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German Pages [329] Year 2016
Kevin Liggieri (Hg.)
»Fröhliche Wissenschaft« Zur Genealogie des Lachens
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495808207
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Kevin Liggieri (Hg.) »Fröhliche Wissenschaft«
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Seit jeher treibt das Lachen als anthropologische Grundkonstante Philosophen, Wissenschaftler und Künstler um. Obwohl sich der Mensch im Lachen nonverbal verständigt, bleibt diese soziale Geste höchst komplex, da in ihr Limitation sowie Transgression, Einschließung wie Ausgrenzung stecken. Lachen wurde in der Geschichte teils als wahnsinnig, blasphemisch oder destruktiv, ebenso häufig aber auch als gutmütig, heilig und heilend konnotiert: Lachen ist ein paradoxes Phänomen. In diesem Band soll durch eine interdisziplinäre Betrachtung diesem Paradoxon Rechnung getragen werden.
Der Herausgeber: Kevin Liggieri ist Doktorand der Mercator Research Group »Räume anthropologischen Wissens« an der Ruhr-Universität Bochum und Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung.
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Kevin Liggieri (Hg.)
»Fröhliche Wissenschaft« Zur Genealogie des Lachens
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48707-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80820-7
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Inhalt
Einleitung – Wissenschaft zum Lachen? . . . . . . . . . . .
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Kevin Liggieri
I. Geschichte(n) des Lachens Das Lachen in der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Peter Kuhlmann
Verurteilt das Christentum das Lachen? Grundzüge einer theologischen Kriteriologie des Lachens .
30
Alexander Jaklitsch
… nu lach oder zurne – (Formen-)Vielfalt des Lachens in Texten des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
Nina Bartsch
Nichts zu lachen? Komödie bei Gottsched . . . . . . . . .
76
Nicola Kaminski
II. Philosophische Strukturen des Lachens Geschichte der Befreiung – Befreiung der Geschichte. Zur Politik des Lachens bei Hegel, Ruge und Marx . . . . .
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Niklas Hebing
Die Mechanik des Lebendigen. Eine Prolepse des Surrealismus oder Henri Bergson zum Lachen . . . . . . . 123 Holger Glinka
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Inhalt
Fröhlichkeit und Lachen im Werk Friedrich Nietzsches . . 157 Linda Simonis
Lachen und Lächeln in der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Hans-Ulrich Lessing
Was ist das spezifisch Menschliche? – Weinen und Lächeln als anthropologisch relevante Phänomene anhand von Filmsequenzen aus »Terminator 2« und Überlegungen von Helmuth Plessner. Eine philosophiedidaktische Perspektive . 195 Klaus Thomalla
Die Fremdelphase. Zur Genealogie personaler Lachmündigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Lenz Prütting
III. Subversionen des Lachens »Wissenschaft lacht nicht« – Lachen als Subversion der Normierung . . . . . . . . . . . 229 Kevin Liggieri
Désinvolture oder die heitere Verachtung. Vom Dandy und seinem kalten Lächeln . . . . . . . . . . . 251 Felix Hüttemann
Kannibalisches Gelächter. Überlegungen zu Elias Canettis »Lachtheorie« . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Peter Friedrich
Das versehrte Lachen – Neomoderne Gewaltclowns in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Anna-Sophie Jürgens
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
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Einleitung – Wissenschaft zum Lachen? Kevin Liggieri
»Lachen ist die einzige Ausrede des Lebens, die große Ausrede des Lebens! Ich gestehe, daß sogar in den schlimmsten Augenblicken der Verzweiflung ich die Kraft zum Lachen besaß. Das ist der Vorteil des Menschen vor dem Tier.« 1 (Emile Cioran)
»[D]urch eine Mimik, bei der der Mund in die Breite gezogen wird, die Zähne sichtbar werden und um die Augen Fältchen entstehen, [zugleich durch eine Abfolge stoßweise hervorgebrachter, unartikulierter Laute] Freude, Erheiterung, Belustigung o. Ä. erkennen lassen.« So der Duden über ein altbekanntes, alltäglich menschliches Phänomen: das Lachen. Es umgibt und durchdringt uns, wir kennen, verwenden und verstehen es. Doch wie menschlich und konstant ist dieses ›außer-ordentliche‹ Phänomen eigentlich? Schaut man genauer auf ›das Lachen‹ so kommen vielschichtige Fragen auf, die die altvertraute Geste als uns unbekannt und erklärungswürdig erscheinen lassen. Zeigt sich im Lachen ein soziales Band, welches Generationen und Kulturen verbindet, oder wirkt es nicht eher destruktiv und subversiv auf eine Gesellschaft, mit ihren scheinbar gesicherten Machtverhältnissen? Ist das allzu menschliche Lachen eine »Anthropina«, wenn man sie mit Helmuth Plessner so betiteln will 2 , und damit angeboren oder vielleicht im sozialen Kontext anerzogen? Ist es eine anthropologische Grundkonstante oder ein kulturell gewordenes Konstrukt? Zwar verständigt sich der Mensch im Lachen nonverbal, ist er deswegen aber gleichzeitig im Vollzug dieser Geste mehr als ein Tier? Ein Bündel von Problemkomplexen dieser Art hat Philosophen, Naturwissenschaftler und Künstler seit jeher zum Nachdenken angeregt. Das Lachen ist als soziales 1 2
Emile Cioran: Werke. Frankfurt a. M. 2006, 2030. Vgl. Helmuth Plessner: Gesammelten Schriften. Frankfurt a. M. 1980. Bd. 7, 208.
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Umgangsmittel höchst komplex, da sich in ihm Limitation (Grenzen zeigen) und Transgression (Grenzen überschreiten) verbinden. Die (Kultur-)Geschichte des Lachens sowie dessen Reflexion beginnt schon im antiken Griechenland mit dem homerischen Gelächter und zieht sich, wenn auch vielleicht im Mittelalter subtil, bis in die Moderne. Was hat es mit dem Lachen auf sich, dass es in früheren Gesellschaften (»Fluch auf die, welche lachen«, Lk, 6,25), aber auch heute noch stark polarisiert? Selbst Philosophen standen dem Lachen skeptisch gegenüber. Denken und Lachen? Das gehe nicht zusammen. Von Platon, der die thrakische Magd als unwissend darstellt, weil sie über den fallenden Philosophen lacht 3 , bis zu Thomas Hobbes, der das Lachen als »sudden glory« (»plötzlicher Triumpf« auch über andere Personen) beschrieb (»[w]er glaubt durch Wort und Tat sich vor anderen ausgezeichnet zu haben, der neigt zum Lachen« 4 ), zeichnet sich ein historischer Konflikt an der Demarkationslinie zwischen Denken und Lachen ab. Philosophen, Literaten oder Mediziner, für alle ist das Lachen etwas, das den Menschen, in welcher Hinsicht auch immer, verändert. Der vorliegende Band soll auf einige Konnotationen, die mit dem Lachen durch die Jahrhunderte hinweg verbunden wurden, blicken: Der Lachende war krank, wahnsinnig, ungebildet, blasphemisch, böse oder zerstörend, aber auch mächtig, gutmütig, heilig und heilend. Das Lachen ist paradoxerweise beides. Es ist das heitere Gelächter des Narren und Eulenspiegels, aber auch das abgrundtief-teuflische des goetheschen Mephistos. Was bringt nun eine Genealogie des Lachens mit sich? Der Begriff der Genealogie birgt polyvalente Lesarten, so ist genea Geburt, Abstammung, Geschlecht, logos dagegen Darlegung, Erzählung, Rechnung. Auf der einen Seite zeigt die Genealogie als Abstammungsgeschichte (und Methode), dass die Inkohärenz der Geschichte von diskursiven und materiellen Praktiken geprägt ist, auf der anderen Seite beherbergt sie schon in ihrem Begriff Leiblichkeit und Körpertechniken: Diese Verschränkung von Leib und Geschichte spiegelt sich auch in einer Genealogie des Lachens wider. Im Folgenden soll jedoch keine vollständige Geschichte des Lachens rekonstruiert, sonVgl. Platon: Theaitetos, 174a-b. Thomas Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger. Eingeleitet und herausgegen von Günter Gawlick. Hamburg 1959, 33 f., abgedruckt in: Helmut Bachmeier (Hrsg.): Theorie der Komik, Stuttgart 2005, 16–17, hier 16. 3 4
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Einleitung
dern eher die Erforschung der verschiedenen dissonanten Erscheinungsformen und Veränderungen untersucht werden. Dabei stehen nicht Subjekte, die etwas generieren, im Vordergrund, sondern subindividuelle Spuren. Die Genealogie verzichtet demnach auf eine monotone Finalität und verweist eher auf Veränderung, Wandel und Brüche. Vielleicht kann man bescheiden den Versuch definieren, ein Phänomen derart zu rekonstruieren, sodass zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert und sich verhält. Man nimmt eben dieses Lachen, analysiert es systematisch und historisch und setzt es dann wieder zusammen, um es verständlicher zu machen. Im vorliegenden Band wird anhand dieser Genealogie ein interdisziplinärer Blick auf das Lachen als einen Diskurs geworfen, den es so, wie wir ihn in unserer Moderne wahrnehmen, nicht immer gab. Das Ziel der Untersuchung ist zu zeigen, wie vielschichtig sich dieses anthropologische Merkmal darstellt und inwiefern es den Menschen erst zum Menschen macht. Es werden Linguisten, Literaturwissenschaftler, Medienwissenschaftler, Philosophen, Anthropologen sowie Theologen zu Wort kommen, um zu untersuchen, wie verschieden das Lachen in seiner Geschichte und Systematik aufgegriffen wurde. Die Gliederung des Bandes verdeutlicht in drei »Oberkapiteln« die schematische Aneignung des Themas: Im ersten Teil Geschichte (n) des Lachens geht es um die historischen Narrative eines Lachens, welches sich von der Antike bis in die Moderne stets wandelte. Nicht nur das Objekt, worüber der Mensch lacht, modifizierte sich, auch die Form, wie er mit dem Lachen umgeht und sich zu ihm verhält, zeigt Transformationen. Hierbei wird der Begriff Geschichte im doppelten Sinn gefasst, zum einen als Historie (beim Beitrag von Peter Kuhlmann und Alexander Jaklitsch) sowie zum anderen als diskursives Narrativ (bei Nina Bartsch und Nicola Kaminski), bei der die literarische Verarbeitung des Lachens Zeitumstände, aber auch literaturinterne Formationen freigibt. Im zweiten Abschnitt Philosophische Strukturen des Lachens geht es systematisch um Aspekte des Lachens und seine anthropologische Größe. Was macht den Menschen zum Menschen, wenn er lacht, und können Tiere und Maschinen auch lachen? Hierbei reicht die Bearbeitung von einer Politik des Lachens – angefangen bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel – (Niklas Hebing) über die selbstironisch und überwindende Macht des Lachens bei Friedrich Nietzsche (Linda Simonis) sowie einer Mechanik des Lebendig-Lachenden bei Henri Bergson (Holger Glinka) bis hin zur phänomenologischen Betrach»Fröhliche Wissenschaft«
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tung des Lachens bei Helmuth Plessner (Klaus Thomalla/Hans-Ulrich Lessing) und in der Lachmündigkeit beim Kleinkind (Lenz Prütting). Im abschließenden dritten Kapitel Subversionen des Lachens geht es um die Entgrenzung. Was geschieht, wenn das so freundlich menschliche Lachen zur Waffe wird und sich gegen den Menschen selbst wendet? Wie kann ein Lachen gedacht werden, welches eben nicht mehr zur sozialen Kommunikation, sondern zur Destruktion beiträgt? Diese Subversion des Lachens zeigt einleitend der Beitrag von Kevin Liggieri, der sich mit der Wechselbeziehung zwischen Lachen und Wahnsinn in Bezug auf rationales Denken und dessen Grenzen beschäftigt. Daran anschließend werden verschiedene Formen der Transgression und Subversion des Lachens thematisiert: das abfällige kalte Lachen des Dandys (Felix Hüttemann), die Verbindung von Lachen und Macht – auch in Form eines lachenden Kannibalismus – bei Elias Canetti (Peter Friedrich) sowie das zerschnittene und zerstörte Lachen der bösen Clowns (Anna-Sophie Jürgens). Die anzitierten Beiträge machen deutlich, dass es bei der Erarbeitung des Bandes keine vollständige Erfassung des heterogenen Phänomens Lachen geben kann, vielmehr soll versucht werden, einen Überblick über Genealogie und Systematik des Lachens zu geben, um ein interdisziplinäres Nach- bzw. Weiterdenken anzustoßen. Das Ziel ist zu zeigen, dass Denken und Lachen gut zusammen auskommen und sich vielleicht sogar gegenseitig befruchten oder mit Nietzsche gesprochen: »Die liebliche Bestie Mensch verliert jedes mal, wie es scheint, die gute Laune, wenn sie gut denkt: sie wird ›ernst‹ ! Und ›wo Lachen und Fröhlichkeit ist, da taugt das Denken Nichts‹ ; – so lautet das Vorurtheil dieser ernsten Bestie gegen alle ›fröhliche Wissenschaft‹. – Wohlan! Zeigen wir, dass es ein Vorurtheil ist!« 5
5 Friedrich Nietzsche: Die Fröhliche Wissenschaft. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1988, Bd. 3, 555.
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I. Geschichte(n) des Lachens
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Das Lachen in der Antike Peter Kuhlmann
I.
Einleitung
Der Begriff des Lachens in der Antike ist für einen Altertumswissenschaftler recht weit gefasst, denn selbstverständlich gab es die Antike ebenso wenig, wie es die Gegenwart im Sinne einer homogenen Kultur gibt. Für die Antike sind verschiedene zeitliche, aber auch kulturelle und soziale Ebenen zu unterscheiden (z. B. griechisch, römisch, archaisch, klassisch, hellenistisch etc.). Methodisch wiederum kann man sich dem Phänomen des Lachens aus historisch-kulturanthropologischer, philologisch-literaturwissenschaftlicher oder philosophischer Perspektive nähern. In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, diese unterschiedlichen Perspektiven zu verbinden, weil sie z. T. auch nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. Materialbasis und damit Grundlage werden im Wesentlichen literarische und philosophische Texte sein, die vor und in ihrem jeweiligen kulturellen Kontext analysiert und ausgewertet werden. Der Aufbau des Beitrags orientiert sich im Prinzip an der Chronologie der behandelten Epochen und Texte. Interessant ist zunächst, dass es in einigen griechischen Stadtstaaten einen religiösen Kult für eine personifizierte Gottheit des Lachens (gr. Gélōs) gegeben zu haben scheint: Für Sparta soll etwa der mythische Gesetzgeber Lykurg ein Standbild für den Gott des Lachens errichtet haben, 1 und auch für Thessalien gibt es vergleichbare Zeugnisse aus der römischen Kaiserzeit. 2 Dies passt prinzipiell gut zur antiken Tendenz, auch bestimmte Abstrakta oder geistige Kräfte
1 Bezeugt bei Plutarch: Vita Lycurgi, 25,4: Plutarch weist auch darauf hin, dass die Spartaner überhaupt Kulte für personifizierte Gefühle und Abstrakta kannten (Furcht, Tod u. a.). 2 Apuleius, Metamorphosen 2,31,167; allerdings ist der Beleg aufgrund des z. T. humoristischen Romankontextes nicht über jeden Zweifel erhaben.
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als göttlich zu personifizieren und entsprechend mit einem Kult auszustatten. Ein weiterer relevanter Punkt ist die Frage, ob es in der Antike überhaupt eine Theorie des Lachens gab. Dies ist tatsächlich der Fall, wie wir entsprechenden theoretischen Äußerungen der beiden griechischen Philosophen Platon und Aristoteles entnehmen können: Ihre Theorien des Lachens fußen auf der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Komödie und betreffen v. a. das Wesen bzw. die Definition des »Lächerlichen« (gr. tò géloion) sowie die schädliche bzw. nützliche Wirkung des »Lachens« (gr. gelân) auf den Zuschauer von Komödien. In Rom entwickelte Cicero in seinem Dialog über den idealen Redner (De oratore) eine Theorie des Witzes bzw. Humors (lat. sal/facetiae) aus dem Kontext der Redepraxis heraus und behandelte hier speziell die rhetorische Angemessenheit bestimmter Formen des Humors und natürlich auch ihre Wirkung auf Richter und Geschworene. Zu unterscheiden ist schließlich zwischen fiktionalen Texten auf der einen Seite, die wie Homer lachende Handlungsfiguren vorstellen oder wie die Komödie beim Rezipienten Lachen erzeugen; dem stehen nichtfiktionale bzw. philosophische Texte wie Platon und Aristoteles auf der anderen Seite entgegen, die das Lachen und seine Wirkung von einer theoretischen Seite her betrachten. Diese theoretisch angelegten Texte rekurrieren auf die fiktionalen bzw. im engeren Sinne literarischen Texte, um auch die Wirkung des Lachens auf den Rezipienten zu beleuchten.
II.
