einsetzt, die Erfahrung von Krankheit, die besonders im Fall von Krebs und Aids durch Metaphern und kulturelle Deutungsmuster verstellt ist, freizulegen. Auch hier spricht sich Sontag »gegen Interpretation« aus. Der Weg zur Heilung führt über eine Konfrontation mit der Sache selbst, der Existenz der Krankheit. Sontags Kritik an Interpretation und Metapher hat denselben Grund: Beide wehren das Unmittelbare ab, weigern sich, die »Dinge in ihrem Sosein«16 wahrzunehmen. Beide sind Figuren der Ersetzung, die Interpretation ersetzt das Phänomen durch seine Deutung, die Metapher die Sache durch ein Bild. Sontags Dankesrede bei der Verleihung des Jerusalem-Preises, einer ihrer letzten öffentlichen Auftritte, ist ein erneutes Bekenntnis zur ganz konkreten Hingabe an die Welt und zur direkten Erfahrung. Letztere muss für sie notwendig gegeben sein, damit eine Schriftstellerin eine öffentliche Meinung zu einem Thema äußern kann. »Unmittelbare Erfahrung« bedeutet für Sontag hier: »konkretes, spezifisches, historisch verdichtetes Wissen aus erster Hand«.17 Auch das ist eine radikale Forderung: Welcher Schriftsteller kann es sich leisten, nur auf der Grundlage von selbst erfahrenem Wissen Position zu beziehen? Und käme das nicht einer Verarmung des Denkens und des öffentlichen Lebens gleich? Sontag jedenfalls löst diese Forderung nach first-hand knowledge ein: Mehrfach reist sie in Kriegsgebiete, nach Vietnam und Sarajevo, und macht aus der Erfahrung vor Ort Texte. Ein Plädoyer für Unmittelbarkeit als Konstante in einem Œuvre, das sich der Vermittlung verschrieben hat, muss erstaunen. Dass die Medienexpertin Sontag, die sich in ihren Arbeiten mit der Komplexität des Medialen auseinandersetzt, vehement für das Unmittelbare argumentiert, ist einer der zahlreichen Widersprüche eines Werkes,

16 Ebd., S. 21. 17 Sontag: »Das Gewissen der Wörter«, in: dies.: Zur gleichen Zeit, a.a.O., S. 199.

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in dem sich die Lust am Denken mit der Lust am Widerspruch vereint. Die Unmittelbarkeit der Erfahrung, die Sontag postuliert und im Umgang mit ihren Gegenständen, die sie im Hier und Jetzt entfaltet, auch erzeugt, verträgt sich nicht mit der Historisierung, neben der Interpretation ein weiteres Feindbild, gegen das Sontag anschreibt. Was spricht gegen Historisierung? Sie relativiert das einzelne Ereignis, verkleinert Bedeutung, indem sie das notwendig Transitorische jedes Werkes vorwegnimmt. Die Geschichte zieht Aufmerksamkeit von der singulären Erscheinungsform ab, erschöpft sich in der Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, »dem sinnlosen und überdokumentierten Rhythmus von Erscheinen und Ablösung«.18 Den Ausweg aus der historischen Umklammerung weist der Aphorismus, wie er sich im Werk des rumänischen Schriftstellers Emil Cioran findet. Seine aphoristische Philosophie bestimmt das Denken neu: als »extreme Tat, ein Risiko«, das sich im Rahmen von »paradoxe[n], flüchtige[n] Situationen« ereignet.19 Der Aphorismus schlägt Funken der Präsenz aus der Vergänglichkeit, der alle Vorstellungen unterworfen sind, er markiert Intensitäten, dem Flüchtigen zum Trotz. Sontags Schreiben ist auch ein Aphorisieren gegen die Geschichte, wie sie es bei Cioran beobachtet hat. Der Gefahr der Historisierung entgeht Sontag durch Aktualisierung. Der Aphorismus, für den sie eine »ununterdrückbare Vorliebe« hat,20 ist ihr zentrales rhetorisches Werkzeug. Sontags Ruhm als Essayistin gründet nicht unwesentlich auf der hohen Dichte provozierender Aphorismen in ihrem Werk. Im Umgang mit ihren Gegenständen erzeugt Sontag Gegenwärtigkeit. Wenn sie auch die historische Dimension aktueller Phänomene einblendet, so bleibt doch das Hier und Jetzt der Fluchtpunkt ihres Denkens. Geschichte interessiert nicht an sich, sondern gibt Sontag Gelegenheit, der Gegenwartserkundung Tiefe zu verleihen und das Neue für sich sprechen zu lassen. Aktualität ist bei Sontag eine Geste der Präsenzerzeugung, Präsenz im doppelten Sinn von Anwesenheit und Gegenwart. Der Akt des Schreibens wird zum Happening,

18 Sontag: »›Wider sich denken‹: Reflexionen über Cioran«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, a.a.O., S. 20. 19 Ebd., S. 25. 20 Sontag: »Dreißig Jahre später  …«, in: dies.: Worauf es ankommt, a.a.O., S. 349.

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Vorwort

eine emphatische Gegenwart, die in ihren Texten zur Aufführung kommt. Die Aktualisierung beginnt dabei zumeist mit dem ersten Satz. Dieser bewegt sich entweder vom Jetzt, der kollektiven (»wir leben in einer Zeit«)21 oder subjektiven (»während ich diese Zeilen schreibe«)22 Gegenwart der Autorin zum Gegenstand. Oder umgekehrt: Er führt vom Gegenstand zur Gegenwart, zur Schreib- und Lesesituation, die ihn präsent hält. Zum Beispiel in dem Essay über Benjamin, der filmgleich einsetzt: Wie eine Kamerafrau nähert sich Sontag einem Foto von Benjamin, zoomt heran, schwenkt zum nächsten. Die Fragen »Wie denkt Sontag Aktualität?« und »Wie ist die Aktualität Susan Sontags zu denken?« führen zu derselben Antwort: In beiden Fällen koppelt sich die Aktualität nur vordergründig an Inhalte (etwa an ihren spektakulär gegenwartsbezogenen Themenkatalog in den Sechzigerjahren), sie ist vor allem ein rhetorischer Effekt, eine Sache des Stils, eine performative Geste. Sontags Aktualität geht gegen Interpretation. Die Wucht ihrer Texte berührt, egal, wie viel zusätzliche Komplexität sich in der Zwischenzeit auch angehäuft haben mag. »Extrem« ist ein weiterer, bereits gefallener Schlüsselbegriff in Sontags Werk. Sie hat einen Hang zu Gegenständen, die sie als extrem bezeichnet. Das Extreme, eine Spielform des Radikalen, ist die Kategorie zeitgenössischer Kunst und Philosophie, die auf Sontag besondere Anziehungskraft ausübt und ihr Interesse an so unterschiedlichen Figuren wie Simone Weil, Antonin Artaud, Robert Bresson, Georges Bataille und Emil Cioran verbindet. Das Europa, das sie anhand dieser Figuren nach Amerika vermittelt, ist von schriller Exzentrik. Was an den Rändern liegt, wirkt zurück auf das Zentrum. Die Pornografie etwa zählt Sontag zu den Grenzerfahrungen des Bewusstseins, um die sie das zeitgenössische Verständnis von Literatur erweitert, indem sie Extremität und Exklusivität zu Kriterien des Literarischen erhebt. Zugleich betont sie, dass Kunst seit jeher mit extremen Gefühls- und Bewusstseinslagen beschäftigt sei, verschiebt 21 Sontag: »›Wider sich denken‹: Reflexionen über Cioran«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, a.a.O., S. 19. 22 Susan Sontag: »Über Paul Goodman«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, a.a.O, S. 11–18, hier S. 11.

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die Pornografie also gleichsam von der Peripherie ins Zentrum der Literatur. Ohne die Ausrichtung nach oben hin wäre dieser räumliche Entwurf von Sontags Denken unvollständig. Zur Fokussierung auf die Ursprünge und Ränder tritt ein Drängen in die Höhe. Diese Bewegung nimmt bei Sontag die Form der Bewunderung an. Sontag ist eine leidenschaftliche Bewunderin von Größe, literarischer, filmischer, allgemeiner: künstlerischer Größe. Sie bewundert vor allem ›große Männer‹, über sie hat sie geschrieben, ihnen hat sie, mit wenigen Ausnahmen, ihre Bücher gewidmet und ist dafür von feministischer Seite scharf kritisiert worden.23 Bewunderung ist die Haltung, die ihrem essayistischen Schreiben seinen Zug in die Höhe verleiht: »Ich war voller Bewunderung: es gab so viel zu bewundern«, sagt Sontag über sich selbst als junge Essayistin, ihre frühen Texte nennt sie schlicht »Begeisterungen«, »Bewunderungen«.24 Sich für die Werke der Anderen zu begeistern, ist bei Sontag ein schöpferischer Akt. Ihr Elan verliert sich nicht in Ehrfurcht, Neid oder Melancholie. Kein Kreisen um die Frage, ob angesichts realer Größe überhaupt noch etwas zu schaffen sei. Bewundern hat nichts mit Passivität oder unerreichbarer Ferne der begehrten Objekte zu tun. Bewundern ist vielmehr Antrieb, etwas zu tun. Freisetzung von Energien. Reizung des Ehrgeizes. Was Sontag über Canetti schreibt, trifft auf sie selbst zu: »Canettis Begabungen als Bewunderer lassen unermüdliche Fähigkeiten als Lernender erkennen; das erste kann nicht sehr tief gehen ohne das zweite.«25 Das strenge Bildungsprogramm, das sich Sontag auferlegt, ist aus ihren Tagebüchern bekannt. Listen verordnen ein Leseregime, das dem Schreiben zugutekommen soll. Das Ziel ihrer Anstrengungen: Ein Bewundern auf Augenhöhe! Sich Aufschwingen, um so zu werden wie die eigenen Helden.

23 Legendär ist die Kritik von Camille Paglia: »Sontag, Bloody Sontag«, in: dies.: Vamps & Tramps. New Essays, New York 1994, S. 344–360. 24 Sontag: »Dreißig Jahre später …«, in: dies.: Worauf es ankommt, a.a.O., S. 349 u. 352f. 25 Susan Sontag: »Geist als Leidenschaft«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, a.a.O., S. 185–206, hier S. 198.

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Vorwort

Ähnlich wie die Besinnung auf die Ursprünge europäischer Kultur Sontags Denken des Neuen aufwertet, so adeln ihre Porträts bewunderter Künstler ihr eigenes Schreiben. Der Essay kommt einer Praxis der Selbstaristokratisierung im Reich des Geistes gleich und das Porträt einem Projekt mimetischer Anverwandlung: »[Der Schriftsteller] ist Gegenstand all der Gegenstände, die er rühmt«.26 Mimetisch ist auch das Verhältnis zwischen der Form und dem Inhalt ihrer Texte: Schreibt Sontag über einen Film Godards, der eine fragmentarische Struktur hat, so wählt sie die Form des Fragments. Ist ihr Thema Canettis Philosophie der Bewunderung, so widmet sie ihm eine Liebeserklärung in Essayform. Handelt sie von Roland Barthes und seinem Lebensthema, der Verführung durch das Schreiben, entspricht das ihrer Forderung nach einem sinnlichen Denken, das in ihrer Sprache Ausdruck findet: »Er hatte ein amouröses Verhältnis zur Wirklichkeit – und zum Schreiben, beides war für ihn dasselbe.«27 Sontag legt ihren Texten über Cioran, Benjamin, Canetti oder Barthes Bruchstücke eines idealisierten Selbstporträts ein. Die Bewunderung geht mit der Lust am klaren Urteil einher. Dessen Ausdrucksform ist das Adjektiv. Ein exzessiver Umgang mit dieser Wortart, der Lieblingswortart der Bewunderin, prägt die Gestalt ihrer Texte. Sontag über Barthes’ Leistung: »[s]o lebendig, so vielgleisig, von so fesselnder Virtuosität«; über seine Sprache: »umfassend, wählerisch, unerschrocken erlesen«; über seine Schreibpraxis: »exzessiv, verspielt, verschlungen, subtil, sinnlich«.28 Über Artaud: einer der »unmäßige[n], besessene[n], schrille[n] Autoren«.29 Über die Bedeutung des Hörens bei Canetti: »der achtsame Sinn, demütiger, passiver, unmittelbarer, weniger scheidend als das Auge«.30 Über Bergmans Film Persona: »ein so originelles und triumphales 26 Susan Sontag: »Das Schreiben selbst: Über Roland Barthes«, in: dies.: Worauf es ankommt, a.a.O., S. 90–124, hier S. 119. 27 Susan Sontag: »Erinnerung an Barthes«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, a.a.O., S. 177–184, hier S. 179. 28 Sontag: »Das Schreiben selbst: Über Roland Barthes«, in: dies.: Worauf es an­ kommt, a.a.O., S. 91, 92 u. 107. 29 Susan Sontag: »Annäherung an Artaud«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, a.a.O., S. 43–96, hier S. 95. 30 Sontag: »Geist als Leidenschaft«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, a.a.O., S. 199.

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Anna-Lisa Dieter und Silvia Tiedtke

Meisterwerk«.31 Selbstverständlich mangelt es dieser Prosa, deren Begeisterung anstecken will, auch nicht an Superlativen. Barthes gilt Sontag als »einer der diszipliniertesten, sichersten, schreibhungrigsten Schriftsteller«.32 In ihrem Nachruf auf den Schriftsteller Paul Goodman heißt es: »Ich bewunderte seine Ausdauer, seine Bereitschaft zu dienen. Ich bewunderte seinen Mut, der sich auf so viele Weise zeigte – eine der bewundernswertesten dabei seine Aufrichtigkeit über seine Homosexualität«.33 Sontags Denken reicht über das Streben in superlativisch fassbare Höhen sogar noch hinaus: Eine Vorliebe für die Vorsilbe »trans-« zeichnet ihre Texte aus, Transgression und Transzendenz sind wiederkehrende Motive. Ein Jenseits-Denken, das, nicht mehr religiös besetzt, nun andernorts stattfindet: in der Kunst, der Erotik, der Krankheit. Sontag erkennt, von der europäischen Avantgarde geprägt, in Überschreitung und Übertretung die Grundzüge einer modernen Ästhetik. Zu den »systematischen Übertretungen formaler Art«,34 die die Kunst der Moderne ausmachen, zählen die erwähnte Pornografie wie auch das Schweigen in der zeitgenössischen Kunst. Pornografie ist Ausdruck der menschlichen Sehnsucht, das Persönliche zu transzendieren. Das Schweigen, etwa in Bergmans Persona, ist Inbegriff moderner Kunst, die sich als spirituell begreift und nach Transzendenz strebt. Artaud ist die literarische Figur, die wie keine andere in Sontags Kosmos das Begehren verkörpert, Sprache und Körper zu überschreiten und eine Kunst zu erschaffen, die »erlösend« wirkt, indem sie »sich selbst transzendiert«.35 Die moderne Erfahrung von Krankheit, die Kranksein als Verhängnis oder psychische Transformation mit einem tieferen Sinn beschwert, ist wie die Kunst mit transzendenter Bedeutungsstiftung beschäftigt.

31 Susan Sontag: »Bergmans Film Persona«, in: dies.: Gesten radikalen Willens, a.a.O., S. 154–181, hier S. 154. 32 Susan Sontag: »Erinnerung an Barthes«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, a.a.O., S. 179. 33 Sontag: »Über Paul Goodman«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, a.a.O., S. 17. 34 Susan Sontag: »Die Ästhetik des Schweigens«, in: dies.: Gesten radikalen Willens, a.a.O., S. 11–50, hier S. 46. 35 Sontag: »Annäherung an Artaud«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, a.a.O., S. 84.

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Vorwort

Selbsttranszendierung, die Überwindung des Selbst, kann als Sontags eigentlicher Antrieb gelten. Im Lesen, vor allem aber im Schreiben macht sie die Erfahrung der Entgrenzung des eigenen Ich.36 Sontags Denken strebt nach Größe und Überschreitung und senkt sich zugleich zu den Fundamenten ab. Ihre Essays vollziehen die Bewegung zu entgegengesetzten Enden in stets neuen Variationen. Sie widmen sich dem Bemühen, das Bewunderte lebendig zu halten. Wo ihnen dies gelingt, wird Denken so existenziell wie Atmen, »die radikalste aller Betätigungen«.37

36 Vgl. Dieter Thomä: »Susan Sontag (1933–2004). Schreiben und Orgasmus«, in: ders., Ulrich Schmid, Vincent Kaufmann: Der Einfall des Lebens. Theorie als geheime Autobiographie, München 2015, S. 324–339, hier S. 338. 37 Sontag: »Geist als Leidenschaft«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, a.a.O., S. 205.

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Zu diesem Buch: Einladung zum Querlesen Über die Form des Essays hat Susan Sontag Unbehagen geäußert: »Ich fühle mich sehr unwohl mit einer Essayform, die einer linearen Argumentation folgt. Ich habe das Gefühl, dass ich die Dinge in eine sequenzielle Form zwinge, die sie eigentlich nicht haben«.1 Dieses Buch möchte neben der linearen auch eine andere, nichtlineare Lektüre vorschlagen, die eher wie »ein Spaziergang, ein Lustwandeln, keine Handelsreise« ist.2 Eine Einladung zum Querlesen ohne schlechtes Gewissen, zum Umherschweifen und Schlendern, zum Sprung zwischen den Texten. Es sind vier unterschiedliche Pfade markiert, die entlang des Bandes neue Sichtachsen eröffnen. Die Wegzeichen beziehen sich zumeist auf den nachfolgenden Satz, in manchen Fällen auch auf mehrere Sätze. Die vier Pfade beschäftigen sich mit folgenden Themen:   Schreibweisen: Wie schreibt Susan Sontag? Wie sind Stil und Gegenstand aufeinander bezogen?   Einflüsse: Wie verortet sich Susan Sontag? Wen hat sie gelesen, wen bewundert sie, über wen schreibt sie?   Inszenierung: Wie tritt Susan Sontag als öffentliche Intellektuelle auf? Wie wird sie in Szene gesetzt?   Wirkung: Wie wirkt die Person Susan Sontag? Wie werden ihre Texte rezipiert und weitergeschrieben?

1 Susan Sontag: The Doors and Dostojewski. Das Rolling-Stone-Interview mit Jonathan Cott, übers. von Georg Deggerich, Hamburg 2014, S. 74. 2 Michael Hamburger: »Essay über den Essay«, in: ders.: Das Überleben der Lyrik. Berichte und Zeugnisse, hg. von Walter Eckel, München 1993, S. 7–9, hier S. 7.

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»Kein anderes Buch war in meinen Leben so wichtig wie Der Zauberberg«

Michael Krüger Susan Sontag und Deutschland Für Susan Sontag gehörte Deutschland nicht gerade zu den Sehnsuchtsorten. Sie war in New York zu Hause und in Paris, sie hat in Schweden gelebt und Neapel geliebt, in Sarajevo hat sie während des Bürgerkriegs ein Stück von Samuel Beckett inszeniert und in Hanoi demonstriert, über Japan wollte sie im Anschluss an den von ihr verehrten Roland Barthes ein Buch schreiben, und in Jerusalem wollte sie ihren Beitrag zur Aussöhnung zwischen Israelis und Palästinensern leisten. Aber Deutschland blieb  – trotz der vielen Besuche und längeren Aufenthalte in Berlin, trotz ihres Verlages in München und trotz der für sie enorm wichtigen Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in Frankfurt  – ein vielleicht nicht weißer, aber eben auch nicht besonders kolorierter Ort auf ihrer persönlichen Landkarte. In Deutschland hatte sie Freunde, richtig befreunden konnte sie sich mit Deutschland nie. Das mag damit zusammenhängen, dass sie, die perfekt Französisch sprach und ziemlich gut Italienisch, die deutsche Sprache nie gelernt hat. Sie kontrollierte zwar mit einem sicheren Instinkt für Sprache ihre deutschen Übersetzungen und stellte manchmal verblüffend präzise Fragen, aber ich hatte immer das Gefühl, als habe sie sich vorher kundig gemacht, was man fragen könnte. Wenn man mit ihr in Köln oder in Leipzig war, wollte sie die Museen sehen oder wissen, was im Filmclub gespielt wurde, aber ein tieferes Interesse an dem ihr doch halbwegs vertrauten Nachkriegsdeutschland hat sie – jedenfalls mir gegenüber – nie gezeigt. In München liebte sie die Glyptothek, das Lenbachhaus und die Pinakotheken, aber es war mir nie gelungen, sie einmal an den Starnberger See oder ins Murnauer Moos zu locken, damit sie das in Wirklichkeit sehen konnte, was sie von den Bildern des Blauen Reiter kannte. Sie konnte von Gabriele Münter schwärmen, aber die Vorstellung, durch die sumpfigen Wälder zu gehen, um die Motive in natura aufzusuchen, fand sie nicht besonders attraktiv. Das Naturschöne war ihr von der natürlichen Seite her ziemlich gleichgültig, die deutsche Romantik studierte sie in Büchern.

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Mit anderen Worten: Susan Sontag war ein Kind der Stadt. Aber wo in Deutschland ist die Stadt, die sich mit ihren Lieblingsstädten messen konnte? Zur Stadt gehören eben auch der Klatsch und der Tratsch, die Gemeinheiten und saftigen Intrigen, die weltgesättigten Anreisenden und die hungrigen Zurückgebliebenen, die Frage da­ nach, wer die höchsten Honorare kriegt und trotzdem blöd ist und natürlich wer mit wem und warum überhaupt. Das München von Lion Feuchtwangers Erfolg gibt es aber nicht mehr, das Balzachafte ist irgendwie verschwunden, und da sich in München das intellektuelle Milieu einen feuchten Kehricht darum kümmert, was in Paris oder in New York passiert, musste sie mit unseren Hausmitteln vorliebnehmen. Gelegentlich trafen wir uns mit Bob Wilson, wenn der an den Kammerspielen in München inszenierte. Er hat später ihr Stück Alice in Bed an der Schaubühne in Berlin aufgeführt und noch später ihr Lady from the Sea in Ferrara. Da Susan keine genuine Stückeschreiberin war, kam ihr Wilsons visuelle Theatersprache der Verlangsamung sehr zugute. Natürlich war sie unglücklich darüber, dass die deutschen Regisseure sich nicht für ihre Theaterbegeisterung interessierten. Manchmal gingen wir mit George Tabori essen, der ebenfalls an den Kammerspielen inszenierte und den Susan aus Amerika kannte, aber auch er war für die Dramatikerin Susan Sontag nicht zu gewinnen. Er erzählte dann seine traurig-komischen Witze, über die Susan nicht besonders lange lachen konnte.   Sie besuchte Hans Magnus Enzensberger, der schwer unter ihrer Eitelkeit und Besserwisserei litt und sie am liebsten gar nicht mehr sehen wollte. Das war es dann aber auch. Sie hatte den nicht ganz unbegründeten Verdacht, dass die deutschen kulturellen Milieus vielleicht ein bisschen langweilig wären – gut genährt und ein wenig langweilig. Und seit das Café Roma an der Maximilianstraße, Ecke Ring, irgendeinem Modegeschäft weichen musste, verlor München einen entscheidenden Anziehungspunkt. Ich erinnere mich noch gut an die Treffen unter der großen Markise, wo wir mit allerhand Leuten saßen und plötzlich Hannah Arendt vorbeikam, die in Marbach gewesen war und nun ihren Verlag in München besuchen wollte. Sie blieb eine ganze Zigarettenschachtel lang, also mindestens eine Stunde, in der auch Susan ihre Zigaretten qualmte und mithin eine große Rauchschwade bis in die Kammerspiele zog. Das Roma war so etwas wie das Café Flore in Paris.   Wenn man dort mit ihr saß,

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natürlich so platziert, dass sie gut gesehen werden konnte, nickten ihr alle zwei Minuten die Vorübergehenden zu, dort war ihre schwarze Mähne mit der weißen Strähne stadtbekannt. Die einzige Ausnahme in Deutschland, besonders nach der Wende, war Berlin.   Dort spürte sie noch den letzten Anhauch von Alfred Döblins Alexanderplatz, einen Roman, den sie liebte. Am 10. Mai 2002 erreichte mich ein Brief, der ein Zeugnis dafür ist, dass die Liebe von deutscher Seite nicht immer erwidert wurde. Am 24. April 2002 hatte ich Marcel Reich-Ranicki geschrieben: »Geht es Ihnen gut? Mir ging es gar nicht gut, als ich im Fernsehen erleben musste, wie Sie die arme Susan Sontag in den Boden gerammt haben. Jeder Mensch gibt gerne Interviews, wenn er ein Buch geschrieben hat, auch Sie. Ich war ganz erschrocken, mit welcher Vehemenz Sie auf der armen Frau rumgeprügelt haben.«1

  Reich-Ranickis Antwort: »Ihren Brief habe ich mit wenig Vergnügen gelesen, denn Sie haben, wie das bei Verlegern so üblich ist, meine Äußerung über Susan Sontag gar nicht verstanden. Ich habe ihr nicht vorgeworfen, dass sie viele Interviews erteilt, sondern vor allem, dass sie in den Interviews viel Blödsinn redet. […] Sie nennen die Sontag eine arme Frau. Ich glaube, dass es sich eher um eine arrogante Frau handelt, die seit vielen Jahren Dummheiten redet und schlechte Romane schreibt. […] Sehr herzlich Ihr Marcel Reich-Ranicki.«2

Wenn Susan Sontag über deutsche Autoren schrieb, dann in der Regel über Grenzfälle, die bis auf Robert Walser durch die deutsche Geschichte aus der Bahn geworfen worden waren oder die sich explizit mit dem Faschismus beschäftigt haben. Sie schrieb über Elias Canetti, den in Bulgarien geborenen, in Manchester und Wien aufgewachsenen, damals in London lebenden Emigranten, der trotz allem die deutsche Sprache gewählt hatte; über Robert Walser, der Anmerkungen der Herausgeberinnen stehen in eckigen Klammern. 1 Brief von Michael Krüger an Marcel Reich-Ranicki vom 24.4.2002. 2 Brief von Marcel Reich-Ranicki an Michael Krüger vom 10.5.2002.

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den größten Teil seines Lebens in einer Art Nervenheilanstalt verbracht hat; über W. G. Sebald, der sein Werk bewusst außerhalb Deutschlands schrieb und in England einem Autounfall zum Opfer fiel; über den Saturniker Walter Benjamin, der sich in der Emigration in Portbou aus Erschöpfung das Leben genommen hatte; über HansJürgen Syberbergs Hitler-Film, über Leni Riefenstahl, die bis ans Ende ihres Lebens nicht verstehen konnte, warum es Menschen gab, die ihre Nähe mieden. Auch wegen dieser Essays galt Susan Sontag in Amerika über viele Jahre hinweg – und ganz besonders dann, als mehr und mehr deutsche und österreichische Emigranten verstarben und bevor der Triumphzug der dekonstruktiven Schule an den amerikanischen Universitäten begann – als die einzige seriöse amerikanische Intellektuelle von Rang, die sich für Europa und eben auch für Deutschland interessierte. Kein anderer amerikanischer Intellektueller ihrer Gene­ ration konnte Sätze schreiben wie den, den sie in ihrem CioranAufsatz so einfach hinschreibt, als müsste jeder amerikanische Leser wissen, was gemeint ist: »Man erkennt an […] [Cioran] die konvulsivische Manier, wie sie für das neophilosophische deutsche Denken charakteristisch ist, dessen Motto lautet: Aphorismus oder Ewigkeit. (Beispiele hierfür: Lichtenbergs und Novalis’ philosophische Aphorismen; Nietzsche selbstverständlich; Passagen in Rilkes Duineser Elegien; Kafkas Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg.)«3

Und wenig später, immer noch im Cioran-Aufsatz: »Die letzte Rechtfertigung seiner Schriften, wenn man eine Vermutung dazu anstellen will: etwas, das nahe bei der These liegt, die in Kleists Über das Marionettentheater ihre klassische Formulierung gefunden hat. Wie sehr wir uns auch danach sehnen mögen, sagt Kleist in diesem Aufsatz, die Störungen der natürlichen Harmonie des Menschen, die das Bewußtsein erzeugt hat, wieder zu beheben, so darf dies doch nicht 3 Susan Sontag: »›Wider sich denken‹: Reflexionen über Cioran«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, übers. von Werner Fuld u.a., München 2003, S. 19–42, hier S. 24.

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durch die Preisgabe des Bewußtseins geschehen. Es gibt keine Rückkehr, keinen Weg zurück zur Unschuld. Wir haben keine andere Wahl, als bis zum Ende des Denkens zu gehen und dort, ganz Bewußtsein, (vielleicht) Gnade und Unschuld wiederzuerlangen.«

   Den Amerikanern, oder genauer: den amerikanischen Intellek­ tuellen, einen antimetaphysischen Erzmetaphysiker wie den rumä­ nischen, französisch schreibenden Häretiker Emil Cioran, einen Aphoristiker und Essayisten, wie er in den Staaten kaum vorkommt, mit Hilfe von Lichtenberg, Novalis, Nietzsche und Kleist zu vermitteln, das konnte nur Susan Sontag. Es war sogar ihr Ehrgeiz, eine sonderbare Mischung aus Eitelkeit und riesigem Selbstbewusstsein, ihre Leser mit solchen Kenntnissen zu verblüffen, die sie geradezu osmotisch aufgenommen hatte. Also nicht nur durch fleißige Lektüre – und Susan war eine Buchfresserin –, die in der Regel die Fußnoten nährt.    Es war ihr Ehrgeiz, etwas in einer nie gesagten Weise zu sagen. Für einen amerikanischen Leser der Siebzigerjahre, der mit dem die Geschichte und damit auch die Geschichtsphilosophie in Grund und Boden verdammenden Cioran nichts anzufangen wusste, mussten Susans Auslassungen bizarr klingen. Aber während er noch darüber nachdachte, was genau die nach-hegelsche Geschichtsphilosophie, Rilke und Kafka mit dem armen rumänischen Wüterich, der sich nur bei Bach und Beethoven von den Zumutungen des Lebens erholen konnte, zu tun hatten, setzte Susan noch eins drauf. Sie behauptet nämlich, dass nur ein einziger Künstler, und zwar ein amerikanischer, dem dunklen Universum des Rumänen gewachsen sei: »Die einzige Figur in der angloamerikanischen Welt der Literatur, die sich auf ein theoretisches Unternehmen eingelassen hat, das dem Ciorans an Kraft und Tragweite vergleichbar ist, ist John Cage.«4   Solche gedanklich kühnen Vernetzungen brachten ihr den Ruf einer schamanistisch begabten Schriftstellerin ein, die auf dem Campus natürlich bella figura machte, ohne einem Lehrkörper an­ gehören zu müssen. Alle Versuche, sie in das Korsett eines ordentlich akademischen Lehrbetriebs einzugliedern, waren gescheitert.

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Ebd., S. 39.

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Eine Fachrichtung war ihr suspekt, wenn sie sprach, sprach sie immer im Namen der gesamten Kultur. Ihre beneidenswert breitgefächerten Interessen – Literatur, Philosophie, Politik, Ballett, Fotografie, Oper, Kino, Mode, Bildende Kunst – passten sowieso nicht in ein universitär genormtes Department. Das heißt aber auch, dass sie von ihren Vortrags- und Buchhonoraren leben musste. Aber wer kann vom Schreiben von Essays leben, selbst wenn diese durch den sich schnell verbreitenden Ruhm der Autorin bald in viele Sprachen übersetzt wurden? Die frühen Romane jedenfalls, Todesstation und Der Wohltäter, brachten ihr in avantgardistischen Kreisen ein wenig Anerkennung, aber nicht gerade Leser ein. Unter diesen Umständen war es ein Glück für Susan, dass viele ihrer großen, substanziellen Essays zunächst in der von Elizabeth Hardwick und Robert Silvers herausgegebenen New York Review of Books erscheinen konnten, in der Europa wenigstens als Problem noch vorkam, und anschließend, gesammelt, bei dem amerikanischen Verlag Farrar, Straus & Giroux, dessen Direktor und Inhaber, Roger Straus, gerade für sein Interesse an europäischer Literatur bekannt war. Bei FSG standen Susans Bücher neben italienischen und französischen und später sogar deutschen Autoren, also in einem europäischen Zusammenhang. Susan war Rogers Baby. Wenn man nach der Rückkehr von einer von Susans rastlosen Reisen zugegen war, wie die beiden im Union Square Café – unter den neidischen und argwöhnischen Augen aller anderen New Yorker Verleger, Agenten und Autoren  – ihre Neuigkeiten austauschten, wusste man, wie die Programme von FSG zustande kamen. Susan wusste alles, hatte alles gehört und gelesen und gesehen. Ihre extrem ausgebildete Sensibilität für alles Neue und Interessante, ihre geradezu osmotische Fähigkeit, neue Strömungen und Tendenzen aufzunehmen, machten sie zu einer der anregendsten Beraterinnen des Verlages FSG, der sich rühmen konnte, die meisten Nobelpreisträger verlegt zu haben: von Canetti bis zu Nadine Gordimer oder Derek Walcott, von Joseph Brodsky bis Seamus Heaney oder Orhan Pamuk. Ich erinnere mich, wie Roger Straus nach einem solchen Essen mit Susan Sontag aufstöhnend fragte, ob tatsächlich alle die Namen, die er sich notiert hatte, etwas taugten: »Who the fuck is Antonio Tabucchi and Alexander Kluge?«

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  Susan Sontag hat mir einmal in ihrer unübertrefflichen Beschei­ denheit mitgeteilt, ihr allein sei es zu verdanken, dass Canetti 1981 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden war. Mir hatte es bei dieser Eröffnung die Sprache verschlagen und ich hatte nicht mehr als ein kleistsches »Ach!?« hervorgebracht. Tatsächlich war ihr umfangreicher Essay über Canetti ein Jahr zuvor erschienen und hat sicherlich dazu beigetragen, dass dieser Autor, der damals noch in London lebte und der englischen Literaturkritik in herzlicher Feindschaft verbunden war, der intellektuellen Öffentlichkeit in der angloamerikanischen Welt etwas bekannter wurde.5   Canetti selbst, nebenbei gesagt, konnte Susan nicht besonders gut leiden. Sie war ihm zu sehr camp, angeberisch, modisch, mit einem Wort zu amerikanisch, und da Canetti selbst nie in den Staaten war, sagten ihm auch die meisten der Namen nichts, mit denen sie ihn traktierte. Als Verleger von Canetti und Sontag haben wir natürlich darüber nachgedacht, wie wir den damals doch schon betagten Canetti nach New York bringen könnten, weil Susan dann selbstverständlich alle Register gezogen hätte, um ihn einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Und da Canetti vor dem Nobelpreis ein ziemlich bescheidenes Einkommen hatte, hätte das auch für ihn attraktiv sein können. Aber er zog es vor, ins Tessin zu gehen und zu lesen. Kurz, die dreißig Seiten über Canetti waren sicher auch eine Empfehlung für die Stockholmer Akademie, über diesen Kandidaten nachzudenken, der ihr allerdings von einem Mitglied, dem Dichter und Übersetzer Johannes Edfelt, vorgeschlagen wurde. Aber so konnte Edfelt immerhin sagen, auch die Amerikaner wären über Canetti informiert und würden nicht, wie so häufig bei europäischen Autoren, verständnislos über die bizarren Entscheidungen der Schwedischen Akademie lächeln. Und vielleicht hat Susan Sontag aus ihrer Stockholmer Zeit sogar noch einige Mitglieder der Akademie gekannt und ihnen Canetti ans Herz gelegt. Ob aber ihr Einfluss so weit ging, wie sie selbst anzunehmen geneigt war, wage ich zu bezweifeln.   Ich habe die Anek­ dote hier auch nur deshalb erwähnt, weil sie zeigt, mit welchem Selbstbewusstsein sie davon ausging, dass alles, was sie aus Europa

5 Vgl. Susan Sontag: »Geist als Leidenschaft«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, a.a.O., S. 185–206.

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empfahl, ins amerikanische Repertoire übernommen werden musste und weil es ferner zeigt, mit welcher Bravour sie für die Autoren kämpfte, die es ihr angetan hatten. Im Falle von Sebald ist ihr Einfluss direkt nachzuweisen: Nach einer Weihnachtsempfehlung von Susan im Times Literary Supplement, Sebald zu lesen, wurde aus einem kaum beachteten, schwierigen, für die englische Prosa fremden Autor über Nacht eine gefragte Größe.6 Susan war sich sicher, dass er eines Tages den Nobelpreis kriegen würde, was damals natürlich Balsam in meinen Ohren war. Sebald ging auf Empfehlung von Susan zu dem einflussreichsten Agenten New Yorks, Andrew Wylie, der auch Susan Sontag vertrat und der sofort die Bücher von Sebald – sie erschienen bis dahin bei dem kleinen, wunderbaren Verlag New Directions (dem ­Verlag von Ezra Pound und William Carlos Williams) – zu Random House transferierte, natürlich für einen horrenden Vorschuss, der dann zwangsläufig eine riesige Marketingkampagne nach sich zog. Sebald, der scheue Melancholiker aus dem Allgäu, der an einer englischen Provinzuni lehrte, war, im wahrsten Sinne des Wortes, über Nacht ein gemachter Mann  – und nur die böse Ironie eines verrückten Schicksals hat es so gefügt, dass er wenige Tage nach seiner Rückkehr von einer triumphalen Tour durch die Vereinigten Staaten einem Verkehrsunfall zum Opfer fallen sollte. Ich kann mich gut erinnern, wie Susan, kurz nach diesem rätselhaften Tod, den wir alle als Nemesis verstanden, mir tieftraurig erzählte, dass Sebald sie in New York geradezu geschnitten hätte. Natürlich war das sein Recht, hatte sie hinzugefügt, aber sie war bis ins Herz über diese Zurückweisung getroffen. Da ich einerseits Sebald, den ich nur als die Höflichkeit in Person kennengelernt hatte, nicht verraten und andererseits natürlich Susan nicht kränken wollte, musste ich sein Verhalten als typisch deutsche Zurückhaltung durch Überwältigung charakterisieren. Sie wäre nicht auf den Gedanken gekommen, dass Sebalds Stolz die Idee, von Susan Sontags Fürsprache

6 [Susan Sontags Essay »A Mind in Mourning« erschien am 25.2.2000 im Times Literary Supplement und findet sich in deutscher Übersetzung unter dem Titel »Ein trauernder Geist« in Worauf es ankommt, übers. von Jörg Trobitius, München 2005, S. 63–72.]

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abhängig zu sein, niemals zugelassen hätte. Selbstverständlich aber wusste er, was er Susan zu verdanken hatte. Aber zurück zu Canetti. Susan Sontags Essay beginnt so: »Die Rede, die Elias Canetti im November 1936 in Wien anläßlich des fünfzigsten Geburtstags von Hermann Broch gehalten hat, umreißt un­ erschrocken einige der für Canetti charakteristischen Themen und ist eine der großmütigsten Würdigungen, die je ein Schriftsteller einem anderen dargebracht hat. Eine solche Würdigung schafft die Voraussetzungen für eine Nachfolgerschaft. Wo Canetti bei Broch die für einen großen Schriftsteller notwendigen Eigenschaften findet – er besitzt Originalität; er hat den ernsten Willen zur Zusammenfassung seiner Zeit; er steht gegen seine Zeit – skizziert er die Maßstäbe, denen er sich selbst verpflichtet hat. Wo er Broch gratuliert, daß er die Fünfzig erreicht hat (Canetti war damals einunddreißig) und dieses Alter als gerade die Hälfte dessen bezeichnet, was ein menschliches Leben ausmachen sollte, bekennt er den Haß auf den Tod und die Sehnsucht nach langem Leben, die Kennzeichen seines eigenen Werkes sind. Wo er Brochs intellektuelle Unersättlichkeit rühmt und die Vision eines entfesselten Geistes beschwört, bekundet Canetti sein eigenes, gleichermaßen glühendes Verlangen. Und mit der Großherzigkeit seiner Hommage fügt Canetti diesem Porträt des Schriftstellers als noblen Gegners seiner Zeit ein weiteres Element hinzu: den Schriftsteller als noblen Bewunderer.«7

Das ist ein wunderbarer Beginn, der viele Motive von Canettis Denken in einer Geste zusammenrafft.   Und wenn Canetti sich in Bewunderung in dem verehrten Hermann Broch spiegelt, dann spiegelt Susan sich in Bewunderung in Canetti. Sie war ja, das war wohl eine der besten ihrer vielen schönen Eigenschaften, eine große Bewunderin. Davon zeugen auf überaus noble Weise ihre Aufsätze über die wenigen deutschsprachigen Autoren, die sie in ihrem persönlichen Pantheon versammelt hatte. Mit der ihr eigenen nachtwandlerischen Sicherheit pickt sie aus Canettis Aufzeichnungswerk den Satz über Kafka heraus, der ebenso sie selbst charakterisiert.

7 Sontag: »Geist als Leidenschaft«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, a.a.O., S. 185.

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Canetti schreibt: »Man wird gut, während man ihn liest, aber ohne stolz darauf zu sein.«8 Susans Kommentar hierzu lautet: »So vorbehaltlos ergibt sich Canetti der Pflicht und dem Vergnügen, andere zu bewundern, so anspruchsvoll ist seine Auffassung von der Berufung des Schriftstellers, daß er in Demut  – und Stolz  – auf charakteristisch un­­persönliche Weise extrem mit sich selbst befaßt ist. Er ist ganz davon in Anspruch genommen, jemand zu sein, den er bewundern kann. […] Ständig stachelt sich Canetti in diesen Notizen durch das Beispiel der großen Toten an, überprüft die intellektuelle Notwendigkeit dessen, was er unternimmt, mißt seine geistige Temperatur, schaudert vor Schrecken, da der Kalender seine Blätter abwirft. Andere Züge kommen zu dem Bild des selbstsicheren, großzügigen Be­ wunderers hinzu: Furcht, nicht unverfroren oder ehrgeizig genug zu sein, Ungeduld gegenüber dem bloß Persönlichen (eines der Zeichen für eine starke Persönlichkeit ist, wie Canetti sagt, die Liebe zum Unpersönlichen) und Abscheu vor Selbstmitleid.«9

Das ist Susan Sontag pur. Ihre Abscheu vor Selbstmitleid hat ihr wahrscheinlich geholfen, den Kampf gegen den Krebs solange und bewunderungswürdig durchzuhalten, ohne Sentimentalität und Ge­ jammer: Ihr Sohn David hat es glaubhaft beschrieben.10 Auffällig ist, dass Susan Sontag in ihrem Canetti-Essay ausschließlich europäische Autoren aufruft: Kafka, Karl Kraus, Broch, Gottfried Benn, Thomas Bernhard, Sigmund Freud, den Tschechen Karel ³apek oder den durch und durch europäischen Jorge Luis Borges. Amerikanische Autoren werden zum Vergleich nicht herangezogen; sie macht nicht einmal den Versuch, den schroffen, aphoristischen Geist Canettis den amerikanischen Lesern durch Parallelitäten zu vermitteln. Man soll ihn getrost durch ihre europäische Brille zur Kenntnis nehmen. Er gehört ihr. Sie bewundert seine Hartnäckigkeit, seine geistige Unabhängigkeit, die bei aller Solidität auffällige Rasch8 Ebd., S. 186. 9 Ebd., Hervorhebung im Original. 10 Vgl. David Rieff: Tod einer Untröstlichen. Die letzten Tage von Susan Sontag, übers. von Reinhard Kaiser, München 2009.

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heit seines Denkens  – alles Eigenschaften, die sie auch für sich in Anspruch nimmt und mit Fug und Recht auch in Anspruch nehmen darf. Ihr Essay über den bewunderten Canetti endet so: »Aber Canetti ist nicht einfach wieder mal so ein Held der Willenskraft. Und in diesem Zusammenhang ist die unerwartete letzte Eigenschaft eines großen Schriftstellers zu sehen, die er bei Broch findet: ein solcher Schriftsteller, so sagt er, lehrt uns das Atmen. Brochs Werk wird anempfohlen, weil es eine ›reiche und wohlgeordnete Erfahrung in Atemräumen‹ widerspiegelt. Es war Canettis tiefstes und merkwürdigstes Kompliment, und deshalb eines, das er auch Goethe zollte (die am wenigsten überraschende seiner Bewunderungen): Canetti liest auch Goethe, als sage dieser: ›Atme!‹ Atmen mag sehr wohl die radikalste aller Betätigungen sein, wenn man es als eine Befreiung von anderen Bedürfnissen auslegt, wie etwa eine Berufslaufbahn einschlagen, sich einen Ruf aufbauen, Wissen akkumulieren. Was Canetti am Ende dieser Wallfahrt der Bewunderung, seiner Hommage an Broch, sagt, deutet an, was es am meisten zu bewundern gilt. Die höchste Errungenschaft des ernsthaften Bewunderers ist die Fähigkeit, nicht mehr unmittelbar jene Kräfte in Taten zu verwandeln, jene Räume auszufüllen, welche ihm das Objekt seiner Bewunderung freigesetzt hat. Und so nimmt sich der begabtere Bewunderer die Freiheit zu atmen, tiefer zu atmen, tiefer zu atmen. Aber dafür ist es nötig, über die Unersättlichkeit hinauszugehen; sich mit etwas zu identifizieren, das jenseits von erreichbarer Leistung liegt, jenseits des Erwerbs von Macht.«11

Es ist hier nicht der Ort, diese schönen, nachdenklichen Schlusssätze in ihrer Ambivalenz zu analysieren. Aber es muss natürlich ge­­stattet sein, zu fragen, wo das Land jenseits von erreichbarer Leistung, jenseits des Erwerbs von Macht liegt. Gewiss kommt der freie, unabhängige, keiner Ideologie verpflichtete Geist diesem Land am nächsten, wenn er sich geradezu buddhistischer Praktiken der Askese verpflichtet fühlt. Aber eine wenn auch sehr ernsthafte, doch

11 Sontag: »Geist als Leidenschaft«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, a.a.O., S. 205f.

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auf vielen Hochzeiten tanzende, ehrgeizige New Yorkerin, die sich damals anschickte, eine der führenden Intellektuellen der Welt zu werden – wie sollte das funktionieren? Einen ihrer schönsten Aufsätze hat Susan Sontag dem Philosophen und Kritiker Walter Benjamin gewidmet, auch einer von denen, die die Macht gespürt und analysiert haben, ohne sie je selbst auszuüben. Dem Melancholiker, der unter dem Zeichen des Saturn zur Welt kam, dem Gestirn der langsamsten Umdrehung, dem Planeten der Umwege und Verspätungen, gilt ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.   Adorno hat Susan Sontag viel gelesen, wie aus ihren Tagebüchern hervorgeht, Herbert Marcuse hat sie persönlich kennengelernt, als sie mit dem Soziologen Philip Rieff, dem Vater ihres einzigen Kindes David, verheiratet war, aber nur Benjamin hat einen Essay erhalten. »Man kann das Leben nicht zur Interpretation des Werkes heranziehen. Aber man kann mit dem Werk das Leben interpretieren«, schreibt sie.12 Wer sich noch daran erinnert, mit welchen scholastischen Argumenten der arme Benjamin in Deutschland geradezu zerrissen wurde, weil jeder ihn auf seine Seite ziehen wollte, der liest Sontags Essay von 1978 mit großer Zustimmung, auch heute noch: »Dem angehenden Melancholiker erschien, sei es in der Schule oder auf Spaziergängen mit der Mutter, die Einsamkeit als die einzige dem Menschen gemäße Existenzform. Benjamin meint damit nicht das Alleingelassensein in einem Zimmer – als Kind ist er oft krank gewesen –, sondern die Einsamkeit in der Großstadt, die Beschäftigung des Müßiggängers, der frei in den Tag hineinträumt, beobachtet, nachdenkt, umherschlendert.«13

Der Melancholiker als der wahrhaft freie Geist: Das war ein geradezu auf den Kopf gestelltes Bild dessen, was man sich damals, in den siebziger Jahren, als Idealbild eines Intellektuellen vorstellte.   Auch hier, in der Beschreibung Benjamins, entsteht wieder ein Selbstbild Susan Sontags:

12 Susan Sontag: »Im Zeichen des Saturn«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, a.a.O., S. 127–148, hier S. 129. 13 Ebd.

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»Er las nicht gern, was jeder las. Er zog als psychologische Theorie die Lehre von den vier Temperamenten Freud vor. Er zog es auch vor, Kommunist zu sein  – oder versuchte es  –, ohne Marx zu lesen. Dieser Mann, der eigentlich alles las und fünfzehn Jahre lang mit dem revolutionären Kommunismus sympathisierte, hatte bis in die späten dreißiger Jahre kaum einen Blick in Marx’ Werke geworfen.«14

  Ja, das musste ihr gefallen, und diese schöne Arroganz war es auch, die Marcuse, jedenfalls mir gegenüber, spöttisch bekrittelte. Am Ende dieser physiognomischen Vergegenwärtigung des von ihr geliebten Melancholikers heißt es, wiederum typisch für Susan Sontag: »Benjamins Neigung zur Ironie und zur Selbstreflexion entfernte ihn vom Großteil des modernen deutschen Kulturlebens: Er verabscheute Wagner, verachtete Heidegger und hielt auch nichts von den lautstarken Moderichtungen wie dem Expressionismus. Voller Überzeugung, aber auch selbstironisch, sieht Benjamin seinen Platz an den offenen Kreuzwegen. Es war ihm wichtig, sich seine vielen ›Positionen‹ offenzuhalten: die theologische, die surrealistisch-ästhetische, die kommunistische. Eine Position korrigiert die nächste; er brauchte sie alle. Entscheidungen freilich können das empfindliche Gleichgewicht der Positionen stören; nur das Schwanken hält alles ruhig. […] Benjamin hielt den freischaffenden Intellektuellen überhaupt für eine aussterbende Rasse, von der kapitalistischen Gesellschaft ebenso zum Ruin getrieben wie vom revolutionären Kommunismus; tatsächlich ahnte er, daß er in einer Zeit lebte, in der das einzig Wertvolle zugleich das jeweils Letzte seiner Art war. Den Surrealismus hielt er für den letzten Geistesblitz der europäischen Intelligenzija, eine entsprechend destruktive, nihilistische Spielart des Intellektuellen. […] Vor dem Weltgericht wird der letzte Intellektuelle – dieser saturnische Held der Moderne mit seinen Ruinen, seinen abwegigen Visionen, seinen Träumereien, seiner undurchdringlichen Melancholie, seinem gesenkten Blick  – erklären, daß er viele

14 Ebd., S. 138.

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›Positionen‹ innehatte und daß er das Leben der Ideen bis zum bitteren Ende verteidigte, so gerecht und unmenschlich er nur konnte.«15

Es kann bei Susan Sontags familiärem und politischem Hintergrund nicht überraschen, dass die Nazi-Zeit der dunkle Fluchtpunkt vieler ihrer Ideen war. In ihrem berühmten Buch Über Fotografie schreibt sie: »Die erste Begegnung mit der fotografischen Bestandsaufnahme unvorstellbaren Schreckens ist eine Art Offenbarung, wie sie für unsere Zeit prototypisch ist: eine negative Epiphanie. Für mich waren dies die Aufnahmen aus Bergen-Belsen und Dachau, die ich im Juli 1945 zufällig in Santa Monica entdeckte. Nichts, was ich jemals gesehen habe – ob auf Fotos oder in der Realität  –, hat mich so jäh, so tief und unmittelbar getroffen. […] Als ich diese Fotos betrachtete, zerbrach etwas in mir. Eine Grenze war erreicht, und nicht nur die Grenze des Entsetzens; ich fühlte mich unwiderruflich betroffen, verwundet, aber etwas in mir begann sich zusammenzuballen; etwas starb; etwas weint noch immer.«16

Etwas intensiver hat sie sich mit der künstlerischen Verarbeitung dieses Geschichtsbruchs in zwei Aufsätzen über Syberbergs HitlerFilm und über Riefenstahl beschäftigt. Syberbergs Hitler – Ein Film aus Deutschland bescheinigt sie ein Höchstmaß an Vollendung. Er erinnere sie an ein »unerwünschtes Kind im Zeitalter des Bevölkerungswachstums Null«.17 Weiter schreibt sie: »Kunst bezeichnet heute eine ungeheure Vielfalt von Wunscherfüllungen, die schrankenlose Wucherung – und Entwertung – der Wunscherfüllung als solcher. Wo viele kleine Befriedigungen so wohlfeil zu haben sind, muß es als antiquiertes Tun, als naive Form von Künstlertum erscheinen, ein Meisterwerk zu schaffen. War das Große Werk schon immer unbegreiflich (so unbegreiflich wie berechtigte Megalomanie), so ist es

15 Ebd., S. 148. 16 Susan Sontag: »In Platos Höhle«, in: dies.: Über Fotografie, übers. von Mark W. Rien und Gertrud Baruch, München 2002, S. 9–28, hier S. 24. 17 Susan Sontag: »Syberbergs Hitler«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, a.a.O., S. 149–176, hier S. 149.

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heute ein regelrechtes Kuriosum. Es zielt auf Wunscherfüllungen, die mit Unermeßlichkeit, Würde und Konzentration verbunden wären. Es hält daran fest, daß Kunst wahr zu sein habe – nicht bloß interessant; eine Notwendigkeit – kein bloßes Experiment. Es läßt andere Hervorbringungen neben sich unbedeutend erscheinen und stellt den flinken Eklektizismus des zeitgenössischen Geschmacks in Frage. Es stürzt den Bewunderer in eine Krise.«18

An Syberbergs siebenstündigem Hitler-Film erläutert Sontag die Aporien der Darstellbarkeit des Faschismus.    Man muss ihn kennen, um ihre große Verteidigungsrede dieses Höllenspektakels mit den Mitteln der Burleske zu verstehen: »Syberbergs Film ist in der ersten Person Singular konzipiert: als das künstlerische Unternehmen eines einzelnen, der sich seiner Pflicht als Deutscher stellt, um die rückhaltlose Auseinandersetzung mit den NSGreueln auf sich zu nehmen. Wie viele deutsche Intellektuelle in der Vergangenheit betrachtet auch Syberberg sein Deutschsein als moralischen Auftrag und Deutschland als den Austragungsort europäischer Konflikte. […] Mit seiner Auffassung vom Nazismus als Ausdruck des Dämonischen im Deutschtum steht Syberberg Thomas Mann so nahe wie mit seinem unzeitgemäßen Beharren auf der deutschen Kollektivschuld […]. Wie Thomas Mann sieht auch Syberberg im Nazismus die Träume der deutschen Romantik auf groteske Weise eingelöst – und verraten.«19

Susan zitiert Max Horkheimers Aufsatz Zur Kritik der instrumen­tellen Vernunft, demzufolge »Auschwitz der logische Kulminationspunkt des abendländischen Fortschritts war«20 – eine These, die Horkheimer später deutlich zurücknahm. Syberberg ziele mit seinem Hitler: »auf ein Hitlertum, das den historischen Hitler selbst überlebt hat, ein spukhaftes Ingredienz der modernen Kultur, ein böses Prinzip von grenzenloser Wandlungsfähigkeit, das die Gegenwart durchtränkt […]: von der Romantik zu Hitler, von Wagner zu Hitler, von Caligari zu Hitler, 18 Ebd., S. 150. 19 Ebd., S. 160f. 20 Ebd., S. 162.

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vom Kitsch zu Hitler […] von Hitler zum Porno, von Hitler zur seelenlosen bundesrepublikanischen Konsumgesellschaft, von Hitler zum rüden Zwangsregime in der DDR«.21

Syberbergs Kulturpessimismus macht vor nichts halt, er nennt die Deutschen, in Susans Worten, »ein teuflisches Volk«.22 Ob Syberberg tatsächlich der größte Wagnerianer seit Thomas Mann ist, sei dahingestellt; ob die Obsession, Hitler als den einzigen Kulminationspunkt alles Deutschen anzusehen, historisch gerechtfertigt ist, darf bezweifelt werden. Aber die provokanten Thesen kamen damals gut an in einer Situation, wo der Film ›eher mau‹ aufgenommen worden war. Bemerkenswert ist wieder Susans kräftige Stimme, wenn sie bewundern konnte – und das in einer Zeit, da Syberberg selbst, vor allem auf Seiten der Linken, keinen Stich mehr machen konnte. Susan schreibt: »Syberbergs Film gehört zu jener Kategorie nobler Meisterwerke, die unbedingte Gefolgschaft verlangen und sie auch erzwingen können.«23 Man schaudert schon, wenn die Autorin von »Anmerkungen zu ›Camp‹« und »Die pornographische Phantasie« solche Sätze hinschreibt. Sie fährt fort: »Hat man Hitler – ein Film aus Deutschland gesehen, so steht da auf der einen Seite Syberbergs Film – und dort stehen dann die anderen Filme, die man bewundert (nicht mehr allzuviele heutzutage, leider). Wie man trauernd über Wagner gesagt hat: Er macht uns unduldsam gegen die andern.«24

Mit diesen pathetischen Worten, die in ihrer ehernen Unbedingtheit ihresgleichen suchen, beschließt Susan ihre Überlegungen; ich kann mich nicht erinnern, in Deutschland je eine so emphatische Kritik über einen urdeutschen Film gelesen zu haben. Bei Riefenstahl, der Regisseurin des Films Triumph des Willens von 1935, einer filmischen Ode auf den zweiten Reichsparteitag der 21 22 23 24

Ebd. Ebd., S. 163. Ebd., S. 176. Ebd.

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Susan Sontag und Deutschland

NSDAP, geht Susan Sontag weniger pathetisch-zustimmend vor. An ihren Filmen zeigt sie die Probleme auf, die mit der Ästhetisierung des Faschismus einhergehen und die damals im Schwange waren, als Sexpol, Sex und Politik in Endlosschleife diskutiert wurden.25 »Faschismus ist Theater«,26 hatte Jean Genet gesagt  – ob dieses sadomasochistische Theater nun tatsächlich mit dem spießigen Faschismus übereinstimmt oder ob nicht eine durch und durch verrückt gewordene Theorie diese Verbindung erst geschaffen hat, darüber muss geredet werden. Allerdings mit Historikern, nicht mit Ästheten. In ihrer Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2003 hat Susan Sontag am ausführlichsten zu ihrem Verhältnis zu Deutschland und zu ihrer Liebe zur deutschen Kultur Stellung genommen: »Ich bin zwei Wochen bevor Hitler zur Macht gelangte, auf die Welt gekommen – als eine Amerikanerin der dritten Generation von polnischlitauisch-jüdischer Herkunft. Ich bin in der amerikanischen Provinz […] aufgewachsen, weit weg von Deutschland, und doch war Deutschland in meiner Kindheit ständig gegenwärtig  – durch das Ungeheuerliche, das von Deutschland ausging, und durch die deutschen Bücher und die deutsche Musik, die ich liebte und die meine Maßstäbe von Erhabenheit und Intensität prägten.«27

  Sie erwähnt den Werther und Immensee, dem Kafka und schließlich Thomas Mann folgten: »Kein anderes Buch war in meinem Leben so wichtig wie Der Zauberberg«.28 Sie erinnert an die deutschen Emigranten, denen sie begegnete, von dem schon erwähnten Herbert 25 [»Sexpol« steht als Abkürzung für Sexualpolitik und bezieht sich auf eine politische Bewegung, die Anfang der Dreißigerjahre von Wilhelm Reich gegründet wird.] 26 Susan Sontag: »Faszinierender Faschismus«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, a.a.O., S. 97–126, hier S. 124. 27 Susan Sontag: »Literatur ist Freiheit. Dankrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels«, in: dies.: Zur gleichen Zeit. Aufsätze und Reden, hg. von Paolo Dilonardo und Anne Jump, übers. von Reinhard Kaiser, München 2008, S. 244–264, hier S. 260. 28 Ebd.

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Marcuse bis zu dem Theologen Paul Tillich und Hannah Arendt. Und immer wieder die deutsche Musik. Über ihr Verhältnis zu Thomas Mann hat sie eine Geschichte geschrieben, die bislang nicht in Buchform erschienen ist, in der deutschen Übersetzung findet man sie nur in der Zeitschrift Akzente.29 Sie ist für Susan insofern aufschlussreich, als sie hier die Bedingungen beschreibt, unter denen sie zu der passionierten Leserin wurde, die sie zeitlebens geblieben ist. Bedingungen, wie sie trostloser nicht sein können. Und dann entdeckt sie Thomas Manns Zauberberg: »Ich begann es [den Zauberberg] in jener Nacht, und in den ersten paar Nächten verschlug es mir den Atem beim Lesen. Denn dies war nicht einfach wieder ein Buch, das ich lieben würde, sondern es war ein verwandelndes Buch, eine Quelle der Entdeckungen und der Erkenntnisse. Ganz Europa erstand vor mir […].«30

Sontag beschließt den verehrten Autor mit ihrem Freund Merrill auf­­zusuchen. Ein Besuch, der für sie in einer Enttäuschung endet: »Wie zwei halbwüchsige Jungen, die nach ihrem ersten Bordellbesuch davonfuhren, bewerteten wir unseren Auftritt. Merrill meinte, es sei ein Triumph gewesen. Ich fühlte mich beschämt und niedergeschlagen, obwohl ich zugab, dass wir uns nicht völlig zum Narren gemacht hatten. […] ›Es war toll‹, sagte Merrill, als ich vor meiner Haustür aus dem Wagen stieg. Ich glaube, wir haben nie wieder darüber gesprochen.«31

Ob diese Geschichte wahr ist? Ich weiß es nicht. Ob wahr oder erfunden, sie fasst auf jeden Fall Susans Liebe zu Deutschland zusammen. In einem Nachsatz schreibt sie:

29 Die Originalversion von Sontags Jugenderinnerung erschien erstmals im New Yorker in der Ausgabe vom 21. Dezember 1987. Eine Übersetzung ins Deutsche erschien im darauffolgenden Jahr: Susan Sontag: »Wallfahrt«, übers. von Wulf Teichmann, in: Akzente 35 (1988), Heft 6, S. 523–546. 30 Sontag: »Wallfahrt«, in: Akzente 35, a.a.O., S. 530. 31 Ebd., S. 544.

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»Nie habe ich jemandem etwas von dieser Begegnung erzählt. Über die Jahre habe ich sie als ein Geheimnis bewahrt, als wäre sie etwas Be­­schämendes; als hätte sie zwischen zwei anderen Menschen stattgefunden, zwei Phantomen, zwei provisorischen Wesen auf ihrem Weg woanders hin: einem verlegenen, hingebungsvollen, literaturberauschten Kind und einem Gott im Exil, der in einem Haus in Pacific Palisades wohnte.«32

32 Ebd., S. 546.

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Abb. 1–3: Filmplakate Gidget (1959, 1961, 1963)

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1 Es gibt einen längeren autobiografischen Bericht über Susan Sontags Jugend in Kalifornien, einen Artikel von 1987, der im New Yorker unter dem Titel »Pilgrimage« erschien und eine Audienz bei Thomas Mann in Los Angeles zum Thema hat, zu der Sontag als Mutprobe von einem etwas älteren Freund, im Bericht »Merrill« genannt, gezwungen wurde.1 Die Sontag, die im Alter von fünfzehn Jahren ihren Abschluss an der North Hollywood High School machte, lässt sich als kleines Mädchen mit großen Ideen beschreiben, entsprechend dem Untertitel von Gidget. The Little Girl with Big Ideas.2 Klein allerdings im Sinn von jung: Sontag war das größte Mädchen in ihrer Klasse. Kathy Kohner alias Franzie Hofer alias Gidget erscheint in der Midlife-Kritik ihres Vaters Frederick Kohner, der sie 1957 als Verfasser seines Coming-of-Age-Buches wie ein Bauchredner nachahmte, ein wenig lächerlich, jedoch auf charmante Weise. Und so ist auch Teen-Susan, wie sie von Sontag vom anderen Ufer aus erinnert wird, wo sich ihre Fantasie, eine ernsthafte Autorin zu werden, bereits erfüllt hat, ein wenig lächerlich in ihrem reinen Streben danach, die big ideas-Version ihrer selbst zu werden. »Wallfahrt« zufolge sog Susan, stets begleitet von einem ihrer zwei besten Freunde, die südkalifornische Emigrantenkultur in sich auf. Peter, dessen Eltern vor dem Nationalsozialismus in Europa geflüchtet waren, wurde für eine romantische Beziehung in naher Zukunft bestimmt, da er größer war als Sontag – was für sie in jungen Jahren ausschlaggebend für die Paarung war. Der andere beste Freund war Merrill, ein Surfertyp, der Philosophie konsumierte, in anderen Worten: ein typischer Surfer. »›Cool‹ und kräftig und blond, hatte er alle Reize des ›hübschen Burschen‹, ein ›Pfundskerl‹, ein ›Traumschiff‹, doch ich, mit meinem untrüglichen Blick für EinzelAnmerkungen der Übersetzerinnen stehen in eckigen Klammern. 1 Vgl. Susan Sontag: »Pilgrimage«, in: The New Yorker, 21.12.1987, S.  38–54. Vgl. die deutsche Übersetzung: Susan Sontag: »Wallfahrt«, übers. von Wulf Teichmann, in: Akzente 35 (1988), Heft 6, S. 523–546. 2 Frederick Kohner: Gidget, New York 2001. [Kohners Roman basiert auf den Berichten seiner Tochter Kathy und deren Erlebnissen in der kalifornischen Surferkultur. Im Roman trägt sie den Namen Franzie Hofer bzw. den Spitznamen Gidget – ein Kofferwort, das sich aus den Wörtern girl (»Mädchen«) und midget (»Zwerg«) zusammensetzt. Das Buch war 1957 ein großer Erfolg und der Auftakt zu einer Serie von Büchern, Film- und Fernsehproduktionen in den Sechzigerjahren. Da die deutsche Übersetzung (Frederick Kohner: April entdeckt die Männer, übers. vom Autor, Gütersloh 1962) einen Großteil der im englischen Original enthaltenen Anspielungen unterschlägt, werden im Folgenden die zitierten Passagen neu übersetzt.]

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1 There is one sustained autobiographical account of Susan Sontag’s adolescence in California, a 1987 New Yorker article titled »Pilgrimage,« about an audience with Thomas Mann in Los Angeles, forced upon her, as a kind of dare, by a slightly older friend, who in this account goes by the name Merrill.1 The Sontag who graduated from North Hollywood High School at age fifteen might be characterized, like the subtitle to Gidget, as the little girl with big ideas.2 Little, however, in the sense of young: Sontag was the tallest girl in her class. Just as Kathy Kohner aka Franzie Hofer aka Gidget was mediated as somewhat laughable, though charmingly so, through the midlife criticism of her father Frederick Kohner, who, as the author of the 1957 coming-of-age book, mimicked and ventriloquated her, so teen Susan, as recalled by Sontag from the other shore of realization of the fantasy of being a serious author, is a touch ridiculous for the purity of her aspiration to become the big-ideas version of herself. According to »Pilgrimage,« Susan was a close consumer of the émigré culture in Southern California always in the company of one of her two special friends. Peter, whose parents were refugees from Nazi Europe, was earmarked for her romantic involvement in the near future because taller than Sontag, her early requirement for mating. The other best friend was Merrill, a surfer type who consumed philosophy, in other words: a typical surfer. »Cool and chunky and blond, he had all the trappings of ›cute,‹ a ›dish,‹ a ›dreamboat,‹ but I, with my unerring eye for loners (under all disguises), had promptly seen that he was smart, too. Really smart. […] Merrill was the only one of my friends I doted on. I loved to look at him. I wanted

Bracketed commentaries are by the editors. 1 Susan Sontag, »Pilgrimage,« The New Yorker, 21 December 1987: p.  38–54, p. 38. 2 [Frederick Kohner, Gidget (New York: Berkley, 2001). Kohner’s novel is based on his daughter’s adventures in Californian surf culture. In the novel, she is called Franzie Hofer aka Gidget  – a portmanteau word derived from a blending of the words »girl« and »midget«. The novel was a huge success at the end of the 1950s and launched a series of further novels, film and TV productions in the 1960s.]

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gänger (in jeder Verkleidung), hatte sofort gesehen, daß er auch klug war; wirklich klug; […] Merrill war der einzige von meinen Freunden, in den ich verknallt war. Ich konnte mich nicht satt sehen an ihm. Ich wollte mit ihm verschmelzen oder daß er mit mir verschmölze, aber ich hatte die unüberwindliche Barriere zu beachten: Er war mehrere Zoll kleiner als ich.«3

Dass Merrill als Objekt der Verschmelzung erinnert wird, zugleich verkleinert und verboten, legt nahe, dass sie ihn bereits verinnerlicht hat. Peter taucht zwischen 1949 und 1950 in Tagebucheinträgen auf; als sich Susans erste lesbische Beziehungen anbahnen, ist er schon passé. Merrill wird nicht erwähnt, zumindest nicht namentlich. Ist er vielleicht E, einer von zwei Personen, in deren Begleitung sie Thomas Mann besuchte, wie ein langer Eintrag von 1949 berichtet: »Heute um sechs haben E, F und ich Gott befragt«?4 Die in einem früheren Eintrag beschriebene Intelligenz von E und Susans Nähe zu ihm machen wahrscheinlich, dass der spätere Merrill sich aus ihm zusammensetzt: »der einzig greifbare Nutzen, den ich aus diesem Sommer gezogen habe, [ist] meine enge Beziehung zu E, vor dessen Intelligenz ich aufrichtigen Respekt empfinde.«5 In einem am Rand des Mulholland Drive geparkten Wagen nahmen Sontag und Merrill, dem Bericht von 1987 zufolge, nicht an den lokalen Paarungsritualen teil, sondern, am äußeren Rand der Identifizierung, ja der Internalisierung, diskutierten sie leidenschaftlich über moderne Musik, das hauptsächliche Medium ihrer gemeinsamen Beschäftigung mit europäischer Hochkultur in Los Angeles.   Sontag gibt zu, dass sich das Gespann zur Bewunderung der »häßlichen« Musik von Arnold Schönberg oder John Cage gedrängt sah, aber nur die Musik von Igor Strawinsky aufrichtig liebte.6 Auf dem Höhepunkt ihrer wechselseitigen Verbundenheit teilten sie die Wachfantasie eines gemeinsamen Opfers ihrer Lebensjahre, um sie Strawinskys Lebenszeit hinzuzufügen. Nachdem Sontag den Zauberberg entdeckt und ihn an Merrill weitergegeben hatte, verehrte das Duo zwei Götter der zeitgenössischen Hochkultur, Strawinsky und Thomas Mann. Diese Erinnerungen sind reizend und zugleich ohne Reue. Die Spur des Teuflischen, die ihren Handel mit Lebenszeit durchzieht, lässt sich mit dem Middlebrow-Milieu in Verbindung bringen, das Mann im Doktor Faustus thematisierte, ironischerweise auf eigene Gefahr.

3 Sontag: »Wallfahrt«, in: Akzente 35, a.a.O., S. 527f. 4 Susan Sontag: Wiedergeboren. Tagebücher 1947–1963, übers. von Kathrin Razum, München 2010, S. 77. 5 Ebd., S. 67. 6 Vgl. Sontag: »Wallfahrt«, in: Akzente 35, a.a.O., S. 529.

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to merge with him or for him to merge with me, but I had to respect the insuperable barrier: he was several inches shorter than I was.«3

That he is recalled as an object of merger, at once down-sized and off-limits, strongly suggests that he is already inside her. Peter appears in diary entries in 1949 and 1950 but, with her first lesbian affairs in the ascendant, he’s already on his way out. Merrill is not accorded a place, at least not in name. Is he perhaps E, one of two persons who accompanied her on the Mann visit, according to a long diary entry from 1949? »E, F, and I interrogated God this evening at six […].«4 In an earlier entry the characterization of E’s intelligence and of Susan’s closeness to him make him a likely ingredient in the makeup of Merrill: »Yet the only tangible good I have gotten out of the summer is my closeness to E, whose intelligence I genuinely respect.«5 While parked in a car on the rim of Mulholland Drive, according to the 1987 memoir, Sontag and Merrill didn’t join in the local mating rituals but instead, on the outer rim of identification, even internali­ zation, passionately discussed modern music, which was the main medium of their joint engagement with European high culture in Los Angeles.    Sontag admits that the duo felt compelled to admire the »ugly« music of Arnold Schoenberg or John Cage but sincerely loved only Igor Stravinsky’s music.6 At the highpoint of their commitment to each other they shared the waking fantasy of their joint sacrifice of years of their lives to add to Stravinsky’s lifetime. After Sontag discovered The Magic Mountain and passed it on to Merrill, the duo revered two gods of contemporary high culture, Stravinsky and Thomas Mann. These recollections are at once charming and unrepentant. The tinge of the infernal that attends their bargaining with lifetime bears association with the middlebrow milieu Mann thematized in Doctor Faustus, ironically at his own peril.