Griechische Antike
II.1 Homer und die lachenden Götter Zunächst sollen hier die frühesten Texte der griechischen Antike in den Blick genommen werden, in denen das Lachen thematisiert wird. Relevant sind besonders die Homerischen Epen, in denen das Lachen eine für moderne Leser unter Umständen sogar befremdliche Funktion hat: Mit dem Ausdruck »Homerisches Gelächter« ist sogar ein spezifischer Fachterminus für dieses Phänomen geschaffen worden. 3 Das vielleicht bekannteste Beispiel ist die berüchtigte erotische Szene 3
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Vgl. schon Paul Friedländer: Lachende Götter. In: Die Antike 10 (1934), 209–226;
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Das Lachen in der Antike
mit dem göttlichen Liebespaar Ares und Aphrodite im 8. Buch der Odyssee: Die Liebesgöttin Aphrodite ist eigentlich mit dem eher unansehnlichen und körperbehinderten, d. h. humpelnden Schmiedegott Hephaistos verheiratet, was im Rahmen der prinzipiell perfekten Götterwelt an sich schon grotesk genug wirkt. Nebenher führt sie allerdings eine außereheliche Liebesbeziehung mit dem deutlich sportlicheren Kriegsgott Ares. Doch der alles sehende Sonnengott Helios verrät Hephaistos Aphrodites Seitensprünge, sodass Hephaistos eine List ersinnt: Er schmiedet unsichtbare Fesseln und befestigt sie am Ehebett. Als sich Ares und Aphrodite wieder zum Liebesspiel dort treffen, finden sie sich unversehens in diesem ebenso unsichtbaren wie unentwirrbaren Netz gefangen. Auf das Geschrei des ins Schlafzimmer eintretenden Ehemannes hin laufen die olympischen Götter zusammen – die Göttinnen bleiben aus Scham lieber zu Hause. Bei Homer heißt es dann: 4 »Und die Götter blieben vor der Tür stehen, die Spender des Guten; Unauslöschliches Gelächter aber erhob sich unter den glückseligen Göttern, als sie die Kunstfertigkeit des schlauen Hephaistos sahen. […] Aber der Herrscher Apollon sprach zu Zeus’ Sohn Hermes: ›Ach Hermes, Sohn des Zeus, […], möchtest du nicht auch gern in den festen Fesseln eingezwängt im Bett mit der goldenen Aphrodite schlafen?‹ Darauf antwortete der Argostöter Hermes: ›Wenn das doch wahr würde, Herrscher, weit treffender Apollon! […]‹«
Hier wird einmal der ásbestos gélōs (V. 326: »unauslöschliches Gelächter«) der Götter im Text selbst erwähnt, den der Anblick der ertappten Ehebrecher hervorruft. Zugleich evoziert die Passage auch Lachen beim Rezipienten der Odyssee. Überhaupt handelt es sich hier um eine Erzählung in der Erzählung, denn diese sog. »Götterburleske« wird nicht vom Primärerzähler der Odyssee berichtet, sondern von dem Sänger Demodokos, als Odysseus an den Hof der Phäaken verschlagen worden ist. 5 Damit kann man sogar noch eine dritte Ebevgl. auch Susanne Schroeder: Lachen ist gesund? Eine volkstümliche und medizinische Binsenwahrheit im Spiegel der Philosophie. Diss. Berlin 2002, 21 f. 4 Homer: Odyssee 8, 325–339 (in Auszügen); die deutschen Übersetzungen dieser und der übrigen antiken Textstellen stammen jeweils vom Verfasser dieses Beitrages. 5 Zu diesen Aspekten vgl. Thomas Schmitz: Homerische Poetik. In: Antonios Rengakos/Bernhard Zimmermann (Hgg.): Homer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, 64–77, hier 73. Stuart D. Olson: Odyssey 8. Guile, Force and the Subversive Poetics of Desire. In: Arethusa 22 (1989), 135–145. »Fröhliche Wissenschaft«
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ne einführen, denn im Text sollen die fiktiven Handlungsfiguren, die Phäaken und der durch sein Schicksal deprimierte Odysseus aufgeheitert werden, aber zugleich wirkt die Götterkomödie auch für den realen Hörer bzw. Leser des Homertextes humoristisch. 6 Gelacht wird innerhalb des Textes einmal über die auch für Götter nicht alltägliche Offensichtlichkeit der Sexszene mit einer immerhin nackten Aphrodite, also das eigentlich Unangemessene bzw. indecorum. Hephaistos bezeichnet dies ausdrücklich selbst in seiner Klagerede als érga gélasta kaì ouk epieiktà (»lächerliche und nicht schickliche Taten«; V. 307). Damit hat das Lachen hier auch eine negative Konnotation, die bei Homer häufig im Zusammenhang mit dem gehbehinderten und damit an sich atypischen Gott Hephaistos auftaucht: Er löst nämlich durch sein Humpeln und das insgesamt tapsige und unsichere Auftreten Gelächter bei den olympischen Göttern aus. Deren Lachen wiederum wird so zum Ausweis von Überlegenheit und Dominanz, d. h. Lachen ist bei den Homerischen Göttern ein Auslachen oder Verlachen von Unterlegenen. Auch auf der menschlichen Ebene wiederholt sich dies übrigens, wie man im 2. Buch der Ilias an der Figur des Thersites sehen kann: Dieser offenbar sozial den adligen Kriegern unterlegene und wie Hephaistos aufgrund eines Höckers körperlich behinderte Thersites führt eine eigentlich berechtigte Klagerede über das selbstgefällige Gehabe des Agamemnon, der als betrogener Ehemann nur aus persönlicher Kränkung heraus einen panhellenischen Krieg gegen Troja anzettelt. 7 Allerdings wird er von Odysseus so rüde zurechtgewiesen, dass ihm die Tränen ausbrechen, worauf die übrigen Griechen »süß zu lachen« beginnen. 8 Der griechische Ausdruck hēdý (»süß, angenehm«) zeigt, dass der auktoriale Erzähler der Ilias dieses eher aggressive Verlachen als Ausweis sozialer Überlegenheit und kommunikativer Dominanz keineswegs in Frage stellt. 9 Das heißt: Auch der Rezipient des Textes soll also die mithilfe dieser Textpassage transportierte Botschaft als soziale Handlungsnorm akzeptieren; demnach Zum Aspekt des Humors vgl. besonders Walter Burkert: Das Lied von Ares und Aphrodite. In: Ders.: Kleine Schriften I: Homerica. Göttingen 2001, 105–116. 7 Zur Deutung im Einzelnen vgl. Geoffrey S. Kirk: The Iliad: A Commentary, I. Cambridge 1985, 138–155. 8 Homer: Ilias 2,270: hēdý gélassan. 9 Zu den sozialen Strukturen der Homerischen Epen ausführlich Christoph Ulf: Homerische Strukturen. Status – Wirtschaft – Politik. In: Rengakos/Zimmermann (Hgg.): Homer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, 257–277. 6
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Das Lachen in der Antike
wären die adligen Herren gut und körperlich makellos und können gegenüber sozial Unterlegenen stets ihr »Recht« durchsetzen. Doch um noch einmal auf die Odyssee und den Ehebruch zwischen Ares und Aphrodite zurückzukommen. Hier dient das göttliche Lachen nach dem ertappten Ehebruch nicht nur dem Ausweis von Überlegenheit, sondern es wirkt zugleich (wie oft im Olymp) entspannend, indem es eine zuvor aufgetretene emotionale Anspannung unter Göttern löst. Im aristotelischen Sinne könnte man hier von einer kathartischen Funktion des Lachens sprechen. Tatsächlich stellt dies auch bei Homer ein geradezu distinktives Merkmal der Götter gegenüber den Menschen dar; so anthropomorph die Götter bei Homer auch sein mögen, so sehr unterscheiden sie sich doch in einigen wichtigen Punkten von ihnen: Sie sind mächtiger, sie sind unsterblich und sie sind immer heiter und lassen sich in dieser heiteren Grundstimmung nicht grundsätzlich erschüttern – ganz gleich, welche Katastrophen auch geschehen mögen. 10 Selbst wenn z. B. mit Troja ganze Städte vernichtet und Völkerschaften ausgerottet werden, die Homerischen Götter haben am Ende immer etwas zu lachen und bleiben in ihrer ewigen Heiterkeit ungerührt. Somit drückt auch das befreiende und entspannende Lachen unter diesen Göttern wiederum ihre Überlegenheit und Macht aus. Homer bezeichnet die Götter daher auf griechisch als die theoì rheîa zóontes (»leicht/sorglos dahin lebende Götter«) im Gegensatz zu den mühselig lebenden und von Katastrophen heimgesuchten Menschen. 11 Diese Art von Göttern steht im Übrigen auch außerhalb menschlicher Moral bzw. ethischer Handlungsnormen, wie die Ehebruchsgeschichte ebenfalls zeigt: Ares und Aphrodite werden ja nicht wirklich bestraft, sondern lösen einfach nur Heiterkeit aus. 12
II.2 Die Alte (attische) Komödie und Platon: Lachen als Gefahr? Die Homerischen Epen waren im antiken Griechenland allgemeiner Kulturbesitz und wurden regelmäßig bei öffentlichen Rezitationen
Generell zu den Homerischen Göttern Hartmut Erbse: Untersuchungen zur Funktion der Götter im homerischen Epos. Berlin 1986. 11 Z. B. Homer: Ilias 6, 138; 12, 381; 13, 144 oder Odyssee 3, 805. 12 Speziell hierzu Martina Hirschberger: Götter. In: Rengakos/Zimmermann (Hgg.): Homer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, 278–292. 10
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von Rhapsoden vorgetragen sowie später im aufkommenden Schulsystem auswendig gelernt. Somit waren vermutlich alle Griechen mit der Ilias und der Odyssee engstens vertraut und betrachteten sie als kanonische und normative Texte, aus der alle mögliche Weisheit entnommen werden kann. Von daher war auch Platon intensivst mit den Homerischen Epen vertraut, als er seine Theorie des Lachens entwickelte. Ein weiterer Referenzpunkt für Platons Theoriebildung war freilich auch die heute so genannte »Alte«, d. h. die zeitgenössische attische Komödie des 5. Jh. v. Chr., die uns v. a. durch vollständig erhaltene Stücke des Aristophanes bekannt ist. Besonders in seinem Werk über den Staat (Politeía) warnt Platon vor der Lektüre schädlicher Autoren oder Texte, die wie die vorhin behandelten Homerpassagen ein moralisch negatives Bild der Götter abgeben. 13 Dies zeichnet sich nach Platon vor allem durch zwanghaftes Lachen aus; so heißt es im dritten Buch der Politeía, das sich mit der Frage des Lachens befasst: »Auch nicht wenn man bedeutende Persönlichkeiten darstellt, die vom Lachen beherrscht werden (gr. anthrópus […] kratuménus hypò gélōtos), ist dies akzeptabel, viel weniger noch, wenn es sich um Götter handelt.« 14 Im Weiteren zitiert Platon die einschlägigen Homerverse aus der Ilias, in denen die Olympier den humpelnden Hephaistos wegen seiner Behinderung und seines hilflosen Auftretens verlachen. 15 Das Lachen erscheint bei Platon also als Affekt, der wie später bei den Stoikern den Menschen in seinem Handeln beherrschen kann und daher als schädlich verurteilt wird. Aus diesem Grund lehnt Platon im zehnten Buch der Politeia, das das Thema der Dichtkunst behandelt, konsequenterweise die Lektüre der Homerischen Epen und anderer Dichter als jugendgefährdende Schriften in seinem Idealstaat ab.16 Das platonische Erziehungsziel bildet nämlich die »Besonnenheit« (gr. sōphrosýnē), dem dann entsprechend auch der Lesekanon im Bildungswesen unterzuordnen ist. Besonders scharfe Kritik erfährt neben dem Epos die Komödie als das literarische Genos zur Erzeugung von Lachen schlechthin, wie Platon besonders in seinem Dialog Philebos ausführt. 17 Hier il13 Allgemein zum Problem vgl. Lenz Prütting: Homo ridens. Freiburg/Brsg. 2013, 105–109. 14 Platon: Politeia 389a. 15 Homer: Ilias 1, 599 f. 16 Ausführlich dargelegt z. B. in Platon: Politeia 605a-607a. 17 Ausführlich dazu Michael Mader: Das Problem des Lachens und der Komödie bei Platon. Stuttgart 1977.
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Das Lachen in der Antike
lustriert Platon aufgrund seiner eigenen Erfahrungen mit den Spezifika der attischen Komödie den ambivalenten Charakter des Lachens und vergleicht die Mischung der Affekte mit den Rezeptionserlebnissen beim Besuch von Tragödien. 18 Wie in Tragödien Leid oder Schrecken sich mit Freude (z. B. über einen guten Ausgang) paaren können, seien auch in Komödien negative und positive Empfindungen gemischt. 19 Diese zunächst paradox anmutende Behauptung untermauert Platon (bzw. Sokrates als Dialogsprecher gegenüber Protarchos) mit der Beobachtung, das Lachen über eine andere Person beruhe auf (modern gesprochen) »Schadenfreude« (gr. phthónos) und impliziere damit zugleich negative Affekte (gr. lýpē) wie Überlegenheitsgefühle oder Bosheit. 20 In der Tat entspricht Platons Theorie genau der Technik der uns durch Aristophanes fassbaren sog. »Alten (attischen) Komödie«, in der es vielfach nicht um bloße bzw. harmlose Komik um des reinen Witzes willen geht, sondern um persönliche Angriffe auf ganz bestimmte historische Figuren des öffentlichen Lebens (gr. onomastì kōmōdeîn). 21 Ein Paradebeispiel hierfür ist etwa die Komödie Wolken (gr. Nephelaí), in der Aristophanes mit den philosophischen Innovationen seiner Zeit (besonders mit der neuen Philosophie der Sophistik) in garstigem Humor abrechnet und der als Sophist verulkte Sokrates am Ende des Stückes sogar verbrannt wird. Die Komik dieser Komödien ist im Allgemeinen also nicht heiter-versöhnlich, sondern polemisch und baut bei den angegriffenen Personen bzw. deren Anhängern eher Spannungen und Aversionen auf als sie kathartisch aufzulösen. Insofern entspricht die Alte Komödie Athens übrigens auch überhaupt nicht Michail Bachtins Konzept des Karnevalesken, wonach sich in karnevalesken Ritualen oder Texten eine »Volkskultur« gegenüber einer »offiziellen (Obrigkeits-)Kultur« Bahn breche und für eine begrenzte Zeit die vorgegebene Ordnung auf den Kopf stelle. 22 Im Gegenteil ist die Lachkultur der Alten attischen Komödie
Platon: Philebos 48a. Im Griechischen heißt es (Philebos 48a): meîxis lýpēs te kaì hēdonês. 20 Platon: Philebos 48b; 50a; hierzu Mader: Das Problem des Lachens und der Komödie bei Platon, 22. 21 Ausführlich Manfred Landfester: Handlungsverlauf und Komik in den frühen Komödien des Aristophanes. Berlin 1977; vgl. auch Prütting: Homo ridens, 85–97. 22 Ausgeführt bei Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Düsseldorf 1985 [Moskau 1965]. 18 19
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ebenso wie die Tragödienaufführungen Teil des offiziellen Staatskultes der Polis und somit eine quasi öffentlich verordnete Lachkultur. 23 Vor dem Hintergrund dieser Komödienform ist Platons Theorie des Lachens durchaus plausibel. Im Übrigen geht es Platon in seiner Theorie auch nicht um eine generelle Ablehnung aller Formen von Humor. Dazu würde schon die literarische Form seiner Dialoge nicht passen, deren herausragende Kennzeichen Ironie und feiner Humor sind und die von daher auch heute noch einen hohen Unterhaltungswert besitzen. 24 Am Ende des besonders humoristischen Dialogs Sympósion vertritt Sokrates die These, nur ein guter Tragödiendichter könne auch ein guter Komödiendichter sein oder auch umgekehrt. 25 Hier geht es meines Erachtens also eher um eine vernünftige Kanalisierung von Emotionen im Sinne der Besonnenheit bzw. sōphrosýnē als zentraler Charaktertugend. 26 Dafür spricht auch die im Spätdialog Gesetze (gr. Nómoi) vertretene These, nur das Übermaß an negativen und positiven Empfindungen bzw. Schmerz und Lachen sei schädlich und damit zu meiden. 27 Dies leitet bereits über zur Theorie des Aristoteles, der in Abgrenzung zu konkurrierenden philosophischen Schulen eine mittlere Ausgewogenheit der Affekte bzw. gr. die metriopátheia (lat. aurea mediocritas) als idealen Seelenzustand propagierte. Im Ganzen ist aber Platons distanziertes Verhältnis zur Dichtkunst im Allgemeinen zu beachten, die im Rahmen seiner Ideenlehre stark abgewertet wird. Im 10. Buch der Politeía entwickelt Platon sein bekanntes Mimesis-Konzept, wonach die Dichtkunst als bloße »Nachahmung« (gr. mímēsis) der sinnlich wahrnehmbaren Welt erscheint. Doch ist die sinnlich wahrnehmbare, materielle und vergängliche Welt selbst auch nur Nachahmung der immateriellen und unHierzu Hellmut Flashar: Komik und Alte Komödie. In: Sabine Vogt (Hrsg.): Spectra. München 2004, 75–84, hier 81–84, und ausführlich Peter von Möllendorff: Grundlagen einer Ästhetik der Alten Komödie. Untersuchungen zu Aristophanes und Michail Bachtin. München 1995; vgl. auch Peter L. Berger: Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung. Berlin 1998, 21 f. 24 Zu diesen Aspekten der platonischen Dialoge vgl. Hans Krämer: Platons ungeschriebene Lehre. In: Theo Kobusch/Burkhard Mojsisch (Hgg.): Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen. Darmstadt 1996, 249–276, hier 264–267 25 Platon: Symposion 223d. 26 Vgl. Prütting; Homo ridens, 102–104. 27 Platon: Nomoi 732c; vgl. auch Schroeder, Lachen ist gesund?, 24; mit Bezug auf den Dialog Theaitetos vgl. auch Hans Blumenberg: Das Lachen der Thrakerin. Frankfurt a. M. 1987, 14. 23
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vergänglichen Ideen, sodass die Dichtkunst hier lediglich den zweiten Abklatsch der »wirklich wahren« Ideen bildet:
Mimesis (1. Stufe): materielle Welt (veränderlich – vergänglich) Mimesis (2. Stufe): Dichtung – Nachahmung der materiellen Welt
→ → →
Ideen: immateriell – unvergänglich – unveränderlich
abnehmender Seins-Grad
Die Komödie muss nach diesem Modell als der nachahmende – hässliche/schlechte – Abklatsch des Hässlichen erscheinen und kann insofern keine positive Wertung erfahren.
II.3 Aristoteles / Neue Komödie: Lachen als Katharsis? Platons bedeutendster Schüler Aristoteles grenzt sich in vielem – ja in fast allen wichtigen philosophischen Theorien – bewusst von seinem großen Lehrer ab. Dies betrifft auch die Theorie des Humors und des Lachens, die er in verschiedenen seiner Schriften entfaltet (v. a. Rhetorik, Nikomachische Ethik, Poetik). In der Rhetorik und der Nikomachischen Ethik propagiert Aristoteles eine zu seiner metriopátheia passende maßvolle Verwendung von Humor und Komik, die gleichwohl in richtiger Dosierung wesentliche Merkmale des idealen Redners und gebildeten Bürgers darstellen. 28 Betrachten wir hier allerdings näher sein Werk Poetik, von dem nur Buch 1 erhalten ist, in dem er v. a. eine Theorie der Tragödie darlegt. Im verlorenen 2. Buch befand sich mit Sicherheit eine Behandlung der Komödie und des Komischen. 29 Dies ist bekanntlich ein zentrales Thema in Umberto Ecos Roman Der Name der Rose: Dort wird im Kloster Melk heimlich eine letzte Handschrift dieses verlorenen zweiten Poetik-Buches aufbewahrt, aber wegen der vermeintlichen Gefährlichkeit des Lachens von dem ultraorthodoxen Mönch Jorge von Burgos versteckt gehalten und schließlich durch den Brand der Bibliothek vernichtet. Trotz des faktischen Verlustes der komödienspezifischen Ausführungen von Aristoteles’ Werk lässt So etwa in Aristoteles: Rhetorike Techne 1419b; Nikomachische Ethik 1128a. Speziell in der Nikomachischen Ethik spricht Aristoteles auch vielfach von der eutrapelía, d. h. dem ausgewogenen Humor als Merkmal des idealen freien Bürgers; vgl. auch Schroeder: Lachen ist gesund?, 27 f. und Prütting: Homo ridens, 235–243 (speziell zur eutrapelía). 29 Dazu Manfred Fuhrmann: Aristoteles Poetik. Stuttgart 2002, 146. 28
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sich durchaus Einiges über seine Anschauungen zu dem hier behandelten Thema sagen, denn bereits im ersten Buch der Poetik werden die Themen Komödie und Lachen an einigen Stellen behandelt. Dort gibt es anders als bei Platon zunächst einmal keinerlei negative Urteile diesbezüglich: Im 5. Kapitel heißt es etwa: 30 »Die Komödie ist […] die Nachahmung (mímēsis) schlechterer Menschen/ Dinge, nicht freilich in Bezug auf jede Art von Schlechtigkeit, sondern nur insofern es sich um den lächerlichen/komischen Teil des Hässlichen handelt. Das Lächerliche/Komische ist nämlich eine Art Fehler und Hässlichkeit, aber ohne Schmerz oder Schaden zu verursachen, so wie auch gerade die Komödienmaske gewissermaßen hässlich und verzerrt ist, aber ohne schmerzhafte Wirkung.« 31
Diese recht verknappte und sprachlich schwierige Stelle ist vermutlich folgendermaßen zu verstehen: Zunächst einmal gibt Aristoteles eine wertneutrale Definition der Komödie und des Komischen in dem Sinne, dass Komik auf bestimmten Formen von Defizienz beruht und die Komödie deren literarische Darstellung in Dramenform bildet. Ausdrücklich betont Aristoteles im Gegensatz zu Platon explizit den unschädlichen Charakter des Komischen und damit konsequenterweise auch der Komödie (gr. anódynon, ou phthartikón, áneu ōdýnēs), wobei der griechische Wortlaut z. T. wörtlich auf entsprechende Formulierungen im Platonischen Dialog Philebos rekurriert, diese aber natürlich bewusst in ihr Gegenteil verdreht – für den wissenden Leser also eine antiplatonische Polemik. 32 Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch der Begriff der Mimesis, der sich wiederum implizit gegen Platons Mimesis-Konzept aus der Politeía richtet: Für Aristoteles bedeutet Mimesis nämlich nicht einfach »Nachahmung« im pejorativen Sinne, sondern vielmehr und moderner »literarische/fiktionale Darstellung«; d. h. Dichtung »ahmt« Wirklichkeit insofern »nach«, als sie im Gegensatz zur Geschichtsschreibung eine quasi verdichtete oder idealtypische Ver-
Aristoteles, Poetik 1449a 30 ff. Der letzte Ausdruck áneu odýnēs wird von Fuhrmann missverständlich mit »ohne schmerzhaften Ausdruck« übersetzt (Fuhrman, Aristoteles Poetik, 17). Gemeint muss aber aufgrund des Kontextes der Schmerz an sich bzw. seine Wirkung auf den Rezipienten sein. 32 Platon hatte z. B. schon im Philebos (51a) das Stichwort odýnai »Schmerz(en)« im Zusammenhang mit dem Humor der Komödie genannt. 30 31
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sion von Wirklichkeit bietet, aber dadurch auch eine konzentrierte Form von Wirklichkeit oder Wahrheit vermittelt: Dichtung – Mimesis = Fiktion > Wahrheit als Abstraktion Realität
Damit dreht Aristoteles Platons Modell und zugleich die Wertigkeit von Dichtung und Fiktion quasi um. Ontologisch betrachtet ist die Mimesis von Schlechtem/Hässlichem aufgrund der bloß fiktionalen Natur unschädlich oder ungefährlich. 33 Dieses Modell wertet konsequenterweise literarische Gattungen wie die Komödie (im zweiten Buch der Poetik) auf, die nun einen pädagogischen Wert gerade aufgrund der Fiktionalisierung von Fehlern und Defekten mit dem Mittel der Komik erhalten. Interessant wäre demnach die Frage, ob Aristoteles der Komödie und damit dem Lachen ebenso wie der Tragödie auch ganz explizit eine kathartische Wirkung zuwies, d. h. eine Befreiung oder Reinigung von negativen Affekten. Man muss offenbar davon ausgehen, weil sonst die ganze Anlage der Aristotelischen Poetik in sich nicht kohärent wäre. Einen Hinweis auf diese These bietet eine an sich anonym überlieferte Schrift, die konzeptionell über mehrere Zwischenstufen aber wohl irgendwie auf Aristoteles fußen dürfte, nämlich der sog. Tractatus Coislinianus – benannt nach seinem ursprünglichen Besitzer, dem französischen Prälaten Henri-Charles duc de Coislin (1665–1732). 34 Dort findet sich nicht nur eine zu Aristoteles passende Definition der Komödie, sondern auch die explizite Formulierung: »[die Komödie] bewirkt durch Vergnügen und Lachen eine Katharsis/Reinigung von diesen Affekten« (gr. kōmōdía … di’ hēdonês kaì gélōtos peraínusa tèn tôn toiútōn pathēmátōn kátharsin). 35 Nun mag die Übertragung der Katharsis-Funktion der Komödie auf Aristoteles’ Poetik letztlich Spekulation bleiben, dennoch ist aber seine offenbar im Vergleich zu Platon positive Wertung von Lachen und Komödie bemerkenswert und gerade im Rahmen seines Kon-
Dazu Hellmut Flashar: Aristoteles, das Lachen und die Alte Komödie. In: Sabine Vogt (Hrsg.): Spectra, 61–74, hier 62–63. 34 Zu den Einzelheiten der Überlieferung und den Bezügen zu Aristoteles vgl. HeinzGünther Nesselrath: Die attische Mittlere Komödie. Berlin 1990, 102–149. 35 Zitiert bei Flashar: Aristoteles, das Lachen und die Alte Komödie, 61. 33
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zepts der metriopátheia (Ausgewogenheit der Affekte) erklärungswürdig, da die klassische attische Komödie des Aristophanes diesem Ideal aufgrund der komödienspezifischen heftigen persönlichen Angriffe (onomastì kōmōdeîn) eigentlich widerspricht. Eine Erklärung hierfür dürfte der Bezug auf die heute sog. »Mittlere« oder »Neue Komödie« zur Zeit des Aristoteles sein. 36 Diese – etwa durch Dichter wie Menander bekannten – Komödien entsprechen im Großen und Ganzen der neuzeitlichen Boulevard-Komödie und spielen in bürgerlich-familiärem Ambiente. Dargestellt werden in diesen entpolitisierten Stücken immer gleiche Typen bzw. feste Charaktere des privaten Alltagslebens wie: Strenger Vater, verliebter Jüngling, Hetäre, hübsche Bürgertochter, schlauer Sklave etc.; die Stücke enden regelmäßig glücklich mit der Versöhnung aller und oft mit einer Liebesheirat – sind also von Anlage und Plot her durchaus mit modernen Liebeskomödien vergleichbar. 37 Der ethisch-erzieherische Anspruch dieser Komödien würde jedenfalls zur aristotelischen Konzeption des maßvollen Humors bzw. Lachens und eben auch zum kathartischen Effekt des Tractatus Coislinianus passen. In der Praxis ist übrigens damit auch der scheinbare Gegensatz zwischen Platon und Aristoteles geringer als es Aristoteles suggeriert, denn die harmlose und aufs pädagogisch-ethische reduzierte Komik eines Menander mit dem Verzicht auf persönliche Angriffe hätte Platon vermutlich nicht kritisiert.