3 Sontag, »Pilgrimage,« p. 40. 4 Susan Sontag, Reborn. Early Diaries, 1947–1963, ed. David Rieff (London: Penguin, 2008): p. 56. 5 Ibid., p. 47. 6 Sontag, »Pilgrimage,« p. 41.

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Näher an ihrer eigentlichen Jugendzeit, als es die Erinnerung von 1987 war, diagnostizierte Sontag an einer anderen Stelle die Abwesenheit einer ange­ messenen emotionalen Reaktion als Kennzeichen des Science-Fiction-Kata­ strophenfilms, des Hauptnahrungsmittels kalifornischer Teenager. Sie fühlt keine Trauer. Stattdessen verzeichnet sie den Verlust, dem wir in diesen Filmen ausgesetzt sind, letztlich als den Verlust unserer eigenen emotionalen Beziehung zu den traumatischen Geschichten des 20. Jahrhunderts.7 In »Wallfahrt« betont Sontag eine emotionale Reaktion im Milieu ihrer Jugend, die sich nur schwer als angemessen bezeichnen lässt: Sie erscheint intransitiv und unnachgiebig, abjekt und unleserlich. Obwohl diese Reaktion durch die Erinnerung an das Treffen mit Thomas Mann ausgelöst wird, kleidet sie Sontags Aufenthalt in die Gestalt eines B-Movies kalifornischer Jugend. So beginnt der Artikel im New Yorker: »Alles im Umkreis meiner Begegnung mit ihm hat die Farbe der Scham.«8 Die Bedeutung der indogermanischen Wurzel von Scham ist Verhüllung. Wurde etwa ein Leichentuch über die Abwesenheit einer identifizierbaren emotionalen Reaktion geworfen? Am Schluss lüftet Sontag dieses Tuch noch einmal: »Nie habe ich jemandem etwas von dieser Begegnung erzählt. Über die Jahre habe ich sie als ein Geheimnis bewahrt, als wäre sie etwas Beschämendes«.9 Die darauffolgenden Zeilen sollen »etwas Beschämendes« verändern, ragen jedoch als Fremdkörper und non sequitur hervor: »als hätte sie zwischen zwei anderen Menschen stattgefunden, zwei Phantomen, zwei provisorischen Wesen auf ihrem Weg woanders hin«.10 Tatsächlich ordnet sie hier Mann, der bald nach Europa zurückkehren sollte, und sich selbst als Paar an: Wie er sollte auch sie bald fortgehen, um ihren Wunsch zu verwirklichen, eine big ideas-Autorin zu werden. Eine dritte Figur wird plötzlich nicht mehr berücksichtigt, sie ist »zerronnen«, wie Sontag in ihren Tagebüchern über ihre Beziehung zu E schreibt, dessen »kampflose Leere« in ihr nachhallt und ihn zum Posterboy der ausbleibenden Reaktion macht.11 Heinz Kohut zufolge spiegelt Scham nicht die Disparität zwischen dem Ich und einem exzessiv anspruchsvollen Ich-Ideal wider, sondern die »Überflutung des Ichs mit nicht-neutralisiertem Exhibitionismus«.12 Der Exhibitionismus des Größen-Selbst wird nicht bewundert, nicht anerkannt oder anders formuliert:

7 Vgl. Susan Sontag: »Die Katastrophenphantasie«, in: dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, übers. von Mark W. Rien, München 2003, S. 279–298. 8 Sontag: »Wallfahrt«, in: Akzente 35, a.a.O., S. 523. 9 Ebd., S. 546. 10 Ebd. 11 Sontag: Wiedergeboren, a.a.O., S. 76. 12 Heinz Kohut: Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen, übers. von Lutz Rosenkötter, Frankfurt 1976, S. 210.

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Closer to the real time of her adolescence than her 1987 reminiscence, Sontag diagnosed as the hallmark of SF movies of disaster, a Californian teen staple, the absence of an adequate emotional response. She doesn’t supply mourning. Instead she registers the loss we are at in these films, the loss, ultimately, of our own affective relation to the traumatic histories of the twentieth century.7 In »Pilgrimage,« Sontag underscores an emotional response in her own adolescent milieu, which is hard to call adequate: it seems intransitive and intransigent, abject and illegible. Though triggered by the recollection of meeting Mann, it covers her own sojourn in the B-genre of Californian adolescence. It is how the New Yorker article begins: »Everything that surrounds my meeting with him has the color of shame.«8 The Indo-European root-meaning of shame is cover. Has a shroud been thrown over the absence of an identifiable emotional response? At the conclusion, Sontag again tugs at the shroud: »I never told anyone of the meeting. Over the years I have kept it a secret, as if it were something shameful.«9 The lines that follow are meant to modify »something shameful,« but stand out as a foreign-body non-sequitur: »As if it happened between two other people, two phantoms, two provisional beings on their way elsewhere.«10 Yes, she is pairing off Mann, soon to return to Europe, with herself, who too would soon depart, in her case to realize her wish to be a big ideas author. However, a third figure is suddenly no longer accounted for, »melted« as Sontag writes in her diaries of her relationship to E, whose »unstruggling emptiness« reverberating inside her renders him the poster boy of the absent response.11 According to Heinz Kohut, shame reflects not a disparity between the ego and an excessively demanding ego-ideal but the »flooding of the ego with unneutralized exhibitionism.«12 The exhibitionism of the 7 Susan Sontag, »The Imagination of Disaster,« Against Interpretation and Other Essays (New York: Picador, 1966): p. 209–225. 8 Sontag, »Pilgrimage,« p. 38. 9 Ibid., p. 54. 10 Ibid. 11 Sontag, Reborn, p. 55. 12 Heinz Kohut, The Analysis of the Self, A Systematic Approach to the Psychoanalytic Treatment of Narcissistic Personality Disorders (New York: Internat. Univ. Press, 1971): p. 181.

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Er wird nicht gespiegelt. Eine von Freuds wenigen Bemerkungen zur Scham in der Fallgeschichte des Rattenmanns interpersonalisiert das Scheitern von Bewunderung als Betrug. Der ältere Junge, der in der Kindheit der beste Freund des Rattenmanns sein will, lässt ihn fallen, sobald er als Tutor Zugang zum Haushalt erhält: Er war nur an der Schwester des Rattenmanns interessiert. Sontag zufolge ist Susan erleichtert, dass Merrill während des Besuchs bei Mann das Reden übernimmt. Allerdings zählte die neue Situation, sich spiegeln oder verschmelzen zu wollen an diesem Punkt nur zwei, nicht drei Personen. Als Thomas Mann sich nach ihren Studien erkundigte, um eine Gemeinsamkeit zu finden, die ihm und den beiden Teenagern eine Begegnung erlauben würde, erinnert sich Sontag an eine schützende und projizierende Antwort ihrerseits, ihre Spaltung: »Konnte er sich vorstellen, wie weit die Welt des Gymnasiums in seinem heimatlichen Lübeck, wo einst der vierzehnjährige Tonio Kröger den Hans Hansen umwarb, um ihn dazu zu kriegen, Schillers ›Don Carlos‹ zu lesen, entfernt war von der Welt der North Hollywood Highschool, der Alma mater von Farley Granger und Alan Ladd? Nein, das konnte er nicht, und ich hoffte, er würde es nie herausfinden. Er hatte schon so genug Gründe, traurig zu sein  – Hitler, das zerstörte Deutschland, Exil. Es war besser, daß er nicht wußte, wie weit er wirklich weg war von Europa.«13

Das homoerotische Souvenir, das sie hier zum Maßstab kultureller Differenz macht, zeigt, dass Susan unbewusst verstand oder sich abregte; das Werben geschah ohne sie. Manns Tagebüchern zufolge verbarg Mann seinen anhaltenden homoerotischen Sinn für life is a beach – die Tatsache, dass er im Grunde seines Herzen ein Teenager war – bloß an einem anderen Ort. Genauso wie Sontag ihre Jugend in »Wallfahrt« in Gestalt ihres Gefährten und Teenager-Denkers ›neben sich‹ hielt, in dem von ihr getrennten Typ eines Surfer-Objekts. Vor Merrills Mutprobe, einfach loszugehen und Mann zu besuchen, hatte Susan die Verschmelzung mit Hans Castorp bereits vollzogen, über die Zärtlichkeit, die der Autor seiner Figur gegenüber zeigte: »Ich liebte die (wenn auch durch Herablassung abgeschwächte) Zärtlichkeit, mit der Mann ihn als ein bißchen einfältig, überernst, gelehrig und mittelmäßig zeichnet«.14 Sie durchschaut seine Herablassung und damit seine Ironie, auch weil sie diese in ihrem

13 Sontag: »Wallfahrt«, in: Akzente 35, a.a.O., S. 542. 14 Ebd., S. 531.

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grandiose self goes unadmired, unapproved, in other words, unmirrored. One of Freud’s few accounts of shame, in the case study of the Ratman, interpersonalizes the failure of admiration as betrayal. The older boy who wants to be the Ratman’s best friend in childhood, dumps him once he gains admission to the household as tutor: he was only interested in the Ratman’s sisters. According to Sontag, it is to Susan’s relief that Merrill does all the talking during the Mann visit, but it is at this point that the new situation of the wish to mirror or merge counted two, not three. When Thomas Mann asked them about their studies, trying to find the same page on which he and the two teens might meet, what Sontag recalls for her part was a protective and projective response, her splitting: »Could he imagine what a world away from the Gymnasium in his native Lübeck, where fourteen-year-old Tonio Kröger wooed Hans Hansen by trying to get him to read Schiller’s ›Don Carlos,‹ was North Hollywood High School, alma mater of Farley Granger and Alan Ladd? He couldn’t, and I hoped he would never find out. He had enough to be sad about – Hitler, the destruction of Germany, exile. It was better that he not know how really far he was from Europe.«13

The homoerotic souvenir she gives as the measure of their cultural difference shows that Susan unconsciously clued or cooled, as Gidget might put it, the wooing going down without her. According to his diaries, Mann only kept under cover in another place his ongoing homoerotic appreciation of life is a beach, of his being a teenager at heart, just as in »Pilgrimage« Sontag kept her adolescence alongside her as her fellow teen thinker, in the separate »bod« of a surfer object. Prior to Merrill’s dare that they go ahead and visit Mann, Susan had already undergone merger with Hans Castorp via the author’s tenderness toward him: »I loved the tenderness, however diluted by condescension, with which Mann portrays him as a bit simple, overearnest, docile, mediocre.«14 She sees through his condescension,

13 Sontag, »Pilgrimage,« p. 50. 14 Ibid., p. 42.

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retrospektiven Bericht auf sich selbst anwendet.   Auf der Liste von Castorps Attributen schiebt Sontag nach dem Wort »mittelmäßig« eine parenthetische Interjektion oder Introjektion ein: »was ich, gemessen an wirklichen Maßstäben, selber zu sein meinte«.15 Als sie die Identifizierung aufbaut, die sie den Besuch bei Mann durchstehen lässt, bleibt diese Nische emotionaler Reaktion leer. Die klinische Literatur tendiert dazu, Scham mit dem Gefühl in Verbindung zu bringen, ein Schwindler, ein Hochstapler zu sein, typischerweise in der Jugend und psycho-pathologisch in Borderline-Störungen bei Erwachsenen. Wie Gershen Kaufman zusammenfasst: »Das Hochstapler-Syndrom ist eines der wichtigen kognitiven Anzeichen für den Scham-Affekt«.16 Während in der Jugend ein vorübergehendes Gefühl der eigenen Betrügerei auftritt, ruht das Hochstapler-Syndrom auf einer Organisation der Identifizierung, die nicht einseitig funktioniert. Das bewundernde Publikum ist eine Voraussetzung, laut Helene Deutschs Profiling des Hochstaplers, selbst wenn er diese Bewunderung bloß dadurch sicherstellt, dass er – unfähig eine wirkliche Beziehung zu einem Publikum (oder jeglichem Anderen) aufzubauen – amöbengleich Pseudopodien in die harte Schale seiner eigenen Simulation eines Publikums aussendet. Der Erfolg des Hochstaplers liegt im Auge des projizierten Betrachters: »Da das IdealIch von innen heraus nie vollständig befriedigt werden kann, richten wir unsere Ansprüche an die Außenwelt und geben vor […], dass wir tatsächlich sind, was wir gerne sein würden.«17 Der Hochstapler ist die Gruppe, die in ein Individualformat geschoben wird, wie Fünfzigerjahre-Teenager, die sich in eine Telefonzelle drängen. Nach Lionel Finkelstein, dessen Untersuchung des Hochstaplers sich auf Phyllis Greenacres Analysen aus den Fünfzigerjahren berief, bemerken oft diejenigen, die sich mit Hochstaplern befasst haben (und mit Homosexuellen, wie er hinzufügt), »wie viele sich beobachten lassen, ist man sich ihrer Existenz einmal bewusst geworden«.18

15 Ebd. 16 Gershen Kaufman: The Psychology of Shame Theory and Treatment of Shame-Based Syndromes, New York 1989, S. 180, Hervorhebung im Original. 17 Helene Deutsch: »The Impostor. Contribution to Ego Psychology of a Type of Psychopath«, in: The Psychoanalytic Quarterly LXXX (2011), Heft 4, S. 1005–1024, hier S. 1023, Hervorhebung im Original. 18 Lionel Finkelstein: »The Impostor. Aspects of his Development«, in: The Psychyanalytical Quarterly 43 (1974), Heft 1, S. 85–114, hier S. 85.

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and thus through his irony, also because she applies it in this retrospective account to herself.     Following »mediocre« in the list of Castorp’s attributes, Sontag inserts a parenthetical interjection or introjection: »what I considered myself to be, judged by real standards.«15 As she builds up the identification that will see her through the Mann visit, she leaves this niche of emotional response empty. Shame tends to be linked in the clinical literature to a sense of being a fraud, an impostor, typically in adolescence and psychopathologically in adult borderline disorders. As Gershen Kaufman summarizes: »The impostor syndrome is one of the important cogni­ tive signs of shame affect.«16 While there is the passing sense of one’s own fraudulence in adolescence, the impostor as syndrome builds on an organization by identification that isn’t single-occupancy. The admiring audience is a requirement, according to Helene Deutsch’s profiling of the impostor, even if secured by sending out pseudopodia into the hard shell of its simulation. The impostor’s success lies in the eyes of the projected observer: »As one’s ego ideal can never be completely gratified from within, we direct our demands to the external world, pretending […] that we actually are what we would like to be.«17 The impostor is the group shoved into an individual format, like 1950s teenagers packed inside a telephone booth. According to Lionel Finkelstein, whose study of the impostor applied the composite picture Phyllis Greenacre shot and assembled in the 1950s, those who have studied impostors (and, he adds, homosexuals) »often comment on how many can be observed once one has become aware of their existence.«18 In »Pilgrimage,« Mann, too, is contaminated by the shame. »What I was obscurely starting to mind was that (as I couldn’t have put

15 Ibid. 16 Gershen Kaufman, The Psychology of Shame Theory and Treatment of ShameBased Syndromes (New York: Springer, 1989): p. 180, emphasis in the original. 17 Helene Deutsch, »The Impostor: Contribution to Ego Psychology of a Type of Psychopath,« The Psychoanalytic Quarterly LXXX, no. 4 (2011): p. 1005–1024: p. 1023, emphasis in the original. 18 Lionel Finkelstein, »The Impostor: Aspects of his Development,« The Psychoanalytical Quarterly 43, no. 1 (1974): p. 85–114: p. 85.

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Auch Mann wird in »Wallfahrt« von der Scham kontaminiert: »Was mich dunkel zu stören begann, war, daß er (damals hätte ich das nicht so sagen können) redete wie eine Buchbesprechung.«19 Dass Mann sich auf Phrasen verließ, die er aus seiner öffentlichen Interview-Persona recycelte und die seine Äußerungen wie eine Rezension klingen ließen, steht über die Jahrzehnte hinweg mit Sontags eigenem Engagement im Bereich des Kulturjournalismus in Verbindung. Von dem toleranteren Blickpunkt ihrer späteren Karriere setzt die Erwachsene das übermäßige Peinlichkeitsgefühl ihrer Jugend mit einer Kluft gleich, die tief in die Erinnerung eingefaltet ist, die schreiende Erinnerung der Scham: »Jahre später, als ich Schriftstellerin geworden war und viele andere Schriftsteller kannte, lernte ich, die Kluft zwischen Person und Werk toleranter zu sehen. Doch selbst heute noch empfinde ich die Begegnung als unschicklich, ungehörig. Nach meiner Erfahrung ist tiefe Erinnerung, häufiger als man wahrhaben möchte, Erinnerung an Peinliches.«20

In den Tagebüchern gibt es nur wenige Hinweise auf die Scham, die ihren Besuch bei Mann begleitete. Neben Manns während des Treffens geäußerter Bemerkung, dass die Beziehung zwischen dem Zauberberg und seiner persönlichen Erfahrung vor dem Ersten Weltkrieg metapsychologisch sei, steht eine enttäuschte Randnotiz, die, auch ohne Bestätigung des Herausgebers, zweifellos späteren Datums ist, vielleicht aus der Entstehungszeit von »Wallfahrt« stammt: »Die Kommentare des Autors verraten das Buch durch ihre Banalität.«21 In Sontags Tagebuchaufzeichnung des Besuchs spricht Mann über Doktor Faustus und bezieht sich auf die englische Übersetzung, die vor Kurzem abgeschlossen worden sei. Indem sie das Treffen in »Wallfahrt« von 1949 auf 1947 rückdatiert, erinnert Sontag sich selbst in der süßen High-School-Phase, als sie sich wünscht, jemand Wichtiges zu werden, was bereits im College-Alter schon als nicht erfüllt dahinschwinden kann. Am wichtigsten jedoch ist, dass das Buch Doktor Faustus (in der englischen Übersetzung) aus dem Zentrum der Begegnung gerückt wird.   Susans Bezie­ hung zu Doktor Faustus oder durch ihn hindurch, erkennbar bereits im SeelenMord-Pakt mit Merrill, ist tief in den Tagebüchern verwurzelt.

19 Sontag: »Wallfahrt«, in: Akzente 35, a.a.O., S. 540. 20 Ebd., S. 545. 21 Sontag: Wiedergeboren, a.a.O., S. 78.

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it then) he talked like a book review.«19 That Mann’s reliance on phrases recycled from his public interview persona makes his pronouncements sound like review writing communicates across the decades with Sontag’s own engagement in art journalism. From the more tolerant vantage of her grownup career, she identifies the embarrassment of her adolescent riches as a gap folded deeply in memory, the scream memory of shame: »Years later, when I had become a writer, when I knew many other writers, I would learn to be more tolerant of the gap between the person and the work. Yet even now the encounter still feels illicit, improper. In my experience deep memory is, more often than not, the memory of embarrassment.«20

There are few indications in the diaries of the shame attending her Mann visit. Alongside Mann’s observation during the meeting that the relationship of The Magic Mountain to his personal experiences before WWI was metapsychological, there is a marginal jotting of disappointment, which, even without the editor’s corroboration, no doubt hails from a later date, perhaps the time of composition of »Pilgrimage«: »The author’s comments betray his book with their banality.«21 In her diary record of the visit, Mann talks about Doctor Faustus and refers to the English translation as concluded in the recent past. By backdating the 1949 session in »Pilgrimage« to 1947, Sontag remembers herself in the sweet High-School phase of the wish to be someone important, which by College age can already begin to circle around the drain of unfulfillment. But most important, the book ­Doctor Faustus (in English translation) is removed from the foreground of the encounter.     Susan’s relationship to or through Doctor Faustus, discernible already in the soul-murder pact with Merrill, runs deep in the diaries.

19 Sontag, »Pilgrimage,« p. 48. 20 Ibid., p. 54. 21 Sontag, Reborn, p. 58.

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»Irgendwo in einem früheren Notizbuch habe ich Enttäuschung über Manns [Doktor] Faustus zum Ausdruck gebracht  … Ein wahrhaft eklatanter Beleg für den Stand meiner kritischen Fähigkeiten! Es ist ein großes und befriedigendes Werk […].«22

Im Verlauf eines autobiografischen Berichts mit dem Titel »Notizen einer Kindheit« aus dem Jahr 1957 verzeichnen die Tagebücher eine einzeilige Erinnerung, die letztlich als einzige und starke Bezugnahme auf die Scham von Sontags Erinnerung von 1987 gelten kann: »Wie ich in der Buchhandlung Pickwick’s erwischt wurde, als ich Doktor Faustus zu klauen versuchte.«23 Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Susan zwanghaft stahl. Vielmehr gibt Sontag in »Wallfahrt« ihr Wort, dass sie angesichts ihres knappen Taschengeldes kaufte, wenn sie konnte, aber gelegentlich stahl, wenn sie sich traute. Eine Art Zwang zeigt sich allerdings, wenn sie zugibt, nicht einmal daran gedacht zu haben, in die Bibliothek zu gehen. Kaufen und Stehlen werden an einem gewissen Punkt austauschbar: »Ich mußte sie anschaffen, sie in Reihen an der Wand meiner Schlafkammer sehen. Meine Hausgötter. Meine Raumschiffe.«24 Greenacre argumentiert, dass der Hochstapler einen besonderen Fall der Tagtraum-Fantasie darstellt, der als Familienroman bekannt ist. Dass Susans Buchsammlung ihr alternatives Netzwerk guter Objektbeziehungen war, zeigt sich in ihrer Ausdruckskraft als »besessene Leserin«, die sie über und gegen ihre Eltern entwickelt: »Lesen hieß, ein Messer in ihr Leben zu treiben«.25 Über die Verschmelzung mit Hans Castorp oder Manns Zärtlichkeit ihm gegenüber schuf Susan ihren inneren Rückzugsort, in den sie dem Verhältnis von Mann und Merrill folgte. Ihr kam allerdings ein beunruhigender Gedanke, als sie über das Ausmaß ihrer Identifizierung mit Castorp nachdachte: nämlich, dass sie ein Goody Two-Shoes26 sein könne, ein furchtbares Schimpfwort, das ihre Mutter ihr einmal an den Kopf geworfen hatte. Wie lernt man, in der Jugend zu stehlen – oder sich zu verabreden und herumzuknutschen? Über libidinös besetzten, freundlichen Gruppenzwang. Aber was als Initiationsritus in ein neues Milieu der Verführung beginnt, das dich anwirbt

22 Ebd., S. 33f. 23 Ebd., S. 141. 24 Sontag: »Wallfahrt«, in: Akzente 35, a.a.O., S. 525. 25 Ebd. 26 [Goody Two-Shoes bezeichnet eine übertrieben tugendhafte oder gut erzogene Person. Der Ausdruck stammt aus einer anonymen Erzählung, die später Oliver Goldsmith zugeschrieben wurde, in der ein armes, liebes und naives Mädchen, als es ein paar Schuhe geschenkt bekommt, immer wieder beglückt ausruft: »Zwei Schuhe, zwei Schuhe!«]

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»Somewhere, in an earlier notebook, I confessed a disappointment with the Mann [Doctor] Faustus … This was a uniquely undisguised evidence of the quality of my critical sensibility! The work is a great and satisfying one […]«.22

In the course of an autobiographical rundown from 1957 titled »Notes of a Childhood,« the diaries register a one-line recollection, which counts after all as the single and strong reference to the shame of Sontag’s 1987 reminiscence: »Being caught at the Pickwick Bookstore for stealing Doctor Faustus.«23 There is no indication that Susan stole compulsively; rather we have Sontag’s word for it in »Pilgrimage« that, given her puny allowance, she bought when she could but occasionally stole when she dared. However, something like compulsion is registered when she allows that she didn’t even think of going to the library. Buying and stealing become at some point interchangeable: »I had to acquire them, see them in rows along a wall of my tiny bedroom. My household deities. My spaceships.«24 Greenacre argues that the impostor is a special case of the daydream fantasy known as the family romance. That Susan’s book collection was her alternate network of good object relations is indicated by her express powers as »demon reader« over and against her parents: »to read was to drive a knife into their lives.«25 By her merger with Hans Castorp or with Mann’s tenderness toward him Susan fleshed out the inner recess into which she followed the rapport between Mann and Merrill. But there was one disturbing thought as she contemplated the extent of her identification with Castorp, namely, that she could be a Goody Two-Shoes,26 the appalling accusation her mother once hurled at her.

22 Ibid., p. 19. 23 Ibid., p. 113. 24 Sontag, »Pilgrimage,« p. 39. 25 Ibid., p. 38. 26 [»Goody Two-Shoes« refers to an excessively virtuous or well-educated person. The expression derives from an anonymous tale that was later attributed to Oliver Goldsmith, in which a poor, nice and naïve girl is given a pair of shoes. Overcome with joy, the girl exclaims over and over again: »Two shoes, two shoes!«]

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und dir die Gruppenlizenz ausstellt, kann durch den Dampfdrucktopf der Internalisierung zum Hauptventil der Sexualität werden. Stehlen stellt bereits den weiteren Schritt nach innen dar: Es ist ein heimliches Verfahren der Aneignung von Gegenständen, die so behandelt werden müssen, als ob sie immer schon da gewesen wären. Ich weiß nicht, wie sie in meine Handtasche gekommen sind. Daher rührt die psychoanalytische Sichtweise, dass man nur das stiehlt oder zurückstiehlt, was einem gehört: die wahre Mutter, nicht die falsche, die ihrer Tochter im Weg steht. In Vom Spiel zur Kreativität interpretiert D. W. Winnicott Stehlen in einem Raster von Internalisierungen, von Elementen, die er gendert. In einer Notiz am Ende seiner Fallvorstellung eines männlichen Patienten, in dem sich ein Mädchen verbarg (Winnicott entdeckte dies, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass die Fragen, die ihm einfielen, einem Mädchen zu stellen wären und nicht einem Mann mittleren Alters), fragt Winnicott, was im Stehlen, das eher den männlichen Anteil fortsetzt, dem weiblichen Anteil in Jungen und Mädchen entspreche: »Die Antwort kann heißen, daß der einzelne sich im Hinblick auf diesen Anteil der Position und des Gehabes der Mutter bemächtigt, um damit begehrenswert und verführerisch wie die Mutter zu werden, der er diese Eigenschaften weggenommen hat.«27

2 In Gidget. The Little Girl with Big Ideas ist jede Geste der Überschreitung in die Beziehung zur Psychoanalyse eingebettet, auch der Verstoß, dem das Buch seine Publikation verdankt – zumindest der Geschichte nach, die die Pressefotos bei der Veröffentlichung erzählten. Frederick Kohner hatte den Teenie-Diskurs seiner sechzehnjährigen Tochter aufgeschrieben, den er vor allem durch das Belauschen ihrer Telefongespräche studieren konnte. Über den Umgang seiner Tochter mit den Strandgammlern beunruhigt, bittet der fiktive Vater seinen Schwiegersohn Larry, einen Psychoanalytiker, Gidget nach der Wahrheit auszuhorchen. Gidget hört ihrerseits ein Gespräch mit:

27 D. W. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität, übers. von Michael Ermann, Stuttgart 1973, S. 100.

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How does one learn to steal in adolescence – or go out on a date and make out for that matter? Via libidinally benign peer pressure. But what commences as initiation rite into a new milieu of seduction that recruits you and issues the group license, can also end up, through the pressure cooker of internalization, the main sexual outlet. Stealing is already the extra step inside: it is a clandestine operation of appropriation of items that must be treated as already and always there. I don’t know how they got into my purse. Hence the psychoanalytic view that one steals or steals back only what belongs to one: the true mother, not the faux one currently getting in the way of her daughter. In Playing and Reality, D. W. Winnicott interprets stealing in a grid of internalizations, elements he names by gender. In a final note appended at the end of his case presentation of a male patient who was containing a girl (as Winnicott discovered when the questions crossing his mind, he suddenly realized, should have been posed to a girl and not to a middle-aged man), Winnicott asks what in stealing, which the male element tends to carry forward, corresponds to the female element in boys and girls: »The answer can be that in respect of this element the individual usurps the mother’s position and her seat or garments, in this way deriving desirability and seductiveness stolen from the mother.«27

2 In Gidget: The Little Girl with Big Ideas every gesture of transgression is contained within the relationship to psychoanalysis, including the transgression to which the book owed its publication, at least according to the story told in publicity photos when the book was released. Fredrick Kohner had written down the teen discourse of his sixteen-year-old daughter, which he was able to study largely by listening in on her phone conversations. Needing reassurance about his daughter’s involvement with those beach bums, the fictional

27 D. W. Winnicott, Playing and Reality (London: Tavistock, 1971): p. 85.

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»Larrys Erleichterung über meine intakte Jungfräulichkeit war so groß, dass er noch an demselben Nachmittag, als wir gerade zu Mittag aßen, meinen alten Herrn anrief und ihm eine doppelte, gut vermischte Portion Freud und Adler auftischte. Natürlich habe ich alles am anderen Telefon mitangehört, als er im Arbeitszimmer mit Papa sprach.«28

Wenngleich diese besondere Combo nicht der unsichtbare Schnitt nach »Deutschland« ist, so versichern doch die Mitglieder der homoerotischen Clique Gidget, dass unter ihnen kein einziger »Schwuler« sei, was beweist: Wir befinden uns auch hier am anderen Ufer. »Indirekt waren sie alle eifersüchtig auf jeden – männlich oder weiblich –, der in die heilige Umlaufbahn des großen Kahuna eintrat.«29 Im Film weisen die gleichgeschlechtlichen Bande am Surferstrand weniger indirekt auf das Innere eines Begehrens, in das nicht eingedrungen werden darf. Der Bezug zur Homosexualität, der in der filmischen Adaption wie knapp verfehlt wirkt, ein gefundenes Fressen für die GenderStudies, ist das einzige deutsche Charakteristikum der Hintergrundgeschichte, das auf der Leinwand übrigbleibt. In den Filmen und Fernsehproduktionen ist Gidgets Familie nicht österreichisch oder deutsch-jüdisch. Dafür betritt im ersten Film ihre beste Freundin (im Buch Larue), deren »Liebesleben hinüber ist«,30 als B. L. die Leinwand: ein Tomboy aus Weimar, in Hosen und mit einem Kurzhaarschnitt. Ihre Ablehnung von Jungs (besonders im Namen von Gidget) ist auffällig. Larue, die nach Gidgets Einschätzung wirklich ein »feiner Kerl« ist,31 wird vom Schwager-Analytiker, so berichtet Gidget, auf folgende Weise analysiert: »Mit Pferden sublimierend. Hoffentlich verwende ich den richtigen Ausdruck. Er klingt irgendwie dreckig.«32 Frederick Kohner arbeitete als Drehbuchautor für die Filmindustrie Hollywoods, genauso wie früher, vor Hitlers Machtübernahme, für die Filmindustrie in Berlin. Für den Roman erschuf sich Kohner als Professor Hofer neu, der an der Universität in Südkalifornien Deutsche Literatur unterrichtet. Dass er aus seiner Tochter eine Vertreterin der nächsten Generation südkalifornischer Emigrantenkultur machte, hat ihr Status als Traumteenager in den Hintergrund gedrängt. Um auszudrücken, dass sie einfach tot umfallen könnte, verlangt sie

28 Kohner: Gidget, a.a.O., S. 77. 29 Ebd., S. 115. [Der »große Kahuna« heißt eigentlich Cass, Kurzform von Cassius, und ist, etwas älter als die anderen, der unumstrittene Anführer der Clique.] 30 Ebd., S. 24. 31 Ebd., S. 25. 32 Ebd., S. 24.

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father asks son-in-law Larry, a psychoanalyst, to probe Gidget for the truth. She gets to listen in: »Larry’s relief over my well-preserved virginity was so fierce that he had called my old man the very afternoon of our luncheon and sold him a double size of Freud and Adler, well mixed. I managed to be on the extension phone in the house while he talked to Dad in the study.«28

If this special combo isn’t the continuity shot with »Germany,« then the assurance the members of the homoerotic group give her that there isn’t among them a single »flit« proves that we’re also on the other shore. »In a roundabout way they all were jealous of anybody – male or female – who entered the hallowed orbit of the great Kahoona.«29 In the movie the same-sex bond on the surfing beach is not so roundabout in its presentation of an interior of a desire that cannot admit penetration. The near-miss relationship with homosexuality in the film adaptation, which has served gender studies a found feast, is the only German feature from the background story that remains behind on the screen. In the movies and TV shows Gidget’s family isn’t Austrian- or German-Jewish. But her best girlfriend (Larue in the book), whose »love life is defunct,«30 makes it onto the screen in the first film as BL, a Weimar tomboy in short haircut and pants, whose rejection of boys (especially on Gidget’s behalf) is strident. Larue, who is really a »good guy« in Gidget’s estimation,31 has been identified by the brother-in-law analyst, so Gidget reports, as »sublimating with horses. I hope I’m using the right expression. It sounds sort of dirty.«32 Frederick Kohner worked as a screen writer for the Hollywood film industry, just as he had earlier for the Berlin film industry before Hitler’s rise to power. For the novel, Kohner remade himself as Professor Hofer, who teaches German literature at the University of South-

28 Kohner, Gidget, p. 77. 29 Ibid., p. 115. [Being older than the rest, the great Kahoona (his real name is Cass, short for Cassius) is the uncontested leader of the group.] 30 Ibid., p. 24. 31 Ibid., p. 25. 32 Ibid., p. 24.

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in Gidget Goes Parisienne, neben ihrem Groß-Groß-Groß-Onkel Heinrich Heine begraben zu werden. Aber die Details der Familiengeschichte verlieren sich im Lauf der acht Romane, in denen sich Surfen, Skifahren oder das Dasein als südkalifornischer Teenie mit einem eklektischen Interesse an der Hochkultur denselben Wortschatz teilen. Beispielsweise geht die Heldin in Gidget Goes to Rome mit ihrer Schlaflosigkeit so um, dass sie kulturelle Referenzen aufruft und sich darauf freut, diese zu leben: »In wenigen Stunden wirst Du über dieselben Pflastersteine laufen wie der alte Julius und Marc Aurel und Michelangelo und Napoleon und Keats und Shelley und der alte Johann Wolfgang und Casanova und Vittorio de Sica (nach dem ich besonders verrückt bin).«33

Kathy Kohner suchte Antworten im Surfen, als sie von dem zweijährigen Aufenthalt der Familie in West-Berlin zurückkehrte, wo ihr Vater bei einer Filmfirma eine Beschäftigung gefunden hatte (im Roman machte Professor Hofer ein einjähriges Sabbatical). Europa oder ihre Erfahrungen dort hatten sie verändert oder ihren Standpunkt verrückt, und ihr gelang es nicht so recht, wieder Kontakt zu Gleichaltrigen zu knüpfen. Seit ihrer frühen Kindheit, als ihre Mutter versuchte, ihre kleingewachsene Tochter durch ein strenges Schwimmregime zumindest über das midget limit, die Zwergengrenze, hinaus zu strecken, war sie athletisch und aquatisch. Wie Kathy sich in einem Interview erinnert, das 2001 in der Herbstausgabe der Jewish Woman erschien: »Indem ich Surfen lernte, konnte ich etwas Körperliches tun und etwas beweisen. Man brauchte Übung und Ausdauer, aber natürlich machte es auch Spaß – und es gab da all diese gutaussehenden Typen.«34 In Gidget. The Little Girl with Big Ideas bestimmt unsere Heldin die Bedeutung des Schauplatzes ihrer Surf-Mission, bevor sie die Wellen reitet: »Das war letztlich das Versuchsfeld, das ich für mich selbst ausgesucht hatte.«35 In »Wallfahrt« führt uns Sontag in den Hindernisparcours ihres jugendlichen Versuchsgeländes in Los Angeles ein. Begleitet von Peter und Merrill, so schreibt sie, habe sie die aufeinanderfolgenden Stationen ihres Bildungsromans durchlaufen: »[Ich] studierte Philosophie, und dann, und dann … ging ich weiter auf mein Leben zu,

33 Frederick Kohner: Gidget Goes to Rome, New York 1963, S. 23. 34 Kathy Kohner: »Gidget«, in: jw magazine, https://16209a.bbnc.bbcust.com/sslpage. aspx?pid=799 (aufgerufen: 17.7.2017). 35 Kohner: Gidget, a.a.O., S. 124.

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ern California. That he remade his daughter as the next generation of émigré culture in Southern California was displaced into the background by her status as dream teen. To express that she could just drop dead in Gidget Goes Parisienne, the Californian teenager asks to be buried alongside her great-great-great uncle Heinrich Heine. But the details of family history get lost in the eight Gidget novels, where, however, surfing, skiing, or being a Southern Californian teenager share a lexicon with an eclectic interest in high culture. For example, in Gidget Goes to Rome, the heroine counters her insomnia by counting cultural references and looking forward to living them: »In a few hours, you’re going to walk the same cobblestones that old Julie walked and Marcus Aurelius and Michelangelo and Napoleon and Keats and Shelley and old Johann Wolfgang and Casanova and Vitorrio de Sica (about whom I’m specially kookie).«33

Kathy Kohner turned to the quest of surfing upon her return from the family’s two-year sojourn in West Berlin, where her father had found employment with a local film company (in the novel Professor Hofer was on sabbatical leave). Europe or her experiences there had changed or displaced her and she couldn’t find the point of reentry with her peers. Since early childhood when her mother tried to stretch her short daughter at least beyond the midget limit through a regime of rigorous swimming, she was athletic and aquatic. As Kathy recalls in an interview in the fall 2001 issue of Jewish Woman: »By learning to surf, I could do something physical and prove something. It took practice and perseverance but, of course, it was fun – and there were all these good-looking guys.«34 In Gidget: The Little Girl with Big Ideas, our heroine identifies the significance of the setting of her surfing quest right before she shoots the curl: »This was the final testing ground that I had picked for myself.«35 In »Pilgrimage,« Sontag introduces us to her adolescent obstacle course of testing grounds in LA. Accompanied, she writes, 33 Frederick Kohner, Gidget Goes to Rome (New York: Bantam, 1963): p. 23. 34 Kathy Kohner, »Gidget«, jw magazine, https://16209a.bbnc.bbcust.com/ sslpage.aspx?pid=799 (accessed: 17 July 2017). 35 Kohner, Gidget, p. 124.

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das sich tatsächlich ziemlich genauso entwickelte, wie das vierzehnjährige Kind es sich mit solcher Bestimmtheit vorgestellt hatte.«36 Die Verwirklichung der Fantasien bringt eine Abwesenheit von Ambivalenz mit sich, die Kehrseite der Scham, die »Wallfahrt« durchzieht. Ganz ähnlich wie Sontag in der psychoanalytischen Theorie verweilte, nimmt sich die Heldin in The Affairs of Gidget eine Auszeit von ihrer angeheirateten Beziehung zur Psychoanalyse, um die Ambivalenz hinter sich zu lassen: »In billigen Büchern und Geschichten liest man immer von einer ›Verwirrung‹ der Gefühle. Nun, liebe Fans, lasst mich verkünden, dass es so etwas wie gemischte Gefühle nicht gibt. Es ist nicht möglich, dass eine Person mehr als ein Gefühl gleichzeitig spürt. Meines war Scham.«37

Das Testgelände der Fantasie zu betreten heißt, dass man aus dem Gemisch und dem Durcheinander der Wünsche, die den Geist mit der Geschwindigkeit des Denkens durchqueren, eine Emotion nach der anderen separiert und dabei jeweils dafür sorgt, dass es sich um eine möglichst große handelt. In Tagträumen zu fantasieren, kann bedeuten, dass man sich in große Ideen und große Gefühle einübt. Die Jugendpsychologie, eine Mädchenpsychologie, die aber auch für Jungen gelten kann, ist, wie in den Gidget-Romanen dokumentiert, gegenüber Homosexualität weder intolerant noch tolerant. Als Gidget sich in Paris um einen Job als Model bewirbt, fordert der Designer Pierre sie dazu auf, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen. Sie zögert, bis ihr die Bedeutung von Pierres Schmuck klar wird: »Mein Blick fiel auf etwas, das an einer Silberkette um seinen Hals hing: eine auf ein Stück Leder aufgeklebte Medaille. Das sichere Zeichen eines Schwulen.«38 Wenn der schwule Teenager wie ein Selbstwiderspruch erscheint, dann gründet dieser Widerspruch tief in der Psychoanalyse. Homosexualität basiert auf der Vereinbarkeit mit Gruppenbindungen und gelingt, hierauf wurde hingewiesen, am

36 Sontag: »Wallfahrt«, in: Akzente 35, a.a.O., S. 545. 37 Frederick Kohner: The Affairs of Gidget, New York 1963, S. 47. 38 Frederick Kohner: Gidget Goes Parisienne, New York 1966, S. 44.

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by Peter and Merrill, she proceeded to the subsequent stations in her Bildungsroman. »I […] studied philosophy, and then, and then . . . I went on to my life, which did turn out to be, mostly, just what the child of fourteen had imagined with such certitude.«36 The realization of the fantasy carries forward unambivalence, the flip side of the shame hanging over »Pilgrimage.« In The Affairs of Gidget, the heroine takes time out from her relationship-by-marriage to psychoanalysis, not so different from Sontag’s own personalized sojourn in psychoanalytic theory, to get past ambivalence: »In trashy books and stories, you always read about the ›confusion‹ of emotions. Well, fans, let me tell you that there is no such thing as mixed emotions. It is quite impossible for a person to have more than one emotion at a time. And mine was of shame.«37

To enter the testing ground of fantasy is to separate out in the mix and mess of wishes crossing the mind at the speed of thought one emotion at a time, and to make it each time a big one. Daydream fantasying can mean to be in training for big ideas and big feelings. Adolescent psychology, which is girl psychology, but for boys, too, is, as documented also in the Gidget novels, neither intolerant nor tolerant of homosexuality. As applicant for a modeling job in Paris Gidget is asked by the designer, Pierre, to strip down to her underclothes. She hesitates, until she recognizes the significance of what Pierre is wearing: »my eyes fastened on something dangling on a silver string around his neck: a medal glued to a piece of leather. The sure sign of the fagel.«38 If the gay teenager appears to be a contradiction in terms, then the contradiction runs deep inside psychoanalysis. Based on compatibility with group ties, homosexuality is noted most likely to succeed

36 Sontag, »Pilgrimage,« p. 53f. 37 Frederick Kohner, The Affairs of Gidget (New York: Bantam, 1963): p. 47. 38 Frederick Kohner, Gidget Goes Parisienne (New York: Dell, 1966): p. 44.

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ehesten in Gruppen.39 Und doch liegt das starke Ego des Perversen auch außerhalb des Jugendmilieus, das auf Beliebtheit basiert.40 Wie individualistisch oder besonders der Leitgedanke in der Jugend auch sein mag, wenn es zur Beliebtheit kommt, dem wesentlichen Bindemittel der Gruppe, zählt vor allem, dass man unkompliziert und dem Werben gegenüber aufgeschlossen bleibt. Die Gruppenmitglieder, die anders sein wollen, sowie jene, denen sie gleichen möchten, bilden den Pool der Kandidaten für die Liebe durch Identifizierung. Nach dem psychoanalytischen Konsens von 1910, wie Freud ihn in seinem Aufsatz über Leonardo da Vinci zusammenfasst, findet der Homosexuelle den Weg aus dem inzestuösen Bund mit seiner Mutter nicht durch Verdrängung oder Substitution, sondern durch Identifizierung. Er liebt seine Objekte, wie seine Mutter ihn liebte. Damals war er jung, heute sind seine Objekte genauso jung. Die Beziehung des Schwulen zur Jugend ist ein Insider-Job. In ihren Tagebüchern hält Sontag die folgenden Zeilen ihres Tischnachbarn fest: »Die Vergangenheit ist für mich völlig unwirklich. Ich lebe nur in der Gegenwart + der Zukunft. Sehe ich vielleicht deshalb so jung aus?«41 Sontags Titel dazu: »Dorian Gay«. Seine Neigung zur Jugend ließ Oscar Wilde im Verhältnis zu den von ihm angebeteten Jugendlichen stets als den jüngeren, weniger entwickelten Jungen erscheinen, der mit beiden Füßen noch in der Latenz steckte. Was sein identifikatorisches Begehren vorantrieb, war Anwerbung, die aktive Verführung, in der Realität oder in der Vorstellung, durch einen etwas älteren Jungen. Der Homosexualität zum Opfer fallen, ist Teil des Spiels. In einem Tagebucheintrag von 1962 notiert Sontag die »Fantasie« ihrer Partnerin, »eine ärztliche Untersuchung durchzuführen, oder öfter noch, sich einer zu unterziehen – wo es genau darum geht, so lange wie möglich keine sexuelle Erregung zu zeigen«.42 Diese Fantasie steht in explizitem Kontrast zur, wie sie es nennt, »Vorstellung der Amerikaner: Sex als schweres Atmen«,43 mit anderen Worten: zur Heterosexualität. Wenige Monate später widersteht sie der »Liebe als Einverleibung, einverleibt werden«.44 Dann allerdings, fünf Tage später, erscheint die Fantasie der medizinischen Untersuchung auf ihrer Liste: »sexuelle Phantasien vom Verlust 39 Vgl. Sigmund Freud: »Massenpsychologie und Ich-Analyse«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. XIII: Jenseits des Lustprinzips. Massenpsychologie und Ich-Analyse. Das Ich und das Es, hg. von Anna Freud u.a., Frankfurt 1955, S. 71–161, hier S. 159. 40 Vgl. Sigmund Freud: »Fetischismus«, in: ders: Gesammelte Werke, Bd. XIV: Werke aus den Jahren 1925–1931, hg. von Anna Freud u.a., Frankfurt 1955, S. 311–317, hier S. 311. 41 Susan Sontag: Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Tagebücher 1964–1980, übers. von Kathrin Razum, München 2013, S. 452. 42 Sontag: Wiedergeboren, a.a.O., S. 363, Hervorhebung im Original. 43 Ebd., S. 362. 44 Ebd., S. 366.

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in groups.39 And yet, the strong ego of the pervert also lies outside the teen milieu of likeability.40 However individualist or different the leading idea in adolescence may be, when it comes to the all-important group-bond of likeability, what is important is that one remains uncomplicated and open to recruitment. The group members liking to be different like those they like to be like supply the pool of candidates for love by identification. According to the 1910 psychoanalytic consensus, as summarized by Freud in his essay on Leonardo da Vinci, the homosexual finds a way out of the incestuous bond with his mother not via repression or substitution but by identification. He loves his objects as his mother loved him. He was young then; his objects are as young now. The gay relationship to youth is an inside job. In her diaries, Sontag records the following lines of her dinner partner: »The past is completely unreal to me. I live only in the present + the future. Is that why I look young?«41 Sontag’s caption: »Dorian Gay.« Inside his attachment to youth, Oscar Wilde was forever, in relation to the youths he worshipped, the younger, less developed boy with both feet still in latency. What carried his identificatory desire forward was recruitment, the active seduction, in reality or fantasy, by a slightly older boy. Falling victim to homosexuality is part of the act. In a 1962 diary entry, Sontag notes her partner’s »fantasy of conducting, or more often, submitting to a medical examination – where the point is not to show sexual excitement as long as you can.«42 It is a fantasy in explicit contrast to the heavy breathing of the »American idea of

39 Sigmund Freud, »Group Psychology and the Analysis of the Ego (1921),« The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, vol. XVIII: Beyond the Pleasure Principle, Group Psychology and Other Works, trans. and ed. James Strachey (London: Hogarth, 1955): p. 65–144: p. 141. 40 Sigmund Freud, »Fetishism,« The Standard Edition of the Complete Psycho­ logical Works of Sigmund Freud, vol. XXI: The Future of an Illusion, Civilization and its Discontents and Other Works, trans. and ed. James Strachey (London: Hogarth, 1973): p. 152–157. 41 Susan Sontag, As Consciousness is Harnessed to Flesh, Diaries 1964–1980, ed. David Rieff (London et. al.: Hamish Hamilton, 2012): p. 428. 42 Sontag, Reborn, p. 304, emphasis in the original.

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der Autonomie«.45 Es ist schwer zu beurteilen, um wessen Fantasie es hier geht. Sicher aber handelt es sich um ein Nachbild des Rats, den sie von den beiden etwas älteren Teenager-Jungs erhielt, mit denen sie Thomas Mann besuchte. In einem Tagebucheintrag von 1949 schreibt Susan, dass sie von F erfahren habe, dass er und E bereits seit dem letzten Jahr wüssten, dass sie wohl lesbisch sei. Wichtig ist, dass E, das Objekt der Verschmelzung, abwesend ist, aber zitiert und im Folgenden herbeigerufen wird. Denn als Nächstes sagt ihr F, was sie tun solle, bevor es zu spät ist: »Geh mit mehreren Männern zugleich aus. Knutsch im Auto mit ihnen herum, lass dich befummeln, gönn ihnen ihre kleinen Freuden. Am Anfang wird dir das überhaupt nicht gefallen, aber zwing dich dazu … es ist deine einzige Chance.«46

Das Ingroup-Grabschen, die Suche nach einer Reaktion auf die Herrschaft der sexuellen Identität, verpasst Susan auf spielerische Weise einen Denkzettel. Dieses ambivalente heterosexuelle Milieu der Anwerbung wird mit Susan wiedergeboren: als die innere Welt, die ihre Wunschvorstellung, eine Autorin von big ideas zu werden, bis zur Verwirklichung fortsetzt. Durch die leichten Veränderungen, die Sontag an ihrer Erinnerung vornimmt, befinden wir uns innerhalb der Fantasie, die ein von Identifizierung getriebenes Amalgam aufblitzen lässt. In seinen Tagebüchern notiert Mann, dass drei Studenten aus Chicago vorbeigekommen seien, um mit ihm ein Interview über den Zauberberg zu führen; ein Gespräch mit jungen Intellektuellen, nicht mit High-School-Kids. Kein libidinöser Eindruck, der bei all ihrer HochschulProfessionalität zurückblieb. Er mag auch nicht für den Surfer-Charme von E empfänglich gewesen sein, da seine Aufmerksamkeit während dieser Ferien so von »Ed«, dem Freund seines Sohnes Golo, abgelenkt war. Einige Monate später würde es auf den Seiten seines Tagebuches vor allem um die süßen Kellner in der Schweiz gehen: Einige haben Hermes-Beine, in einen anderen verliebt er sich sofort. Als eine Art Auftakt zu ihrem ersten positiv aufgenommenen Roman, dem im Stil Thomas Manns geschriebenen Der Liebhaber des Vulkans, gibt Sontag im Jahr 1987 mittels Metonymie und Auslassung die ungeteilte Fantasie eines Teenie-Schwarms im Wohnzimmer des ewigen/innerlichen Jugendlichen wieder. Manns Tagebücher waren bereits publiziert. Sontag ging mit den anderen Gegen-

45 Ebd., S. 368. 46 Ebd., S. 62f. [Übersetzung geändert.]

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sex,« as she calls it, in other words heterosexuality.43 A few months later she resists »love as incorporation, being incorporated.«44 But then, five days later, the medical exam fantasy is on her list of »sex fantasies of losing autonomy.«45 It’s hard to know whose fantasy it is. But for sure it is an after image of the counsel she received from the two slightly older teen boys with whom she visited Thomas Mann. In a 1949 entry, Susan writes that she heard it from F that he and E knew already the year before that she was probably a lesbian. It’s important that E, the object of merger, is absent but cited, summoned in what follows. Because next F tells her what to do before it’s too late. »Go out with a couple of men at the same time. Park and let them feel you + have their little pleasures. You won’t like it at all at first, but force yourself to do it … it’s your only chance.«46

The in-group groping for a response against the reign of sexual identity imparts to Susan a hands-on object lesson. This ambiguously straight milieu of recruitment is reborn with Susan as the inner world that would carry forward unto realization her wish fantasy of being an author of big ideas. By the slight alterations Sontag adds to her souvenir, we are also inside the fantasy flashing on an identification-driven amalgam. In his diaries, Mann notes that three Chicago students stopped by to interview him about The Magic Mountain. It was an interview with young intellectuals not a conversation with High School kids. No libidinal impression was left behind for all their college professionalism. He may also not have not been available for E’s surfer charm because during this holiday period he was so distracted by son Golo’s boyfriend »Ed.« Several months later he would be all over the pages of his diary about the cute waiters in Switzerland: some have the legs of Hermes, another he immediately falls in love with.

43 44 45 46

Ibid. Ibid., p. 307. Ibid., p. 309. Ibid., p. 44.

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ständen ihrer Erinnerung ganz geradlinig, also straight um. Das zarte Missverständnis, das die Distanz zwischen Hans Castorp und den Absolventen der North Hollywood High School, Farley und Ladd, begleitet, wärmt sich zwischen den Zeilen auf. Beide Schauspieler waren Ikonen ambivalenter heterosexueller Reize. Während Ladd als Shane so genderunspezifisch wie Lassie ist, der von allen Kindern an der Schwelle zur Jugend geliebt wird, spielt Farley in Cocktail für eine Leiche die Rolle des Heteros, der von dem freizügigeren oder direkteren Freund angeworben wird.47 Scham vorzutäuschen hält die Scham nicht fern, sondern lässt die Kontakt-Erinnerung an Entbehrung hinter dem asozialen Ausagieren zurück. Tatsächlich ist Scham als Verhüllung und Platzhalter entschiedener in der grundlegenden Verbindung mit Hochstapelei und letztendlich mit dem Künstler (vorzugsweise des Beiworts »Schwindler« entkleidet) anzusiedeln. Das Fundament einer Innenwelt muss bis in die Kindheit reichen. Wir haben gesehen, dass Sontag sich wie Norman Bates vorstellte, die Kleidung ihrer Mutter – und damit auch ihren Reiz – zu stehlen und überzuziehen. Dann gab es ihren fehlenden Vater, der in China eingeschachtelt war. Ihre Mutter erzählte ihr erst von seinem Tod, als er schon lange gegangen war. Beide Elternteile waren oft nach China gereist, an den exotischen Ort, der für Sontags Fantasie die erste Adresse bleiben würde. Dass die Todesursache ihr noch länger vorenthalten wurde (da Tuberkulose verbotene Assoziationen weckte), identifiziert Sontags Biograf Daniel Schreiber (treffend, wie ich denke) als den traumatischen Ausgangspunkt für ihre Studie über die Rhetorik der Krankheit und als springenden Punkt ihrer Hingabe an den Zauberberg. Sontags Unfähigkeit, in der Kindheit über das Verschwinden ihres Vaters zu trauern, verweist auf die DeRealisierung, Nicht-Realisierung seines Todes. Im Liebhaber des Vulkans bezieht sich die folgende Passage zwar auf die verlorenen Objekte in der Sammlung des Protagonisten, doch die Unfähigkeit zur Trauer wird groß über ein gesamtes Leben geschrieben: »Um mit dem Trauern beginnen zu können, muß man das Gefühl überwinden, daß dies alles nicht geschieht oder nicht geschehen ist. Es hilft, wenn man bei der Katastrophe zugegen war. […] Was nicht vor unseren Augen geschieht, muß man vertrauensvoll glauben. […] Der Cavaliere trauerte um seine Schätze. Doch eine

47 [Diese Stelle spielt auf den US-amerikanischen Western Mein grosser Freund Shane (1953) des Regisseurs George Stevens und auf Alfred Hitchcocks Cocktail für eine Leiche (1948) an.]

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As a kind of prelude to her first well-received novel, the Thomas Mannian The Volcano Lover, Sontag renders in 1987 by metonymy and absence an unshared fantasy of teen heart throb in the parlor of the eternal/internal adolescent. The Mann diaries were already out. Sontag played it straight with the other items of her memoir. The tender misunderstanding that attends the distance between Hans Castorp and North Hollywood High School graduates Farley and Ladd picks up heat between the lines. Both actors were icons of ambiguously straight attractions. While Ladd as Shane is as gender nonspecific as Lassie, beloved by all the children going into adolescence, Farley’s role in Rope is that of the straight recruited by the more explicit or forthright friend.47 To feign shame doesn’t keep distance from shame itself, but does leave behind the contact-memory of deprivation behind antisocial acting out. In fact, shame as cover and placeholder is lodged more resolutely within the underlying association with imposture and, ultimately, with the artist (preferably divested of the »rip off« modifier). The foundation of an inner world must reach into childhood. We saw that like Norman Bates she fantasized stealing and wearing the mother’s raiment, her appeal. Then there was her missing father, who was Chinese-boxed-in. While her mother didn’t tell her that it had happened until he was long gone, both parents were often gone to China, to the exotic place that would remain for Sontag the first address of fantasy. That the cause of his death was withheld even longer from her, since tuberculous held illicit associations, is identified (aptly I think) by Sontag’s biographer Daniel Schreiber as the traumatic point of return for her study of the rhetoric of illness and the crux of her dedication to The Magic Mountain. Sontag’s childhood inability to mourn her father’s disappearance refers to the derealization, nonrealization of his death. In The Volcano Lover the following passage refers to lost objects in the protagonist’s collection, but the inability to mourn is writ large upon a whole life:

47 [This passage refers to George Stevens’s western Shane (1953) and to Alfred Hitchcock’s Rope (1948).]

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Trauer, die so lang nach dem Tod und unter solchen Bedingungen des Zweifels und der Ungläubigkeit beginnt, kann nie voll durchlebt werden.«48

Über diesem melancholischen Fundament war Sontags Innenwelt vollgepackt mit einer Ansammlung von charmanten Hochstapler-Teens, wie Felix Krull, dem Protagonisten, der auf Manns Ausarbeitung des teuflischen Vertragsverhältnisses folgte, das dem Erfolg des Künstlers innewohnt. Das Glück des Hochstaplers erbte das schicksalhafte Streben des Fausts.    Als sie zum ersten Mal Kafka liest, vertraut Sontag ihrem Tagebuch in einem Geistesblitz an, dass ihre bisherigen Maßstäbe, Thomas Mann und André Gide, nun der Inflation bloßer Reputation zum Opfer gefallen seien. Aber dann stieg sie herab von dieser Höhe (nicht was ihre literaturkritischen Maßstäbe anbelangt, sondern ihre literarische Orientierung). Das Nachlassen, das sie erlernte, ihr Ausweis der Scham, wird in einer fiktionalisierten oder internalisierten Retrospektive aufgehoben und in ihrem erfolgreichsten Roman vorausblickend als Sammlung neu bewertet (ein anderer Name für ein Œuvre, dessen Antrieb kulturjournalis­ tischer Natur ist). In Der Liebhaber des Vulkans identifiziert Sontag die Hingabe ihres Protago­ nisten ans Sammeln als Allegorie ihrer eigenen Erfüllung oder Entwicklung, die es California Susan erlaubte, Kulturkonsum in den Rang von Komposition zu erheben, während ihre frühe antisoziale Bindung an Bücher (und ihr mörderisches Wüten gegen ihre Mutter) durch die Schlaufe der Melancholie gezogen schwankte und sich zur Kunst hin entwickelte. Wenn der Sammler allerdings bei einer Auktion bekommen will, was er einfach haben muss, ohne sich jedoch über den Tisch gezogen zu fühlen, muss er »eine regelrechte Szene vor[spielen], daß [er] zwar ein wenig interessiert sei, aber nicht übermäßig; fasziniert ja, sogar in Versuchung; aber nicht verführt, verzaubert. […] So ist also der Sammler jemand, der sich verstellt, jemand, dessen freudige Gefühle immer mit Angst vermischt sind. Denn es gibt immer noch mehr.«49

Dass er das nächste Teil seines Kultur-Puzzles um jeden Preis haben muss, enthüllt, dass der Sammler-Hochstapler nichtdestotrotz mit dem tiefer liegenden

48 Susan Sontag: Der Liebhaber des Vulkans, übers. von Isabell Lorenz, München 1992, S. 336f. 49 Ebd., S. 98.

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»To begin to mourn, one must get past the feeling that this is not happening or has not happened. It helps to be present at the disaster. […] Whatever does not happen before our eyes must be taken on trust. […] The Cavaliere mourned for his treasures. But a mourning that begins so posthumously, and under such conditions of doubt and disbelief, can never be fully experienced.«48

Upon this melancholic foundation, Sontag’s inner world was packed with an assemblage of charming confidence teens, like Felix Krull, the protagonist who followed out of the wake of Mann’s elaboration of the infernal contractual deadlines internal to an artist’s success. The good fortune of the impostor inherited the fateful aspirations of Faust.    When she first reads Kafka, Sontag confides to her diary in a binding flash of insight that her former gold standards, Mann and André Gide, were now lost to the inflation of mere reputation. But then she came down off the high (not in her critical standards but in her literary orientation). The lessening she learned, her badge of shame, gets sublated in fictionalized or internalized retrospective and, in her most successful novel, prospectively revalorized as collection (another name for an oeuvre driven by cultural journalism). In The Volcano Lover, Sontag identifies her protagonist’s dedication to collection as allegory for her own fulfillment or development, which allowed California Susan to raise the consumerism of culture to the power of composition while drawing her early antisocial attachment to books (and her murderous raging against her mother) through the loop of melancholia staggered and redeveloped unto art. However, if he is to obtain at auction what he simply must have but without feeling ripped off, the collector must: »perform a whole theatre of being a little interested, but not immoderately; intrigued, yes, even tempted; but not seduced, bewitched. […] So

48 Susan Sontag, The Volcano Lover (New York: Farar, Straus and Giroux, 1992): p. 254f.

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Antrieb verbunden bleibt: »Jeder Sammler ist ein potentieller (wenn auch kein tatsächlicher) Dieb.«50

3 Vor der Retrospektive der Scham und nur ein paar Jahre nach dem Vorwurf, dass Science-Fiction-Filme ein emotionales Scheitern bezeugen, entdeckte Sontag »Camp« als eine alternative affektive Antwort auf den flexiblen Maßstab zwischen Hoch- und Populärkultur in einer postapokalyptischen Welt. Ihr Artikel über Hans-Jürgen Syberbergs Hitler: Ein Film

aus

Deutschland

aus dem Jahr 1979 löste die angemessene emotionale Reaktion aus, die sie früher in Science-Fiction-Filmen vermisst hatte. Es handelte sich jedoch um Trauer im Modus der Distanzierung, der Internalisierung und Ironisierung, die sie mittlerweile in Camp für oder in sich selbst entdeckt hatte. Im Schreiben von »Anmerkungen zu ›Camp‹« rief sie ihren inneren Schwulen herbei, denjenigen, dem Thomas Manns Zärtlichkeit einst Auftrieb gegeben und der zur Verschmelzung mit Merrill gedrängt hatte. Das Bereitsein, das sie zu Beginn der »Anmerkungen zu ›Camp‹« vorführt, um ihre Fähigkeit zu rechtfertigen und abzusichern, die Sensibilität einer Ingroup zu deuten (das, was sie als einen Geschmack für Emotionen bezeichnet), liegt jenseits der Ambivalenz, aber schämt sich nicht dafür: »Camp zieht mich stark an und stößt mich fast ebenso stark ab. Aus diesem Grund will und kann ich über Camp sprechen.«51 Wenn Sontag als wesentlich Camp die Ambition eines Mannes aufzeigt, »als einzelner zu leisten, was nur Generationen zu leisten vermögen«,52 erzeugt sie eine Korrespondenz zwischen dem Außen und ihrem Inneren: der Fantasie des frühreifen Teens, über genialische Erkenntnis zu verfügen, die über die Zeit hinweg, unabhängig von Bedenken oder Bestätigung, bestehen bleibt. Mit anderen Worten: Im unvermeidlichen Scheitern liegt ein Erfolg, ein zärtliches Gefühl, wie sie zum Ende hin bemerkt, das den Kontrast zu dem erwachseneren Zustand des Zerstörtseins durch Erfolg deutlich macht, zusammen mit seiner Massenpsychologie der schicksalhaften Identifizierung mit hoffnungslosen Fällen. Camp dagegen kommt nicht nur »zärtlich« rüber, sondern auch »gewinnend«.

50 Ebd., S. 100. 51 Susan Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 322– 341, hier S. 322. 52 Ebd., S. 331.

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the collector is a dissembler, someone whose joys are never unalloyed with anxiety. Because there is always more«.49

That he must get the next piece of his puzzling out of culture at any price reveals that the collector-impostor nevertheless remains in touch with the more basic impulse: »Every collector is potentially (if not actually) a thief.«50

3 Before the retrospective of shame and only a few years after the charge that SF movies testified to an emotional failure, Sontag discovered »Camp« as an alternative affective response to the sliding scale of high and low culture in a post-apocalyptic world. Her 1979 article on Hans-Jürgen Syberberg’s Hitler provided the appropriate emotional response she had earlier found wanting in SF movies, but it was grief in the mode of distancing, internalization, and ironization, which in the meantime she had discovered for or inside herself in Camp. In writing »Notes on ›Camp‹,« she summoned her inner gay, the one once buoyed up by Thomas Mann’s tenderness and urging merger with Merrill. The ready position she introduces at the start of »Notes on ›Camp‹« to justify and protect her ability to read the sensibility of an in-group, what she identifies as a taste in emotion, goes to the position beyond ambivalence, but not for the shame of it: »I am strongly drawn to Camp, and almost as strongly offended by it. That is why I want to talk about it, and why I can.«51 When Sontag reveals as essential Camp the »ambition on the part of one man to do what it takes a generation, a whole culture to accomplish,«52 she identifies the hard shell of her inner correspondent, the fantasy of teen prematurity of genius-insight remaining independent of reservation or confirmation over time. In other words, there is success in inevitable failure, a tender feeling, as she notes 49 50 51 52

Ibid., p. 71f. Ibid., p. 73. Sontag, Against Interpretation, p. 276. Ibid., p. 284.

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Im Nachwort zu der 1996 erschienenen Neuauflage von Against Interpretation bringt Sontag ihre Verwunderung darüber zum ­Ausdruck, dass noch niemand über das Phänomen Camp geschrieben hatte, als sie dreißig Jahre zuvor die Gelegenheit dazu ergriff. Sie lässt damit dem inneren Anwerber den Vortritt, der jugendliches Tagebuchschreiben als glücklichen Kulturjournalismus neu erfand.  

Ich habe einmal mitbekommen, wie einer von Sontags schwulen Kultur-

journalisten-Kollegen in New York seinem Neid darüber Ausdruck verlieh, dass nicht zuerst er den Riefenstahl-Text geschrieben hatte. Durch die Identifizierung, die eine Umkehr der Zeit bedeutet, wirbt der innere-äußere Schwule jugendlichen Journal-ismus an, um das Ausschöpfen der mütterlichen Kreativität in ein omnipotentes Ausschöpfen und Einhalten von Deadlines zu verwandeln. Sontags erster Roman Der Wohltäter bezeugt durch die Beziehung des Pro­ tagonisten Hippolyte zum Schreiben des Romans, dass die Saison der inneren Umwandlung der schwulen Anwerbung eröffnet ist. Es dreht sich alles um Hippolytes Beziehung zum Träumen: Er beginnt, immer wieder über seine Träume nachzudenken und sie – durch seinen Austausch mit einem bona fideAutor, Jean-Jacques, der auch geschäftlich in der Schwulenbranche unterwegs ist  – auf sein Tagesprogramm auszuweiten. Einmal rekrutiert Jean-Jacques Hippolyte sogar für den einmaligen One-Night-Stand. In dem Ausmaß, in dem seine Träume kontinuierlich erinnert und in Wachfantasien heraufbeschworen werden, steuern sie die Komposition des Romans, in der sich die Tagtraumfantasien verwirklichen. Wie Hippolyte reflektiert: »Durch die Brücke, die ich zwischen meinem Traum und meinen Tagesbeschäftigungen baute, fand ich zum ersten Mal Geschmack an einem Innenleben.«53 In einem Tagebucheintrag von 1973 nimmt Sontag die Geschichte ihrer eigenen Initiation in die Verführung auf: »Seit meinem 16. Lebensjahr haben mich Frauen gefunden, […] sich mir emotional + sexuell aufgedrängt. […] Wie dankbar bin ich den Frauen – die mir einen Körper gaben, es mir sogar ermöglichten, mit Männern zu schlafen.«54

Und diese Frauen machten es ihr, schenkt man den Legenden über ihre frühen Liaisons in New York Glauben, sogar möglich, mit schwulen Männern zu schlafen. Mit der Zeit weckte die gleichgeschlechtliche Verführung in einen

53 Susan Sontag: Der Wohltäter, übers. von Louise Eisler-Fischer, Reinbek bei Hamburg 1966, S. 34. 54 Sontag: Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke, a.a.O., S. 394.

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toward the end, which turns up the contrast to the more adult condition of being wrecked by success, together with its mass psychology of fateful identification with lost causes. Camp gets across not only as charming but also as »winning.« That Sontag wonders out loud in her 1996 afterword to a new edition of Against Interpretation that no one had as yet written on the Camp phenomenon when she seized the chance thirty years before defers to the inner recruiter who remade adolescent journal writing into lucky art journalism.    I once heard one of Sontag’s gay art journalist peers in New York express envy that he hadn’t written the Riefenstahl piece first. By the identification that effects a reversal in time, the inner-outer gay recruits adolescent journal-ism to transmute scooping out the mother’s creativity into omnipotent scooping and scoring of deadlines. Sontag’s first novel, The Benefactor, testifies to the opening season of internal metabolization of gay recruitment through the protagonist Hippolyte’s relationship to the writing of the novel itself. It all revolves on his relationship to dreaming, which he commences revisiting and extending into daytime programming through his exchanges with a bona fide author, Jean-Jacques, who is also commercial gay trade. At one point Jean-Jacques even recruits Hippolyte for the onetime one-night stand. To the extent that his dreams are continuously recalled and summoned unto waking fantasy, they drive the novel’s composition through realization of daydream fantasies. As Hippolyte reflects: »The bridge which I built between my dream and my daytime occupations was my first taste of an inner life.«53 In a 1973 diary entry Sontag introjects parenthetically the history of her own initiatory seductions: »By the age of 16 on, women found me, […] imposed themselves on me emotionally + sexually. […] How grateful I am to women – who gave me a body, who made it even possible for me to sleep with men.«54

53 Susan Sontag, The Benefactor (New York: Farar, Straus and Company, 1963): p. 24. 54 Sontag, As Consciousness is Harnessed to Flesh, p. 370f.

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Körper, ihre Integration von Psyche und Soma, den schwulen Mann in ihr und ließ ihn raus.

    In einem Tagebucheintrag von 1963 denkt Sontag über ihr Schreiben zur Zeit der Veröffentlichung ihres ersten Romans nach: »In meinen […] Texten geht es fast immer um Dissoziation […].«55 Ihr Roman wiederum sei eine Meditation »über vollzogene Dissoziationen, deren Risiken + Gewinn«.56 Außerdem: »Dass es keine Menschen in meinen Texten gibt. Nur Phantome.«57 In Die menschliche Natur behauptet Winnicott, dass sich die Bedeutung von Gespenstergeschichten genau dann erweist, wenn wir uns zu Tode erschrecken oder wie es im Englischen heißt: when we jump out of our skins.58 Die Naht zwischen Psyche und Soma kann sich an ihrem Saum auflösen. Die Anstrengung, die aufgebracht wird, um im Körper anzukommen – in der Jugend oder geradezu als Jugend selbst – bietet eine andere Möglichkeit, die Frühreife der Teenie-Einsichten zu verstehen, den Genieblitz, der typischerweise während dieser Entwicklungsphase möglich ist, der aber zu früh kommt, um ihm einen Körper zu verleihen, einen Corpus. Sontag entwickelte ihren zweiten Roman Todesstation aus diesem Geist der Jugend heraus, den der suizidale Midlife-Protagonist Diddy simuliert: »Diddy, nicht wirklich lebendig, hatte ein Leben. Was kaum dasselbe ist. Manche Menschen sind ihr Leben. Andere, wie Diddy, bewohnen ihr Leben bloß. […] Bei solchen Leuten muß wohl am Ende alles verfallen. Die Mauern geben nach. Leerer Raum wölbt sich zwischen den Dingen. Die Oberfläche der Dinge schwitzt, wird dünn, wirft sich auf.«59

Immer, wenn das Wort »jetzt« im Roman auftaucht, erscheint es in Parenthese, zugleich eine Datumsangabe, ein Auslöser und ein Ort der Umgehung. In Vom Spiel zur Kreativität analysiert Winnicott die Unveränderlichkeit des Tagtraums, die durch Dissoziation noch verstärkt wird. In der Geschichte seiner suizidalen Patientin geschah nichts, weil im dissoziierten Zustand so viel geschah: »Beim Phantasieren geschieht alles sofort, wenn man davon absieht, daß

55 Sontag: Wiedergeboren, a.a.O., S. 379. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 380. 58 Vgl. Donald W. Winnicott: Die menschliche Natur, übers. von Elisabeth Vorspohl, Stuttgart 1991. 59 Susan Sontag: Todesstation, übers. von Jörg Trobitius, München 2003, S.  7f., Hervorhebungen im Original.