III. Römische Antike III.1 Römische Komödie: Lachen stabilisiert soziale Strukturen Die griechische Komödie leitet über zur römischen Kultur, denn die Mittlere und Neue Komödie Athens wurden seit dem 3. Jh. v. Chr. in dem aufstrebenden Stadtstaat Rom breit rezipiert, wie wir von den erhaltenen Komödien des Plautus und Terenz wissen. 38 Wie in Athen waren die Komödienaufführungen in Rom Teil religiöser Kultfeste und bildeten einen wesentlichen Teil der sozialen und kulturellen
So Flashar: Aristoteles, das Lachen und die Alte Komödie, 63–64; Prütting: Homo ridens, 175–178. 37 Bernhard Zimmermann: Die griechische Komödie. Düsseldorf 1998, 221–233. 38 Ausführlich Richard L. Hunter: The New Comedy of Greece and Rome. Cambridge 1985. 36
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Selbstvergewisserung: Hier inszenierte die Bürgergemeinschaft der Polis sich selbst und ihre unterschiedlichen sozialen Gruppen. 39 Die typische Handlung dieser Komödien bietet dem Publikum verliebte männliche Teenager aus gutem Hause, die das Geld ihrer strengen Väter mit wilden Partys, alkoholischen Exzessen und hübschen Hetären (d. h. einer Art »Edelprostituierten«) verprassen; zum Teil verlieben sie sich auch in vermeintlich unfreie Mädchen, die sich dann unerwartet als freie, aber durch das Schicksal verschleppte Bürgertöchter entpuppen und zu guter Letzt geheiratet werden dürfen, oft unter kräftiger Hilfe schlauer Sklaven. Die meist allzu strengen Väter werden im Laufe des Stücks zwar zunächst kräftig durch den Kakao gezogen, stimmen aber am Schluss entweder den Beziehungen ihrer Söhne zur Hetäre oder der anvisierten Hochzeit zu. Der Humor besonders der Plautinischen Komödien ist derb: Es handelt sich im modernen Sinne um klassische Slapstick-Komödien mit oft abstruser und unlogischer Handlung und entsprechend recht überraschendem glücklichem Ausgang ohne psychologische Glaubwürdigkeit. Zu erklären ist diese Art von Komik und Komödienstruktur allerdings durch den sozialen und kulturellen Kontext der Polis Rom: Sämtliche sozialen Gruppen des Stadtstaates einschließlich der Unfreien und Freigelassenen, zu denen auch die Hetären zählten, sind in den Stücken repräsentiert. Alle sozialen Gruppen werden teilweise durch den Kakao gezogen, aber trotz allen moralischen Fehlern auch liebenswert und menschlich gezeichnet. 40 Zwar scheinen die sozialen Rollen durch die manchmal allzu aktiven und vorlauten Sklaven und Hetären gelegentlich in ihr Gegenteil verkehrt, allerdings stellt der Schluss die soziale Ordnung wieder her: 41 Der pater familias bzw. das männliche Familienoberhaupt entscheidet über Heirat und Versöhnung, sodass die Stücke trotz ihrer Komik zur sozialen Stabilisierung der Stände beitragen; man könnte auch sagen: wegen ihrer KoPeter Kuhlmann: Lektüre im Lateinunterricht. In: Dialog. Schule. Wissenschaft – Klassische Sprachen und Literaturen 46 (2012), 37–62, hier 48–52, Meike Rühl: Plautus und sein Publikum. In: Ulrike Egelhaaf-Gaiser u. a. (Hgg.): Kultur der Antike. Transdisziplinäres Arbeiten in den Altertumswissenschaften. Berlin 2011, 434–454; Lily R. Taylor: The Opportunities for Dramatic Performances in the Time of Plautus and Terence. In: TAPhA 68 (1937), 284–304. 40 Dazu Kuhlmann: Lektüre im Lateinunterricht, 48–50. 41 Speziell hierzu Siegmar Döpp: Saturnalien und lateinische Literatur. In: Ders. (Hrsg.): Karnevaleske Phänomene in antiken und nachantiken Kulturen und Literaturen. Stätten und Formen der Kommunikation im Altertum I (= Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 13). Trier 1993, 145–178, hier 156–159. 39
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mik, denn hier scheint die Komik natürlich auch eine Art kathartischer Funktion zu haben, indem sie durch temporäre karnevaleske Rollenvertauschungen und das erzeugte Lachen die eigentliche soziale Rollenverteilung auf suggestive Weise akzeptabel macht. 42 Auf der anderen Seite könnte man Bachtins Konzept des Karnevalesken durchaus auf die römischen Komödien anwenden: Denn tatsächlich findet sich durch die temporäre Rollenverkehrung im Lauf der Stücke eine Verdrehung der realen Machtstrukturen ähnlich wie auch beim römischen Fest der Saturnalien, die in vielem dem neuzeitlichen Karneval entsprechen: 43 So war für ein paar Tage die soziale Ordnung aufgehoben und die Herren mussten z. B. bei ausgelassenen und exzessiven Gastmählern ihre Sklaven bedienen. 44
III.2 Cicero und die Theorie des Witzes Wie sich aus den bisherigen Ausführungen ergibt, scheint ein aristotelischer Traditionsstrang bis in die römische Komödie gewirkt zu haben. Aristoteles wirkte auch in der ausgehenden römischen Republik bei Roms größtem Redner Cicero nach, der in seinem philosophisch-rhetorischen Dialog De oratore eine umfassende Praxis und Theorie des idealen Redners entwirft. In dieser Schrift werden viele theoretische Grundsätze des Systematikers Aristoteles in die Praxis überführt, und in diesem Zusammenhang wird auch die Rolle des Humors im 2. Buch ausführlich diskutiert. 45 Als ein Sprecher und ausgewiesener Witz-Experte tritt in diesem fiktiven Dialog ein gewisser Iulius Caesar Strabo auf, der entfernt mit dem berühmten Feldherrn und Diktator Caesar verwandt war. Wie in Aristoteles’ Rhetorik hat Humor hier die Funktion, in der richtigen Dosierung bei den Adressaten Sympathie für den Redner zu erzeugen und dabei auch (gewissermaßen kathartisch) negative Anspannungen wie Hass oder
Zum Verhältnis der Väter zu ihren Söhnen vgl. Boris Dunsch: »Ferrei sunt isti patres.« Der Vater-Sohn-Konflikt in der römischen Komödie. In: Ianus 33 (2012) 15– 21. 43 Zur literarischen Funktion der Saturnalien ausführlich Siegmar Döpp: Antike Literatur und Karneval. In: Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes 30/ 1 (1987), 11–19 und Döpp: Saturnalien und lateinische Literatur. 44 Götz Distelrath: Art. »Saturnalia«. In: Der Neue Pauly 11 (2001) 113–115. 45 Cicero: De oratore 2, 216–296. 42
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Neid zu lösen. 46 In diesem Zusammenhang legt nun Caesar Strabo dar, dass es a) keinerlei Systematik des Humors geben könne, b) auch keine Theorie des Lachens entwickelt werden könne, und c) nichts unwitziger sei, als über den Witz zu sprechen, was man schon an den äußerst langweiligen Abhandlungen der Griechen über das Lachen sehen könne, die keinerlei Erkenntnisfortschritt in dieser Hinsicht brächten. Im Grunde sind schon diese Punkte ein Witz, denn im Folgenden entwickelt Caesar Strabo sowohl eine Theorie des Humors als auch eine Systematik dessen, was als witzig empfunden wird bzw. Lachen hervorruft. Aufgrund des rhetorischen Kontextes werden hierzu viele einzelne Beispiele gegeben und auf ihre Tauglichkeit für die Redepraxis überprüft. Grundsätzlich wird in diesem Dialogabschnitt unterschieden zwischen einem durchgängigen Sachwitz (perpetuae facetiae) mit einem für den Rezipienten lustig erscheinenden Sachverhalt auf der einen Seite und dem eher punktuell zu denkenden Sprachwitz (dicacitas) aufgrund einer als witzig empfundenen Formulierung. 47 Im Weiteren unterscheidet Caesar Strabo 10 Untertypen für den Sachwitz und 24 Untertypen für den Sprachwitz, die hier nicht im Einzelnen ausgeführt werden. Sie entsprechen aber in etwa dem, was auch z. B. heutige Linguisten als Kategorien bei der Analyse von Witzen entwickelt haben. Hierzu gehören etwa Doppeldeutigkeiten oder situative Unangemessenheit oder scheinbare Paradoxie sprachlicher Ausdrücke. Als besondere Formen sind daneben die häufig Lachen oder Heiterkeit erzeugende Ironie und nicht zuletzt die Selbstironie genannt, indem ein Sprecher das Gegenteil dessen meint, was er sprachlich zum Ausdruck bringt. Auf der einen Seite führt Cicero hier im Munde des Caesar Strabo die aristotelische Tradition der Systematisierung bestimmter Phänomene (hier des Humors) weiter; auf der anderen Seite wird aber – wohl aufgrund der lockeren Dialog-Situation – keine tiefschürfende Analyse dessen vorgenommen, wie Witz in der kommunikativen Interaktion zwischen Sprecher und Rezipient genau funktioniert bzw. warum genau Lachen erzeugt wird. In seinem Dialog ging es Cicero letztlich lediglich um das aptum bzw. die Angemessenheit als zentrales Kriterium zielführender und erfolgreicher Rede. Cicero hat dem Thema immerhin einen beachtlichen und innerhalb der antiken 46 47
Ebd., 216. Hierzu Wilfried Stroh: Die Macht der Rede. Berlin 2011, 367 f.
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Redetheorie sogar singulären Stellenwert zugemessen, was vermutlich mit seinem eigenen berüchtigten Humor zusammenhängt. In vielen Reden haben gerade dem jungen Cicero selbst seine gefürchtete Schlagfertigkeit und sein schneidender Witz vielfach geschadet.
III.3 Horaz und die lachende Wahrheit Ebenso wie Cicero betrachtet auch der augusteische Dichter Horaz das Lachen von einer theoretischen Warte aus. Er fußt dabei vielfach auf Aristotelischer Philosophie und antiker Rhetorik, auch wenn dies bei einem Lyriker überraschen mag. Dass Horaz ein großer Freund von Witz und Humor war, zeigen bereits die von ihm bevorzugten literarischen Gattungen, unter denen die humoristisch-polemischen Epoden und die Satiren mit ihrem feineren Humor besonders herausragen. Der Humor ist bei Horaz quasi philosophisches oder pädagogisches Programm, 48 wie er in der ersten Satire ausdrücklich formuliert: 49 Dort spricht er davon, er wolle »durch das Lachen die Wahrheit zum Ausdruck bringen« (lat. ridentem dicere verum). Die Wahrheit besteht für ihn darin, gemäß der peripatetischen bzw. Aristotelischen Lehre in der Lebensführung immer das richtige Maß bzw. die »goldene Mitte« 50 und das aptum (»Angemessene«) zu wahren – also z. B. zwischen übertriebener Sparsamkeit und Verschwendungssucht. Diese Maxime wird in den Epoden und Satiren mit praktischen und humoristisch bis burlesk ausgestalteten Beispielen illustriert. Solche Beispiele erzeugen zwar Lachen, verzichten aber ähnlich wie die griechische Neue Komödie bewusst auf persönliche Angriffe (onomastì komodeîn) und haben in peripatetischer Tradition eher typische Charaktere im Blick. 51 Dabei hält Horaz seinem Lesepublikum durchaus den Spiegel vor, indem er viele Defekte der frühkaiserzeitlichen römischen Oberschicht aufs Korn nimmt, so etwa die vielfach zu beobachtende Diskrepanz zwischen ausuferndem Speise- und Wohnluxus auf der einen Seite und stoischer Bescheidenheit als propagiertem Lebensideal auf der anderen Seite. Horazens Absicht, den 48 Generell dazu Peter Connor: Horace’s Lyric Poetry. The Force of Humour. Berwick (Australien) 1987. 49 Horaz: Satiren I 1, 24. 50 Horaz nennt dies lateinisch: aurea mediocritas (Horaz, carmen 2, 10). 51 So Richard A. Lafleur: Horace and onomastì kōmōdeîn. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II 31/3 (1981), 1790–1826.
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Lesern durch seine humoristische und ironische Darstellungsweise ethische Maximen zu vermitteln, scheint allerdings nicht sehr erfolgreich gewesen zu sein, wenn man seinen Selbstäußerungen trauen darf; denn anders als z. B. die Werke anderer Dichter wie Catull oder Ovid scheinen seine Gedichte keine Bestseller gewesen zu sein.
IV. Fazit: Das Lachen im Rahmen der antiken Kulturgeschichte Wie der Streifzug durch die antike Literaturgeschichte gezeigt hat, wurden dem Phänomen des Lachens in der antiken Literatur recht unterschiedliche Funktionen und Bedeutungen zugewiesen. Bei Homer und Platon spielen gewisse negative Momente des Lachens im Sinne einer Demonstration von Überlegenheit oder sogar einer aggressiven Polemik eine Rolle, was zur Abwertung des Komischen bei Platon führte. In nachklassischer Zeit hingegen gibt es eine klare Kehrtwende in der antiken Literatur und das Komische bzw. das Lachen wird grundsätzlich positiv gewertet, wenngleich mit der wichtigen Einschränkung, dass das rechte Maß im Sinne der peripatetischen Philosophie eingehalten wird. Freilich handelt es sich hierbei bloß um Ausschnitte des zufällig an Texten Erhaltenen. Hieraus kann keine kulturgeschichtlich lineare Entwicklung gefolgert werden, wie man gerade am Beispiel Platons und der Komödie sieht. Platon mag aus philosophischer Sicht das Lachen prinzipiell für gefährlich gehalten haben, allerdings repräsentiert er in Vielem nicht die typischen Ansichten seiner Zeit. Die breite Masse seiner Zeitgenossen teilte nämlich seine Auffassung nicht, wie man am Blühen der Alten Komödie sieht, die immerhin sogar Teil des offiziellen Götterkultes der Polis war. Diese Beispiele machen auch die Existenz einer öffentlichen und ritualisierten Lachkultur in der griechischen und römischen Antike offenbar, wie sie in der Neuzeit vielleicht resthaft im Karneval fassbar ist, aber in diesem Umfang in der individualisierten Gegenwartskultur nicht mehr existiert. Diese öffentlich inszenierte Lachkultur hatte aber anders als vielleicht in anderen Epochen wie dem Mittelalter eine geradezu staatstragende Funktion und damit kaum im politisch-kulturellen Sinne destruktives oder revolutionäres Potential.
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Verurteilt das Christentum das Lachen? Grundzüge einer theologischen Kriteriologie des Lachens Alexander Jaklitsch
Das Verhältnis zwischen Kirche bzw. Theologie und Lachen gilt über weite Strecken der Geschichte hinweg als von kirchlicher Maßregelung und Ablehnung geprägt. Die Verdrängung und Bekämpfung des Lachens sei geradezu ein Grundzug der Kirche und der biblischen Religion. 1 Die folgenden Ausführungen möchten zeigen, dass es sich bei dieser Auffassung um ein Vorurteil handelt. Gleichwohl lässt sich deutlich herausstellen, dass Kirche und Theologie dem anthropologischen Phänomen des Lachens und auch einer Haltung des Lachens nicht unkritisch gegenüberstehen. Ein genauer Blick auf einige prominente Texte der biblisch-theologischen Tradition zeigt, dass diese eine deutliche Kriteriologie des Lachens entwickeln, die von einer ambivalenten Haltung geprägt ist. An ihrem Anfang steht die positive Würdigung des physiologischen Phänomens selbst. Zentral ist dabei, dass Kirche und Theologie wesentlich ein relatives Lachen legitimieren. Um die begrifflichen Unschärfen, die ein latentes Problem in der gelotologischen Auseinandersetzung sind, zu minimieren, soll zunächst der Versuch einer Bestimmung dessen, was im Folgenden unter Lachen, Humor (was man auch als eine Haltung des Lachens bezeichnen kann) und Komik verstanden werden soll, unternommen werden.
Pointiert formuliert diese Kritik Odo Marquard: Exile der Heiterkeit. In: Wolfgang Preisendanz/Rainer Warning (Hgg.): Das Komische (Poetik und Hermeneutik, Bd. 7). München 1976, 133–151.
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Verurteilt das Christentum das Lachen?
I.
Was ist »das« Lachen?
Wenn vom Lachen im weiteren Sinne gesprochen wird, so ist damit immer ein spezifisches Zusammenspiel der drei Basisgrößen der Humoristik 2 zu beachten. Das Phänomen des Lachens lässt sich nicht rein physiologisch erklären, sondern muss stets in diesem Zusammenhang betrachtet werden. Dazu gehört neben dem »Lachen« als physiologischem Ausdruck auch der »Humor« als existenzielle Haltung und schließlich das beiden Größen vorausliegende Ursprungsphänomen der »Komik«. Diese drei Begriffe sollen im Folgenden kurz definitionsartig erläutert werden. 3
I.1
Komik – Das Ursprungsphänomen der Humoristik
Komik meint eine kreativ-spielerische Verarbeitung menschlicher Erfahrung, die zwei Elemente wahrnimmt und einen sinnlichen Kontrast zwischen ihnen erzeugt. Dabei zielt sie darauf ab, diesen in einem affektiv-passiven (Lachen) oder einem kreativ-aktiven (Humor) Akt aufzulösen. Für die Wahrnehmung, Verarbeitung und kreative Herstellung von Komik ist dabei immer eine spezifisch menschliche existenzielle Haltung des Lachens (der »Humor«) notwendig. Man kann zwischen einer wahrgenommenen (primären) Komik (die zwei sinnlich wahrnehmbare Objekte miteinander kontrastiert) und einer kommunikativen (sekundären) Komik (der Versprachlichung einer wahrgenommenen Komik) unterscheiden. Komik zielt immer schon auf die Auflösung der von ihr erzeugten oder bestehenden Spannung unter Beibehaltung der ihr zugrunde liegenden Kontraste bzw. Differenzen.