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And even made it possible for her, at least according to the legends of her early liaisons in New York, to sleep with gay men. Over time, same-sex seduction into a body, her integration of psyche and soma, let the gay man out and about.    In 1963 diary entries, Sontag reflects on her writing at the time of the appearance of her first novel: »My […] writing is always about dissociation.«55 Her novel, in turn, is a meditation on »dissociative faits accomplis, their hazards + rewards.«56 And again: »there are no people in what I’ve written. Only ghosts.«57 In Human Nature, Winnicott argued that the significance of ghost stories is caught in the act when we jump out of our skins. The stitching between soma and psyche can come apart at the seams.58 The effort thus put into arriving in the body – in or as adolescence – is another way to approach the prematurity of teen insight, the flash of genius typically available in this phase of development, but in advance of the time it would take to give it a body, a corpus. Sontag generated her second novel, Death Kit, out of this ghost of adolescence that malingers on in her suicidal midlife protagonist, Diddy: »Diddy, not really alive, had a life. Hardly the same. Some people are their lives. Others, like Diddy, merely inhabit their lives. […] Eventually, for such a person, everything is bound to run down. The walls sag. Empty spaces bulge between objects. The surfaces of objects sweat, thin out, buckle.«59

Every time the word »now« appears in the novel, it appears in parentheses, at once a date mark, a trigger, and a site of circumvention. In Playing and Reality, Winnicott analyzed the fixity of daydream reinforced through dissociation. In his suicidal patient’s history nothing happened because in the dissociated state so much was happen-

55 Sontag, Reborn, p. 319. 56 Ibid. 57 Ibid., p. 320. 58 D. W. Winnicott, »Human Nature,« The Collected Works of D. W. Winnicott, vol. 11: Human Nature and The Piggle, ed. Lesley Caldwell and Helen Taylor Robinson (New York: Oxford University Press, 1988): p. 125–185. 59 Susan Sontag, Death Kit (New York: Farar, Straus and Giroux, 1967): p. 2.

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überhaupt nichts geschieht.«60 Das Nichtstun führte die Unfähigkeit des kleinen Kindes weiter, das zurückzuverlangen, was ihr als ihre eigene Schöpfung gegeben worden war. Und sie erkannte, dass sie dazu verpflichtet war, sich einzufügen: nichts tun. Sie war das jüngste Kind und konnte dank ihrer Intelligenz in der bereits bestehenden Anordnung geschwisterlicher Bindungen mitspielen. Dass sie an den Gruppenaktivitäten nur aufgrund von Folgsamkeit teilnahm, erwies sich für alle Beteiligten als undankbar. Aber ihre Geschwister bemerkten wahrscheinlich nicht, dass sie die ganze Zeit über abwesend war. »Meine Patientin war […] jedoch die ganze Zeit, während sie die Spiele anderer Leute spielte, mit ihren Phantasien beschäftigt. Aufgrund abgespaltener seelischer Kräfte zog sie sich auf diese Phantasien zurück.«61 Freud zufolge findet das Kinderspiel öffentlich statt, da der Wunsch, der sich in ihm ausdrückt, der Wunsch, groß zu sein, von allen akzeptiert wird. Erst in der Jugend wird das Spiel von der Privatheit des Tagtraums abgelöst. In Massen­ psychologie und Ich-Analyse wettet Freud darauf, dass die erste Dichtung die Heldensage war und der erste Held – auch in der Wertschätzung des Publikums – der Dichter. Denn dieser habe es geschafft, eines jeden Menschen zweite Natur als Tagträumer, die sonst der Privatheit des Antisozialen, des Kunstlosen und des schlichtweg langweiligen Narzissmus vorbehalten ist, zu verwirklichen und öffentlich zu machen. Vor allem konnte der Dichter die Allmacht vermitteln, ja sogar retten, die das Tagträumen beherrscht und zu der das Publikum nun eine neue Art von Zugang erlangte, eine Form, die zugleich ein Forum war. Sontag konnte nur deshalb über Alice James62 schreiben, ein wahres Abjekt der Identifizierung, die merkwürdige Frau in einem Haushalt männlicher Genies, eine psychosomatische Invalidin, die als Krebspatientin endete, ein geborenes Talent, deren Werk ihre Tagebücher blieben, weil sie sie mit Alice im Wunderland ins Bett steckte. Bei der verrückten Tee-Party, die für die doppelte Alice gegeben wird, bringt der Ratschlag von Schriftstellerinnen, die sich in der Geschichte bereits einen Namen gemacht haben, die durch Dissoziierung bettlägerige Alice auf Touren: In einer Tagtraumfantasie beschwört sie einen Aufenthalt in Rom herauf. Susan vertraut uns in der angehängten Notiz zu Alice im Bett an, dass sie das Stück zehn Jahre vorher von Anfang bis Ende erträumt habe. Erneut spricht sie

60 Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität, a.a.O., S. 38. 61 Ebd., S. 39, Hervorhebung im Original. 62 [Alice James (1848–1892) war die Schwester von William und Henry James, die schon früh unter psychischen und physischen Erkrankungen litt.]

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ing: »In the fantasying, what happens happens immediately, except that it does not happen at all.«60 Doing nothing carried out the young child’s inability to reclaim what she was given as her own creation. And she recognized that the obligation was upon her to fit in: Nothing doing. She was the youngest child and by her intelligence played along in the already organized setting of the sibling group bond. That she entered into the group activities on a compliance basis, only proved unrewarding for all concerned. But her siblings probably didn’t realize that she was all the while absent. »While she was playing the other people’s games she was all the time engaged in fantasy­ ing. She really lived in this fantasying on the basis of a dissociated mental activity.«61 According to Freud, child’s play is out in the open since the wish it expresses, to be big, is acceptable. It is in adolescence that playing gives way to the privacy of daydreaming. In Group Psychology and the Analysis of the Ego, Freud wagered that the first poetry was the heroic saga and the first hero was the poet, also in the estimation of his audience, because he succeeded in realizing and making public everyone’s second nature as daydreamer, otherwise the private place of antisocial, inartistic, and frankly boring narcissism. Most importantly he was able to get across, even rescue, the omnipotence that dominates daydreaming, to which the audience now had a new kind of access, a form that was a forum. Sontag was only able to write about Alice James,62 a true abject of identification, odd woman out in a household of male genius, a psychosomatic invalid who ended a cancer patient, an innate talent whose work remained her diaries, because she bedded her with Alice in Wonderland. At the mad tea party held for the double Alice, the advice of women writers established in history jump starts Alice, bed-ridden by dissociation, on a tour of daydream fantasying whereby she conjures up a sojourn in Rome. Sontag confides in the Note appended to Alice in Bed that ten years earlier she dreamed up the play from start to finish. Again, she pre60 Winnicott, Playing and Reality, p. 27. 61 Ibid., p. 29, emphasis in the original. 62 [Alice James (1848–1892) was William and Henry James’s sister. From an early age, she suffered from psychological and physiological illness.]

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eher die Ausweitung des Träumens in das Nachsinnen und die Reflexion im Wachzustand an als die Tagtraumfantasie, eher den »Triumph der Imagination« als die Wunscherfüllung.63 Wenn sie die Notiz allerdings mit der Versicherung abschließt, dass »die Siege der Imagination […] nicht genug« seien,64 so befinden wir uns im Bezugsrahmen der Wachfantasie. Dass die Beziehung zur verarmten Realität, auf die Sontag als eine »wirkliche Begegnung mit einem Repräsentanten der Welt« verweist,65 trotzdem ihre Spuren hinterlässt, ist ein grundlegendes Merkmal des Genres der Tagtraumfantasie. Wie Freud in »Der Dichter und das Phantasieren« argumentiert, gelingt es der Wachfantasie, die Gegenwart und ihre Spannungen zu umgehen, indem sie in einem harten Schnitt, einem jump cut, von einer idealisierten Vergangenheit in die Zukunft der Erfüllung der Wunschfantasie springt.66 Es war jedoch die Gegenwart, in der dieser Tagtraum ausgelöst wurde, und dieser Auslöser ist in die Fantasie als Zeitmarke eingebettet. Diese Markierung der Gegenwart bleibt Teil der Fantasie wie die idealisierte Vergangenheit in der Formel; vielleicht ist das die ultimative Fantasie, wie Freud in Jensens Gradiva beobachtet, als der Wirklichkeitssinn des Protagonisten plötzlich wiederhergestellt wird. In Alice im Bett lässt sich das störende Erscheinen eines Einbrechers in der Happy-End-Fantasie, in der Alice aus ihrem Bett aufsteht, als Zeitmarke einer gegenwärtigen Realität verbuchen, als Auslöser der Fantasie, die auf Verwirklichung drängt. Der Einbrecher sagt Alice, dass es sich nicht um einen Traum handele, und fragt sie, warum sie nicht schreie. »Was ich meistens tue, ist, nichts zu tun«, sagt Alice.67 Aber: »Manchmal habe ich so merkwürdige Gedanken.«68 Das rechtswidrige Eindringen des Einbrechers, die Begegnung mit der bettlägerigen Alice, sein Diebstahl mit ihrem Segen, bilden den Höhepunkt des Stücks, wie Sontag in ihrer Notiz betont. Der Dieb wird von Alice angeworben, um sie aus ihren dissoziativen Tagträumen zu holen. Es handelt sich um eine Szene der Verführung aus der identifikatorischen Distanz der Anwerbung. Sie sei nicht so alt, wie er dachte, sagt der Dieb zu Alice und willigt ein.69 In ihrer Notiz

63 Susan Sontag: Alice im Bett, übers. von Wolfgang Wiens, Frankfurt 1991, S. 9. 64 Ebd. 65 Ebd. 66 Vgl. Sigmund Freud: »Der Dichter und das Phantasieren«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII: Werke aus den Jahren 1906–1909, hg. von Anna Freud u.a., Frankfurt 1955, S. 213– 223. 67 Sontag: Alice im Bett, a.a.O., S. 65. 68 Ebd., S. 62. 69 Vgl. ebd., S. 58.

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fers to address both the extension of dreaming into waking rumination and reflection rather than daydream fantasy and the »triumphs of the imagination« rather than wish fulfilment.63 However, when she concludes the Note with the assurance that »the victories of the imagination are not enough,«64 we are inside the frame of reference of waking fantasy. That the relation to a submerged reality, what Sontag refers to as a »real encounter with a representative of the world,«65 nevertheless leaves its mark is a basic feature of the genre of daydream fantasy. As Freud argued in »Creative Writers and Daydreaming,« the waking fantasy succeeds in circumventing present tense and tensions by making the jump cut from an idealized past into the future of the wish’s fantasy fulfilment.66 However, it was in the present that the daydream was triggered and this trigger is embedded in the fantasy as its Zeitmarke or date mark. This mark of the present is still part of the fantasy, like the idealized past in the formula; perhaps it is the ultimate fantasy, as Freud observes of the moment in Jensen’s Gradiva when the protagonist’s sense of reality is suddenly restored. In Alice in Bed the disruptive appearance of a burglar in the happyend fantasy of Alice getting up out of bed, would count, then, as date mark of a present reality, the trigger of the fantasy pressing toward realization. The burglar tells Alice this isn’t a dream and asks why she doesn’t scream. »What I do is mostly not do things,« says Alice.67 But: »Sometimes I have such odd thoughts.«68 The burglar’s illegal entry, the encounter with bed-ridden Alice, his theft with her blessing, describe the play’s climax, Sontag underscores in the Note. The thief is recruited by Alice to get a rise out of her dissociative daydreaming. It’s a scene of seduction at the identificatory remove 63 Susan Sontag, Alice in Bed (New York: Farar, Straus and Giroux, 1993): p. 117. 64 Ibid. 65 Ibid., p. 116. 66 Sigmund Freud, »Creative Writers and Day-Dreaming,« in: The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, vol. IX: Jensen’s ›Gradiva‹ and Other Works, trans. and ed. James Strachey (London: Hogarth, 1973): p. 141–153. 67 Sontag, Alice in Bed, p. 105. 68 Ibid., p. 101

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gesteht Sontag: »[I]ch habe mich mein Leben lang darauf vorbereitet, Alice im Bett zu schreiben.«70

    Im Jahr 1949 benutzte Sontag ihr Tagebuch, um Listen zu erstellen, was dem Liebhaber des Vulkans zufolge die Quintessenz des Sammelns ist, seine demokratische Basis. Zusätzlich zu den Listen mit Büchern, die sie lesen wollte, archivierte sie auch eine Oral History jugendlicher Codewörter, ähnlich dem geheimen Schatz, den Frederick Kohner zufällig fand, als seine Tochter am Telefon mit ihren Freunden sprach. Als Lexikografin des Teenageralters lieferte Sontag Beispiele dafür, wie das Idiom im Gespräch verwendet wurde. Sie interessierte sich besonders für jenen Jargon, der schwule und lesbische Identifizierungen und Erfahrungen bezeichnet. Das veranschaulichende Beispiel eines solchen Austausches, in dem, wie California Susan notiert, »real« (»echt«) »gay« (»schwul«) bedeutet, vollzieht die Wendung vom Werben zur Verwirklichung: »are you for real?« »I’ll do until the real thing comes along.«71

Aus dem Amerikanischen von Anna-Lisa Dieter und Silvia Tiedtke72

70 Ebd., S. 9. 71 Susan Sontag: Reborn. Early Diaries 1947–1963, London 2009, S. 42. [In der deutschen Übersetzung geht die Anspielung auf Homosexualität verloren, die Sontag in ihrem Tagebuch erklärend hinzufügt: »meinst Du es ernst bzw. bist du echt […] Ich nehme mit mir selbst vorlieb, bis das Echte, Wahre zu haben ist« (Sontag, Wiedergeboren, a.a.O., S. 61, Hervorhebungen im Original).] 72 [Für diesen Text konnten wir die Übersetzung heranziehen, die Louisa Söllner dankenswerterweise für das Susan-Sontag-Symposium angefertigt hat.]

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of recruitment. She’s not as old as he imagined, the thief tells Alice and acquiesces.69 In her Note Sontag avows: »I have been preparing to write Alice in Bed all my life.«70     In 1949 Sontag used her diary to compile lists, which, according to The Volcano Lover, is the bottom line of collecting, its democratic base. In addition to lists of books to read, she also archived an oral history of teen code words, like the secret treasure Frederick Kohner first overheard when his daughter was on the phone talking to her friends. During her stint as lexicographer of the teen age, Sontag supplied examples of how the idiom was to be used in conversation. She was particularly interested in jargon signifying gay identification and experience. The illustrating example of such an exchange, in which, California Susan notes, »real« means »gay,« throws the loop through recruitment unto realization: »are you for real?« »I’ll do until the real thing comes along.«71

69 Ibid., p. 92. 70 Ibid., p. 117 71 Sontag, Reborn, p. 42.

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»Eine tiefe Sympathie, modifiziert durch Abscheu«

Jens-Christian Rabe Hip Susan Susan Sontag, Roland Barthes, Umberto Eco und die Antwort auf die Frage, was wirklich originelle Kulturkritik eigentlich ausmacht

1 Wenn das Nachdenken über Kunst und Kultur etwas vom Pop ge­ lernt hat, dann, dass nichts so ernst ist, wie es scheint – und nichts so ernst scheint, wie es ist. Besonders über letzteres konnte man von Susan Sontag so früh und so viel erfahren wie womöglich von keinem anderen Essayisten der jüngeren Kulturgeschichte. Um die Besonderheit ihrer Methode deutlicher herauszuarbeiten, soll es im Folgenden aber nicht nur um Susan Sontag gehen, sondern auch um zwei andere, typisch (post-)moderne Methoden der Massenkulturkritik, die bis heute sehr verbreitet sind: um die Art nämlich, wie sich einerseits der Strukturalist Roland Barthes Phänomenen der Massenkultur annahm, und um die Art, wie das der italienische Semiotiker Umberto Eco tat. Dabei liegt diesem Essay die Auffassung zugrunde, dass eine pro­­­funde Betrachtung und Kritik populärer Kultur nötiger denn je erscheint. Gleichzeitig kann an dieser Kritik weder die heute herrschende extrem diffuse ideologische Lage noch die Tatsache spurlos vorübergehen, dass die populäre Kultur längst extrem ausdifferenziert ist und in einer Weise informiert konsumiert wird, die noch vor einem halben Jahrhundert unvorstellbar schien. Die aus der Frühzeit der westlichen Massengesellschaft im 20. Jahrhundert überlieferte, reflexhaft kulturpessimistische Diagnose, dieses oder jenes moderne populäre Phänomen sei wieder nur ein weiterer Beweis für die tiefe Entfremdung des Menschen von sich selbst, ist ein stumpfes Schwert geworden. Es produziert nicht nur meist die reine zeitdiagnostische Langeweile. Es ist auch  – tragisch für die Kritik, die doch die Kunst der Unterscheidung ist – blind geworden für die feinen Unterschiede. Wir brauchen eine ausgefuchstere (Ideologie-)Kritik der populären Kultur. Nicht zuletzt, weil diese Kultur

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längst die einzige geworden ist, deren Erfahrung noch wirklich geteilt wird. Denn sollte es je so gewesen sein, dass das gesamte Bürgertum den jeweils wichtigsten Roman der Saison auch tatsächlich gelesen hatte – heute ist es auf jeden Fall nicht mehr so. Die Texte in einem der berühmtesten und meistgelesenen Bücher der modernen Kultur- und Ideologiekritik, in Adornos Minima Moralia, sind zwar rhetorisch noch immer eindrucksvoll, analytisch jedoch hoffnungslos veraltet und unterkomplex. Um zu verstehen, dass die Massenkultur, wie Adorno einst schrieb, die »Vergötzung des Daseienden und der Macht«1 ist, reicht es heute, fünf Minuten eine Fernsehshow wie das Dschungelcamp oder Germany’s Next Top Model einzuschalten. Wenn überhaupt. Im Grunde reicht es auch schon, einfach auf der Straße die Augen zu öffnen oder einmal kurz das Internet. Die viel interessantere Frage ist deshalb längst, warum bei all der unübersehbaren Vergötzung, der Untergang noch immer nicht stattgefunden hat. Und was einem möglicherweise an kultureller Entwicklung entgeht, wenn die Prämissen der Untersuchung so unbeweglich sind. Wer immer nur mit einem Hammer durch die Gegend läuft, der sieht irgendwann nur noch Nägel.

2   Roland Barthes’ Texte und Gedanken gehören zu den zentralen Einflüssen Sontags. Es ist kein Zufall, dass er in ihrem 1965 erstmals veröffentlichten Essay »Die Einheit der Kultur und die neue Erlebnisweise« einer der Kronzeugen des neuen Kulturbegriffs ist. In ihrem Text »Erinnerungen an Barthes« aus dem Jahr 1980, seinem Todesjahr, schreibt sie: »Er hatte ein amouröses Verhältnis zur Wirklichkeit – und zum Schreiben, beides war für ihn dasselbe. Er schrieb über alles; bestürmt von Ersuchen,

1 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philo­ sophische Fragmente, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt 1981, S. 16.

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zu bestimmten Anlässen zu schreiben, nahm er so viele Aufträge an, wie er konnte; er wollte von einem Thema verführt werden, war es auch oft.«2

Die in der französischen Originalausgabe im Jahr 1957 erschienenen Mythen des Alltags sind das bis heute ausstrahlende Dokument dieser Verführungen.3 Barthes wendet darin in 53 kurzen Essays, die ursprünglich zwischen 1954 und 1956 alle zwei Monate für das Magazin Les Lettres Nouvelles entstanden, die strukturalistische Methode nicht auf die hohe Kultur an, sondern auf sprachliche und nicht-sprachliche Produkte der Massenkommunikation und des Massenkonsums, auf »Mythen des Alltags« wie »Beefsteak und Pommes frites«, die CitroënLimousine DS, »Marsmenschen«, das »Gesicht der Garbo«, »Ehegeschichten«, »Schockphotos«, einen populären Politiker, »Römer im Film«, den evangelikalen amerikanischen Erweckungsprediger Billy Graham, Catchen oder Striptease. Gut strukturalistisch geht es ihm darum, all diese Phänomene in seinen Texten so zu rekonstruieren, dass die Regeln sichtbar werden, nach denen sie funktionieren. Ein Mythos ist für Barthes in diesem Sinne dann nicht, wie in der Altertums- und Religionsforschung, vor allem eine überlieferte bildhafte Erzählung von Göttern, Helden oder der Entstehung der Welt. Ein Mythos ist für ihn – auf einer Ebene darüber  – eine Form der Kommunikation, eine bestimmte Art und Weise, wie über Dinge geredet wird. Entscheidender also als das, was ein Mythos jeweils erzählt, ist, warum und wie er es erzählt, denn der Mythos ist für Barthes »eine Botschaft«.4 Wenn ein Mythos aber eine Form der Kommunikation ist, kann natürlich  – und so ist dann auch der Zugriff auf Phänomene der Massenkultur legitimiert und deren Klassifizierung als Mythen – alles Mythos werden, was im öffentlichen Gespräch ist:

2 Susan Sontag: »Erinnerungen an Barthes«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, übers. von Werner Fuld u.a., München 2003, S. 177–184, hier S. 179. 3 Auf Deutsch wurden die Mythen des Alltags erstmals 1964 veröffentlicht, damals zunächst aber nur der theoretische zweite Teil. Hier wurde folgende Ausgabe verwendet: Roland Barthes: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe, übers. von Horst Brühmann, Berlin 2010. 4 Ebd., S. 251.

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»Jeder Gegenstand der Welt kann von einer verschlossenen, stummen Existenz in einen gesprochenen Zustand übergehen, der der Aneignung durch die Gesellschaft zugänglich ist, denn kein Gesetz […] verbietet es, von den Dingen zu sprechen.«5

Was aber bedeutet dies nun konkret, zum Beispiel im Falle der »Römer im Film«? Was macht Barthes aus diesem Thema als Entdecker von Mythen in unserem Alltag (oder immerhin des Alltags des mittleren 20. Jahrhunderts)? An den Römern im 1953 veröffentlichten Film Julius Caesar von Joseph L. Mankiewicz mit Marlon Brando als Marc Anton interessieren Barthes zum Beispiel vor allem zwei »Zeichen«: Einmal, dass alle Darsteller immer Haarfransen auf der Stirn haben und dass sie im Gesicht ständig schwitzen. Wobei ersteres dafür sorge, dass sich jeder bequem in der »stillen Gewißheit einer Welt ohne Uneindeutigkeit« einrichten könne,6 weil durch die obligatorische Haarsträhne auf der Stirn kein Zweifel daran bestehe, dass Römer römisch seien. Letzteres wiederum, die schwitzenden Gesichter, zeigten Moralität an. Alle Darsteller schwitzen, weil sie innerlich mit etwas rängen. Barthes’ Gnade findet beides natürlich nicht. Zeichen dieser Art wollten zwar für lobenswerte Verständlichkeit sorgen, gäben sich aber gleichzeitig als spontan und natürlich, was verlogen sei. Haarfransen und Schwitzen seien deshalb nichts als »prätentiöse Bastardzeichen« und damit »herabgesunkenes Schauspiel, das die naive Wahrheit ebenso fürchtet wie die völlige Künstlichkeit«.7 Der Pariser Striptease wiederum bestehe darin, dass sich eine Tänzerin aus einer exotischen Verkleidung herausschäle. Die Nacktheit solle so am Ende als das »natürliche Kleid«8 gezeigt werden. Das jedoch misslinge gründlich. Im Federschmuck oder mit Handschuhen zeige sich die Frau als stereotypes Element des Varietés, und wenn sie sich dieser rituellen Elemente entledige, sei das eben keine weitere Entblößung mehr. Die ganze Vorführung behalte den Charakter der anfänglichen Kostümierung: »Die Feder, der Pelz und 5 6 7 8

Ebd., S. 251f. Ebd., S. 33, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 36. Ebd., S. 192, Hervorhebung im Original.

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der Handschuh prägen der Frau ihre magische Kraft sogar dann noch auf, wenn sie schon entfernt sind«.9 Auch die nackte Stripperin bleibe dem Menschlichen seltsam entzogen, worin auch die tiefere Bedeutung des paillettenbesetzten Dreiecks über der Scham liege, das nicht mehr ausgezogen werde: »Dieses letzte Dreieck versperrt durch seine reine und geometrische Form, seine glänzende und harte Materie das Geschlecht wie ein reines, geweihtes Schwert und verweist die Frau endgültig in eine mineralische Welt«.10 Die anvisierte Sexualisierung des professionellen Striptease führt für Barthes also tatsächlich zu Entsexualisierung. Der Striptease gerate schließlich eher zu Sport als zum »magische[n] Schauspiel«.11 In Bezug auf die Frage, aus was für einer Haltung heraus diese Kritik der populären Kultur entsteht, ist interessant, was Barthes in dem Vorwort für die Neuausgabe der Mythen des Alltags im Jahr 1970 ausführt. Er betont darin, dass sich die Idee, die »kollektiven Vorstellungen« als Zeichensysteme zu behandeln, mit der Hoffnung verbunden habe, vom »biederen Anprangern« dieser kollektiven Vorstellungen loszukommen.12 Versteht man unter einem Anprangern, das Biederkeit vermeidet, eine gewisse argumentative Originalität, dann sind die Mythen tatsächlich nicht bieder, weshalb das Buch noch immer oder vielleicht sogar mehr denn je mit dem Internet manifestierte sich der Triumph der Massenkultur ja noch einmal in einem zuvor unvorstellbaren Ausmaß  – mit Gewinn zu lesen ist. Tatsächlich geht es am Ende aber im Kern doch immer vor allem darum, gut adornitisch (Adornos Minima Moralia waren schon 1951 erschienen, die Grenze zwischen Hoch- und Massenkultur wird darin natürlich nicht so beherzt überschritten wie bei Barthes) in der Massenkultur Entfremdungen aller Art aufzuspüren und mit großer Geste den Schein der Natürlichkeit zu entlarven, den menschengemachte gesellschaftliche Interessen gerne vor sich hertragen. Der Hauptfeind Barthes’ ist das, was sich als vermeintliche »bürgerliche […] Norm« inszeniert.13 Also das, was

9 10 11 12 13

Ebd. Ebd., S. 193. Ebd., S. 195. Ebd., S. 9. Ebd.

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sich gehören soll, weil es sich eben gehört. Dagegen will er zeigen, »dass der Mensch in der bürgerlichen Gesellschaft in jedem Moment in falsche Natur getaucht ist«, die die Ordnung unbeweglich mache und Macht- und Besitz-Hierarchien unverrückbar erscheinen lasse. Weshalb man wiederum »noch unter der Unschuld der einfachsten menschlichen Beziehungen die tiefe Entfremdung« aufspüren könne, die »durch diese Unschuld« erträglich werden solle.14 Die Kinderspielsachen des Frankreichs der Fünfzigerjahre etwa sind bei Barthes dann nicht einfach nur Sachen zum Spielen für Kinder, sondern der Beweis, dass »der französische Erwachsene im Kind ein anderes Selbst sieht«. Da sie, so Barthes, im Wesentlichen »verkleinerte Reproduktionen von Dingen aus der Erwachsenenwelt« seien, präfigurierten sie unmittelbar die »Figuren der Erwachsenenwelt« und bereiteten »das Kind natürlich darauf vor, sie alle als selbstverständlich zu akzeptieren«. Das Spielzeug liefere den Katalog all dessen, »worüber der Erwachsene nicht in Erstaunen gerät: Krieg, Bürokratie, Gemeinheit, Marsmenschen und so fort«.15 Ebenso wenig kann natürlich das wesentliche Material, aus dem Spielzeug besteht, vor Barthes bestehen: Kunststoff. Mit ihm erlösche alles »Angenehme, Sanfte, Menschliche der Berührung«.16 Ein »bestürzendes Zeichen«17 sei dagegen, dass Holz als Spielzeugmaterial immer seltener werde. Alles in allem wolle französisches Spielzeug damit aus Kindern nicht aktive Schöpfer, sondern passive Benutzer machen. Die »Enthüllung«, die in den Mythen des Alltags also versucht wird, ist für Barthes erklärtermaßen ein »politischer Akt«.18 Wenn man unter Politik nicht nur die Regelung öffentlicher Angelegenheiten versteht, sondern auch die Aufklärung der Gesellschaft über sich selbst, dann ist dem unbedingt zuzustimmen. Der typische Rahmen der Kulturkritik der Dinge wird jedoch nie verlassen. Die Phänomene der Massenkultur werden allein als Ausdruck eines falschen, unfreien, unnatürlichen Bewusstseins gedeutet. Ein neuartiger Erkenntnisgewinn ist aus ihnen bei Barthes nirgends zu

14 15 16 17 18

Ebd., S. 312. Ebd., S. 74. Ebd., S. 76. Ebd. Ebd., S. 312.

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ziehen. Womit man bei Umberto Eco wäre. Für dessen bevorzugte Herangehensweise an die Massenkultur gilt am Ende das Gleiche. Auch bei ihm gibt es im Grunde nur neue Gegenstände der Analyse, keine neuen Erkenntnisse. Eco geht nur ganz anders vor – und wirkt dabei zeitgenössischer.

3 Die kulturgeschichtliche und kulturtheoretische Gelehrsamkeit des weltberühmten Zeichentheoretikers und Schriftstellers Eco, mit dem Susan Sontag gut befreundet war, war eindrucksvoll. Eben diese Gelehrsamkeit ist auch ein wesentlicher Teil dessen, was im Zusammenhang mit der Frage, wie populäre Kultur gelesen werden kann, hier die »Methode Eco« genannt werden soll. Damit soll nicht gesagt sein, Eco sei der Methode Eco immer treu gewesen. In den kulturkritisch-zeitdiagnostischen Kolumnen etwa, die er seit Mitte der Achtzigerjahre für das italienische Nachrichtenmagazin L’Espresso schrieb und die auf Deutsch in verschiedenen Sammelbänden vorliegen, folgt er ihr sogar eher kaum.19 Methode Eco soll hier vielmehr eine zweite idealtypische Kulturkritik-Variante heißen. Das dafür zentrale Buch Ecos trägt den Titel Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur und erschien erstmals 1964. Eco widmet sich darin »Der Struktur des schlechten Geschmacks«, dem »Mythos von Superman«, der »Welt von Charlie Brown« oder den erzählerischen Strukturen in den James-Bond-Geschichten von Ian Fleming. Ziel war, so der Autor selbst in einem 1984 ergänzten Vorwort, »daß jeder Superman-Leser in der Lage sein sollte, im Comic das zu lesen, was ich in meinem Aufsatz vorgeschlagen hatte«.20 Also etwa, dass die einzige sichtbare Form, die in Superman-Comics das Böse annimmt, der Anschlag auf das Privateigentum ist, dass jede Autorität von Grund auf gut und unverdorben, jeder Bösewicht jedoch ohne Aussicht auf Rettung und 19 Etwa in Umberto Eco: Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß, übers. von Burkhart Kroeber, München 2002. 20 Umberto Eco: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massen­ kultur, übers. von Max Looser, Frankfurt 1984, S. 13.

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Superman letztlich nichts anderes als eine moderne Märchengestalt ist.21 Im Kern zeichnet die Methode Eco aus, dass sie in Phänomenen der Massen- und Popkultur ständig Motive, Figuren, Zeichen und Strukturen der Literatur- und Kulturgeschichte wiedererkennt. Das ist, besonders bei einem derart gefräßigen Leser wie Eco, immer ehrfurchtgebietend detailliert und phänomenologisch erhellend, hat aber auch die Folge, dass die Quintessenz aller Mühen der Interpretation des Neuen oft ein alter Hut ist. Und zwar meist auch noch in etwas weniger avancierter Form. Diese Pointe wundert einen nicht, wenn man weiß, worum es dem Autor ja auch immer noch geht: darum nämlich, nicht »mit allzu feuriger Sympathie« Phänomene aus der Nähe zu prüfen, »bei denen die gute humanistische Bildung dazu riet, sie lieber aus der Ferne zu betrachten: mit nobler Arroganz und ohne sich die Hände schmutzig zu machen«.22 Zeitgenössische Verlage haben diese Idee mit Titeln wie Die Simpsons und die Philosophie oder Die Beatles und die Philosophie in den vergangenen Jahren systematisch zu einem eigenen SachbuchGenre ausgebaut. Der Kritiker ist darin gegenüber dem, was er liest und sieht, angenehmerweise dann zwar nicht so berechenbar kulturpessimistisch-ideologiekritisch wie der Roland Barthes der Mythen des Alltags, er ist aber eben auch sehr, sehr selten wirklich überrascht davon. Eigentlich nie. Wie auch? Er entdeckt ja immer nur, was er schon kennt, nur an eingängigeren Beispielen. Im Bond-Text bedeutet das dann etwa, dass sich in den AgentenRomanen die »Reinheit der primitiven Epik« wiedererkennen lässt, die »schamlos und boshaft in eine aktuelle Terminologie übertragen« worden sei;23 dass in Gewaltschilderungen die »Einflüsse des 18. und 19.  Jahrhunderts« unverkennbar sein sollen: ein »Schlußgemetzel, dem Folter und qualvolle Haft (am besten mit einer Jungfrau als Beigabe) vorausgehen«, sei also »gothic reinsten Wassers«;24 oder dass die Idee eines goldüberzogenen menschlichen Körpers schon

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Vgl. ebd., S. 217. Ebd., S. 13. Ebd., S. 298. Ebd., S. 301.

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bei Dmitri Mereschkowski auftaucht, »nur daß es sich da nicht um Goldfinger, sondern um Leonardo da Vinci handelt«.25 In seinem Weltbestseller Der Name der Rose hat Eco die Methode Eco dann selbst zu beispielhaft populärer Meisterschaft gebracht, indem er das Buch gleichzeitig als Kriminal- und Detektivroman und als Erörterung über platonische und aristotelische Ästhetik und die Werte der mittelalterlichen christlichen Kirche anlegte. In seinem Nachruf in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb Patrick Bahners am 22. Februar 2016, dass sich die schönste Einführung ins Zeitalter des Trecento auf der ersten Seite von Umberto Ecos Bestseller-Roman Der Name der Rose finde.

4 Was tut nun aber Susan Sontag, wenn sie sich populärer Kultur annimmt? Was macht die »Methode Sontag« – wenn sie in dem Sinn, um den es hier geht, gelingt – so besonders? Wie Barthes in den Mythen und Eco in Apokalyptiker und Integrierte schreibt sie über Populärkultur zu einem Zeitpunkt, als die Auseinandersetzung mit ihr in weiten Teilen der intellektuellen Welt als frivol und tendenziell rufschädigend galt.    Anders jedoch als Barthes und Eco, die sich PopPhänomenen letztlich als Entschleierer und kritische Kritiker zuwenden und so auf der sicheren Seite bleiben, wagt Sontag das Ungeheuerliche: Sie entdeckt in populärer Kultur etwas, das vorher weder schon bekannt, noch automatisch falsches Bewusstsein ist. Das ist der Grund ihrer anhaltenden Bedeutung, jenseits allen Glamours der öffentlichen Intellektuellen Sontag und ihrem späteren Rang als weltberühmte moralische Instanz in vergleichsweise konventionellen Essays wie Krankheit als Metapher, Aids und seine Metaphern, Das Leiden anderer betrachten oder denen über die Fotografie. Der Trick dabei war (und ist noch heute), dass Sontag im Grunde nichts Kulturkritisch-Aufklärerisches antrieb, sondern dass sie die neuen kulturellen Phänomene schlicht als Zeitgenossin und vor allem: als ästhetische Avantgardistin interessierten. Craig Seligman

25 Ebd., S. 308.

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hat in seinem 2004 erschienenen Buch Sontag & Kael darauf hingewiesen, dass Sontag, anders als die populären Phänomenen ungleich zugewandtere Filmkritikerin des New Yorkers Pauline Kael, nicht zwischen Trash und Kunst unterschied.26 Kael konnte Trash als Trash genießen, für Sontag dagegen war Trash, in dem Moment, in dem sie ihn genoss, kein Trash mehr, sondern Kunst. Besonders drei Texte, die populäre Kultur zum Gegenstand haben und sich allesamt im ersten, erstmals 1966 erschienenen Essay-Band Against Interpretation befinden, haben es in diesem Sinne in sich (wie sämtliche Texte im Buch erschienen sie zuerst in nicht-akademischen Zeitschriften). In ihnen steckt das ganze kritische Genie Susan Sontags. Der Essay »Die Einheit der Kultur und die neue Erlebnisweise« ist so etwas wie ein Grundlagentext der Popkritik.    Zum Programm gehörte im Übrigen auch, dass er zum ersten Mal an einem für ästhetische Grundsatztexte sehr ungewöhnlichen Ort erschien: in der Frauenzeitschrift Mademoiselle.   Die Wirkung war umso größer, wenn man Daniel Schreiber glauben will, der für die bislang einzige große Sontag-Biografie auch mit vielen Zeitzeugen sprach. Der Text wurde von der New Yorker Intelligentsia damals als »Hochverrat«27 an der Hochkultur empfunden. Sontag vertritt darin energisch und nicht ohne Lust an der Polemik eine originelle, für viele noch heute herausfordernde Ansicht. Früher sei die Kunst, so Sontag, erst ein »magisch-religiöses Unternehmen« gewesen, danach dann »eine Methode der Darstellung und Kommentierung der nichtreligiösen Wirklichkeit«. Das sei aber alles obsolet. Die Kunst der Gegenwart sei jetzt »ein Instrument zur Modifizierung des Bewußtseins und zur Entwicklung neuer Formen des Erlebens«.28 Sie habe ihre ästhetischen Mittel radikal erweitert. Maler etwa fühlten sich nicht länger ausschließlich auf Farbe und Leinwand angewiesen, sondern verwendeten »Haar, Fotografien, Wachs, Sand, Fahrradreifen, […] Zahnbürsten und Socken«.29 Und Musiker

26 Vgl. Craig Seligman: Sontag & Kael. Opposites Attract Me, New York 2004. 27 Daniel Schreiber: Susan Sontag. Geist und Glamour, Berlin 2007, S. 107. 28 Susan Sontag: »Die Einheit der Kultur und die neue Erlebnisweise«, in: dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, übers. von Mark W. Rien, München 2003, S. 342–354, hier S. 345. 29 Ebd., S. 346.

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gäben sich nicht mehr mit den Klängen traditioneller Instrumente zufrieden, sondern setzten »veränderte Instrumente« sowie aufge­ zeichnete synthetische Klänge und Industrielärm ein.30 Traditionelle Grenzen zwischen Form und Inhalt, Frivolem und Ernsthaftem, zwischen »hoher« und »niederer« populärer oder Massenkultur stünden in Frage, man könne die gute Kunst von der schlechten nicht mehr einfach mit dem Argument trennen, dass die gute Kunst einmalig und persönlich, während die schlechte, unpersönliche ein Produkt der modernen Massenproduktion sei. Vielmehr müsse man die Kunst endlich als »eine Form der Schulung unserer Gefühle und der Programmierung unserer Sinneswahrnehmung« verstehen.31 Denn wenn man dazu bereit sei, dann könne das Gefühl, das von einem Bild des Pop-Art-Künstlers Robert Rauschenberg evoziert werde, von der gleichen Art sein, wie das, das ein Song der Soul-Girlgroup The Supremes erwecke. Und die Kraft und die Eleganz eines Gangster-Films wie The Rise and Fall of Legs Diamond oder der Gesang der Popsängerin Dionne Warwick könnten als ein komplexes und Vergnügen bereitendes Ereignis genossen werden, weil sich neue Normen der Schönheit, des Stils und des Geschmacks entwickelt hätten. Die neue Erlebnisweise sei »herausfordernd pluralistisch«,32 kenne den quälenden Ernst wie den Spaß, den Witz und die Wehmut, zudem sei sie außerordentlich geschichtsbewusst, ihr Enthusiasmus rasend schnell und hektisch. Diese neue Erlebnisweise könne die Schönheit einer Maschine oder die der Lösung eines mathematischen Problems genauso wertschätzen, wie die Schönheit eines Bildes von Jasper Johns, eines Films von Godard oder der Persönlichkeit und Musik der Beatles. »Anmerkungen zu ›Camp‹«, der vermutlich berühmteste Aufsatz Susan Sontags, ist ein ganz handfestes, so kluges wie originelles Beispiel dafür, was die neue Erlebnisweise ermöglicht, wenn man denn bereit ist, sich wirklich auf sie einzulassen. Man kann dann sogar eine ganz neue avancierte ästhetische Kategorie etablieren: Camp. Großgeschrieben.

30 Ebd. 31 Ebd., S. 353. 32 Ebd., S. 354.

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   In 58 aphoristischen Bemerkungen definiert Sontag Camp  – Begriff und Phänomen haben ihre Wurzeln in der schwulen Subkultur New Yorks und Londons – als eine Möglichkeit, bis dahin als eigentlich trivial verschmähte kulturelle Kitsch-Erfahrungen ästhe­ tisch zu nobilitieren. Zum »Kanon des Camp«33 zählt Sontag etwa Tiffany-Lampen, das Schwanensee-Ballett, Schlagzeilen von Boule­ vard-Zeitungen, alte Flash-Gordon-Comics, Frauenkleider aus den Zwanzigern mit Federboas und Stickperlen, den Film King Kong und die weisse Frau oder die Rokoko-Kirchen in München. Camp sei »die Liebe zum Übertriebenen, zum ›Übergeschnappten‹«34 und letztlich die Antwort auf die Frage, wie man im Zeitalter der Massenkultur ein Dandy sein könne. Indem man sich nämlich nicht mehr an seltenen Weinen, Samtjacken und lateinischer Poesie delektiere, sondern an den derbsten und gemeinsten Vergnügungen und Künsten der Massen: »Der Dandy hielt sich ein parfümiertes Taschentuch unter die Nase und neigte zur Ohnmacht. Der Kenner des Camp saugt den Gestank ein und rühmt sich seiner starken Nerven.«35 Womit man beim dritten bahnbrechenden Text »Die Katastrophenphantasie« wäre, in dem Sontag so unbefangen wie offensichtlich kundig anhand vieler Beispiele Science-Fiction-Filme der Fünfziger und Sechziger analysiert. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Filme, neben ihrem filmischen Zauber, besonders die Tatsache interessant mache, dass sich »in einem naiven und weitgehend verfälschten Kunstprodukt die tiefsten Dilemmata unserer zeitgenössischen Si­ tuation« zeigten.36 Obwohl ihre rührend banalen Dialoge angesichts des gern kurz bevorstehenden Weltuntergangs oft unbeabsichtigt komisch wirken (»Kommen Sie schnell, in meiner Badewanne ist ein Ungeheuer«),37 sei durch ihr komplizenhaftes Verhältnis zum Entsetzlichen zugleich etwas Schmerzliches und Todernstes an den Filmen. Wobei die Ver-

33 Susan Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 322–341, hier S. 324. 34 Ebd., S. 326. 35 Ebd., S. 338. 36 Susan Sontag: »Die Katastrophenphantasie«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 279–298, hier S. 297. 37 Ebd.

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weise und Analogien zu verwandten Kunstwerken der Vergangenheit (Kriegsfilme, Romane und Erzählungen, in denen Wissenschaftler im Mittelpunkt stehen usw.) nie selbstgerechte Beweise der Gelehrsamkeit der Autorin sind, sondern immer dazu dienen, den ScienceFiction-Film von Vorangegangenem zu unterscheiden. Es wehre sich darin der Mensch stets dagegen, von einer fremden Macht in Besitz genommen zu werden. Einmal zum Opfer geworden, sei er jedoch mit seiner neuen Situation durchaus zufrieden. Anders jedoch als in den alten Vampir-Geschichten werde der Mensch nicht von einem liebenswürdigen Menschen in ein blutdürstiges Ungeheuer verwandelt. Er werde vielmehr viel tüchtiger, zu einem »Musterbild des Technokraten, der, von allen Emotionen befreit, willenlos und gelassen allen Befehlen« gehorche.38

5 Mit dieser Hip Susan, der visionären Pop-Analytikerin, kann dieser Text allerdings nicht enden. Ihr intellektuelles Profil wäre verzerrt.   Von Anfang an ließ Susan Sontag nämlich keinen Zweifel daran, dass sie sich nicht wohl damit fühlte, eine Art »It-Girl« zu sein, eine »Königin von McLuhanismus und Camp«.39 Dass sie das Angebot ablehnte, eine regelmäßige Kino-Kolumne für das amerikanische Lifestyle-Magazin Esquire zu schreiben, begründete sie damit, dass das Magazin für »jene Art von Pop-Celebrity-Ruhm« stehe, »von dem man in die entgegengesetzte Richtung weglaufen sollte«.40 Schon ein flüchtiger Blick in Against Interpretation lässt keinen Zweifel daran, dass Sontags Verhältnis zur Pop- und Massenkultur nicht so war, wie es manche ihrer popintellektuellen Verehrer später darstellten. Der ganz überwiegende Teil der insgesamt 27 Aufsätze des Debüt-Essay-Bandes hat im engeren Sinn nichts mit populärer Kultur zu tun hat. Es geht vielmehr um zeitgenössische AvantgardeFilmkunst (Jean-Luc Godard, Alain Resnais, Robert Bresson), 38 Ebd., S. 294. 39 Brief von Susan Sontag an Roger Straus vom 11.8.1966 (FSG Files, Box 342 A), zit. nach Schreiber: Susan Sontag, a.a.O., S. 119. 40 Ebd., zit. nach Schreiber: Susan Sontag, a.a.O., S. 118.

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klassisch intellektuelle Themen (Simone Weil, Psychoanalyse, Anthropologie, Theoretisches zur Literaturkritik, Romantheorie, Ideengeschichte), Avantgarde-Theater (Antonin Artaud, Rolf Hoch­ huth), Avantgarde-Literatur (William Burroughs, Nathalie Sarraute, Alain Robbe-Grillet) oder Avantgarde-Kunst (Happening). In »Die pornographische Phantasie« stellt Sontag sogar gleich auf der ersten Seite klar, dass es ihr nur um eine Verteidigung künstlerisch hochwertiger literarischer Pornografie geht (Georges Bataille, de Sade).41   Und auch Sontags Schreibstil war zwar erkennbar absichtsvoll unakademisch, aber intellektuell dennoch anspruchsvoll.   In einem zwölfstündigen Interview, das Jonathan Cott 1978 für den amerikanischen Rolling Stone führte und das seit Kurzem auch auf Deutsch in voller Länge vorliegt, sagt sie, dass sie gerne in den New Yorker Punkclub CBGB’s gegangen sei, dass sie Rock ’n’ Roll liebe und sogar »zu diesen Leuten« gehöre, die gesagt hätten, Rock ’n’ Roll habe ihr Leben verändert: »Ich denke, es waren Bill Haley & The Comets und Chuck Berry […], die mich zu dem Entschluss brachten, ich müsse mich [von dem Soziologen und Kritiker Philip Rieff, den sie 1950 mit 17 geheiratet hatte] scheiden lassen, aus der akademischen Welt aussteigen und ein neues Leben beginnen.«42

Aber es seien nicht die Texte gewesen, die sie am meisten beeinflusst hätten, sondern der »dionysische Klang« dieser neuen Musik. Und genau wie die Frauen in den Bakchen von Euripides »stand ich auf und wollte ihm folgen«.43 Womit man schon wieder tief in Sontags ganz eigenem geistigen Kosmos steckt, in dem vermeintlich obligatorische Trennungen zwischen hoher und niederer Kultur und jede Art der kulturellen Parteinahme nie vorrangig wichtig waren. Sie interessierte sich vor allem für das Aufklären von herrschenden Irrtümern, für das Entwirren des allgemeinen »Durcheinanders«, was

41 Vgl. Susan Sontag: »Die pornographische Phantasie«, in: dies.: Kunst und Anti­ kunst, a.a.O., S. 48–87, hier S. 48. 42 Susan Sontag: The Doors und Dostojewski. Das Rolling-Stone-Interview mit Jonathan Cott, übers. von Georg Deggerich, Hamburg 2014, S. 56. 43 Ebd.

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sie in den späten Siebzigern dann auch wieder frei genug sein ließ, festzustellen: »Aber jetzt, da die Hochkultur aufgelöst wird, möchte man einen Schritt zurück machen und sagen: He, einen Augenblick mal, Shakespeare ist immer noch der größte Dichter, der je gelebt hat«.44 Im Vorwort zu einer Neuausgabe der spanischen Übersetzung von Kunst und Antikunst konkretisierte sie das 1996 noch. Es sei vor dreißig Jahren damals schlicht nützlicher erschienen, sich für neue Werke einzusetzen, die ignoriert oder falsch verstanden worden seien, als sich für alte Lieblingswerke einzusetzen. Programmatisch dem Modernen verschrieben habe sie sich nie. Im Gegenteil, die Vorrangstellung der kanonischen Schätze der Vergangenheit habe sie immer vorausgesetzt: »Wenn ich zwischen den Doors und ­Dostojewski wählen müßte, dann würde ich – selbstverständlich – Dostojewski wählen. Aber muß ich denn wirklich wählen?«45 Wenn sie aber damals schon besser verstanden hätte, welche »ungeheure Umwälzung in der gesamten Kultur« im Gange war, »für die es viele Bezeichnungen« gebe, »Barbarentum« sei einer, »Nihilismus« ein anderer, wäre sie bei manchem Urteil vorsichtiger gewesen. Sie betrachte deshalb inzwischen manche Essays in Kunst und Anti­ kunst mit einer »gewissen Ironie«.46 Mit der Umwälzung ist natürlich der unaufhaltsame Siegeszug dessen gemeint, was heute Unterhaltungsindustrie genannt wird. Sie habe damals im Namen eines »wachsameren, weniger selbstzufriedenen Ernstes«47 geschrieben. Heute, so Sontag, komme »den meisten Menschen allein schon die Idee des Ernsthaften […] kurios« vor,48 weshalb ihr lakonisch-bitteres Fazit lautet: »Die Geschmacksurteile, die sich in diesen Essays ausdrücken, mögen immer noch Geltung besitzen. Die Werte, die jenen Urteilen zugrunde lagen, gelten nicht mehr.«49

44 Ebd., S. 57. 45 Susan Sontag: »Dreißig Jahre später…«, in: dies: Worauf es ankommt, übers. von Jörg Trobitius, München 2005, S. 347–354, hier S. 350. 46 Ebd., S. 352f. 47 Ebd., S. 353. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 354.

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  Am energischsten angegriffen, beinahe im Stil einer enttäuschten Liebhaberin, hat Sontag dafür die amerikanische Kulturwissenschaftlerin Camille Paglia. In dem aufsehenerregenden Aufsatz »Sontag, Bloody Sontag«, der 1994 in ihrem Buch Vamps & Tramps erschien, schrieb Paglia, dass sie Sontag zur Zeit von Kunst und Anti­ kunst für ihr Interesse an Popkultur bewundert habe. Den Essay »Die Katastrophenphantasie« hält sie für einen der besten Texte, die je über Popkultur verfasst worden seien.50 Von ihrer späteren Abkehr vom Pop habe sich Sontags Karriere als »cutting edge commentator«51 dagegen nie mehr erholt. Als zeitgenössischer Intellektueller könne man einfach nicht mehr so tun, als gäbe es die populäre Kultur nicht und  – wie Sontag es Ende der Achtziger gegenüber dem Magazin Time tat  – freimütig zugeben, keinen Fernseher zu besitzen. Der gesamte öffentliche Diskurs werde schließlich durch die moderne Telekommunikation geprägt.52 Noch einmal gut zwanzig Jahre später (und nach ihrem Tod) kann man Susan Sontags frühe Verdienste vorbehaltloser feiern. Sontags Interesse am Pop hatte immer einen ganz eigenen Hintergrund, der mehr mit ihren intellektuellen und ästhetischen Vorlieben zu tun hatte, als mit den unhintergehbaren Erfordernissen ihrer, unserer Gegenwart. Sie operierte nie nach dem Motto »Dies ist nun unsere Kultur, deuten wir das Beste daraus«. Im Gegenteil. Sie war eingefleischte Kulturund Kunstelitistin. Dass es jedoch genau so jemandem in ikonischen Analysen gelang, sich vorurteilsloser, freier und origineller als üblich Phänomenen der Massenkultur anzunehmen – das ist bis heute einer der großen und besonders an den genannten Stellen nach wie vor beispielhaften Glücksfälle der Kulturkritik. Ihr »wachsamer, weniger selbstzufriedener Ernst« erscheint angesichts des spektakulären Irrsinns der Gegenwart zudem mehr denn je als eine sehr sinnvolle, produktive kritische Haltung.

50 Vgl. Camille Paglia, »Sontag, Bloody Sontag«, in: dies.: Vamps & Tramps. New Essays, New York 1994, S. 344–360, hier S. 346. 51 Ebd. 52 Vgl. ebd., S. 359.

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Eckhard Schumacher »I’ve heard people use it in bars …« Über Susan Sontag, Christopher Isherwood und die Listen des Camp

Spricht man über Camp, spricht man fast unweigerlich auch über Susan Sontag. In dem Maß, in dem Sontag durch die Veröffentlichung von »Notes on ›Camp‹« im Herbst 1964 schlagartig berühmt geworden ist, hat sie mit dem Essay zugleich ihren Gegenstand, »Camp«, in die Wahrnehmungshorizonte von Literatur-, Film- und Kunstszenen, von Wissenschaftsdiskursen, Publikumszeitschriften und Kneipengesprächen katapultiert.1 Zuerst veröffentlicht im Partisan Review, ist der Aufsatz seitdem vielfach nachgedruckt worden, besonders wirkmächtig – versehen mit leichten Korrekturen – in Sontags 1966 erschienenem Band Against Interpretation.2 1966 erschien in der Zeitschrift Akzente die erste deutsche Übersetzung »Anmerkungen zu ›Camp‹«, die zwei Jahre später in der deutschen Fassung von Against Interpretation unter dem Titel Kunst und Antikunst einem nochmals breiteren Publikum zugänglich gemacht wurde.3   Der Aufmerksamkeitsschub, der durch Sontags Essay ausgelöst wurde, hat neben flächendeckender Faszination für ein wenn nicht neues, so doch neu entdecktes Konzept in großer Zahl kritische Einwände auf den Plan gerufen, die sich noch mehr als fünfzig Jahre nach der Veröffentlichung von »Anmerkungen zu ›Camp‹« fortsetzen, nicht selten polemisch und aggressiv. Die grundsätzliche Skepsis, die immer

1 Zur Rolle des Aufsatzes für Sontags Standing als Kritikerin und Intellektuelle vgl. etwa Carl Rollyson und Lisa Paddock: Susan Sontag. The Making of an Icon, New York 2000, S. 84f.; Daniel Schreiber: Susan Sontag. Geist und Glamour, Berlin 2007, S. 99–103. 2 Susan Sontag: »Notes on ›Camp‹«, in: Partisan Review 21 (1964), Heft 4, S. 515– 530; zitiert wird im Folgenden die leicht überarbeitete Wiederveröffentlichung in dies.: Against Interpretation and Other Essays, New York 1990, S. 275–292. 3 Susan Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹«, übers. von Mark W. Rien, in: Akzente 13 (1966), Heft 6, S.  501–521; zitiert wird der Text im Folgenden nach dem Wiederabdruck in dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, übers. von Mark W. Rien, München 2003, S. 322–341.

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dann zu beobachten ist, wenn in Subkulturen oder spezifischen Szenen entwickelte Praktiken, Ideen und Konzepte popularisiert und einer breiteren Öffentlichkeit geläufig werden, bündelt sich auch in diesem Fall im üblichen Vorwurf des Verrats – ein Vorwurf, dessen Absehbarkeit Sontag schon auf der ersten Seite ihres Textes zelebriert, indem sie ihn gegen sich selbst erhebt und den Verrat zugleich offensiv rechtfertigt.4 Es ist aber vor allem Sontags Anmerkung, es verstehe sich von selbst, dass Camp »unengagiert, entpolitisiert  – oder zumindest un­ politisch« sei,5 die bis heute für Unruhe sorgt.6 Nicht Camp sei unpolitisch, es sei vielmehr Sontag, die Camp entpolitisiere, lautet der hier einschlägige Einwand, und dies geschehe vor allem, weil sie das politische Moment, das Camp insbesondere als Teil schwuler bzw. queerer Subkulturen auszeichne, ausblende und letztlich ausradiere: »Camp ist politisch«, hält Moe Meyer in diesem Sinn in der Einleitung zu The Politics and Poetics of Camp Sontag dreißig Jahre nach der Erstveröffentlichung ihres Essays entgegen  – und fügt mit Bestimmtheit hinzu: »Camp ist einzig und allein ein queerer (und/oder manchmal schwuler und lesbischer) Diskurs«.7 Die seit einigen Jahren breit dokumentierte Debatte um Camp, die fast immer auch eine Debatte um Sontags »Anmerkungen zu ›Camp‹« ist, soll hier weder rekonstruiert noch reanimiert werden.8 Ich möchte zunächst nur an die auffallende, häufig vorausgesetzte Annahme anknüpfen, es gebe einen richtigen und einen falschen Zugang zu Camp, die nochmals zugespitzt wird, wenn Meyer festhält, »Nicht-Queere« hätten keinen »Zugang zum Camp-Diskurs, nur

4 Ebd., S. 322. 5 Ebd., S. 324. 6 Zuletzt etwa von Bruce LaBruce: »Notes on Camp/Anti-Camp«, http://www. natbrut.com/essay-notes-on-campanti-camp-by-bruce-labruce.html (aufgerufen: 1.2.2017). 7 Moe Meyer: »Introduction. Reclaiming the discourse of Camp«, in: ders. (Hg.): The Politics and Poetics of Camp, London 1994, S. 1–22, hier S. 1, diese und alle weiteren Übersetzungen in diesem Beitrag E.S. 8 Einen umfassenden Überblick gibt Fabio Cleto (Hg.): Camp. Queer Aesthetics and the Performing Subject. A Reader, Edinburgh 1999; einen knappen, konzisen Einblick in die Diskussion gibt auch Thomas Hecken: »Camp«, in: ders.: Avant-Pop. Von Susan Sontag über Prada und Sonic Youth bis Lady Gaga und zurück, Berlin 2012, S. 111–118.

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zu den Derivaten, die durch den Akt der Appropriation konstruiert werden«.9 Der insbesondere gegen Sontag gerichtete Vorwurf, Camp mit anderen Konzepten, Verfahren und Strategien wie etwa Pop zu vermischen oder gar zu verwechseln, legt nicht nur nahe, dass nicht jeder über Camp sprechen kann, sprechen sollte. Er setzt zudem voraus, dass man eindeutig bestimmen kann, was Camp ist und, wichtiger noch, wie man Camp von dem unterscheiden kann, was »nur« Derivate sind, »die durch den Akt der Appropriation konstruiert werden«. Was bei dieser Fokussierung auf das Was? und Wer? weitgehend ausgeblendet bleibt, ist die Frage nach dem Wie?, die Frage nach der Form des Redens und Schreibens über Camp. Das ist insofern misslich, als nicht nur Sontags Essay diese Frage offensiv aufwirft, sondern auch jener zehn Jahre ältere Text, auf den sich Sontag beiläufig, aber gleichwohl explizit bezieht, wenn sie schreibt: »Abgesehen von einer etwas nachlässigen, zwei Seiten langen Skizze in Christopher Isherwoods Roman The World in the Evening (1954) ist kaum je etwas darüber im Druck erschienen.«10 Auf den kaum zwei Seiten von Isherwoods Roman ist nicht nur bereits einiges von dem angelegt, was zehn Jahre später in Sontags »Notes on ›Camp‹« wiederzufinden sein wird. Strukturell findet man zudem auch schon die Einsatzpunkte für jene kritischen Einwände vorformuliert, die sich bis heute gegen Sontags Essay richten. Es lohnt deshalb, die Perspektive etwas zu verschieben, die Aufmerksamkeit auf Verbindungen zwischen Isherwoods »Skizze« und Sontags »Anmerkungen« zu lenken und mit Blick auf diese Texte und ihre Schreibverfahren nochmals über das Schreiben über Camp und das Schreiben über Sontags »Anmerkungen zu ›Camp‹« zu reflektieren. Dabei kann außer Acht bleiben, dass The World in the Evening in der Kritik wie in den inneren Zirkeln der Isherwood-Forschung als eher misslungener, wenn nicht gescheiterter Roman gilt – »vielleicht Isherwoods schlechtester«, heißt es, nicht ganz ­nachvollziehbar, in

9 Meyer: »Introduction«, in: ders. (Hg.): The Politics and Poetics of Camp, a.a.O., S. 1. 10 Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 322.

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einer Studie zu Isherwood’s Fiction.11 Wichtiger ist, dass die knapp zwei Seiten über Camp durchaus diskursbegründend gewirkt haben, indem sie ein relevantes Vokabular und einschlägige Beschreibungsparameter zusammengeführt und damit die Voraussetzungen für weitere Texte geschaffen haben. »Ich habe Leute in den Bars davon reden hören«, antwortet Stephen Monk, die Hauptfigur in Isherwoods 1954 veröffentlichtem Roman The World in the Evening, auf die von Charles Kennedy gestellte Frage, ob ihm, Stephen, auf einer seiner »voyages au bout de la nuit« (»Reisen ans Ende der Nacht«) das Wort »camp« aufgefallen sei.12 Stephens Antwort, »Ich habe Leute in den Bars davon reden hören«, lässt die Augen von Charles »entzückt«, »delightedly«, aufleuchten und löst einen Dialog aus, in dem verblüffend viel von dem, was das Reden über Camp bis heute ausmacht, erstmals schriftlich festgehalten wird. »Du dachtest, damit sei ein schriller kleiner Junge mit blondierten Haaren gemeint, bekleidet mit einem Florentinerhut und einer Federboa, der so tut, als sei er Marlene Dietrich? Ja, in den queer circles nennen sie das camping. Das ist alles schön und gut, aber es handelt sich dabei um eine völlig minderwertige Form  – «, kommentiert Charles die Verortung von Camp in den »queer circles« und fährt, nunmehr »bei bester Laune«, »in the best of spirits«, fort: »Was ich mit Camp meine, ist etwas viel Grundsätzlicheres. Die anderen Formen kann man, wenn man so will, als Low Camp bezeichnen; aber das, wovon ich rede, ist High Camp. So stellt High Camp zum Beispiel die gesamte emotionale Basis des Balletts dar und natürlich die der Barockkunst. Dem wahren High Camp ist nämlich stets eine zugrunde liegende Ernsthaftigkeit eigen.«13

Folgt man Charles, der in einem Gespräch über Quäker und deren fehlenden Sinn für Stil und Eleganz zur Frage nach Camp gekommen war, dreht sich hier alles um Unterscheidungen und 11 Lisa M. Schwerdt: Isherwood’s Fiction. The Self and Technique, Houndmills 1989, S. 119. 12 Christopher Isherwood: The World in the Evening, New York 2013, S. 110. 13 Ebd., Hervorhebung im Original.

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Differenzen, um Unterschiede, die im Detail liegen können, um die Abgrenzung zwischen Bar und Barockkunst, um minimale Verschiebungen wie um fundamentale Differenzen. Stephen bittet um Beispiele, »instances«, scheint das Prinzip der Differenzierung aber schon begriffen zu haben, wenn die beiden anhand einer Auflistung von Namen deren Camp-Kompatibilität im Schnelldurchlauf prüfen. Nachdem Stephen noch eher tastend nach Mozart (»auf jeden Fall Camp«), Beethoven (»ist es nicht«) und Flaubert (»Gott, nein!«) fragt, wirkt er bei der Zuordnung von Rembrandt (»Auf keinen Fall«), El Greco (»Gewiss«) und Dostojewski (»Natürlich!«) zunehmend sicher. »Großartig, Stephen! Jetzt hast du’s wirklich verstanden«, reagiert Charles in einem »plötzlichen Lachanfall« darauf, dass Stephen nur kurzzeitig irritiert ist, dann aber durch treffende Einschätzungen auffällt. Stephens Anmerkung, Camp scheine offensichtlich »ein dehnbarer Ausdruck«, »an elastic expression«, zu sein, zwingt Charles dann allerdings zu einer dezidierten Gegenrede: »Eigentlich überhaupt nicht. Aber ich muss zugeben, dass er furchtbar schwer zu definieren ist.«14 Schon in diesen wenigen Zeilen zeigt sich, in welchem Maß und auf welchen Ebenen der nachfolgende Diskurs über Camp bereits vorgezeichnet ist. Es werden Kleidungsstücke und Accessoires an­ geführt, die bis heute als einschlägige »instances« für Camp fungieren können: der Florentinerhut (»picture hat«) und die – auch in Sontags Text wiederkehrende  – Federboa, die auf vergangene Zeiten und Moden verweisen, indem sie diese mit ihrer historischen Patina neu kontextualisieren, in diesem Fall die später noch vielfach wieder angerufenen Zwanzigerjahre. Bereits bei Isherwood spielen im Diskurs über Camp Worte wie »entzückt« (»delightedly«), »großartig« (»splendid«) und »bei bester Laune« (»in the best of spirits«) in eben dem Maß eine wichtige Rolle, in dem Konzepte wie Eleganz und Form relevant erscheinen, wobei Wortwahl, sprachlicher Ausdruck und Begeisterung – für Camp wie für das Reden über Camp – letztlich wichtiger erscheinen als konzeptuelle Stringenz. Entscheidend sind hier gleichwohl Verfahren der Grenzziehung, der Abgrenzung, der wertenden Unterscheidung: In Fortschreibung der

14 Ebd., S. 110f.

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im 19.  Jahrhundert entwickelten kulturellen Segregation zwischen lowbrow und highbrow, die immer auch eine Unterscheidung des Populären, Unterhaltenden vom Elitären, Ernsthaften war,15 führt Charles die Unterscheidung von »Low Camp« und »High Camp« ein und lässt wenig Zweifel daran, welche Seite er für relevanter hält. Wenn er dem, was in »queer circles« Camp genannt wird, durch die Einführung von »High Camp« etwas entgegenstellt, dessen eigentlicher Ort die gleichwohl in Frage gestellte highbrow culture ist, markiert er dessen abgeschiedenes Anderes als »utterly debased form«, als minderwertige, entstellte Form, als »Low Camp«, dem Charles nicht ohne anerkennende Sympathie, aber deutlicher noch mit einer fast genussvollen Abneigung begegnet. Wie wichtig ihm diese Differenzierung ist, legt Charles nahe, wenn er sie nochmals spezifiziert und betont, »wahres High Camp« zeuge immer von einer »zugrunde liegenden Ernsthaftigkeit«, die »viel grundsätzlicher« sei als das, was in den »queer circles« geschehe: »Man kann nicht camp in Bezug auf etwas sein, das man nicht ernst nimmt. Man macht sich nicht darüber lustig; man macht daraus Spaß. Man drückt etwas im Sinne von Spaß und Kunstfertigkeit und Eleganz aus, das einem grundsätzlich ernst ist.«16 Mit der Verortung in »queer circles« ist bei Isherwood zugleich ein weiterer für die Begriffsbestimmung und Geschichtsschreibung von Camp wichtiger Punkt angeführt. Dabei erscheint die Möglichkeit, spezifische »circles« zu identifizieren, die sich von anderen Kreisen (oder einfach ihrer Umgebung) abgrenzen und abgrenzen lassen, nicht minder wichtig als die Zuschreibung »queer«. Auch wenn »queer« in den Fünfzigerjahren noch eindeutig abwertend gebraucht wird, zeichnet sich bei Isherwood schon eine weiterführende Infragestellung von Geschlechtsidentität und Geschlechterdifferenz ab, die hier durch jene Verschiebungen, Verstellungen und Mehrfachkodierungen in Szene gesetzt wird, die Charles in den von Stephen erwähnten »Bars« vermutet – »ein schriller kleiner Junge mit blondierten Haaren […], bekleidet mit einem Florentinerhut und einer Federboa, der so tut, als sei er Marlene Dietrich«. So signifikant es für den Diskurs über Camp 15 Vgl. Lawrence W. Levine: Highbrow/Lowbrow. The Emergence of Cultural Hierarchy in America, Cambridge 1988. 16 Isherwood: The World in the Evening, a.a.O., S. 110.

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ist, dass die Deutungskompetenz mit Charles einem der Charaktere zukommt, der als Teil eines schwulen Paars eingeführt wird, so überraschend wirkt – selbst wenn man seine hochgradig kodierte Sprache berücksichtigt – die Bestimmtheit, mit der Charles jene Spielart von Camp, die er den »queer circles« zuschreibt, als unseriös und minderwertig, als »utterly debased form« abtut. Für ein seriöses Verständnis von Camp gibt es, folgt man Charles, Kriterien: Eleganz und Stil spielen eine Rolle, auch Spaß und Ge­ schick, ebenso wichtig scheint aber, ein weiterer Punkt auf der Liste der im Gespräch entwickelten Camp-Thesen, ein intuitives Erfassen zu sein, das sich nicht mit Definitionen oder weiterführenden Erläuterungen aufhalten muss, die Charles ohnehin verweigert. Das zeigt sich nicht zuletzt an der Lakonie der Auflistung von Namen, die wie ein blueprint für ein später vielfach wiederaufgenommenes Zuordnungsverfahren in Sachen Camp erscheint.     Denn der Diskurs über Camp operiert seitdem – und noch verstärkt seit Sontags Fortschreibung und Ausweitung dieses Prinzips – nicht unwesentlich über das Aufstellen von Namensreihen und anderen Listen, die wiederum häufig als Kanonlisten entworfen werden.17 Darauf wird im Folgenden ebenso zurückzukommen sein wie auf den im Camp-­ Diskurs ähnlich regelmäßig aufgerufenen Topos der begrifflichen Elastizität und die in fast jeder Einlassung auf Camp vorzufindende Annahme, Camp sei schwer zu definieren. Dieses Diskurselement ist bei Isherwood schon voll ausgeprägt – in der Feststellung, Camp sei »furchtbar schwer zu definieren«, in den gleichwohl dezidierten Akten der Zuordnung, im Aufstellen von Listen wie in der zugleich vollzogenen Ausweitung der einschlägigen Kontexte, die letztlich auch Charles zugesteht, wenn er anmerkt: »du wirst selbst merken, dass du das Wort verwenden möchtest, wann immer du über Ästhetik oder Philosophie oder irgendetwas anderes redest«.18 17 Hier nur zwei Beispiele: Phillip Core stellt seinem enzyklopädischen Buch Camp. The Lie That Tells the Truth, London 1984, eine ganzseitige Liste mit »Camp Rules« voran und schließt es mit einer mehrseitigen Auflistung von Beispielen für »Camp to like« ab (S.  7 u. 208–212); Mark Booth setzt sich mit Sontags Essay und den von ihr aufgestellten Listen wiederum in der Aufstellung von Vergleichslisten auseinander, vgl. Mark Booth: »Campe-Toi! On the Origins and Definitions of Camp«, in: Cleto (Hg.): Camp, a.a.O., S. 66–86. 18 Isherwood: The World in the Evening, a.a.O., S. 111.