Humoristik soll als Überbegriff für die drei Begriffe »Lachen«, »Komik« und »Humor« dienen, um eine Verwechslung zwischen einem der Teilphänomene und dem Gesamtzusammenhang zu vermeiden. 3 Vgl. Alexander Jaklitsch: Lächelnd von der Bibel zur Heiligen Schrift. Humor als mystagogische Hermeneutik (Bibelstudien, Bd. 11). Münster 2012, 25–89. 2
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Alexander Jaklitsch
I.2
Lachen – der physiologische Ausdruck der Humoristik
Lachen kann man als unmittelbare oder mittelbare physiologischaffektive Reaktion auf Komik verstehen. Primäres Lachen ist ein kommunikatives Geschehen in einer nicht-sprachlichen elementaren Ausdrucksform des Körpers als produktive (in positiver Form den Stress des Konflikts überwindende) Auflösung von kognitiv-intellektuell nicht zu vereinbarenden Wirklichkeiten (primärer Komik) oder Wirklichkeitsvorstellungen am Grenzbereich zwischen Emotionalität und Intellektualität des Menschen. Sekundäres Lachen ist die ebenso affektiv-physiologische Auflösung sekundärer Komik.
I.3
Humor – die existenzielle Haltung des Lachens
Humor bzw. eine Haltung des Lachens kann verstanden werden als eine durch Erfahrung erworbene (heiter-ernste) Existenzbestimmung des Menschen, die dem Leben mit seinen unterschiedlichen Erfahrungen, Spannungen und existenziellen Widersprüchen begegnet und diese in Form einer Grundperspektive nicht analog zu deuten, sondern kreativ in Form einer Bisoziation 4 zwischen verschiedenen Erkenntnisebenen aufzulösen sucht. Humor ist also eine kreative Kreations- und Interpretationsinstanz für Komik. Als relativer Humor wird dabei jene Grundperspektive bezeichnet, die sich auf eine höhere Instanz oder ein Ideal bezieht, absoluter Humor setzt als diese Instanz das eigene Subjekt ein und ist letztlich nur an der eigenen Erheiterung interessiert. Zwei Grundtendenzen lassen sich dabei unterscheiden: I.3.1 Spott – skommatischer Humor Platon versteht die Haltung des Humors von dem Begriff des Spottes (Skōmma σκῶμμα) her. Lachen meint für ihn immer das Auslachen (καταγελάω katagelaō; wörtl. »nieder-lachen«) eines Anderen, das in der im menschlichen Wesen angelegten Lust an der Überlegenheit gründet. 5 In dieser Traditionslinie kann man Spott (skommatischen 4 Vgl. Arthur Koestler: Der göttliche Funke. Der schöpferische Akt in Kunst und Wissenschaft. Bern 1966, 25. 5 Vgl. etwa Platon: Philebos 48b-c.
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Humor) als die Grundtendenz bezeichnen, ein (personales) Objekt oder aber eine Institution herabzusetzen und den absteigenden Kontrast zwischen diesem Objekt und dem Ideal aufzuzeigen. Ein solcher Humor bedarf also eines Subjekts und eines Objekts, findet seine Verwirklichung vorwiegend in direkten kommunikativen Vollzügen und bedarf in der Regel darüber hinaus auch eines Publikums. Bei absolutem Spott wird dabei das (personale) Objekt in seiner Ganzheit herabgesetzt und der entstehende Kontrast zur eigenen Subjektivität zugunsten der Steigerung des eigenen Selbstwertgefühls (das evtl. durch das Lachen eines Publikums befördert wird) aufgelöst. Relativer Spott kontrastiert dagegen den Kontrast oder »Fehler«, der sich innerhalb eines personalen Objekts (etwa als eine ihrer Eigenschaften) findet, mit einem Ideal oder Maßstab, der sich außerhalb von Subjekt und Objekt findet. Damit erhält der Verspottete die Möglichkeit, an dem erzeugten Kontrast zu partizipieren, d. h. wesentlich an dem Lachen (des Publikums) teilzunehmen. Das ermöglicht die Überwindung des »Fehlers« und gleichzeitig das Gefühl der Aufwertung der Subjektivität des Spottobjektes durch Teilhabe am Lachen und insoweit Integration in die lachende Gruppe. I.3.2 Heiterkeit – eutrapelischer Humor Anders als sein Lehrer Platon teilt Aristoteles die radikale Ablehnung des Lachens nicht. Für ihn ist es im Gegenteil geradezu eine unterscheidend menschliche Eigenschaft. In seiner Nikomachischen Ethik sucht Aristoteles nach dem richtigen Maß für das Lachen und bezeichnet dieses als Eutrapelia (εὐτραπελία wörtl. »Wohl-Gewandtheit«). 6 Gegen eine Verabsolutierung des Lachens betont er, dass das Lachen immer der Achtung der Würde der anderen Person (demjenigen, der Objekt des Spottes ist) untergeordnet sein muss. Gleichzeitig ist für ihn aber auch eine vollkommene Ablehnung des Scherzens nicht erstrebenswert. Heiterkeit (eutrapelischer Humor) ist damit von ihrer Grundstruktur her eine reflexive Grundperspektive, die wesentlich in der kreativen Fähigkeit des Erkennens, Verwendens und Erzeugens sekundärer Komik besteht. Relative Heiterkeit nimmt einerseits die (existenziellen) Widersprüche wahr und versucht, sie in einer Bisoziation so zu lösen, dass sowohl das eigene Subjekt erheitert 6
Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik IV, 14, 1128a.
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wird, als auch gleichzeitig die Spannungen vor dem Hintergrund eines größeren Ideals (in dem Bewusstsein, dass sie nicht einfach aufzuheben sind) kreativ aufgelöst werden und so auch das eigene Subjekt in Bezug auf das Ideal relativiert wird. Hier ist es also das Ideal (Absolutum), das unbedingt ernst genommen wird. Absolute Heiterkeit löst die Spannungen in ähnlicher Weise kreativ auf, relativiert jedoch in diesem Zug nicht die eigene Subjektivität, sondern eher das Ideal, sodass letztlich nicht nur das Ideal, sondern auch die ganze Wirklichkeit nicht mehr ernst genommen wird, weil sie nur Material für die eigene relativistische Kreativität liefert. Auch hier – und darin besteht die große Ähnlichkeit zum absoluten Spott – wird die objektive Faktizität, also sowohl der personale Andere in seiner Personalität als auch eine Institution oder aber die objektive Wirklichkeit als Ganze relativiert. Es wird letztendlich außer der eigenen Subjektivität nichts mehr ernst genommen.
I.4
Humoristik als Zusammenspiel von Komik, Humor und Lachen
Lachen als physiologisches Phänomen bleibt immer auf die beiden anderen humoristischen Faktoren (Komik und Humor) verwiesen. In der Regel steht hinter jedem Lachen eine Haltung des Lachens (eine humorvolle Haltung). Man könnte nun das Verhältnis zwischen den drei definierten Größen wie folgt bestimmen: Humor bzw. eine Haltung des Lachens ist – durchaus ambivalent gedacht – die Grundhaltung, die hinter Komik und physiologischem Lachen steht, und ist insofern ein existenzielles Geschehen, dem die beiden anderen Phänomene als kognitiv-kommunikative (Komik) und als emotionalaffektiv-physiologische Ausdrucksform (Lachen) dienen. Insofern drückt sich die Haltung des Lachens (der Humor) sprachlich in Komik und kommunikativ im Lachen aus.
II.
Der lachende Abraham und der verlachte Christus – Biblische Spuren
Lachen und auch eine Haltung des Lachens sind den biblischen Schriften nicht unbekannt. Besonders das Alte Testament zeigt ein großes Interesse an den anthropologischen Grundzügen des Menschen und thematisiert in diesem Zusammenhang auch das Lachen. 34
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Ein systematisierender Blick auf die biblischen Schriften zeigt, dass der biblische Kanon das Lachen und die Haltung des Humors in einer charakteristischen Ambivalenz zwischen dem legitimen anthropologischen Phänomen des Lachens – dem Paradigma des lachenden Abraham – und der Kritikbedürftigkeit einer Verabsolutierung des Lachens und des Spottes – dem Paradigma des verlachten Christus 7 – betrachtet. Diese zwei Grundparadigmen sollen in einigen Schlaglichtern dargestellt werden.
II.1 Der lachende Abraham Die hebräische Sprache verwendet für das Lachen die Wortwurzel ṣāḥaq צחק/ śāḥaq שׂחק, etymologisch wahrscheinlich eine Wiedergabe des Geräusches, das beim Pressen der Luft durch den Hals und den Mundraum entsteht. 8 II.1.1 Das Lachen Abrahams Die erste Erwähnung des Lachens findet sich im Rahmen der Abrahamserzählung im Buch Genesis innerhalb der Theophanieerzählung in Gen 17,1–27. Im Gespräch mit Jhwh 9 wirft sich Abraham zu Boden, was eine dieser göttlichen Begegnung angemessene »uralte Geste der Unterwerfung« 10 ist. Jhwh verspricht Abraham, seine Nachkommen zahlreich zu machen und ihnen das Land Kanaan zu geben. Abraham reagiert darauf, indem er bei erneuter Unterwerfung unter Gott auch lacht (wajjiṣḥāq ) ַו ִיְּצָחק. Dieses Lachen ist die ganzheitlichkörperliche Reaktion Abrahams auf die Unlösbarkeit einer paradoxen Spannung: Die göttliche Verheißung scheint vor dem Hintergrund der Faktizität seiner Lebenswirklichkeit so unmöglich, dass dieser Die Bezeichnung dieses Paradigmas geht zwar aus einer spezifisch christlichen Leseweise der Bibel hervor, gilt aber genauso auch für die hebräische Bibel – dann könnte man es als Paradigma des verlachten Gerechten bezeichnen. 8 Vgl. Rüdiger Bartelmus: Art. ṣāḥaq צחק/ śāḥaq שׂחק. In: Gerhard Botterweck (Hrsg.): Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Bd. VII. Stuttgart 1993, 730–733. 9 Der Gottesname wird hier mit »Jhwh« wiedergegeben, was dem Tetragramm יהוה entspricht. 10 Claus Westermann: Genesis 12–36 (Biblischer Kommentar AT, Bd. I,2). Neukirchen-Vluyn 1981, 312. 7
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scheinbar unlösbare existenzielle Widerspruch sich bei Abraham in einem affektiven Ausbruch des Lachens Ausdruck verschafft. Jhwh aber tadelt das Lachen Abrahams in keiner Weise, sondern bekräftigt seine Sohnesverheißung an Abraham und Sara, spitzt sie zu und fordert Abraham dazu auf, seinen Sohn Isaak zu nennen. Isaak (Jiṣḥāq ) ִיְצָחקbedeutet wörtlich »er lacht« und ist identisch mit der Form, die für das Lachen Abrahams benutzt wurde. II.1.2 Das Lachen Saras Auf einen anderen Aspekt verweist die Erzählung vom Lachen Saras bei den Eichen von Mamre (Gen 18,1–16a). Die drei Besucher erkundigen sich zuerst nach ihr und ihre Reaktion entspricht zunächst scheinbar derjenigen Abrahams: Sie »lachte in ihrem Inneren«. Dieses Lachen ist jedoch – im Gegensatz zum Lachen Abrahams in Gen 17,17 – ein rein biologisch-physiologisches Geschehen 11 ohne ganzheitlich-existenzielle Bedeutung. Sara, die den Gesprächspartner als Boten Gottes erkannt hat, verleugnet ihr Lachen aus Furcht. Überraschenderweise weist der Bote Gottes ihr Lachen jedoch in keiner Weise ab, sondern nimmt es wahr und konstatiert diese Wahrnehmung: »Doch, du hast gelacht«, was besonders durch den Chiasmus 12 im hebräischen Text hervorgehoben wird. Hier zeigt sich also eine durchaus positive Würdigung des Lachens, die sogar durch eine auf humorvolle Auflösung angelegte sprachliche Äußerung unterstrichen wird. Neben dem rein physiologisch-reaktiven Lachen geht es hier auch um die kreative humorvolle Fähigkeit, die durch den göttlichen Boten als Reaktionsmöglichkeit eröffnet wird. Insofern kann man hier von einer »Theologisierung des Lachens« 13 sprechen.
11 Das hinter der verwendeten adverbialen Bestimmung b qirbbāh בּק ְרבּהּstehende ָ ִ ְ Wort qæræb ֶק ֶרבmeint in seiner Grundbedeutung die Innereien (etwa von Tieren), in einer übertragenen Bedeutung aber auch das Innere allgemein bzw. das Innere des Menschen. 12 Bei Sara heißt es: lo’ ṣāḥaqttî kî ל ֹא צחקתּי כּיund kurz darauf durch den himmִ ִ ְ ַ ָ lischen Boten lo’ kî ṣāḥāqtt ל ֹא ִכּי ָצָחְקְתּ. Die Partikel kî ִכּיsind dabei umgestellt und das Verb hinsichtlich der wechselnden Person anders konjugiert. Das macht jedoch nur eine geringe Änderung aus. 13 Gerhard Martin: Zur Idee einer Theologie des Lachens. Eine Skizze nach vorn. In: Carmen Krieg (Hrsg.): Die Theologie auf dem Weg in das dritte Jahrtausend (Festschrift Jürgen Moltmann). Gütersloh 1996, 376–388, hier 380.
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II.1.3 Die Geburt Isaaks In der Erzählung von der Geburt Isaaks in Gen 21,1–8 begründet Sara den Namen Isaak 14 gleich zweifach. Die erste Erklärung besteht darin, dass Gott Sara ein Lachen bereitet hat. Dabei handelt es sich nicht um ein punktuelles Lachen, sondern eine Haltung des Lachens. Es geht hier nicht bloß um einen reaktiven Affekt, sondern vielmehr um eine existenzielle Einstellung. Auch schreibt Sara ihrem Lachen eine Folge zu: Jeder, der von dieser Geschichte hört, ist also eingeladen, in das existenzielle Lachen Saras und Abrahams einzustimmen. Es geht nicht nur um ein individuelles Lachen als Reaktion auf die Unglaublichkeit der Verheißungen Gottes, sondern auch um die soziale Bedeutung des Lachens: Menschen, die miteinander lachen, können Gemeinschaft miteinander und auch mit Gott haben. Im biblischen Paradigma des lachenden Abraham kommt das Lachen zunächst als physiologisch-reaktives Phänomen zur Sprache, als eine (nicht-sprachliche) Antwort auf unlösbare Widersprüche, die sich ganzheitlich sowohl in der biologisch-affektiven als auch der emotional-kognitiven Dimension des Menschen vollzieht. Als Reaktion auf die Unglaublichkeit der göttlichen Verheißung wird sie theologisch legitimiert. Lachen hat dabei ganz deutlich auch eine kommunikative und gemeinschaftsbildende Funktion. Bleibend verwirklicht ist dies in der Namensätiologie des Erzvaters Isaak.
II.2 Der verlachte Christus Im Vergleich zum Alten Testament lässt sich im Neuen Testament eine entscheidende Perspektivverschiebung feststellen, die in erster Linie mit der Person Jesu zu tun hat: Er wird nicht nur an keiner Stelle als lachend dargestellt – das griechische Wort gelaō γελάω (»lachen«) kommt insgesamt nur zweimal vor – vielmehr fließen in die Geschichten seines Leidens – etwa durch die strukturprägende Aufnahme von Psalm 22 im Rahmen der Passionserzählungen – Motive der elementaren Elendserfahrung des Verlacht- oder Verspottet-Werdens ein, mit denen sich das Buch der Psalmen intensiv auseinander-
In der exegetischen Literatur gibt es für die Bedeutung des Namens Isaak drei verschiedene Deutungsansätze, vgl. Westermann: Genesis 12–36 (wie Anm. 10), 324.
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setzt und davon ausgehend gewissermaßen eine theologische Kriteriologie des Lachens entwickelt. II.2.1 Die Erfahrung des Verspottet-Werdens im Psalter Sehr deutlich kann man dies anhand von Psalm 22 sehen, einem Klage- und Dankpsalm, der einen Beter in zwei existenziellen Grenzsituationen porträtiert. In der pointierten Klage des Einzelnen (Ps 22,7–8) schildert dieser sehr drastisch seine Not. Er fühlt sich bis zum Letzten entmenschlicht, was durch die metaphorische Situationsbeschreibung und den impliziten Vergleich mit einem Wurm deutlich wird. Seine Umwelt ist von sozialer Missachtung geprägt, er muss alle typischen Spottgebärden 15 über sich ergehen lassen. In diesem Zusammenhang der Erniedrigung und Verachtung steht auch die hebräische Wortwurzel lā’ag »( לעגspotten«). Das Wort, dessen Subjekt meist menschliche Feinde sind und das sich als viel verwendetes Klagemotiv in der Regel entweder auf den verspotteten Gerechten oder auf eine Gruppe von Verspotteten bezieht, wird in der Septuaginta mit dem griechischen Wort katagelaō καταγελάω (»niederlachen«) übersetzt. Für den Psalmisten ist es zentral, dass es sich bei dem Lachen der Spötter um ein Lachen handelt, das den Elenden herabsetzt. Dieses Nieder-Lachen (vgl. Platon) wird aus der ohnmächtigen Perspektive des Verspotteten heraus betrachtet. Indem dieser Elende im Psalm zu Gott ruft und sich selbst Gott anvertraut, stellt er die Legitimation des Spottes infrage. Der Psalmist kritisiert also eine menschliche Verabsolutierung von Spott. Davon ausgehend entwickelt das Buch der Psalmen eine theologische Kriteriologie in Bezug auf das spottende Lachen. Absoluter Spott des Menschen wird dezidiert abgelehnt, relativer Spott unter Bezugnahme auf Jhwh dagegen zugelassen (so etwa in Ps 52,8 f.). Ein solcher Spott dient nicht der Freude des Einzelnen an der eigenen (oder gemeinschaftlichen) Überlegenheit, sondern bedeutet die Einreihung in die Gruppe der Gerechten und damit eine Rückbindung an Gott, die aus dem Vertrauen auf die rettende Gegenwart Jhwhs 16 erwächst. Jhwh selbst bzw. der Glaube an ihn wird dabei zum Absoluten, von 15 Vgl. Bernd Janowski: Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen. Neukirchen-Vluyn 2003, 198. 16 Vgl. Frank-Lothar Hossfeld/Erich Zenger: Die Psalmen. 51–100 (Neue EchterBibel AT). Würzburg 2002, 340.
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dem her der Spott gerechtfertigt wird. Das ist begründet in der Hoffnungsperspektive, dass die Verspotteten endzeitlich in das souveräne Lachen Jhwhs über die Spötter (vgl. Ps 2,4) einstimmen können – auch heute schon antizipierend (vgl. Ps 126). Das Vertrauen auf Jhwh wird damit zum Kriterium für die Legitimität des Lachens. Der absolute Spott Gottes ist Bedingung der Möglichkeit für einen davon abgeleiteten relativen Spott des Gerechten, der nicht den Spötter als Person, sondern seine Frevel und vergeblichen Ränke verspottet. Darüber hinaus wird der absolute Spott Gottes im Psalter auch zur Bedingung der Möglichkeit einer Heiterkeit, die ganz aus dem Vertrauen auf Jhwh und der Freude an Jhwh und seinem geschichtsmächtigen Handeln auch in der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit ein eschatologisches Lachen als Ausdruck der Hoffnung antizipieren kann. II.2.2 Jesus wird verspottet Bei Jesus steht die Perspektive des Verspotteten im Vordergrund. Beispielhaft soll dies an zwei Szenen gezeigt werden. In der Wundererzählung von der Tochter des Jaïrus und der blutflüssigen Frau (Lk 8,40–56) findet sich eine Situation, in der Jesus ausgelacht wird. Der Synagogenvorsteher Jaïrus erhofft von Jesus, dieser könne seine kranke Tochter heilen. Nachdem der Tod der Tochter jedoch konstatiert wird und sogar schon die rituelle Totenklage begonnen hat, spricht Jesus gegenüber der Menge davon, sie sei nicht gestorben, und fordert die Anwesenden damit auf, den professionell rituell inszenierten Trauerritus abzubrechen. Diese Reaktion bedeutet einen radikalen Umschwung. Die Menge lacht Jesus aus. Für dieses Auslachen (Lk 8,53) wird das Wort katagelaō καταγελάω verwendet. Es wird hier buchstäblich zu einem Lachen des Zweifels und zu einem absoluten Spott, der den eigenen Verstand – nämlich das vernunftgemäße Wissen um die Endgültigkeit des Todes – und die eigene Erfahrung verabsolutiert. Interessant ist dabei, dass auf dieses spottende Verlachen keinerlei Reaktion von Jesus folgt. Der absolute Spott der Menge wird durch die Handlung und das Wort Jesu überholt. Jesus reicht der Tochter des Jaïrus die Hand und fordert sie auf, aufzustehen. Die Überholung des rein-irdischen Spottes steht dabei ganz konkret in einer österlichen Perspektive. 17 Dieser in dem Spott aus17 Vgl. François Bovon: Das Evangelium nach Lukas. Lk 1,1–9,50 (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum NT, Bd. 3). Neukirchen-Vluyn 1989, 452.