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Sontag verkürzt die Zusammenhänge also ein wenig, wenn sie zu Beginn ihrer »Anmerkungen zu ›Camp‹« darauf hinweist, abgesehen »von einer etwas nachlässigen, zwei Seiten langen Skizze in Christopher Isherwoods Roman The World in the Evening« sei nie zuvor etwas zu Camp gedruckt worden.19 Es wird zwar deutlich, dass es Sontag wichtig ist, darauf hinzuweisen, dass Isherwood erstmals einen Diskurs verschriftlicht und mithin veröffentlicht, der zuvor in einer kleineren, geschlosseneren Öffentlichkeit zirkulierte. Dabei gerät aber aus dem Blick, wie wichtig diese Skizze für ihren eigenen Ansatz ist. In der deutschen Übersetzung klingt der Hinweis allerdings etwas strenger als im Original, in dem die Formulierung »a lazy two-page sketch« eine Wertschätzung erkennen lässt, die fast schon im Sinne der zur Diskussion stehenden Sache zärtlich, »tender«, wirkt – »Camp ist ein zärt­ liches Gefühl«,20 hebt Sontag gegen Ende des Essays hervor. So wird nachvollziehbar, dass Sontag in »Anmerkungen zu ›Camp‹« einiges von dem, was sie bei Isherwood vorfindet, aufnimmt und weiterführt. Ebenso unübersehbar ist allerdings, dass sie, zehn Jahre später, etwas anderes daraus macht, es mit anderen Kontexten verknüpft, dass sie Verschiebungen vornimmt und noch einmal neu ansetzt.    Statt eines »lazy two-page sketch« präsentiert Sontag nunmehr eine Reihe von »notes«, 58 durchnummerierte Notizen bzw. An­ merkungen,21 die sie mit einer kurzen, knapp zweiseitigen Einleitung versieht. Der von ihr für die Form des Textes verwendete Begriff »jottings«22 legt allerdings nahe, dass sie selbst auf das abzielt, was sie Isherwood mit dem Begriff »sketch« zuschreibt – auf eine Skizze, einen Entwurf, der keine systematisch durchgearbeitete Argumen­ tation, keinen Essay und keine Abhandlung verspricht. Es geht

19 Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 322. 20 Sontag: »Notes on ›Camp‹«, in: dies.: Against Interpretation, a.a.O., S. 275 u. »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 340, Hervorhebungen jeweils im Original. 21 Wenn »Notes«, wie in der vorliegenden Fassung, mit »Anmerkungen« übersetzt wird, erfasst die Übersetzung auch die bei Sontag angelegte Lesart als Anmerkungen im Sinne von Fußnoten und Randbemerkungen. 22 Sontag: »Notes on ›Camp‹«, in: dies.: Against Interpretation, a.a.O., S.  276; »form of jottings« wird mit »Form kurzer Anmerkungen« übersetzt (Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 323).

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Sontag um »kurze Anmerkungen«, die den Charakter des Vorläufigen behalten und damit in gewisser Weise ihrem Gegenstand entsprechen sollen, den Sontag als »fugitive sensibility« (»flüchtige Erlebnisweise«) beschreibt.23 Die deutsche Übersetzung von »sensibility«, »Erlebnisweise«, kann in dieser Hinsicht einiges von dem erfassen, was bei Sontag angelegt ist. Dass »sensibility« auch Empfindlichkeit heißt und zudem als Anspielung auf Jane Austens Klassiker Sense and Sensibility, Verstand und Gefühl, aufgenommen wird, gerät allerdings aus dem Blick, was in Bezug auf Camp durchaus misslich ist, zumal Sontag geradezu offensiv darauf hinweist, man müsse, wenn man eine »sensibility« wie Camp in Worten »einfangen« möchte, »tentative und nimble«, »tastend und beweglich«, vorgehen.24    Gleichwohl führen Sontags »Anmerkungen zu ›Camp‹« unmissverständlich vor Augen, dass ein solches Vorgehen Definitionen und Feststellungen keineswegs ausschließt: »Das Kennzeichen des Camp ist …«, und, immer wieder, »Camp ist …« – so setzen viele der Statements ein, mit denen Sontag Camp zu erfassen versucht.25 Die einzelnen Statements verbinden sich, bilden Reihen, schaffen Zusammenhänge und stellen diese zugleich auf eine Weise in Frage, die aus der Tradition der Fragmentästhetik und der Aphoristik bekannt ist: Wenn in einer Fragment- oder Aphorismensammlung auf eine Definition viele weitere folgen, wenn eine Feststellung von einer weiteren nicht nur abgelöst, sondern, wie bei Sontag, gelegentlich auch konterkariert, widerlegt oder unterlaufen wird, kann ein Text, der eine

23 Sontag: »Notes on ›Camp‹«, in: dies.: Against Interpretation, a.a.O., S. 277 u. »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S 323f. 24 Sontag: »Notes on ›Camp‹«, in: dies.: Against Interpretation, a.a.O., S. 276 u. »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S.  323; den Ende der Sechzigerjahre zirkulierenden Begriff der sensibility hat Sontag ein Jahr nach dem Camp-Essay und ebenfalls mit Blick auf die Relevanz von »beauty and style and taste« (»der Schönheit, des Stils und des Geschmacks«) prominent hervorgehoben in »One culture and the new sensibility«, in: dies.: Against Inter­ pretation, a.a.O., S. 293–304, hier S. 304 u. »Die Einheit der Kultur und die neue Erlebnisweise«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 342–354, hier S. 354. 25 Vgl. Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 324ff.

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solche Reihe von Feststellungen prozessiert, selbst als etwas ganz anderes denn als eine Feststellung erscheinen.26 Die destabilisierenden Konsequenzen einer solchen Reihenbil­ dung geraten allerdings leicht aus dem Blick, wenn man einzelne Definitionen oder sentenzhafte Formeln aus dem Text herauslöst, wie es im Fall von Sontag häufig geschieht, besonders häufig mit der vielzitierten letzten Anmerkung, die »the ultimate Camp statement« präsentiert (die »ultimative Camp Behauptung«)27 – »es ist gut, weil es schrecklich ist«.28 So treffend diese Formel bis heute erscheinen mag, übersieht man in der Fokussierung auf diesen einen Aspekt schnell, dass das Statement nur insofern »the ultimate Camp statement« darstellt, als es das letzte in einer Reihe von insgesamt 58 Anmerkungen ist. Man sieht die Problematik einer solchen Hervorhebung eines Details schon genauer, wenn man nicht nur dieses »statement« zitiert und aus dem Text herauslöst, sondern auch die – zumeist nicht mehr zitierte – Fortsetzung der 58. Anmerkung mitliest, die letzten Sätze von »Anmerkungen zu ›Camp‹«, die noch einmal den Entwurfscharakter der Anmerkungen betonen: »Natürlich kann man das nicht immer sagen. Nur unter bestimmten Bedingungen, denen nämlich, die zu skizzieren ich in diesen Anmerkungen versucht habe.«29    Der tentative Charakter der Anmerkungen wird mit dem Hinweis »die zu skizzieren ich […] versucht habe« abschließend noch einmal hervorgehoben, ohne einen Schlusspunkt zu setzen. Ihm kor­ respondiert ein geradezu prinzipieller Modus der Ambivalenz, den Sontag auf der Ebene ihres Gegenstands ausmacht, für die Form ihrer Anmerkungen nutzt und für ihren eigenen Zugang zu Camp beansprucht. Wenn sie in einer Tagebuchnotiz aus dem Sommer 1964 Camp mit dem Stichwort Ambivalenz verbindet und dieses mit einem Fragezeichen versieht, lässt es sich in diesem Sinne gleichermaßen auf 26 Zu vergleichbaren Verfahren der Destabilisierung im Rahmen der frühromantischen Fragmentästhetik vgl. Eckhard Schumacher: Die Ironie der Unver­ ständlichkeit, Frankfurt 2000, S. 218–228. 27 Sontag: »Notes on ›Camp‹«, in: dies.: Against Interpretation, a.a.O., S. 292 u. »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 341, Übersetzung geändert, E.S. 28 Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 341. 29 Ebd.

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die Ebene des Gegenstandes wie auf Sontags Haltung zu diesem Gegenstand beziehen: »Camp: Ironie, Distanz; Ambivalenz (?)«.30 Sontag stellt Camp als eine »Erlebnisweise« vor, die »keine natürliche Weise des Erlebens« sein soll, sondern vielmehr durch »Liebe zum Unnatürlichen« gekennzeichnet sei, durch »Trick«, »Übertrei­ bung«, und, wie sie in der ersten Anmerkung hervorhebt, durch »Stilisierung«.31 Und da diese Modi des Unnatürlichen, die sich hier zugleich als Formen des Uneigentlichen, Abgeleiteten, immer nur Derivativen präsentieren, »esoterisch« bleiben, als eine Art identitätsstiftender Geheimcode fungieren, heiße über Camp reden un­ weigerlich: »es verraten«.32 Genau das tut Sontag, folgt man ihrer Einleitung, selbst ganz bewusst, zumindest benennt sie Gründe zur Rechtfertigung: »Wenn der Verrat gerechtfertigt werden kann, dann wegen der Erbauung, die er verschafft, oder wegen der Erhabenheit des Konflikts, der damit gelöst wird.«33 Erbauung und Konflikt werden von Sontag explizit auf die »eigene Person« und die eigene Position bezogen: »Camp zieht mich stark an und stößt mich fast ebenso stark ab. […] Eine Erlebnisweise zu benennen, sie zu umreißen und ihre Geschichte eingehend darzulegen, erfordert eine tiefe Sympathie, modifiziert durch Abscheu.«34 Eine solche Ambivalenz, »deep sympathy modified by revulsion«,35 imprägniert den gesamten Text. Sontag nimmt dabei einerseits die Position des Charles aus Isherwoods The World in the Evening ein, der das Geschehen in den »queer circles« aus einer gewissen Distanz und mit unübersehbarer Ambivalenz beobachtet. Dabei versetzt sich Sontag aber nur bedingt in die Position des wissenden Kenners, sie nimmt deutlicher noch die Rolle ein, die Isherwood Stephen zu­ schreibt, die Rolle dessen, der etwas hört, in »bars« oder in »queer circles«, es aufnimmt und, angeregt durch andere, weiterdenkt.    Aus dem, was sie hört, beobachtet und reflektiert, macht Sontag 30 Susan Sontag: Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Tagebücher 1964–1980, übers. von Kathrin Razum, München 2013, S. 30. 31 Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 322. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Sontag: »Notes on ›Camp‹«, in: dies.: Against Interpretation, a.a.O., S. 276.

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wieder etwas anderes, sie überführt es in neue Kontexte, führt neue Unterscheidungen ein, arbeitet im Reden über Camp am Begriff, an dessen Konturierung wie an dessen Reichweite. Dies geschieht auffallend häufig in den Bahnen, die Isherwood im Dialog zwischen Stephen und Charles angelegt hat, die Sontag aber ebenfalls modifiziert, anders auslegt, ineinander verschränkt oder gegeneinander ausspielt. So betont sie – mit und gegen Charles – einerseits, Camp sei eine »Erlebnisweise, die das Ernste ins Frivole verwandelt«, und es gehe dabei gleichwohl »um gewichtige Angelegenheiten«, um »grave matters«, dekretiert aber andererseits, der »ganze Sinn des Camp liege in der Entthronung des Ernstes«, Camp sei »spielerisch, anti-seriös«.36 Sontag nimmt das Kriterium der Seriosität auf, das für Charles eine große Rolle spielt, nutzt es aber nicht, um mit ihm eine Differenz zwischen High Camp und Low Camp zu begründen. In der sechsten Anmerkung markiert Sontag eine weitere Gegenposition zu Charles’ Konzept des High Camp, wenn sie »zu gut«, »zu wichtig« und »nicht genug an der Peripherie der Gesellschaft« als mögliche Ausschlusskriterien für die Zuordnung zu Camp anführt.37 Mit einer kurzen Checkliste, die die spielerisch-didaktische Listenbildung von Stephen und Charles fortführt, relativiert Sontag aber auch diese mögliche Setzung wieder: »In diesem Sinne sind die Persönlichkeit und viele der Werke Jean Cocteaus Camp, nicht dagegen die Werke André Gides, die Opern von Richard Strauss, nicht dagegen die von Wagner, das Gebräu aus der Tin Pan Alley und aus Liverpool, nicht dagegen Jazz.«38

Sontag gesteht zwar zu, dass viele Beispiele für Camp »von einem ›seriösen‹ Standpunkt aus betrachtet […] entweder minderwertige Kunst oder Kitsch« seien, weist aber darauf hin, dass Camp nicht in jedem Fall schlechte Kunst sei und dass, wichtiger noch, vieles von

36 Ebd., S. 276 u. 288 u. Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 322 u. 336. 37 Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 325. 38 Ebd.

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dem, was man Camp nennen könnte, »ernsthafteste Bewunderung und ernsthaftestes Interesse« verdiene.39 Dabei ist zu berücksichtigen, dass Sontag entschieden unentschieden Camp einerseits als »Eigenschaft, die sich in Sachen und im Verhalten von Personen entdecken läßt«, begreift, andererseits aber zugleich als »eine Art, die Dinge zu betrachten«.40 So verortet Sontag auch das Kriterium der Ernsthaftigkeit zunächst auf der Ebene der Kunst, um es dann auf die der Rezeption zu verlagern, auf die Kopplung von »serious admiration und study«.41 Auf dieser Basis kann sie die Unterscheidung von High und Low unterminieren und irrelevant erscheinen lassen42 – und immer wieder erneut aufrufen und herausfordern. Das führt auf andere Weise ebenfalls die in der vierten Anmerkung aufgestellte Liste vor Augen, die »einige wahllos herausgegriffene Beispiele für Dinge, die zum Kanon des Camp gehören« zusammenführt (die für die deutsche Übersetzung teilweise etwas ausführlicher erläutert werden, weshalb die Liste hier im lakonischeren Original zitiert wird): »Zuleika Dobson Tiffany lamps Scopitone films The Brown Derby restaurant on Sunset Boulevard in LA The Enquirer, headlines and stories Aubrey Beardsley drawings Swan Lake Bellini’s operas Visconti’s direction of Salome and ’Tis Pity She’s a Whore certain turn-of-the-century picture postcards Schoedsack’s King Kong the Cuban pop singer La Lupe Lynn Ward’s novel in woodcuts, God’s Man

39 Ebd. 40 Ebd., S. 324. 41 Sontag: »Notes on ›Camp‹«, in: dies.: Against Interpretation, a.a.O., S. 278. 42 Ein Jahr später wird Sontag darauf hinweisen, es sei eine Konsequenz der »neuen Erlebnisweise«, dass die Unterscheidung von High und Low »mehr und mehr an Bedeutung« verliere, vgl. Sontag: »Die Einheit der Kultur und die neue Erlebnisweise«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 352.

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the old Flash Gordon comics women’s clothes of the twenties (feather boas, fringed and beaded dresses, etc.) the novels of Ronald Firbank and Ivy Compton-Burnett stag movies seen without lust«43

Auffällig ist nicht nur, dass Sontag in dieser Liste »items« zusammenführt, die Charles vermutlich geflissentlich unterschieden und in verschiedene Register eingetragen hätte. Sontag führt Einträge an, die dem Camp-Kanon vorher (und teilweise auch nachher) eher nicht zugeordnet worden sind.    Es geht hier offensichtlich nicht um eine allgemeingültige, situations- und kontextunabhängige Liste, sondern vielmehr darum, vorgegebene Kriterien und vorgefundene Dinge, Kontexte, Ideen oder eben Listen aufzunehmen, neu zu konstellieren und so – der Kontingenz der jeweiligen Situation, des je spezifischen Kontextes ausgesetzt – auch zu modifizieren.44 Zugleich setzt sich die Liste unweigerlich in ein Verhältnis zu den sie umgebenden Feststellungen und Definitionen in Sachen Camp. Eine Liste kann auf Definitionen aufbauen, kann sie exemplifizieren, veranschaulichen oder konkretisieren,45 kann als eigene Form der Definition erscheinen,46 tritt aber schnell auch in ein Konkurrenzverhältnis zur Definition. Die Liste ermöglicht es, wie Urs Stäheli in einem anderen Zusammenhang angemerkt hat, »von heterogenen Einheiten zu sprechen, ohne

43 Sontag: »Notes on ›Camp‹«, in: dies.: Against Interpretation, a.a.O., S. 277f.; vgl. Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 324f. 44 Dafür spricht auch, dass Sontag offenbar einige Elemente der Liste  – etwa die Tiffany-Lampen – aus Bestandteilen der Einrichtung des Zimmers ihres Pariser Freundes Elliot Stein generiert, das sie während der Arbeit am Camp-Text in Paris genauer studieren konnte und laut überlieferter Selbstaussage als »Hauptquelle« verwendet hat; vgl. dazu Rollyson/Paddock: Susan Sontag, a.a.O., S.  85, sowie Schreiber: Susan Sontag, a.a.O., S. 99. 45 Anschaulich dazu Ann Cotten: Nach der Welt. Die Listen der Konkreten Poesie und ihre Folgen, Wien 2008. 46 Etwa im Sinne von Aristoteles als »Definition von Akzidenzien und damit als Aufzählung von nicht Wesentlichem«, vgl. dazu und darüber hinaus Thomas Wegmann: »So oder so. Die Liste als ästhetische Kippfigur«, in: ders. und Norbert Christian Wolf (Hg.): »High« und »low«. Zur Interferenz von Hoch- und Populär­ kultur in der Gegenwartsliteratur, Berlin 2012, S. 217–231, hier S. 223.

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diese mit Identitätszumutungen zu überfrachten«, ohne »eine fundierende Einheit annehmen zu müssen«.47 Zudem setzt sie dem konstatierenden Charakter von Definitionen häufig eine »Poetik der Liste« entgegen,48 die satzförmige Feststellungen gerade dann überborden und destabilisieren kann, wenn sie auf den ersten Blick noch strengeren Ordnungsprinzipien zu folgen scheint. Dabei verändert die Liste gleichermaßen den Blick auf ihre Umgebung, hier den sie umgebenden Text, wie die Eigenheit der Dinge, die sie in der Auflistung zusammenführt, aneinanderrückt, aufeinander bezieht. »Gewiß, das Camp-Auge hat die Macht, Erfahrungen umzufor­ men«,49 schreibt Sontag auch in diesem Sinne und, kaum weniger wichtig, nicht zuletzt im Blick auf das eigene Verfahren.    Sie setzt selbst auf »Trick und […] Übertreibung«. Auch in diesem Sinn spricht einiges dafür, die Anführungszeichen, mit denen sie in ihrem Titel das Wort »Camp« versieht, nicht zu übersehen. Zumal Camp, dies ein weiteres vielzitiertes Statement aus Sontags Aneinanderreihung von Anmerkungen, ein besonderes Verhältnis zu Anführungszeichen hat: »Camp sieht alles in Anführungsstrichen: nicht eine Lampe, sondern eine ›Lampe‹; nicht eine Frau, sondern eine ›Frau‹.«50 Vor diesem Hintergrund bekommt der eingangs zitierte Vorwurf, Sontag würde letztlich nicht über Camp, sondern nur über dessen »Derivate« sprechen, die sie im Modus der »Appropriation« konstruiert habe, eine merkwürdige Wendung. Denn wenn Camp alles in Anführungszeichen sieht, geht es um die Konstruktion von Derivaten, geht es um Akte der Appropriation. Sontag hebt somit eben das, was andere ihr zum Vorwurf machen, selbst als Kennzeichen von Camp hervor und setzt Camp absehbar auch in dieser Hinsicht in ihrem Titel in Anführungszeichen. Dabei macht sie in ihrem Text durchgehend deutlich, dass das In-AnführungszeichenSetzen nicht im Modus der Persiflage oder der Parodie vorgeht,

47 Urs Stäheli: »Das Soziale als Liste. Zur Epistemologie der ANT«, in: Friedrich Balke, Maria Muhle und Antonia von Schöning (Hg.): Die Wiederkehr der Dinge, Berlin 2011, S. 83–101, hier S. 91 u. 86. 48 Vgl. dazu Umberto Eco: Die unendliche Liste, München 2009. 49 Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 324. 50 Ebd., S. 327.

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über den das Angeführte ridikülisiert wird, als vielmehr im Modus des Pastiche, einer Praxis der Mimikry, der wiederholenden Nachahmung, die noch in ihren Verschiebungen und Verzerrungen, und sei es als »utterly debased form«, als Form der Anerkennung und Zuwendung erkennbar bleibt. Auch in diesem Sinne schreibt Sontag: »Camp-Geschmack ist eine Art Liebe, Liebe zur menschlichen Natur. Er genießt die kleinen Triumphe und die lästigen Heftigkeiten des ›Charakters‹, statt Urteile darüber zu fällen«, und fügt hinzu, wiederum im Sinne von Isherwoods Charles und über dessen Vorgaben hinaus: »Camp-Geschmack stimmt mit dem überein, was er genießt. Menschen, die diese Erlebnisweise teilen, lachen nicht über das, was sie ›a camp‹ nennen, sie genießen es. Camp ist ein zärtliches Gefühl.«51 An dieser Stelle – und nur an dieser Stelle – stellt Sontag eine Verbindung zwischen Camp und Pop her, wenn sie »Pop Art« als »verwandt, aber dennoch ganz anders« bezeichnet: »Pop Art ist fader und trockener, ernster und gleichgültiger, letztlich nihilistisch.«52 Dieser in Klammern hinzugefügte Vergleich ist im gegebenen Zusammenhang nicht zuletzt deshalb interessant, weil Sontag hier nun, nachdem sie eine Reihe der wertenden Unterscheidungen, die im CampDiskurs zirkulieren, problematisiert hat, selbst eine Unterscheidung einführt, die mit der Differenz von High und Low operiert, sie aber anders als üblich (und anders als Isherwoods Charles) ausbuchstabiert: Aus der Perspektive von Camp qualifiziert Sontag Pop als »ernsthafter«, was in diesem Fall, zumal angesichts der zusätzlichen Zuschreibung »fader und trockener«, gegenüber der »Zärtlichkeit« von Camp durchaus als Abwertung zu begreifen ist. Das wiederum ist insofern bemerkenswert, als die Verbindung von Pop und Camp in der Rezeptionsgeschichte von »Anmerkungen zu ›Camp‹« immer wieder im Sinne einer Gleichsetzung vorausgesetzt wird, eigentlich aber der Markierung einer Differenz dient  – die gelegentlich übersehen, häufiger noch aber überstrapaziert wird.53 In

51 Ebd., S. 340. 52 Ebd. 53 Zu Verbindungen von Pop und Camp in den Sechzigern vgl. George Melly: Re­ volt into Style. The Pop Arts in Britain, London 1970; kritisch-polemisch zur Verwechslung von Pop und Camp Meyer: »Introduction«, in: ders. (Hg.): The Politics

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den Cultural Studies und insbesondere in diversen Studien zu Pop Art und Pop-Musik seit Mitte der Sechzigerjahre wird Pop häufig mit Camp in Verbindung gebracht, gelegentlich mit direktem Bezug auf Sontags »Anmerkungen zu ›Camp‹«. Was in der Pop Art und in der Pop-Musik seit Mitte der Sechzigerjahre passiert, in Andy Warhols Factory, in seinen Filmen und in seiner Zusammenarbeit mit The Velvet Underground, bei David Bowie und, wenige Jahre später, bei Roxy Music, Divine oder Sylvester, wird ebenso als Pop Camp beschrieben wie, auch dies ein längst klassisches Beispiel, die von 1966 bis 1968 ausgestrahlte Fernsehserie Batman. Wenn George Melly in Revolt into Style mit Blick auf Batman argumentiert, »Pop Camp« sei allerdings letztlich ein »widersprüchliches Konzept«, verweist er darauf, dass Camp eine »›in‹-Idee« einer Minderheit, Pop hingegen »Gemeingut« sei, was unweigerlich zu Widersprüchen und zur Selbstaufhebung der Konstellation führe: »sobald jeder den Witz versteht, ist er nicht mehr lustig«.54 Man kann die Öffnung geschlossener Zirkel immer wieder erneut beklagen, aber solche Prozesse vollziehen sich, das zeigt sich im Fall von Camp wie, deutlicher noch, in der Pop-Musik in der zweiten Hälfte der Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre. Was dabei geschieht, beschränkt sich aber nicht auf Verflachung und Verwässerung, es wird vielmehr eine Dynamik in Gang gesetzt und in Gang gehalten, die Öffnung und Schließung, Popularisierung und erneute esoterische Abkapselung wechselseitig ineinander verschränkt. Wie im Fall von Camp, darauf hatte Sontag einleitend hingewiesen, erscheint es auch hier letztlich wenig überzeugend, den gleichsam vorprogrammierten Vorwurf des Verrats immer wieder neu aufzurufen. Interessanter ist das ambivalente Mit- und Gegeneinander von Pop und Camp, das etwa in den Blick kommt, wenn man die je verschiedenen Umgangsweisen mit Zeit und Zeitlichkeit, mit Geschichte und Gegenwart zueinander in Beziehung setzt. Ein Kennzeichen von Camp, das Sontag hervorhebt, ist die Tatsache, dass »viele von den Gegenständen, die der Camp-Geschmack hochschätzt, altmodisch, unmodern, démodé« and Poetics of Camp, a.a.O., S. 7f. u. 21; differenzierter und ausführlicher Andrew Ross: »Uses of Camp«, in: ders.: No Respect. Intellectuals & Popular Culture, New York 1989, S. 135–170. 54 Melly: Revolt into Style, a.a.O., S. 174.

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sind – nicht aus einer »Liebe zum Altertümlichen um seiner selbst willen«, sondern weil, argumentiert Sontag, Camp einen gewissen Abstand benötige und der »Prozeß des Alterns und des Verfalls« eben jene Ablösung vom Modus des Zeitgenössischen ermögliche, auf der Camp aufbaue.55 Aus dieser Perspektive kann man, wie Andrew Ross vorschlägt, Camp als »Antidot zu der durch Pop versprochenen Obsoleszenz-Ansteckung« begreifen, als eine Form des »memento mori«, als »Reminder«, der daran erinnert, dass Pop in seiner Gegenwartsfixierung immer schon auf das eigene Verschwinden verweist, sich als zukünftiger Abfall präsentiert, während Camp im Modus des Wiederentdeckens des schon Vergangenen »eine Wiederentdeckung des Abfalls der Geschichte« betreibt.56 So rücken Pop und Camp strukturell auseinander und bleiben doch in vielfachen Hinsichten aufeinander bezogen, in der Fokussierung auf »Trick und Übertreibung«, in der Faszination für Listen,57 für Konstruktion und Appropriation wie im Prinzip, alles immer schon und immer nur in Anführungszeichen zu sehen.58 Sontag selbst betont, wie gesehen, eher die Differenzen als die Nähen von Pop und Camp, und stimmt hier durchaus mit ihren späteren Kritikern überein, die Verbindungen von Pop und Camp mit teilweise verblüffender Deutlichkeit im Sinne von Isherwoods Charles als »utterly debased form« begreifen. Da Sontag aber auch darüber hinaus Camp als »bestimmte Art des Ästhetizismus« vorstellt, die den »Stil« betont, den »Inhalt« vernachlässigt und zudem, wie bereits 55 Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 333. 56 Ross: »Uses of Camp«, in: ders.: No Respect. Intellectuals & Popular Culture, a.a.O., S.  151f.; zur Gegenwartsfixierung im Kontext von Pop vgl. Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt 2003, S. 18ff. 57 Vgl. dazu Diedrich Diederichsen: »Liste und Intensität«, in: Dirck Linck und Gert Mattenklott (Hg.): Abfälle. Stoff- und Materialpräsentation in der deutschen Pop-Literatur der 60er Jahre, Hannover 2006, S. 107–123. 58 Diedrich Diederichsen wird einige Jahre später darauf hinweisen, dass alles, was man »in der Sprache des Pop sagt, in mehreren Anführungszeichen erscheinen wird« (»Nette Aussichten in den Schützengräben der Nebenkriegsschauplätze – über Freund und Feind, Lüge und Wahrheit und andere Kämpfe an der Pop-Front«, in: ders. (Hg.): Staccato. Musik und Leben, Heidelberg 1982, S. 85– 101, hier S. 94).

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angeführt, »unengagiert« und »unpolitisch« ist,59 wird ihr Zugang häufig ohnehin als minderwertige »popkulturelle Version« von Camp verbucht.60   Der Vorwurf, Sontag habe Camp verraten, setzt immer wieder an diesem Punkt an, wenn festgestellt wird, sie habe Camp aus schwulen oder queeren Subkulturen herausgelöst und im Zuge der Popularisierung entpolitisiert. In dieser Lesart hat Sontag Camp nicht nur die – von ihr selbst als konstitutiv begriffene – Marginalität, sondern auch die Radikalität genommen. Diese Form der Kritik wird in dem bereits zitierten Sammelband The Politics and Poetics of Camp laut, wenn sich Meyer einleitend gegen die vermeintlich konventionell akzeptierte Auffassung wendet, »Camp« sei »bloß ein ›Style‹ oder eine ›Erlebnisweise‹«. Mit der These, Camp sei »eine verdrängte und verleugnete oppositionelle Kritik, verkörpert in den sinnstiftenden Praktiken, die prozesshaft queere Identitäten konstituieren«, wendet sich Meyer direkt gegen Sontag und listet im Gegenzug all das auf, was er als »gemeinsame Überzeugungen« aller Beiträger_innen des Bandes voraussetzt: Camp sei politisch, ein queerer Diskurs und verkörpere eine spezifisch queere Kulturkritik, die nur aus einer queeren Perspektive einen direkten Zugang zum Camp-Diskurs – und nicht nur zu Derivaten – erlaube.61 Um die Grenzen der Reichweite dieser Kritik zu sehen, könnte man darauf verweisen, dass Sontag selbst Mitte der Siebzigerjahre ihre Lesart von Camp als entpolitisiert und apolitisch relativiert, wenn sie darauf hinweist, dass die Ausbreitung von Camp eine »bedeutende, wenn auch unbeabsichtigte Rolle für das Aufkommen eines feministischen Bewusstseins in den späten 1960er Jahren« gespielt habe, insofern Camp dazu beigetragen habe, »gewisse stereotypisierte Formen von Weiblichkeit« zu unterminieren.62 Es reicht aber schon, Sontags »Anmerkungen zu ›Camp‹« nicht auf

59 Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 324. 60 Vgl. Meyer: »Introduction«, in: ders. (Hg.): The Politics and Poetics of Camp, a.a.O., S. 21 u. 1. 61 Vgl. ebd., S. 1. 62 Susan Sontag: »The Salmagundi Interview«, in: dies.: A Susan Sontag Reader, New York 1982, S. 329–346, hier S. 339.

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die ersten beiden Anmerkungen zu beschränken, die Dynamiken, die der gesamte Text entfaltet, zu berücksichtigen und dabei den Hinweis zu registrieren, Camp stelle das Konzept der Natürlichkeit in Frage und sehe alles in Anführungszeichen: »nicht eine Frau, sondern eine ›Frau‹«.63 Dass man schon mit Sontag die vermeintliche Natürlichkeit von Geschlechterrollen problematisieren und vermeintlich authentische Konzepte von Geschlechtsidentitäten verschieben kann, ist ebenso leicht zu übersehen wie die Tatsache, dass Sontag Camp keineswegs schon dadurch zu einem unpolitischen Phänomen degradiert, dass sie es »unpolitisch« nennt. Die Irritationen kulturell etablierter Vorstellungen, Konzepte und Dichotomien, die Sontag in ihren Einlassungen auf Camp hervorhebt und hervorbringt, bleiben nicht auf den in der ersten Anmerkung betonten Modus des Ästhetizismus beschränkt, sie betreffen nicht zuletzt die gängigen Auffassungen von Geschlechterdifferenz und Geschlechterstereotypen. Man findet vergleichbare Überlegungen zu Camp einige Jahre später in Esther Newtons Mother Camp, die wiederum einige Jahre später für Judith Butlers Konzept der Performativität ein wichtiger Bezugspunkt wird (ohne dass sich Butler direkt auf Camp bezieht).64 Und Sontags Überlegungen zur »eigentümlichen Beziehung zwischen Camp-Geschmack und Homosexualität«65 lassen sich nicht nur als Akt des Ausradierens lesen, sondern auch als eine vorweggenommene Problematisierung von Einschränkungen und Begrenzungen, wie sie etwa 1977 Richard Dyers Verortung von Camp als »der einzige Stil, die einzige Sprache und Kultur, die unverwechselbar und unmissverständlich homosexuell männlich ist«, nahelegt.66   Eine weiterführende kritische Einlassung auf Sontags »An­ merkungen zu ›Camp‹« hat Bruce LaBruce im Rahmen der Konferenz Camp/Anti-Camp im Frühjahr 2012 in Berlin vorgestellt und unter 63 Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 327. 64 Vgl. Esther Newton: Mother Camp. Female Impersonators in America, London 1979; vgl. dazu auch Hecken: Avant Pop, a.a.O., S. 121. 65 Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 338. 66 Richard Dyer: »It’s Being So Camp as Keeps Us Going«, in: Body Politic 10 (1977), S.  11–13, zitiert nach dem Wiederabdruck in Cleto (Hg.): Camp, a.a.O., S. 110–116, hier S. 110.

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dem Titel »Notes on Camp/Anti-Camp« in schriftlicher Form publiziert. LaBruce sieht in Sontags Wertung von Camp als unpolitisch ebenfalls »den entscheidendsten Verrat an Camp«, begreift ihren Essay aber gleichwohl als ein »Camp Manifest über Camp«, an das man produktiv anschließen könne.67   Wenn er dies im Sinne einer Repolitisierung von Camp angeht, setzt er jedoch nicht einfach den Sontag-hat-Camp-verraten-Diskurs fort, sondern nimmt vielmehr einiges von dem, was er bei Sontag vorfindet, wieder auf und re­ konfiguriert es aus einer gegenwärtigen Perspektive. Fünfzig Jahre nach Sontags Einsatz sieht LaBruce Camp dabei als eine »Er­ lebnisweise, die der Mainstream sich angeeignet, fetischisiert und zu einer Ware gemacht hat«, als Massenphänomen, dem die Möglichkeit zum Setzen von Differenzen abhandengekommen ist. Wenn alles Camp ist, so LaBruces Perspektive, geht auch fast alles verloren, was Camp ausmacht – nicht zuletzt die Faszination für Gesten der Abgrenzung, das kunstvolle Verfeinern von Differenzen und das, was LaBruce als unverzichtbares Element von Camp hervorhebt: »sophistication«.68 Was macht LaBruce angesichts dieser Situation? Er entwickelt neue Unterscheidungskriterien, entwirft Kategorien und Unterkategorien, die eine Differenzierung im weitgehend unstrukturierten Mainstream von Camp und mithin die Generierung von neuen, immer wieder neu fortzuschreibenden Listen ermöglichen. So stellt er seinem Beitrag eine Reihe von Listen mit Namen und Titeln voran, die er mit Kategorien überschreibt, die als vielgestaltige Verfeinerung jener Unterscheidungen gelesen werden können, die Charles Kennedy in Isherwoods The World in the Evening mit der Differenzierung zwischen »Low Camp«, »High Camp« und »wahrem High Camp« ­einführt und die Sontag mit einem Begriff wie »Pseudo-Camp« fortführt.69 Am Anfang steht bei LaBruce »Classic Gay Camp«, kontrastiert durch

67 LaBruce: »Notes on Camp/Anti-Camp«, a.a.O.; LaBruce begreift Sontags Text als »zugleich Camp an sich (in seinen hochtrabenden und anmaßenden Behauptungen) und als einen Verrat an Camp (in seiner mitfühlenden Identifizierung)«. 68 Ebd. 69 Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 330.

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»Bad Gay Camp», es folgen »Good Straight Camp« und »Bad Straight Camp«, dann, als implizite Referenz an Christopher Isherwood und Charles Kennedy, »High Camp« und »Low Camp«, hinzu kommen, in dieser Reihenfolge und mit jeweils einer weiteren Reihe von Beispielen, »Ultra Camp« und »Bad Ultra Camp«, »Quasi-Camp«, »Subversive Camp«, »Reactionary Camp«, »Liberal Camp«, »Conservative Camp«, »Intentional Camp«, »Unintentional Camp« und schließlich: »Good Intentional Straight Camp«.70 Was diese Kategorien wie die jeweils angefügten Listen so überzeugend erscheinen lässt, ist nicht allein ihre ­nachvollziehbare und im nachfolgenden Text zudem in Teilen plausibilisierte Systematik. Ebenso wichtig ist die Tatsache, dass in diesem Exzess von Ab­ grenzungen und Werturteilen, in dieser Kaskade von Binnendifferenzierungen nicht nur jeder Anspruch auf Vollständigkeit absurd erscheint, sondern auch schon die Vorstellung, nunmehr eine tatsächlich schlüssige Systematik vorliegen zu haben, geradezu grundlegend unterlaufen wird. Der Listenwahnsinn, den LaBruce lustvoll zelebriert (und dabei keineswegs nur ridikülisiert), ruft vielmehr nach weiteren Verfeinerungen, die er folgerichtig nachliefert, wenn er in einem Interview, das sich ohne größere Umstände als weitere Fortsetzung des Gesprächs zwischen Stephen und Charles bei Isherwood lesen lässt, auf Zuruf für weitere aktuelle Beispiele weitere Kategorien nachreicht, darunter »Ultra Bad Straight Camp«, »Bad conservative gay camp« und, neben vielen weiteren »Bad«-Konstellationen, am Ende als kleinen Nachtrag auch noch »good contemporary camp«.71   LaBruce entwickelt so Schritt für Schritt, mit durchaus komi­ schen Zügen, aber ebenso mit kritischer Schärfe, das, was er in anderer Form Sontag zuschreibt, ein immer weiter fortzusetzendes »Camp Manifest über Camp«, das sich in seinem Plädoyer für eine Repolitisierung von Camp nicht nur gegen Sontag wendet, sondern deutlicher noch auf Sontag aufbaut. Auf die Frage: »Glaubst Du, dass ›Anmerkungen zu »Camp«‹ in regelmäßigen Abständen ad infinitum revidiert werden muss?«, antwortet LaBruce in diesem – und mithin 70 LaBruce: »Notes on Camp/Anti-Camp«, a.a.O. 71 Mark Allen: »Bruce LaBruce’s New Take on Susan Sontag’s 1964 Essay ›Notes on »Camp«‹, http://www.huffingtonpost.com/mark-allen/bruce-labrucecamp_b_3230251.html (aufgerufen: 1.2.2017).

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»I’ve heard people use it in bars …«

auch in Sontags – Sinn: »Das hoffe ich doch. Ich bin mir nicht sicher, ob etwas, das so ätherisch und offen für Interpretation ist wie eine Erlebnisweise, je zu etwas Endgültigem gemacht und dauerhaft festgenagelt werden sollte.«72

72 Ebd.

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Heide Schlüpmann Was soll’s Ochs vorm Scheunentor

  Keinen Zugang zu ihr zu finden, ist der Zugang. Das ist mein Fall. Ich denke an »Gegen Interpretation« – die Texte sind, was sie sind, da ist nichts dahinter zu suchen. Jedenfalls kein tieferer Sinn. Aber was ist mit einem Physischen in der Tiefe, das mich engagiert?   Das Phänomen Susan Sontag. Wenn ich ihm eine Situation des Entweder-oder im Ursprung unterstelle, kommt es mir näher, gewinnt Gestalt. War sie nicht vor die Entscheidung gestellt: Entweder im öffentlichen Kontext erfolgreich schreiben. Oder aus dem eigenen leibhaften Leben heraus sich äußern? Dann ins Private zurückgedrängt sein, bis in die psychische Erkrankung. Sontags Schriften haben nichts Feministisches, sie sind fern der Frauenbewegung (wie auch immer geneigt sie zu dieser gestanden haben mag). Dieses Entweder-oder ist jedoch ganz entschieden und im Besonderen eine weibliche Situation in der westlichen Gesellschaft.   Sontags Lebensentscheidung fiel offenbar eindeutig aus: für die Öffentlichkeit der Schriftsteller, der Autoren, der Künstler, der Intellektuellen. Ich erinnere Elda Tattolis Film Pianeta Venere von 1972: die Imagination der Protagonistin als junges Mädchen, am »Zaun ihrer Kindheit« stehend (wie die Filmwissenschaftlerin und Filmemacherin Christine Noll Brinckmann schreibt), den Blick einen Hügel hinauf gerichtet, von dem die strahlenden Figuren von Marx, Engels, Bebel und anderen Größen des Sozialismus sie herbeiwinken, um sie dann in ihren Kreis aufzunehmen. Eine körperlich schmerzende Sehnsucht in der Tiefe. Sie hat also diesen Schnitt zwischen ihrem Dasein in der imaginären Welt der Schriftsteller und der übrigen Wirklichkeit vollzogen. Ein Dasein eben nicht als Figur in den Werken der Dichter und Poeten, sondern als selbst Schreibende. Sie schreibt ihrerseits über Autoren, deren Arbeit. Ein Ausbruch aus der traditionellen Rolle. Und dazu mit immensem Erfolg, der auf Verzicht beruht, dem Verzicht, etwas ins Spiel kommen zu lassen, das mit ihrer abgespaltenen Wirklich-

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Heide Schlüpmann

keit zu tun hat. Wäre das aber allein das Rezept des Gelingens, dann hätten wir es mit einem Schriftwerk zu tun, hinter dem die Autorin zurücktritt. Das aber ist gerade bei Susan Sontag nicht der Fall.   Sie hat sich vielmehr in der physischen Präsenz der Autorin selbst inszeniert, statt andere das machen zu lassen: Literaturagenten, Journalisten, oder auch Erzähler wiederum. Sie hat mit dieser Selbstdarstellung den letzten Stein eines möglichen Anstoßes, eines Stolperns, eines Anlasses zum Scheitern aus dem Weg geräumt. Das unkontrollierte, unkontrollierbare Geschlecht. Nur so weit präsentiert, wie es Material einer öffentlichen Gestalt werden kann. Sontag hat Texte veröffentlicht.   Aber zusätzlich hat sie der Öffentlichkeit das gegeben, was sie erwartet von einer Frau, was sie beglückt, nämlich, dass sie sich zur Schau stellt. Sie tat dies virtuos nach zwei Seiten hin: einmal entsprechend ihrer Tätigkeit als Autor in der Kultivierung einer Männlichkeit der Erscheinung und zum anderen als Schönheit, die sich dem Mann in ihrer Weiblichkeit zu erkennen gibt. Ihre Auftritte vereinen beides und scheinen also die Wirklichkeit eines Entweder-oder  – entweder schreiben oder ihr Leben leben  – Lügen zu strafen. Sie stellt die feministische Gesellschaftskritik in den Schatten. Vereinbarkeit? Geht doch!   Wayne Koestenbaum sagt: Sontag ist camp. Zumal ihre Auftritte könnte das treffen, die Performerin, die das Wunschklischee so sehr erfüllt, dass es bricht. Dass es den Ernst verliert. Spielerisch aber wird Sontag auch nicht. Ein anderer Ernst entsteht, der prekärer Existenzen.

Grenzverluste An Ingmar Bergmans Filmen hebt sie hervor, dass die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit nicht auszumachen sei, an Godard, dass die Trennung zwischen Kritik und Kunst für ihn bedeutungslos sei. Sontag selbst löst die Grenze zwischen Schreiben und sich Darstellen – als Person, in Person – auf. Fehlt dem Schreiben der Sontag etwas Leibhaftes, dann scheint sie das wiederum in ihrer Person zu präsentieren. Beides gehört zusammen, eine deutliche Grenze kann es dazwischen nicht geben, nicht einen Spalt, der den Blick in Untergründiges zulässt. Dieses

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Was soll’s

Ineinanderübergehen von Schreiben und Selbstdarstellung ist aber nicht nur für Sontag charakteristisch, sondern könnte ein Signum der Fünfzigerjahre sein, aus denen sie kommt. Eine Zeit der Restauration, im Sozialen, im Politischen, im Kulturellen. Wir verbinden das mit Muff  – nicht nur unter den Talaren  – und weniger mit den Aufbrüchen von Intellektuellen und Künstlern. Doch auch dieser frische Wind war Teil der Restauration. Denn die individuelle künstlerische, schriftstellerische Aktivität ging mit jedem eigenen Werk und über es hinweg darauf aus, fand sich dazu gedrängt, eine Kultur- und Kunstwelt nach dem Zusammenbruch wiederherzustellen. Damit man wieder ein Gedicht schreiben kann. Diese Welt war im Gedächtnis von Künstlerfiguren und Geistesheroen bevölkert. Fotografie unterstützte die neue Generation dabei, ihre Selbstbilder zu erstellen, z.B. in Gestalt von Bildbänden zur Gruppe 47. Sontag hatte eine doppelte Wiederherstellung von Kultur zu leisten: im Kontext der europäischen Avantgarde, in den hinein sie sich schon früh begab, und in der Transposition solcher Kultur nach den USA. Noch etwas stärkte ihre Position in der Erneuerung einer Kunstwelt. Die neue Generation war in ihrer Selbstdarstellung darauf angewiesen, wahrgenommen zu werden, und Sontag griff diesen Mangel an Wahrgenommenwerden auf. Der Wiederherstellung der Geisteswelt fehlte die Basis, fehlte das Publikum: Die alten Bildungsbürger sind es nicht mehr, längst nicht mehr, die Arbeiter – versuchen erst die 68er zu erreichen. Bleibt als Publikum nur die Avantgarde und ihre Entourage, bleiben nur Einzelindividuen im Dissens mit der Gesellschaft. Oder ein Kinopublikum. Sontag hat alle Momente des möglichen Publikums in sich vereint: Sie gehörte zur Avantgarde, sie war mit der US-amerikanischen Gesellschaft entzweit und sie ging ins Kino. Sie kann also die Rolle der Kritikerin und Essayistin als Vertreterin und Erzieherin des Publikums unter den veränderten sozialen Verhältnissen erneuern. Und damit spielt sie ihren Part in der Herstellung einer Kulturwelt. Ein bedeutender Part, den Ort zu bilden, in den Künstler, Schriftsteller, Filmregisseure ihre Arbeiten setzen können und auf Wirkung hoffen. Solche Erneuerung einer Kultur- und Geisteswelt bewegt sich parallel zur Forcierung eines Kunstmarkts und auch gegen ihn. Gegen das Kapital. Ja, sie hat in der Negation ihren Halt. Die Kritik bildet sich ein, die Werke gemäß den eigenen Gesetzen der Kunst, ihrer

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ästhetischen Qualität und ihrer historischen Bedeutung zu verorten. Wie sehr sie sich dabei von der Wirklichkeit eines Publikums, das sie dem eigenen Verständnis nach vertritt, entfernt, zeigt sich besonders in Sontags Schreiben über Filme. Sie preist Godard für seine Zerstörung des Kinos, die Negation verschiebt sich vom Kapitalismus auf die Leute, die ins Kino gehen. Die feministische Kritik hingegen hob in den Siebzigerjahren mit der Frage nach dem weiblichen Publikum, der Wirklichkeit der Zuschauerin an.

Geisterwelt Sontag sagt, Kunst entsteht aus Bewusstsein. Kultur ist etwas Intel­ lektuelles.   Damit ist aber auch die Trennung zwischen Kritik und Kunst bedeutungslos. Das kommt dem Ehrgeiz Sontags entgegen, die letztlich allerdings doch erst einigermaßen zufrieden ist, als sie Romane veröffentlicht. Godard liebt Sontag vermutlich nicht zuletzt deswegen, weil er von den Cahiers du Cinema zum Filmmachen überging, weil für ihn beides Kritik war, das, was er im Schreiben, und das, was er im Filmen tat. Kulturwelt, die, das sieht Sontag klar, der Fundierung im sozialen Alltag entbehrt, wird Lüge. Es sei denn, sie erhebt sich, wird Welt des Geistes, Geisteswelt. Der marxsche Bruch mit Hegel betraf die Ge­neration der Fünfzigerjahre nicht. Trotzdem, irgendeine Basis muss der Geist in metaphysikloser Zeit haben  – er hat sie in den Werken, den Schriften, den Texten, und er existiert in denen, die diese schaffen, eben als »Intellekt«. Das ist aber nicht das, was der historische Materialist unter Basis verstand. Sontag denkt nicht ma­ terialistisch, sie denkt medial – lange vor der Expansion der Medienwissenschaft –, der Geist, der Intellekt braucht ein Medium, um zu existieren. Dieses Medium kann auch der Film sein. Sie sagt von Godard, dass er die »intellektuellen Inhalte« für seine Filme aus allen möglichen Kulturwerken nimmt.   Auch ihre Schriften zehren von den intellektuellen Inhalten der Werke anderer. Die Geister haben also kein Fleisch, sondern ein Medium. Aber wie existiert das? Kann es sein, dass es von dem menschlichen Fleisch zehrt, die menschliche Physis nur noch Materie bedeutet, die den Geist ernährt und erhält? Kannibalisches Verhalten.

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Was soll’s

Einst wurde die Ausbeutung der Frauen als Hausfrauen angeklagt, deren Leben die Sorge um Mann und Kind auffraß. Die moderne Frau, die sich dem verweigert, die sich aus solchen Zwängen emanzipiert, ist als Intellektuelle wiederum von der Ausbeutung der eigenen physischen Existenz bedroht. Doch rückt sie das in die Nähe der Welt des Geistes. Zur bürgerlichen Kulturwelt gehört(e) der Mythos, das Leben für das Werk zu opfern, in Armut leben und im Elend sterben. Diesen Hund will die neue Generation der Fünfzigerjahre allerdings nicht wieder hinter dem Ofen hervorlocken; mit dem traditionellen Publikum, das solches im Kopf hat, bricht sie.     Der moderne Geistesheros zeigt sich glanzvoll, gesichert im medialen Netzwerk. Er ist eher ein Star nach dem Vorbild des Kinos. Die Kritikerin Sontag trägt zu dieser Sicherung im medialen Netzwerk bei und zeigt sich zugleich selbst darin. Die Oberfläche verdeckt allerdings, wie sehr sich die Geisteswelt nach wie vor vom menschlichen Fleisch ernährt. Nur, dass sie den Zusammenhang mit dem ganz materiellen und physischen Leiden der Masse leugnet und stattdessen die Lust in diesen Prozessen in den Vordergrund schiebt. Auch das ist Sontag bewusst, der verlorene Zusammenhang wird reflektiert, die Frage, was heißt: Das Leiden anderer betrachten?

Der Fall Jack Smith    In Godard, in Bergman findet sich Sontag selbst wieder. Jack Smith ist ein anderer. Er lässt sich nicht in ihre Geisteskultur integrieren. Wenn sie über ihn schreibt, präsentiert sie sich als Kunstsachverständige, als Advokatin vor Gericht. Nein, keine Pornografie. Ja, selbstverständlich Kunst, Beispiele ähnlicher Art in der Geschichte lassen sich anführen. Überdies gehört er zu einer ganzen neuen Kunstrichtung. Pop Art. Solche Einordnungsversuche mögen als Strategien der Verteidigung taugen, aber gehen an Jack Smith’ Flaming Creatures vorbei. Am Ende verniedlicht der Text den Film. Mögen beide als camp gelabelt werden – es gibt kaum Gegensätzlicheres als Sontag und Smith. Die Ungetrenntheit von Leben und Werk, die Smith obsessiv durchsetzte, ist etwas ganz Anderes als die künstliche Ununterscheidbarkeit von Wirklichkeit und Traum, die Sontag an Bergman hervorhebt. Schauspiel enthüllt bei Smith –

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darin ganz filmisch – Wirklichkeit, auch und gerade in der Opulenz der Verkleidungen: »Flaming Creatures«. Für Sontag ist Schauspiel Maske. Wie das Leben. Sei’s drum. Was soll’s. Dank an Rembert Hüser, ohne den der Text weder begonnen noch ein Ende gefunden hätte.

Verwendete Werke Christine Noll Brinckmann: »Pianeta Venere. Der Planet Venus«, in: Frauen und Film 62 (2000), S. 104–107. Wayne Koestenbaum in: Regarding Susan Sontag, Regie: Nancy D. Kates, HBO 2014. Susan Sontag: »Jack Smith’s Flaming Creatures«, in: dies.: Against Interpretation, New York 1966, S. 226–231. Susan Sontag: »Bergmans Film Persona«, in: dies.: Gesten radikalen Willens, übers. von Jörg Trobitius, Frankfurt 2011, S. 154–181. Susan Sontag: »Godard«, in: dies: Gesten radikalen Willens, a.a.O., S. 182–232.

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Eva Meyer Das Theater der Theorie Kleists »allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« unterscheidet zwei Regeln der Belehrung. Will man Andere belehren, wird ein überzeugender Argumentationsgang erwartet, der keine Umstände macht und keine Erregung aufkommen lässt, weil »der Geist schon, vor aller Rede, mit dem Gedanken fertig ist«. Doch will dieser Geist sich selbst belehren, muss er »dreist« und »auf gutes Glück« hin einen Anfang machen, sich in Umstände und die daraus resultierende Erregung verwickeln, kurz: ein Theater machen, damit ihm unvorhergesehene Kräfte zuwachsen können. Wie gewöhnlich befinde ich mich mittendrin. Im selben Augenblick, da ich glaube endlich verstanden zu haben, bin ich weiter denn je vom Verstehen entfernt. Allein dieser Umstand genügt schon, mich in Erregung zu versetzen. Mein Geist wird nicht fertig mit seinem Gedanken, also äußere ich ihn – doch ohne mich damit ausdrücken zu können. Wohl braucht das Verstehen die Überschätzung des eigenen Standpunkts, doch was jetzt zählt, ist nicht mehr der Ausdruck meiner Subjektivität. Was zählt, ist meine Fähigkeit, mich in einen Zustand zu versetzen, der sich von einem sozusagen besseren Wissen abschneidet und auf die Zirkulation unpersönlicher Energien öffnet. Schon möglich, dass es dann nicht mehr zu einem abschließenden Gemeinplatz über die restaurative Kraft des Bewusstseins kommt. »Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß«, hat Kleist seinerzeit formuliert. Worum es hier geht, muss in der Theatralität seiner Szene geprüft und auf neue Wege der Vermittlung von Innen und Außen, Sinn und Sinnen, Selbst und Anderen, Fremdem und Eigenem geschickt werden. Sie verspricht keine Harmonie, auch nicht die einer »neuen Erlebnisweise«, die Susan Sontag als »potentiell einheitlich« imaginiert, weil sie »alle möglichen traditionell anerkannten Grenzen« einzureißen beginnt. Doch weil die Attraktion der Versöhnung  – wie Paul de Man sagt und Sontag weiß – nur zu leicht der Nährboden falscher Modelle und Metaphern ist, versteht auch sie das Neue eher als das Erneute, als

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das Ereignis der Differenz in neuer Zusammensetzung, wie es ihre und unsere Erlebnisweise erweitert. Nehmen wir also ruhig an, dass eine neue Erlebnisweise uns mitsamt unseren Theorien in ein Theater verwickelt, das sich auch einer alten Kompositionskraft verdankt. Sie nistet in der komplexen Etymologie von Theater und Theorie und produziert Differenzen, die sich zwischen geistigem Reflektieren und szenischem Zeigen vorantreiben. »Der Name ›Theorie‹ stammt von dem griechischen Zeitwort theorein«, auf dessen »hohe und geheimnisvolle Bedeutung« Heidegger aufmerksam gemacht hat. Sie ergibt sich aus dem Zusammenwachsen zweier »Stammwörter« und begründet die doppelte Bedeutung der Theorie als Schaufest und als Tätigkeit geistigen Anschauens. Es ist dann eine Frage der Übersetzung und der Übersetzung der Übersetzung, die »jedesmal ein Schicksal entscheidet«, bis die »moderne Wissenschaft« in all ihrem »Be-trachten« der »Art ihres Trachtens«, d.h. der »Art des nachstellend-sicherstellenden Vorgehens«, d.h. der »Methode«, den entscheidenden Vorrang gibt. Doch nicht ohne Rest. »Weil die moderne Wissenschaft als Theorie des Wirklichen auf dem Vorrang der Methode beruht, muß sie als Sicherstellen der Gegenstandsgebiete diese gegeneinander abgrenzen und das Abgegrenzte in Fächer eingrenzen«, es »einfächern«, wie Heidegger sagt, weil sie nur so auf ihre jeweilige Besonderheit eingehen kann. Ihre »Spezialisierung ist darum keineswegs eine verblendete Ausartung oder gar eine Verfallserscheinung der modernen Wissenschaft«, sondern »eine notwendige und die positive Folge« ihres »Wesens«. Aus der »Abgrenzung der Gegenstandsgebiete« und ihrer »Eingrenzung« in »Spezialzonen« aber ergibt sich ein »Grenzverkehr zwischen ihnen, wodurch sich Grenzgebiete abzeichnen«, denen »eine eigene Stoßkraft« innewohnt. »Man kennt diese Tatsache«, doch »ihr Grund bleibt rätselhaft« und zeigt sich als »etwas Erregendes«: als das »Unumgängliche für die Wissenschaften und durch sie unzugänglich«. Wir können es nicht begreifen, doch uns darauf besinnen. »Wir sind noch nicht bei der Besinnung, wenn wir nur bei Bewußtsein sind«, sagt Heidegger. »Besinnung ist mehr. Sie ist die Gelassenheit zum Fragwürdigen«, dessen »Schätze im Glanz jenes Nutzlosen leuchten, das sich nie verrechnen läßt«. Sie schickt uns auf Wege, die sich stets wandeln, »je nach der Wegstelle, an der ein Gang beginnt, je nach der Wegstrecke, die er durchmißt, je nach dem Weitblick, der sich unterwegs in das Fragwürdige öffnet«.

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Wer »als denkendes Wesen« durch Wissenschaft hindurch »auf verschiedenen Ebenen der Besinnung sich« bewegt und sie wachhält, erlebt, wie sie »im geeigneten Augenblick den Charakter des Fragens« verliert und im »einfachen Sagen« dem Fragwürdigen entspricht. Auch ein Zeitalter kann den geeigneten Augenblick einer Besinnung hervorrufen, wenn es eine Zeit des Aufbruchs ist, wie er die Sechzigerjahre in Europa und Amerika einleitet und Susan Sontag kulturpolitisch befeuert.     Zwischen dem Treibsand des Akademischen und dem Begehren nach einem Schriftstellerdasein hat sie »nicht das Gefühl, dass sie sich ausdrückt«, sondern teilnimmt an dem »erhabenen Unternehmen« einer »neuen Erlebnisweise«, für die sie unersättlich Bücher, Filme, sexuelle Abenteuer, intellektuelle Begegnungen, politische Diskussionen »gegen Interpretation« verarbeitet, um sie unter dem Aspekt der »sinnlichen Erfahrung« zu versammeln.   Ihren Begriff einer »Erlebnisweise« findet Sontag im ­Rückgriff auf T.S. Eliot, der im 17. Jahrhundert eine »Dissoziation der Erleb­ nisweise (sensibility)« einsetzen sieht, die uns in zwei Kulturen treibt. Ganz allgemein versteht Sontag darunter die vielbesprochene Kluft, »die sich angeblich mit dem Heraufkommen des industriellen Zeitalters vor zweihundert Jahren zwischen ›zwei Kulturen‹  – der literarisch-künstlerischen und der naturwissenschaftlichen  – aufgetan hat«. Doch warum, fragt Sontag, soll »ein intelligenter und konsequent denkender moderner Mensch stets nur einer der beiden« angehören und »zwar so, daß sich die andere für ihn grundsätzlich ausschließt«? Wohl hat er mit anderen Dokumenten, Methoden, Problemen zu tun und »sind die Wege, die zur Beherrschung dieser beiden Kulturen führen, außerordentlich verschieden«. Vor allem aber setzt »die Vorstellung jener ›zwei Kulturen‹« voraus, »daß Naturwissenschaft und Technik sich wandeln, in Bewegung sind, während die Kunst statisch ist«. Dass Kunst und Kultur- oder Geisteswissenschaften einander rechtfertigen können und sogar sollen, holt jede Dynamik einer Veränderung wieder ein und fundiert ihr Verhältnis auf Imperative der Anwendung und Deutung. Kunst soll »irgendeine ewige, allgemeine menschliche Funktion (Trost? Erbauung? Unterhaltung?)« erfüllen, auf »der Basis einer immer vager werdenden Ideologie des ­›Humanismus‹«, die immer deutlicher bedroht ist durch ein Gefühl der »Entmenschlichung durch die neue Naturwissenschaft und Technik«.

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Doch eben weil diese Basis sich auflöst, reklamiert Sontag auch für die Kunst »Entwicklung und Wandlung«. Statt ihr »Absterben« zu beklagen, begreift sie »eine Veränderung ihrer Funktion«. Kunst wird »mehr und mehr zu einem Terrain für Spezialisten« und ist in ihren interessantesten Werken »dem durchschnittlich Gebildeten nicht« mehr zugänglich. »Die Parallele zwischen der Kompliziertheit der zeitgenössischen Kunst und der der modernen Naturwissenschaft ist« für Sontag »zu offenkundig, als daß man sie übersehen könnte.« Sie nennt »Geschichtsbewußtsein«; Bezüge »auf die Geschichte des Mediums«, die »ebenso Akte der Kritik wie Akte der Schöpfung« sind; die »Entdeckung und Ausbeutung neuer Materialien und Methoden« aus »dem Bereich der industriellen Technik, der kommerziellen Prozesse und Vorstellungen«; die Vorliebe für »Analyse«, »Probleme«, »Konzepte«. Nicht zuletzt aber ist es ihr »experimenteller Charakter«, der die Kunst mit der Naturwissenschaft verbindet. Er entsteht »nicht auf Grund einer elitenhaften Verachtung für das, was der Mehrheit zugänglich ist, sondern in dem gleichen Sinne, in dem auch die Naturwissenschaft experimentell ist«. Denn maßgeblich für die Kunst ist jetzt nicht mehr eine Idee, die es umzusetzen gilt, sondern »die Analyse und Erweiterung der Wahrnehmungen«. Das verlangt nach einer »Schulung der Aufnahmefähigkeit«, deren Notwendigkeit Sontag begreift und zu ihrer Aufgabe macht. Kunst ist ihr »Instrument zur Modifizierung und Ausbildung der Erlebnisweise und des Bewußtseins«. Sie operiert inzwischen »in einer Umgebung, die sich nicht mehr mit den Sinnen erfassen läßt« und doch »stets an die Sinne gebunden« bleibt, gegen deren »Betäubung« sie ankämpft. Gegenüber der Besinnung eines alten Mannes kommt hier ein geradezu jugendlicher Glaube an die Wirkungskraft von Kunst zum Tragen und bringt sich sogar selbst auf die Medienbühne, um sich als Modell für die neue Erlebnisweise anzubieten, Politik inbegriffen. Das »sensorische Bewußtsein des Menschen« hat nämlich nicht nur eine Biologie. Es hat auch »eine spezifische Geschichte« der Wertschätzungen und der Unterdrückungen, die Sontag zufolge in einer »neuen und offenen Betrachtung der Welt« reflektiert werden muss. Eine »Schocktherapie« durch die Kunst kann unsere Sinne bis an die Schmerzgrenze verwirren und zugleich öffnen. »Es schmerzt, wenn die Sinne provoziert und stark beansprucht werden. Die neue Musik schmerzt die Ohren, die neue Malerei bietet keine Augenweide, die

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neuen Filme und die wenigen neuen Prosawerke von Interesse sind keineswegs eingängig« und werden deshalb als »schwer zugänglich« oder gern auch als »langweilig« abgetan. Doch »Langweiligkeit« ist für Sontag nur »ein anderer Name für eine bestimmte Art der Frustration«, die aufkommt, wenn gewünschte Normen nicht mehr erfüllt werden. Entscheidend für sie aber ist, dass sich »neue Normen« entwickeln können, »neue Normen der Schönheit, des Stils und des Geschmacks«. Auf einmal ist die neue Erlebnisweise nicht mehr »potentiell einheitlich«. Sie ist »herausfordernd pluralistisch« und »kennt den quälenden Ernst wie den Spaß, den Witz und die Wehmut«. Sie könnte unsere Sinneswahrnehmungen neu programmieren und sogar Vergnügen bereiten, wenn sie nicht mehr zwischen »hoher« und »niederer« Kultur unterscheidet. Gewiss ging es bei der Besinnung des alten Mannes um »ihr Wesen«, um ein »sich auf den Sinn« einlassen, der vielleicht von hoher Kultur zeugt. Doch ist für Heidegger die Besinnung »anderen Wesens auch als die Bildung«, deren Ideal und seine Herrschaft »eine fraglose, nach jeder Richtung gesicherte Lage des Menschen« voraussetzen, die wiederum »in einem Glauben an die unwiderstehliche Macht einer unveränderlichen Vernunft und ihrer Prinzipien« gründet. »Das Zeitalter der Bildung geht« aber »zu Ende«, wenn »Zeichen eines Weltalters sichtbar werden, in dem erst das Fragwürdige wieder die Tore zum Wesenhaften aller Dinge und Geschicke öffnet. Dem Anspruch der Weite, dem Anspruch des Verhaltens dieses Weltalters entsprechen wir, wenn wir beginnen, uns zu besinnen«, d.h. auf einen Ort zugehen, »von dem aus sich erst der Raum öffnet, den unser jeweiliges Tun und Lassen durchmißt«. Ein solcher Ort ist nie beschrieben worden. Dass er auch in Zukunft nicht beschrieben wird, soll uns aber nicht von ihm abhalten, weil wir im Gegenteil niemals genug davon bekommen können. Er ist nicht mit den Sinnen zu erfassen, in dem Sinn, wie die Sinne nicht der Plural von Sinn ist, der ihnen verborgen bleibt und doch durch sie hindurch wirkt. In dem Sinn, in dem die Sprache spricht, auch ohne Literatur zu werden, für die sie jedoch unumgänglich ist. Wir befinden uns hier in einem Grenzgebiet der besonderen Art, das von sich her selbst nicht zum Vorschein kommt. Wohl kann es gesehen, nicht jedoch eigens betrachtet werden. Eben deshalb nenne ich diesen Ort: Das Theater der Theorie, und sehe zu  – im doppelten

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Sinn von zusehen und herstellen, von Tun und Lassen – wie er erlebt werden kann. »Vieles auf der Welt hat nie einen Namen erhalten und vieles ist, selbst wenn man ihm einen Namen gegeben hat, nie beschrieben worden.« Für Sontag gehört dazu »jene Erlebnisweise (sensibility), die – unverkennbar modern, eine Variante des Intellektualismus, doch kaum identisch mit ihm – unter dem Kultnamen ›Camp‹ bekannt ist«. Wie über andere Erlebnisweisen ist auch über Camp am schwersten zu reden. Es gibt da »weder ein System noch Beweise«, deshalb kann man nur »tastend und beweglich zu Werke gehen«. Doch trotz dieses Apells an die natürlichen Sinne ist Camp keine »natürliche Weise des Erlebens. Zum Wesen des Camp gehört vielmehr die Liebe zum Unnatürlichen: zum Trick und zur Übertreibung. Und Camp ist esoterisch  – eine Art Geheimcode, ein Erkennungszeichen kleiner urbaner Gruppen.« Darüber »reden«, sagt Sontag, »heißt deshalb es verraten«. In Anbetracht dieses geradezu existenziellen Dilemmas sind wir gespannt, wie »die Verräterin« sich aus der Affäre zieht und ihren Verrat rechtfertigt. Wir kennen Sontags Verwerfung der intellektuellen Suche nach Bedeutungen, die sich in »Gegen Interpretation« Bahn bricht: Die Interpretation sei die »Rache des Intellekts an der Kunst« und reduziere das Kunstwerk auf seinen »Inhalt«, statt es sinnlich zu erfahren.   Doch der anti-intellektuelle Wutausbruch einer Intel­ lektuellen gegen sich selbst bleibt seltsam kontrolliert: Der sinnlichen Erfahrung wird nur das Wort geredet. Soll aber die Intensität des Erlebens auch eine Dichte des Denkens sein, muss es nicht nur Formulierungen für ein reiches Erleben finden, wie sie als »sensorische Fähigkeiten« und »Erotik der Kunst« Sontags Essay durchziehen und antagonistisch zum kritischen Räsonieren bleiben. Das Denken muss sich selbst ins Spiel bringen. Es rechtfertigt seinen Verrat nur, indem es sich selbst verrät. »Wenn der Verrat gerechtfertigt werden kann«, schreibt Sontag, »dann wegen der Erbauung, die er verschafft, oder wegen der Erhabenheit des Konflikts, der damit gelöst wird. Was mich betrifft, so berufe ich mich auf den Zweck der Erbauung meiner eigenen Person und auf den heftigen Konflikt, in dem ich mich in bezug auf meine eigene Erlebnisweise sehe. Camp zieht mich stark an und stößt mich fast ebenso stark ab. Aus diesem Grunde will und kann

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ich über Camp sprechen. Denn niemand, der mit ganzem Herzen an einer bestimmten Erlebnisweise teilhat, kann sie analysieren. Was er auch planen mag, er kann sie immer nur zur Schau stellen. Eine Erlebnisweise zu benennen, sie zu umreißen und ihre Geschichte eingehend darzulegen, erfordert eine tiefe Sympathie, modifiziert durch Abscheu.« Was sich hier zur Schau stellt, ist also eine halbherzige Er­leb­ nisweise, die sich ihre Wirkmacht mit dem Geist teilt und sich von antagonistischen Gefühlen antreiben lässt. Das ist kein Theater der petty passions von Susan Sontag.    Statt ihre Gefühle zur Schau zu stellen oder zur Schau zu stellen, wie sie diese unterdrückt, tut sie beides – und verliert und gewinnt. Sie verliert an Repräsentativität und gewinnt dafür einen strittigen Ersatzwert: die Intensität einer Präsenz. Wenn sie nicht vom Bedürfnis gelähmt ist, alles richtig zu machen, übersteigt die Intensität dieser Präsenz in ihrer Potenzialität die Mächtigkeit der Repräsentation. Dieser Ersatzwert ist – wie gesagt – strittig und kann viele Namen haben. Wenn er Camp heißt, ist er eine Frage des Geschmacks, die sich vom »Gut-schlecht-Schema der üblichen ästhetischen Wertung« abwendet. Das ist keine Frage der Umwertung. Es ist die Frage einer »schöpferischen« Erlebnisweise, in der und durch die Sontag zu »neuen Normen der Bewertung von Kunst (und Leben)« gelangen will. Doch weil es auch ums Leben geht, ist auch im geeigneten Augenblick eines Zeitalters das Fragwürdige nicht einfach zu sagen, wie Heideggers Verirrung in den Nationalsozialismus beweist. Es gibt kein einfaches Sagen, in dem nicht eine »einfach« natürliche Sprache ein »einfach« objektives Faktum instrumentalisiert. Und gegenwärtig im Namen einer Ideologie des Humanismus nicht nur den Islamischen Staat, sondern gleich den ganzen Nahen Osten mit Bomben überziehen könnte, wenn die dafür in Stellung gebrachten humanitären Argumente »einfach nur« genug durchdacht und angewandt würden, wie George Monbiot kürzlich, nämlich am 30.  September 2014 im Guardian ausführte. Dem Fragwürdigen kann nur vielfach entsprochen werden, doch nicht im multiperspektivischen Blick auf ein und dieselbe Sache. Schließlich handelt es sich dabei um die Intensität einer Präsenz, deren Reflexion und Affektion in Dissonanz mit sich selbst sind. Deshalb teilt und vervielfältigt sie sich in viele Perspektiven, die – für sich genommen – in Ungewissheit schweben.

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Doch im geeigneten Augenblick werden sie relativ gegenwärtig für einander. Sie zersetzen jede Sache zum bloßen Ort ihres Zusammentreffens, setzen einander fort, schließen sich kurz, bilden ihr eigenes Leben. Schon deshalb ist unter Camp nicht nur ein Medium neuer Einstellungen zu Sexualität und anderen Gefühlsbeziehungen zu verstehen. Camp ist »eine Art unter anderen, die Welt als ein ästhetisches Phänomen zu betrachten. Nicht um Schönheit geht es dabei, sondern um den Grad der Kunstmäßigkeit«. Anders gesagt: »Das Schönste am männlichen Mann ist etwas Weibliches, das Schönste an einer weiblichen Frau ist etwas Männliches«. Nur wer jede »natürliche« Bedeutung als »reines Kunstprodukt« mitdenkt, ist für das Schönste empfänglich, das ihn in Sympathie und Abscheu affiziert, wie er es nicht erklären kann. Sein Denken erweitert sich um eine affektive Dimension, die weiter reicht als seine Selbstgewissheit. Sie treibt Denken und Handeln, Innen und Außen in eine Ambivalenz, die nicht mehr natürlich ist, sondern ziemlich künstlich erscheint. »Der Camp-Geschmack ist für den ›momentanen Charakter‹ empfänglich […], nicht dagegen für die Entwicklung des Charakters«, wiederholt es Sontag und versteht »Charakter« als einen »Zustand kontinuierlicher Intensität. Dieses Verhältnis zum Charakter erklärt die Theatralisierung des Erfahrenen, die der Erlebnisweise des Camp eigen ist.« Auch wenn sie wie Dramen des Ichbewusstseins erscheint, eines Charakters, der nicht so sehr handelt als vielmehr sich selbst in Rollen dramatisiert, so ist diese Erlebnisweise doch keineswegs rein subjektiv, wenn sie sich mit der Umgebung ihrer Zeit verbindet und zum Schauplatz eines Handelns auf Probe wird. Der Schauplatz eines Geschehens, der sich im Übergang von der Tradition zur Moderne aus der objektiven Wirklichkeit der Welt objektiver Erscheinungen in die subjektive Wirklichkeit innerer Bewusstseinszustände verlegt hat, zeigt sich jetzt als das Ereignis eines Affekts in den Umständen seiner Erregung, die immer tiefere Schichten ergreift. Sein Außen ist deshalb weniger die Äußerlichkeit der physischen Welt als vielmehr die psychische Innerlichkeit eines durch die Projektionen eines Außen affizierten Ichs. Doch weil sie nicht von innen kommen, entwaffnen die tiefen Bewegungen der Seele die Psychologie, wie bereits Kierkegaard bemerkte. Sie lassen sich nur an der Art und Weise ermessen, wie sie ihr problematisches

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und dennoch nicht arbiträre Verhältnis von Innen und Außen auf sich selbst anwenden und sich mit ihm und durch es hindurch übersetzen. Je länger wir uns diesem Schauplatz aussetzen, desto mehr werden wir von seiner Übersetzungsarbeit ergriffen. Sie hofft auf neue Gelegenheiten und schafft neue Verbindungen. Obwohl Camp »das Ernste ins Frivole verwandelt«, geht es für Sontag um »gewichtige Angelegenheiten«, die aber wiederum nicht »in der Form der wissenschaftlichen Abhandlung« geäußert werden können, weil dies nur »peinlich« wäre.      Sie entscheidet sich für »die Form kurzer Anmerkungen«, um wahllos herauszugreifen, was ihre Wahl kanonisieren könnte  – nämlich sie selbst in der Grenzwertigkeit einer indirekten Erlebnisweise. »Camp ist eine Frau, die in einem Kleid aus drei Millionen Federn herumläuft«. Sie gelangt nur zu sich selbst, wenn sie einen Umweg einschlägt. Wenn sie sich mit fremden Federn schmückt und eine Version von sich spielt. Ob sie sich in ihren Szenarien selbst betrügt oder nicht, schenkt ihr einen Aufschub, der nicht frustriert und sogar Vergnügen bereitet, wenn die künstliche Anordnung ihrer mise en scène nicht zu kontrolliert bleibt. Wenn sie ihr nicht nur mit den Mitteln der Analyse und der Kritik auf den Grund geht, sondern alles in der queeren Strategie der Travestie, des Karneval, des Camp übersteigert. Erst wenn sie nicht mehr Herr der eigenen Sinne ist, gerät sie in einen Karneval der Zeichen, die in einer Welt ohne feste Hierarchien von Geschlechtern, von Mensch und Technik, von Geschmack oder auch Kunst zu agieren scheinen. Sie reagiert darauf – doch nicht durch Abgrenzung. Sie reagiert durch Aneignung und eine Überbietung, in der Witz und Aberwitz von Camp querschießen können und ihre Erlebnisweise theatralisch erweitern. Kommt es jetzt zu Ich etc., Sontags angereichertem Ich ihrer Samm­lung von Kurzgeschichten, das seine Suche nach Freiheit mit Doppelgängern verstärkt? In der Geschichte »Das Double« will sich ein Ich mithilfe eines eben solchen von der Routine seines Arbeitsund Familienlebens befreien. Dank Kunststoffen, einem Elektroingenieur, einem Künstler der alten realistischen Schule und – nicht zu vergessen – der Literatur gelingt das auch zunächst. Doch nach einigen Monaten originalgetreuen Funktionierens gerät das Double zunehmend in ein abweichendes Verhalten. Es zeigt »eine Leidenschaft«, deren »Mechanismus« das Original nicht begreift. Doch

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was heißt hier noch Original? Seine Pläne, die »grandiosesten Vorstellungen« von einem Leben im Windschatten seines Doubles – »Ich wollte Polarforscher sein, Konzertpianist, eine berühmte Kurtisane, ein Staatsmann von Weltrang. Ich versuchte Alexander der Große zu sein, dann Mozart, dann Bismarck, dann Greta Garbo, dann Elvis Presley« – all diese Rollen, die ausgetauscht werden könnten, sollten sie sich als Bürde erweisen, erweisen sich schließlich als die Bürde des Ich selbst. Das Ich hat es satt, eine Person zu sein, nicht nur die Person, die es war, »sondern grundsätzlich jede Person«. Also schlittert es »auf den Grund der Welt« und schläft »jetzt überall«. Umso mehr muss es sich auf sein Double verlassen können, das aber doch gerade und gewiss auch eben dadurch außer Kontrolle gerät. In dieser Schieflage hilft nur eines: Ein neues Double muss her! Aber die Frage ist jetzt: Soll es mehr dem »Original« oder dem alten »Double« gleichen, die beide ja längst nicht mehr dieselben sind? Die Geschichte endet schließlich in einer Ménage-à-trois, in der jeder eigene Wege geht. Das alte »Ich« bleibt zwar etwas auf der Strecke. Seine Entwicklung ist weniger der Rede wert als die Tatsache, dass es »beide, meine Doubles«, ab und an besucht. »Ich betrachte mich als ihr Verwandter und als Pate, manchmal als Onkel all ihrer Kinder. Sie sind nicht begeistert von meinem Besuch, aber sie haben nicht den Mut, mich rauszuschmeißen. Ich bleibe nie lange, aber ich wünsche ihnen das Beste und beglückwünsche mich, die Probleme dieses armseligen kurzen Lebens, das mir beschieden ist, auf so verantwortungsvolle Weise recht und billig gelöst zu haben.« Zwar hat sich das Original weitgehend aus der Gesellschaft zurückgezogen, seine Verdopplungen sind jedoch weiterhin aktiv und pflanzen sich künstlich fort. Kaum auf der Welt, sind sie schon ihr eigenes Zitat seiner unvorhergesehenen menschlichen Leidenschaft geworden. Deren Mechanismus aber kann und muss das Original nicht mehr begreifen. Denn in seiner unaufhebbaren Theatralität ist das Zitat schon selber handlungsfähig. Das ist Literatur, gewiss, es ist aber auch Camp und sogar Theorie, doch eine, die sich eines split-screens bedient. Damit ist eine Technik angesprochen, die örtlich versetzte, zeitlich aber parallel verlaufende Handlungen in einem geteilten Bild gleichzeitig zeigt. Doch während der split-screen im Allgemeinen eine omnipräsente und allwissende Instanz voraussetzt, verselbständigen sich jetzt seine Handlungen.

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Sie zersplittern diese Instanz in Perspektivsprünge, die vielleicht Anmerkungen zu Camp sind, sich jedoch nicht mehr zu einem Ganzen zusammenfügen. Camp spielt zwischen »champ« und »hors champ«, um es mit einem Begriffspaar des Kinos zu sagen. Mit »champ« ist das angesprochen, was im Bild ist, und mit »hors champ« dasjenige, was jenseits des Bilds ist, eine Person zum Beispiel, die nicht zu sehen ist, aber von der im Bild sichtbaren Person angesprochen wird. Das eine kann das andere überlappen, etwa wenn die Stimme der abwesenden Person zu hören ist oder wenn die Person im Bild auf etwas jenseits des Bildausschnitts blickt, das selbst unsichtbar bleibt. Das Kinopublikum sieht es nur indirekt, als Reflexion auf dem Gesicht desjenigen, der es betrachtet. Dass »champ« und »hors champ« kommensurabel sind, garantiert die Zeit als Maß der Bewegung in der doppelten Form des Intervalls und des Ganzen. Stellen Sie sich also vor, dass das Intervall suspendiert ist und die Zeit selbst andauern lässt. Das Unsichtbare bleibt nur indirekt erfahrbar, als Reflexionen auf den Gesichtern und in den Sprachen von Anderen, die sich in Serien von retroaktiven und progressiven Ideen als Dekor, als Requisiten, als sensuelles Material zur Schau stellen. Weil diese stets »etwas démesurés« erscheinen, sind sie nicht mehr zu einem Ganzen zu verrechnen. Weder gehen sie im Ganzen auf, noch sind sie ein Ausdruck davon. Vielmehr stören und beeinträchtigen sie es. Sie gehen darüber hinaus und verwandeln beides, das »champ« und das »hors-champ«, in Blickrichtungen auf einen im Unendlichen liegenden Punkt, das Inkommensurable. Angesichts dieses Aufbrechens der Zeit kommen uns die euklidischen Koordinaten abhanden. Wir können sie weder innerhalb eines Bilds noch mit ihm verwirklichen, weder in es integrieren noch mit ihm differenzieren. Wenn aber die Gewissheit des Raums ausgehöhlt ist, übernimmt die Zeit diese Rolle. »Natürlich kann der Kanon des Camp sich wandeln«, schreibt Sontag. »Die Zeit spielt dabei eine große Rolle. Die Zeit kann wertvoller machen, was uns heute einfach verbissen und phantasielos scheint, weil wir noch nicht genügend Abstand haben, weil es zu sehr unseren eigenen tagtäglichen Phantasien ähnelt, deren phantastische Natur wir nicht durchschauen. Wir sind eher in der Lage, eine Phantasie als Phantasie zu genießen, wenn es nicht die eigene ist.«

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Tatsächlich aber geht es nicht um Distanz, die ja nur eine weitere Repräsentation der Zeit durch den Raum ist. Es geht nicht darum, die Fantasie als Fantasie zu genießen. Es geht darum, die eigene tagtägliche Fantasie in einer Mischform von Erlebtem und Gespieltem zu theatralisieren und ihre Wechselbeziehungen auf jenen Schauplatz zu übertragen, der bislang dem einheitlichen und einzigen monologischen Bewusstsein vorbehalten war. Weil es in sich nie die ganze Fülle des Erlebens findet, reagiert es auf ein in performativen Settings aktiviertes Publikum und lässt sich in die Zeit fallen. Eine Fantasie ist vielleicht eine interessante Annäherung, doch eine allzu einfache Lösung für das Problem dieser dissoziierenden Präsenz des Anderen im Selbst, die sich frei zu äußern beginnt. Sie bricht sowohl Sontags als auch meinen Monolog und auch meinen Dialog mit ihr auf und spricht mit vielen Stimmen. Wie »die Mehrzahl der Kunstwerke des 20.« und des beginnenden 21. Jahrhunderts, deren Ziel »nicht die Schaffung von Harmonien ist, sondern die Überdehnung des Mediums und die Einführung immer zerstörerischer und unlösbarer werdender Probleme«, die nach »anderen Normen« als den traditionell üblichen verlangen. »Etwas ist gut«, sagt Sontag, »nicht weil es vollendet ist, sondern weil damit eine neue Wahrheit über die Situation des Menschen, eine neue Erfahrung dessen, was es heißt, ein Mensch zu sein – kurz, eine neue, gültige Erlebnisweise aufgezeigt wird.« Gültig insofern, wäre hier noch hinzuzufügen, als sie vorläufig ist und auf Zeit handelt. Denn diese Erlebnisweise ist nicht eine unter vielen, deren kollektive oder distributive Einheit sie in ein und derselben Sprache vermittelt. Wenn die Präsenz des Anderen im Selbst bis ins Unendliche reicht, muss eine entsprechende Erlebnisweise mit einer Vielstimmigkeit rechnen, in der stets eine Stimme in einer anderen hörbar wird. Sie borgt sich mehrere Sprachen, einmal eine Alltagssprache, ein andermal die Sprache einer Gruppe, die Sprache der Wissenschaft, der Literatur, der Kunst. Gelegentlich verfällt sie in die Sprache einer anderen Person, in der einzigen Gewissheit, dass diese sich nur so frei äußern kann. Auf diese Weise bilden Personen und Genres eine freie und indirekte Rede, deren allmähliche Verfassung ihre freie und indirekte Sicht bildet, das, was sie sehen, was sie wissen, was sie nicht wissen. In dieser Verfassung äußern sie sich frei, während die

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Verfassung selbst sich indirekt in der Rede-Sicht der Personen äußert und damit ihr Recht auf ihre Erlebnisweise bestätigt und erneuert. Der Mensch ist nicht die Einheit der Welt. Er ist die Pause eines Zwischenraums, dessen Fragwürdigkeit ihn einer indirekten Funktionsweise mit der Welt überantwortet. Auch wenn seine physische Realität in einem unentwirrbaren Netz immaterieller Re­ lationen zu verschwinden droht, so wird er sich doch an die Zeit halten können, die seinen Zwischenraum besetzt und andauern lässt. Die Zeit ist nicht der direkte und ausschließliche Blick auf das Historische, seine Erzählung eines Wir, das uns in der Gemeinsamkeit einer Idee vom Menschen versammelt. Die Zeit ist die Verschiedenheit, in der wir gleich sind und unseren Reichtum an Erlebnisweisen haben. Im geeigneten Augenblick ergreift sie uns, wie wir sie begreifen – und montiert ein neues Bild von uns selbst.

Zitierte Werke Martin Heidegger: »Wissenschaft und Besinnung«, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 45–70. Heinrich von Kleist: »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«, in: ders.: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, Band II/9: Sonstige Prosa, hg. von Roland Reuß und Peter Staengle, Frankfurt 2007, S. 25–32. George Monbiot: »Why stop at Isis when we could bomb the whole Muslim world?«, in: The Guardian, 30.9.2014, https://www.theguardian.com/ commentisfree/2014/sep/30/isis-bomb-muslim-world-air-strikes-saudiarabia (aufgerufen: 17.5.2017). Susan Sontag: »Gegen Interpretation«, in: dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, übers. von Mark W. Rien, München 2003, S. 11–22. Susan Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 322–341. Susan Sontag: »Die Einheit der Kultur und die neue Erlebnisweise«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 342–354. Susan Sontag: »Das Double«, in: dies.: Ich etc., übers. von Marianne Frisch, München 2003, S. 84–93.

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»Zwei Staatsbürgerschaften, eine im Reich der Gesunden und eine im Reich der Kranken«

Nicola Behrmann Krankheit und Avantgarde Sontags Metaphern

Susan Sontags Essay Krankheit als Metapher ist erstmals 1977 erschienen als eine Warnung davor, die Krankheit Krebs anhand von falschen und irreführenden, fatalistischen oder militärischen Sinnbildern zu interpretieren. Er beginnt mit den Worten: »Krankheit ist die Nachtseite des Lebens, eine eher lästige Staatsbürgerschaft. Jeder, der geboren wird, besitzt zwei Staatsbürgerschaften, eine im Reich der Gesunden und eine im Reich der Kranken. Und wenn wir alle es auch vorziehen, nur den guten Paß zu benutzen, früher oder später ist doch jeder von uns gezwungen, wenigstens für eine Weile, sich als Bürger jenes anderen Ortes auszuweisen.«1

Als unaufgelöstes, dunkles Bild liest sich dieser erste Absatz – eine Präambel, rätselhaft und offenkundig aus der Erfahrung gewonnen, wie ein Stück verschütteter Autobiografie. Im weiteren Verlauf des Essays wird auf diesen Satz nicht wieder Bezug genommen. Im Gegenteil. Es sei ihr nicht darum gegangen, erläutert Sontag sofort, zu beschreiben, »was es wirklich bedeutet, ins Reich der Kranken zu emigrieren und dort zu leben, […] sondern die Straf- oder Gefühlsphantasien, die man damit verbindet«, darzustellen.2 Jahre später wird sie in dem Essay Aids und seine Metaphern (1988) diesen Beginn als »hektische Metaphern-Kaskade« bezeichnen, eine Art »scherzhafter Exorzismus gegen die Verlockungen metaphorischen Denkens«.3 Im Text selbst finden sich jedoch keine Hinweise darauf, dass diese Metaphern-Kaskade ironisch zu verstehen ist. Warum

1 Susan Sontag: Krankheit als Metapher, übers. von Karin Kersten und Caroline Neubaur, München 1978, S. 5. 2 Ebd. 3 Susan Sontag: Aids und seine Metaphern, übers. von Holger Fliessbach, München 1989, S. 7.

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beginnt Sontag ihren Essay mit solchen mächtigen und evokativen Metaphern  – die Nachtseite des Lebens und die Staatsbürgerschaft im Reich der Gesunden und im Reich der Kranken – nur um sie im nächsten Atemzug wieder zu verwerfen? Krankheit als Metapher war gedacht als ein aufklärerischer Diskurs angesichts jener instabilen, düsteren Assoziationen, die diese Krankheit auslöst. Zeigen wollte Sontag, »daß Krankheit keine Metapher ist und daß die ehrlichste Weise, sich mit ihr auseinanderzusetzen – und die gesündeste Weise, krank zu sein – darin besteht, sich so weit wie möglich von metaphorischem Denken zu lösen«.4 Autobiografische Bekenntnisse und Reflexionen hielt Sontag in der Konfrontation mit der Krankheit ebenfalls für nicht zweckdienlich: »Es wäre meines Erachtens nicht hilfreich gewesen – und hilfreich sollte mein Büchlein ja sein – zum soundsovielten Male ›aus der Sicht einer Betroffenen‹ zu schildern, wie jemand von seiner Krebserkrankung erfährt, wie er weint, mit dem Schicksal hadert, sich tröstet, leidet und wieder Mut faßt – obgleich das auch meine Geschichte gewesen wäre.«5

   Sontag schreibt aus der Perspektive einer, die die Gleichung »Krebs = Tod«6 überwunden hat und von der Nachtseite des Lebens wieder hinüber zu den Gesunden gewechselt ist. Erfolgsgeschichten, während man auf seine Diagnose wartet oder auf die Diagnose einer schweren Krankheit reagieren muss, sind in der Tat zum Fürchten, und vielleicht sind es die Skrupel einer Überlebenden, die Sontag dazu veranlassten, ihre eigene Geschichte strikt zu vermeiden.

Krebs als Metapher Sontags Krankheit als Metapher ist nur ein Jahr nach Fritz Zorns Krankheitsgeschichte Mars erschienen, ein Text, in dem Krebs als Metapher des verfehlten und ungelebten Lebens eines reichen, unglücklichen Jungen aus der Zürcher Oberschicht interpretiert wird. In Bezug auf 4 5 6

Sontag: Krankheit als Metapher, a.a.O., S. 5, Hervorhebung im Original. Sontag: Aids und seine Metaphern, a.a.O., S. 15. Sontag: Krankheit als Metapher, a.a.O., S. 22.

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seine Erkrankung will Zorn »intuitiv die richtige Diagnose« gestellt haben, »denn ich betrachtete den Tumor als ›verschluckte Tränen‹«.7 Sontag, die dieses Buch vermutlich nicht kannte, entwickelt in Krank­ heit als Metapher ein eindringliches Argument gegen die intensiven melancholischen Selbstanklagen, die den hemmungslosen Redestrom Fritz Zorns mobilisierten. Für hoch problematisch erklärt sie ferner die Krebstheorien von Wilhelm Reich (1897–1957) und Georg Groddeck (1866–1934), die den Menschen für seine Krankheit verantwortlich machen und unterdrückte Gefühle und Gewalt als Ursache für Krebs annehmen: »Solche albernen und gefährlichen Ansichten bringen es zuwege, daß die Last der Krankheit dem Patienten aufgebürdet wird […].«8 Nachdrücklich warnt sie warnt davor, aus einem fundamental sinnlosen Ereignis einen Sinn und Zusammenhang zu konstruieren und Krankheit einem persönlichen Schuldkomplex zu unterstellen. Sontags Essay hat somit wesentlich dazu beigetragen, mit der Krankheit Krebs ›objektiv‹ umzugehen. Die neun Kapitel von Krankheit als Metapher handeln von der Geschichte der Zuschreibungen, mit denen die Krankheiten Tuberkulose und Krebs belegt worden sind. Sontag trägt sie ebenso zielsicher zusammen wie die Beispiele für die Verschränkung von Kult, Kitsch und Popkultur in ihrem Essay »Anmerkungen zu ›Camp‹« (1964). Im Mittelpunkt steht zunächst die Tuberkulose als Krankheit spiritueller Vergeistigung und Dekadenz, die jedoch zum Zeitpunkt, als Sontag ihren Essay schreibt, in den meisten Ländern historisch geworden ist. Zum Krebs kann Sontag sehr viel weniger literarische Verweise zusammentragen. Verglichen mit der Flut von Romanen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert zum Thema Tuberkulose werde die Krebserkrankung, so Sontag, als geschichtslos dargestellt und zeichne sich vor allem durch ihre Bildarmut und Unsichtbarkeit aus. Stattdessen werde Krebs zum Synonym eines verfehlten Lebens, in dem Gefühle und Aggressionen unterdrückt worden seien.    Auf­ fallend ist die Abwesenheit eines korrigierenden medizinischen Diskurses in Sontags Argumentation. Entmythisierung im Sinne me­ dizinischer Klärung betreibt sie dezidiert nicht. »Mein Thema«, so

7 8

Fritz Zorn: Mars, Frankfurt 1979, S. 131. Sontag: Krankheit als Metapher, a.a.O., S. 50.

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Sontag, »ist nicht die physische Krankheit als solche, sondern die Verwendung der Krankheit als Bild oder Metapher.«9 Das für die heutige Krebsforschung wichtige Gebiet der Psychoneuroimmunologie war zum Zeitpunkt der Entstehung von Krankheit als Metapher einer breiteren Öffentlichkeit noch so gut wie unbekannt. Die Deutungsmuster zum Krebs misst Sontag daher nicht an wie auch immer vorläufigen und unsicheren wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern setzt sie schlicht in Umlauf: Sie zirkulieren durch ihren Text, der sie wiederum nur durch scharfsinnige, aber apodiktische Urteile (»[s] olche albernen und gefährlichen Ansichten«) zu bändigen vermag. Um vor der Gefahr zu warnen, eine Krankheit wie Krebs meta­ phorisch zu überhöhen, zitiert Sontag eine Bemerkung des Psychiaters Karl Menninger (1893–1990), dass bei einigen seiner Patienten die bloße Aussprache der Diagnose genügt hätte, sie zu töten. Die »Lösung«10 solcher tödlichen Demoralisierung, so Sontag, könne nur darin bestehen, zu einer Entmythisierung dieser Krankheit beizutragen. Ihre Auffassung, dass im Fall von Krebs, der »radikalste[n] der Krankheitsmetaphern«,11 gerade die Metaphernbildung lebensgefährlich sein könne, sobald man ihr Glauben schenke, bestätigt jedoch letzten Endes nur das, wovor Sontag eigentlich warnen wollte: das Wechselverhältnis von Metapher und Krankheit. Ähnlich wie in ihrem erstmals 1964 erschienenen Essay »Gegen Interpretation« scheint Sontag vom Denken in Metaphern und somit von der Hermeneutik – der Interpretation sinnbildender Momente eines Textes oder Sachverhalts  – nicht loszukommen. Was zum Beispiel bedeutet es, wenn sie sagt: »Krebs hat nur wahre Symptome«?12 Mehrmals noch tauchen sprachliche Bilder in Krankheit als Metapher auf, die dort nicht hinzugehören scheinen und die Lektüre mit Bedeutung aufladen, ohne sie zu erweitern: »Dieser Klumpen ist jedoch lebendig, ein Fötus mit eigenem Willen.«13 Oder: »Krebs ist eine dämonische Schwangerschaft.«14

9 10 11 12 13 14

Ebd., S. 5. Ebd., S. 9. Ebd., S. 92. Ebd., S. 15. Ebd., S. 16. Ebd.

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Kunst und Antikunst Bis heute ist Krebs eine Krankheit, die uns radikal auf uns selbst zurückwirft, und der Wert des eigenen Lebens wird kaum jemals intensiver gespürt als nach der Diagnose dieser möglicherweise unheilbaren Krankheit. Was dabei erfahren wird, ist zunächst ein Zusammenbruch ebenjener Metaphern, deren Abschaffung Sontag so selbstbewusst eingefordert hat. Die Erfahrung kollabierender Bedeutungssysteme ist nicht nur der radikale Akut des Krebskranken. Sie ist auch eng verbunden mit dem Diskurs der sogenannten historischen Avantgarden des beginnenden 20.  Jahrhunderts, jener radikalen Zuspitzung der Moderne, die in Kunstbewegungen wie Dadaismus oder Surrealismus kulminierte und deren Kanon Sontag in ihren Essays mitdefiniert, passioniert verteidigt und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Krankheit und Avantgarde verbindet die Erfahrung der Katastrophe: dass sich ein Ereignis nicht länger in einen Sinnzusammenhang bringen lässt. Aus dieser Erfahrung kann eine grenzenlose Ohnmacht und zugleich intensive Euphorie folgen. Die Krebsdiagnose betrifft uns unmittelbar und produziert eine eigene Szene der Interpellation. Wer an Krebs erkrankt, hat auf ein­mal sehr wenig Zeit. Nach der Diagnose einer tödlichen Krankheit erscheint die eigene Lebenszeit plötzlich reduziert auf eine durchschnittliche Lebenserwartung, die auf Wikipedia nachgelesen werden kann. Für eine Chemotherapie muss man sich spätestens sechs Wochen nach der Diagnose entschieden haben, danach ist es zu spät. Es bleibt keine Zeit für die Vergangenheit oder dafür, rückblickend auf eine Sinn- und Metaphernsuche zu gehen. Auch für die Zukunft, für einen Plan, eine Strategie ist keine Zeit. Dieser extreme Zeitmangel erzeugt das Gefühl einer Verdichtung und ungeheuren Präsenz. Wir sind ganz da. Alles, was wir in diesen Momenten lesen, ist überdeterminiert und zugleich offen für Bedeutungen. Wie ein Kind, ein Psychotiker oder ein dadaistischer Tänzer sehen wir uns scheinbar vollkommen in die Gegenwart gestellt und zugleich radikal auf uns selbst zurückgeworfen. Und häufig machen wir in dieser Geworfenheit auf die »Nachtseite des Lebens« eine intensive Erfahrung des Mitseins. Die Disposition des unheilbar Kranken gehört wesentlich zum Er­­­fahrungshorizont der Avantgarden des 20.  Jahrhunderts  – und

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formuliert sich in der Erfahrung einer radikalen Isolation (Exil), einer unabwendbaren Katastrophe (Krieg) und zugleich einer überwältigenden Immanenz. Nicht von ungefähr suggeriert die deutsche Übersetzung von Sontags Essaysammlung Against Interpretation (1966) eine unmittelbare Nachbarschaft zu einem Schlüsseltext der sogenannten historischen Avantgarden: Die deutsche Ausgabe von Against Interpretation erschien 1968 unter dem Titel Kunst und Anti­ kunst. So hatte nur vier Jahre zuvor der dadaistische Filmemacher Hans Richter seine Memoiren betitelt: In Dada – Kunst und Antikunst (1964) zeichnet er die Geschichte der Dada-Bewegung anhand einer Reihe von Kurzporträts und zahlreicher Anekdoten nach. Eine solche Kanonisierung der historischen Avantgarden mittels einer Zusammenschau von Autoren- und Künstlerporträts war auch Sontags bevorzugte Weise der Darstellung  – sowohl Kunst und Antikunst als auch die Essaysammlungen Gesten radikalen Willens (1969) und Im Zeichen des Saturn (1980) enthalten vornehmlich biografische Porträts von Filmemachern, Schriftstellern oder Theoretikern der Moderne. Neben dem Interesse an für die Moderne oder Avantgarde repräsentativen Persönlichkeiten verbindet Richter und Sontag das Misstrauen gegen Kunst und Metapher: Die dadaistische Haltung der Antikunst, wie sie Richter entwickelt, widersteht nachvollziehbaren Inhalten, Repräsentationssystemen und hermeneutischer Lektüre. Sie ist eine Geste gegen die Usurpation der Sprache durch ihre Interpreten, was bereits Hugo Ball im »Dadaistischen Manifest« (1916) wie folgt postulierte: »Diese vermaledeite Sprache, an der Schmutz klebt, wie von Maklerhänden, die die Münzen abgegriffen haben. Das Wort will ich haben, wo es aufhört und wo es anfängt. […] Jede Sache hat ihr Wort; aber das Wort ist eine Sache für sich geworden. […] Warum kann der Baum nicht ›Pluplusch‹ heissen? und ›Pluplubasch‹, wenn es geregnet hat? Und warum muss er überhaupt etwas heissen? Müssen wir denn überall unseren Mund dran hängen?«15

15 Hugo Ball: »Das erste dadaistische Manifest«, in: ders.: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften, hg. von Burkhard Schlichting, Frankfurt 1976, S. 39–40, hier S. 40.

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Das hier von Ball formulierte Misstrauen gegen die Worte, in denen Inhalt und Form luftdicht hermeneutisch miteinander verschweißt werden, findet sich auch in Sontags Umgang mit Krankheit und Katastrophe bzw. mit Kunst und Ästhetik. Während Ball das Lockerwerden der Verbindung zwischen Signifikant und Signifikat spielerisch erprobt bzw. melancholisch fordert, konzentriert sich die Literaturkritikerin Sontag auf den – für sie gewaltsamen – Umgang mit Krankheit in der Interpretation. Sontag zufolge ist der Gestus der Interpretation gleichbedeutend mit einem »Bewußtseinsakt, der einen bestimmten Kodex, bestimmte ›Regeln‹ […] veranschaulicht«, einem »Herausgreifen einer Reihe von Elementen (das X, das Y, das Z und so weiter) aus dem Werkganzen« und einem »Verlangen nach Umformung des Textes«.16 Die »Aufgabe der Interpretation« ist daher für Sontag »im Grunde eine Übersetzungsarbeit«.17 Vermutlich kannte Sontag zu diesem Zeitpunkt Walter Benjamins Aufsatz »Die Aufgabe des Übersetzers« (1923) noch nicht, der in der englischen Übersetzung von Harry Zohn erst 1968 vorlag, vier Jahre nach der Publikation des Essays »Gegen Interpretation«.18 Darin entwickelt Benjamin eine Theorie der Interpretation als eine Form der Übersetzung: »Übersetzung ist eine Form. Sie als solche zu erfassen, gilt es zurückzugehen auf das Original. Denn in ihm liegt deren Gesetz als in dessen Übersetzbarkeit beschlossen. […] Wenn Übersetzung eine Form ist, so muß Übersetzbarkeit gewissen Werken wesentlich sein.«19

16 Susan Sontag: »Gegen Interpretation«, in: dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, übers. von Mark W. Rien, München 2003, S. 11–22, hier S. 13. 17 Ebd. Übersetzung geändert, N.B. 18 Walter Benjamin: »The Task of the Translator«, in: ders.: Illuminations: Essays and Reflections, hg. von Hannah Arendt, übers. von Harry Zohn, New York 1968, S. 69–82. Das englische »task of interpretation« wurde in der deutschen Übersetzung von Sontags Essay zu »Übersetzungsarbeit«, so dass der Bezug zu Benjamins Aufsatz nicht ohne Weiteres herzustellen ist. 19 Walter Benjamin: »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. IV.1, hg. von Tillman Rexroth, Frankfurt 1981, S. 9–21, hier S. 9f.

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Für Benjamin besteht ein »natürlicher« Zusammenhang zwischen Übersetzung und Original: Die Übersetzung ermöglicht das Überleben eines Originals. In der Übersetzung »erreicht das Leben des Originals seine stets erneute späteste und umfassendste Entfaltung«.20 Er unterscheidet dabei zwischen der Intention des Gemeinten und der Art des Meinens: Brot und pain bedeute dasselbe, aber die, wie er es nennt, »Art des Meinens« ist nicht dasselbe wie »das Gemeinte«.21 In Benjamins Lektüreverfahren wird der Aspekt des Übersetzens und Weitertragens gegenüber dem der Auslegung und Deutung hervorgehoben. Übersetzung wird bei Benjamin zu einem Echo des Originals. Sontag hingegen persifliert die apodiktische Geste des Interpreten, der eine ästhetische Aussage auf einen Sachverhalt reduziert: »Der Interpret sagt: Schaut her, seht ihr nicht, daß X in Wirklichkeit A ist – oder bedeutet? Daß Y in Wirklichkeit B ist? Daß Z in Wirklichkeit C ist?«22 Dieses hermeneutische Bestreben des Interpreten ist Sontag auch an der psychoanalytischen talking cure so verhasst gewesen, in der Bildern und Affekten eine Sprache verliehen und eine bewusst getroffene Aussage in einen unbewussten Wunsch übersetzt wird: »Die meistgepriesenen und einflußreichsten modernen Lehren, die von Marx und Freud, laufen letztlich auf ein wohldurchdachtes herme­neu­ tisches System hinaus, auf aggressive und pietätlose Interpretationstheorien. Alle wahrnehmbaren Phänomene werden, wie Freud sagt, als manifester Inhalt klassifiziert. Dieser manifeste Inhalt muß untersucht und beiseite geräumt werden, damit die wahre Bedeutung – der latente Inhalt – drunter sichtbar wird.«23

Sontags Misstrauen gegen die Hermeneutik als eine Wissenschaft, die jedem Phänomen einen bedeutungsvollen Subtext unterstellt, trifft den Psychoanalytiker ebenso wie den Mediziner, dessen Diagnose auf den Deutungsmustern und Metaphern der Krebserkrankung gründet. Die Psychoanalyse, die ihr zeitlebens verdächtig war als eine der 20 21 22 23

Ebd., S. 11. Ebd., S. 14. Sontag: »Gegen Interpretation«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 13. Ebd., S. 15.

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Hermeneutik, also der geschlossenen Interpretation verpflichtete Methode, macht Sontag nicht zuletzt auch für die ›falschen‹ und, wie sie suggeriert, ›tödlichen‹ Lektüre- und Interpretationsverfahren im Umgang mit Krankheit verantwortlich. Sontags Kritik an der Interpretation steht in einem seltsamen Spannungsverhältnis zu den Arbeiten einer Reihe von Kollegen ab den frühen Achtzigerjahren: Paul de Man, Jacques Derrida oder Jean-François Lyotard verstanden die Hermeneutik zwar als ein Textbegehren, aber nicht länger als Lektüreschlüssel, und sie entwickelten auf unterschiedliche Weise, aber in engem Bezug aufeinander und nicht zuletzt unter Rekurs auf die Arbeiten des von Sontag bewunderten Walter Benjamin, dekonstruktive Modelle against interpretation. Ungeachtet ihres Gespürs für die autoritativen Fallstricke der Hermeneutik geht Sontags Ansatz über eine generalisierende Kritik an der Interpretation kaum hinaus.

Trauer und Melancholie   Es gehört ferner zu den Merkwürdigkeiten ihres Schreibens, dass Sontag stilistisch häufig genau das Gegenteil von dem tut, was sie in ihren Texten fordert: Wenn sie vor der Metaphorisierung von Krankheit warnt, dann ist ihre Argumentation alles andere als frei von Metaphern. Wenn sie über die moderne Tendenz zur Historisierung schreibt, wird diese Tendenz unweigerlich historisiert. Sontags Essay über Emil Cioran etwa beginnt mit den Worten: »Wir leben in einer Zeit, in der jedes intellektuelle oder künstlerische oder moralische Ereignis von einer raubgierigen Umarmung des Bewußtseins vereinnahmt wird: der Historisierung.«24 Die Kritik an der Historisierung wird also von einer historiografischen Geste (»Wir leben in einer Zeit«) und einer Metapher (»raubgierigen Umarmung des Bewußt­ seins«) begleitet. Auch andernorts – vor allem in ihren häufig noch zu Lebzeiten der Autoren verfassten essayistischen Porträts oder ihrem Aufsatz über das Kino des 20. Jahrhunderts – formuliert Sontag 24 Vgl. Susan Sontag: »›Wider sich denken‹: Reflexionen über Cioran«, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, übers. von Werner Fuld u.a., München 2003, S. 19–42, hier S. 19.

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historisierend, häufig superlativisch, mit Blick auf einen von ihr entscheidend mitetablierten historischen Kanon der Moderne: »[V]on all den intellektuellen Notablen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich zu Wort gemeldet haben, bin ich gerade bei Roland Barthes am zuversichtlichsten, daß sein Werk überdauern wird.«25  – »In der tiefsinnigsten Meditation des westlichen Kulturkreises über das Puppentheater […] schrieb Kleist […].«26  – »Robert Walser ist einer der wichtigen deutschsprachigen Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts  – ein bedeutender Schriftsteller […].«27  – »[B]ei den ersten Sätzen von Juan Rulfos Pedro Páramo [wissen wir] sogleich, daß wir in den Händen eines Meistererzählers sind.«28 – »Lieber Borges, […] [w]enn je ein Zeitgenosse für literarische Unsterblichkeit bestimmt schien, dann waren es Sie.«29 – »Das Kino, das einst als die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts verkündet wurde, scheint heute, da das Jahrhundert von der Ziffer her zu Ende geht, eine dekadente Kunst zu sein.«30

Interpretation ersetzt Sontag also durch eine Literaturkritik, die den historischen Horizont und die Größe ihres jeweiligen sujets ab­ misst. Wir kennen Sontags »Katalogisierungssucht« und ihren »seltsamen Drang, zu spezifizieren«31 bereits aus dem Essay »Anmerkungen zu ›Camp‹«, diesem grandiosen Archiv der selbstironischen Popkultur. Man mag ihrer entschiedenen, fast immer wohlmeinenden Stimme – es ist die Stimme einer Literaturkritikerin und Professorin 25 Susan Sontag: »Das Schreiben selbst. Über Roland Barthes«, in: dies.: Worauf es ankommt, übers. von Jörg Trobitius, München 2005, S. 90–124, hier S. 90f. 26 Susan Sontag: »Eine Anmerkung zu Bunraku«, in: dies.: Worauf es ankommt, a.a.O., S. 179–183, hier S. 182. 27 Susan Sontag: »Walsers Stimme«, in: dies.: Worauf es ankommt, a.a.O., S. 125– 128, hier S. 125. 28 Susan Sontag: »Pedro Páramo«, in: dies.: Worauf es ankommt, a.a.O., S. 147– 150, hier S. 147. 29 Susan Sontag: »Ein Brief an Borges«, in: dies.: Worauf es ankommt, a.a.O., S. 153–155, hier S. 153. 30 Susan Sontag: »Ein Jahrhundert Kino«, in: dies.: Worauf es ankommt, a.a.O., S. 159–166, hier S. 159, Hervorhebung im Original. 31 Terry Castle: »Some Notes on ›Notes on Camp‹«, in: Barbara Ching und Jennifer A. Wagner-Lawlor (Hg.): The Scandal of Susan Sontag, New York 2009, S. 21–32, hier S. 23, Hervorhebung im Original.

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und zugleich die einer unbefangenen, aber einer politisch engagierten Leserin  – zustimmen oder ihr vehement widersprechen: Sontags Schreiben bleibt der Widerspruch inhärent, dass sie selbst immer wieder in der Pose und aus der Perspektive jenes Kritikers schreibt, gegen den sie im Essay selbst kämpferisch angeht.   Ausgerechnet ihre konservativen  – und fast immer männlichen  – Kritiker hat Sontags autoritativer Stil häufig verärgert: So beklagte Christopher Lehmann-Haupt in einer Rezension, dass Sontag niemals »definiert […], was an ihrem Thema sie eigentlich beschäftigt. Dies gibt dem Leser das Gefühl, dass er entweder ein wesentliches Argument verpasst hat oder dass etwas […] im Text schlichtweg fehlt«.32 Sontag schreibt weder verschmitzt noch selbstironisch, weder selbstreflexiv noch performativ, sondern im besten Sinne traditionell: Sie bleibt dem amerikanischen final paper verpflichtet, das die gängigen rubrics (das A+) übersteigt und mit allen Gesten des frühzeitig Professoralen ausgestattet ist.     Ein beständiges Verorten, Verzeichnen und Be­werten, die großen Gesten historisierender Literaturkritik kennzeichnen ihre Essays. Auch Krankheit als Metapher ist getragen von diesem Bestreben: die Geschichte der Krankheitsmetaphern zu schreiben und sie durch Historisierung zu überwinden. So klingt Krankheit als Metapher in einer erstaunlichen Prophezeiung aus: Wenn der Krebs erst einmal entmythisiert und von falschen Metaphern befreit worden sei, werde es, »im Gegensatz zu heute, vielleicht moralisch zulässig, Krebs als Metapher zu verwenden«.33 Was soll man von diesem Zusatz halten, der noch die Absage an die Interpretation und das Misstrauen gegen die Metapher historisch auffasst? Und in »Gegen Interpretation« heißt es: »Irgendwann in der Vergangenheit […] mag es einmal ein revolutionärer und schöpferischer Akt gewesen sein, Kunstwerke zu interpretieren. Heute ist das nicht mehr der Fall.«34 Aber in welchem

32 Christopher Lehmann-Haupt: »Shaping the Reality of AIDS Through Language«, in: The New York Times, 16.1.1989, http://www.nytimes.com/1989/01/16/books/ books-of-the-times-shaping-the-reality-of-aids-through-language.html (aufgerufen: 17.7.2017); deutsche Übersetzung von Daniel Schreiber in: Susan Sontag. Geist und Glamour, Berlin 2008, S. 215. 33 Sontag: Krankheit als Metapher, a.a.O., S. 103. 34 Sontag: »Gegen Interpretation«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 21.

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Zeitalter wäre Interpretation angemessen gewesen? Wer entscheidet über das Zeitalter, in dem die Krebsmetapher zulässig sein wird, oder über den Wahrheitsgehalt einer Metapher? Sontags Denken in Zeitaltern und ihr Hang zum Historisieren hängt möglicherweise ebenfalls mit den Aporien der Moderne zu­ sammen, um deren Wirkungsmächtigkeit und Kanonisierung es ihr zeitlebens zu tun war. In Krankheit und Metapher verschiebt sie den Austragungsort im Kampf gegen die Krankheit. Nicht Krebs oder Aids, sondern die richtige Art und Weise, über diese Krankheiten zu sprechen, ist ihr Thema. Der Gegner ist nicht die Krankheit und auch nicht die Hermeneutik, sondern die falsche Sinnproduktion durch die Metapher. Ähnlich wie bereits die Dadaisten die Antikunst und den Widerstand gegen die Hermeneutik als Erwiderung auf eine historische Situation formulierten, so scheint auch Sontag davon auszugehen, dass Interpretation – bei ihr die hermeneutische Textexegese  – und Metapher nicht per se eine Geste der gewaltsamen Aneignung darstellen, sondern erst in einer unübersichtlich gewordenen Welt und angesichts einer Katastrophe problematisch geworden sind. Eine solche Verschiebung des Kampfplatzes hat Sontag auch in ihrem Artikel »Feige waren die Mörder nicht« vorgenommen, der kurz nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York am 15.  September 2011 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist. In dem Bemühen, den Terroranschlägen Sinn abzuringen, schrieb sie nicht über das Unglück selbst, das Ereignis der Katastrophe. Vielmehr ging es ihr um den disconnect zwischen dem Geschehen (Wirklichkeit), und dem, wie es verstanden werden kann (Interpretation). Dieser Trennschalter, so Sontag, dieses »Missverhältnis zwischen den Ereignissen und der Art und Weise, wie sie aufgenommen und verarbeitet wurden, auf der einen Seite und dem selbstgerechten Blödsinn und den dreisten Täuschungen praktisch aller Politiker […] und Fernsehkommentatoren […] ist alarmierend und depri­ mierend.«35

35 Susan Sontag: »Feige waren die Mörder nicht«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.9.2011.

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Das Abzielen auf die Rhetorik ist es, was Sontag ihrer eigenen Meinung nach immer wieder in den Momenten geholfen hat, in denen ein Gegenüber oder Adressat ausfiel. Weder mit ihrem eigenen, früh verstorbenen Vater, noch mit dem 1975 diagnostizierten Brustkrebs im fortgeschrittenen Stadium (der damals als unheilbar galt) oder mit den al-Qaida-Attentätern lässt sich debattieren. Wenn eine Konfrontation nicht möglich ist, dann muss der Schauplatz verlegt werden, um Introjektion und Melancholie, Formen grenzenloser, unabgeschlossener Trauer zu verhindern. Sontag nimmt also regelmäßig eine Verschiebung vor, um sich auf das konzentrieren zu können, was (noch) vorhanden ist und dem man (noch) begegnen kann. Wenn der Inhalt unzugänglich ist, entglitten und entzogen, dann bleibt Sontag immer noch die Art und Weise, in der etwas gesagt wird. Zugleich ist ein solches Verfahren selbst at a loss: Um sich in den Metaphern zu orientieren, müssen diese erst einmal verzeichnet werden, und der Versuch, Deutungsmuster zu überwinden, indem sie erneut zusammengetragen werden, sieht sich einem destruktiven Wiederholungszwang ausgeliefert. Mehrfach im Text scheint die Wirkungsmacht der Metapher stärker als Sontags Kritik an ihr. Es ist ein ikonoklastischer Kampf gegen die gefangennehmenden Sinnbilder, der Auge um Auge ausgetragen wird und nicht nur zwischen dem Leser und den Metaphern eines Textes, sondern letzten Endes zwischen der Erkrankten und ihrer Krankheit stattfindet. Was die Erfahrung der Krankheit, des Krankseins mit dem, wie Jean-François Lyotard es nannte, »wilden Denken« der Avantgarde verbindet, ist die Erfahrung des Zusammenbruchs der Metaphern und die individuellen Weisen, auf diesen Verlust zu reagieren: mit Ironie, Trauer oder dem Etablieren einer Haltung im brechtschen Sinne. Lyotard definierte Avantgarde als einen »Widerstreit«, als jenen »Moment der Sprache, in dem etwas, das in Sätze gebracht werden können muss, noch darauf wartet«.36 Diese Definition mag auch das bezeichnen, worum es Sontag geht: einen instabilen Zustand nicht zu petrifizieren und metaphorisch zu überhöhen.

36 Jean-François Lyotard: Der Widerstreit, übers. von Joseph Vogl, München 1987, S. 33.

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Sontag sagt jedoch wenig darüber, wie ein Umgang mit Krebs jenseits der Metapher aussehen würde. Ihr Schreiben scheint sich einer unmittelbaren Auseinandersetzung mit der Krankheit sogar zu verweigern. Dieses Schweigen macht Krankheit als Metapher mühsam zu lesen, und umso mühsamer, je dringlicher man nach Antwort auf die Frage sucht: Wie reflektiere ich Krebs jenseits der Metaphern, wie werde ich einem inkommensurablen Ereignis gerecht?

Arbeit und Struktur Was hält uns aufrecht angesichts einer Katastrophe? Welcher Pro­ thesen, welcher Technik, welches Sprach-Gerüstes bedienen wir uns? Woran halten wir uns fest? Sind es nicht gerade die Vergleiche, die Anspielungen, die Metaphern und Metonymien, die uns die nö­ tigen Sinnzusammenhänge erschließen und das fassungslose Le­ben in Literatur überführen? Sechs Jahre nach Sontags Tod  – sie starb im Dezember 2004 an Leukämie – und mehr als dreißig Jahre nach dem Erscheinen von Krankheit als Metapher machte der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf nach der Diagnose eines Hirntumors seinen Internet-Blog Arbeit und Struktur öffentlich, der nach seinem Tod auch als Buch erschien. Auch Herrndorf geht es nicht länger um die Produktion unerträglicher, immobiler Metaphern, die einen melancholischen Bezug auf sich selbst erlauben, sondern um die Genauigkeit und Schärfe noch der alltäglichsten Beobachtungen, das Einbeziehen aller sinnlichen Momente in jedem Augenblick, die er verzeichnet, katalogisiert und bewahrt. Nicht Deutungsmuster oder Sinnbilder geben Herrndorf die Struktur in die Hand, die es ihm ermöglicht, seiner Erkrankung zu begegnen. Er weiß um das gefährliche Potenzial der Sprache, mithilfe sprechender Metaphern Sinn zu produzieren, und zitiert an einer Stelle eine Bemerkung Freuds aus dessen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse: »Durch Worte kann ein Mensch den anderen selig machen oder zur Verzweiflung treiben«.37 Das klinge, so Herrndorf, auf Anhieb nicht nach

37 Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Band XI: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, hg. von Anna Freud u.a., Frankfurt 1961, S. 10.

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der tiefsten von Freuds Weisheiten. Er fügt jedoch hinzu: »Aber wenn man eine Ahnung hat, was Freud meinte, kann man das ruhig so stehenlassen. Und wenn man keine Ahnung hat, bekommt man sie vielleicht hier. Ich habe sie jedenfalls bekommen.«38 Entsprechend groß ist Herrndorfs Misstrauen gegen jede sinnstiftende Rhetorik. Wie Sontag verweigert auch er sich einer Auffassung von Krebs als bedeutsamer Metapher, durch welche Krankheit einer Semantik oder Epistemologie unterworfen wird. Doch die Zurückhaltung gegenüber einem sinnstiftenden Narrativ, die zu den Kategorien der Avantgarde gehört und die auch das Werk Sontags prägt, korrespondiert in Arbeit und Struktur mit einem buchstäblichen Zusammenbruch der Sprache durch den Gehirntumor. Herrndorf schreibt Arbeit und Struktur in einer sich rapide verkürzenden Spanne zwischen Leben und Tod. Am Ende wird es ihm nicht mehr möglich sein, einen kohärenten Satz zu formulieren – am 26. August 2013 nimmt er sich durch einen Kopfschuss das Leben. Was Herrndorf unter den Begriffen Arbeit und Struktur als Möglichkeit zusammenfasst, seiner Krankheit Widerstand zu bieten, mani­ festiert sich bei Sontag als eine Betonung der Form oder des Stils, die sie vor dem polizeilichen Zugriff der Interpretation zu schützen versucht. »Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.«39 So lautet der etwas fadenscheinige letzte Satz im Essay »Gegen Interpretation«. Nicht der Inhalt zählt, sondern die Gestalt eines Werks: Form geht hier einher mit Körper und sinnlicher Wahrnehmung und wird auch in Krankheit als Metapher zum Gerüst oder Gestell, das uns aufrecht erhält nach der Krebs-Diagnose.    Noch einmal sei an die Verwandtschaft zwischen Sontag und den Prämissen der Literatur des 20.  Jahrhunderts erinnert: Die Definitionswut, die Sehnsucht nach der Memorisierung, die Arbeit an einer Selbstdefinition sowie die Besessenheit von der eigenen Geschichte gehören zu den wesentlichen Merkmalen von Avantgarde und Moderne. Man denke an das semantische Verwirrspiel um den Namen Dada, der nichts bedeutet, man denke an die zahllosen Manifeste und Chroniken der Dadaisten, Futuristen und Surrealisten. Auf diese Weise wurden nachträgliche

38 Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur, Reinbek bei Hamburg 2013, S. 97. 39 Sontag: »Gegen Interpretation«, in: dies.: Kunst und Antikunst, a.a.O., S. 22.

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und häufig pseudohafte Sinnzusammenhänge geschaffen, ein endloses Verweisen initiiert, ein Kontext gebildet  – all dies vor dem Hintergrund der historischen Katastrophe zweier Weltkriege. Der auf der Bühne des Cabaret Voltaire tanzende Dadaist mitten in den Wirren des Ersten Weltkrieges oder der Erfinder eines Theaters der Grausamkeit (Antonin Artaud) kompensieren eine ähnliche Erfahrung wie die Krebskranke angesichts ihrer Diagnose. Eine weitere sprechende Metapher verwendet Sontag, um der Interpretation beizukommen: »Interpretieren«, schreibt sie, »heißt die Welt arm und leer machen – um eine Schattenwelt der ›Bedeutungen‹ zu errichten.«40 Die Art und Weise, wie sie den Akt des Interpretierens beschreibt, erinnert an Freuds Unterscheidung zwischen Trauer und Melancholie: In der Trauer sei »die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst«.41 In »Gegen Interpretation« wie auch später in Krankheit als Metapher klingt immer wieder ein verdrängter Trauer-Diskurs durch: die Schattenwelt des Bedeutens in der Interpretation, die Nacht- oder Schattenseite des Lebens, in die uns die Krankheit presst. Sontags Auseinandersetzung mit der Literatur der Moderne ebenso wie mit einer tödlichen Krankheit steht im Zeichen nicht wahrgenommener und nicht geleisteter Trauerarbeit – sie steht, wie der Titel einer ihrer Essaysammlungen heißt, »im Zeichen des Saturn«. Sontags essayistische Annäherungen an jene Schriftsteller, deren Schreiben sich als unendliche Melancholie, nicht als Bewältigung der Trauer manifestiert, sind selbst nicht frei von dieser Melancholie. Im Namen Saturns erhebt Sontag Anklage gegen die Vertigo der Metaphern, die aus einem Reich der Toten kommen und von ihr auf eine Weise überwunden werden, als stellten sie die Krankheit selbst dar. In »Gegen Interpretation« fordert sie Transparenz und eine Akzentverschiebung hin zur Frage der Form. Aber sie entwickelt keine Strategie oder dekonstruktive Lektüre, die verhindert, dass ein Text oder eine Krankheit sprachlich usurpiert werden. Sontags dunklen Metaphern, die ihre Argumentation wie Gesteinsbrocken befrachten und der Interpretation auf eine besondere 40 Ebd., S. 15. 41 Sigmund Freud: »Trauer und Melancholie«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. X: Werke aus den Jahren 1913–1917, hg. von Anna Freud u.a., Frankfurt 1963, S. 427–446, hier S. 431.

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Weise widerstehen, fehlt der innere Zusammenhang, sie enthalten Sprünge, manchmal, wie in Krankheit als Metapher, widersprechen sie geradezu der Absicht der Autorin. Insofern lesen sich Sontags Essays wie eine großartige, intensive Form nicht geleisteter Trauerarbeit: Hier wird auf unterschiedliche und mitunter doppelbödige Weise ein Verlust bewältigt. Ungeachtet ihres eigenen Diktums, der endlosen Kette der Metaphern eine Absage zu erteilen, ihr Schreiben nicht durch Metaphern zu erweitern, bietet Sontag selbst fortwährend diese Metaphern auf. Ihre Forderung, Lesen nicht durch Interpretationen sicherzustellen oder Krankheit mit Metaphern in Schach zu halten, bleibt eine mutige, blinde Positionierung im Angesicht einer Gefahr, ohne dass sie der radikalen Erfahrung der Sinnlosigkeit etwas entgegenhalten könnte.

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Kinderwunschmaschine »Krankheit als Metapher«  – die Botschaft war klar und überfällig: Wer krank ist, soll behandelt werden, möglichst von den besten Medizinern, und sich nicht dämonisieren lassen. Der betroffene Kranke soll gerettet werden, er soll sich retten lassen wollen und er muss dafür seine Scham ablegen. Er muss sich von den Metaphern emanzipieren. »Jeder, der geboren wird, besitzt zwei Staatsbürgerschaften, eine im Reich der Gesunden und eine im Reich der Kranken«, schreibt Susan Sontag eingangs des 1977 erschienenen Essays.1 Sie war selbst soeben von einer Krebserkrankung genesen. Im Unterschied zur Tuberkulose, die im 19.  Jahrhundert als Krankheit der Leidenschaft romantisiert wurde, sei der Krebs des 20. Jahrhunderts nicht ästhetisierbar – so eine ihrer Thesen. Ich würde sagen, Sontag hat sich entweder durchgesetzt mit ihrer Auffassung oder die Zeit hat dieser Auffassung zugearbeitet. Die Behandlungsmethoden sind immer feiner geworden und wer mit der Krankheit in Berührung kommt – und wer tut das nicht früher oder später – kann darüber reden. Das Tabu gilt schon lange nicht mehr oder jedenfalls nicht mehr in dem Maße wie vor dreißig, vierzig Jahren. Und Krebs führt im allgemeinen Verständnis nicht mehr notwendig zum Tode. Ich möchte aber auf ein anderes Phänomen zu sprechen kommen, das unsere Gegenwart des 21.  Jahrhunderts beschäftigt hält: die Reproduktionsmedizin und ihre Metaphern von Krankheit, Wunscherfüllung, Optimierung, Ablehnung und Überhöhung. Nicht nur als Fortsetzung von Susan Sontags Paradigma der »Krankheit als Meta­ pher« komme ich auf dieses umstrittene Thema, sondern auch des.

1 Susan Sontag: Krankheit als Metapher, übers. von Karin Kersten und Caroline Neubaur, München 1978, S. 5.

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halb, weil Sontags Lebensgefährtin, die Prominentenfotografin Annie Leibovitz, sich selbst als stolze lesbische Mutter eines künstlich ge­ zeugten Kindes in Szene gesetzt hat.   Zugleich hat Leibovitz sich nicht gescheut, Susan Sontags krebsbedingte Blessuren, etwa die fehlende Brust, zu fotografieren; Privates, das öffentlich wurde. Bleiben wir zunächst in Europa, genauer: in Deutschland, wo die Schriftstellerin und Büchnerpreisträgerin Sibylle Lewitscharoff im März 2014 durch abfällige Bemerkungen aufhorchen ließ und damit einen markanten Standard der Kritik gesetzt hat. Über Kinder, die mit Hilfe der Reproduktionsmedizin zur Welt kommen, sagte sie in einer Feierstunde in Dresden: »Nicht ganz echt sind sie in meinen Augen, sondern zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas.«2 An anderer Stelle spricht sie gleich von »Halbwesen«.3 Da hat ihr, als ›Ganzwesen‹, ganz schön kalter Wind ins Gesicht geblasen. Widerspruch kam beispielsweise von Judith Schalansky, die zutiefst empört war über die Haltung der geschätzten Kollegin. Sie selbst, bekannte Schalansky in der Süddeutschen Zei­ tung, sei gerade schwanger dank künstlicher Befruchtung und zusammen mit ihrer Freundin und einem Freund wollten sie das Kind zu dritt aufziehen.4 Nicht, dass Kritik an den Methoden der Reproduktionsmedizin unangebracht wäre. Man weiß, dass in den Labors, obwohl das in Deutschland verboten ist, Chromosomen in der Petrischale selektiert werden, damit beispielsweise muslimische Mütter einen Sohn zur Welt bringen. Man weiß auch, dass Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch, die ihren Gynäkologen um Rat fragen, ans Ausland verwiesen werden, weil dort die Regeln laxer seien, etwa in der Dosierung von Hormonen.5 Das alles hinter vorgehaltener Hand. 2 Sibylle Lewitscharoff: »Von der Machbarkeit. Die wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod«, Dresdner Reden 2014, gehalten am 2.3.2014, http://www.staatsschauspiel-dresden.de/download/18986/dresdner_rede_ sibylle_lewitscharoff_final.pdf (aufgerufen: 22.4.2017). 3 Ebd. 4 Vgl. Judith Schalansky: »Ungeheuerliche Hetze«, in: Süddeutsche Zeitung, 8.3.2014. 5 In seinem angenehm ideologiefreien Buch, das die Reproduktionsmedizin in die Geschichte sich wandelnder Fruchtbarkeitsvorstellungen einbettet, berichtet Andreas Bernard beispielsweise von einer Klinik am Rande Kiews, die komplett auf

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Ich habe den Eindruck, dass hinter den Fassaden reproduktionsmedizinischer Praxen und Labore durchaus Leid und Scham anzutreffen sind; vielleicht sogar teilweise jene Scham, mit der auch der Krebs behaftet bleibt. Schuldgefühle sind nicht ausgeschlossen, wenn Paare die gesellschaftliche, familiäre und auch die eigene Erwartung nicht erfüllen können; für Angehörige traditionalistischer Gesellschaften dürfte der Leidensdruck besonders hoch sein. Bedenklich, wenn ihnen das Gefühl vermittelt wird, »biologisch« zu versagen und irgendwie »krank« zu sein. Unfruchtbarkeit als Stigma versus Heilsversprechen der Reproduktionsindustrie: Die dazwischen aufgespannten Metaphorisierungsnetze zu analysieren und zu hinterfragen, kann wahrlich nicht schaden. Eine Berichterstattung, die so tut, als wäre künstliche Befruchtung ganz einfach zu haben, nährt Illusionen und von diesen Illusionen profitiert die Reproduktionsmedizin. Wie sehr diese Wunschmaschine inzwischen zum gesellschaftlichen Konsens gehört, be­ legt ein Vorstoß ausgerechnet der Grünen. Gesetzliche Krankenkassen, so ihr Vorschlag, sollten auch nicht verheirateten Paaren die reproduktionsmedizinische Behandlung bezahlen. (Bisher ist das nur für verheiratete Paare vorgesehen.) Die Diskussion um Social Freezing – das Einfrieren von Eizellen für spätere, etwa aus Karrieregründen aufgeschobene Schwangerschaften  – verläuft da schon kritischer, wenngleich zum Teil mit befremdlichen Argumenten, wie etwa in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo, als Aufmacher im Feuilleton, ein positivistisches, fast schon biologistisch zu nennendes Traktat abgedruckt war. Die Botschaft der Autorin Martina LenzenSchulte lautete: Frauen sollten möglichst früh schwanger werden, das käme den natürlichen Instinkten der Frau entgegen.6 Junge Mütter, gute Gene: Da ist der deutsche Mutterkult nicht mehr fern. In ihrer Dresdner Rede ist Sibylle Lewitscharoff ein entscheidender Fehler unterlaufen. Sie hat nicht die Medizin kritisiert, hat nicht die Unterminierung ethischer Standards und die gewinnorientierte

die Bedürfnisse westeuropäischer Kundschaft eingestellt sei (vgl. Andreas Bernard: Kinder machen. Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie, Frankfurt 2014). 6 Vgl. Martina Lenzen-Schulte: »Der Fetisch mit den Frischzellen«, in: Frank­ furter Allgemeine Zeitung, 7.11.2014.

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Skrupellosigkeit im Geschäft mit keineswegs immer erfüllbaren Wünschen unter die Lupe genommen, sondern sie hat ihre Erregung vom Ende der Kette her aufgezogen: Sie hat das Kind diffamiert, als Ausgeburt der Dekadenz, als Geschöpf von krankem Geist. Diese reaktionäre Haltung – ich komme auf Annie Leibovitz zurück – steht wiederum dem euphorischen Möglichkeitsdenken entgegen, das in den Vereinigten Staaten dominiert und dort fast alle Gesellschaftsgruppen erfasst. Die individualisierte, liberale Gesellschaft ermöglicht es, sich den Kinderwunsch zu erfüllen, wo das ohne den Eingriff der Medizin nicht möglich wäre: Was soll daran falsch sein?, fragen diese Gesellschaftsgruppen. Annie Leibovitz propagierte künstliche Befruchtung öffentlich, man könnte sagen, es sei zeitweilig ihre Mission gewesen: Frauen, lasst Euch von den biologischen Grenzen nicht aufhalten! Überwindet sie einfach! Macht es wie ich! Werdet glücklich! »Du musst dein Leben ändern«, Rilkes schöner Schlussvers aus dem Sonett »Archaischer Torso Apollos« (1908), hieße hier: Du musst Dein Leben ändern, indem Du Leben schaffst, indem Du von den Möglichkeiten der Technik Gebrauch machst. Von natürlichen, sozialen oder religiösen Einschränkungen hat sich dieses euphorische Möglichkeitsdenken komplett verabschiedet. Carl Djerassi, der als Erfinder der Antibabypille in die Geschichte eingegangen ist, resümierte die Diskussion unter der recht witzigen Überschrift »The Divorce of Coitus from Reproduction« und gab damit der neuen Technologie, kurz bevor er starb, seinen Segen.7

Susan und Sarah Annie Leibovitz’ fotografisches Ästhetisierungsprogramm von Le­ ben und Tod, Krankheit und Gesundheit, Medizin und Luxus muss man wirklich nicht mögen; aber es ist faszinierend, wie Susan Sontag als Zaungast, Stichwortgeberin und Modell involviert wird. Kennengelernt haben die beiden Stars sich 1988; Annie Leibovitz, damals 39 Jahre alt, sollte die 55-jährige Susan Sontag für ein Magazin 7 Carl Djerassi: »The Divorce of Coitus from Reproduction«, in: New York Review of Books, 25.9.2014, http://www.nybooks.com/articles/2014/09/25/ divorce-coitus-reproduction/ (aufgerufen: 5.7.2017).

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porträtieren. Ihre Beziehung dauerte offiziell bis zu Susan Sontags Tod, also sechzehn Jahre. In dieser Zeit machte Sontag zwei Krebsbehandlungen durch, die letzte half nicht mehr. Und Leibovitz bekam ein Kind; wobei sich die Frage stellt, ob es, symbolisch gesprochen, ein gemeinsames Kind war. Nach Sontags Tod hat Annie Leibovitz ein Resümee ihres Lebens als Fotografin gezogen – ein üppiges Resümee; das Buch, mehrere Kilo schwer, DIN  A3-Format, nannte sie schlicht A Photographer’s Life. 1990–2005. Aus dem Band lässt sich ein Roman in Bildern destillieren, erzählt von Annie Leibovitz, wobei die Abfolge der Krankheits- und Geburtsmotive im Zentrum steht. Die Hauptfiguren des Romans heißen Susan Sontag und Sarah Cameron Leibovitz.

Abb. 4: Annie Leibovitz: Vandam Street Studio, New York, 1999.

  Susan Sontag nach der Chemotherapie, fotografiert im Studio, als Ikone des Überlebens. Das kurze weiße Haar als Ausnahme vom üblichen Look. Klarheit liegt in ihrem Blick, Ernst, Unverstelltheit – hier wird strenge Altersschönheit inszeniert, Persönlichkeit, Würde. Die Medizin erscheint im Hintergrund als Heros, als Lebensretterin; die Krankheit scheint besiegt. Die Fotografierte und die Fotografin kennen sich zum Zeitpunkt der Aufnahme seit elf Jahren.

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Abb. 5: Annie Leibovitz: Susan und ich mit Paolo Dilonardo, Paris, Silvester, 2001.

Unter Freunden in Europa  – Paris, das ist die große alte Liebe Susan Sontags, wo sie als junge Frau so überaus produktiv war. Die Intellektuelle im Hotelzimmer; eben noch am Computer am improvisierten Schreibtisch, bevor man, kostümiert als Bär, aufbricht zur Silvesterfeier. Das erzählen die Bilder – eine Übergangssituation. Die Doppelseite im Buch hat den Charakter eines kleinen AlltagsHappenings; es ist definitiv kein klassisches Porträt der Freundin/ des Stars, sondern ein Schnappschuss. Ob das alberne Kostüm »campy« ist? Bedenkt man, dass Camp laut Susan Sontags Definition von 1964 alles in Anführungszeichen setzt, würde ich sagen: Dies ist zumindest ein Nachglimmen von Camp; eine Anspielung. Man kann es aber auch so sehen: Zwei Jahre nach der Krebsbehandlung hat die Patientin wieder Spaß. Es geht ihr vergleichsweise gut.

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Abb. 6: Annie Leibovitz: Sarah Cameron Leibovitz, Roosevelt Hospital, New York, 16. Oktober 2001.

Das gerade zur Welt gekommene Baby ist das erste Kind von Annie Leibovitz, eine Tochter, Sarah. Es ist, wie gesagt, ein Kind, das mithilfe der Reproduktionsmedizin entstanden ist  – ausgetragen hat es Annie Leibovitz selbst, mit Anfang fünfzig. Leibovitz hat sich mit rundem Bauch vor der Geburt fotografiert; das Bild ist in dem Band ebenfalls abgedruckt. Der runde Bauch, seitlich aufgenommen, Blick in die Kamera, spielt zugleich an auf die berühmte Leibovitz-Fotografie der schwangeren Demi Moore. Jetzt befinden wir uns im Kreißsaal eines guten New Yorker Krankenhauses. Die Gebärende macht ein Fest daraus – drei Freundinnen sind zugegen, um die Geburt zu fotografieren, denn die Fotografin kann das, logischerweise, in dieser Situation nicht selbst tun. Wir sehen Sarah Cameron Leibovitz kurz nach der Geburt, eindeutig als ›Ganzwesen‹. Kleines Gedankenspiel am Rande. Die Reproduktionsmedizin, die der Natur ein Schnippchen schlägt, lädt zu einer christlichen Assoziation ein: der der »unbefleckten Empfängnis«. An die Stelle Gott-Vaters tritt die allmächtige Medizin. Das ist, aus fundamentalreligiöser Sicht, eine unerlaubte Selbstüberhöhung, eine Schmähung der Schöpfung. Und dies dürfte auch der tiefere Grund für die entschiedene Ablehnung der reaktionären Fraktion sein, die sich in den Vereinigten Staaten folkloristischer, aggressiver und erfolgreicher Gehör verschafft, als es bei uns der Fall ist. Interessant auch dies: Der von Feministinnen im Zusammenhang mit dem Recht auf Abtreibung ersonnene Kampfspruch »Mein Bauch gehört mir!« hat heute, im Zusammenhang mit der Reproduktionsmedizin, eine komplette Bedeutungsumdrehung erfahren. Fundamentalisten ist die Selbstermächtigung über den eigenen Körper in beiden Fällen unerträglich.

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Abb. 7: Annie Leibovitz: Sarah Cameron Leibovitz, Roosevelt Hospital, New York, 16. Oktober 2001.

Diese Fotografie ist im Buch direkt unter der vorherigen Aufnahme des nackten Säuglings platziert. Es ist die einzige Farbaufnahme der Doppelseite mit insgesamt vier Aufnahmen aus dem Kreißsaal. Susan Sontag nimmt die eingehüllte Sarah entgegen. Den Namen dürfte das Kind nicht umsonst tragen – wenngleich eine ­Verschiebung im Spiel ist, von der Mutter aufs Kind. Im Alten Testament bekommt Sara, Abrahams Frau, mit neunzig Jahren ihr erstes Kind, Isaak. Gott schenkt einer bis dahin unfruchtbaren und zumal sehr alten Frau die Fruchtbarkeit. Susan Sontags Blick wirkt staunend, während die blutigen Finger ihren Einsatz beim Abenteuer der Geburt dokumentieren: Wer ist sie nun; was ist ihre Rolle; welche symbolische Funktion im familiären Setting nimmt sie ein? Zweite Mutter von Sarah? Tante, oder eine Art Großmutter?

Abb. 8: Annie Leibovitz: Susan mit Sarah, West 23rd Street, Oktober 2001.

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Wir sehen Susan Sontag, jetzt zu Hause, den Säugling Sarah bewundernd: Anbetung. Das, was in den Evangelien nach Jesu Geburt die Heiligen Drei Könige tun. Ergriffenheit, Glück und Erschöpfung meint man auf Sontags Gesicht lesen zu können. Susan Sontag ist in der Tat eine Königin, der man ein großes Geschenk gemacht hat, das Geschenk des Lebens. Sie erscheint als Statthalterin (»Denkerin«) einer postnaturalistischen Mythologie.

Abb. 9: Annie Leibovitz: Susan mit Sarah, Harbour Island, Bahamas, Dezember 2002.

Urlaub am Strand; man ist dem kalten New Yorker Winter auf die Bahamas entflohen. Die vier Fotografien der Doppelseite sind nicht sauber beschnitten, sie fransen aus, an einigen Seiten bleibt ein schwarzer Rand. Das verleiht ihnen etwas Provisorisches, Werkstatthaftes. Mythisch aufgeladene Szenen werden, mit Geschick, von alltäglichen, sogar profanen Szenen abgelöst. Hier sieht man Alltagsglück, aber auch Langeweile und Verlegenheit. Susan Sontag mit Eimerchen und Sandspielzeug wirkt, auf die Betrachterin der Fotografie, schon etwas unterfordert… Was jedoch täuschen kann.

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Abb. 10: Annie Leibovitz: Sarah Cameron Leibovitz, 16. Oktober 2004.

Ein Geburtstagsporträt der Dreijährigen – offiziell, feierlich, frontal; eine Prinzessin. Festgehalten für die Ahnengalerie des weltlichen jüdischen Adels, dem sie entstammt. Das Bild korrespondiert auf der Stilebene  – schwarz-weißer Klassizismus  – dem Porträt Susan Sontags nach der Chemotherapie.