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gedrückte Zweifel wird durch das In-Gott-Ruhen Jesu überholt. Nicht das Lachen selbst muss also überwunden werden, sondern das Auslachen als Ausdruck einer Verabsolutierung rein menschlichen Autonomiestrebens. Ein anderer Aspekt zeigt sich beim Spott der Soldaten über Jesus im Rahmen der Passionsgeschichte (Lk 22,63–65). Die Wächter verspotten Jesus aus einer Machtposition heraus. Sie schlagen Jesus, dem sie die Augen verbunden haben und fragen ihn, wer ihn geschlagen habe. Dahinter steckt wohl ein im hellenistischen Raum verbreitetes Kinderspiel, bei dem das Kind den Namen dessen, der es schlug, erraten musste. 18 In dieser Pervertierung dieses Kinderspiels durch die Soldaten artikuliert sich ein gewalttätiger Sarkasmus, der wiederum eigentlich aus der eigenen Ohnmacht resultiert und »bis zum Zynischen die menschenverachtende Attitüde der Machtausübung über Menschen« 19 offenbart. Gegenüber dem Auslachen, das sich bei der Heilung der Tochter des Jaïrus gezeigt hatte, ist dieser Spott ein wirklich diabolisches Tun von Menschen, deren eigene Ohnmacht sich in eine gewalttätige Herabsetzung des gewaltlosen Jesus umkehrt. Gemeinsam ist beiden Erzählungen nicht nur, dass ein solcher absoluter Spott des Menschen, der in eine vollkommene Erniedrigung des Objektes des Spottes mündet, nicht legitim ist, sondern auch, dass die Größe Jesu in der Paradoxie der vollkommenen Erniedrigung darin liegt, dass er durch das österliche Geschehen von Leiden, Tod und Auferstehung auch diesen Formen des Spottes die Macht nimmt.
III. Entwicklung einer Kriteriologie des Lachens in der Geschichte von Theologie und Kirche Gemeinhin gilt die Geschichte des Christentums im Hinblick auf das Lachen als durch Ablehnung und Verurteilung geprägt. Die Betrachtung der biblischen Grundlagen hat bereits gezeigt, dass man nicht von einer generellen Ablehnung des Lachens sprechen kann, dass aber sehr wohl Legitimitätskriterien entwickelt werden. Auch der Blick auf einige Texte der christlichen Tradition, die sich dem Lachen
Vgl. Bovon: Das Evangelium nach Lukas (wie Anm.17), 356. Eugen Drewermann: Das Matthäusevangelium. Bilder der Erfüllung. Mt 20,20– 28,20. Düsseldorf 1995, 264. 18 19
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widmen, wird zeigen, dass es der Theologie stets an der Entwicklung einer Kriteriologie des Lachens in Kontinuität zu den biblischen Zeugnissen gelegen ist, wobei in der Regel dem kritischen Paradigma des verlachten Christus die größere Bedeutung zukommt. Auch die wohl prominenteste Stelle, die in der Literatur durchweg für die negative, verurteilende Einstellung christlicher Theologie gegenüber dem Lachen herangezogen wird, nämlich die Aussage von Johannes Chrysostomus, man habe Jesus zwar oft weinen, nie aber lachen sehen, lässt sich in seinem Kontext in neuem Licht betrachten. Zunächst soll jedoch ein Blick auf die folgenreiche Auseinandersetzung mit der Gnosis geworfen werden, in der das Motiv des Lachens eine zentrale Rolle spielt.
III.1 Der spottende Jesus der Gnosis – Spuren einer Auseinandersetzung Das Paradigma des verlachten Christus hat zweifellos die kriteriologische Auseinandersetzung der Theologie mit dem Lachen sowohl als anthropologisches Phänomen wie auch in motivischer Verwendung geprägt. Ein bedeutender Hintergrund liegt dabei auch in der kritischen Auseinandersetzung der Kirchenväter mit der Gnosis. Unter den Sammelbegriff Gnosis fallen in erster Linie Strömungen, die einen radikalen Dualismus sowohl in anthropologischer (Leib-Seele) wie in kosmologischer (eine von dem bösen Demiurgen – in der Regel dem Gott des Alten Testaments – geschaffene körperliche und eine von dem guten Gott des Neuen Testaments geschaffene geistige Wirklichkeit) und soteriologischer Hinsicht vertraten und ihren Namen dadurch erhielten, dass sie die Erlösung in einer durch Geheimwissen vermittelte Erkenntnis (eben der Gnosis) wähnten. 20 Für das frühe Christentum wurde diese Gnosis ab dem zweiten Jahrhundert zur »größten geistigen Konkurrentin« 21 . Innerhalb des Dualismus spielte das Motiv des Lachens eine große Rolle. In seiner Schrift Gegen die Häresien versucht der Kirchenvater Irenäus von Lyon eine Abgrenzung der christlichen von gnostischen
Vgl. Christoph Markschies: Die Gnosis. München 2006, 17 ff. Karl-Josef Kuschel: Lachen. Gottes und der Menschen Kunst. Freiburg i. Brsg. 1994, 105.
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Positionen. Das Motiv des Lachens taucht dabei im Rahmen der gnostischen Soteriologie auf: »Er [Christus] erschien […] auf Erden als Mensch und vollendete die Kräfte. Aber er hat nicht gelitten, sondern ein gewisser Simon von Cyrene, den man zwang, für ihn das Kreuz zu tragen. […] Jesus aber nahm die Gestalt des Simon an und lachte sie aus, indem er dabeistand.« 22 Hier wird der soteriologische Dualismus deutlich, den die gnostischen Strömungen in Bezug auf Christus vertraten. Er, der als Sohn des guten Gottes verstanden wird, leidet in dieser Vorstellung nicht wirklich. Vielmehr leidet an seiner Stelle Simon von Cyrene, der ihm ähnlich sieht. Das Lachen Jesu steht in der Tradition des eschatologisch-souveränen Lachens Gottes und wird sehr deutlich als absoluter Spott charakterisiert. Noch deutlicher formuliert diese Perspektive die koptisch-gnostische Apokalypse des Petrus: »Er [der lebendige Jesus] lacht über ihre Blindheit, weil er weiß, dass sie Blindgeborene sind. […] Es wird also, (nur) das Leidensfähige hleideni, insofern der Leib das ›Lösegeld‹ ist. Der aber, den sie freilassen hmussteni, ist mein leibloser Leib. Ich selbst aber bin der nur geistig wahrnehmbare Geist, erfüllt von strahlendem Licht.« 23 Diese Vorstellung eines Erlösers, der nicht mit letzter Konsequenz Mensch geworden ist und nicht alle Dimensionen des Menschseins geteilt hat, ist für Irenäus und die Kirchenväter undenkbar. Durch dieses absolut souveräne Lachen wird Christus gerade seiner menschlichen Attribute beraubt. Das ist mit dem Bild von Jesus, wie es die Evangelien vermitteln, unvereinbar, für die Jesus wahrer Mensch und nicht nur in einem doketistischen Sinn geistig wahrnehmbarer Geist ist. Innerhalb dieser Auseinandersetzung wird dann das Leiden Jesu als Grundzug seiner Existenz gegen ein derart dualistisch vorbelastetes Verständnis eines (souverän) lachenden Erlösers betont. Das hat mit dazu geführt, dass die kirchlich-theologische Auseinandersetzung mit dem Lachen eine deutliche Kriteriologie herausgebildet hat. Eine erste solche Kriteriologie findet sich bei Clemens von Alexandrien.
Irenäus von Lyon: Adversus Haereses I, 24.4 f. Nag-Hammadi-Codex VII,3 p. 83 (vgl. Wilhelm Schneemelcher/Edgar Hennecke: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. Bd. 2. Tübingen 1989, 642 f.).
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III.2 Clemens von Alexandrien – Eine erste Kriteriologie des Lachens In seinem Hauptwerk Stromateis, das darauf zielt, die Vereinbarkeit von biblisch-christlichem Glauben und platonisch-griechischer Philosophie aufzuweisen, setzt sich Clemens von Alexandrien auch mit dem Lachen auseinander. Sein Ansatzpunkt ist dabei der Begriff der Heiterkeit. Der Gläubige ist für ihn durch Ernst gegenüber der Gottheit und Heiterkeit gegenüber den menschlichen Gütern ausgezeichnet. 24 Diese heiter-ernste Grundhaltung meint etwas, das der Definition des relativen Humors entspricht, denn der Gnostiker leitet seine heitere Haltung gegenüber der Welt von der absoluten Verbindung zu Gott ab. In seiner ethischen Schrift Paidagogos entwickelt Clemens seine Kriteriologie des Lachens. Lachen ist zunächst eine Haltung des Lobpreises, des Jubels und der Freude. Das begründet er in Bezug auf eine zweifache Isaak-Typologie. Dieser ist zunächst ein Kind, wobei Clemens all diejenigen als Kinder versteht, »welche Gott allein als Vater kennen, die einfältig und kindlich und unschuldig sind« 25 , also ein Bild für den wahren Christen. Im Zentrum steht dabei eine allegorische Auslegung des Spielens Isaaks und Rebekkas (Gen 26,8), die bei den Namen ansetzt: »mit Lachen wird Isaak übersetzt […] Rebekka aber übersetzt man mit Geduld«, der König ist für ihn »eine überirdische Weisheit […], die das Geheimnis des kindlichen Spiels erforscht« 26 . Für Clemens liegt die Bedeutung der Perikope vom gemeinsamen Spielen von Isaak und Rebekka allegorisch im Zusammenspiel zwischen dem einzelnen fröhlichen Glaubenden und der geduldigen Kirche. Isaak ist für Clemens das Urbild des über seine Erlösung, über die Rettung vom Tod, sich freuenden Menschen. Dazu gehört aber auch eine dauerhafte Komponente, eine Beständigkeit, die durch die Kirche gewährleistet wird als Gemeinschaft der Glaubenden und sich Freuenden. Erst das Zusammenspiel zwischen beiden ermöglicht das »geheimnisvolle Spiel und das Heil« 27 . Das Lachen wird hier als eine Freude über die Erlösung gedeutet, die auf die Kir-
24 25 26 27
Vgl. Clemens von Alexandrien: Stromateis VII, 35, 7. Ders., Paidagogos I, V, 17. Paidagogos I, V, 22. Ebd.
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che hin relativ – ein Mit-Freuen mit der Kirche – bleibt. So wird das Lachen zur Allegorie für die Osterfreude. Das wird im Hinblick auf die konkrete Isaak-Christus-Typologie noch klarer, insofern er das Fenster, durch das der König herabsieht, als »das Fleisch, durch das er [der Herr] sichtbar geworden ist« 28 deutet. Isaak ist insofern Vorbild Christi als dieser »in geheimnisvoller Weise« lacht, »womit er weissagte, daß der Herr uns, die wir durch das Blut des Herrn vom Verderben erlöst sind, mit Freude erfüllen werde.« 29 Diese Freude ist also vollkommen relativ auf Christus hin und meint die Osterfreude über die Auferstehung. Bei der Entwicklung einer Kriteriologie für das Lachen und den Humor geht er davon aus, dass man den Menschen nichts mit Gewalt nehmen dürfe, man wohl aber »für alles nur das richtige Maß und die richtige Zeit bestimmen« 30 müsse. Clemens lehnt ganz explizit die Haltung des Possenreißers ab, weil er das Lachen verabsolutiert. Demgegenüber ist das Scherzen jedoch erlaubt. Insofern führt er für das Lachen eine Unterscheidung ein, die das Lächeln als Lachen der Verständigen zulässt, während das Gekicher bei Frauen und das Gelächter bei Männern als »Zeichen des frechen Übermuts« 31 abgelehnt werden. Dabei wird auch der Respekt gegenüber dem Anderen zum Kriterium für das Lachen. Clemens legt also insgesamt eine Kriteriologie des Lachens und auch einer Haltung des Lachens vor. Lachen – im Kern geht es Clemens um Spott – ist immer relativ zu verstehen. Das Verspotten des Anderen muss immer relativ in Bezug auf dessen Würde sein. Ebenso verfehlt das Lachen durch die eigene Herabsetzung die eigene Würde, wenn es sich dem verabsolutierten Lachen unterordnet. Schließlich ist der Humor im Bereich des Religiösen relativ auf das Ostergeschehen hingeordnet, insofern es Ausdruck der Osterfreude ist. Damit lässt sich ein relatives Humorverständnis feststellen, dessen Absolutum Gott bzw. Christus ist.
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Clemens von Alexandrien: Paidagogos I, V, 23. Ebd. Paidagogos II, V, 46. Ebd.
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III.3 Johannes Chrysostomus – Lachen in radikaler Verantwortung vor Gott Für die meisten Autoren, die sich mit dem Verhältnis von christlicher Theologie und Humor beschäftigen, beginnt spätestens mit dem Kirchenlehrer Johannes Chrysostomus die Zeit der »grimmigen Theologen« 32 . Dabei wird in der Regel die folgende Stelle aus seiner sechsten Matthäushomilie zitiert: »Und weinend sehen kann man ihn [Jesus] oft, lachend niemals, nicht einmal stille lächelnd; wenigstens hat kein Evangelist etwas davon berichtet.« 33 Daraus wird dann in der Regel einfach auf einen gewissermaßen selbstevidenten mittelalterlichen Diskurs um das Lachen Jesu verwiesen und eine Verbannung des Lachens aus Theologie und Kirche postuliert. Chrysostomus wird in dieser Lesart zum Begründer einer lachfeindlichen Theologie. Es gilt aber zunächst den Kontext des Zitats zu beachten, denn nur einige Zeilen später findet sich folgende Bemerkung: »Das alles sage ich aber, nicht um das Lachen zu verpönen, sondern nur, um die Ausgelassenheit zu verhindern.« 34 Die Betonung liegt darauf, dass Jesus eine Haltung des Weinens und nicht eine Haltung des Lachens vorgelebt habe. Darauf weist hin, dass im ersten Zitat das Linearpartizip von gelaō γελάω, das man treffender vielleicht mit »dauernd lachend« im Sinne einer Grundhaltung übersetzen könnte, verwendet wird, während es im zweiten Zitat um das Substantiv gelōs γέλως handelt, das eine punktuell-reaktive Bedeutung beansprucht. Bedeutsam ist auch, dass Chrysostomus sich dabei auf das Zeugnis des Neuen Testaments beruft, genauer auf das biblische Paradigma, das oben als verlachter Christus bezeichnet worden ist. Gleichzeitig schließt das Zitat mit dem erkenntnistheoretischen Hinweis, dass keiner der Evangelisten etwas über eine solche Haltung des Lachens berichtet. Auch hier zeigen sich zwischen den Zeilen noch die Nachwirkungen der Auseinandersetzung mit der Gnosis. Was Chrysostomus unter der Haltung des Lachens versteht, zeigt er an der zweiten Stelle durch Anfügung des Wortes »Ausgelassenheit« [diachysis διάχυσις], das eine nicht auf ein letztes Ziel ausgerichtete Grundhaltung meint, die sich auch in einer Haltung des Peter L. Berger: Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung. Berlin 1998, 233. 33 Johannes Chrysostomus: In Matthaeum Homilia VI, 6. 34 Ebd. 32
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Lachens artikulieren kann. Er lehnt also die Einstellung absoluten Lachens ab und setzt dagegen eine Theologie unbedingten Ernstes, in der der Beziehung zu Gott besondere Bedeutung zukommt. Insofern muss sich die Grundhaltung des Menschen an dieser Gottesbeziehung orientieren. Der Grund dafür, dass es uns nicht zusteht, »fortwährend zu lachen, uns zu freuen und in Vergnügungen zu schwelgen«, liegt wesentlich auch an der »Sache, über die man lacht«, bei der ihm Possenreißer und Schauspieler vor Augen stehen, die durch »Blasphemisches oder Unflätiges« zum Lachen reizen wollen. 35 Diese Art von Scherzen stammt laut Chrysostomus vom Teufel selbst. Hierin liegt der wesentliche Unterschied, ob es sich um diabolisches Lachen – also eigentlich einem absoluten, egozentrischen Lachen – oder um eine wirkliche göttliche Freude handelt. Vor dem Hintergrund dieser Scherze ist die Welt durch einen radikalen Ernst und eine Verantwortlichkeit in Bezug auf Gott geprägt und so »kein Theater zum Lachen; nicht dazu sind wir beisammen, um schallendes Gelächter anzuschlagen, sondern um zu seufzen, und mit diesem Seufzen werden wir uns den Himmel erwerben.« 36 Das bedeutet aber keineswegs eine generelle Ablehnung des Lachens. In der dreiundzwanzigsten Matthäushomilie geht der griechische Kirchenvater auf den Begriff des Spiels ein und versteht dabei das jetzige Leben in Analogie zum Erwachsenwerden des Menschen. Dabei charakterisiert Chrysostomus das jetzige Leben aus der Sicht des zukünftigen Lebens. Er versteht das menschliche Leben als eine Vorstufe der vollentwickelten Himmelsbürger. Auch hier steht ein eschatologisches Lachen im Vordergrund der Betrachtung, das das Handeln der Menschen in der irdischen Wirklichkeit unter dem neuen Verstehenshorizont des Himmels betrachtet. Das Interessante am hier verwendeten Spielbegriff ist, dass es sich um ein Spiel handelt, dessen Regeln mit Ernsthaftigkeit befolgt werden müssen; eine Missachtung dieser Regeln – und eine solche ist die irdische Haltung eines absoluten Lachens – ist den auf der Erde Spielenden nicht erlaubt. Erst aus dieser eschatologischen Sicht schließlich erscheint das irdische Leben als Spiel. 37 Das hier legitimierte Lachen ist damit immer ein Lachen der schon Erlösten, ein österliches Lachen. Man kann also bei Johannes Chrysostomus nicht von einer ge35 36 37
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Johannes Chrysostomos: In Matthaeum Homilia VI, 7. In Matthaeum Homilia VI, 6. Vgl. Ders.: In Matthaeum Homilia XXIII, 9.
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nerellen Verurteilung des Lachens sprechen. Vielmehr geht es auch hier um eine wenn auch im Vergleich zu Clemens von Alexandrien weitaus schärfere Kriteriologie. Abzulehnen ist nach Chrysostomus generell absolutes Lachen, weil es eine nicht-zielgerichtete Zerstreuung beinhaltet, die der zielgerichtet-geordneten Grundstruktur dieser Welt (mit ihren klaren »Spielregeln«) zuwiderläuft. Lachen ist nur insoweit zulässig, als es auf Gott hin relativ und der radikalen Ernsthaftigkeit des menschlichen Lebens und der Verantwortung des Menschen vor Gott bewusst ist.
III.4 Thomas von Aquin – Das Eutrapelia-Kriterium Thomas von Aquin geht in seiner Summa Theologica am Schluss seiner Überlegungen zu den Kardinaltugenden auch auf die Frage ein, ob es im Bereich des Spieles eine Tugend geben könne. Dabei hält er zunächst fest, dass der Mensch nicht unbegrenzt arbeiten kann. Sowohl der Körper, der nur begrenzte Kraft besitzt, als auch die Seele, die nur durch die körperlichen Organe arbeiten kann, ermüden. Deshalb bedarf der Mensch sowohl körperlicher als auch seelischer Ruhe. 38 Die Ruhe der Seele als Mittel gegen ihre Ermüdung ist für Thomas gleichbedeutend mit dem Vergnügen. In diesem Rahmen definiert Thomas sowohl Scherze als auch Witze als »Sprüche oder Handlungen, die nur dem Vergnügen dienen sollen.« 39 Schließlich führt Thomas drei Kriterien ein: Das wichtigste Kriterium 1.) ist, dass man das Vergnügen nicht »in schmutzigen oder schadenstiftenden Handlungen oder Worten« 40 suchen dürfe. Darüber hinaus dürfe auch 2.) die Würde der Seele nicht verlorengehen und schließlich 3.) ist auch eine Rücksicht auf die Umstände des Spiels, besonders hinsichtlich der Person erforderlich. 41 Thomas zeigt durch diese Kriteriologie klar die Ablehnung eines absoluten Lachens und versteht legitimes Lachen, insofern man es als humanen Akt bezeichnen kann, in einer doppelten Relativität, zunächst 1.) in Bezug auf das Gemeinwohl, also die durch Gesetze und Normen garantierte Ordnung, dann aber auch speziell 2.) auf die 38 39 40 41
Vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologica II-II q 168, a 2 cor. Ebd. Ebd. Vgl. ebd.
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Würde des einzelnen Menschen, der Objekt dieses Spottes ist. Beides wird durch den Maßstab der Vernunft garantiert. Dafür übernimmt er den aristotelischen Begriff der Eutrapelia als Fähigkeit, »bestimmte Wörter oder Dinge in Heiterkeit« 42 umzuwandeln. Sie wird zum Kriterium für das Vergnügen. Bei der Eutrapelia handelt es sich nach Thomas um eine sittliche Tugend, die sich auf Leidenschaft des Vergnügens bezieht, also sozusagen um eine auf einen Tätigkeitsbereich bezogene kritisch wirkende (praktische) Vernunft.