Abb. 11: Annie Leibovitz: University of Washington Medical Center, Seattle, Washington, November 2004.

Die Ereignisse überschlagen sich. Einen Monat nach Sarahs Geburtstag ist Susan Sontag unrettbar krank. Sie scheint kaum oder gar nicht mehr bei Bewusstsein, der Bauch aufgebläht, das Haar weiß und kurz, aber nicht feierlich wie auf dem Porträt von 1999, sondern greisenhaft, alle Unterschiede eliminierend: Susan Sontags Leben geht zu Ende. Sie ist nur mehr ein schwer kranker Mensch, dessen Geist schon kaum

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mehr anwesend wirkt. Wir würden sie nicht erkennen, wenn wir nicht wüssten, dass sie es ist. Das Bild ist ein Schock. Drei solcher Aufnahmen aus dem Krankenzimmer der Intensivstation in Seattle sieht man auf der Doppelseite. Ein Triptychon, wenn man so will. Die letzte Behandlung der todkranken Susan Sontag findet nicht in New York statt, sondern an der nördlichen Westküste. Man scheut keine Kosten, das Krankenhaus in Seattle ist gewiss das für diese Behandlung beste in den Vereinigten Staaten. Warum aber zeigt Annie Leibovitz diese Szene? Ist das nicht entwürdigend? Weiß die Sterbende, dass sie fotografiert wird?

Abb. 12: Annie Leibovitz: Aufbruch aus Seattle, 15. November 2004.

Susan Sontag wird zum Sterben nach New York geflogen. Ein Privatjet wartet im Hintergrund. Auch wenn hier das Narrativ der Großzügigkeit gilt (»kein Mittel und keine Mühe werden gescheut«), so ist das Flugzeug doch auch lesbar als Zeichen der sozialen Klasse, der die Sterbende angehört. Ein halbes Jahr später, im Mai 2005, wird Annie Leibovitz eine Aufnahme ihrer Tochter Sarah machen, im Privatjet sitzend, wie sie ihre neugeborene Schwester Susan Leibovitz im Arm hält und lächelt. Nach Susan Sontags Tod hat Annie Leibovitz noch einmal Zwillinge bekommen  – eines der Mädchen nennt sie Susan  –, sie aber diesmal nicht selbst ausgetragen, sondern sich einer Leihmutter bedient. Alles ist möglich!

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Ina Hartwig

Abb. 13: Annie Leibovitz: New York, 29. Dezember 2004.

Am 28. Dezember 2004 ist Susan Sontag in New York gestorben. Die Totenkleidung hat Annie Leibovitz ausgesucht. »Das Kleid hatten wir in Mailand gefunden«, schreibt sie. »Es ist eine Hommage an Fortuny und in seinem Stil gearbeitet aus plissiertem Stoff.«8 ProustLeser wissen, dass der Spanier Mariano Fortuny y Madrazo (1871– 1949) der angesagteste Modedesigner der Belle Epoque war. In Auf der Suche nach der verlorenen Zeit sorgt Marcel Proust dafür, dass die eine oder andere Herzogin, aber auch Albertine, die Freundin des Erzählers, sich mit Fortuny-Stoffen umhüllen. Wie wir wissen, wurde Susan Sontag in Paris, der Stadt Prousts, beerdigt, in jenem Kleid aus plissiertem Stoff. Sie liegt auf dem Friedhof Montparnasse, er auf dem Père Lachaise begraben.

Amerikanische Werte   Insgesamt dreimal habe ich Susan Sontag beobachten können. Das erste Mal, sie trug Jeans, feste Schuhe und einen weiten Pullover, auf einer Party in Westberlin, irgendwann nach dem Mauerfall. Das zweite Mal bei einer Diskussion in der Akademie der Künste (Ost), ebenfalls in den ersten wilden Jahren des vereinigten Deutschlands; sie war als Gast des DAAD in der Stadt. Susan Sontag diskutierte, noch im alten DDR-Akademiegebäude, mit Heiner Müller, moderiert

8

Annie Leibovitz: A Photographer’s Life. 1990–2005, New York 2006, o.S.

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von Ivan Nagel – als schneidend habe ich sie in Erinnerung. So störte sie beispielsweise, dass man auf den Straßen Berlins nur Weiße antreffe. Das dritte Mal sah ich sie in Jerusalem, als sie auf der Buchmesse den Jerusalem-Preis entgegennahm; ihr deutscher Verleger Michel Krüger hielt mit charmantem German accent die Laudatio; das war 2001. Beim anschließenden Empfang schlich ich neugierig um sie herum und ich meine mich zu erinnern, dass sie exakt jenes Kleid aus plissiertem Stoff trug: déjà vu. Das Totenbild, äußerst suggestiv collagiert, setzt fotografische Teilansichten zusammen, die aus der Nähe betrachtet nie als Ganzes sichtbar werden. So verfremdet, wirkt die Tote ins Reich der Kunst entrückt. Und die Kunstgeschichte schafft den Echoraum. Es ist davon auszugehen: Annie Leibovitz wusste, dass sie ihre verstorbene Freundin als Jesus inszenierte; zu bekannt ist Hans Holbeins Gemälde Der tote Christus im Grab von 1521–1522 aus dem Basler Kunstmuseum.

Abb. 14: Hans Holbein d. J.: Der tote Christus im Grab, 1521–1522, Mischtechnik auf Lindenholz.

Wie Holbeins toten Christus – liegend, als geschundene Kreatur – hat die Fotografin die jüdische Freundin abgebildet. Tatsächlich fällt auf, dass Annie Leibovitz ihre Bildwelt mit jüdischen und christlichen Motiven durchsetzt, als Crossover-Technik, und ich denke, dass ihr enormer Erfolg in den (überwiegend christlichen) USA damit etwas zu tun hat. Doch zurück zum Totenbild: Anstelle der Kreuzigungswunden auf Brust und Hand sehen wir den entblößten, fleckigen Unterarm der Toten. Annie Leibovitz hätte den Arm ebenso gut diskret bedecken können. Hat sie aber nicht. Geschundener Leib; wir sollen es sehen. Ich würde so weit gehen zu sagen, dass der Tod  – der konkrete Krebstod Susan Sontags  – damit endgültig metaphorisiert worden ist: Heilung war nicht mehr möglich; was bleibt, ist Heiligung.

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   Ich habe mich gefragt, was Susan Sontag von der ästhetischen Vereinnahmung ihres Lebens, der Überhöhung ihrer Person, gehalten hat; und was sie insbesondere über die spektakuläre Todesinszenierung gedacht hätte, wüsste ich tatsächlich gern. Nun kann es kaum ein Zufall sein, dass sich die glamouröseste Fotografin Amerikas und die glamouröseste Fotografie-Theoretikerin Amerikas zusammengetan haben; als Paar, als Konzept, als Lebensentwurf. Als Verdoppelung der Energien. Es ist wohl davon auszugehen, dass Susan Sontag zumindest nicht dagegen war, derart ins Bild gesetzt zu werden – obwohl man aus ihren Tagebüchern weiß, wie sehr sie mit ihrem eigenen Körper haderte. Faszinierend finde ich, dass die Verzweiflung über die zuletzt eben doch unbesiegbare Krankheit und der Triumph über das künstlich gezeugte Kind bildsprachlich parallel geführt werden, nicht als einander widersprechende Metaphern, sondern als die zwei Seiten des medizinischen Versprechens. Denn auch wenn die Medizin an ihre Grenzen stößt, wird sie hier doch, wir haben es mit guten und wohl auch teuren Krankenhäusern zu tun, als Medizin mit menschlichem Antlitz interpretiert; menschlich insofern, als diese Medizin alles zu geben bereit ist und darüber hinaus den individuellen Wünschen (der Patienten und deren Angehöriger) entspricht. Diese Bereitschaft ist sowohl in der Geburtsszene wie in der Sterbeszene zu beobachten. Das Krankenhaus: ein Ort des Leidens, durchaus, aber kein Ort der Grausamkeit. Von ihren zwei wichtigen Büchern über Fotografie, Über Fotografie und Das Leiden anderer betrachten, ist mir ersteres lieber, weil Susan Sontag darin ins Innere der Werke kriecht, weil sie sich innerhalb der Kunst (der Fotografie) bewegt und weniger über das Schauen als solches spricht. Sicher könnte man sich fragen, ob nicht gerade Das Leiden anderer betrachten die geeignete Vorlage wäre, um Annie Leibovitz’ Leidensbilder der kranken, der sterbenden Susan Sontag zu entschlüsseln. Mich interessiert aber nicht das moralische Urteil, wie ich überhaupt von jener Susan Sontag mehr gelernt habe, die sich denkend gegen die Moral stemmt, ohne sie ganz zu verwerfen. Es lässt sich durchaus eine Antimoral des Sehens bei ihr beobachten, besonders im Frühwerk. In den wilden Sechzigerjahren bis in die Siebziger, als sie wie ein Schwamm alles aufsog, was ihr unter die Augen kam, da oszillierten

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ihre Interessen zwischen Moral und Ästhetik, und zwar gar nicht unbedingt konsequent. Dafür entschieden. Sie ist wahrlich urteilsfest gewesen; was nicht heißt, dass man ihrem Urteil folgen muss. So wundere ich mich beispielsweise sehr über ihre Ablehnung des großartigen fotografischen Werks von Diane Arbus. In Über Foto­ grafie hat Susan Sontag der nur zehn Jahre älteren Zeitgenossin ein ganzes, ätzendes (durchaus brillantes) Kapitel gewidmet: »Amerika im düstern Spiegel der Fotografie«. Die legendären Freaks von Diane Arbus  – Zwerge, Einsame, Behinderte und Seltsame aller Art, zart und eindringlich fotografiert – empfindet Susan Sontag als monströs und, sieh an, als undemokratisch. Es sei ungut, dass sich das Volk am Abnormen delektiere wie an Zirkusfiguren. Dass Arbus jedoch eine surrealistische Melancholie als Gegenentwurf zu einer oberflächlichen, erfolgsversessenen Gesellschaft anbietet und darin genial war, darauf mag sich Sontag nicht einlassen. Fast gewinnt man den Eindruck, sie lehne das Kranke im sozusagen gesunden Volkskörper ab; während Diane Arbus, die sich 1971 das Leben nahm, gerade die Normalität, das Gesunde und den Erfolg als bedrohlich empfunden hatte. Im Widerstreit mit Arbus’ Werk gibt Susan Sontag die patriotische, reizbare Amerikanerin; so wie sie in der Auseinandersetzung mit Leni Riefenstahl die coole, ästhetisch versierte intellektuelle Kosmopolitin gibt. Ich finde das verstörend – und interessant. In einem ihrer bedeutendsten Essays »Über den Stil« (1965) aus dem Band Kunst und Antikunst kommt Sontag auf das »Filmgenie«9 Leni Riefenstahl zu sprechen, deren Filme über Olympia und den Nürnberger Reichsparteitag sie vom Stil her tief bewundert. Mit einer gewissen Lässigkeit erlaubt sie sich, die Form der Filme, ihre ästhetische Sprache, von deren propagandistischem Nazi-Inhalt zu trennen, wie sie sich überhaupt in diesem Essay stark macht für den Stil als das entscheidende Konstituens des Kunstwerks. Riefenstahls bis zum Lebensende undemokratische Gesinnung scheint sie nicht weiter bedrückt zu haben.

9 Susan Sontag: »Über den Stil«, in: dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, übers. von Mark W. Rien, München 2003, S. 23–47, hier S. 35.

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Ausgerechnet bei der jüdischen Melancholikerin Arbus bemüht Susan Sontag das Argument der Demokratie, und zwar negativ ge­ wendet. Die Hoffnungslosigkeit der Fotografien von Arbus, dieses »Amerika als Abnormitätenschau«, sei schädlich. Im Hintergrund des Reflexes steht, als der große poetische Demokrat, Walt Whitman mit seiner weltumarmenden Dichtkunst, mit seinem Großamerikagedicht Leaves of Grass. Bitter stellt Susan Sontag fest – wir schreiben das Jahr 1977, kurz bevor Krankheit als Metapher erscheint –, dass sich die amerikanische Fotografie »von Whitmans Bejahung der Wirklichkeit losgesagt« habe.10 Diane Arbus war in dieses Urteil eingeschlossen. Und Annie Leibovitz? Das Nebeneinander von Sterben und Ge­ bären, von Tod und Leben, Unglück und Triumph macht den Kern der fotografischen Bildästhetik von Annie Leibovitz aus. Genauso das Nebeneinander von Familie und Prominenz, Schrecken und Schönheit, Macht und Ohnmacht, Technik und Leiblichkeit, Reichtum und Armut. Es ist der Stil einer weltumfassenden Geste – pompös, kolossal, exhibitionistisch, selbstbewusst bis zur Abgehobenheit. Nicht auszuschließen, dass Susan Sontag diesen weltumfassenden Stil ›demokratisch‹ genannt hätte.

10 Susan Sontag: »Amerika im düstern Spiegel der Fotografie«, in: dies.: Über Foto­ grafie, übers. von Mark W. Rien und Gertrud Baruch, München 2002, S. 29–49, hier S. 49.

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Martin Zeyn Das Leid von Susan Sontag betrachten   Lange schwarze Haare. Bis sie Krebs bekam. Dann fotografiert sie Annie Leibovitz. Kurzhaarschnitt. Eine Hand im weißen Haar. Ihr Pullover ein schwarzes Dreieck, ein dunkles Zelt. Die Spitze ein grauer Kopf. Kein Lachen mehr, kein Ernst. Die Augen direkt aufs Objektiv gerichtet. Nicht wir sehen sie an, die Schwache, die Kranke, sondern Susan Sontag sieht uns an. So wie sie uns in ihren Büchern anspricht. Direkt, provozierend direkt. »die raffinierteste Form des sexuellen Reizes besteht (ebenso wie die raffinierteste Form des sexuellen Genusses) in einem Verstoß gegen die Natur des eigenen Geschlechts. Das Schönste am männlichen Mann ist etwas Weibliches, das Schönste an einer weiblichen Frau ist etwas ­Männliches …«1

Susan Sontag und Annie Leibovitz haben eineinhalb Jahrzehnte zusammengelebt, waren Lebensgefährtinnen, Liebende. Einige Fotos aus diesen Jahren sind in A Photographer’s Life abgedruckt.2 Die schwangere Leibovitz, aufgenommen von Sontag. Susan Sontag im OP, die Tochter Sarah haltend. Ihre Augen lachen. Auf den nächsten Seiten sehen wir Sontag, die das schlafende Kind wiegt. Sie ist 58 Jahre alt. Auf diesem Bild sieht sie älter aus. Normaler Schlafmangel einer eben nicht mehr jungen Mutter? Oder doch die Folgen ihrer Krebserkrankungen? Auf dem Thanksgiving-FamilienBild fehlt Sontag neben Leibovitz und Sarah. Weiter vorne im Buch finden sich Bilder von Susan Sontags Chemotherapie 1998. Die mit offenem Mund Schlafende. Susan Sontag mit nackten Beinen auf dem Krankenbett. Apathisch. Susan Sontag liegend, während eine Krankenschwester ihr den Po abwischt. Sontag – sie jetzt beim Vor1 Susan Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, übers. von Mark W. Rien, München 2003, S. 322–341, hier S. 326. 2 Annie Leibovitz: A Photographer’s Life. 1990–2005, New York 2006.

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namen zu nennen, wie es amerikanische Biografen gerne tun, klingt im Deutschen pathetisch  – ist krank und geschwächt. Auf diesen Bildern sieht sie die Betrachter nicht an. Noch weiter vorne, eine nackte, schlafende Susan Sontag. Eine Brust und Schamhaare sind zu sehen.

»Anderen diese Würde zu lassen hielt man nicht für nötig.«3 All diese Bilder sind indiskret. Sie haben einen Kontext, den wir nur rudimentär kennen. Leibovitz hat viele private Aufnahmen in diesem Buch versammelt, aber ihre bekannten Prominentenfotos hat sie auch eingefügt. Haben diese Bilder Sontag gefallen? Sie ringen nicht um Wirklichkeit, sie schwelgen, sind irgendwie camp in ihrer Maßlosigkeit, überwirklich prächtig, vorgeführt unecht, quasi verkleidete Fotos. Von solchen Glamour-Fotos erzählt Sontag nicht in ihren Büchern. Ein Fotografen-Leben. Leibovitz’ Bildband ist zumindest bilingual: die edle Studioaufnahme der kurzhaarigen Sontag einerseits und die dokumentarischen Schnappschüsse aus dem Krankenhaus andererseits. »Seit ihrer Erfindung im Jahre 1839 pflegte die Fotografie Umgang mit dem Tod. Weil das mit einer Kamera hergestellte Bild tatsächlich die Spur von etwas ist, das man vor das Objektiv gerückt hat, waren Fotografien als Erinnerung an eine entschwundene Vergangenheit und die lieben Verstorbenen jedem gemalten Bild überlegen.«4

Spuren. Sontag hat mit vielen Frauen zusammengelebt, geoutet hat sie sich nie. Das ist kein Vorwurf, sondern eine Feststellung. Mehr als das nur geduldete Nebeneinander sexueller Formen gibt es erst dann, wenn niemand sich mehr outen muss. Annie Leibovitz nennt Sontag erst einen Kompagnon, dann, später, eine Liebe. In A Photographer’s Life schreibt sie seltsam indirekt: »Susan Sontag, mit der ich die hier dokumentierten Jahre verbrachte.« Was soll das heißen? Durch die 3 Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, übers. von Reinhard Kaiser, München 2003, S. 84. 4 Ebd., S. 31.

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Das Leid von Susan Sontag betrachten

zwölf Seiten Vorwort irrlichtert immer wieder Sontags Name. Bei anderen Menschen ist Leibovitz viel deutlicher: »Wieviel [Richard] Avedon mir bedeutete, merkte ich erst nach seinem Tod.«5 Kann sie diesen Satz bei ihrer Susan nicht aussprechen? Oder ist dieser Bildband, in dem Sontag die Hauptperson darstellt, so ein Satz, so eine Klage, aber ohne Worte? Wer ist die Susan, von der Leibovitz in diesem Vorwort spricht? Wir ahnen es, aber mehr nicht. Die Bilder jedoch sprechen eine andere Sprache. Eine deutliche. Eine von Nähe. Großer Nähe. »Anders als ein geschriebener Bericht, der sich, je nach seiner gedanklichen Komplexität, seinem Kontext und seinem Wortschatz, an einen größeren oder kleineren Leserkreis richtet, verfügt ein Foto nur über eine einzige Sprache und ist im Prinzip für alle bestimmt.«6

Was meint Sontag da? Postuliert sie etwa ein visuelles Esperanto? Oder glaubt sie, die geschrieben hat, um aufzuklären, und dabei erfahren musste, wie wenig das Schreiben bewirkt, glaubt sie, dass Fotos direkt mit den Menschen kommunizieren, zumindest direkter als Essays oder Romane? Aber stimmt das? Sind die Serien von Ed Ruscha, etwa Twentysix Gasoline Stations, oder die banalen Schnappschüsse aus dem Flugzeug von Fischli und Weiss verständlich? Bilder, die den Referenzrahmen Kunst brauchen, damit sie gelesen werden können. 26 Tankstellen. Tragflächen eines Flugzeugs, aus der Kabine heraus fotografiert. Das, was sie zeigen, ist viel weniger, als das, was sie bedeuten. Nur ein Sonderfall? Künstlerische Fotografie, die das Dokumentarische nur als Spielball benutzt, um über Fotografie nachzudenken. Eine Ausnahme, gewiss. Und was ist mit Jürgen Tellers Modefotos? Etwa die nackte Kristen McMenamy mit Ziese im Mundwinkel, die mit Lippenstift zwischen ihre Brüste ein Herz und darin den Schriftzug »Versace« gemalt hat (gemalt bekommen hat?). Ein überbelichteter Schnappschuss, der nur verständlich ist, weil es andere Modefotografie gibt, die nicht so ist, die sich nicht traut, so zu sein. Negation von Werbung als Werbung. Richtet sich dieses

5 6

Leibovitz: A Photographer’s Life, a.a.O., o.S. Sontag: Das Leiden anderer betrachten, a.a.O., S. 27.

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Foto an alle oder richtet es sich an die, die von den Konventionen (schön, schön und nochmals schön) gelangweilt, ja angekotzt sind? Wer schaut es sich an? Hat ein Foto wirklich nur eine Sprache? Oder sind inszenierte Fotos keine Fotos nach der Definition Sontags? Aber welches Foto ist nicht auch eine Inszenierung? Eine Inszenierung von Präsenz durch Retusche, die es auch schon im analogen Zeitalter gegeben hat, um etwa Kontraste durch nachträgliche Veränderungen der Belichtung hervorzuheben. Eine Inszenierung aber auch von Realität, von Wahrheit, von »Nähe zum Geschehen« wie die Pressefotografie. Capas legendäres Diktum: »Wenn Deine Bilder nicht gut sind, dann warst Du nicht nah genug dran«. Als wäre Wahrheit sichtbarer, wenn wir nicht das Tele benutzen, als wäre Wahrheit nicht eine gesellschaftliche Definition von Zeichen. Und natürlich gibt es Fotos, die komplett auf Wahrheit verzichten  – und folglich uns nicht anlügen: die Inszenierung der Inszenierung in Annie Leibovitz’ glamourösen Celebrity-Porträts: eine Orgie der Zeichen.

»Schönheit ist theatralisch«.7 1977 erschien On Photography, eine Sammlung ihrer Essays über Fotografie. Sie entstanden innerhalb von vier Jahren für The New York Review of Books. Der inhaltliche Abstand wirkt größer als es die zeitliche Nähe der Entstehung vermuten lässt. Der Essay »In Platos Höhle«, der die Sammlung einleitet, wirkt wie ein Manifest, das die Bedeutung der Fotografie zu definieren versucht (daher auch der Rückbezug auf den klassischen Philosophen): »Fotografieren heißt sich das fotografierte Objekt aneignen«;8 »Fotos liefern Beweismittel«;9 »Das Fotografieren ist seinem Wesen nach ein Akt der NichtEinmischung«;10 »Jede Fotografie ist eine Art memento mori«.11 7 Susan Sontag: »Über Schönheit«, in: dies.: Zur gleichen Zeit. Aufsätze und Reden, hg. von Paolo Dilonardo und Anne Jump, übers. von Reinhard Kaiser, München 2008, S. 25–37, hier S. 34. 8 Susan Sontag: »In Platos Höhle«, in: dies: Über Fotografie, übers. von Mark W. Rien und Getrud Baruch, München 2002, S. 9–28, hier S. 10. 9 Ebd., S. 11. 10 Ebd., S. 17. 11 Ebd., S. 21.

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Das Leid von Susan Sontag betrachten

»In Platos Höhle« ist ein Essay, keine Theorie. Sontag beschreibt Einzelphänomene, sie wertet  – wertet stark  –, sie umkreist den Gegenstand. Bei aller Wertschätzung für das Medium gibt es überraschenderweise auch ein deutlich vernehmbares Ressentiment. Nicht direkt, was die Fotografie, sondern was deren Gebrauch in der Gesellschaft angeht. Das massenhafte Fotografieren erscheint als Ausdruck der Uneigentlichkeit, als schwaches Substitut von wirklicher Erfahrung: »Die Fotografie ist zu einem der wichtigsten Hilfsmittel geworden, um eine Erfahrung zu machen, um den Anschein der Teilnahme an irgend etwas zu erwecken«.12 Warum nur »An­ schein«? Die Milliarden von Kinderbildern sind natürlich belanglos für die allermeisten Betrachter. Aber sind sie es auch für die Eltern? Und was ist mit Leibovitz’ Aufnahmen der kranken Sontag? »Anscheinend ist der Appetit auf Bilder, die Schmerzen leidende Leiber zeigen, fast so stark wie das Verlangen nach Bildern, auf denen nackte Leiber zu sehen sind.«13

Es gibt eine Pornografie der Anteilnahme, billig, weil gedankenund also folgenlos. Dagegen richtet sich Sontag. Fotos dienen auch der Aufklärung. Viel zentraler erscheint bei Sontag aber der Grauschleier, das Sepia, das die Fotografie über die Ereignisse ausgießt: »Gegenwärtig erleben wir eine nostalgische Phase, und Fotos fördern die Nostalgie.«14 Ein Satz wie der Blick von Leibovitz’ Porträt der weißhaarigen Sontag. Er kommt ohne Beleg aus, fast ohne Herleitung. Sontag weiß um ihre Autorität, manchmal aber wirkt dieses Wissen auch autoritär. Nicht nur hier, auch wenn sie etwa dekretiert, nur die surrealistische Prosa sei bedeutend, und damit einen Éluard, Michaux und Soupault zu Autoren minderer Güte abstempelt. Fotografie könnte so viel besser sein, wenn alle sie wie die große Kritikerin betrachten würden: voller Bildung, geschult, elegant. Anders als in den Sechzigern ist Sontag deutlich reservierter gegenüber der »Massenkultur«. Vor allem den Gebrauch der Fotografie sieht sie negativ: »Die Industriegesellschaften verwandeln ihre 12 Ebd., S. 16. 13 Sontag: Das Leiden anderer betrachten, a.a.O., S. 50. 14 Sontag: »In Platos Höhle«, in: dies.: Über Fotografie, a.a.O., S. 20.

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Bürger in Bilder-Süchtige; dies ist die unwiderstehlichste Form von geistiger Verseuchung.«15 »Mental pollution«, das klingt nach Kulturpessimismus, nach Schmutz und Schund, und die Formulierung »it is the most irresistible form« pflegt einen fast schon adornitischen Bußpredigerton, der die masochistische Lust am Falschen geißelt. Aber vom Feldherrnhügel einer exzellent ausgebildeten und sich ihrer rhetorischen und denkerischen Fähigkeiten sehr bewussten Intellektuellen aus betrachtet, hat sie recht. Die Nähe zu Adorno wirft allerdings eine andere Frage auf: Wieso blieb der frankophonen Sontag der französische Poststrukturalismus, der ohne dieses HighLow-Denken auskommt, so fremd?

»Noch nicht zu höherer Erkenntnis gelangt, hält die Menschheit sich noch immer in Platos Höhle auf«.16   Oder begegnet uns hier, in der schroffen Gegenüberstellung von Konsum und Anteilnahme etwas, das Thomas Pynchon an Susan Sontag beobachtet hat? »Wenn es eine Wahrnehmungsweise gibt, über die man wirklich gern sprechen will, ohne sich selbst preiszugeben, braucht man ›eine tiefe, durch Verachtung gedämpfte Sympathie‹.«17 Tatsächlich ist Sontag in anderen Artikeln genauer, ist die Verachtung gedämpfter, argumentiert sie ohne abzuwerten. Im Essay »Die Bilderwelt« erklärt sie, was sie am Allüberall der Fotos stört: »Der entscheidende Grund für das Bedürfnis, alles zu fotografieren, liegt in der Logik des Konsums selbst. Konsumieren heißt verbrennen, verbrauchen – und beinhaltet damit zugleich das Streben nach Ergänzung.«18 Fotos schaffen also eine Nachfrage nach sich selbst. Nach einem Foto, auf dem Sontag mit Leibovitz und den gemeinsamen Kindern zu sehen ist. Nach einem Foto von Sontag ohne die Folgen einer Krebserkrankung. Einem Foto von Sontag als Greisin im Kreise ihrer Lieben. Sind Fotos wirklich ihrem Wesen

15 Ebd., S. 28. 16 Ebd., S. 9. 17 Thomas Pynchon: Bleeding Edge, Hamburg 2014, S. 153. 18 Susan Sontag: »Die Bilderwelt«, in: dies: Über Fotografie, a.a.O., S. 141–166, hier S. 165.

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Das Leid von Susan Sontag betrachten

nach Nicht-Einmischung? Wollen sie wirklich das memento mori perpetuieren? Oder sind sie nicht doch ein Moment, ein Wunsch, der sich einen Moment am Leben hält? Nur das. Aber auch nicht weniger. Sind Fotos bei Sontag nicht zu viel, mutet sie ihnen nicht zu viel zu? Um dann daran zu scheitern und in einen kapitalistischen Verwertungsprozess zu geraten? Passen Annie Leibovitz’ Celebrity-Fotografien in diese Definition von Uneigentlichkeit? Und was ist mit den Fotos, die Leibovitz in ihr Buch aufgenommen hat, die zufälligen, schnappschusshaften? Sind sie dokumentarisch? Gar wahr?    Susan Sontag arbeitet pointillistisch, ihre Definitionen dessen, was Fotografie ausmacht, beschreiben einen Moment, der ihr gerade wichtig ist. Das macht den Umgang mit ihren Schriften zur Fotografie einerseits leicht, überall sind prägnante Sentenzen zu finden, andererseits entsteht kein Gesamtbild – viele Pflöcke, aber keine Theorie, die alles umspannen würde. Doch in einem Bereich ist Sontags Definition prophetisch: beim Phänomen der billiardenfach gespeicherten Handyfotos. Eines Bilder­berges, eines Bilderuniversums, das der Annahme spottet, jemand könne sie noch sichten. Bilder, die entstehen, ohne notwendigerweise angesehen werden zu müssen. Bilder als ein Nichts. Das ist eine contradictio in adiecto. Oder eben Sontags Beschreibung des Konsums, der Vernichtung schon als Telos in sich trägt. Wobei wir – das ist der Unterschied zu früher – nicht verbrauchen durch Gebrauch, sondern durch das Vergessen, das nicht genutzte Archive mit sich bringen. Susan Sontag hat sich nicht geirrt, was die Fotografie anging. Sie hatte gehofft, hoffte auf eine unmittelbare Wirkung. Susan Sontag war von Bildern affizierbar. Davon erzählte sie. Vom Leiden anderer, das Fotografie zeigt. Das sie betrachtete. Fotografien sind nach Sontag genuine Bildträger für menschliches Leid. Ihre Wirkung ist unmittelbar erfahrbar. Aufmerksame Leser entdecken da einen Widerspruch zwischen dieser späteren Definition der Fotografie in Das Leiden anderer betrachten zu ihren früheren in Über Fotografie. Dort heißt es, Fotos hätten eine »Grammatik«,19 seien natürlich »eine Inter-

19 Sontag: »In Platos Höhle«, in: dies.: Über Fotografie, a.a.O., S. 9.

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pretation der Welt«.20 Hier direkt, dort vermittelt. Wie soll das gehen? Doch der Widerspruch ist nicht so unvermittelt, wie er auf den ersten Blick erscheint. Sontag betont jeweils andere Aspekte, arbeitet in Das Leiden anderer betrachten eher rezeptionsästhetisch, in Über Foto­ grafie eher phänomenologisch, mit kurzen Ausflügen in einen frei umherschwebenden, fast schon dissidenten Strukturalismus, der sich von der betonierten Variante der Siebzigerjahre weit entfernt.   Sie nähert sich dem Gegenstand, der Fotografie – ein für sie, für die Theorie allgemein noch junger Gegenstand – quasi mehrspurig. Sie betrachtet ihn genau, erprobt Sätze. Sie ist Essayistin, jemand, der, wie das Wort es sagt, etwas versucht. Ihre Überlegungen sind für genau diesen Moment überzeugend. Ein leichtes, gut zu gebrauchendes Handgepäck. Schöner als jede durchdeklinierte, sich auf das Fundament von zahllosen Unterkapiteln verlassende Abhandlung. Vielleicht ein wenig veraltet in den Aussagen. Aber hinreißend durch den Mut, sich hinauszuwagen, das Neue zuzulassen. Man muss Susan Sontag nicht in allem recht geben – aber wer ihre Art zu denken nicht liebt, hat keinen Sinn für die Schönheit von Gedanken. Gerade für die Schönheit von Gedanken, die hart bis zur Ungerechtigkeit sind.

Postskriptum »Susans letzte Krankheit 2004 verlief viel schrecklicher und bis kurz vor ihrem Tod machte ich keine Aufnahmen mehr von ihr.«21

20 Ebd., S. 12. 21 Leibovitz: A Photographer’s Life, a.a.O., o.S.

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»Endloser Krieg: endlose Bilderflut«

Elisabeth Bronfen Unsaubere Schnittflächen Mit Susan Sontag den Krieg betrachten

1

»Ein System, das darauf beruht, daß Bilder möglichst viel Raum und möglichst weite Verbreitung finden, ist auch darauf angewiesen, daß einige Berichterstatter zu Starreportern erhoben werden, die sich durch ihren Mut und ihren Einsatz bei der Beschaffung wichtiger, bestürzender Bilder einen Namen gemacht haben. […] Die Kriegsfotografen erbten den letzten Rest von Glanz, den das In-den-Krieg-Ziehen bei den Gegnern des Krieges noch besaß.«1

So schreibt Susan Sontag in ihrem späten Essay Das Leiden anderer betrachten, in dem sie sich mit der Berichterstattung aus Kriegszonen auseinandersetzt. Martha Gellhorn, Margaret Bourke-White und Lee Miller sind drei US-amerikanische Journalistinnen des 20.  Jahrhunderts, die den von Sontag hervorgehobenen Aspekt der Kriegsreportage besonders prägnant zur Schau stellen. Alle drei haben für amerikanische Zeitschriften über den Zweiten Weltkrieg aus Europa berichtet. Im Folgenden sollen Sontags Thesen über die Kriegsberichterstattung mit Artikeln und Fotografien von Gellhorn, Bourke-White und Miller ins Gespräch gebracht werden. Alle drei Journalistinnen nutzten ihre Berühmtheit, um ihre ­Be­richte aus Kriegszonen zu autorisieren, sie waren nicht nur als Berichterstatterinnen vor Ort, sondern immer auch als Starzeugen. Wie Sontag bemerkt, unterscheidet sich der Zweite Weltkrieg sowohl vom Ersten Weltkrieg, der als »kolossaler Fehler« wahrgenommen wird, als auch von den militärischen Interventionen der US-amerikanischen

1 Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, übers. von Reinhard Kaiser, München 2003, S. 41f.

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Elisabeth Bronfen

Streitkräfte in Südostasien während der Sechziger- und der frühen Siebzigerjahre in einem wichtigen Aspekt: »[I]m Gegensatz zu dem Krieg von 1914 bis 1918 […] betrachtete man den Zweiten ›Weltkrieg‹ auf der Seite der Sieger einhellig als notwendig, als einen Krieg, der geführt werden mußte«.2 Darüber hinaus weist Sontag darauf hin (und erklärt damit zugleich die Notwendigkeit der Starzeugen), dass der Fotojournalismus seine »eigentliche Geltung […] in den frühen vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts – im Krieg« erlangte.3 Life, das Magazin für Fotojournalismus, das von Bourke-White Mitte der Dreißigerjahre mitbegründet wurde, hat tatsächlich dazu beigetragen, den Zweiten Weltkrieg zum Medienereignis zu machen. Außerdem wurde dieses Magazin selbst – nicht zuletzt aufgrund der Fotografien, die sie dort veröffentlichte – zu einem zentralen Organ der Berichterstattung. An diesen drei Journalistinnen lässt sich Sontags differenzierte Einschätzung der Kriegsberichterstattung festmachen, weil jede auf ihre Art einen Glamourfaktor verkörpert, eben jenen »letzten Rest von Glanz, den das In-den-Krieg-Ziehen bei den Gegnern des Krieges noch besaß«. Es ist daher notwendig, an die jeweils spezifischen Kriegsbiografien von Gellhorn, Miller und Bourke-White zu erinnern. Martha Gellhorn, bekannt als die dritte Ehefrau Ernest Hemingways, hatte bereits für das Magazin Collier’s über den Spanischen Bürgerkrieg berichtet, anschließend im Verlauf der Dreißigerjahre von diversen Kriegsschauplätzen in Europa. Wild entschlossen, bei der Invasion der Alliierten dabei zu sein, schmuggelte sie sich schließlich als blinde Passagierin auf ein Krankenschiff, weil Collier’s sie nicht für eine Teilnahme an der eigentlichen Schlacht akkreditieren konnte, und schrieb von dort ihren anrührenden Bericht über die ersten Verwundeten der D-Day-Landung an Omaha Beach in der Normandie. Danach zog sie mit der 101. US-Luftlandedivision durch Frankreich, die Beneluxländer und landete schließlich zur Stunde Null in Deutschland: »Ich war in Dachau, als die deutschen Streitkräfte sich den Alliierten bedingungslos ergaben […]. Dasselbe halbnackte Skelett, das man unter

2 3

Ebd., S. 42. Ebd.

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Unsaubere Schnittflächen

den Leichen des Todeszuges hervorgezogen hatte, schlurfte wieder in das Sprechzimmer des Arztes. Der Mann sagte etwas auf Polnisch; seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Der polnische Arzt tätschelte sanft seine Hände und erwiderte: ›Bravo.‹ Ich fragte, wovon sie sprachen. ›Der Krieg ist aus‹, erklärte der Arzt. ›Deutschland ist besiegt.‹ Wir saßen in diesem Zimmer, in diesem verfluchten Friedhofsgefängnis, und niemand hatte noch etwas zu sagen. Dennoch erschien mir Dachau als der passendste Ort in Europa, um die Nachricht vom Sieg zu hören. Denn gewiss wurde dieser Krieg geführt, um Dachau und alle anderen Orte wie Dachau und alles, wofür Dachau stand, abzuschaffen, und zwar für alle Zeiten.«4

Bemerkenswert ist die von Gellhorn eingenommene Haltung einer kritischen Entrüstung, weil eben diese eine Verbindungslinie zu Sontags Herangehensweise offenlegt. Als Gellhorn ihre Berichte aus Kriegszonen in dem Buch Das Gesicht des Krieges versammelte, schrieb sie in der Einleitung: »Diese Artikel sind in keiner Weise adäquate Beschreibungen des unbeschreiblichen Kriegselends. Der Krieg war immer schlimmer, als ich es in Worte zu fassen vermochte – immer. Und wahrscheinlich versuchte man aus einem Selbsterhaltungstrieb heraus am häufigsten über das zu schreiben, was tapfer und anständig war. Vielleicht werden heute meine Artikel über Deutschland und das Verhalten der Gestapo, der SS und anderer Gruppen der deutschen Wehrmacht den Eindruck unpassender Haßtiraden vermitteln. Ich berichte, was ich sah, und Haß war die einzige Reaktion, die solche Anblicke hervorrufen konnten.«5

Auf dem Spiel steht also ein Spagat zwischen dem Wissen, dass vom Krieg auf wahrhaftige Weise nicht berichtet werden kann, und der ethischen Notwendigkeit, es trotzdem zu tun, auch wenn das bedeutet, dass diese Reportagen notwendigerweise mit Einrahmungen und Umschriften operieren müssen. Gellhorn hat bis zu ihrem Lebensende aus Kriegszonen berichtet.

4 Martha Gellhorn: Das Gesicht des Krieges. Reportagen 1937–1987, München 1989, S. 318f. 5 Ebd., S. 154.

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Lee Miller wiederum nutzt bewusst das Medium der Fotografie, um sich als star witness zu inszenieren. Seit den späten Zwanzigerjahren in der Kunstfotografie als Model bekannt sowie als Modefotografin für Harper’s Bazaar, Vanity Fair und Vogue tätig, verstand sie es, den Londoner Blitzkrieg zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Für die britische Vogue ging sie mit ihren Models auf die zerbombten Straßen, um an der Heimatfront den modischen Stil der eleganten Britin mit ihrer Kamera einzufangen. Sobald das Pentagon vermehrt auch Frauen für die Kriegsberichterstattung einsetzte, ließ sie sich für die britische Vogue akkreditieren und berichtete ihrerseits wenige Tage nach D-Day aus einem Lazarett direkt hinter Omaha Beach. Wie Martha Gellhorn begleitete auch Lee Miller die alliierten Truppen auf deren Feldzug durch Frankreich und die Beneluxländer und erlebte die Stunde Null ebenfalls in Deutschland. Sie schrieb sowohl aus den Konzentrationslagern in Buchenwald und Dachau als auch aus Leipzig und München. Dabei ließ sie sich in der für die Offiziere der US-Armee typischen Uniform fotografieren, als wolle sie dem Militärlook einen eigenen weiblichen Charme verleihen. Überdies gibt es auch ein Foto, das während der Belagerung von St. Malo aufgenommen wurde, auf dem die Blickachse den Widerspruch ihres star witnessing hervorhebt.

Abb. 15: David E. Scherman: Lee Miller am Eingang zur Festung von St. Malo, 1944.

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Miller schaut entsetzt auf die Schlacht, ein körperlicher Beweis des von ihr miterlebten Grauens, während zwei GIs die Fotografin anblicken, als wollten sie deren Starstatus bekunden. Wie schon in Gellhorns Kriegsbiografie handelt es sich auch bei Miller um eine verkörperte Authentifizierung. Millers Haltung zum Krieg nach dessen Ende ist der von Gellhorn jedoch diametral entgegengesetzt. Nach Kriegsende hat sie sich nicht nur geweigert, weiterhin über ihre Erfahrungen an der Front zu sprechen, sondern hat auch bald ganz aufgehört, als Fotojournalistin zu arbeiten. Margaret Bourke-White stellt eine dritte Variation der Kriegsberichterstatterin dar, wurde sie doch als erste Frau von der US-Luftwaffe akkreditiert und durfte deshalb als erste Frau bei Einsätzen der Luftwaffe mitfliegen. Ihre Fotografien für Life sowie ihre Bücher über Russland, über den Feldzug der Alliierten in Norditalien und über Deutschland nach der Kapitulation haben maßgeblich dazu beigetragen, die amerikanische Bevölkerung vom Sinn dieses Krieges zu überzeugen. Und auch sie wird als star witness medial inszeniert, wie sich z.B. gut an einer Fotografie von Miller, auf der BourkeWhite zu sehen ist, verdeutlichen lässt.

Abb. 16: Lee Miller: Margaret Bourke-White, 1942.

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Diese Fotografie arbeitet mit der visuellen Analogie zwischen Kamera, kauernder Fotografin und Kampfflugzeug. Die Redewendung a belly full bedeutet im Englischen, dass man etwas satthat. Hier ist der Bauch (belly) des Flugzeuges, der Flying Fortress, mit Bomben und die Kamera, die Bourke-White stolz vor ihrem Bauch hält, mit einer Rolle Film gefüllt (full). Auf diese Weise spielt das Foto mit jener Analogie zwischen dem Abfeuern eines Gewehrs (shooting a weapon) und dem Schießen eines Fotos (shooting pictures), auf die auch Sontag eingeht.6 Auf anderen Fotos sitzt Bourke-White in einem Kampfflugzeug, das ihren Vornamen, Peggy, trägt, oder sie posiert vor einer Flying Fortress in jener eigens für sie geschneiderten Fliegeruniform, mit der sie ihren ersten Kampfeinsatz gegen einen militärischen Stützpunkt der Nazis in Tunis geflogen ist. Sie war immens stolz darauf, dass eben dieses Foto einige Monate lang als beliebtestes Pin-up bei den amerikanischen GIs galt, bevor Betty Grable im Bikini sie ablöste. So unterschiedlich, wie sich die drei Frauen in ihrer Tätigkeit als Kriegskorrespondentinnen auch verstanden haben mögen, jede verkörpert für sich, was Susan Sontag als eine widersprüchliche Haltung versteht: »berühren und erregen, belehren und Beispiel geben«.7 Dabei lenken alle drei unsere Aufmerksamkeit auf jene ebenfalls von Sontag hervorgehobene Kernproblematik der Kriegsberichterstattung: den ambivalenten Zusammenhang von Eingreifen und Berichten. Jede Form des Betrachtens – egal wie dicht die Journalistin an ihrem Objekt bleibt – spielt auf den Gräuel an; dieser haftet den Bildern und Berichten, die sie aus Kriegszonen übermittelt, auf immanente Weise an, ohne je gänzlich dargestellt werden zu können. Das Betrachten ist von diesem Gräuel infiltriert, auch wenn der Bericht diesen zu filtrieren sucht. Zwar stellt das Berichten aus einer Kriegszone kein direktes Eingreifen in das Geschehen dar, weil die Berichterstatterin die Ereignisse in eine visuelle und narrative Form übersetzt. Der Bericht ist also von der ästhetischen Formalisierung der Fotoreportage infiltriert, in der er verfasst wird. Zugleich aber greift die Berichterstatterin in das Geschehen in dem Sinne ein, als sie es erinnert und

6 7

Vgl. Sontag: Das Leiden anderer betrachten, a.a.O., S. 79. Ebd., S. 49.

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für diejenigen, die an diesem nicht teilhatten, erfahrbar macht. Das Grauen, das die ästhetische Formalisierung in ein visuelles Narrativ übersetzt, wird somit als ein übertragenes Grauen fortgeführt.

2   Für das kritische Denken Susan Sontags ist vor allem kennzeichnend, dass sie sich von den Themen, mit denen sie sich beschäftigt hat, verführen lässt, weil für sie jegliches politische wie ästhetische Urteil nie von der sinnlichen Erfahrung zu trennen ist. Gleichzeitig geht es ihr immer darum, kritische Intelligenz als Waffe gegen Bigotterie, leutseligen Moralismus und Selbstgefälligkeit einzusetzen. Besonders beeindruckend ist in diesem Sinne der extrem kontroverse Kommentar, den sie für den New Yorker kurz nach dem 11. September 2001 schreibt, und der auf den Satz hinausläuft: »let’s not be stupid together« (»lasst uns nicht gemeinsam dumm sein«).8 Sie war davon überzeugt, dass man nach dem Anschlag auf die Twin Towers nicht durch die von der Bush-Regierung propagierte moralisierende Verklärung verstehen würde, was geschehen sei und was noch kommen könnte, sondern nur durch ein unsentimentales historisches Bewusstsein. Entscheidend also ist ihre Weigerung, einer vereinfachenden, wenn auch beruhigenden Deutung aufzusitzen, die die Komplexität politischer Realität ausblendet. Ein Jahr später greift sie ebenso scharfsinnig die Sprache an, mit der die Bush-Regierung seit dem 11.  September ihren Kampf gegen den Terrorismus in den Medien führte.9 Das Schlagwort war on terrorism entlarvt sie als eine leere und zudem gefährliche Metapher, hinter der sich eine Ausweitung von Staatsmacht und Staatsgewalt verbirgt. Wichtiger noch: Der

8 Susan Sontag: »9.11.01«, in: dies.: At the Same Time. Essays and Speeches, hg. von Paolo Dilonardo und Anne Jump, New York 2007, S. 105–107, hier S. 107. Vgl. die deutsche Übersetzung: Susan Sontag, »Der 11.9.01«, in: dies.: Zur gleichen Zeit. Aufsätze und Reden, hg. von Paolo Dilonardo und Anne Jump, übers. von Reinhard Kaiser, München 2008, S. 143–145, hier S. 145. 9 Vgl. Susan Sontag: »Ein Jahr danach«, in: dies.: Zur gleichen Zeit, a.a.O., S. 157–163.

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Einsatz von Slogans wie Moral Clarity und United We Stand unterbindet ein kritisches Denken und fordert unreflektierte Gefolgschaft. In einer für sie typischen Geste kann Sontag nur mit einer Metapher zurückschlagen, erschüttert konstatiert sie eine am amerikanischen Volk vorgenommene Lobotomie. Ihre Entrüstung über anti-intellektuelle Massenmedien hat in ihren Schriften eine lange Tradition. Bereits 1965 schreibt sie über Katastrophenfilme, was auf die öffentliche Reaktion nach den Ereignissen am 11. September erstaunlich gut zutrifft: Der Reiz einer allgemeinen Katastrophe bestehe darin, dass sie uns von normalen Verpflichtungen befreie, indem sie eine hoffnungsträchtige Fantasie moralischer Vereinfachung und globaler Vereinigung gegen den Feind anbiete.10 Dies stellt aber eine unangemessene Reaktion auf zeitgenössische Konflikte dar, weil durch die Umsetzung der Realität in die Sprachbilder eines Katastrophenfilms der Zuschauer entweder abgelenkt oder abgehärtet wird. Für mich macht gerade das Beharren auf einem unschwärmerischen Denken den besonderen Charme von Susan Sontag aus. Immer wieder hat sie darauf hingewiesen, dass leere Sprachbilder reale Konsequenzen haben.   Ihre Entrüstung beispielsweise darüber, wie Mediziner sich militärischer Metaphern bedienen, um den von Krebs überfallenen Körper als Schlachtfeld und die Erkrankten als unvermeidliche Verluste zu stilisieren, war an die eigene Erfahrung gebunden. Selbst erkrankt wollte sie sich dagegen wehren, dass Krebs als unausweichlicher Schicksalsschlag verstanden wird. Ihre pragmatische Botschaft lautet: Man solle Krebs nicht metaphorisch als Fluch, als Bestrafung und schon gar nicht als Todesurteil betrachten, sondern einfach nur als Erkrankung des Körpers. Bestechend an Susan Sontags Denken ist die Konsequenz, mit der sie jene Realität wieder ins Spiel bringt, die durch den Einsatz von leeren Metaphern ausgeblendet wird.    Darüber hinaus sind ihre Erkenntnisse mit der eigenen sinnlichen Erfahrung verknüpft, die wiederum zur steten Revision ihres Denkens führt. Als sie knapp zehn Jahre später ein zweites Mal über Krankheit – diesmal über Aids und seine Metaphern – schreibt, gibt sie zu, 10 Vgl. Susan Sontag: »Die Katastrophenphantasie«, in: dies.: Kunst und Anti­ kunst. 24 literarische Analysen, übers. von Mark W. Rien, München 2003, S. 279– 298, hier S. 285f.

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dass man ohne Metaphern nicht denken könne, weil jedes Denken eine Interpretation bedeute.11 Dennoch beharrt sie auf der Rolle der ›Metaphern-Polizistin‹. Bei einigen Sprachbildern sollten wir – egal ob die Rede von Krankheit, Politik, Krieg oder Kunst ist – Enthaltsamkeit walten lassen. Laut Susan Sontag sollten solche unangemessenen Metaphern abgelegt und nicht mehr zum Einsatz gebracht werden. Doch der Widerspruch, dass man sich dessen, worüber man schreibt, nie ganz entziehen kann, bleibt. Weil sich ihre leidenschaftliche Parteilichkeit oft auf Fragen richtet, die sie sowohl begeistern als auch entrüsten, ist ihre eigene aufklärerische Haltung unweigerlich infiziert. Sontags Schreiben über Metaphern, das sich selbst wiederum in Metaphern ergeht, weist darin deutliche Parallelen zu der ambivalenten Struktur auf, die der Kriegsberichterstattung innewohnt. Auch diese changiert zwischen dem Anliegen der Filterung und einer unweigerlichen Infiltrierung. Aus diesem Grund ist es lohnend, noch genauer darauf einzugehen, wie Sontag wiederholt die unsaubere Schnittfläche zwischen fotografischem Bild und Realität ausgelotet hat. Wie die Berichterstatterinnen beeinflusst sie uns auf ambivalente Weise, lenkt unseren Blick auf die nie ganz greifbare Wirkung, die Fotografien des Grauens auf uns ausüben, und auf den Umstand, dass unsere Beobachtung dieser Kriegsberichterstattung durch die beobachteten Bilder infiltriert wird. Ging sie in ihrem ersten Buch über Fotografie noch davon aus, das Foto würde unsere Sympathie für das, was abgebildet wird, schrumpfen lassen, revidiert sie diese Überzeugung bewusst in Das Leiden anderer betrachten. Als Beispiel für diesen von ihr pro­ pagierten Rückgriff auf Erfahrung wählt sie am Ende des Buches eine Arbeit von Jeff Wall, weil eben diese den moralischen Auftrag der Kriegsfotografie besonders griffig hervorhebt. Dead Troops Talk, eine gestellte Szene getöteter Soldaten in Afghanistan aus dem Jahr 1986, lädt uns dazu ein, unsere Aufmerksamkeit auf das Leid der anderen zu richten, nicht um direkt einzugreifen, sondern um über dieses nachzudenken. Zugleich wird uns bewusst, dass sich unserem

11 Vgl. Susan Sontag: Aids und seine Metaphern, übers. von Holger Fliessbach, München 1989, S. 7.

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Verständnis etwas unweigerlich entzieht. Das Brisante an den Toten in Jeff Walls Fotoarbeit besteht darin, dass sie sich für uns  – die Überlebenden, die Zeugen  – nicht interessieren. Zwischen uns und denen, die an der Front gewesen sind, gibt es eine unüberschreitbare Grenze, weil wir ihre Erfahrung des Schmerzes nicht teilen und sie deshalb auch nicht verstehen können. Dennoch verdienen sie unser Mitgefühl. Dabei bleibt Sontag selbst in ihrer revidierten Auffassung des affektiven Effektes von Kriegsfotografie ihrem Glauben an den Wert sinnlicher Betrachtung treu. Zugleich erscheint die Erkenntnis, die sie uns anbietet, so treffend, weil sie nicht einer persönlichen Erfahrung von Krieg entstammt, sondern der kritischen Betrachtung eines Kunstwerkes.12 Wie aber verläuft Sontags Argument in Das Leiden anderer be­ trachten? Auffallend ist die dreifache Bedeutung des englischen Begriffes regarding, mit dem Sontag im englischen Titel Regarding the Pain of Others operiert: 1. etwas ansehen, auf etwas blicken 2. die Aufmerksamkeit auf etwas lenken 3. über etwas auf eine ganze bestimmte Weise nachdenken, etwas in Betracht ziehen, eine Beziehung zu etwas etablieren, in Anbetracht von etwas denken oder handeln.    Die Ausgangsposition ihrer Diskussion ist eine, in der Sinneserfahrung (blicken) immer mit einer intellektuellen Haltung verschränkt bleibt (nachdenken). Es ist immer schon ein Zug Rhetorik mit im Spiel und zwar nicht auf eine verschwiegene Weise (wie Roland Barthes dies für Mythen des Alltags herausgearbeitet hat), sondern ganz explizit. Dort schreibt er: »Die Erschossenen von Guatamala, der Schmerz der Verlobten von Aduan Malkis, der ermordete Syrer, der erhobene Knüppel des Polizisten: diese Bilder erstaunen, weil sie auf den ersten Blick befremdlich, beinahe ruhig scheinen, ihre Bildunterschrift unterbieten: Sie sind visuell abgeschwächt, entbehren jenes numen, das ihnen die Maler komponierter Bilder unfehlbar mitgegeben hätten«.13 12 Sontag: Das Leiden anderer betrachten, a.a.O., S. 143–147. 13 Roland Barthes: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe, übers. von Horst Brühmann, Berlin 2010, S. 137.

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Diese Rhetorik, die es zu hinterfragen gilt, beinhaltet in einem ersten Schritt Folgendes: Kriegsfotografien appellieren an unsere emotionale Entrüstung. Zumindest halten sie uns dazu an, in Anbetracht des Schrecklichen oder Ergreifenden, das sie unserem Anblick darbieten, zu reagieren. Teil der Rhetorik dieser Bildargumentation ist sowohl die Vereinfachung wie auch die Einrahmung des dargestellten Ereignisses, denn die bildliche Darstellung zielt in diesem Fall unweigerlich auf einen Konsens. Kriegsfotografien wollen die Betrachtenden durch den Schock, den sie übermitteln, zu einer einheitlichen Einschätzung des dargestellten Ereignisses bringen und sie auf diese Weise zusammenführen. Vornehmlich gilt es, jenen, die nicht an der Front sind (oder waren), die schreckliche Realität des Krieges zu vermitteln. Jenen, welche diese Gräuel zu ignorieren suchen, sollen Kriegsfotos also zeigen, dass das Entsetzliche militärischer Einsätze nicht ignoriert werden darf, auch wenn man es nur vermittelt begreifen kann. Sontag greift in dieser Hinsicht auf eine amerikanische Tradition zurück. Life veröffentlichte beispielsweise am 30. November 1942 einen Artikel mit dem Titel »There are Two Ways to Learn about War«, in dem konstatiert wird: »Die Menschen, denen der heiße Atem des Krieges direkt ins Gesicht bläst, wissen aus eigener Erfahrung, was Krieg bedeutet, was er dem Einzelnen antut, seinem Zuhause, seiner Familie. All das haben sie auf grausame Weise am eigenen Leib erfahren. Wir Amerikaner sind auf das angewiesen, was wir lesen und hören.«14

Was man sich aus der privilegierten Position des Friedens oder fernab vom Krieg nicht vorstellen kann, soll vorstellbar gemacht werden. Allerdings geht Sontags Analyse über jene Ernüchterung hinaus, welche Filme über den Ersten Weltkrieg wie etwa Abel Gances J’Accuse – Ich klage an (1919) oder Lewis Milestones Im Westen nichts Neues (1930) vorzuführen suchten. Vielmehr weist sie entschlossen

14 Dt. Übersetzung in Elisabeth Bronfen: »Faszinierende Zerstörung des Krieges: Drei weibliche Ansichten. Ein Essay von Elisabeth Bronfen«, in: dies. und Daniel Kampa (Hg.): Eine Amerikanerin in Hitlers Badewanne. Drei Frauen berichten über den Krieg. Margaret Bourke-White, Lee Miller und Martha Gellhorn, Hamburg 2015, S. 297–354, hier S. 306.

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auf die traurige Einsicht hin, dass deren empathische Darstellung von Kriegsgräuel auf der Kinoleinwand den Zweiten Weltkrieg nicht verhindern konnte. Dieses Scheitern lässt sich auch auf den ambivalenten Status der Fotografie und der Filmbilder zurückführen. Weder gibt es ein ›Wir‹, welches als Adressat dieser Bilder vorausgesetzt werden kann, noch lassen sie sich, da die Aussagen dieser Bilder ambivalent sind, auf eindeutige Art für eine Rechtfertigung oder eine Verdammnis des Krieges einsetzen. So schrecklich sie auch sein mögen, mediale Bilder produzieren nicht nur – oder nicht immer – Entrüstung und Entsetzen, sondern können auch Begeisterung auslösen. Oder anders formuliert, abhängig davon, ob man den Einsatz von Gewalt für gerechtfertigt hält oder nicht, können Bilder aus Kriegszonen, auch wenn sie Entsetzen auslösen, affirmativ gelesen werden. Gemetzel und Märtyrertum sind zwei Seiten einer Medaille, wie Sontag festhält: »Fotos von einer Greueltat können gegensätzliche Reaktionen hervorrufen. Den Ruf nach Frieden. Den Schrei nach Rache. Oder einfach das dumpfe, ständig mit neuen fotografischen Informationen versorgte Bewußtsein, daß immer wieder Schreckliches geschieht.«15

Und eben weil diese Bilder sehr unterschiedliche Reaktionen im Be­trachtenden auslösen, brauchen sie erklärende Untertitel, welche sie stückweise auch verfälschen. Eine Bildunterschrift kann keine umfassende Erklärung liefern, sie muss sich auf einen Aspekt kon­zentrieren, andere Aspekte vernachlässigen und verfälscht daher unweigerlich das Bild. Auf diese Weise beeinflusst sie den Betrachter, der ohne sie vielleicht zu ganz anderen Erklärungen oder Schlussfolgerungen gekommen wäre. Insofern es immer auch um eine Lektüre von Fotos geht und nie nur um eine rein phänomenologische Betrachtung, sollte bei der Lektüre des Endbetrachters, der nicht anwesend ist, auch unmittelbar erkennbar sein, was das Foto einem sagen soll. Benötigt man einen Untertitel, um sicherzustellen, dass diese Kriegsfotos so verstanden werden, wie der Fotograf und der Zeitungsredakteur dies intendiert haben, wird damit implizit auf

15 Sontag, Das Leiden anderer betrachten, a.a.O., S. 20.

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einen brisanten Widerspruch hingewiesen, der der Fotografie als Medium innewohnt: Fotografien können immer auch falsch gelesen werden. Entscheidend dabei ist, dass wir in einer hypermediatisierten Welt leben und somit unser Zugang zum Krieg nicht nur von Bildern geprägt ist: Vielmehr nimmt der Krieg für uns überhaupt erst eine verständliche Realität an, weil wir Bilder aus Kriegszonen haben. Schock, Aufmerksamkeit, Erschütterung, Erstaunen  – das sind zwar weiterhin die Reaktionen, die ausgelöst werden sollen, doch zugleich steht die Austauschbarkeit des Grauens im Raum. Die Kriegsfotos entindividualisieren die Opfer, reißen sie aus ihrem einmaligen Kontext und das Spezifische der jeweiligen Kriegssituation geht verloren. Wie sich in Anlehnung an Gertrude Stein formulieren lässt: Ein Kriegsopfer ist ein Kriegsopfer ist ein Kriegsopfer. Diese Problematik lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Frage, was unter authentischer Dokumentation zu verstehen ist. Denn einerseits produzieren Fotos eine Evidenz, durchaus im Sinne dessen, was Barthes in seiner Studie zur Fotografie mit der Denkformel »Es-ist-sogewesen« festgehalten hat.16 Andererseits aber muss danach gefragt werden, wovon diese Fotos einen Beweis darstellen. Aus dem Begriff des regarding lässt sich ein weiterer doppelter Aspekt herleiten, der in der Form regarded besonders deutlich hervortritt: Im Sinne von ›betrachtet‹ und ›angesehen‹ bzw. ›für etwas gehalten werden‹ können die Fotos nicht als Fakten begriffen werden. Die Subjektivität derjenigen, die diese Bilder produzieren, aber auch die Subjektivität derjenigen, die sie rezipieren, muss immer mitbedacht werden. Laut Sontag ist deshalb der Chiasmus ›Fotografien des Krieges  – Krieg der Fotografien‹ mehr als ein geistreiches Aperçu: »Die Absichten des Fotografen bestimmen die Bedeutung des Fotos nicht, das vielmehr zwischen den Launen und Loyalitäten der verschiedenen Gruppen, die etwas mit ihm anfangen können, seinen eigenen Weg geht.«17 Es kann keine transparente Darstellung von Krieg geben, weil wir es immer mit Rahmungen und somit auch mit Auslassungen zu tun haben. Daraus folgt, dass wir immer nur eine multiple, teils sogar widersprüchliche Wiedergabe der Kampf16 Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer, übers. von Dietrich Leube, Frankfurt 1985, S. 87, Hervorhebung im Original. 17 Sontag, Das Leiden anderer betrachten, a.a.O., S. 48.

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geschehen erhalten. Wenn zudem einige der berühmtesten Kriegsfotografien aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, die Matthew Brady zugeschrieben werden, bewusst gestellt wurden, fordert dies eine Umdeutung des Begriffes der Evidenz. Es handelt sich, wie Sontag festhält, um ›unreine historische Zeugnisse‹, welche die Vermittlung, das heißt das Bildmedium in die Beweisführung integrieren.18 Dabei bezeugen auch theatrale oder explizit ästhetisch konzipierte Bilder vom Krieg, dass diese Ereignisse stattgefunden haben, auch wenn oder gerade weil sie die Zeugenschaft derjenigen, die diese Bilder produziert haben, ihren regard also im doppelten Sinn von ›betrachten‹ und ›gelten‹, mit in ihren Gehalt aufnehmen. In diesem Sinne dekonstruiert Sontag auch einen weiteren Gemeinplatz des offiziellen Verständnisses von Kriegsfotografie. Während Gemälde, Zeichnungen und Erzähltexte vom Krieg ›schön sein‹ dürfen, ist dies der Fotografie nicht erlaubt. Im fotografischen Bild etwas Schönes zu entdecken, ist vermeintlich herzlos. Doch eben diese Behauptung übersieht, dass das fotografische Bild davon lebt, dass dokumentarische Evidenz und Kunstsprache in ihm zusammenkommen. Bourke-White erweist sich als Meisterin dieser unsauberen Schnittfläche, vor allem in ihren Bildern von den Angriffen der deutschen Luftwaffe auf Moskau. Der Zufall wollte es, dass sie als einzige amerikanische Fotografin zugegen war.

Abb. 17: Margaret Bourke-White: Luftangriff auf Moskau, 1941.

18 Vgl. ebd., S. 68.

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In ihrem Buch fügt sie dieser Aufnahme folgende Beschreibung des Zusammenspiels deutscher Raketen und russischer Abwehr hinzu: »Die ersten Luftangriffe auf Moskau entfalteten eine Pracht, wie ich sie bei keinem anderen von Menschen veranstalteten Schauspiel erlebt habe. Es war, als hätte man den deutschen Piloten und den Schützen der russischen Luftabwehr riesige in Leuchtfarbe getauchte Pinsel in die Hand gedrückt, mit denen sie – den Himmel als kolossale Leinwand nutzend – abstrakte Gemälde produzieren.«19

Wie sich in der poetischen Formulierung sowie dem fotografischen Bild zeigt, müssen das ästhetisch Schöne und die Dokumentation nicht zwingend einen Gegensatz bilden. Sontag bringt diesen Widerspruch einer ästhetischen Refiguration des Dokumentarischen folgendermaßen auf den Punkt: »Fotografien, die Leiden darstellen, sollen nicht schön sein, so wie Bildlegenden nicht moralisieren sollen. Ein schönes Foto entzieht nach dieser Auffassung dem bedrückenden Bildgegenstand Aufmerksamkeit und lenkt sie auf das Medium selbst, wodurch der dokumentarische Wert des Bildes beeinträchtigt wird. Von einem solchen Foto gehen unterschiedliche Signale aus. Es fordert: Schluß damit. Aber es ruft auch: Was für ein Anblick!«20

Lee Miller hat ihrerseits die unsaubere Schnittfläche zwischen dem ästhetisch Schönen und einer auf Erschütterung setzenden Dokumentation nicht nur immer wieder in den Aufnahmen ausgelotet, die sie während des Luftkrieges gegen England auf den zerbombten Straßen Londons machte. Auch während der Belagerung von St. Malo, wo sie als einzige amerikanische Kriegsberichterstatterin anwesend war, findet sich eine faszinierende Vermengung von ästhetischer Formalisierung und dokumentarischer Evidenz.

19 Margaret Bourke-White: »Luftangriff in Moskau. Winter 1941«, in: Bronfen und Kampa (Hg.): Eine Amerikanerin in Hitlers Badewanne, a.a.O., S. 27–40, hier S. 27. 20 Sontag, Das Leiden anderer betrachten, a.a.O., S. 90.

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Abb. 18: Lee Miller: Der Fall der Zitadelle, Luftbombardement, 1944.

Bei dieser verbotenen Aufnahme des Einsatzes von Napalm springt einem die visuelle Rahmung der Szene durch das Fenster sofort ins Auge. Auf diese Weise bietet die Aufnahme auch einen Kommentar dazu, dass jedes Foto einen Rahmen erzeugt. Die Explosion wird als Bild im Bild festgehalten. Über die ästhetische Figurierung erhalten wir die für eine intellektuelle Form von Empathie notwendige Spannung zwischen Komplizenschaft und Distanz, Empathie für das Konkrete und Anerkennung der Abstraktion. Somit bringt die ästhetische Formalisierung beide Aspekte dessen zusammen, woran Susan Sontag mit dem Begriff des regarding gelegen ist: den Intellekt und die Sinneserfahrung, das Gelten und das Betrachten. Man kann den Krieg verstehen und von ihm angesprochen werden. Man kann ihn als eine im Bild festgehaltene Erfahrung intellektuell und ästhetisch in Besitz nehmen und von dessen traumatischem Wissen emotional in Besitz genommen werden. Man kann aber auch vom Schock ergriffen werden und sich zugleich an ihn gewöhnen.

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3 Für Sontag ist das Aushalten des folgenden Antagonismus entscheidend: Einerseits lädt sie uns ein, unseren Blick auf die Evidenz der Bilder zu richten  – »Fotos bahnen Pfade, schaffen Bezugspunkte«.21 Andererseits ruft sie uns dazu auf, die Notwendigkeit des Pathos, das diese Bilder erzeugen, mit in Betracht zu ziehen, jene »Empfindung«,22 die sich mit einem Foto verbindet. Die Art, wie Fotografien in unser kulturelles Gedächtnis eingehen, ist bereits Teil jener fiktionalen oder theatralen Kraft, die nicht außer Acht gelassen werden kann. »Strenggenommen gibt es kein kollektives Gedächtnis«, stellt sie fest, und fügt dem hinzu: »Aber es gibt die kollektive Unterrichtung. Das Gedächtnis ist immer individuell und nicht reproduzierbar – es stirbt mit dem einzelnen. Was man als kollektives Gedächtnis bezeichnet, ist kein Erinnern, sondern ein Sicheinigen – darauf, daß dieses wichtig sei, daß sich eine Geschichte so und nicht anders zugetragen habe, samt den Bildern mit deren Hilfe die Geschichte in unseren Köpfen befestigt wird.«23

Jede Fotografie von der Kriegsfront erzeugt also weitaus mehr als nur einen Erinnerungsraum, liefert sie doch zugleich eine erklärende Rahmung mit. Indem das Foto (und der begleitende Text) behauptet, an dieses Ereignis solle man sich erinnern oder jenes Ereignis sei wichtig, wird nicht nur entschieden, was erinnert werden soll. Vielmehr fallen durch diese Auswahl andere Ereignisse aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit, weil sie nicht beleuchtet und somit auch nicht kommemoriert werden. Sie tauchen demzufolge nur am Rand unseres kulturellen Imaginären auf oder als markierte Auslassung. Treffend stellt Sontag fest: »Das Problem besteht nicht darin, daß Menschen sich anhand von Fotos erinnern, sondern darin, daß sie sich nur an die Fotos erinnern.«24

21 22 23 24

Sontag, Das Leiden anderer betrachten, a.a.O., S. 99. Ebd. Ebd., S. 99f., Hervorhebung im Original. Ebd., S. 103.

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Sontag besteht auf einer notwendigen Verbindung von Bild und Text. Dabei kann es sich um eine Bildunterschrift, eine längere Er­ klärung eines Bildes oder  – wie im Falle von Bourke-White und Miller  – um längere Essays handeln. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass Fotografien allein nicht ausreichen, wenn es um das Verstehen eines Ereignisses an der Kriegsfront geht. Wir brauchen ein erklärendes, deutendes Narrativ, um das zu begreifen, was wir selbst nicht miterlebt haben. Während uns Fotos nämlich auf nicht greifbare Weise heimsuchen,25 erlaubt es uns erst die begleitende Geschichte, die sie deutende Unterschrift oder eine andere Form der Betitelung, diese Heimsuchung auch intellektuell und emotional zu begreifen. Bewusst wird dieses schillernde Zusammenspiel von Bild und Text an der Art, wie die Vogue Lee Millers Fotoreportagen vom Zweiten Weltkrieg abdruckt, nämlich so, dass die Aussagekraft der Fotografien zur intendierten patriotischen Botschaft passt. Am augenfälligsten ist dies in der mise en page der V-Day-Ausgabe vom Juni 1944, in der Miller von der Kapitulation des Nazi-Regimes und den Gräueln der Konzentrationslager berichtet. »Believe it« hatte sie ihrer Redakteurin Audrey Withers bei der Vogue in einem Telegramm geschrieben und diese machte aus dem Aufschrei ihrer star witness den Titel der Geschichte. Lee Millers Fotografien werden in ihrem Beitrag gezielt gegen das kollektive Vergessen eingesetzt, in das die besiegten Deutschen eintauchen wollen, indem zwischen Bild und Text ein komplexes, widersprüchliches Narrativ gestaltet wird.

Abb. 19: Lee Miller: »Germans are like this«, in: Vogue, New York, Juni 1945.