IV. Grundzüge einer theologischen Kriteriologie des Lachens Es zeigt sich, dass man in Bezug auf die christliche Tradition nicht von einer generellen Ablehnung des Lachens und des Humors sprechen kann, wohl aber entwickeln Bibel und theologische Tradition gegenüber den humoristischen Phänomenen eine Kriteriologie.
IV.1 Relativität als theologisches Grundprinzip für legitimes Lachen In der Geschichte von Theologie und Kirche hat es sich als leitend erwiesen, dass legitimes Lachen und legitimer Humor stets relativ sind, während eine Verabsolutierung des Lachens abgelehnt wird. Unabhängig von der dahinter stehenden Grundhaltung (ob heiter oder spottend) muss Lachen stets auf ein Höheres bezogen sein, das absolut ernst genommen wird. Ein Verstoß gegen diese Instanz ist nicht zulässig. Als solche absolute Instanzen haben sich einerseits (bei Clemens von Alexandrien) der Glaube (verstanden im Sinne eines personalen Vertrauensverhältnisses des Menschen zu Gott), die Eutrapelia (als Kriterium aus einer Synthese von Glaube und Vernunft bei Thomas von Aquin) und damit schließlich auch die Vernunft erwiesen. Man kann von einer rational-relativen (in Bezug auf die Vernunft als Absolutum) und einer theozentrisch-relativen (in Bezug auf den Glauben als Absolutum) Haltung des Lachens sprechen. Auch dabei lassen sich die beiden Grundtendenzen unterscheiden: Christ-
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lich-relative Heiterkeit und christlich-relativer Spott. Zunächst soll der letztere im Folgenden genauer in den Blick genommen werden.
IV.2 Christlich-relativer Spott zwischen Vernunft und Glaube Christlich-relativer Spott ist wesentlich durch die doppelte Relativität (Thomas von Aquin) gekennzeichnet: einerseits in Bezug auf ein Absolutum, andererseits aber auf die Würde des einzelnen Menschen hin. Thomas liefert dabei die Synthese zwischen jenem theologiegeschichtlichen Traditionsstrang, in der die geschichtlich ergangene Offenbarung und die glaubende Antwort des Menschen darauf – der Glaube – als Absolutum angesehen werden und jenem, in dem die Vernunft das Absolutum darstellt. Beide Grundtypen des Spottes sollen nun zunächst einzeln und dann in ihrem Zusammenhang beschrieben werden. Schon im Buch der Psalmen im Alten Testament war ausschließlich der theozentrisch-relative Spott des Gerechten im Vertrauen auf das geschichtsmächtige Handeln Jhwhs und in der Hoffnung auf ein eschatologisches Lachen als Zeichen der Erlösung zugelassen. Bei der zweiten Traditionslinie wird die Vernunft zum Absoluten, insbesondere weil sie eine kritische Funktion besonders in Bezug auf den religiösen Wahrheitsanspruch besitzt und so vor Fundamentalismus schützt. In diesem Sinne schlägt Lord Shaftesbury in seinem Brief über den Enthusiasmus in der Auseinandersetzung mit religiösen Fundamentalismus vor, diesen weder mit Gewalt zu bekämpfen, noch mit Toleranz aufzunehmen, sondern vielmehr durch das »Kriterium der Lächerlichkeit« 43 auf die Legitimität des Wahrheitsanspruchs hin zu prüfen. Religion werde, »wenn sie natürlich und ehrlich ist, […] nicht allein dieser Prüfung standhalten, sondern durch sie wachsen und von ihr gewinnen.« 44 Auch ist in diesem Zusammenhang interessant, dass psychologische Studien einen negativen Zusammenhang zwischen fundamentalistischer Religiosität und einer Lachaffinität vermuten lassen. 45 43 Lord Shaftesbury: A Letter Concerning Enthusiasm, hrsg. v. Douglas den Uyl. Indianapolis 2001, 11. 44 Ebd., 32. 45 Vgl. Vassilis Saroglou: Religiousness, religious fundamentalism, and quest as predictors of humor creation. In: The International Journal for the Psychology of Religion 12.3 (2002), 177–188.
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IV.2.1 Rational-relativer Spott Rational-relativer Spott besitzt als Absolutum die Vernunft und bleibt zusätzlich auf den einzelnen Menschen bezogen, der Objekt dieses Spottes ist. Vernunft möchte ich in diesem Zusammenhang verstehen als »diejenige Instanz […], die es uns verwehrt uns mit logischen Widersprüchen zufriedenzugeben und damit in unserem Denken der Beliebigkeit anheimzufallen.« 46 Im Kontext von Theologie und Kirche ist ein solcher Spott in der Regel auf eine theologische Aussage oder aber einen Vorgang in der Institution Kirche gerichtet und artikuliert sich darin, dass Komik durch die Kontrastierung der Aussage oder des Vorgangs mit einer Einsicht der Vernunft erzeugt und so ein kritisch auf die konkrete Entwicklung oder Aussage gerichteter Erkenntniseffekt bei einem Gesprächspartner hervorgerufen werden soll. Ziel dieses Spottes muss dabei aber immer eine einzelne Aussage oder Tätigkeit unter Wahrung der Würde des Kritisierten sein, um bei ihm die kreative Rezeption dieser Komik zu ermöglichen und zu einer kritischen Selbstreflexion von Theologie und Kirche zu führen. Ein solcher Spott dient der Vernünftigkeit und Nachvollziehbarkeit von Glaube und Theologie und steht damit Kirche und Glauben prinzipiell nicht ablehnend gegenüber. Gleichzeitig spielt die Vernunft als Kriterium gegen und damit auch Wahrnehmungsinstanz für direkte Widersprüche zweier Aussagen eine Rolle, weil eine solche Vernunft gerade für die Wahrnehmung und Erzeugung von Komik notwendig ist. IV.2.2 Theozentrisch-relativer Spott Theozentrisch-relativer Spott hingegen besitzt als Absolutum die geschichtlich ergangene Offenbarung und den darauf antwortenden Glauben – im Folgenden soll einfach von »Glauben« gesprochen werden. Gemeint ist damit das freie und unbedingte Vertrauen des Menschen auf Gott als Antwort des Menschen auf das Angesprochenwerden durch Gott in der Offenbarung, das eine Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch ermöglicht. Es geht also um den Menschen, der in einem personalen Vertrauensverhältnis zu Gott steht. Es handelt sich
Peter Knauer: Glaubensbegründung heute. Der Umbau der Fundamentaltheologie. In: Stimmen der Zeit 202 (1984), 200–208, hier 207.
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dabei um eine personale (Vertrauens-)Wirklichkeit, insoweit Glaube als nicht widervernünftiges hoffendes Vertrauen verstanden werden kann. 47 Man kann also nicht davon sprechen, dass eine theozentrischrelative Haltung des Lachens ein Absolutum im Sinne eines Ideals bzw. einer nicht mehr hinterfragten, metaphysisch gedachten, transzendenten Wirklichkeit besitzt. Vielmehr entwickelt sich dieser Humor aus einem personalen Vertrauensverhältnis des Menschen zu Gott heraus. Theozentrisch-relativer Spott zielt auf gesellschaftliche Entwicklungen und hinterfragt diese. Diese Form des Spottes erzeugt kommunikativ einen komischen Kontrast zwischen einer konkreten gesellschaftlichen Einsicht oder einer gesellschaftlich-institutionellen Entwicklung und einer Glaubensaussage – bzw. einer aus einer Glaubenserkenntnis gewonnenen Einsicht auf dem Forum einer im gesellschaftlichen Diskurs allgemein-akzeptierten Diskussionsgrundlage (der Vernunft). Die erzeugte Spannung und ihre Auflösung, die unter Wahrung der Würde des Objektes des Spottes erzeugt wird, zielen auf eine gesellschaftlich-institutionelle Verbesserung. Dabei bleibt zu beachten, dass ein solcher theozentrischer Spott immer im Zusammenhang mit einem rational-relativen Spott stehen muss. IV.2.3 Der Zusammenhang beider Formen des Spottes und die christlich-relative Heiterkeit Theozentrisch-relativer Spott (der Glaubenden gegenüber der Gesellschaft) hat seinen Ursprung also im rational-relativen Spott (der Gesellschaft gegenüber den Glaubenden). Das Kriterium der Lächerlichkeit spornt insofern Theologie und Kirche dazu an, die Rationalität des Glaubens zu reflektieren und Glaubensaussagen auf der Grundlage einer im gesellschaftlichen Diskurs akzeptierten Sprache nachvollziehbar zu machen. Dieser rational-reflektierte Glaube wiederum kann dann auch zu einem Spott führen, der im Kontext einer Besserung der Gesellschaft steht. Beide Formen bedingen sich also gegenseitig. Bei christlichrelativem Spott handelt es sich damit um ein spezifisches Dialogforum zwischen Kirche bzw. Theologie und Nicht-Glaubenden bzw. Gesellschaft, die sich wesentlich auf der Basis einer allgemein akzep-
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Vgl. Berger: Erlösendes Lachen (wie Anm. 32), 251.
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tierten Vernunft abspielt und den jeweils anderen zu einer rationalen Reflexion animiert. Die Kirche befindet sich, wenn sie Objekt eines rational-relativen Spottes wird – wobei dabei deutlich die doppelte Relativität in Bezug auf die Würde des Einzelnen sowie der Bezug auf das Absolutum der Vernunft eingehalten werden müssen – gerade nicht in einer indirekten gesellschaftlichen Marginalisierung, vielmehr wird die Kirche als Objekt des rationalen Spottes zum Subjekt eines humorvoll geführten gesellschaftlichen Diskurses. Dabei ermöglicht das Verspottetwerden – unter Rückgriff auf die biblisch-theologische Tradition – der Kirche wesentlich dreierlei: Zunächst 1.) kann es punktuell zum Initial für eine rationale Reflexion des Glaubens werden und so eine kritische Funktion haben. Sodann kann es 2.) aus der Erfahrung des Verspottetwerdens zu einem theozentrisch-relativen Spott befreien, der sich kritisch-diskursiv mit der gesellschaftlichen Realität auseinandersetzt. Und schließlich kann es 3.) die Haltung einer christlich-relativen Heiterkeit eröffnen und einüben. So wird das Lachen zum Ausdruck der Fähigkeit einer Entfanatisierung aller religiösen oder politischen Wahrheitsverbissenheit und zur Ermöglichung einer christlich-relativen Haltung des Humors.
V. Warum die Kirche das Lachen braucht – einige Anmerkungen zum Schluss Die Betrachtungen zu einer theologischen Kriteriologie des Lachens bleiben notwendig fragmenthaft. Als kreatives, subjektives und vor allem ganzheitliches Geschehen lässt sich Lachen nicht völlig in eine wissenschaftliche Methodik integrieren. Eine Theologie des Lachens kann nur illegitime Ansprüche des Humors zurückweisen, bleibt also immer wesentlich eine Kriteriologie. Lachen beinhaltet für die Theologie insofern ein unverzichtbares Potenzial, als Spannungen und Unterschiede zum Anreiz für ihre kreative Überwindung und nicht zu Abschottungsfaktoren werden und die Kirche so in einen humoristischen Diskurs mit der Gesellschaft einsteigen kann, von dem beide Seiten profitieren können. Das ermöglicht auch eine Grundhaltung der Heiterkeit im Vertrauen auf Gott und in der Hoffnung auf die Durchsetzung einer ganz von ihm her kommenden eschatologischen Wirklichkeit. Lachen und Hu52
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mor dürfen nicht instrumentalisiert werden, sondern behalten als freie Ausdrucksformen des ganzheitlichen menschlichen Seins ihre eigene Berechtigung aber auch ihre Grenzen, wo sie die Würde anderer Menschen verletzen.
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… nu lach oder zurne – (Formen-)Vielfalt des Lachens in Texten des Mittelalters Nina Bartsch
I. Ausgangspunkt jeder Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Lachens im Mittelalter bzw. genauer mit dessen literarischer Darstellung in den Texten des Mittelalters ist die Definition des Lachens als anthropologische Konstante; bereits Aristoteles beschreibt die Fähigkeit des Menschen, lachen zu können als proprium homines; durch das Lachen – wie durch das Weinen – erhebt der Mensch sich damit über das Tier. Bachtin schreibt dem mittelalterlichen Lachen einen unverkennbaren universellen Charakter zu; in der Lachkultur des Mittelalters spiegele sich das gesamte Drama des leiblichen Lebens wider. 1 Er knüpft das Lachen dabei an den Feiertag, dem er für das Mittelalter grundlegend eine karnevalistische Komponente zuordnet: »Der Karneval vereinigt, vermengt und vermählt das Geheiligte mit dem Profanen, das Hohe mit dem Niedrigen, das Große mit dem Winzigen, das Weise mit dem Törichten.« 2 Dieser tendenziell vielleicht eher positiv zu deutenden Bewertung des Lachens steht im Mittelalter die Auffassung der Kirche gegenüber, das Lachen als Ausdruck von Sündhaftigkeit zu stigmatisieren. LeGoff definiert Lachen als kulturelles Phänomen: Ein komplexes Zusammenspiel heterogener gesellschaftlicher Faktoren führt dazu, dass die Regeln des Lachens in jeder Gesellschaft zu jeder Zeit neu festgelegt werden müssen. Lachen ist für ihn jedoch auch soziales Phänomen: Lachen ist Interaktion, die mindestens zwei Personen betrifft, die im Rahmen konventionalisierter Regeln miteinander oder
Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Alexander Kaempfe. Frankfurt a. M. 1990, hier 32 f. 2 Bachtin: ebd., 49. 1
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übereinander lachen. 3 Wertvorstellungen, Mentalitäten sowie Regeln des Lachens, die im Mittelalter Geltung beansprucht haben mögen, sind heute weitgehend unbekannt oder zumindest schwer fassbar. Für die Entwicklung einer umfassenden Theorie des Lachens für diese Epoche wäre es daher nötig, einerseits alle Texte auszuwerten, die Anlass zum Lachen geben, das Lachen reflexiv betrachten oder beurteilen und andererseits müssten alle literarischen Zeugnisse gesichtet werden, in denen das Lachen von Figuren dargestellt wird. 4 Dies erweist sich, wenn nicht als unmögliches, so doch zumindest als schwieriges Unterfangen. Gewinnbringender erscheint es daher, sich dem Lachen vorerst in seinem Wesen als anthropologische Konstante anzunähern und damit die Fragen nach Grund und Auslöser des Lachens zu beantworten. Freud definiert das Empfinden von Lust als Merkmal des Lachens – insbesondere bei dem durch das Hören eines Witzes ausgelösten Lachen. 5 Lustempfinden und freie Abfuhr psychischer Energie sind nach Freud Bestandteil des Prozesses, der durch bestimmte Formen des Lachens initiiert werden kann. Das Zusammenspiel beider bietet so eine mögliche Erklärung, warum der Mensch lacht bzw. vielleicht sogar gerne lacht. Bevor dieses Lachen jedoch zustande kommen kann, muss ein Witz, ein Ereignis oder eine Erzählung als ausreichend komisch zum Lachen empfunden werden. Das bedeutet, dass Lachen immer auch als Ergebnis eines kognitiven Vorgangs gesehen werden muss – Lachen setzt damit einen Akt der Erkenntnis über die Situation voraus. Grubmüller zeigt, dass diese Notwendigkeit von Erkenntnis in der Märendichtung besonders deutlich hervortritt bzw. ihr Fehlen innerhalb der Erzählung eingesetzt werden kann, um den komischen Effekt zu intensivieren. 6 Löst eine Erkenntnis Lachen aus, basiert diese zumeist auf einer wahrgenommenen Inkongruenz, wie Kipf in
Jacques LeGoff: Das Lachen im Mittelalter. Mit einem Nachwort von Rolf Michael Schneider. Aus dem Französischen von Jochen Grube. Stuttgart 2004, 9 f. (Genauere Ausführungen dazu bietet Rolf Michael Schneider im Nachwort, 81 f.). 4 vgl. z. B. Sieglinde Hartmann: Ein empirischer Beitrag zur Geschichte des Lachens im Mittelalter. Lachen beim Stricker. In: Mediaevistik 3 (1990), 107–129. 5 Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Frankfurt a. M. 1958, 120. 6 Klaus Grubmüller: Wer lacht im Märe – und wozu? In: Werner Röcke/Hans Rudolf Velten (Hgg.): Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkung von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Berlin/New York 2005, 111– 124. 3
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seiner Untersuchung zu den mhd. Schwankmären herausstellt. 7 Das bedeutet jedoch nicht, dass das Lachen des Rezipienten in jedem Fall an das Lachen der Figuren oder die Darstellung des Lachens im Text selbst gebunden sein muss. Wird im Text nicht gelacht, kann der komische Effekt bzw. die Komik sich ebenso ausschließlich an den Rezipienten richten, dann wird das Publikum funktional in den komisierenden Prozess miteinbezogen; Haug spricht in diesem Fall von einer Literarisierung des Lachens. 8 Inkongruenzen können auch in Form von Widersprüchen in den Text eingeschrieben sein, wie Haug in Anlehnung an Odo Marquard verdeutlicht. Diese ergeben sich für den Rezipienten, wenn das Nichtige im offiziell Geltenden und das Geltende im offiziell Nichtigen erscheint. Ein Widerspruch allein ist noch nicht komisch, der Rezipient muss gewillt sein, ihn auch komisch zu empfinden, erst dann kann er ihn durch Lachen auflösen. 9 Hier wird deutlich, dass das Lachen eine von mehreren möglichen Reaktionen darstellt und dass die Wahrnehmung einer komischen Situation nicht der einzige Faktor ist, der ein Lachen auslösen kann: Durch das Lachen Cunnewares in Wolframs ›Parzival‹ zeigt Tomasek, dass Wolfram – in Anlehnung an antike Tradition – das Lachen als Staunen der Seele, über etwas, was sie nicht zu verstehen mag, interpretiert. 10 Scholz Williams verbindet das Lachen mit dem Weinen: »Lachen und Weinen ermöglichen zuweilen Kommunikation, wo Sprache versagt. Umgekehrt können beide Emotionen ohne die erklärende Sprache kaum ihre volle Wirkung entfalten.« 11 Als Form der Johannes Klaus Kipf: Mittelalterliches Lachen über semantische Inkongruenz. Zur Identifizierung komischer Strukturen in mittelalterlichen Texten am Beispiel mittelhochdeutscher Schwankmären. In: Anja Grebe/Nikolaus Staubach (Hgg.): Komik und Sakralität. Aspekte einer ästhetischen Paradoxie in Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a. M. u. a. 2005, 104–128, hier 121. 8 Walter Haug: Schwarzes Lachen: Überlegungen zum Lachen an der Grenze zwischen dem Komischen und dem Makabren. In: Lothar Fietz/Joerg O. Fichte/Hans Werner Ludwig (Hgg.): Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Vergleichende Studien zum Funktionswandel des Lachens vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Tübingen 1996, 49–64, hier 55. 9 Ebd., 49. 10 Tomas Tomasek: Bemerkungen zur Komik und zum ›Humor‹ bei Wolfram von Eschenbach. In: Grebe/Staubach (Hgg.): Komik und Sakralität. Aspekte einer ästhetischen Paradoxie in Mittelalter und Früher Neuzeit, 94–103. 11 Gerhild Scholz Williams: Das Fremde erkennen. Zur Erzählfunktion des Lachens im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. In: Fietz/Fichte/Ludwig (Hgg.): Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Vergleichende Studien zum Funktionswandel des Lachens vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 82–96, hier 84. 7
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Kommunikation ist das Lachen auch ein sozialer Vorgang; als dieser verfügt es dann neben einer integrativen auch über eine ausschließende und abgrenzende Funktion – es dient damit der Konstituierung unterschiedlicher Formen der Gemeinschaft. 12 Lachen kann somit zugleich als anthropologische Größe und anthropologische Möglichkeit verstanden werden. Betrachtet man das Lachen unter dem Aspekt der Körperlichkeit, erklärt sich die Lachfeindlichkeit der Kirche im Mittelalter – speziell im monastischen Milieu: »Das Lachen ist ein Phänomen, das sich empirisch faßbar im Körper und durch den Körper ausdrückt.« 13 Diese »gefährliche […] Verbindung« 14 von Körper und Lachen erweist sich für den Mönch als Bedrohung, sodass verschiedene Ordensregeln die Gefahr des Lachens thematisieren: 15 »Que sunt instrumenta bonorum operum: […] Er sol sinen muont von vbelir rede behuotin. Vil sprechen en sol er nit minne er sol di vpigen worth nit sprechen. di da lachende machint. vil lachen oder vz geschuotit lachen sal er nit minne […].« 16
Das Beispiel zeugt von einer eindeutigen Verurteilung des Lachens, nicht aber von einem generellen Lachverbot, da hier explizit nur auf bestimmte Arten des Lachens verwiesen wird, die der Mönch meiden soll. Neben der Verbindung von Lachen und Körper ist es speziell die Annahme, dass Jesus Zeit seines irdischen Lebens nie gelacht habe, die aus kirchlicher Sicht zu einer Verurteilung des Lachens führt. Das Lachen wird als rein menschliche Eigenschaft zwar anerkannt, dem Weinen jedoch untergeordnet. Kemper verweist in diesem Zusammenhang zusätzlich auf die Bedeutsamkeit der Passionsfrömmigkeit und der imitatio christi, die die kritische Stellung der Kirche maßgeblich geprägt habe. 17 Der Spott bzw. der heilige Spott als Ausdruck der Vgl. z. B. Hans Rudolf Velten: Text und Lachgemeinschaft. Zur Funktion des Gruppenlachens bei Hofe in der Schwankliteratur. In: Röcke/Velten (Hgg.): Lachgemeinschaften, 125–144. 13 LeGoff: Das Lachen, 23. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Middle High German Translations of the Regula Sancti Benediciti. The eigth oldest Versions. Edited with an Introduction a Latin-Middle High German Glossary and a Facsimile Page of each Manuscript by Carl Selmer. Cambridge, Massachusetts 1933 (Reprint New York 1970), hier: Rule of Hohefurth (um oder kurz nach 1250), Chapter [4]: Que ſunt inſtrumenta bonorum operum, 55. 17 Tobias A. Kemper: Jesus Christus risus noster. Bemerkungen zur Bewertung des 12
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superbia in Form von Schadenfreude, Hass und Rache stellt die verwerflichste aller Spielarten des Lachens dar, wie Röcke exemplarisch anhand der gnostischen und orthodoxen Perspektive auf die Passion Christi verdeutlicht. 18 Spott wird als Sprechakt der Herabsetzung definiert, durch den der Verspottete in seinem Ansehen hinterfragt wird; der Aspekt des Lachens in der Öffentlichkeit führt dabei zu einer Intensivierung der Herabsetzung, er könne zu einer Zerstörung der Ordnung beitragen und in der Verspottung Jesu als Todsünde der superbia gipfeln. 19 Dennoch ist die Verbindung von sakralen Inhalten und dem Lachen über deren komische Entfremdung dem Mittelalter nicht fremd, da sich hier Möglichkeiten der Ausgrenzung und Stigmatisierung des Bösen ergeben, wie Schnell für das geistliche Spiel nachweist: 20 Durch die Gegenstände, über die gelacht wird, besteht die Möglichkeit, das Böse zu personifizieren, sodass es dann durch Lachen vernichtet werden kann. Das Negative wird auf diesem Weg extrapoliert, ausgegrenzt und verlacht. 21 Wird der Seinsmodus des Sakralen variiert und kommt es zur Skizzierung unterschiedlicher Niveaus von Heiligkeit, ist eine Verquickung von Komik und Sakralem möglich. Umgekehrt bedeutet dies allerdings nicht, dass die Verbindung von sakralen Elementen und komischen Strukturen immer auf ein Lachen abzielend inszeniert bzw. funktionalisiert wird. 22 Komik ist zwar nicht der einzig mögliche Auslöser des Lachens, sie gewährleistet aber eine hohe Wahrscheinlichkeit, Lachen zu provozieren. Unter Bezugnahme auf Fromm lässt sich der Begriff der Komik von dem des Humors und dem der Ironie abgrenzen: »Der homo comicus, welcher der Norm nach Unbeziehbares aufeinander bezieht oder provoziert wird, bestimmte Verhältnisse der Wirklichkeit in ihrer Disproportion und Lachens im Mittelalter. In: Grebe/Staubach (Hgg.): Komik und Sakralität, 16–31, hier 25. 18 Werner Röcke: Heiliger Spott. Lachende Überlegenheit und Glaubensgewissheit in der Literatur der Spätantike und des Mittelalters. In: Katja Gvodzdeva/Werner Röcke (Hgg.): »risus sacer – sacrum risibile« Interaktionsfelder von Sakralität und Gelächter im kulturellen und historischen Wandel. Frankfurt a. M., u. a. 2009, 31–46. 19 Ebd., 31 f. 20 Rüdiger Schnell: Geistliches Spiel und Lachen. Überlegungen zu einer Ästhetik der Komik im Mittelalter. In: Grebe/Staubach (Hgg.): Komik und Sakralität, 76–93. 21 Ebd., 77. 22 Vgl. Michaela Willers: Schwankmuster und deren Funktionalisierung in den Texten Heinrich Kaufringers (unter besonderer Berücksichtigung des Märes Die unschuldige Mörderin). In: Grebe/Staubach (Hgg.): Komik und Sakralität, 129–140.
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Unangemessenheit auch der Werte in überraschender Weise aufzudecken, handelt als homo ludens – und zwar unter allen Aspekten, die das Spiel bietet.« 23 Auch Fromm definiert das Komische als Inkongruenz, die er als Disproportion bezeichnet und legt den Fokus auf das Individuum und den Aspekt des Spiels, dessen sich der homo comicus in allen denkbaren Ausprägungen bedienen darf, womit der Komik bzw. dem Erreichen eines komischen Effekts keine Grenzen gesetzt scheinen. Daher bestimmt Fromm den Bereich der Komik als den des Unmaßes, der Hyperbolik, der Ungestalt und des Grotesken, in dem Mensch und Wirklichkeit sich begegnen. 24 Ausdruck von Komik ist das durch derbe und zotige Darstellungen forcierte Gelächter; ihr Ziel ist die Vernichtung, wie sie idealtypisch in der Schwankliteratur inszeniert wird. Ziel des Humors ist eine sublimierte Komik, oft unter Zuhilfenahme ironisierender Darstellungen, die eine »lächelnde« Einsicht über unangemessene Konstellationen in der Welt zulässt. Es wird deutlich, dass Komik auf einem bestimmten Prinzip – nämlich dem des Widerspruchs, der Inkongruenz oder der Disproportion – beruht. 25 Grubmüller verweist aber zu Recht darauf, dass eine Verifizierung des Komischen immer nur in Abhängigkeit zu kulturellen Vorbedingungen denkbar ist. Zur Vermeidung unhistorischer Aussagen ist es folglich notwendig, Textstellen zu analysieren, die durch Figurenlachen implizit als komisch interpretiert werden können. 26 Kipf argumentiert ähnlich und bestimmt Figurenlachen als Indikator für Komik. 27 Bei diesem Vorgehen muss jedoch beachtet werden, dass es sich immer um ein ›erzähltes Lachen‹ handelt, das nicht zwangsläufig mit einer Rezeptionsanweisung gleichgesetzt werden darf. Setzt man nicht das Figurenlachen an den Anfang der Auseinandersetzung, sondern die Suche nach der Inkongruenz, gestaltet sich diese Suche z. B. als eine nach Stellen, an denen die Ordnung unterwandert wird oder Gefahr läuft, verkehrt oder zerstört zu werden. Kellermann führt diesen Ansatz exemplarisch anhand der Verkehrung von Ritualen durch Subversion oder Irritation vor und weist am höfischen Roman nach, dass die Nutzung ritualisierter Kommunikation und Hans Fromm: Komik und Humor in der Dichtung des deutschen Mittelalters. In: DVjs 36 (1962), 321–339, hier 323. 24 Ebd., 328. 25 Tomasek argumentiert in Anlehnung an Plessner ähnlich, vgl. ebd., 96. 26 Grubmüller skizziert damit ein Verfahren, das er selbst als semasiologisch beschreibt, ebd. 112. 27 Kipf: Semantische Inkongruenz, 113. 23
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Handlung immer auch die Möglichkeit der ironischen Durchbrechung eröffnet, mit Hilfe derer dann komische Effekte inszeniert werden können. 28 Für den Roman ›Daniel von dem Blühenden Tal‹ konstruiert Wandhoff in Abhängigkeit zur Vorbildung des Rezipienten unterschiedliche Lesarten, die ein jeweils unterschiedliches Niveau an Komik ermöglichen. 29 Tomasek stellt in seiner Untersuchung zum Minnesang die komische Situation an den Anfang seiner Analyse, 30 um im Anschluss daran Strukturmerkmale des Komischen verifizieren zu können: Als Strukturmerkmale des Komischen lassen sich u. a. die Variation des Bekannten, die Parodie der Verkehrung der Erwartungshaltung und die Aufdeckung eines Kontrastes benennen. Unabhängig davon, ob das Figurenlachen oder das komische Ereignis und damit das Lachen des Rezipienten den Ausgangspunkt der Überlegung bildet, muss beachtet werden, dass die personale Zusammensetzung der Gemeinschaft der Lachenden – der Lachgemeinschaft – auch immer die Parameter von Komik definiert. 31 Nach Röcke konstituieren sich Lachgemeinschaften als strukturierendes Merkmal hierarchischer Gefüge. 32 Am Beispiel der (literarischen) Spiele mit Blinden und Blindenhass weist er den der Konstituierung von Lachgemeinschaften zugrunde liegenden Mechanismus und dessen Funktion nach: 33 Im Spiel vollzieht sich eine Ritualisierung durch inszenierte Gewalt; durch diese gelingt es der Kultur der städtischen Bevölkerung, sich im gemeinsamen Lachen über das Dargestellte gegen die Subkultur der pauperes, als dessen Stellvertreter die Blinden Karina Kellermann: Verkehrte Rituale. Subversion, Irritation und Lachen im höfischen Kontext. In: Werner Röcke/Helga Neumann (Hgg.): Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit. Paderborn u. a. 1999, 29–46; vgl. auch: Rüdiger Brandt: das ain groß gelächter ward. Wenn Repräsentation scheitert. Mit einem Exkurs zum Stellenwert literarischer Repräsentation. In: Hedda Ragotzky/Horst Wenzel (Hgg.): Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen. Tübingen 1990, 303–331. 29 Haiko Wandhoff: Daniel von dem Blühenden Tal: ein komischer Artusroman im frühen 13. Jahrhundert? In: Röcke/Neumann (Hgg.): Komische Gegenwelten, 47–62. 30 Tomas Tomasek: Komik im Minnesang. Möglichkeiten einer Bestandsaufnahme. In: Röcke/Neumann (Hgg.): Komische Gegenwelten, 13–28. 31 vgl. Velten: Text und Lachgemeinschaft, 129 f. 32 Werner Röcke: Die getäuschten Blinden. Gelächter und Gewalt gegen Randgruppen in der Literatur des Mittelalters. In: Röcke/Velten (Hgg.): Lachgemeinschaften, 61–84. 33 Röcke beschäftigt sich in seinen Ausführungen sowohl mit den tatsächlichen Gewaltspielen mit Blinden und deren öffentlicher Inszenierung als auch mit deren späteren literarischen Umformungen. 28
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fungieren, abzugrenzen. Das Gelächter ist hier ein exklusives Lachen, da es die Subkultur der pauperes ausschließt, um sich des Zusammenhaltes der eigenen Gemeinschaft zu vergewissern und deren Fortbestand zu gewährleisten. Fast alle Überlegungen, die sich mit dem Phänomen des Lachens oder der Komik im Mittelalter auseinandersetzen, führen die Anlässe des Lachens für Figuren und Rezipienten näher aus. Dabei wird deutlich, dass Literatur, der per se eine komische Intention oder eine unterhaltende Funktion unterstellt wird, wie z. B. der mhd. Schwankdichtung, ein besonderes Forschungsinteresse zukommt. Im Märe darf sowohl der Rezipient als auch die Figur über Torheiten aller Art lachen, d. h. auch das Verlachen von Figuren und ihren Handlungen ist erlaubt. Grubmüller konstatiert, dass erst mit der zunehmenden Körperversessenheit des ausgehenden Mittelalters das Lachen aus dem Märe verschwindet: »Mit dem Ende des Lachens beginnt die Protokollierung der Ratlosigkeit.« 34 Solange im Märe bzw. über das Märe aber noch gelacht werden darf, ist es i. d. R. das inszenierte Missverständnis und die Beobachtung des daraus resultierenden Geschehens, das zum Lachen verleitet. Die Komik steigert sich, wenn die List vom scheinbar Unterlegenen ausgeht und Elemente der Situationskomik aufweist. Dabei ist allerdings wichtig, dass die zugrunde liegende List transparent ausgestaltet und dem Rezipienten bewusst ist. 35 Strukturen von Komik ergeben sich im Märe aber auch aufgrund sprachlicher Ambiguität, z. B. durch die unrichtige Verwendung von Begriffen aus gegensätzlichen Bereichen, deren komische Wirkung auf dem mangelnden Wissen einzelner Figuren basiert. Komik im Märe wirkt im Bezug auf den Ordo durch den Vollzug des Ehebruchs tendenziell immer zerstörerisch und entfaltet ihre Wirkung durch die Kopplung sexueller Mächtigkeit und intellektueller Einfallskraft. Haug situiert Lachen und Komik im Märe daher im Spannungsfeld von Zerstörung und Lebendigkeit. 36 Insbesondere im Minnesang können sowohl auf formaler Ebene als auch auf inhaltlicher Ebene komische Strukturen identifiziert werden. Tomasek hat hier präzise Entwicklungstendenzen innerhalb der
Grubmüller: Wer lacht im Märe?, 124. Velten verweist in diesem Zusammenhang auf die notwendige Rahmentransformation als Voraussetzung der Erkenntnis; Velten: Text und Lachgemeinschaft, 141. 36 Haug: Schwarzes Lachen, 58 ff.; vgl. auch Scholz Williams. 34 35
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Textsorte sowie autorspezifische Vorlieben skizziert. 37 Für den höfischen Roman hat z. B. Wandhoff für Strickers ›Daniel‹ das Spiel mit den arthurischen Traditionen und die autorspezifische Art des Zitierens und Kontextualisierens als Kennzeichen der Komik bzw. Satire und als Anlass zum Lachen für den vorgebildeten Rezipienten bestimmt. Speziell zu der Bedeutung der Komik und des Humors im Werk Wolframs finden sich neben der ausführlichen Schilderung bei Tomasek 38 immer wieder vereinzelte Hinweise, wie z. B. bei Kellermann. Hinsichtlich der Konstituierung von Lachgemeinschaften ist nicht nur entscheidend, worüber Figuren oder Rezipienten lachen, sondern auch, wie sie lachen. Haug formuliert, dass durch die Art des Lachens – speziell durch dessen Objektbezug und literarischer Beschreibung – die Intention des Lachens ausgeführt wird. So wird es z. B. möglich, den Grad der Ausgrenzung Dritter festzulegen. Haug definiert das ›schwarze Lachen‹ als eine Art des Lachens, die an der Grenze zwischen Komischem und Makabrem zu finden ist: Das schwarze Lachen »[…] nährt sich von der Erfahrung seiner eigenen Negativität, und es steht deshalb immer an jenem kritischen Punkt, an dem es an ihr zu ersticken droht.« 39 Auch Röcke erkennt einen Zusammenhang zwischen der Art des Lachens und der Konstituierung von Gemeinschaft, wenn er in Anlehnung an die Terminologie Dupreels die Intention des ›exklusiven Lachens‹ bestimmt: Exklusives Lachen kann ihm zufolge zur Abwehr und Denunziation Außenstehender führen, um so eine bereits vorhandene Hierarchie zu festigen, sodass das Lachen dann sowohl dem Zweck der Konstitution als auch der Bestätigung von Gesellschaft durch Ausgrenzung dient. Exklusives Lachen ist ein Lachen der Befreiung und Aggression, sein Kennzeichen ist damit Eindeutigkeit. 40 Das Gegenstück zum exklusiven Lachen bildet das ›inklusive Lachen‹ als Ausdruck der gegenseitigen Versicherung gemeinsamer Wertvorstellung, das sich häufig idealtypisch umgesetzt in der Schwankliteratur findet. Grubmüller differenziert das ›erzählte Lachen‹ in ein ›heimliches‹ und ein ›öffentliches‹ Lachen. Das heimliche Lachen bestimmt er als ein selbstbezügliches und einvernehmliches Lachen, das der Selbstbestätigung dient 37 38 39 40
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Tomasek: Komik im Minnesang. Tomasek: ›Humor‹ bei Wolfram. Haug: Schwarzes Lachen, 59. Röcke: Die getäuschten Blinden, 78 ff.
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und keine Öffentlichkeit braucht. Im Gegenteil dazu ist das öffentliche Lachen auch immer ein urteilendes Lachen, das sich in reinem Vergnügen, aber auch in Spott oder Schadenfreude äußern kann: »Die Öffentlichkeit als Lachgemeinschaft ist so immer das Organ des urteilenden Lachens.« 41 Einen anderen Zugriff wählt Althoff, indem er Art und Intention des Lachens in einen kausalen Zusammenhang zur konkreten Situation der Handelnden setzt. So unterscheidet er zwischen einem ›institutionalisierten‹ und einem ›spontanen‹ Lachen sowie einem ›Spottgelächter‹. 42 Ebenfalls in der Nähe des Spottgelächters zu verorten, ist das ›Lachen aus Überlegenheit‹ : Scholz Williams definiert hier den Wissensvorsprung des Lachenden gegenüber dem Objekt bzw. Subjekt des Lachens als entscheidendes Kennzeichen. 43 Kellermann relativiert diesen Ansatz, indem sie am Beispiel von Wolframs ›Parzival‹ die Möglichkeit aufzeigt, die Bedrohung der Ordnung durch Verkehrung des Unwissens in Wissen abzuwenden. Eine Sonderform des Lachens stellt sicherlich das ›Lachen aus Ohnmacht‹ dar, da es als Ausdruck der Hilflosigkeit im Gegensatz zu den meisten anderen Arten des Lachens in keinem Zusammenhang zur Komik steht. Scholz Williams beschreibt das Lachen aus Ohnmacht dementsprechend als Reaktion auf Verspottung und Dämonisierung. 44
II. Versucht man auf Grundlage des bisher Gesagten, das Lachen als ›literarisches Phänomen‹ bzw. ›Phänomen in der Literatur‹ zu bewerten, ergeben sich zwei Möglichkeiten des Zugriffs: Der erste Ansatz verfolgt das Ziel, herauszustellen, worüber der zeitgenössische Rezipient gelacht haben könnte. Die Analyse des Textes ist dann als Suche nach sprachlich komischen Phänomenen zu definieren, wobei Figurenlachen als Indiz für intendierte Komik auftreten kann, aber nicht muss. Kipf hat ausgehend von den mhd. Schwankmären kognitive
Grubmüller: Wer lacht im Märe?, 116. Gerd Althoff: Vom Lächeln zum Verlachen. In: Röcke/Velten (Hgg.): Lachgemeinschaften, 3–16. 43 Scholz Williams: Das Fremde erkennen, 87 ff. 44 Ebd., 91 ff. 41 42
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Inkongruenz, Ambiguität und Plötzlichkeit als Strukturen der Komik definiert. Inwiefern sich anhand dieser Parameter auch textsortenübergreifend Strukturen von Komik nachweisen lassen können, soll hier exemplarisch an einem Auszug aus Wirnts von Grafenberg ›Wigalois‹ verdeutlicht werden. Der höfische Ritter Wigalois trifft auf einen seltsamen Gegner und gerät unvermittelt in Bedrängnis: »Daz wîp dûht in unsüeze starkiu bein, krumbe vüeze hêt si, sus was si gestalt. […] daz starke wîp begreif in sâ, wan si endûhte in des niht wert daz er gegen ir sîn swert immer gevuorte. […] sô truoc in diu tiuvelin under ir starken armen hin. swie stark der rîter wære und swie wîten mære wær sîn grôziu manheit, diu selbe vrouwe ungemeit truoc in hin als einen sac.« 45 (Wigalois, vv. 6347–6385)
Strukturen von Komik ergeben sich durch die ironische Durchbrechung der erwarteten Schemata der Figurenzeichnung: Die Figur, auf die Wigalois trifft, wird zuerst neutral als wîp (›Frau‹) beschrieben. Leichte Zweifel des Ritters werden durch das Adverb unsüeze (›herb‹, ›unfreundlich‹) angedeutet. Grundlage dafür ist das Äußere der Figur: Das wîp hat starkiu bein und krumbe vüeze, sodass hier ein erster Bruch innerhalb erwartbarer Muster deutlich wird. Die Gestalt der Frau verweist auf einen als asymmetrisch empfundenen Körperbau, der den gängigen Vorstellungen von Schönheit widerspricht. Für Wigalois ergibt sich hier eine widersprüchliche Situation, sodass er nicht in der Lage ist, als Ritter zu handeln. Ihm gelingt es nicht, sein Schwert zu ziehen und zu kämpfen, denn das wîp als ›Frau‹ ist kein angemessener Gegner für ihn. Durch die sich nun anschließende Handlung wird die ironische Brechung fortgeführt. Der Ruf des Ritters und seine bisherigen Taten werden dabei ad absurdum geführt, er wird unter Verlust seines gesellschaftlichen Status von einem rîter Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn. Übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach. Berlin/New York 2005.