25 Vgl. ebd., S. 104.

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In diesem Beispiel führt der von der Bildmontage unterstrichene Widerspruch zwischen heimischem Dorf und unheimlichem Lager dazu, dass uns diese Fotografien heimsuchen. Der Text kommentiert diesen Widerspruch und lässt uns zugleich Millers Wut und Entrüstung verstehen. Die affektreiche Wirkung einer narrativen Verarbeitung von trau­ matischer Geschichte und deren politische Bedeutung resultieren daraus, dass die Berichterstattung aus Kriegszonen einer doppelten Perspektive unterworfen und ihre Rezeption wandelbar ist: Einerseits haftet diesen Reportagen (wie jeder Fotografie) der Referent des Gewesenen an. Andererseits ist die Art, wie wir diesen Referenten verstehen, deuten und uns zu eigen machen, einer sich stets verändernden kulturellen und historischen Wahrnehmung unterworfen. Es geht weniger darum festzuhalten, dass man nur eindeutig mit Entrüstung oder Sympathie reagieren, die eigene Komplizenschaft beteuern oder auf eine Unschuld pochen will, sondern darauf zu bestehen, dass wir – auch weiterhin, auch heute und hier – auf das reagieren müssen, was gewesen ist. Auf das, was uns angeht, müssen wir Antworten finden, wir müssen Verantwortung übernehmen, ohne eine etwaige Botschaft festzulegen und ohne zu vereinfachen. Wir nehmen zwar, so wir uns auf Berichterstattung aus Kriegszonen einlassen, am Leid des anderen teil, es ist aber nie unser Leid. Zwar sind wir von der traumatischen Referenz ergriffen, die sich – oft auf widersprüchliche Weise – den Fotografien und den Texten eingeschrieben hat, aber immer auf eine vermittelte Art. Unser Blick pendelt stets zwischen der dokumentarischen Evidenz, auf der diese Reportagen beruhen, und jener Selbstreflexivität, welche uns darauf aufmerksam macht, dass wir es mit einem ästhetischen Gebilde zu tun haben. Es mag zwar sein, dass wir in einer hypermediatisierten Welt le­­ben, in der alles Spektakel ist, und wir nur dem zum Spektakel umkodierten Ereignis unsere Aufmerksamkeit schenken, weil das Reale allein als inszeniertes Bild wahrgenommen wird. Daraus lässt sich aber nicht zwingend folgern, dass uns deshalb ein Gespür für Realität, und damit verbunden, für eine Fähigkeit zum Mitgefühl abhandengekommen ist. Auch wenn das Wissen um den Krieg, das wir aus den Reportagen von Gellhorn, Bourke-White und Miller gewinnen, ein medial vermitteltes Wissen darstellt, so dient diese Übertragung doch zugleich einer eigenen historischen Evidenz. Sie

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bezeugt, dass diese Ereignisse geschehen sind, und lässt uns zugleich daran teilhaben, wie diese Frauen den Krieg wahrgenommen, be­ schrieben oder visuell umgesetzt haben. Apodiktisch formuliert: Über die ästhetische Formalisierung können wir am Realen des Krieges teilhaben. Indem dieser Fotojournalismus uns als Betrachter der (Kriegs-)Geschehen erst produziert, öffnet sich – sofern wir uns auf unsere Fähigkeit der Einbildung verlassen – ein Raum, in dem wir uns das Leiden der anderen vorstellen können. Das Konsumieren von Bildern muss nicht gleichbedeutend mit Zynismus sein, es muss nicht zwingend Gewalt auf ein verdauliches Spektakel reduzieren. Von ihren Aufnahmen in Buchenwald hat Bourke-White nachträglich behauptet: »Aber obwohl ich nicht wissen konnte, wie rasch manche Leute zweifeln oder vergessen würden, war ich zutiefst überzeugt, dass eine so fürchterliche Untat wie diese dokumentiert werden musste. Ich zwang mich also, den Ort Stück für Stück aufzunehmen.«26

Zwar bleibt die traurige Einsicht: Selbst die gelungensten Reportagen über die Konzentrationslager in Buchenwald oder Dachau haben das Fortleben von Orten der Folter und Menschenvernichtung nicht verhindert. Wird dies dem Fotojournalismus zum Vorwurf gemacht, muss man sich fragen, ob wir dabei nicht die Macht von Bildern und Geschichten, die traumatische Geschichte bezeugen, überschätzen. Was die Berichterstattung leisten kann, betrifft eher die Frage des Anerkennens: Dem Foto (und dem Begleittext) gelingt es einerseits, den allgemeinen Charakter des Leids der anderen festzuhalten, und andererseits, dieses als das ganz spezifische Leid der anderen zu begreifen. Bourke-White und Miller befanden sich in Leipzig, kurz nachdem der dortige Bürgermeister mit seiner Familie und seinen engsten Vertrauten kollektiven Selbstmord begangen hatte – ein merkwürdiger Umstand, an dem der eben benannte Blick, der zwischen Allgemeinem und Spezifischem changiert, vorgeführt werden soll. 26 Margaret Bourke-White: »April in Deutschland. April 1945«, in: Bronfen und Kampa (Hg.): Eine Amerikanerin in Hitlers Badewanne, a.a.O., S.  113–122, hier S. 118.

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Abb. 20 u. Abb. 21: Margaret Bourke-White (oben) u. Lee Miller (unten): Der Selbstmord des Bürgermeisters, die Ehefrau des Bürgermeisters und seine Tochter, Rathaus, Leipzig, 1945.

Das untere Bild stammt von Lee Miller, die in ihrer Reportage ihre Eindrücke folgendermaßen beschreibt: »Die Liebe zum Tod, die das Grundmuster deutscher Existenz darstellt, holte auch die hohen Beamten des Regimes ein. Sie gaben eine große Party, sprachen einen Toast auf den Tod und Hitler aus und vergifteten sich. In einem der Büros sitzt ein grauhaariger Mann am Schreibtisch, den nach vorn gebeugten Kopf auf seinen verschränkten Händen. Ihm gegenüber lehnt gegen einen Stuhl eine verbrauchte Frau mit aufgerissenen Augen und einer getrockneten Blutspur am Kinn. Auf der Sofalehne hingestreckt liegt ein Mädchen mit außergewöhnlich hübschen

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Zähnen, wächsern und stumpf. Ihre Krankenschwesteruniform ist mit abgebröckeltem Putz bedeckt, der von der Schlacht um das Rathaus herrührt, die nach ihrem Tod draußen tobte.«27

Die weibliche Leiche verdichtet in dieser Beschreibung, im Sinne des vom Surrealismus gefeierten cadavre exquis, das Opfer und die Schuld der nationalsozialistischen politischen Klasse. Das obere Bild stammt von Bourke-White und dient als Illustration einer anders konzipierten Szene, die noch weit deutlicher dem barocken Trauerspiel entstammen könnte: »Auf den massiven Ledermöbeln lehnte eine Familiengruppe, die so intim und so lebendig wirkte, daß man kaum glauben konnte, daß diese Menschen nicht mehr am Leben waren. Am Schreibtisch saß Dr. Kurt Lisso, den Kopf in die Hände gelegt, als ob er ausruhen wollte. Auf dem Sofa lag seine Tochter und in dem dick gepolsterten Armsessel saß seine Frau. Die Ausweise und Dokumente der ganzen Familie waren ordentlich auf dem Schreibtisch ausgebreitet, daneben stand die Flasche Pyrimal, mit dem sie sich offenbar umgebracht hatten. […] Sie repräsentieren die Männer und Frauen, die für viele Sünden des Faschismus verantwortlich waren. Als der Berg ihrer steigenden Brutalitäten auf sie niederzustürzen begann, auf dieser letzten, schwindelnden Talfahrt, waren sie immer noch wohlgenährt, gut angezogen und wohnten in bequemen, luxuriösen Häusern. Ihr letzter Blick auf die Welt muß dramatisch gewesen sein: Volkssturm und Wehrmacht bereiteten unter ihren Fenstern eine letzte Verteidigung vor, die Fenster lagen im vierten Stock und damit hoch genug für eine ungehinderte Aussicht auf die amerikanischen Panzer und Infanteristen, die ihre Zuflucht bestürmten.«28

27 Lee Miller: »Deutschland. Der Krieg ist gewonnen«, in: dies.: Krieg. Reportagen und Fotos. Mit den Alliierten in Europa 1944–1945, hg. von Antony Penrose, übers. von Norbert Hofmann, München 2015, S. 201–228, hier S. 217f. 28 Margaret Bourke-White: »Tod schien der einzige Ausweg«, in: dies.: Deutsch­ land April 1945, übers. von Ulrike von Puttkamer, München 1979, S. 62–70, hier S. 68f.

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In der von beiden Journalistinnen als Apotheose der Nazi-Tragödie begriffenen Szene, einem kollektiven Selbstmord, kreuzen sich Dokumentation und Pathos. Es gilt, diese für die Gräuel des Nationalsozialismus Verantwortlichen anzuklagen und über die im Bild festgehaltenen Leichen ihrer Verbrechen zu gedenken. Zugleich arbeiten beide Journalistinnen in ihrer Beschreibung dieser Todesszene mit jener Mischung aus Erinnerung und Reflexion, auf die Sontag ihrerseits zu sprechen kommt. Deiktisch wird darauf hingewiesen, welche Grausamkeiten Menschen zu vollziehen bereit sind. Das Verbot zu vergessen – ob mit einer Anklage oder mit Mitgefühl versehen – ist ein ethischer Akt, hat einen ethischen Wert an und für sich. »Die Erinnerung«, meint Sontag, »ist, so schmerzlich dies sein mag, das einzige, was uns mit den Toten verbinden kann.«29 Dennoch können wir weder ein für alle Mal festlegen, was wir erinnern, noch können wir verhindern, traumatische Ereignisse aus Selbstschutz bis zu einem gewissen Grad wieder zu vergessen. Oft müssen Schmerz und Entrüstung in ein ruhiges Verstehen übergehen, will man mit der Vergangenheit leben. Somit ist der ethische Wert dieser Bilder gesetzt. Dabei bleiben sie jedoch nie mehr als eine Einladung, unsere Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was sie uns anzusehen und in Betracht zu ziehen bitten: »Solche Bilder können nicht mehr sein als eine Aufforderung zur Aufmerksamkeit, zum Nachdenken, zum Lernen – dazu, die Rationalisierungen für massenhaftes Leiden, die von den etablierten Mächten angeboten werden, kritisch zu prüfen. […] Dies alles – und obendrein die Einsicht, daß weder moralische Empörung noch Mitgefühl das Handeln bestimmen können.«30

So beharrt Susan Sontag in ihren Gedanken zur Kriegsberichterstattung auf einem fruchtbaren Widerspruch. Einerseits gibt es eine Realität des Krieges, die von der Fotografie nie getroffen werden kann, weil sie aus dem Rahmen fällt. Damit ist unser Recht auf eine öffentliche Meinung, was diese Erfahrung betrifft, eingeschränkt:

29 Sontag, Das Leiden anderer betrachten, a.a.O., S. 134. 30 Ebd., S. 136.

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Wir haben den Krieg nicht selbst miterlebt. Die Einbildungskraft, die uns erlaubt, den Schmerz des anderen zu begreifen, ist beschränkt: »Wir können uns einfach nicht vorstellen, wie das war. Wir können uns nicht vorstellen, wie furchtbar, wie erschreckend der Krieg ist; und wie normal er wird. Können nicht verstehen und können uns nicht vorstellen.«31 Andererseits müssen wir uns vorstellen  – und eben für dieses Beharren stehen die Arbeiten von Gellhorn, Miller und Bourke-White ein –, was wir uns nicht vorstellen können. Wir müssen versuchen zu verstehen, was wir nicht verstehen können. Indem wir das eigene Unvermögen mitreflektieren, können wir diese Quadratur des Kreises denken. Unsere Fähigkeit zur Imagination ist vielleicht doch mächtiger als Sontag dies in ihrem Buch Das Leiden anderer betrachten anerkennen wollte oder konnte. Vielleicht steht die Bereitschaft, sich auf die sinnliche Kraft, auf das Verstörende von Bildern  – seien es Fotografien oder essayistische Denkbilder  – einzulassen, nicht zwingend im Widerspruch zum kritischen Denken. Es könnte sein, dass diese Fähigkeit von einer Hingabe an die Macht der Bilder abhängt, vor allem wenn es sich um traumatisches Wissen handelt. Eine Erfahrung über die Distanz des Betrachtens oder des Lesens ist auch eine Anteilnahme. Bewunderung und Entrüstung sind angemessene Haltungen, solange man das Denken nie aufgibt und solange man sein Denken immer wieder neu entwirft, sinnlich denkt, mit intelligentem Pathos.

31 Ebd., S. 146.

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Tanja Zimmermann Kriegsfotografie als Pornografie Susan Sontag über die Folterfotos aus Abu Ghraib

Im Mai 2004 und erneut im März 2006 wurden der Öffentlichkeit jene Fotos bekanntgegeben, auf denen die perversen Foltermethoden zu sehen sind, die im irakischen Gefängnis Abu Ghraib bei Bagdad zur Anwendung kamen. Die Bilder, die man bis heute über die Website der Zeitschrift Salon als »The Abu Ghraib Files« finden kann, zeigen Häftlinge, die nackt und in obszönen Posen zu erniedrigenden sexuellen Handlungen gezwungen und auf verschiedene brutale Arten gefoltert werden – in einigen Fällen bis zum Tode.1 Ihre Folterer haben sich in triumphierenden Posen mit abgelichtet. Die Bilder entfachten in der Politik und in den Medien eine heftige, über Monate andauernde kontroverse Debatte.2 Diskutiert wurde nicht nur über die Verstöße gegen die Genfer Konvention und die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen in exterritorialen amerikanischen Gefängnissen, sondern auch über die Rolle der Fotografie als Werkzeug im Krieg und über ihren voyeuristischen, ja pornografischen Charakter.3 Die Fotos galten nicht nur als perverse Trophäen und zugleich als unfreiwillig enthüllende Dokumente von Verstößen, sondern auch als Teil der Verhöre der Gefolterten. An der Debatte partizipierten Intellektuelle, die bereits in den Neunzigerjahren die mediale Berichterstattung über den Zweiten

1 Vgl. »The Abu Ghraib Files«, in: Salon, 14.3.2006, http://www.salon.com/ topic/the_abu_ghraib_files/ (aufgerufen: 14.6.2017). 2 Zur Chronologie der Folter in Abu Ghraib und ihrer juristischen Aufarbeitung vgl.: Mark Danner: Torture and Truth. America, Abu Ghraib, and the War on Terror, New York 2004; Seymour M. Hersh: Die Befehlskette. Vom 11. September bis Abu Ghraib, Hamburg 2004; Darius Rejali: Torture and Democracy, Princeton 2007, S. 508–501 u. 518; Jared Del Rosso: Talking about Torture. How Political Dis­ course Shapes the Debate, New York 2015, S. 34–51 u. 77–94. 3 Einen Überblick über die Bekanntmachung der Fotos und die sich daran anschließende Debatte bietet: Gerhard Paul: Bilderkrieg. Inszenierungen, Bilder und Perspektiven der »Operation Irakische Freiheit«, Göttingen 2005, S. 181–202.

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Golfkrieg und die Jugoslawienkriege kritisiert hatten, allen voran Susan Sontag und Jean Baudrillard. Die unterschiedlichen Standpunkte der amerikanischen Publizistin und des französischen Philosophen über neue Strategien der Produktion von Nachrichten in Text und Bild hatten sich bereits im Bosnienkrieg in einem Streit über die mangelnde Wirksamkeit der Berichterstattung über die Belagerung von Sarajevo herauskristallisiert: Während Sontag die Ursache für die Machtlosigkeit der Journalisten eher auf der Ebene der lange untätigen politischen Entscheidungsträger suchte, sah sie Baudrillard vor allem im »simulakralen«, hyperrealen Charakter der medial inszenierten Aufnahmen begründet, in denen die realen Handlungen oft vorweg­genommen und sogar antizipierend ersetzt worden waren.4 Ohne wie Baudrillard den postmodernen, »simulakralen« Charakter unwirklich gewordener Bilder zu beschwören, warf Sontag vielen Reportern vor, dass sie allzu oft der Herstellung eigener und fremder Bilder mehr Aufmerksamkeit widmeten als den gezeigten Kriegshandlungen selbst. Auf der Suche nach immer neuen Reportagen lenkten sie die Aufmerksamkeit häufig auf sekundäre Geschichten abseits des Kampfplatzes. Indem die Fotografie gewissermaßen zur zweiten, medialen Front im Propagandakrieg avancierte, verlor sie zugleich an dokumentarischem Wert und Glaubwürdigkeit. Schon in den Jugoslawienkriegen imitierten die Reporter auf der Suche nach wirksamen fotografischen Motiven nicht nur frühere dokumentarische Bilder, z.B. des Holocausts, sondern sie griffen sogar auf fiktionale Bilder aus Kriegsfilmen zurück, wodurch die Fotos von ihrer aktuellen Referenz abgekoppelt und in ein universelles, mythisches Kreisen des Bösen eingebunden wurden.5 Während Baudrillard die beobachteten Phänomene der Kriegsberichterstattung mit Blick auf Effekte einer gesteigerten Hyper- und Irrealität erklärte, suchte Sontag die Antwort in der gestörten Performanz und adressierte in ihrer Kritik Medienproduzenten und -nutzer.

4 Zum Streit zwischen Sontag und Baudrillard bezüglich der Ineffizienz der Kriegsberichterstattung vgl. Tanja Zimmermann: Der Balkan zwischen Ost und West. Mediale Bilder und kulturpolitische Prägungen, Köln 2014, S. 368–383. Zum spektakulären Charakter der postmodernen medialen Kriegsführung siehe auch: Philip Hammond: Media, War and Postmodernity, London 2007, S. 39–58. 5 Vgl. Zimmermann: Der Balkan zwischen Ost und West, a.a.O., S. 361–368.

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Kriegsfotografie als Pornografie

Mit der Bekanntmachung der Folterfotos aus Abu Ghraib verlagerte sich die Debatte von der verloren gegangenen Referenz der Bilder auf ein anderes Phänomen der postmodernen Kriegsfotografie – auf ihren pornografischen Charakter, der sich sowohl in der Produktion als auch in der Verbreitung der Fotos manifestierte. Die pornografische Geste des Fotografischen ging mit der aktiven Einbindung der Fotografie in die Kriegshandlungen einher. Bereits während des Zweiten Golfkriegs (1990–1991) beobachteten Medienexperten wie Gerhard Paul,6 Otto Karl Werckmeister7 und andere, dass die Kameras – sobald sie auf Präzisionswaffen wie ferngesteuerten Raketen oder Drohnen angebracht werden – das Ereignis nicht mehr passiv dokumentieren und die entstandenen Bilder im Nachhinein distribuieren, sondern vielmehr operativ, als aktive Agenten in »Echtzeit« in die Handlung eingreifen. Auch die pornografischen Fotos, die in Abu Ghraib aufgenommen wurden, dienten weniger der Dokumentation der Folter als vielmehr den Tätern dazu, sich ihrer Opfer noch mehr zu bemächtigen: als visuelle Penetration der Häftlinge, denen das aufgenommene Material zum Zweck ihrer Erniedrigung und Erpressung nach der Handlung sogleich vorgeführt werden konnte, wenn nicht andere Gefangene mit den Bildern eingeschüchtert und bedroht wurden. Im Bild als Aktion sieht Gerhard Paul den wesentlichen Unterschied zu früheren Kriegen, in denen die Folter ebenfalls mit sexueller Erniedrigung verbunden war.8 Die Aufnahmen lösten die Fotografie aus ihrer traditionellen Einbindung in Berichterstattung und Dokumentation und gaben sie in die Hände der Vollstrecker. Sontags Essay »Das Foltern anderer betrachten« (2004),9 der den ­Abu-Ghraib-Fotos gewidmet ist, erschien ein Jahr nach ihrer ­Monografie zur Kriegsfotografie Das Leiden anderer betrachten (2003). In ihm spitzt sie ihre These vom pornografischen Charakter 6 Vgl. Gerhard Paul: Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004, S. 365–405. 7 Vgl. Otto Karl Werckmeister: Der Medusa-Effekt. Politische Bildstrategien seit dem 11. September 2001, Berlin 2005, S. 43f. 8 Zur Funktion der Abu-Ghraib-Fotos vgl. Paul: Der Bilderkrieg, a.a.O., S. 181– 202, insbesondere S. 192–195. 9 Vgl. Susan Sontag: »Das Foltern anderer betrachten«, in: dies.: Zur gleichen Zeit. Aufsätze und Reden, hg. von Paolo Dilonardo und Anne Jump, übers. von Reinhard Kaiser, München 2008, S. 168–185.

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der Kriegsfotografie zu, die in ihrem Werk seit den Siebzigerjahren zunehmend in den Vordergrund rückte. Im Folgenden soll der Zusammenhang von Pornografie und Kriegsfotografie herausgearbeitet werden, für den sich das Sakrale als grundlegend erweisen wird. Erschließen lässt sich dieser Zusammenhang, indem Sontags frühe und späte Texte zu Pornografie und Fotografie aufeinander bezogen und in einen Dialog mit den Bildtheorien von Baudrillard, W. J. T. Mitchell und Judith Butler gebracht werden. Bei den Aufnahmen aus Abu Ghraib kommt das Pornografische laut Sontag nicht nur in der Produktion und Distribution, sondern auch bei der Zensur der Fotos und Videos zum Tragen. Schließlich wurde nur ein Bruchteil veröffentlicht, nämlich ca. 280 von insgesamt zweitausend Fotos und nur wenige Ausschnitte von neunzehn Videos. Das Verbot der Verbreitung des übrigen Materials sei, wie Sontag argumentiert, weniger aus ethischen als vielmehr aus pornografischen Gründen ausgesprochen worden – um den abjekten, sexuell motivierten Genuss der amerikanischen Soldaten und Soldatinnen an der Folter zu verbergen, der das Image der USA als kriegsführender Nation nachhaltig beschädigt hätte. Der Disput verlagerte sich erneut von den eigentlichen Taten, deren ausführliche Dokumentation verhindert wurde, auf die Wirkung der gezeigten wie der zensierten Bilder, das heißt auf die öffentliche Verbreitung der Aufnahmen, deren Schädlichkeit vorausgesetzt wurde. So vermied etwa die Pressestelle der amerikanischen Regierung, wie Sontag beobachtet, das Wort »Folter« und ersetzte es bevorzugt durch »Missbrauch« oder »Demütigung«. Die Fotos dokumentierten nicht nur die amerikanische Kriegsführung, die sich bis ins Gefängnis erstreckte, vielmehr seien sie in Komplizenschaft mit den Akteuren, den Soldaten und Soldatinnen, zum Teil einer pervertierten Kriegsführung geworden: »Früher waren Fotos vom Krieg eine Domäne der Fotojournalisten. Heute sind die Soldaten selbst lauter Fotografen, halten ihren Krieg, ihren Spaß, ihre Beobachtungen, das, was ihnen pittoresk erscheint, ihre Gräueltaten in Bildern fest, tauschen sie untereinander und verschicken sie per E-Mail rund um die Erde.«10

10 Ebd., S. 173.

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Kriegsfotografie als Pornografie

Die Aufnahmen vergleicht Sontag einerseits mit Fotos von entblößten, verstümmelten Gelynchten, die den Tätern in früheren Zeiten als obszöne Trophäen dienten, andererseits mit sadomasochistischen pornografischen Produktionen, die auf der Wechselwirkung von Sexualität und Gewalt beruhen. Als paradigmatisch für die wechselseitige Durchdringung von sadistischer Gewalt und sexualisierter Kriegsführung nennt sie Pier Paolo Pasolinis Film Die 120 Tage von Sodom (1975), in dem sadistische Orgien aus de Sades libertärem Episodenroman in den Marionettenstaat verlegt wurden, den die Faschisten in den Jahren 1943–1945 am Gardasee errichtet hatten. In die bereits von Pasolini bloßgestellte Tradition der sexualisierten Kriegsführung reiht sie die Fotos aus Abu Ghraib ein. »Und vielleicht ist auch Folter als Gegenstand solcher Aufzeichnungen attraktiver, wenn sie eine sexuelle Komponente hat. Nun, da immer mehr Fotos aus Abu Ghraib an die Öffentlichkeit gelangen, ist es aufschlussreich zu sehen, dass sich die Folterfotos mit pornographischen Bildern mischen, auf denen amerikanische Soldaten Sex miteinander ha­­­­ben. Tatsächlich haben auch die meisten Folterfotos ein sexuelles Motiv – etwa die, auf denen Gefangene gezwungen werden, aneinander sexuelle Handlungen vorzunehmen oder zu simulieren. […] Aber bei den meisten Bildern scheint sich die Folter mit der Pornographie zu verbinden: eine junge Frau, die einen nackten Mann an einer Hundeleine herumführt, entspricht dem klassischen Bild der Domina. Man fragt sich auch, wie viele der sexuellen Foltern, die man den Insassen des AbuGhraib-Gefängnisses zugefügt hat, von den riesigen Vorräten an pornographischen Bildern inspiriert sind, die im Internet zur Verfügung stehen und die gewöhnliche Menschen nachzuahmen versuchen, indem sie ihre eigenen Webcasts verschicken.«11

Den an der Folter beteiligten Soldaten und Soldatinnen attestiert Sontag eine Kultur der Unverschämtheit, die Gewalt in perversen Lustgewinn und stimulierenden Unterhaltungsstoff transformiert:

11 Ebd., S. 174f.

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»[…] diese Bilder besagen ja nicht nur, dass diese Handlungen ausgeführt wurden, sondern auch, dass den Tätern bei allem, was auf den Bildern zu sehen ist, offenbar jegliches Unrechtsbewusstsein fehlt. Noch erschreckender, denn die Bilder sollten ja weitergegeben und von vielen Menschen gesehen werden, ist dies: es war alles Spaß.«12

Bereits in ihrem Buch Über Fotografie (1977) vergleicht Sontag den Akt des Fotografierens, den sie in einem Zwischenraum zwischen Aktivität und Passivität ansiedelt, mit sexuellem Voyeurismus, dem etwas Perverses anhafte. Sie schließt sich darin Diane Arbus an, die das Fotografieren als etwas Unanständiges bezeichnet hatte. »Obwohl die Kamera eine Beobachtungsstation ist, ist der Akt des Fotografierens mehr als nur passives Beobachten. Ähnlich dem sexuellen Voyeurismus ist er eine Form der Zustimmung, des manchmal schweigenden, häufig aber deutlich geäußerten Einverständnisses damit, daß alles, was gerade geschieht, weiter geschehen soll.«13

Trotz seiner aktiven Komponente ist das Fotografieren für Sontag ein Akt der Nicht-Einmischung ins Geschehen, der stets auf Distanz bleibt und vor allem als metaphorisch oder metonymisch operierende, nostalgische Wunsch-Maschine zum Einsatz kommt: »Tatsächlich aber ist das Hantieren mit einer Kamera kein sonderlich geeignetes Mittel, sich jemandem sexuell zu nähern. Der Abstand zwischen dem Fotografen und seinem Modell muß eingehalten werden. Die Kamera kann weder vergewaltigen noch in Besitz nehmen.«14 Es stehe jedoch in ihrer Macht, Begierde sowohl auszulösen als auch zu befriedigen, wobei durch die Konzentration auf die Abzüge das reale Ereignis entzogen werde oder sogar ganz verloren gehe.15 Diese stimulierende Wirkung bei gleichzeitigem Verlust des Realitätsbezugs kann eine Sucht nach immer mehr und immer gewagteren Fotos auslösen, wo­

12 Ebd., S. 176. 13 Susan Sontag: »In Platos Höhle«, in: dies.: Über Fotografie, übers. von Mark W. Rien und Gertrud Baruch, München 2002, S. 9–28, hier S. 17f. 14 Ebd., S. 18. 15 Vgl. ebd., S. 21f. u. 26.

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bei durch die Gewöhnung das ethische Gefühl allmählich betäubt wird: »Hat man einmal solche Bilder betrachtet, dann ist man bereits auf dem Weg, mehr davon zu sehen  – und immer mehr. Bilder lähmen. Bilder betäuben. […] je öfter man mit solchen Bildern konfrontiert wird, desto weniger real erscheint das betreffende Ereignis. Für das Böse gilt dasselbe wie für die Pornographie. Die Schockwirkung fotografierter Gräueltaten läßt bei wiederholter Betrachtung nach, genau wie die Überraschung und Verwirrung, mit denen man den ersten pornographischen Film betrachtet, nachlassen, sobald man sich weitere ansieht.«16

In ihrem zweiten Buch zur Fotografie Das Leiden anderer betrachten spricht Sontag den pornografischen Charakter abjekter Fotos noch direkter an, wobei sie nun den Akt des Fotografierens mit dem des Agierens und der Partizipation gleichsetzt: »Und die Schamlosigkeit, mit der sie [die Lynchopfer] fotografiert wurden, ist selbst noch Teil dieser Schandtaten. Die Bilder dienten als Souvenirs, und manche von ihnen wurden als Postkarten verwendet; nicht wenige zeigen grinsende Zuschauer, brave Bürger, von denen die meisten den Gottesdienst am Sonntag nicht versäumt haben werden und die hier vor dem Hintergrund eines nackten, verkohlten, verstümmelten Leibes, der von einem Baum herunterhängt, für die Kamera posieren. Die Präsentation dieser Bilder macht auch uns zu Zuschauern.«17

Empört über die pornografische Wirkung der Lynchfotos wirft Sontag die Frage auf, warum solche Bilder überhaupt ausgestellt wurden. Die Betrachtung sei ebenso wie die Aufnahme ein pornografischer Akt, der nicht nur mit gängigen Tabus breche und die Grenzen des guten Geschmacks überschreite, sondern auch Komplizenschaft zwischen dem Täter und dem Fotografen herstelle und den Betrachter miteinbeziehe. Solche Aufnahmen der 16 Ebd., S. 25. 17 Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, übers. von Reinhard Kaiser, München 2003, S. 106.

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sexualisierten Kriegsführung würden  – anders als etwa Francisco de Goyas Desastres de la Guerra (1810–1814) über die Gräueltaten der napoleonischen Kriege  – pornografische Gelüste erwecken und Gewalt in Libido transformieren: »Die meisten Darstellungen von gequälten, verstümmelten Körpern er­ wecken auch ein laszives Interesse. (Die Desastres de la Guerra bilden hier eine bemerkenswerte Ausnahme: Goyas Bilder lassen sich nicht mit laszivem Blick betrachten. Sie verweilen nicht bei der Schönheit des menschlichen Körpers; die Körper sind schwer und dick eingehüllt.) Alle Bilder, die die Verletzungen eines anziehend wirkenden Körpers darstellen, sind bis zu einem gewissen Grade pornographisch.«18

Kriegsfotografie, die entblößte, gequälte, doch eigentlich attraktive Körper vorführt, avanciert zum Inbegriff des Pornografischen. Die Gelüste, die von hergerichteten Leichnamen hervorgerufen werden, habe schon Sokrates bei Leontios, dem Sohn des Aglaion herausgestellt, wie Platon in der Politeia überliefert.19 Vor allem Kriegsfotos aus Afrika, Asien und vom Balkan attestiert Sontag gar eine Art pornografischen Orientalismus: »Je weiter entfernt oder exotischer der Schauplatz, desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß wir die Toten und Sterbenden unverhüllt und von vorn zu sehen bekommen.«20 Ähnlich wie in europäischen Leinwanddarstellungen des Orients werden verstümmelte Körper aus diesen Regionen in schamloser Entblößung vorgeführt. Im Jahr 2004 erscheint Sontags Essay über die Fotos von Abu Ghraib. Nun sieht sie im Pornografischen nicht mehr nur ein Nebenprodukt des Krieges, sondern den zentralen Aspekt der modernen Kriegsführung. Nach wie vor hält sie nicht alle Darstellungen des Krieges für obszön. Einen ähnlichen Status wie Goyas Zyklus Desastres de la Guerra schreibt sie auch der Ikone des Martyriums in Abu Ghraib zu – der Aufnahme eines Gefolterten, der mit einer spitzen Kapuze über dem Kopf und einem Poncho um den nackten

18 Ebd., S. 111. 19 Ebd., S. 112. 20 Ebd., S. 84.

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Körper auf einem Kasten steht und die Hände, an denen Elektroden befestigt sind, wie zum Gebet ausbreitet.21 »Eine Ausnahme ist das schon kanonisch gewordene Bild des Mannes, der mit einer Kapuze auf dem Kopf auf einer Kiste stehen muss und dem Drähte aus den Händen zu wachsen scheinen. Angeblich hatte man ihm gesagt, er werde mit Elektroschocks getötet, falls er herunterfalle.«22

Der zur »kanonisch gewordenen Ausnahme« erhobene Verhüllte erinnert nicht nur an das erste Blatt aus Goyas Desastres, »Düstere Vorgefühle dessen, was sich ereignen wird«, der den Zyklus von Folterszenen eröffnet. Die Grafik zeigt einen knienden Mann mit christomorphen Zügen, der seine Arme in einer ähnlichen, sich hingebenden Haltung ausstreckt wie der Gefolterte in Abu Ghraib. Dessen Pose, die an die christliche Ikonografie des Ecce homo erinnert, ruft auch Giorgio Agambens Figur des homo sacer vor Augen. Diese Gestalt verbindet man heute vielleicht allzu exklusiv mit Agamben.23 Nicht nur die Gestalt des römischen Rechts, die der italienische Philosoph rekonstruiert hat, befand sich in einer Juxtaposition von Erhabenheit und Verfluchung, Heiligkeit und Unreinheit. Schon vorher gibt es in der Debatte um Opfer von Krieg und Gewalt Gestalten, die zugleich einer vollständigen Vereinnahmung und einem vollkommenen Ausschluss ausgesetzt sind. In der Ethnologie der Religion, so Agamben, bezieht sich das Wort sacer (heilig, geweiht) auf alles, was nicht berührt werden darf (Tabu, Bann), damit es nicht zu einer Verunreinigung kommt. Wegen seiner Ansiedlung in der Nachbarschaft von Erhabenheit und Fluch wurde der homo sacer zur Figur der Ausnahme jenseits des Strafrechts erhoben. Wolfgang Gantke hat darauf hingewiesen, dass sich die Reziprozität von Inklusion und Exklusion bereits der Etymologie der Wörter für »heilig« bzw. »sakral« in verschiedenen Sprachen eingeprägt hat: Während die anglo-germanischen Adjektive holy und »heilig«

21 Vgl. Sontag: »Das Foltern anderer betrachten«, in: dies.: Zur gleichen Zeit, a.a.O., S. 174. 22 Ebd. 23 Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt 2002, S. 12–40 u. 81ff.

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eine abgetrennte, geschlossene »Ganzheit« und »Unversehrtheit« bezeichnen, verweisen das hebräische kaddosch (‫)קדוש‬, das altgriechische hagios (άγιος) und das lateinische sanctus (französisch saint, italienisch santo, russisch svjatyj) auf etwas »Besonderes« oder »Abgesondertes«.24 Bereits der führende Theoretiker der französischen Restauration, Joseph de Maistre, der während der napoleonischen Kriege im russischen Exil lebte, hat in seiner Schrift Über das Opfer (1810) die Absonderung vom Nicht-Sakralen sogar im Wesen des Sakralen selbst verortet und den Begriff sacer als äußerst ambivalent herausgestellt. Seine Ambivalenz manifestiert sich laut de Maistre vor allem in der zentralen Praktik des religiösen Lebens – dem Opfer, das aufs Engste mit der Gewalt verbunden ist. »Man sieht hier, warum das Wort SACER (heilig, geweiht) im Lateinischen einen positiven und einen negativen Sinn hatte, warum dasselbe Wort im Griechischen (οειοε) ebenfalls sowohl Heiliges als auch Profanes bedeutete, warum der Begriff ANATHEMA zugleich die Gott dargebrachte Gabe und das seiner Rache Geweihte bezeichnete, warum man schließlich im Griechischen wie im Lateinischen sagte, ein Mensch oder eine Sache seien ent-heiligt (entsühnt), um auszudrücken, dass sie von einem Makel gereinigt worden seien. Dieses Wort dé-sacrer (ent-heiligen) verstößt anscheinend gegen die Analogie, das unbefangene Ohr würde résacrer oder ré-sanctifier (wieder-heiligen) erwarten. Der Irrtum ist aber nur scheinbar, und der Ausdruck trifft sehr gut zu. SACER bedeutet in den Sprachen der Antike, was in irgendeiner Weise der Gottheit geweiht ist, so daß die Hinrichtung ent-heiligt oder ent-sühnt, ganz wie die kirchliche Absolution (Los-sprechung). Wenn das Zwölftafelgesetz die Todesstrafe verhängt, heißt es: SACER ESTO (er sei geheiligt), und nur durch die Hinrichtung wurde der Verbrecher ›ent-heiligt‹, also entsühnt.«25

24 Wolfgang Gantke: Der umstrittene Begriff des Heiligen. Eine problemorientierte religionswissenschaftliche Untersuchung, Marburg 1998, S. 196f. 25 Joseph de Maistre: Über das Opfer. Gefolgt von einem Essay von E. M. Cioran zu Joseph de Maistre, übers. von Cornelia Langendorf, Wien 1997, S. 18f. Zu de Maistres Auffassung des Opfers vgl. auch Owen Bradley: »Maistre’s Theory of

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Wie de Maistre lange vor Agamben in der ambivalenten Figur des sacer einen doppelten Ein- und Ausschluss erkennt, schließt auch Sontag den verhüllten Gefolterten in der gebetsartigen Haltung als »kanonische Ausnahme« aus dem Bereich des Pornografischen aus. Eine ähnliche Ambivalenz von Heiligung durch und Verdammnis zum Leiden wie in der Inszenierung des Kapuzenmanns aus Abu Ghraib erkannte der Kunsthistoriker Steven F. Eisenman in der Ikonografie von Martyrien in der abendländischen Kunst: Die amerikanischen Soldaten hätten einerseits auf die visuellen Formeln der Opfer und der Besiegten in der Kunst seit der Antike bis hin zu Inquisitionsverhören zurückgegriffen, andererseits aber zugleich auch die Maskierung der Henker und der Ku-Klux-Klan-Mitglieder in Erinnerung gerufen.26 Diese Ähnlichkeit bezeichnet Eisenman als einen unbewussten »Abu-Ghraib-Effekt«, eine Form des Unheimlichen, in der sich die visuelle Imagination des westlichen Imperialismus offenbare.27 Während Sontag den emblematischen Kapuzenmann aus dem Bereich des Pornografischen aussondert, rückt Baudrillard ihn in seinem Aufsatz »Pornographie de la guerre« (2004)28 ins Zentrum seiner Analyse. Dabei unterscheidet er offensichtlich zwei Arten des Pornografischen – eine Pornografie im engeren, buchstäblichen und eine im weiteren, übertragenen Sinne: Erstere manifestiert sich in der kompletten Entblößung des Körpers der Gefangenen, ihrer totalen Über- und Durchsicht, die mit ihrer Entsubjektivierung und Entindividualisierung einhergeht. Das pornografische Kameraauge, das auf Genitalien und Ausscheidungsorgane fokussiert, erschließt den Körper und macht die Zonen, die sonst dem Tabu unterliegen, sichtbar und zugänglich. Gleichzeitig verhindert die Verhüllung, dass die Gefolterten ihre Peiniger ansehen können. Ein Dialog von Angesicht Sacrifice«, in: Richard A. Lebrun (Hg.): Joseph de Maistre’s Life, Thought, and Influence. Selected Studies, Montreal 2001, S. 65–83. 26 Vgl. Stephen F. Eisenman: The Abu Ghraib Effect, London 2007, S. 11–17. 27 Ebd., S. 111–122. 28 Jean Baudrillard: »Pornographie de la guerre«, in: Libération, 19.5.2004, http:// www.liberation.fr/tribune/2004/05/19/pornographie-de-la-guerre_480052 (aufgerufen: 8.5.2017); vgl. die englische Übersetzung: Jean Baudrillard: »War Porn«, in: ders.: The Conspiracy of Art. Manifestos, Interviews, Essays, hg. von Sylvère Lotringer, übers. von Ames Hodges, New York 2005, S. 205–209.

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zu Angesicht, der Empathie hervorrufen könnte, ist also nicht möglich. Die zweite Art des Pornografischen im metaphorischen Sinne äußert sich laut Baudrillard in der Selbstentblößung der Macht hinter dem Fotoapparat, die mit der gleichzeitigen Erblindung für ihre eigene obszöne Nacktheit einhergeht. Dieser auto-pornografische Gestus wird durch die Travestie, einen Akt der Angleichung durch Verkleidung, hervorgebracht, in dem der Gefolterte  – in Anspielung an die verhüllten Henker des Ku-Klux-Klans  – als dunkles Abbild Amerikas maskiert wird. »Diese ganze Maskerade, welche die Niedertracht des Krieges krönt, bis hin zu jener Verkleidung, in dem grausamsten Bild (dem grausamsten für Amerika), weil zugleich das gespenstischste und am meisten ›umkehrbare‹, dem Bild von diesem Gefangenen, dem die Hinrichtung durch Stromschlag droht und der, gänzlich unter der Kapuze, zum Mitglied des Ku-Klux-Klans geworden ist, von Seinesgleichen gekreuzigt. Das da ist wirklich Amerika, das sich selbst durch Stromschlag hingerichtet hat.«29

In der reziproken Geste des verhüllten Enthüllens äußert sich für Baudrillard die äußerste, abjekteste Form der Kriegsführung, die nicht mehr weiß, wie sie sich noch überbieten kann. Man könnte noch weitergehen: Die Überbietung führt zu einer Umkehrung, wobei die Pole des Sakralen und des Verfluchten wie in dualistischen Religionssystemen ausgetauscht werden. In dem Aufsatz »The Unspeakable and Unimaginable. Word and Image in a Time of Terror« aus dem Jahre 2005,30 den er in sein in deutscher Übersetzung erschienenes Buch Das Klonen und der Terror. Der Krieg der Bilder seit 9/11 (2011) aufnahm,31 denkt der Literaturund Kunstwissenschaftler W. J. T. Mitchell diese erweiterte Form der

29 Ebd., S. 209, Übersetzung T.Z. 30 W. J. T. Mitchell: »The Unspeakable and the Unimaginable. Word and Image in a Time of Terror«, in: English Literary History 72 (2005), Heft 2, Essays in Honour of Ronald Paulson, S. 291–308. 31 W. J. T. Mitchell: Das Klonen und der Terror. Der Krieg der Bilder seit 9/11, übers. von Michael Bischoff, Berlin 2011, insbesondere das Kapitel »Das Unaussprechliche und das Unvorstellbare«, S. 90–108.

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Perversion in eine andere Richtung als Baudrillard weiter, indem er auf das Umkippen des Abjekten ins Religiöse hinweist: Im »Klonen des Terrors«  – einem Prozess der Bildgenerierung durch Doubles, die potenzielle Täter durch Anspielung auf Vorbilder der christlichen Ikonografie wie die Verspottung Christi, Ecce homo-Szenen und den Schmerzensmann in neue Märtyrer- und Heiligenfiguren transformiert – wird eine Umkehrung vollzogen. Die Perversion liegt nicht allein im Rückgriff auf die christliche Ikonografie, nicht in der Imitation christlicher Vorbilder, sondern auch in der Schaffung der rhetorischen Trope einer negativen Theologie, einer neuen Figur des Unaussprechlichen bzw. der Sprachlosigkeit: Indem den Gefolterten Sehen und Sprechen verweigert werden, verwandeln die Folterer sie in azephale Figuren und rücken sie in die Nähe einer religiösmystischen Transzendenz. Diesem Bereich sind die äußersten Pole des absolut Guten (des Göttlichen) und des absolut Schlechten (des Teuflischen) zugewiesen. So kann der Kapuzenmann die ambivalente Gestalt des heiligen Kriegers oder des teuflischen Terroristen annehmen. Obwohl Mitchell nicht über Pornografie spricht, erkennt er im »Klonen« der Spiegelbilder eine blasphemische Geste der Verkehrung des Heiligen ins Teuflische. Diesen blasphemischen Aspekt des Pornografischen  – seine Vermischung mit dem Sakralen – hat Sontag bereits in der frühen Schrift »Die pornographische Phantasie« (1967) herausgearbeitet.32 Was zwei so konträre Sphären wie die der Pornografie und des Sakralen verbindet, ist auch für Sontag der Ausstieg aus der Sprache: Ihr Entzug leitet die Kommunikation auf das Körperliche hin, in eine direkte, sinnliche Involvierung. In beiden Sphären werden theatralische Bühnen für rein sinnliche Evidenzen erzeugt. Auf beiden wird der Körper über die totale Degradierung und Entäußerung in einen transzendenten Zustand überführt, in dem Individualität und Menschlichkeit verloren gehen. Das äußerst Sinnliche kann sowohl im sadomasochistischen Sexualakt als auch in der mystischen Religion für die jeweils Beteiligten in die totale Askese und Agonie kippen. Beim Überschreiten der Grenze in ein Jenseits des Eros wird das

32 Susan Sontag: »Die pornographische Phantasie«, in: dies., Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, übers. von Mark W. Rien, München 2003, S. 48–87.

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Humane ins Objekthafte transformiert, bei der Begegnung mit dem Tod damit zugleich ausgelöscht. Beide Akte, der pornografische wie der mystische, perpetuieren sich in unendlichen Zyklen und Reihen, wobei der Ausstieg aus dem Akt lediglich als ein abruptes Ende, ein Herausfallen aus der auratisierenden Verdinglichung, herbeigeführt werden kann. Sontags gewagter, in Auseinandersetzung mit Georges Batailles Geschichte des Auges entstandener Text eröffnet weitergehende Per­ spektiven auf den pornografischen Charakter der postmodernen Kriegsfotografie. Denn diese operiert nicht nur mit der perversen Entblößung sonst verdeckter Körperteile, sondern auch mit der Perversion des als böse Verteufelten ins Sakrale. In diesem Akt der Transgression überschreitet der Fotograf demgemäß nicht nur die Grenze der bloßen Aufzeichnung, sondern transformiert die Folter in einen obszön-geheiligten Akt. Die Nähe des Heiligen zum Pornografischen in der Bibel hat bereits Jacques Derrida in seiner Schrift über die Apokalypse herausgestellt: Das hebräische Wort gala ( !"#$%!) und seine griechische Entsprechung apokalypto (αποκαλύπτω) bezeichnet darin nicht nur die Enthüllung des großen göttlichen Geheimnisses, sondern auch des Geschlechts.33 Im Altgriechischen, so Barbara Vinken in ihrem Buch über Pornografie, bezeichnete das Verb porneuein nicht nur »sich preisgeben« und »huren«, sondern auch »das Treiben des Götzendienstes«.34 Erst vor dem Hintergrund dieser Doppeldeutigkeit des Sakralen und der Ambivalenz der damit verbundenen Begriffe wird die Ausklammerung des Gefolterten mit der Kapuze als »kanonische Ausnahme« aus dem Bereich des Pornografischen in Sontags spätem Essay über die Fotos aus Abu Ghraib verständlich. Damit vollzieht sie einen Akt der Sakralisierung und verwandelt den Gefolterten in ein Objekt der grausamen Kontemplation, herausgelöst aus der Geschichte der Passion. Georges Bataille hat seine Analyse des Fotos eines gefolterten, durch hundert Messerstiche rituell langsam zer-

33 Vgl. Jacques Derrida: Apokalypse, hg. von Peter Engelmann, übers. von Michael Wetzel, Wien 1985, S. 13–15. 34 Barbara Vinken: »Einleitung. Cover up – Die nackte Wahrheit der Pornogra­ phie«, in: dies. (Hg.): Die nackte Wahrheit. Zur Pornographie und zur Rolle des Obszönen in der Gegenwart, München 1997, S. 7–22, hier S. 8.

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stückelten Chinesen in Die Tränen des Eros (1961) mit einer vergleichbar angeekelten Faszination beschrieben. Sontag zieht das Foto, das Bataille nicht losließ, in ihrem Buch Das Leiden anderer betrachten als Beispiel für die Vermischung der Gewalt mit dem Vergnügen am Betrachten heran.35 Nach Sontag, Baudrillard und Mitchell griff schließlich auch Judith Butler die Folterfotos aus Abu Ghraib in ihrem Buch Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen (2009) auf und untersuchte deren Produktions- und Perzeptionsrahmen.36 Während die amerikanische Militärführung im Zweiten Golfkrieg den Blickwinkel des gesteuerten, »eingebetteten Journalismus« bestimmte, in dem die Perspektive der Opfer nicht vorkommen durfte, hätten sich die Folterfotos aus Abu Ghraib der festgelegten Dramaturgie entzogen und unverhüllt die rahmende Machtstruktur offengelegt.   Die Ausein­ andersetzung mit den Folterfotos nutzt Butler nicht nur, um die Rahmung (im Sinne von framing) der Kriegsbilder zu veranschaulichen, sondern auch, um Sontags Schriften über Fotografie einer grundlegenden Kritik zu unterziehen. Sie wendet sich gegen Sontags Auffassung einer performativen, appellativen Funktion von Kriegsfotografie, die im Betrachter eine ethische Wirkung hervorrufen solle. Dagegen sieht Butler in der Offenlegung der Rahmung eine selbstentblößende Spur angelegt, die eine kritische Befragung der Bedingungen des Sehens ermögliche. Ihr Konzept der visuellen Rahmensetzung verbindet sie mit der Auffassung des Gesichts als zentraler Figur der Sozialität, die Emmanuel Lévinas in seinem Buch Zwischen uns. Ver­ suche über das Denken an den Anderen (1991) entwickelt hat.37 Der Akt der Anerkennung des Gegenübers ist für Lévinas untrennbar mit der »Verleihung des Gesichts«, seine Missachtung dagegen mit dessen »Auslöschung« verbunden.38 Die ungleichen Parameter der Sichtbarkeit auf den Fotos von Abu Ghraib, auf denen die Gefolterten

35 Vgl. Sontag: Das Leiden anderer betrachten, a.a.O., S. 114f. 36 Judith Butler: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, übers. von Reiner Ansén, Frankfurt 2010, S. 65–97. 37 Vgl. ebd., S. 77. Vgl. auch Judith Butler: Gefährdetes Leben. Politische Essays, übers. von Karin Wördemann, Frankfurt 2005, S. 156–178. 38 Emmanuel Lévinas: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, übers. von Frank Miething, München 1995, S. 22f.

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ins Bild gebannt werden, sie aber, da ihre Gesichter verdeckt sind, ihre Peiniger nicht anschauen können, kommt für Butler einer Missachtung des Menschseins gleich. Die Kamera, die sich zwar nicht innerhalb des Rahmens befindet, diesen jedoch in Komplizenschaft mit den Soldaten und Soldatinnen mitkonstituiert, legt durch ihre Perspektivierung die unmenschlichen Normen der amerikanischen Kriegsführung offen. Erst als die Zirkulation der Fotos den ursprünglichen Rahmen der Folternden verlassen hatte, zunächst also im Zuge der internen Aufklärungsarbeit des Militärs und anschließend infolge der öffentlichen Brandmarkung, wurden die Taten überhaupt als Verstöße wahrgenommen. Trotz der Sexualisierung des Aktes des Sehens und des Fotografierens spricht Butler den Abu-Ghraib-Fotos letztlich einen rein pornografischen Charakter ab, weil sie in ihnen weniger ein Mittel zum Lustgewinn als vielmehr zur Beschämung der Gefolterten sieht. Denkt man jedoch die Figur der Gesichtsverhüllung weiter, wurde den Gefolterten nicht nur das Gesicht genommen, sondern auch ein neues aus Geschlechts- und Ausscheidungsorganen aufgesetzt. Die Exponierung der tabuisierten Körperteile anstelle des Gesichts verkehrt Lévinas’ Figur der Sozialität in die der Pornografie. Wie in George Batailles surrealistischer Geschichte des Auges, in der das Sehorgan in ein tödlich-erotisches Wechselspiel mit den menschlichen wie tierischen Genitalien und ihren Sekreten gerät, erhalten die gesichtslosen Opfer in Abu Ghraib ein obszönes Gesicht  – vergleichbar mit den surrealistischen Puppen Hans Bellmers oder der Chapman Brüder. So wie »unverschämt« in vielen Sprachen im morphologischen Aufbau eine etymologische Ableitung vom Adjektiv »gesichts-los« verrät  – auf Italienisch »s-facciato«, auf Serbisch/ Kroa­tisch »bez-obrazan« und auf Russisch »bez-obraznyj«  – offenbaren auch die Folterer von Abu Ghraib durch ihre fotografische Inszenierung der Gesichtslosigkeit eine unverschämte Schamlosigkeit. Die Überbietung der Macht führt zum karnevalistischen Umkippen, zur Perversion der Gegensätze von Gesicht und Geschlecht, von Oben und Unten, von Sakralem und Pornografischem. Während bei Michail Bachtin die entmachtenden Strategien der Karnevalisierung bei Volksfesten und -bräuchen sowie in der Volksliteratur dazu dienen, die soziale Distanz zwischen Herrschenden und Beherrschten temporär

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zu überwinden und Hierarchien für die Zeit des Festes durch Travestie außer Kraft zu setzen,39 unterstellt eine pervertierte Karnevalisierung auf den Fotos sadistischer Kriegslust aus Abu Ghraib die vermeintliche Gleichheit der Opfer und ihrer Täter in einer allumfassenden Gewalt. So gelesen münden die Fotos aus Abu Ghraib in die SelbstEntmächtigung (Bachtin verwendet den Ausdruck »Entthronung«) des amerikanischen Militärs. Während Bachtins Karnevalisierung als Phänomen der Volkskultur der Erneuerung von sozialen Bündnissen und Wertesystemen dient, bewirkt die Karnevalisierung der Machthaber in Abu Ghraib das Gegenteil  – die Bloßlegung der Macht in ihrem Bedarf an Erneuerung durch Pornografie. Die Karnevalisierung ermöglicht nämlich das Durchqueren der beiden entgegengesetzten Pole des Sakralen und des Pornografischen, die sich im Krieg berühren und miteinander vermischen. Was Sontag, Baudrillard, Mitchell und Butler trotz unterschiedlicher theoretischer Positionen und Herangehensweisen bei ihrer Auseinandersetzung mit den Folterfotos aus Abu Ghraib verbindet, ist die implizite oder explizite Ansprache der Perversion. Während Baudrillard den Kapuzenmann zum Inbegriff des Pornografischen erklärt, erhebt ihn Sontag zur geheiligten Figur der Ausnahme. Während Mitchell von gespiegelten »Klonen« spricht, beobachtet Butler den Verlust des »Gesichts«. Obwohl sie auf den ersten Blick völlig entgegengesetzte Positionen beziehen, messen sie insgesamt das diskursive Feld ambivalenter Figuren des Verhüllens und Enthüllens, des Sakralen und Pornografischen aus. Um Sontags Texten über Fotografie gerecht zu werden, müssen diese im Kontext ihres gesamten Œuvres gelesen werden. Wie sie von der Kriegsfotografie stets verlangt, dass sie kontextualisiert, durch Bildunterschriften gerahmt oder in Narrative eingebettet werden soll, so lässt sich auch die Bedeutung ihrer manchmal nebensächlichen Sätze nur im Zusammenhang ihres Gesamtwerks erschließen. Vor dem Hintergrund ihrer Analyse der pornografischen Texte und Bilder aus den Sechzigerjahren kann man ihre manchmal widersprüchlich erscheinende Kritik sowohl der pornografisch-schockierenden 39 Zu karnevalistischen Strategien der Volkskultur vgl. Michail M. Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, hg. von Renate Lachmann, übers. von Gabriele Leupold, Frankfurt 1998.

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als auch der sakralisierend-ästhetisierenden, sich dem Andachtsbild annähernden Kriegsfotografie, auch in die Debatte um das Pornografische und seine Verschränkung mit dem Sakralen einbetten. In Sontags späten Schriften über Kriegsfotografie wird der performative Charakter der Aufnahmen, sei es als Aktion oder als Appell verstärkt, und somit auch die pornografische Geste des Fotografischen intensiviert. Sontag verfolgt aufmerksam den permanenten medialen und sozialen Wandel, in dem Bilder nicht mehr von den professionellen Kriegsreportern als Beobachtern, sondern von den involvierten Akteuren, den Soldaten und Kämpfern selbst aufgenommen werden. Anstelle der politischen Ziele der kriegsführenden Nation gerät das private Erleben der Beteiligten in den Vordergrund; zugleich schlägt das Politisch-Unbewusste ins Triebhaft-Körperliche um. Mit ihrer zunehmenden Instrumentalisierung in der Praxis von Kampf und Folter werden die Fotos zur Extension der kriegsführenden Körper, die in ihrer ekstatischen, dehumanisierten Gestalt die Pole des Sakralen und des Pornografischen durchmessen, ohne zwischen diesen noch unterscheiden zu können. Sontags Verdienst ist es, den Wandel der Kriegsfotografie wie ein empfindlicher Seismograf registriert zu haben. Sie hat gezeigt, dass Ethos und Pathos, Empathie und Gewaltexzess, Sakrales und Pornografisches nicht mehr im Gegensatz zueinanderstehen, sondern in blasphemischen Konstellationen auftreten oder sogar ineinander umkippen können.

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Carolin Emcke, Juliane Rebentisch, Daniel Schreiber Ethik und Ästhetik des Sehens Ein Gespräch über die Aktualität Susan Sontags

Der folgende Text geht zurück auf eine Podiumsdiskussion, die unter der Moderation von Matthias Günther am 28.  November 2014 im Rahmen des Susan-SontagSymposiums in den Münchner Kammerspielen stattgefunden hat.

Genaues Sehen Matthias Günther: Susan Sontag formuliert die Ästhetik, die sie auszeichnet, prominent und eindrücklich in »Anmerkungen zu ›Camp‹«. Darin hält sie eine Art Plädoyer für ein neues Sehen, das sich vom traditionellen Sehen, einer analytisch-hermeneutischen Betrachtung der Hochkultur, abwendet und andere Phänomene in den Fokus nimmt, die 1964, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung, noch nicht im Blickpunkt waren. Auch das Triviale wurde in dieser Art und Weise noch nicht betrachtet. Ist der Essay »Anmerkungen zu ›Camp‹« auch eine Schule des neuen Sehens? Daniel Schreiber: Ja, ich denke, der Camp-Artikel ist ein gutes Beispiel für eine solche Schule des Sehens. Eines der großen Projekte Sontags war immer, das kollektive Sehen zu steuern und in andere Richtungen zu lenken, auf bestimmte Phänomene wie den Camp, die Subkultur, die verdrängte Seite der Fotografie oder so gut wie vergessene literarische Phänomene. Es ging ihr aber auch darum, das Sehen strukturell zu transformieren, also bestimmte Weisen des Sehens zu verändern. Das ist ein roter Faden, der Sontags Werk durchzieht. Ziel dieses Transformationsprojekt war weniger ihr eigener Blick auf die Dinge als der Blick der Gesellschaft. Juliane Rebentisch: Ich weiß gar nicht, ob man sagen kann, Sontag habe für ein »neues« Sehen geworben. Sontags Ruhm begründet sich zu Recht darauf, dass sie genau beobachtet hat, dass sie für ihre

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kulturelle Umgebung sehr aufmerksam war.    Dabei hat sie sich von den Kategorien, die bereitstanden, nicht anleiten lassen, sondern alles, ob es sich dabei nun um hoch-, massen- oder subkulturelle Phänomene gehandelt hat, erst einmal gleich behandelt und sehr genau beschrieben. Das heißt: Sie hat Massenkulturphänomene mit einer Genauigkeit betrachtet, wie sie vorher nur den Hochkulturphänomenen zukam. Dadurch ist sie zu einer Art Mutter der Cultural Studies geworden. Das ist aber kein ganz anderes oder »neues« Sehen. Es handelt sich zunächst um ein genaues Sehen.   In dieser Hinsicht hatte allerdings speziell der Camp-Aufsatz, wovon Daniel Schreibers Biografie zu berichten weiß, ein etwas eigentümliches Schicksal, weil er so erfolgreich war und »Camp« daraufhin zu einem Modewort wurde; alles Mögliche galt nun als »campy«. Der Begriff wurde so ubiquitär verwendet, dass dadurch Sontags Versuch, die Spezifik des Phänomens zu erfassen, eigentlich zunichte gemacht wurde. Gleichwohl hat der Aufsatz diese Phase überlebt und ist später von den Cultural Studies, der Queer Theory und den Gender Studies wieder aufgegriffen worden, zumeist allerdings kritisch. Tatsächlich kann man Sontags Beschreibung auch in Frage stellen. Auch ich würde Camp anders beschreiben, als Sontag das gemacht hat. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass es beim Camp um eine ironische Distanz zu den Gegenständen geht, nicht um einen Ästhetizismus. Aber das ist eine eigene Diskussion. Immerhin aber hat Sontags Aufsatz eine reichhaltige Vorlage geliefert, an der man sich bis heute abarbeiten kann. Matthias Günther: Es liegen auch fünfzig Jahre dazwischen. Juliane Rebentisch: So ist es. Allerdings würde ich auch die Phänomene aus den Sechzigerjahren anders beschreiben als Sontag. Carolin Emcke: Ich weiß auch nicht genau, ob das Sehen wirklich so anders war. Aber um es anders zu beschreiben: Das Interessante an Susan Sontag als Autorin oder Intellektuelle war, dass sie, im übertragenen Sinne, nicht räumlich sehen konnte  – sofern räumliches Sehen darin besteht, dass man bestimmte Dinge hierarchisiert und Distanzen und Nähen erkennen kann.    Man hatte bei Susan Sontag stets den Eindruck, dass sie soziale oder ästhetische oder politische

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Phänomene, Objekte, Texte gleichermaßen ernsthaft oder lustvoll betrachten konnte – ohne sie zu hierarchisieren. Bei ihr gab es keine Staffelung von Wichtigkeiten, keine unterschiedlichen Ernsthaftig­ keiten, wie das in akademischen Diskursen häufig der Fall ist. Vielmehr hatte sie eine so existenzielle wie intellektuelle Freude daran, kleine oder große, alltägliche oder außerordentliche Dinge zu betrachten. Daniel Schreiber: Ich denke nicht, dass Sontag sich nicht für Hie­ rarchien interessierte, im Gegenteil, ihr Leben und ihr Arbeiten war davon bestimmt, sich gegen bestimmte Hierarchien zu stellen und sich in andere Hierarchien selbst einzuschreiben. Man muss vorsichtig sein, Sontag nicht posthum zu idealisieren. Aber ich stimme damit überein, dass es Sontag immer auch um ein genaueres Hinsehen ging. Es war eines ihrer Anliegen, sich Dinge, die von anderen möglicherweise nicht gesehen wurden, genau anzuschauen, aber immer mit dem Ziel, das kollektive Sehen zu schärfen. Sie hat immer eine Mission gehabt. In jedem ihrer Texte lag ein Bildungsauftrag. Manchmal war das direkt formuliert.    Man liest oft den Gestus ›wir müssen‹, ›wir brauchen‹ oder ›wir sollten‹. Er ist prävalent in ihren Werken und hat viel zu der Kraft, der Wirksamkeit und dem Durchsetzungsvermögen ihrer Texte beigetragen. Aber man kann ihn auch kritisch sehen, in bestimmten Fällen muss man das sogar. Ich würde auch nicht in jedem der von ihr beschriebenen Phänomene mit ihr darin übereinstimmen, dass wir ein neues Sehen brauchen. Das hat sie übrigens selbst auch nicht getan. Was das Medium der Fotografie betrifft, hat Sontag in den ungefähr 25 Jahren, die zwischen Über Fotografie und Das Leiden anderer betrachten liegen, eine große Entwicklung durchgemacht und widerspricht sich verdeckt selbst im Text. Sie sagt zum Beispiel: ›Man hat Bildern früher vorgeworfen, dass …‹ – Das war aber ihr eigener Vorwurf, den sie in Über Foto­ grafie formuliert hatte. Juliane Rebentisch: Ich finde es faszinierend, Sontag-Texte aus heutiger Perspektive zu lesen. Mir gefällt die Autoritätsanmaßung, die da stattfindet; das Direkte – die genaue Beobachtung, die Hinwendung zur Welt und zu den Phänomenen. Ein Zugriff, der unverstellt und ungesichert durch akademische Rituale daherkommt, geht damit

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zusammen, sich aufzuwerfen und zu sagen: Wir müssen und wir sollen (uns damit beschäftigen). Es gibt hier eine Anmaßung, die im Dienste der Sache steht, auch wenn sie sich hier und da mit der Eitelkeit der Person mischen mag.   Was mir bei Sontag auch gefällt, ist ihr Zug auf Öffentlichkeit. Damit, dass sie in so vielen Angelegenheiten dezidiert Position bezogen und öffentliche Geltung für ihre Überzeugungen beansprucht hat, hat sie sich ja nicht nur exponiert, sondern zugleich auch angreifbar gemacht. Ein solches öffentliches Positionbeziehen ist denn auch immer mit dem Risiko verbunden, sich korrigieren, einer früher vertretenen Position später widersprechen zu müssen. Ich halte aber gerade das für ein Zeichen eines authentisch beweglichen Denkens, das sich immer wieder neu von Entwicklungen, Phänomenen, Geschehnissen irritieren, affizieren lässt. Die heutige öffentliche Landschaft könnte durchaus wieder mehr solcher Figuren vertragen, finde ich.

Beweischarakter des Bildes Carolin Emcke: Was mich interessiert, ist die Frage nach dem Beweischarakter von Bildern, die sowohl in Über Fotografie als auch in Das Leiden anderer betrachten auftaucht, das heißt die Frage, inwieweit Bilder als Realitätsabdruck taugen oder als solcher konstruiert sind und wie dadurch das Verhältnis zu der abgebildeten Wirklichkeit aussieht. Juliane Rebentisch: Ein Argument aus Über Fotografie ist unerhört einflussreich geworden. Sontag stellt zunächst fest, dass uns Fotografien immer wie ein Bestandteil von Realität vorkommen. Das hat mit der Indexikalität von Fotografie zu tun, also damit, dass sich das, was auf dem Bild zu sehen ist, irgendwann vor der Kamera befunden haben muss, und es so wirkt, als handele es sich nicht um Interpretation. Damit hat sich eine ganze fototheoretische Tradition verbunden, die auf Barthes und Kracauer zurückgeht und die Fotografie als Nicht-Kunst lobt. Die Realität zeigt sich dieser Auffassung zufolge im Foto in ihrem verrückten Detailreichtum gerade deswegen, weil kein interpretierendes Subjekt zwischen Welt und Bild tritt.

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Sontag argumentiert dagegen, dass es sich bei Fotografien in einem gewissen Sinne sehr wohl um Interpretationen handelt. Wir sehen hier immer nur Ausschnitte von Welt.   Fotografien funktionieren hochgradig selektiv; der Konstruktcharakter solcher Bilder ist stets mitzudenken. Dieses Argument hat bis heute einen enormen Einfluss, besonders in der Kunstwelt, wo man sich mit dem Problem des Dokumentarismus auseinandersetzt. Es hat im Grunde zu einer Verschiebung im Verständnis dessen geführt, was der Kunsteinsatz im Feld des Dokumentarischen ist. Der besteht nämlich nicht so sehr darin, auch Bilder herzustellen, die den Anspruch haben, etwas über die Welt zu beweisen. Die Kunst verweist vielmehr immer auf die Bildrhetoriken, auf die Vermittlung, auf die Interpretation, auf den Konstruktcharakter. Carolin Emcke: Das aber ist für Leute, die dokumentarisch arbeiten, ein enormes Problem, weil sie andauernd gegen das Misstrauen der anderen arbeiten müssen. Juliane Rebentisch: Ja, das ist richtig. Die künstlerische und die do­ kumentarische Logik verfolgen je andere, vielleicht sogar entgegengesetzte Politiken. Wo die Kunst den automatischen Bezug der Fotografie auf die Welt stört, werden alle, die das Foto als Dokument verstanden wissen wollen, versuchen, den Bezug der Fotografie zur Welt plausibel zu machen. Beide Logiken haben – je nach Kontext – ihre Berechtigung; man sollte sie nicht gegeneinander ausspielen. Dass es im einen Fall um die Störung des Verhältnisses von Bild und Wirklichkeit geht, im anderen um dessen Herstellung, zeugt natürlich auch davon, dass sich dieses Verhältnis – gerade auch im Falle der (indexikalen) Fotografie – nicht einfach von selbst versteht. Dass dies so ist, hat Sontag sehr gut verstanden. Viele ihrer Überlegungen kreisen um den Umstand, dass die Bilder als Bilder nicht für sich verbürgen können, was sie zeigen. In diesem Zusammenhang finde ich ja auch ein anderes Argument sehr interessant, das Sontag in Das Leiden anderer betrachten entwickelt. Es bezieht sich auf die Frage der Angemessenheit, auf eine Ethik des Zeigens. Wem zeige ich welche Bilder wann? Solche Fragen sind wichtig, weil sich die Frage der Angemessenheit einer Bildrhetorik nicht bildimmanent lösen lässt; sie lässt sich, das ist

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Sontags Argument, nur mit Rücksicht auf Kontexte klären. Es kommt darauf an, wie man die Bilder, nachdem sie entstanden sind, rahmt. Durch Text, durch Ausstellungskontexte, im Kontext des Grafikdesigns einer Zeitschrift usw. All dies ist den Bildern nicht äußerlich, sondern betrifft unmittelbar den Horizont ihrer Bedeutung. Dass die Bilder ihre Bedeutung nicht selbst zu sichern imstande sind, hat schon Walter Benjamin dazu bewegt zu sagen, dass man dann, wenn es etwa darum gehen soll, ein Foto politisch zu lesen, mindestens eine Bildunterschrift braucht, eigentlich ein Narrativ. Das hat Sontag auch immer interessiert: die wichtige Funktion von erklärendem, kontextuierendem Text in diesen Zusammenhängen. Für sie war das auch deshalb ein unerhört wichtiger Punkt, weil ihr klar war, dass die moralische Wahrnehmung nicht von Bildern gesichert werden kann. Wir können das Leiden anderer ungerührt betrachten oder mit einer gewissen pornografischen Lust – und wir können uns von Bildern der Gewalt schocken lassen, ohne dies mit einer Einstellung zu verbinden, die in irgendeinem anspruchsvollen Sinne moralisch genannt werden kann. Bilder mögen uns affizieren zuweilen, es fragt sich nur wie. Das ist eine drängende Frage für Susan Sontag gewesen, heute wird sie von Leuten wie Judith Butler wieder aufgenommen, und ich finde auch, dass deine Arbeit, Carolin, viel damit zu tun hat. Diese Frage entfaltet ihr ganzes Gewicht vor dem Hintergrund der schockierenden Einsicht, dass das, was uns so unmittelbar vorkommt – Mitleidregungen, Empathie – gar nicht universal gültig, sondern hochgradig sozial vermittelt ist. Das ist eine Frage, an der sich die Ethik des Sehens mit der Moralphilosophie überschneidet. Daniel Schreiber: Mein Eindruck ist, dass Sontag in Über Fotografie stark an die Indexikalität glaubt, an den Beweischarakter der Fotos. Sie spricht ihnen den Kunstcharakter vollständig ab. Fotos sind für sie in Über Fotografie keine Kunst. Im Grunde ist dieser Text eine große Anklageschrift gegen die Macht des Bildes. Wir leben in Platons Höhle und wir sollten die Realitätshaftung nicht verlieren, sondern uns wieder mehr mit der Realität beschäftigen. Davon weicht sie in Das Leiden anderer betrachten ab, wenn sie sagt, Fotos wurden schon immer manipuliert. Seit der Erfindung der Kriegsfotografie wurden Kriegsschauplätze gestellt, wurden Leichen drapiert, um bestimmte

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Effekte auf dem Foto zu erzielen. Da ist es mit der Beweiskraft des Bildes und der Haftung am Realen nicht so weit her. Hier erlaubt sie auch dem Foto einen Kunstcharakter. Über Fotografie finde ich einen äußerst anregenden Text, kann aber persönlich Das Leiden anderer betrachten sehr viel besser nachvollziehen.

Ohnmacht der Beschreibung Carolin Emcke:   Das Leiden anderer betrachten ist ein Text, der all die Fragen berührt, die ich mir im Arbeiten selbst stellen muss. Allerdings für meine Arbeit weniger auf die Bilder bezogen, sondern stärker auf die Fragen ›das Leiden anderer beschreiben‹. Es ist bemerkenswert, dass auf dem Cover dieses Buches – es enthält gar keine Bilder, beschreibt nur Bilder – eine Radierung zu sehen ist. Das bleibt seltsam unthematisiert. Es ist ein Unterschied, ob etwas einen Snapshot-Charakter hat, ob es eine Fotografie oder eine Radierung ist. Da stellt sich die Frage nach dem Verhältnis des Beweischarakters zur Konstruktion sowie nach dem Verhältnis von Affektivität und Wirkung der Bilder: »Wenn Fotos anklagen und womöglich Verhalten ändern sollen, müssen sie schockieren.«1 Damit die Fotos diesen appellativen Charakter, auch speziell den der Anklage, haben können, müssen sie also schockieren. Interessanterweise definiert Sontag dann nicht, was »schockieren« ausmacht. Matthias Günther: Dazu haben Sie in Ihrer eigenen Praxis eine andere Ansicht. Sie sind keine Fotografin, sondern Journalistin, beschreiben in Ihren Texten das, was Sie sehen. Carolin Emcke: Ja. Und ich arbeite immer mit einem Fotografen zu­ sammen. Insofern geht es in der Tat um die Frage, wie sich Text und Bild zueinander verhalten und darum, welche Sorten von Bildern der Text möglicherweise braucht. Die Bilder generieren eine Form von Aufmerksamkeit und Wirkungsmacht, die einem Text alleine kaum

1 Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, übers. von Reinhard Kaiser, München 2003, S. 95.

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mehr zugedacht wird. Teile der Öffentlichkeit schreiben Bildern immer noch diesen Beweischarakter zu, der mir als Autorin, die sich irren, die übertreiben, manipulieren kann, selten zugeschrieben wird. Bei aller Reflexion auf die Konstruktion, die Subjektivität und die Selektivität von fotografischen Wahrnehmungen gibt es diesen generellen Vorschuss an Glaubwürdigkeit immer noch. Ich erinnere eine Freundin, die als Anwältin bei der Organisation Human Rights Watch arbeitete. Als die Bilder von den Folterungen in Abu Ghraib auftauchten, sagte sie: »Damn, I wish I had such kind of pictures from the cases about which I reported.« Als Instrument moralischer Skandalisierung taugen Bilder immer noch stärker als die bloß beschriebene und zitierte Zeugenaussage. Diese Wirkungsmacht und diese Kraft wurde Texten und Berichten über ganz ähnlich geartete Fälle nicht zugedacht. Insofern ist für meine eigene Arbeit immer ein Nachdenken des Sich-zueinander-Verhaltens von Text und Bild wichtig. Lässt sich die affektive Wirkung von Bildern in irgendeiner Weise steuern? Oder ist das komplett unkalkulierbar? Diese Frage wirft Sontag auch auf.

Ethik des Kontexts Daniel Schreiber: Sontag hat immer daran geglaubt, dass die Affektwirkung von Bildern steuerbar ist. Es gibt wenige Texte von ihr, in denen dieser Glaube nicht in jedem Satz deutlich wird. Es geht dabei nicht nur um konkrete Bilder, also Fotos oder Radierungen, sondern auch um Bilder, die entworfen werden, kulturelle Bilder, besonders auch um ihr eigenes Bild.    Sie ist wahnsinnig imagebewusst ge­ wesen. Für ihre Zeit hat mich das überrascht. Wenn man mit ihren Freunden spricht, gehört das immer zum ersten, was gesagt wird. Dieser Glaube an die Steuerbarkeit der affektiven Wirkkraft von Bildern war bei ihr etwas sehr Intuitives. Carolin Emcke: Aber durch was? Lässt sich denn wirklich im Voraus kalkulieren, wie Bilder auf den Betrachter wirken? Absolut nicht. Das lässt sich auch an einigen der Bilder nachvollziehen, die Sontag selbst betrachtet und beschrieben hat.

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Juliane Rebentisch: Da kommt die Ethik des Zeigens erneut ins Spiel. Sontags These ist, dass sich die Affektökonomie nicht vollständig durch die Aufnahme antizipieren lässt. Carolin Emcke: Machen wir es mal an konkreten Bildern oder Bildstrecken fest, die Susan Sontag kannte oder über deren Kontext sie gearbeitet hat. Zunächst eine während des Irakkriegs im Jahr 2003 auf der Titelseite der New York Times erschienene Bildstrecke von Tyler Hicks. Man sah dort einen gefangengenommenen Taliban in einer Gruppe von Nordallianzkämpfern. Nordallianz, zur Erinnerung, waren sozusagen ›Unsere‹, die gemeinsam mit der internationalen Allianz gekämpft haben. Auf dieser Bildstrecke war zu sehen, wie dieser Taliban gelyncht wurde. Es waren mindestens vier Bilder, die abgedruckt wurden. In Bezug auf die affektive oder kalkulierte Wirkung würde man annehmen, dass jeder über diese Bilder, die zeigen, wie jemand zu Tode geprügelt wird, entsetzt sein müsste. Man sollte auch annehmen, dass dies einen gewissen Zweifel an der Nordallianz schüren würde, mit der gemeinsam dort der Krieg geführt wurde. Die Bilder aber sind, wie die Leserreaktion der New York Times zeigte, vielfach gefeiert worden. Etwas ganz Ähnliches ist in der Vorgeschichte des sogenannten Folterskandals in Abu Ghraib passiert. Die Bilder sind ja nicht von einem Zuschauer gemacht worden, um etwas Entsetzliches aufzudecken, sondern als lustvolle Selbstdokumentation der Täter. Ich habe Ivan Frederick, einen der Folterer aus Abu Ghraib, einmal porträtiert und habe länger mit ihm sprechen können, um zu fragen, wie diese Bilder entstanden sind. Ich hatte angenommen, es hätte Anweisungen gegeben, was fotografiert werden sollte und wie damit möglicherweise Gefangene gedemütigt oder erpresst werden sollten. Doch das war nicht der Fall. Die sind tatsächlich allein auf die Idee mit dem Hund gekommen und auf alles andere. Auch bei diesen Bildern gab es – anders als man denken würde – kein Bewusstsein dafür, dass sie schockieren oder empören würden, sollten sie an die Öffentlichkeit kommen. Auf die Frage, ob er mir dafür einen Beleg geben könne, hat dieser Mann geantwortet, der Bildschirmschoner im zentralen Aufenthaltsraum im Zellentrakt 1-A habe aus diesen Bildern bestanden. So viel zur Frage der Kalkulierbarkeit der Wirkung von Bildern. Das

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schließt auch an das an, was Juliane Rebentisch gesagt hat: Es gibt immer ein kontextuelles, ein historisches, ein ideologisches Setting. Juliane Rebentisch: Was Sontag beschäftigt hat, ist Folgendes: Ein Fotograf mag noch so sehr kalkulieren, seine Aufnahme noch so sehr im besten Wissen und Gewissen und im Bemühen machen, dem Gegenstand angemessen zu sein, wenn die Frage des Kontextes nicht mitgestellt wird und sich die Ethik des Zeigens nicht mit der Ethik des fotografischen Sehens verbindet, dann bekommt man ein Problem. Die kontrollierende Rücksicht auf den Kontext – und dieser Punkt findet sich, wie gesagt, schon bei Benjamin – ist wesentlicher Bestandteil jeder dokumentarischen Fotografie, wobei sich diese Kontexte nicht vollständig kontrollieren lassen. Aber es gibt einen bestimmten Handlungsspielraum. Was das Abu-Ghraib-Beispiel betrifft, zeigt sich noch ein anderes Problem: Auch wenn man den Kontext kontrolliert und überlegt, ob man diese Bilder überhaupt zeigen will und auf welche Weise, stößt man schließlich auf eine Realität, in der man anstelle der beabsichtigten moralischen Reaktion Jubel bekommt. Das zeigt, dass das Sehen nicht neutral ist, sondern sozial präfiguriert. Es gab Reaktionen, die Susan Sontag in ihrem Text über Abu Ghraib beschreibt und die verkürzt ungefähr so lauten: ›Oh Mann, jetzt lass doch mal unsere Leute in Ruhe. Das war der Trakt, wo nur Mörder sind, und solche Spiele macht man doch auch in jedem Studentenheim; kann man mal einen Punkt machen?‹ Die Folterrealität kam dabei gar nicht in den Blick. Damit ist eine Dimension angesprochen, die nicht mehr spezifisch auf die moralische Wahrnehmung von Bildern bezogen ist, sondern überhaupt auf die Wahrnehmung von Realität. Es gibt ein Foto aus dem Jahr 2014, das sich wie ein Metakommentar zu derartigen Si­ tuationen lesen lässt: Man sieht darauf Golfer in Spanien, die scheinbar weiter golfen, während im Hintergrund afrikanische Flüchtlinge versuchen, über den Zaun der Golfanlage zu klettern. Diese Art von Härte ist keine Frage der geografischen Distanz, sondern eine von sozialer Distanz. Auch in Berlin-Kreuzberg: Auf der einen Seite sitzen die Latte Macchiato trinkenden Kreuzberger, Anwohner und Touristen, auf der anderen Seite, wörtlich auf der anderen Straßenseite, spielt sich ein Flüchtlingsdrama ab. Diese Form von Indifferenz

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hat etwas mit sozialer Wahrnehmung zu tun. Das Problem der Wahrnehmung fotografischer Bilder ist darin eingelassen. Carolin Emcke: Die Abu-Ghraib-Bilder, die häufig als Fallbeispiel dienen, um zu fragen, wie Bilder moralisch-aufklärerisch wirken können, haben eine ungeheuer ambivalente Rolle gespielt. Und zwar deshalb, weil sie nicht mehr mit den Texten, die es gab, in Zusammenhang gebracht wurden. Die Bilder von Abu Ghraib waren ja nur Bilder, die im Rahmen eines Berichtes des Generalmajors Antonio Taguba auftauchten, der eben den, wie ich glaube, nicht besonders ernst gemeinten Auftrag bekommen hatte, die Foltervorwürfe zu recherchieren. Er hat einen Bericht geschrieben, in dessen Anhang sich die gesamten Protokolle der Interviews mit den Opfern aus Zellentrakt 1-A befinden, die leider kaum je diskutiert worden sind. Diese Protokolle machen deutlich: Was wir auf den Bildern sehen und was sich als Beleg für die Folterungen in Abu Ghraib eingeschrieben hat, ist eine absolute Verharmlosung dessen, was da tatsächlich stattgefunden hat. Dass es überhaupt so lange eine Diskussion um das Wort »Folter« geben konnte, im Englischen ist immer von »abuse« oder von »humiliation« gesprochen worden, liegt auch daran, dass es zu wenig Verkopplung mit den Textdokumenten gab. Diese aber lassen keinerlei Zweifel daran, dass vergewaltigt und massiv gefoltert wurde, dass Menschen zu Tode gequält worden sind. Insofern haben die Bilder von Abu Ghraib leider – und das bezieht sich auf das Verhältnis von Text zu Bild und auf die Frage, was man zeigen, aber auch was man erzählen muss – eine ungeheuer ambivalente Rolle gespielt. Juliane Rebentisch: Man muss tatsächlich im Sinne unseres Anfangs genau auf die jeweiligen Verwendungskontexte schauen. In dem Abu-Ghraib-Text von Sontag kommt eine Verschiebung vor, die zwar etwas grob ist, aber dennoch zutrifft: Fotografien werden im Zeichen der Digitalität nicht mehr vornehmlich gesammelt. Sie sind weniger zum Sammeln da als zum Verbreiten. Dieses unmittelbare, sofort erfolgende Rausgeben und Zeigen sowie die endlose Verfügbarkeit von Bildern, die uns kontextlos entgegenkommen, erneuert meines Erachtens die Relevanz von Sontags Insistenz auf einer kritischen Arbeit am Bild, die etwas mit Kontextualisierung, mit Narration,

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mit bildexternen Strukturen zu tun hat. Statt auf eine unmittelbare moralische Wirksamkeit von Bildern zu vertrauen, müsste die Arbeit am Bild eben auch die Kulturen seiner Distribution und Präsentation umfassen (die weitere visuelle Kultur, in der es zirkuliert). In diesem Zusammenhang könnte man auch über Strategien nachdenken, die Prägung unserer vermeintlich unmittelbaren moralischen Wahrnehmung durch soziale Hintergründe bewusst zu machen. Jede Form von moralischer Selbstgewissheit wäre dann selbst als moralisches Problem zu markieren. Adorno hat einmal gesagt: »Es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein.« Eine solche Einsicht hat vielleicht auch bildpolitische Konsequenzen. Das ist jetzt natürlich sehr abstrakt. Wie das genau aussehen könnte, ist eine andere Frage.

Voyeurismus/Dokumentarismus Carolin Emcke: Nehmen wir als Beispiel das sogenannte Enthauptungsvideo aus dem Jahr 2014, das, seinem Namen zufolge, Bilder von der Enthauptung James Foleys durch die IS-Miliz ankündigt. Innerhalb von 24 Stunden wurde entschieden, dass man das brutale Video nicht zeigen soll. Binnen 24 Stunden ist das komplette, unzensierte Video aus den sozialen Medien verschwunden. Es gab eine Art ethischer Selbstkontrolle. Man hatte das Gefühl, es wäre voyeuristisch, man befände sich in einer unfreiwilligen Komplizenschaft mit den Tätern, wenn man dieses Video zeigte. Daraus ergab sich aber eine Vielzahl von Kommentaren, die über ein Video sprachen und urteilten, das kaum jemand gesehen hatte. Es kursierten eine Handvoll Standbilder, mehr nicht. Selbst die, die darüber geschrieben haben, haben sich oftmals nicht die Mühe gemacht, sich das Video tatsächlich anzuschauen. Es kursierten wohl verschiedene Versionen. Die, die ich kenne, dauert vier Minuten und vierzig Sekunden. Darauf ist keine Enthauptung zu sehen. Wir imaginieren eine Enthauptung in eine Lücke in dem Film hinein. Wir sehen (und hören) eine gefesselte Geisel und einen maskierten Mann mit einem Messer. Wir sehen auch, wie der Mann dieses Messer führt und an den Hals des Gefangenen setzt – aber dann bricht das Video (in dieser Version) ab. Danach ist der Leichnam auf dem Boden liegend zu sehen – der

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abgetrennte Kopf auf dem Rücken. In das Narrativ, das es zu diesem Bild gibt, schleicht sich nun aber eine ganze Reihe von Begrifflichkeiten ein, die etwas mit Ideologie und mit einer bestimmten Vorstellung über die Täter zu tun haben. Das Video wird oft »archaisch« genannt, obwohl nichts daran »archaisch« ist. Im Gegenteil: Es ist hypermodern. Es folgt einer eigenen Ästhetik. Es gibt eine klare Komposition, eine didaktische Erzählung (die das widerliche Verbrechen in eine Rechtfertigungslogik einbetten soll), es ist technisch sauber. Juliane Rebentisch: Text ist auch nicht per se gut. Carolin Emcke: Exakt. Ich will nur diese moralische Ambivalenz in den Blick nehmen und sagen, dass auch das Nachdenken darüber, was zu zeigen oder nicht zu zeigen ist, aus vielleicht hehren Motiven, möglicherweise bestimmte ideologische Erzählungen befördert, die diesem Anspruch genau widerstreben. Juliane Rebentisch: Wir sind jetzt wieder mitten in der Diskussion um das Dokumentarische gelandet. Dein Beispiel illustriert ja die Anstrengung der Bedeutungskontrolle. Das sagt auch etwas über die Verfassung der Fotografie selbst aus. Jüngst hat sich François Laruelle (in seinem Buch Non-Photografie/Photo-Fiktion) aus der Perspektive der Frage nach der Ontologie des fotografischen Bildes daran gemacht zu erklären, warum es eigentlich so ist, dass das Foto trotz Indexikalität sein Band zur Welt nicht selbst zu sichern vermag. Er gibt eine Antwort, die jenseits der die bisherige Geschichte der Fototheorie bestimmenden Entgegensetzung von Realismus oder Kunst, Einschreibung oder Konstruktion liegt. Laruelle behauptet nämlich, dass das fotografische Sehen, also das Sehen durch die Apparatur, überhaupt kein Sehen von Welt ist, sofern Welt hier im phänomenologischen Sinn verstanden wird, als eine durch Bedeutung erschlossene Welt, eine Welt, die immer schon in der und durch die Praxis der Subjekte in bestimmter Weise bedeutungsvoll ist. Eben dieser Bezug auf Welt wird im Akt des Fotografierens ausgesetzt. Ich finde das als Beschreibung dessen, was passiert, wenn wir durch eine Kamera blicken (egal, ob es sich dabei um eine Hasselblad oder ein iPhone handelt), sehr überzeugend – wir blicken da eben gerade

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nicht so auf die Welt wie sonst. Stattdessen passiert etwas anderes, eine Art Verschmelzung unserer Subjektivität mit der Apparatur, die das freisetzt, was Laruelle ›Sehkraft‹ nennt, die die Welt anders ergreift, weil sie sie nicht als (immer schon) bedeutungsvolle ergreift. Das benennt bereits auf der Ebene der Entstehung des Bildes, dem Akt des Fotografierens selbst, eine strukturelle Distanz, die die Fotografie unterhält zu der bedeutenden Welt. Das gilt aber auch für die Seite der Rezeption. Den Effekt kann man sich, wie dies ein Doktorand von mir macht, Ulrich Gebert, besonders an der neuen Sachlichkeit klarmachen, an dem eigentümlichen Verfremdungseffekt, der eintritt, wenn Renger-Patzsch eine Blume fotografiert oder die Bechers Wassertürme. Die fotografierten Objekte werden sich selbst eigentümlich unähnlich. Die Sicherheit der Benennung ›Blume‹, ›Wasserturm‹ lockert sich, das wiedererkennende Sehen höhlt sich gewissermaßen von innen aus – stattdessen tritt die Singularität der Phänomene in Erscheinung, das, was sich den Benennungen nicht ganz fügt. Eben dieser Effekt der Fotografie, den man im Ästhetischen extra hervortreiben mag (und dem eine eigene Politik entspricht, die Politik des Ästhetischen), ist natürlich in politischer Hinsicht (also hier im gewöhnlichen Sinne von Politik) immer schon problematisch gewesen. Die Fotografie noch der tristesten Favela lenkt die Aufmerksamkeit von deren sozialer Bedeutung auf die fotografische Ober­­fläche um und entfremdet die Tätigkeit des Betrachtens vom politischen Handeln (das ist ein Punkt, den vor allem Walter Benjamin gemacht hat). Das Argument von Laruelle erklärt aber nur noch einmal aus einer fototheoretischen Perspektive, warum die Arbeit des Dokumentarfotografen eben nicht schon mit der Aufnahme zu Ende ist, weshalb es nachträglicher, bildexterner Operationen bedarf, um das Band zwischen Fotografie und Welt zu knüpfen. Umgekehrt aber lässt sich auch feststellen, dass das, was auf der Seite des Dokumentarismus und des aufklärerischen Gebrauchs von Bildern ein Problem darstellt, auf der Seite der Kunst nicht unbedingt ein Problem bedeutet, sondern geradezu die Tugend der Fotografie. Daniel Schreiber: Wenn ich etwas Allgemeines zur Diskussion sagen darf: Wir reden gerade über Fotografie und lassen dabei eine Debatte über die Dokumentationskraft des Fotos aufleben, die man schon sehr lange so führt. Dabei ist mir etwas unwohl. Diese Diskussion

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wird in Sontags Texten so nicht geführt, sie wird allerhöchstens angedeutet und hat kaum etwas mit ihrem Denken zu tun. Wir sind dabei auch von unserem eigentlichen Thema weggekommen, der Ethik des Sehens. Doch darin lag Sontags eigentliche Stärke. Das Erfrischende an Das Leiden anderer betrachten ist, dass Sontag letztlich zu dem Schluss kommt: Man muss sich moralisch kundig machen, wenn man die Welt ansieht. Man muss sich moralisch kundig machen, wenn man ein Foto ansieht. Fotos sind immer gestellt, es sind Eingriffe, die das Indexikalische eingebüßt haben, was im Grunde etwas Befreiendes ist. Es geht nicht mehr um ›Schau genau hin‹, sondern um ›Denk nach, sei ernsthaft, mach was. Mach dich kundig über Geschichte, mach dich kundig über Kontexte. Lies die Reportage, die da mit dem Bild einherkommt‹. Das ist der viel wichtigere Impetus, auch letztlich Sontags bleibender Impetus. Deswegen ist es vielleicht gar nicht sinnvoll, dass wir jetzt noch so viel über Foto und Dokumentation reden. Da ist Sontag auch nicht zu einem Punkt gekommen, viele andere Theoretiker auch nicht, einfach weil es diesen Punkt nicht gibt. Es wird immer ein Spannungsverhältnis zwischen dem Realen und dem Künstlerischen im fotografischen Bild geben. Juliane Rebentisch: Es stimmt, dass es ihr darum gegangen ist, etwas zu machen  – aber im Verhältnis zu einer Bilderwelt und mit der ernsthaften Frage, welche Bilder in welchen Kontexten und welchen Zeitmodalitäten überhaupt das Potenzial haben, Menschen praktisch anzusprechen. Es gibt ganz wenige Kontexte, in denen Menschen heutzutage wirklich in einem praktischen Verhältnis zu dem Ge­ zeigten stehen. Für die, die ohnehin in einem praktischen Verhältnis zu dem Abgebildeten stehen, ist es ziemlich egal, ob das Bild in der Zeitung neben der Gucci-Werbung steht. Auch dieser manchmal skandalisierte Umstand ist für Sontag nicht das Problem. Das Problem sind die vielen Menschen, die nicht in diesen sozialen und praktischen Nahverhältnissen zum Abgebildeten stehen. Wie stellt man für diese einen Bezug her, der aufklärerisch ist und der dann zu einem ›Ich mach mal was‹ führen könnte? Das Hauptproblem ist doch, dass die meisten von uns ein voyeuristisches Verhältnis zu den Bildern haben, zu denen wir in keiner praktischen Beziehung stehen, und dass es da einen Abstumpfungseffekt gibt, also dass die

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Affektivität, die diese Bilder produzieren, selbst zu dem Konsumaspekt dazugehört. Das sind doch die Sontag-Fragen. Carolin Emcke: Was sich daraus ergibt und für Sontag heute relevant wäre, ist Folgendes: Bei der Anzahl von Bildern, mit denen wir jeden Tag konfrontiert werden, gibt es keine Unschuld des Nichtwissens mehr. Was das eigentlich heißen soll, wäre sicher etwas, über das Sontag heute diskutieren würde. Aber ich habe eine Nachfrage zum Verständnis dessen, was bei dir, Juliane, »voyeuristisches Betrachten« heißt, wenn du sagst, dass wir (also ich, wenn ich nicht als Berichterstatterin spreche) nicht anders als voyeuristisch auf diese Bilder schauen können. Meinst du voyeuristisch im Sinne von ›weil wir eben nicht dort sind‹, also unwissend oder provinziell, sozusagen milieubehaftet? Meinst du, dass wir es nicht beurteilen können, weil wir nur Zuschauer der Geschehnisse dessen sind, was sich auf den Bildern findet? Oder meinst du mit voyeuristisch tatsächlich in irgendeiner Weise pornografisch aufgeladen? Juliane Rebentisch: Das war ein implizites Sontag-Zitat. Bei Sontag heißt es: »Vielleicht haben nur jene Menschen das Recht, Bilder eines so extremen Leidens zu betrachten, die für seine Linderung etwas tun könnten – etwa die Chirurgen des Militärhospitals, in dem die Aufnahme gemacht wurde, oder Menschen, die aus ihr etwas lernen könnten. Wir anderen sind, ob wir wollen oder nicht, Voyeure.«2

Das meint bei ihr  – und so habe ich den Begriff weiterverwen­ det  – erst einmal alle, für die dieses praktische Verhältnis zu dem Abgebildeten nicht gegeben ist. Sontag war sich dabei immer im Klaren, dass man Georges Bataille recht geben muss, dass es auch eine pornografische Faszination für Bilder der Gewalt gibt, dass die Möglichkeit besteht, Bilder extremen Leids auf diese Weise zu betrachten. Es wäre naiv, das zu leugnen. Das verstärkt aber nur noch einmal den Druck auf die Frage, wie Kontextwissen so produziert

2

Sontag, Das Leiden anderer betrachten, a.a.O., S. 51.

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werden kann, dass der Blick ein anderer werden kann. Dabei geht es nicht um die Behauptung, dass alle, »die eben nicht dort« sind oder gewesen sind, per definitionem nichts verstehen können (das wäre ein verheerender Kurzschluss). Vielmehr geht es darum, dass etwas zum Bild hinzutreten muss, wenn die, die nicht bereits in einem praktischen Verhältnis zum Abgebildeten stehen, verstehen sollen: Es geht um die Notwendigkeit einer kontextuierenden Arbeit am Bild. Da findet sich ein ›wir müssen, wir sollen‹-Appell an die Leute, wie du es gesagt hast, Daniel. Sich-kundig-Machen, damit dieser Konsum und das pornografische Verhältnis zu solchen Bildern aufhört und man versteht. Denn, wie es ein anderer Merksatz von Sontag sagt: Die Fotografie kann Leid immer nur feststellen, aber nicht erklären.

Sarajevo Matthias Günther: Susan Sontag ist nach Sarajevo gereist. War das in ihrer Biografie ein wichtiger Punkt? Daniel Schreiber: Ja. Das war ein sehr wichtiger Punkt in ihrem Leben.   Und es war auch wichtig für die Leute in Sarajevo, die das großartig fanden. Es wurde inzwischen sogar ein Platz nach ihr benannt. Viele Menschen erinnern sich noch heute daran, dass jemand aus dem Westen gekommen ist und trotz des Krieges etwas auf die Beine gestellt und für eine andere Form der Aufmerksamkeit gesorgt hat. In der internationalen Presse wurde das ambivalenter aufgenommen. Besonders in der deutschen Presse gab es ein paar spöttische Anmerkungen darüber, so in der Art ›Warum ist sie jetzt auch noch da, sie kann ja eh nichts machen und benutzt das nur zu so einer Art Selbstmarketing‹. Wie so oft bei Sontag ist beides tatsächlich schwer voneinander zu trennen. Und es kann auch beides zutreffen. Dass es etwas Gutes bewirkt und dass es auch für sie etwas Gutes bewirkt hat. Um noch einmal auf die Ethik des Sehens zurückzukommen: Darum ging es ihr letzten Endes auch in Sarajevo. Sie wollte auf den Konflikt aufmerksam machen, indem sie ein Theaterstück – jetzt nicht das große politische Medium – inszeniert hat, in einem Krieg, der sehr lange angedauert hat, in dem die Fronten verhärtet waren und geschichtlich weit zurückreichten. Als es keinen

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Strom gab, hat sie mit dem Ensemble im Kerzenlicht gespielt. Es ging ganz buchstäblich darum: ›Ich mache hier auf etwas aufmerksam. Ihr, die Welt, der Westen müsst da hingucken. Ihr müsst euch damit beschäftigen, wir können es nicht ignorieren.‹ Auch in dieser Handlung gibt es eine Bildorientierung, eine Sehorientierung und eben eine Aufforderung zu einer Ethik des Sehens.

Sontags Leiden betrachten Matthias Günther: Am Ende deiner Biografie über Susan Sontag beschreibst du, Daniel, die Fotos, auf denen die schwer krebskranke Sontag zu sehen ist: »Auf den letzten Fotos, die Annie Leibovitz von ihrer Lebensgefährtin machte, ist Sontag nicht mehr zu erkennen. Sie ist oft bewusstlos und von den Medikamenten aufgedunsen. Die langen, zum Ende ihres Lebens meist schwarz gefärbten Haare sind einem kurzen, weißen Krankenhaushaarschnitt gewichen. Inmitten medizinischer Apparaturen erweckt sie den Eindruck, als befände sie sich auf einer sehr schmalen Grenze zwischen totaler Erschöpfung und Tod. Leibovitz dokumentierte Sontags privaten Krieg gegen den Krebs, einen Krieg, den sie verlor, mit der Kamera. Was dabei entstand, waren Fotos von ethischer Fragwürdigkeit, die viele von Sontags Freunden und Bekannten schockierten, weil auf ihnen offensichtlich war, dass Sontag selbst ihre Einwilligung zu den Aufnahmen nicht mehr hatte geben können.«3

Daniel Schreiber: Tatsächlich war das eine große Diskussion. Nicht nur um die Bilder im Krankenhaus, sondern auch um den Zyklus mit den Todesbildern. Leibovitz hat die tote Sontag in ihrem Lieblingskleid fotografiert. Das sind tatsächlich extrem berührende, auch extrem schockierende Fotos. Weil sie von den Bildern, die man sonst von Sontag kennt, so stark abweichen. Ich habe lange und mit vielen von Sontags Freunden und Angehörigen darüber geredet.   Die

3

Daniel Schreiber: Susan Sontag. Geist und Glamour, Berlin 2007, S. 288.

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Meinungen zu diesen Bildern waren zweigeteilt. Die eine Hälfte  – Bekannte und Freunde von Sontag sowie Leute, die sie überhaupt nicht kannten  – war der Auffassung: Nein, das geht nicht, das ist würdelos, sie konnte die Einstimmung dazu nicht mehr geben und hätte sie das gewollt? Und so weiter. Die andere Hälfte fand es in Ordnung und hat geglaubt, dass Sontag einverstanden gewesen wäre. Zudem handelt es sich um Fotos mit einem ästhetischen Anspruch, den viele der Bilder von Leibovitz sonst nicht haben. Persönlich bin ich der Meinung, dass es in Sontags Sinne gewesen ist. Diese Fotos zeugen letztlich auch von Liebe.

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»Kunst ist Verführung«

Michaela Melián Andante Calmo  

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Andante Calmo. Bin al - lein, ganz ein - sam. Bin al - lein, ganz ein - sam. Bin al - lein, ganz ein - sam. Bin al - lein, ganz ein - sam. A - ahh, a - ahh! A - ahh, a - ahh! A - ahh, a - ahh! A - ahh, a - ahh! Man nennt mich jetzt nur Mi - mì, weiß nicht wa - rum! Man nennt mich jetzt nur Mi - mì, weiß nicht wa - rum! Sind wir al - lein? Ich stell - te mich nur schla - fend, weil mit dir ich gern al - lein wollt blei - ben. Ich hab so viel dir, ach so viel zu sa - gen. Zwar nur Eins brauch ich zu be - schrei - ben: Ein Ge - fühl wie das Meer so un - er - mess - lich: ist mei - ne Lie - be zu dir. Sie füllt mein Le - ben. Ich ward ich selbst erst, als ich dir mich ganz da - hin - ge - ge - ben. Oh, Ge - lieb - te! Schön wie der Mor - gen. Bin schön ich noch, sag? Schön wie des Morgens Won - ne. Das ist falsch ver - gli - chen, weit rich - ti - ger wär: Schön wie die sin - ken - de Son - ne! Man nennt mich jetzt nur Mi - mì! Man nennt mich jetzt nur Mi - mì! Doch wa - rum, weiß ich nicht.

Michaela Melián

Eine Sängerin betritt die Bühne, auf der als Requisit und Medium allein ein Schallplattenspieler steht. Anstatt eines Bühnenbilds leuch­ tet auf der hinteren rohen Bühnenwand die große Projektion einer Zeichnung. Sie zeigt mit hellen Umrisslinien eine Mansarde mit einem großen Dachfenster, einen Ofen mit Kamin, einen Tisch und Stühle, eine Kommode, einen Schrank, eine Staffelei, ein Bett, das zur Hälfte von einem Paravent verdeckt ist. Diese Zeichnung geht auf das Bühnenbild zurück, das der Maler Adolfo Hohenstein für die 1896 im Teatro Regio in Turin unter Arturo Toscanini uraufgeführte Oper La Bohème von Giacomo Puccini entworfen hat. In einer Mansarde im Pariser Quartier Latin hausen die Künstler-Bohemiens, hier lernen sich der Poet Rodolfo und das Arbeitermädchen Mimì im ersten Bild der Oper kennen und lieben, hier stirbt Mimì im vierten Bild, begleitet von musikalischen Erinnerungsmotiven aus dem ersten Bild. Die Sängerin legt den Tonarm auf die bereitliegende Platte und lauscht zusammen mit dem Publikum der Musik. Zu hören ist ein fünfzehnminütiges Musikstück, für das harmonische Fragmente aus der Partie der Mimì adaptiert und zu einem neuen Musikstück, einer zeitgenössischen, melancholisch-brüchigen Collage in halbem Herzschlagtempo verarbeitet wurden. Erst gegen Ende der abgespielten Musik, während der sich die Sängerin auf der Bühne isoliert exponiert und sich als Zuhörende und beim Zuhören Beobachtete zur Schau stellt, erst nach lang empfundenen zwölf Minuten, in denen auch immer wieder »bin allein, ganz einsam«-Gesangsamples einer Schelllackplattenaufnahme der Mimì auftauchen, hebt die Sängerin ihren lyrischen Mezzosopran und singt eine dreiminütige Kompilation aus dem Part der Mimì »Sì. Mi chiamano Mimì« und dem Sterbeduett von Rodolfo und Mimì »Sono andati? Fingevo di dormire«. In der Opernliteratur fällt dem lyrischen Mezzosopran häufig die sogenannte Hosenrolle zu, d.h. die Sängerin stellt aus stimmtechnischen Gründen eine jugendliche männliche Figur dar. Auf diese Weise vereint sich in einer Figur eine Begehrensstruktur, die eigentlich auf zwei Figuren verteilt wäre. Die Sängerin in Andante Calmo wiederholt diese Struktur, indem sie alleine das Sterbeduett singt und auf diese Weise ihr Begehren auf sich selbst richtet, auf die Person, die Mimì genannt wird (»Man nennt mich jetzt nur Mimì, weiß nicht warum.«).

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Andante Calmo

In ihrem 1977 erschienenen Essay Krankheit als Metapher zeichnet Susan Sontag am Beispiel der Tuberkulose für das 19. Jahrhundert nach, wie dieses Krankheitsbild in Kunst, Literatur und Alltagswahrnehmung bestimmte Vorstellungen vom Zustand der damaligen Ge­­sellschaft zum Ausdruck brachte. Die Tuberkulose wurde für die »romantische Krankheit« schlechthin gehalten und mit einer übersteigerten Empfindsamkeit assoziiert, für die, neben Kunstschaffenden, besonders Liebende als anfällig galten.1 Die Oper La Bohème widmet sich dem alltäglichen Leben junger Pariser Bohemiens in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts. Die Protagonistin Mimì, das Mädchen aus einfachen Verhältnissen, die Muse, die Geliebte, die Idealfrau ist an Tuberkulose erkrankt. Die Krankheit adelt die Todgeweihte, ihr Schwanengesang und ihre blasse leidende Erscheinung lassen sie in den Augen ihrer Umgebung einer anderen gesellschaftlichen Klasse angehören. Im Klavierauszug findet sich folgende Beschreibung der Mimì: »Zweiundzwanzigjährig, klein, zart. […] Ihr Angesicht war wie die Skizze zu einem aristokratischen Bildnis, ihre Züge von bewundernswürdiger Feinheit […] Die etwas angekränkelte zarte Schönheit hatte Rodolfo angezogen, doch was ihn am meisten bezauberte, waren ihre schönen Hände, die sich weisser erhalten hatten  – trotz eigener Führung ihrer Wirtschaft – als jene von müssiggehenden Schönheiten«.2

1 Vgl. Susan Sontag: Krankheit als Metapher, übers. von Karin Kersten und Caroline Neubaur, München 1978, S. 20. 2 Giacomo Puccini: Die Bohème. Szenen aus Henry Murgers »Vie de Bohème«, Lörrach 1955, o.S.

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Michaela Melián: Andante Calmo, 2014 Eröffnungsperformance Radikales Denken. Zur Aktualität Susan Sontags Symposium vom 27.–29. November 2014 in den Münchner Kammerspielen Gesang: Maximiliane Reichart Foto: Judith Buss

Thomas Meinecke Nin, Sontag, Preciado, Rehberg Sechs Passagen aus dem Roman Selbst

She did it for a male client for a Dollar a page. Now it’s a bestseller: DELTA OF VENUS. Erotica by Anaïs Nin. Veröffentlicht 1977, posthum, im Jahr ihres Todes, dreieinhalb Dekaden nach dem Verfassen. (Und noch 1983 konnte das von Eva Bornemann aus dem Amerikanischen übersetzte Buch in der Bundesrepublik Deutschland beschlagnahmt werden.) Angeblich die erste pornografische Literatur aus dezidiert weiblicher Perspektive. Henri: Aber wie soll das gehen? DELTA OF VENUS, Collector’s Item: These are the first American stories by a woman to celebrate sexuality with complete and open abandonment. Mal dreierlei zu unterscheiden versuchen, schlägt Genoveva vor, zwanglose Pornografie, beauftragte Pornografie, zwanghafte Pornografie. Katharina Rutschky attestiert der von Henri als kokett und von Ge­­noveva als kapriziös eingestuften Autorin erschöpfende weibliche Selbstbespiegelung. Kein weibliches Wesen landauf, landab, behauptet sie noch 1994, das nicht irgendwann einmal seine Selbstfindung durch die Lektüre des einen oder anderen Bandes von Anaïs Nin zu befördern versucht hätte. Noch für meine Mutter gilt das auf jeden Fall, sagt Genoveva. Katharina Rutschky: Feminin und sensuell, arriviert und kreativ, intelligent und intuitiv, schön, aber apart, verehrt, geliebt, dennoch frei und selbstbewusst und außerdem stark, notfalls trotzig und rebellisch; so etwa ließe sich das Ideal umschreiben, dem Anaïs Nin

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so nahe gekommen schien wie noch keine andere Frau vor und neben ihr. Sie sei in einer männlich dominierten Welt ganz Frau geblieben und habe gerade in eroticis und sexualibus enorme Erfahrungen gesammelt und diese pornografisch zu Papier gebracht. Aber hier seien es eben mal die Männer, die als Sexualobjekte dienten und von weiblicher Potenz erschüttert (sowie glückselig überwältigt) würden. Allen voran ihr Freund und Kollege Henry Miller samt dessen (mit ihm in einer amour fou verbundenen) Frau June. Angeblich finden wir in den Tagebüchern der Anaïs Nin, die den Kern ihres Œuvres bilden, überwiegend ausgedachte sexuelle Szenarien (ganz besonders diejenigen mit ihrem Vater). Logisch, sagt Henri. Mindfuck, ergänzt Genoveva. Sie sei die echte Autorin ihrer falschen Tagebücher. Toll. Ihr armer Ehemann, sagt Genoveva und muss bei diesem Gedanken lauthals loslachen, ihre bemitleidenswerten Lebensgefährten Stuhlmann und Pole. (Immerhin konnten sie zensorischen Einfluss auf die gedruckten Ausgaben der ausschweifenden Tagebücher ihrer Verflossenen nehmen.) Jetzt aber mal zu dem für ein paar Dollars ostentativ Ausgedachten hier, sagt Genoveva und schlägt DAS DELTA DER VENUS, das von ihrer Mutter ausgeborgte, in jungfräulich weißes Leinen gebundene Exemplar, auf. Leila lud Elena und Bijou zu sich in die Wohnung ein. Als sie eintrafen, duftete es nach Räucherstäbchen. Das einzige Licht ging von Glaskugeln aus, in denen Zierfische zwischen Korallen und gläsernen Seepferdchen schwammen. Dies tauchte den Raum in eine traumhafte Untersee-Atmosphäre und verwandelte ihn zu einem Ort, in dem drei sehr verschieden schöne Frauen eine so sinnliche Aura ausstrahlten, dass es kein Mann hätte aushalten können. Die drei saßen auf einer sehr niedrigen Couch, auf einem Meer von Kissen. Die erste, die etwas tat, war Leila: sie griff Bijou mit ihrer beringten Hand unter den Rock und zog überrascht die Luft ein, als

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ihre Hand nacktes Fleisch anstatt seidiger Dessous berührte. Bijou lehnte sich zurück und bot Elena den Mund, denn Elenas Fragilität hatte sie gereizt. Zum ersten Mal kam sie sich stark wie ein Mann vor, der spürt, dass eine zierliche Frau sich unter der Last seines Mundes beugt, der fühlt, wie seine kräftigen Hände ihren grazilen Kopf nach hinten biegen konnten, wie das helle Haar sich löste. Das ist eben der Punkt, für den sich Genoveva interessiert: Ist nicht sämtliche Sprache zur Sexualität in phallologischer Grammatik verfasst? Lässt sich allen Ernstes behaupten, Anaïs Nin habe weibliche Pornografie geschaffen? Zumal für einen männlichen Auftraggeber, ergänzt Henri. Genoveva blättert um. Zuerst zieht Leila sich aus. (Die Schenkel, schlank und weiß, schimmerten, das Delta der Venus lag im Schatten.) Dann Bijou. Schließlich Elena. Zu ihren Füßen lag ein dichtes weißes Fell. Sie ließen sich alle drei darauf fallen, drei Frauenleiber, die sich verknäuelten, Brust an Brust, Schoß an Schoß. In ihrer Verschlingung hörten sie auf, drei Körper zu sein, wurden zu Mündern, Fingern, Zungen und Sinnen. Ihre Münder suchten einen anderen Mund, eine Brustwarze, eine Klitoris. So ineinander verstrickt, bewegten sie sich nur langsam. Sie küssten sich, bis es zur Tortur wurde und der Körper mit Unruhe reagierte. Ihre Hände gruben sich in nachgiebiges Fleisch, fanden eine Öffnung. (Und immer so weiter.) Wie Pierre Molinier in den mittels eines Selbstauslösers fotogra­ fisch inszenierten, ornamental kollagierten und retuschierten, autogynophilen Verschlingungen seiner selbst in eine spiegelbildlich multiplizierte Weiblichkeit, sagt Genoveva, doch Henri hat noch nie etwas von Molinier (dem eigenbrötlerischen Surrealisten) gehört. ***   Im 10. Todesjahr Susan Sontags lädt Anna-Lisa Dieter zu einem Kongress ein. Und bittet ihre daran interessierten Freundinnen und Freunde per Rundmail schon jetzt (im Februar) zu einem ersten

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Gedankenaustausch in ein Münchner Café (das zwischen Fassbinders DEUTSCHER EICHE und Tillmans’ AIDS-Säule liegt). Weitergeleitet von Thomas, der auf der Veranstaltung Schallplatten auflegen soll (sprichwörtlich: Notes on Camp). Genoveva hat dies heute zum Anlass genommen, die beiden Bücher Susan Sontags, die sie besitzt, aus dem Regal zu ziehen und nach langer Zeit wieder einmal hineinzublättern.    Stößt auch sogleich auf eine interessante poetologische Parallelführung von Science Fiction und Pornografie. Und tippt Thomas, einige Seiten später, die folgenden Passagen ab, um sie ihm anhängen zu können. Das Einzige, was sich mit Sicherheit über Charaktere in der Prosaliteratur sagen lässt, ist, dass sie, wie Henry James bemerkt hat, ein kompositionelles Hilfsmittel sind. Die Gegenwart menschlicher Gestalten in der literarischen Kunst kann vielen Zwecken dienen. Die Darstellung lebensechter Personen ist keineswegs notwendig eine Hauptaufgabe der Literatur. Die Untersuchung von Ideen ist ein nicht minder legitimes Ziel des Romans, wenn auch die Verfolgung dieses Ziels der Darstellung von Personen, die den Normen eines erzählerischen Realismus entsprechen, erhebliche Grenzen setzt. Ebenso lässt sich die Darstellung eines unbelebten Gegenstandes oder eines Ausschnitts der Natur rechtfertigen; auch sie geht zu Lasten der menschlichen Gestalt im Roman. (In der Idylle verbinden sich beide Intentionen: die Wiedergabe von Ideen und die Darstellung der Natur. Personen spielen in dieser Gattung nur insofern eine Rolle, als sie eine bestimmte Art von Landschaft erzeugen, die zum Teil eine Stilisierung der REALEN Natur, zum Teil eine neuplatonische Ideenlandschaft ist.) Ein genauso legitimes Thema der Romanliteratur sind schließlich jene extremen Gefühls- und Bewusstseinslagen des Menschen, die gebieterisch alle normalen Gefühle ausschließen und nur locker mit konkreten Personen verknüpft sind. Wie das bei der Pornografie der Fall ist. Die körperlichen Empfindungen, die ungewollt im Leser erweckt werden, enthalten etwas, das die ganze Erfahrung seiner Menschlichkeit (und seiner Grenzen als Persönlichkeit und als Körper) betrifft. In Wahrheit ist die Eindeutigkeit der Intention in der Pornografie

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unecht. Nicht hingegen die Aggressivität, die in dieser Intention zum Ausdruck kommt. Was in der Pornografie Endzweck zu sein scheint, ist ebenso sehr ein Mittel von alarmierender und bedrückender Kon­ kretheit. Der Endzweck ist freilich weniger konkret. Die Pornografie ist (genau wie die Science Fiction) ein Zweig der Literatur, der auf Desorientierung, auf psychische Verwirrung, ausgerichtet ist. Die Fantasie, die in HISTOIRE D’O und L’IMAGE ihren frevelhaften Vergnügungen nachgeht, ist fest verankert in gewissen Vorstellungen von der FORMALEN Vollendung intensiven Fühlens, von Verfahren zur Erschöpfung eines Erlebnisses, die ebenso mit der Literatur und der jüngsten Literaturgeschichte wie mit der ahistorischen Domäne des Eros in Zusammenhang stehen. Und warum auch nicht? Erlebnisse sind nicht pornografisch; nur der Ausdruck und die Darstellung (die Konstruktionen der Fantasie) sind es. Aus diesem Grunde sind es in erster Linie andere pornografische Bücher, an die das pornografische Buch den Leser denken lassen kann, nicht hingegen unmittelbare Phänomene des Sexuellen (und das ist keineswegs notwendig zum Nachteil für seine erotische Erregung). Die Welt der Pornografie ist in der Hauptsache mit Wesen wie Sades JUSTINE bevölkert, die keinen Willen, keinen Verstand, ja augenscheinlich nicht einmal ein Gedächtnis haben. Justine lebt in einem permanenten Zustand des Erstaunens, zieht niemals eine Lehre aus den ständig sich wiederholenden Verletzungen ihrer Unschuld. Die meisten der Gestalten, die in der Pornografie die Rolle der sexuellen Objekte spielen, sind aus dem gleichen Stoff wie jene Gestalten der Komödie, die die eigentlichen Träger des HUMORS sind. Justine ist wie CANDIDE; auch er ist ein Nichts, ein unbeschriebenes Blatt, ein ewig Naiver, der sich außerstande zeigt, irgend etwas aus seinen schrecklichen Qualen zu lernen. Die Handlung der HISTOIRE D’O verläuft nicht horizontal, sondern spiegelt eine Aufwärtsbewegung in der Erniedrigung wider. O wird nicht einfach identisch mit ihrer sexuellen Verfügbarkeit; sie strebt vielmehr nach der Vollkommenheit einer Existenz als OBJEKT. Die letzte Szene des Buches zeigt sie an ihrem Ziel: verstümmelt, in Ketten, unkenntlich gemacht, verkleidet (als Käuzchen) wird sie auf

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ein Fest geführt; und sie ist so eindeutig kein Mensch mehr, dass niemand unter den Gästen auf den Gedanken kommt, sie anzusprechen. *** Bataille entwirft die Stadien der Befriedigung einer erotischen Be­ses­ senheit, die eine Reihe von alltäglichen Objekten oder Dingen heimsucht. Die werden aufgespürt und in einem konvulsivischen erotischen Akt benutzt oder verbraucht. Als das letzte Objekt (das Auge) einem Akt, der alle vorangegangenen an Brutalität übertrifft, zum Opfer gefallen ist, endet das Buch. (Das Ei im ersten Kapitel ist nichts anderes als die erste Version des Augapfels, der im letzten Kapitel dem Spanier ausgerissen wird.) Einer der Gründe für die außerordentlich starke und erregende Wirkung von HISTOIRE DE L’ŒIL liegt darin, dass Bataille klarer als jeder andere sah, dass es in der Pornografie letztlich nicht um das Sexuelle geht, sondern um den Tod. Das soll freilich nicht heißen, dass jede Pornografie offen oder insgeheim vom Tod spricht. Nur die Werke, die von jener spezifischen Variation der Themen der Wollust und des OBSZÖNEN handeln, tun dies. Jedes wahrhaft obszöne Streben ist auf die Befriedigung im Tod gerichtet, die der Befriedigung des Eros folgt und sie übertrifft. Wenn die pornografische Fantasie konsequent ist, das heißt, wenn sie allein auf den Genuss der Übertretung ausgerichtet ist und nicht auf den bloßen Genuss als solchen, dann ist der Tod das einzig mögliche Ende ihrer Odyssee. Das sind fürwahr große Worte, die Susan Sontag hier findet, lieber Thomas, schreibt Genoveva, wobei es ja aber auch den KLEINEN TOD gibt, der bei Nancy immerhin die KLIMAX unseres Christentums ausmacht (für kurze Zeit tot sein). PS: Zur Vorstellung vom EROS ALS SAKRAMENT schreibt Sontag, obwohl die tatsächliche Erfahrung hinter dem religiösen Vokabular heute für die Mehrzahl der gebildeten Menschen so gut wie unver-

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ständlich sei, verneigt man sich weiter fromm vor der Erhabenheit der Gefühle, die in dieses Vokabular eingegangen sind. Für die meisten Menschen lebt die religiöse Fantasie weiter, nicht nur als der wichtigste, sondern als der im Grunde einzige glaubhafte Fall einer Fantasie mit Absolutheitsanspruch. PPS: L’Histoire d’O: Die Befehle ÖFFNE und ÖFFNE DIE BEINE, von René ausgesprochen, besaßen eine so verwirrende Macht, dass O sie niemals ohne eine Art geistigen Kniefalls hörte, frommer Unterwerfung, als hätte nicht er, sondern ein Gott sie gesprochen. Theodor W. Adorno: Pornografie hat keinen Anfang, keine Mitte, kein Ende. *** SOMATIC FICTION Beatriz Preciado macht Liebe, und Genoveva hat sich mit Henri in seinem Zimmer über ihr Buch gebeugt. That day we screw naked for the first time. Her pelvis is glued to mine, her vulva connected to mine. As we screw, I feel as if my entire political history, all my years of feminism, are moving directly to the center of her body and flowing into it, as if her skin provided their only real niche. When I come, Wittig and Davis, Woolf and Solanas, La Pasionaria, Kate Bornstein, and Annie Sprinkle bubble up with me. She is covered with my feminism as if with a diaphanous ejaculation, a sea of political sparkles. When I wake up later, her hand is inside me. Her entire body has become my cock, is emerging from my loins. But the veins of her arms have a lot more class than the veins of a biocock.

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Damit meint sie einen echten Schwanz, sagt Genoveva, das heißt, den Penis eines genetischen Mannes und nicht etwa einen Dildo aus Silikon, wie wir ihn bei Butler als lesbischen Phallus kennenlernten. I catch her arm between my two hands and rub it from top to bottom as if for a counter-sexual jerk-off. Then I go all the way back to her right shoulder, her neck, and push two fingers into her mouth. She sucks them, without taking her hand off my body. Pleasure follows this arrangement of forces, this hierarchy of functions whose stability is necessarily precarious. We go on like that until I come in her hand, until my hand comes in her mouth. Allerhand, sagt Henri belustigt. Ich komme eigentlich gar nicht mehr mit. Ist sie jetzt doppelt gekommen, oder was? Und die andere, kommt die gar nicht? Keine Ahnung, sagt Genoveva, Testo Junkie Beatriz setzt diese Episode jedenfalls mit den folgenden Worten fort: We leave the hotel. My elbows are burning. Fucking her is harder than factory work, harder than driving a truck loaded with nitroglycerine in a cowboy film. She tears off my skin, every time. Und das war’s dann auch erst mal. Beatriz ist ein ganzer Kerl, sagt Henri. Die deutsche Version von TESTO JUNKIE wird bereits unter ihrem neuen, männlichen Vornamen erscheinen, weiß Genoveva. Judith Halberstam heißt ja jetzt auch Jack Halberstam. Interessant, sagt Henri, dass TRANS-MALE Beatriz Preciado dieselben Hormonpräparate zu sich nimmt wie die CIS-MALE Hochleistungsradfahrer der Tour de France. Dabei möchte sich die Autorin (respektive der Autor) absolut nicht auf ein Geschlecht festlegen lassen. I do not want the female gender that has been assigned to me at birth, schreibt Preciado. Neither do I want the male gender that transsexual medicine can furnish and that the state will award me if I behave in the right way. I don’t want any of it. Like the Pill or the oncomouse, gender is a biotech industrial artifact. The technologies of gender, sex, sexuality, and race are the true economicopolitical sectors of pharmacopornism. They are technologies of production of somatic fictions. MALE and FEMALE are terms

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without empirical content beyond the technologies that produce them. That being the case, the recent history of sexuality appears as a gigantic pharmacopornographic Disneyland in which the tropes of sexual naturalism are fabricated on a global scale as products of the endocrinological, surgical, agrifood and media industries. Immer diese Neologismen, stöhnt Henri. Penises and vaginas are biocodes of power-knowledge regimes. They are ideal regulators, biopolitical fictions that find their somatic support in individual subjectivity. The pharmacopornographic sex-gender regime is the result of the unexpected alliance between the nineteenth-century naturalist metaphysics of sexual dimorphism, focused on heterosexual reproduction, and the rise of a hyperconstructivist medical and biotech industry in which gender roles and identities can be artificially designed. One cannot insist enough on the fact that the pharmacopornographic regime of sexuality cannot function without the circulation of an enormous quantity of semiotechnical flow: the flow of hormones, the flow of silicone, and the flow of digital, textual, and representational content. *** THOMAS ENGELHART IS A NON-VEGETARIAN AMERICAN MENSWEAR FASHION DESIGNER LIVING IN PARIS WHO LOVES TO BE BEATEN UP EVERY NOW AND THEN AND IS MARRIED TO A LESBIAN. Peter Rehberg (University of Austin, Texas) hält einen außerordentlich inspirierenden Vortrag auf der Tagung WHERE IS FRANKFURT NOW? (20. bis 23. August 2014, Goethe Universität Frankfurt am Main). The methodological shift from the critique of representation to affect within queer studies/affect studies, articulated here, in a way, avant la lettre by Leo Bersani, appears especially interesting to me, given the visual aesthetics of queer postporn culture of the past 15 years;

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for, with its post-phallic bodies and a sexuality beyond sexuality this queer visual style also demands to be read beyond regimes of the representational. I want to take the recent turn to affect on the one hand and the emergence of queer post porn on the other, as an occasion to develop an alternative trajectory for the field of queer studies, one that hasn’t been explored by affect theory yet, and which links an interpretation of contemporary subcultural aesthetics via affect to the thinkers of the Frankfurt School. I am claiming that the move to go beyond the realm of the sexual as sex and sexuality in the Foucauldian sense and calling it AFFECT and thus also re-introducing the question of aesthetics and its formal problems into the studies of sexuality and gender is a move we can already see in the context of Frankfurt School, most directly and prominently, of course, in Herbert Marcuse. What I want to suggest is, that we should read Marcuse’s notion of EROS as a model to explore the connections and intersections of sexualities and affects and to think about a type of sexuality (beyond the power/knowledge regimes located by Foucault) that might be called AFFECTIVE. Marcuse can help us to think about a queer sexuality beyond sexuality, in other words he can help us to think about what I would like to call AFFECTIVE SEXUALITIES. Woraufhin Rehberg eine Reihe einschlägiger Abbildungen aus dem vor einigen Jahren eingestellten BUTT Fanzine projiziert (und auch ein mitgebrachtes Heft exemplarisch durch die Reihen des Hörsaals gehen lässt). Projektion: DRUMMER. As my title promises, the discussion of what might be called AFFECT appears relevant to me, given the queer visual culture of the past 15 years. The proliferation of pornographic online imagery has also

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lead to a post-pornographic counter culture. Like in earlier versions of Feminist appropriation of porn, queer postporn can work on challenging the hierarchical and normative structures of the pornotopic field and its formal stagnations. Projektion: SLEEPING BOYS. Venus und Genoveva zücken ihre Telefone und machen je ein Foto. BUTT partakes in the contemporary popular culture of de-sublimation without, I would say, establishing sex as the master-signifier of its narratives. As opposed to the rigid functionality of sexual desire in mainstream porn, both gay and straight, the post porn of the gay male fanzine BUTT (a transnational project founded by the Dutch journalists Gert Jonkers and Jop van Bennekom accompanied by Wolfgang Tillmans as their signature photographer) introduces an affective diffusion of the sexual interest. This does not necessarily translate into Vanilla sex. The BUTT boys will always make sure to prove how kinky they are, thus also establishing a connection to 1970s gay fanzines and their masturbatory mission. Projektion: HAIRY BOYS WITH HARD COCKS. More than narratively stabilizing the visual representation of the postpornographic star, they open up, I would argue, a post-phallic zone of affect. What I call affect here is the contingency of attachments that cannot necessarily be explained as symptoms of a psychoanalytic subject, for instance: FASHION HOMO FROM GERMANY GREW UP NAKED AND MAKES CLOTHES IN PARIS. TOM THE CARPENTER IS GOOD WITH WOOD AND LIKES MEN WHO WORK WITH THEIR HANDS. The portrayals and stories in BUTT do not aim to document a social reality but rather look at everydayness erotically and aesthetically; that is to say, they register unforeseen connections and the pleasure

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that can be gained from them. People’s habits are followed here with (almost) the same interest as their sexual behaviors. We always try to make a connection between sexuality and for instance doing dishes and psychotherapy, zitiert Peter Rehberg den BUTT-Herausgeber Jop van Bennekom und kommt dann eben auf die mehrschichtige Verbindung zwischen Foucault und Marcuse zu sprechen. Foucault’s suspicion about the rhetoric of sexual liberation and its assumption about a repressed sexuality was adapted strongly especially for the most influential text of Queer Theory, Judith Butler’s GENDER TROUBLE. Her enactment of a reverse discourse, i.e. a discourse that doesn’t fall into the trap of assuming the existence of sex untouched by power, relies on Foucault’s verdict on Marcuse. Thus the case of Marcuse and Queer Theory seemed to be closed. Eros as an utopian reorganization of libidinal drives beyond genital sexuality, which would allow for a new model of non-repressive sublimation beyond established forms of domination, had no place within an analysis of the ways in which power generates sexualities and sex in late capitalism and its bio-political formation after Foucault and Butler. Pleasure becomes the testing ground for both knowledge and power. Moreover, pleasure, for Foucault, belongs to a sexuality beyond genital organization (S/M); it doesn’t take genital pleasure as its model, a fact not sufficiently acknowledged within queer studies, and thus representing one of its limitations. These moments that for Foucault characterize pleasure in distinction to desire, we can find, I want to argue, not only within the more recent debate on affect, but already in Marcuse’s description of Eros. His model in EROS AND CIVILISATION is pretty straightforward. By historicizing Freud’s libido theory, particularly by reading the reality principle historically specific as capitalist performance principle, he moves from a heteronormative repression of sexuality under capitalism to a state of a playful de-genitalization and re-organization

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of libidinal energy, which as non-repressive exceeds the categorical distinction between sublimation and de-sublimation. Beyond its capitalist deformation, a non-repressed sexuality would not release an infantile, perverse and violent sexuality (the flip side to its repression), but rather lead to a self-sublimation of sexuality, a sexuality beyond sexuality, one might say. Here, Marcuse has to argue especially against the Frankfurt School’s assumption about the libidinal nature of fascism as sexual perversion, as in Adorno and Reich. *** Marie Schmidt (DIE ZEIT): Die Erben des Marquis de Sade tragen sich schwer mit dem als pornografisch diskutierten Vermächtnis ihres berüchtigten Vorfahren. Am heutigen 29. November 2014 veröffentlicht die Süddeutsche Zeitung eine Reportage über Thibault de Sade, in der dieser von seiner Irritation berichtet, als er im Alter von 21 Jahren DIE 120 TAGE VON SODOM las. An diesem Abend wird Narcisse in die Orgien eingeführt; man schneidet ihm am Ende alle Finger ab. Während der Bischof ihn in den Arsch fickt, drückt man ihm eine erhitzte Nadel in die Harnröhre ein. Es kommt Zelmire; man verbrennt ihr die Klitoris, die Zunge, das Zahnfleisch, man reißt ihr vier Zähne aus. Et cetera. Für Thibault de Sade ist das keine Literatur: Dieser Text ist ihm lediglich ein mathematischer Beweis dessen, wozu der Mensch fähig ist, wenn man ihm seine Zivilisation wegnimmt. (Wobei der sexuelle Diskurs, also jener, der über den simplen Akt der Fortpflanzung hinausgeht, seines Zeichens ein zivilisatorischer ist, notiert Genoveva.) Thibault de Sade: Würdest du mit dem letzten Kapitel beginnen, würdest du das Buch nie lesen. Aber de Sade zieht dich allmählich rein. Und am Ende sagt er: Schau, du bist noch dabei, voilà, deine Vorstellungskraft kann das fassen.

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Jean-Luc Nancy hielt fest: Durch die Wunde entweicht, Tropfen für Tropfen, furchterregend, lächerlich (vielleicht sogar gelassen, fröhlich) der Sinn. Am Punkt des Schmerzes gibt es nur ein offenes, zer­schnittenes, seziertes, dekonstruiertes, auseinandergenommenes, dekonzentriertes Subjekt. Die Öffnungen des Blutes sind auf identische Weise die des Sinns. Hoc est enim: Hier hat die eigentliche Identität der Welt statt, die absolute Identität dessen, was keinen Körper von Sinn bildet. Dass der Sinn und das Blut kein gemeinsames Schema haben, dass die Schöpfung ein Auseinanderhalten ist, das man nicht im Zaum halten kann, eine fraktale archi-tektonische Katastrophe, dass das Kommen zur Welt eine ununterdrückbare Zurückweisung ist, das ist es, was nunmehr SINN bedeutet. Dieses Denken macht verrückt. Dieses Denken, falls es ein Denken ist, oder aber das Denken, dass es darum geht, DAS zu denken und sonst nichts. Dieser Gedanke: Hoc est ENIM, die Welt ist ihre eigene Zurückweisung, die Zurückweisung der Welt ist die Welt.

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Für Susan Sontags Listen

  Dass ich sie immer verteidigen würde, und dass ich sie in der Vergangenheit bereits mehrfach verteidigt habe. Immer gegenüber denselben. Und dass sie es nicht braucht. Nicht will. Die Verteidigung sei nur der posthume dritte Aspekt, nach der Idee (1), der Ausführung (2) und Understanding it (2a). Also: weg damit. Man sei immer schon somewhere else, sagt sie, als dort, wo man am Anfang war. This stage is stupid. Life was an escalator, not a ladder, schnell musste es gehn. Wir wissen viel.    Wir haben die Listen. Mit Verben. Ah! Ja. Die Kommentare, posthum. Sie liefern die Nachnamen. Das ist alles Wind. Das ist Gras. Also doch.   Silberlocke! Dass ich sie immer verteidigen würde und zwar gerade gegenüber denjenigen, die, so hab ich es oben gesagt, immer wieder aus Gründen dieselben sind. So unter Buchen. Ein Beispiel. In Sendern, ein anderes. Auf Terrassen. Jede Erkenntnis der eigenen Delikatesse anzuverwandeln, das halten dieselben nicht aus. Werden grantig und beharren. Drehn an den Seiten. Hier: Lektüren.   All die Hotels, die Filme, die vielen, die sie sah. Die Gewohnheiten, Aversionen, Affären. Die Zuneigungen schon auch. Das Wetter soll kommen. Schäle die Furcht ab. Wovon? Doch nicht von den Worten. Es gibt nur eine richtige Farbe. Eine gute und fleißige Farbe. Dass wir nicht fleißig genug sind, nie, nicht süchtig genug, und sie not mad enough, not obsessed enough, niemals, dass dieselben Leute aus Pappe sind, dass die Wallungen des Ressentiments sich aus der Ohnmacht (aus der Panik) (aus der Sättigung des Selbst) erheben. Wir brauchen mehr, noch mehr Notate, müssen hier noch gar nicht unterscheiden, ob Langeweile gut oder schlecht, um nicht zu sagen: evil ist. Dass alles an sich selber ausprobieren, heißt: Pubertät auf ewig.

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Aber halt, woran denn sonst? Auch das würde ich verteidigen. Der Wind frischt auf. Der ganze Himmel verdunkelt. Ich höre. Ich würde sie immer verteidigen. Würde lügen, etwas erfinden, ich spüre die Schwerkraft. The stupor of self-forgetfulness. Tagtraumverbot! Aufhören mit dem unterschiedslosen Lächeln! Wie töte ich ein Gefühl? Act it out in an exaggerated form. Abstraktion. Erste Tropfen. Diese Leute sind nicht der Regen. Sobald er da ist, sagt man: es regnet. Fragt nicht mehr, wer. Den Heidegger bitte immer, immer nur auf Englisch lesen. Sounds like: Sense. Hier sind die unbesuchten Inseln. Oh. Hier ist die komische Keuschheit der Hetze, die Keuschjagd. Komme ich mit dem Bleistift noch näher heran? Du brauchst kein Beil, sage ich. Singe im Licht der beleuchteten Tropfen.   Was wir nicht alles von ihr wissen. Aber: was wissen wir nicht von ihr? Ich würde sie immer verteidigen. Ohne Begründung.    Ihre Listen! Oh, ihre Listen! Idee der unpersönlichsten Hingabe, zur Werktätigen zu werden eines großen Affekts, alles notieren. Jetzt kommt der Regen. Den Regen nehmen sie ernst. I like to feel dumb. Dann weiß ich, die Welt ist mehr, ist reicher als ich. Rückhaltlos, alles an sich selber ausprobieren, selbst den Tod.

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Autorinnen und Autoren

Anna-Lisa Dieter ist Literaturwissenschaftlerin am Exzellenzcluster Kulturelle Grundlagen von Integration der Universität Konstanz und übersetzt aus dem Französischen. Silvia Tiedtke ist Literaturwissenschaftlerin. Zuletzt war sie als wissenschaftliche Koordinatorin des Internationalen Doktorandenkollegs Mimesis an der LMU München tätig und unterrichtete englische Literatur.

Nicola Behrmann ist Associate Professor an der Rutgers University, New Jersey, USA, am Department für Deutsche, Russische und Osteuropäische Sprachen und Literaturen. Elisabeth Bronfen ist Lehrstuhlinhaberin am Englischen Seminar der Universität Zürich und Global Distinguished Professor an der New York University. Carolin Emcke ist Publizistin. Ina Hartwig, Literaturwissenschaftlerin und Kritikerin, ist seit 2016 Dezernentin für Kultur und Wissenschaft der Stadt  Frankfurt am Main. Michael Krüger ist Schriftsteller und Dichter. Er war lange Jahre Verleger und Leiter des Carl Hanser-Verlags und Herausgeber der Zeitschrift Akzente. Thomas Meinecke ist Schriftsteller, Musiker der Band F.S.K. und Radio-DJ im Nachtmix auf Bayern 2. Eva Meyer ist Philosophin, Filmemacherin und Schriftstellerin.

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Autorinnen und Autoren

Michaela Melián ist Künstlerin und Musikerin der Band F.S.K. Sie ist Professorin für Mixed Media/Akustik an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Jens-Christian Rabe ist Literatur- und Popkritiker bei der Süddeutschen Zeitung. Juliane Rebentisch ist Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Laurence A. Rickels ist Literaturwissenschaftler, Filmtheoretiker, Kunstkritiker und Psychoanalytiker. Er ist Professor für Psychoanalyse an der European Graduate School, Saas Fee, Schweiz. Monika Rinck ist Dichterin, Essayistin und Übersetzerin. Sie war langjährige Mitarbeiterin des rbb. Heide Schlüpmann ist Filmwissenschaftlerin. Sie war Professorin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der GoetheUniversität Frankfurt. Daniel Schreiber ist Autor und Kunstkritiker. Er ist Verfasser der ersten umfassenden Susan-Sontag-Biografie. Eckhard Schumacher ist Professor am Institut für deutsche Philologie an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Martin Zeyn ist Journalist, Regisseur und Autor. Er leitet das Nachtstudio von Bayern 2. Tanja Zimmermann ist Kunsthistorikerin und Literaturwissenschaft­ lerin. Sie ist Professorin für Kunstgeschichte mit einem Schwerpunkt auf Osteuropa an der Universität Leipzig.

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Nachweise Textnachweis Thomas Meinecke: Selbst, Berlin 2016, S.  93–97, 291–294, 324–326, 345–348, 399–403, 452–454. © Suhrkamp Verlag Berlin 2016. Eva Meyer: »Das Theater der Theorie«, in: dies.: Legende sein, Frankfurt 2016, S. 30–41. Monika Rinck: »Dass ich sie immer verteidigen würde«, in: Park. Zeitschrift für neue Literatur 69 (Dezember 2016), S. 6f. Eine erste Fassung des Beitrags von Ina Hartwig: »Reproduktionsmedizin als Metapher. Bilder von Geburt und Tod« erschien in: Merkur 69 (2015), S. 44–57.

Bildnachweis 1

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Gidget © 1959, renewed 1987 Columbia Pictures Industries, Inc. All Rights Reserved. Courtesy of Columbia Pictures. From the Poster collection of Margaret Herrick Library, Academy of Motion Picture Arts and Sciences. Gidget Goes Hawaiian © 1961, renewed 1989 Columbia Pictures Industries, Inc. All Rights Reserved. Courtesy of Columbia Pictures. Gidget Goes to Rome © 1963, renewed 1991 Columbia Pictures Industries, Inc. All Rights Reserved. Courtesy of Columbia Pictures. Annie Leibovitz: Vandam Street studio, New York, 1999. Annie Leibovitz: Susan and me with Paolo Dilonardo, Paris, New Year’s Eve, 2001. Annie Leibovitz: Sarah Cameron Leibovitz, (photographed by Alison Esta­ brook, Susan Sontag, and Susan Steinman), Roosevelt Hospital, New York, October 16, 2001. Annie Leibovitz: Sarah Cameron Leibovitz, (photographed by Alison Esta­ brook, Susan Sontag, and Susan Steinman), Roosevelt Hospital, New York, October 16, 2001. Annie Leibovitz: Susan with Sarah, West 23rd Street, October 2001. Annie Leibovitz: Susan and Sarah, Harbor Island, Bahamas, December 2002. Annie Leibovitz: Sarah Cameron Leibovitz, October 16, 2004. Annie Leibovitz: University of Washington Medical Center, Seattle, Washing­ ton, November 2004. Annie Leibovitz: Leaving Seattle, November 15, 2004. Annie Leibovitz: New York, December 29, 2004. Alle Fotos von Annie Leibovitz stammen aus: dies.: A Photographer’s Life. 1990–2005, New York 2006, o.S. © 2006 by Random House. Inc.

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Nachweise

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Hans Holbein d. J.: Der tote Christus im Grab, 1521–1522, Mischtechnik auf Lindenholz, 32,4 x 202,1 cm, Kunstmuseum Basel, die Abbildung stammt aus: John Rowlands: The Paintings of Hans Holbein the Younger. Complete Edition, Oxford 1985, S. 48. David E. Scherman: Lee Miller at Entrance to St. Malo Fortress, Brittany, France, 1944. ©  Courtesy Lee Miller Archives, England 2017. All rights reserved. leemiller.co.uk. Lee Miller: Margaret Bourke-White, 97th Bombardment Group, 8th Bomber Command Northamptonshire England, 1942. © Lee Miller Archives, England 2017. All rights reserved. leemiller.co.uk. Margaret Bourke-White: Overall of Central Moscow w. Antiaircraft Gunners, 26.7.1941. © The LIFE Picture Collection/Getty Images. Lee Miller: Fall of the Citadel, Aerial Bombardment, St Malo, France, 1944. © Lee Miller Archives, England 2017. All rights reserved. leemiller.co.uk. Lee Miller: »Believe This/Germans Are Like This«, in: Vogue, New York, Juni 1945, aus: Mark Haworth-Booth: The Art of Lee Miller, London 2007, S. 162–165. Margaret Bourke-White: Leipzig City Council Deputy Lying Dead while Seat­ ed at his Town Hall Desk, 13.4.1945. © The LIFE Picture Collection/Getty Images. Lee Miller: The Burgermeister, Wife and Daughter Suicides, Leipzig, Ger­ many, 1945. ©  Lee Miller Archives, England 2017. All rights reserved. ­leemiller.co.uk. Judith Buss: Andante Calmo, 2014, Eröffnungsperformance von Michaela Melián im Rahmen von Radikales Denken. Zur Aktualität Susan Sontags, Symposium vom 27.–29. November 2014 in den Münchner Kammerspielen. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Fotografin und der Künstlerin. Michaela Melián: Andante Calmo, 2014, 40 x 29,5 cm. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin.

Die Herausgeberinnen danken Christopher Möllmann, Simone Warta und Alexander Schmitz für die Unterstützung der Arbeit an diesem Buch.

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