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bzw. degen zu einem sac degradiert und muss sich einer Gegnerin geschlagen geben. Der zweite Ansatz, der im Folgenden exemplarisch vorgeführt werden soll, nimmt das Figurenlachen und damit ausschließlich Textstellen, in denen das Lachen der Figuren inszeniert wird, in den Blick. Hier rücken die Aspekte der Konstituierung von Lachgemeinschaften und der Inszenierung sowie Funktionalisierung des Lachens in der Literatur in den Mittelpunkt der Betrachtung. Auf diese Weise wird das Lachen als körperliches, soziales und gesellschaftliches Phänomen durch den Filter der literarischen Fiktion beobachtet und damit im Rahmen einer angenommenen Funktionalisierung innerhalb der Literatur objektivierbar. Statt einer punktuellen ergibt sich hier die Möglichkeit einer systematischen Suche, indem Textstellen zusammengestellt werden, in denen sich Belege für mhd. lachen finden. Die Bedeutungserschließung erfolgt dabei durch die Analyse der jeweiligen sprachlichen Verwendung. Das Lachen als literarisches Phänomen soll daher, exemplarisch an den Texten der Heldenepik, hinsichtlich seiner Formen oder – wie der Titel deutlich macht – seiner Formenvielfalt und seiner Funktionen schlaglichtartig durch die Analyse der sprachlichen Verwendung von mhd. (–)lachen 46 beleuchtet werden. Es wird davon ausgegangen, dass sich aus der Summe der sprachlichen Verwendungen Gemeinsamkeiten in der Bedeutung ergeben, die (textsortenspezifische) Aussagen über die Inszenierung und Funktionalisierung des Lachens sowie die Konstituierung von Lachgemeinschaften erlauben. 47 Auf diesem Weg soll beleuchtet werden, wie und worüber geDas Verb lachen und die präfigierten Formen erlachen und gelachen werden hier unter dem abstrakten Lemmaansatz (–)lachen zusammengefasst. 47 Das hier gewählte Verfahren ergibt sich in Anlehnung an Klaus-Peter Wegera: »mich enhabe diu âventiure betrogen«. Ein Beitrag zur Wort- und Begriffsgeschichte von âventiure im Mittelhochdeutschen. In: Vilmos Ágel u. a. (Hgg.): Das Wort. Seine strukturelle und kulturelle Dimension. Festschrift für Oskar Reichmann. Tübingen 2002, 229–244. Wegera stellt exemplarisch am Begriff der âventiure »die konzeptionelle Verknüpfung der einzelnen Bedeutungsvarianten« (Wegera, ebd., 229) dar; diese verbindet er dann im Sinne einer »Bedeutungs- oder Konzeptfamilie« (ebd., 234), innerhalb derer die unterschiedlichen Bedeutungsvarianten kontextuell bestimmt werden. Das den verschiedenen Bedeutungsvarianten Gemeinsame wird so als semantischer Kern im Sinne eines Konzeptes verstanden. Wegera beschreibt âventiure als einen »semantisch hochgradig polysemen Begriff« (ebd., 233). Eine Bedingung, die für das Verb (–)lachen vorerst keine Gültigkeit beanspruchen kann, sodass hier weniger die Erschließung einer Konzeptfamilie, sondern vielmehr die Bestimmung von 46
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lacht wird und herausgestellt werden, wer lacht. Den Gegenstand der Auseinandersetzung bildet die sprachliche Analyse von 128 Textbelegen für mhd. (–)lachen in 14 verschiedenen Texten der Heldenepik 48 . Kontrastiv werden weitere 64 Belege in insgesamt sieben Texten der Artusdichtung 49 untersucht, um vergleichende und textsortenübergreifende Aussagen zu ermöglichen. Steht (–)lachen im Infinitiv, kann sowohl ein Vollverb als auch ein Modalverb hinzutreten, um den Prozess des Lachens genauer zu bestimmen. Als Vollverben können beginen, sehen und zemen stehen, wobei nur beginen hochfrequent belegt ist. Hieraus lässt sich schlussfolgern, dass dem Einsetzen des Lachens als Reaktion auf gegebene Situationen o. ä. ein hoher Stellenwert eingeräumt wird. Gestützt wird diese These dadurch, dass häufig weitere sprachliche Spezifikationen hinzukommen, die das Lachen ursächlich anbinden, näher begründen oder in seiner Intensität bestimmen. Diese Modifikationen können vage bleiben und nur unter Rückbezug auf die Handlung erklärt werden, wenn das Lachen mit einfachem des oder darumb kontextualisiert wird: einzelnen Bedeutungsvarianten, die sich auf Grundlage der spezifischen sprachlichen Verwendung ergeben, fokussiert werden soll. Eine weitere Modifikation des Ansatzes liegt darin begründet, dass hier kein Substantiv, sondern ein Verb die Grundlage der Untersuchung bildet. Zum gewählten Verfahren vgl. ebenso: Simone Schultz-Balluff: triuwe – Verwendungsweisen und semantischer Gehalt im Mittelhochdeutschen. In: Gerhard Krieger (Hrsg.): Verwandtschaft, Freundschaft, Bruderschaft. Soziale Lebens- und Kommunikationsformen im Mittelalter (Akten des 12. Symposiums des Mediävistenverbandes vom 19. bis 22. März 2007 in Trier). Berlin 2009, 271–294. Schultz-Balluff bestimmt in Anlehnung an Wegera den semantischen Gehalt von triuwe sowohl durch die Analyse des Begriffes in seinem sprachlichen Umfeld anhand eines Merkmalkatalogs als auch in seiner konkreten sprachlichen Verwendung umfassend (Schultz-Balluff: triuwe, 272); siehe auch: Nina Bartsch: Programmwortschatz einer höfischen Dichtersprache. hof/hövescheit, mâze, tugent, zuht, êre und muot in den höfischen Epen um 1200. Frankfurt a. M. u. a. 2014. 48 Die Auswahl der einzelnen Textbelege beruht auf einer systematischen Suche mithilfe der Mhd. Begriffsdatenbank und bildet damit die Gesamtheit aller in den dort versammelten Texten der Heldenepik belegten Nachweise. http://mhdbdb.sbg.ac.at/ mhdbdb/App?action=TextQueryModule. Belege zu (–)lachen finden sich mit Angabe der jeweiligen Frequenz in folgenden Werken: Alpharts Tod (1), Biterolf und Dietleib (21), Dietrichs Flucht (9), Eckenlied (5), Der jüngere Sigenot (4), Kudrun (17), Die Klage (1), Nibelungenlied (5), Ortnit (10), Die Rabenschlacht (3), Rosengarten (6), Virginal (37), Wolfdietrich (7), Der Wunderer (2). 49 Der Stricker: Daniel von dem Blühenden Tal (7), Hartmann von Aue: Erec (12), Pleier: Garel von dem blüenden Tal (11), Hartmann von Aue: Iwein (8), Lohengrin (7), Pleier: Meleranz (9), Wirnt von Grafenberg: Wigalois (10).
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»Er sluoc im ab daz houbet sîn daz ez viel zuo der erden. Des lachte daz twergelîn.« 50 (Der Jüngere Sigenot, 43,11 ff.)
Es finden sich jedoch auch genaue Spezifikationen, wie z. B. der rede (Kudrun, 370,4) 51 oder vor liebe (z. B. Biterolf und Dietleib, v. 1856) 52 , sodass das Lachen als Reaktion einer verbalen Äußerung eines Gegenübers oder als Ausdruck eines emotionalen Zustandes markiert wird. Soll die Intensität des Lachens näher bestimmt werden, tritt lûte als Adverb in den syntaktischen Zusammenhang – und zwar immer mit einfachem des oder darumb, sodass Situationen kreiert werden, in denen lautes oder herzhaftes Lachen als die einzig angemessene Reaktion zu betrachten ist. Die Kombination von lachen mit sehen verweist auf die Bedeutung des Lachens in der Wahrnehmung der höfischen Gesellschaft: Das Gegenüber lachen zu sehen, ermöglicht einerseits, die emotionale Verfasstheit des Lachenden einzuschätzen und andererseits, das eigene Verhalten zu koordinieren. Die Kombination von lachen mit Modalverb erlaubt aufgrund der Eigensemantik der Modalverben vielfältigere Modifikationen. Auch hier findet sich einfaches des, um das Lachen in den Fluss der Handlung einzubinden. Die Kombination mit Dativ (mit iuch oder mit dir) verweist stärker auf den Stellenwert des Lachens als Teil der höfischen Interaktion. Die Spezifikation mit Adverb erfolgt dann zum Ausdruck unterschiedlicher Intentionen variabler, sodass nicht ausschließlich die Intensität im Sinne von Quantität, sondern auch die Qualität bzw. die Legitimation des Lachens fokussiert wird. Modifikationen durch sanfter, wol oder wol lieplîch in Verbindung mit Modalverb dienen dem Ausdruck der voluntativen bzw. rein physischen Fähigkeiten und markieren das Lachen als erwartbare oder begrüßenswerte Reaktion. Die Kombination von suln und lachen mit Negation beschreibt die Grenze des Konzeptes, indem das Lachen als kontextuell unangemessene Reaktion stigmati-
Der jüngere Sigenot. Nach sämtlichen Handschriften und Drucken hrsg. von A. Clemens Schoener. Heidelberg 1928. 51 Kudrun. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch, hrsg. v. Karl Stackmann. Tübingen 2000. 52 Biterolf und Dietleib, hrsg. v. Oskar Jänicke. Laurin und Walberan mit Benutzung der von Franz Roth gesammelten Abschriften und Vergleichungen. Deutsches Heldenbuch. Erster Teil. Berlin 1866. 50
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siert wird: »sy sprach: ir seit nit lachen! gros ist ewr ungemach.« (Wolfdietrich, 750,4). 53 Lachen als sinnlich wahrnehmbares Phänomen ist zugleich bewusster und unbewusster Ausdruck individueller emotionaler Innerlichkeit. Lachen wird zum Parameter einer öffentlichen Handlung und signalisiert dem Gegenüber den ihm zustehenden Respekt. Zur Realisierung stehen dafür zwei unterschiedliche Arten der Umsetzung zur Verfügung: Als Partizip Präsens in Verbindung mit einem Verb werden Tätigkeiten modifiziert, die Bestandteil des höfischen Protokolls oder Ausdruck einer der Affektkontrolle unterworfenen Körperbeherrschung sind. Als Partizip Präsens im adjektivischen Gebrauch modifiziert lachen den munt oder den muot. Die zugeordneten Verben sprechen, küssen, antwurten und anblicken verdeutlichen den Stellenwert des Lachens als soziales Phänomen. Sie beschreiben Handlungen, die einen erfolgreichen Verlauf sozialer Interaktion determinieren: »Mit lachendem munde Sigelint unt Sigemunt kusten Kriemhilde durch liebe manige stunt unt ouch ir sun Sîfrit in was ir leit benomen.« (Nibelungenlied, 709,1–3) 54
In einem Fünftel der Belege steht lachen im Präteritum bzw. im Partizip Präteritum; häufig mit einem weiteren Verb in gleicher Satzgliedfunktion, zu ihnen zählen: (wol) tuon, ansehen, weinen und schimpfen sowie sprechen. Das Verb lachen wird so entweder in ein bestimmtes Handlungskonzept eingebunden und als einer von zwei unterschiedlichen Bereichen der sinnlichen Wahrnehmung markiert oder durch die Kombination mit weinen als Konzept der Emotionen gekennzeichnet. Oft wird eine Präteritalform von lachen mit des, wes oder verallgemeinerndem swaz in einen ursächlichen Zusammenhang zu der Erzählung gesetzt. Diese Belege lassen sich nur über den Inhalt erschließen: In der Mehrzahl sind es Ereignisse, die im Kontext kriegerischer Auseinandersetzung oder ritterlicher Zweikämpfe verortet
Wolfdietrich B. Paralleledition der Redaktionen B/K und H, hrsg. v. Walter Kofler. Stuttgart 2008. 54 Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch. Hrsg. von Helmut de Boor. 22., revidierte und von Roswitha Wisniewski ergänzte Auflage. Mannheim 1988. 53
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sind, die zumindest den Ritter, den König und die Untertanen – seltener die höfische Damenwelt – zum Lachen bringen. Dabei ist es nicht unfein, auch über die Niederlage, die Verletzung, das Leiden oder sogar den gewaltvollen Tod des Anderen zu lachen: »Der ungetoufte vâlant viel nider ûf den clê, im tâten beide stümpfe ûzer mâzen wê. er stiez si alle beide in sînen wîten munt: des lachte ûf der heide Wolfdietrîch an der stunt.« (Wolfdietrich, D V, 67,1–4)
All diesen Belegen ist gemein, dass sie keiner tiefergehenden qualitativen – d. h. auch moralischen – Wertung durch den Erzähler oder andere Figuren unterzogen werden. Selten ist lachen im Imperativ belegt, wodurch das Lachen kontrastiv als Zustand extremer Emotionalität markiert und als eine von zwei gegensätzlichen Handlungsoptionen definiert wird. So besteht entweder die Möglichkeit zu lachen, zu weinen oder zu zürnen: »Vil we tut meinem hertzzen, swenn iz sei trauren sicht./ nu lach oder zurne, ich gib dirz zware niht!« (Ortnit, 139,1 f.). 55 Um das Lachen als gesellschaftliches Phänomen bewerten zu können, muss die Frage beantwortet werden, wer lacht bzw. wer mit wem lacht: Lacht ein männliches Individuum, erfolgt dessen Bezeichnung i. d. R. durch den Personennamen, in einigen Fällen wird dieser um eine Angabe hinsichtlich der Funktion bzw. Position innerhalb der politischen oder gesellschaftlichen Hierarchie oder um ein persönliches Attribut ergänzt, so z. B. her Hildebrant (Virginal, 585,1) 56 bzw. der alte Hildebrant (Rosengarten, 309,3). 57 Die Bezeichnung der weiblichen Individuen erfolgt seltener, sodass sich vermuten lässt, dass Frauen in der Heldenepik entweder weniger zu lachen haben oder – und wahrscheinlicher – die Heldenepik eine Textsorte fast ausschließlich männlicher Protagonisten ist. Werden Frauen trotzdem in die Position des bzw. der Lachenden gesetzt, finden sich sprachlich vielfältigere Verfahrensweisen der näheren Bestimmung, die auf den Ortnit und die Wolfdietriche. Nach Müllenhoffs Vorarbeiten, hrsg. v. Arthur Amelung u. Oskar Jaenicke. Deutsches Heldenbuch. Dritter Teil. Berlin 1871. 56 In: Dietrichs Abenteuer von Albrecht von Kemenaten. Nebst den Bruchstücken von Dietrich und Wenezlan. Hrsg. v. Julius Zupitza. Berlin 1870. (= Deutsches Heldenbuch, Bd. 5). 57 Die Gedichte vom Rosengarten zu Worms. Mit der Unterstützung der kgl. sächs. Gesellschaft der Wissenschaften, hrsg. v. Dr. Georg Holz. Halle a. S. 1893. 55
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eherechtlichen Status, die gesellschaftliche Funktion, das Geschlecht oder bzw. und Attribute körperlicher Schönheit referieren, wobei die einzelnen Bereiche nicht trennscharf markiert sind. Diese Beleglage ermöglicht die Schlussfolgerung, dass die Norm semantisch unmarkiert, die Abweichung davon semantisch markiert steht. Lachen ist dementsprechend als eher männliche Verhaltensform zu verstehen; es ist Aktion oder Reaktion in Situationen kriegerischer oder zumindest kämpferischer Auseinandersetzung. Lachen ist damit Mittel der individuellen Konfliktbewältigung und Ausdruck von Aggression. Es dient insbesondere dazu, die eigene Überlegenheit zu verdeutlichen und den Gegner zu schwächen. 58 In der Heldenepik wird jedoch nicht nur allein, sondern häufig gemeinsam gelacht, sodass sich hier die Frage stellt, inwiefern Lachen gesellschaftsstiftend oder -zerstörend wirken kann und inwiefern gemeinsames Lachen gruppendynamische Prozesse der Integration oder der Ausgrenzung initiieren kann. Die literarische Darstellung gemeinsamen Lachens bzw. die Beschreibung der jeweiligen Lachgemeinschaft kann durch eine Aufzählung oder die Bezeichnung einer spezifischen, unspezifischen oder allumfassenden Menge erfolgen. In den Aufzählungen wird u. a. die soziale Hierarchie der Gesellschaftsstruktur deutlich: Es handelt sich in erster Linie um eine männlich dominierte Gesellschaft, deren Elite sich durch politische und militärische Attribute auszeichnet; die Spitze bildet der König, dem sich der Rest der Gesellschaft unterordnet – ihm folgen zuerst seine direkten Untergebenen innerhalb des Personenverbandsstaates, die als sîne man oder als ritter bezeichnet werden: »des lachte der künec und sîne man« (Virginal, 723,5). Erst danach wird auf die Stellung der Frau innerhalb der Hierarchie verwiesen – häufig unter Betonung ihres eherechtlichen Status oder Alters: »des lachten ritter, megede, wîp« (Virginal, 206,1) oder »des erlachte aber sît / vil manic ritter unde maget« (Biterolf und Dietleib, v. 12622 f.). Die vrouwe selbst kann in speziell markierten Situationen aber auch die erste Position innerhalb der Aufzählung übernehmen: »des erlachten vrouwen und getwerc« (Virginal, 691,14). Lacht nur ein Teil der Anwesenden, werden kontextuell außergewöhnliche Situationen markiert, in denen das jeweilige Geschehen nur auf einen speziellen Ausschnitt der Gesellschaft komisch wirkt. Dieses Verfahren kann Daneben tritt eine kleine Gruppe lachender ›Individuen‹, deren Funktion innerhalb der Handlung durch ihre zum Teil nicht-menschliche Attribute definiert wird.
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auch umgekehrt werden, indem die Person, die eben nicht lacht, besonders gekennzeichnet wird: »der ain lachet laute, dem andern waz ninder so« (Ortnit, 104,2). Tendenziell werden dann eher Situationen gekennzeichnet, in denen Frauen lachen. Wird das Lachen als Reaktion einer undifferenzierten Menge markiert, setzen diese Gruppen sich zumeist aus männlichen Individuen zusammen; oft werden Situationen dargestellt, die in Kontexten von Krieg und Kampf verortet sind oder in denen die eigene Überlegenheit über das schwächere Gegenüber zum Ausdruck gebracht werden soll: »er sluoc in endelîchen tôt: / des lachten die herren alle gar« (Virginal, 878,12 f.). Werden Anlässe geschildert, die alle Anwesenden zum Lachen bringen, wird innerhalb der Darstellung das Prinzip der Hierarchie und der Unterscheidung zwischen Lachanlass bzw. Adressat aufrechterhalten. Fasst man die Ergebnisse zusammen, kann das Lachen innerhalb der Heldenepik als emotionales Handlungskonzept und gesellschaftliches Regulativ betrachtet werden, in dessen Spannungsfeld zwei unterschiedliche Arten des Lachens stehen: zum einen ›das höfische Lachen‹, zum anderen ›das intuitive Lachen‹. Tendenziell entspricht diese Zweiteilung ebenfalls einer festgestellten Geschlechtsspezifik, sodass weibliche Figuren eher ›höfisch‹, männliche Figuren (zumindest einzeln oder in weitgehend männlichen Gruppen) eher ›intuitiv‹ lachen. Das ›höfische Lachen‹ ist gesellschaftlich funktionalisiert und konventionalisiert, es ist zumeist Ausdruck höfischer Verhaltensweise und Bestandteil höfischer Interaktion. Es findet in der Öffentlichkeit statt, ist intentional an den jeweiligen Adressaten gebunden und begründet eine wechselseitige Beziehung zwischen Sender und Empfänger. Das ›intuitive Lachen‹ ist häufig Mittel von Konfliktbewältigung und Ausdruck von Aggressivität, um die eigene Überlegenheit zu zeigen oder sich ihrer selbst zu vergewissern. Es erfolgt impulsiv, ist nach außen gerichtet und wird keinerlei (moralischen) Wertung unterzogen. In Situationen des Kampfes oder Krieges ist es als Mittel zur Initiierung einseitig inszenierter gruppendynamischer Prozesse zu sehen.
III. Im Folgenden sollen die bedeutenden Abweichungen der sprachlichen Verwendung von (–)lachen in der Artusepik und der Heldenepik dargestellt werden. Nur selten steht lachen im Infinitiv mit beginen, »Fröhliche Wissenschaft«
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sodass dem spontanen Einsetzen des Lachens eine geringere Bedeutung zugemessen wird, auch die ursächliche Anbindung durch einfaches des o. ä. erfolgt nur sporadisch. Analysiert man die Lachanlässe auf inhaltlicher Ebene, ergibt sich ein zwar weniger blutrünstiges, aber der Heldenepik ähnliches Bild: Auch der Artusritter lacht nicht nur aus Höflichkeit z. B. beim angemessenen Empfang am Hof, sondern auch, um den Gegner im Kampf zu verhöhnen, zu verunsichern oder um sich selbst seines eigenen Überlebens zu vergewissern. Die Motive sind hier identisch, ihre Darstellung nur weniger bildhaft: »Garel lachen do began. Er sprach: ›du hast vermezzen dich, Daz du wellest toeten mich, So wil ich dir daz leben lan.‹« (Garel vom blühenden Tal, v. 18092–95) 59
Steht (–)lachen mit einem Vollverb in gleicher Satzgliedfunktion, findet sich neben häufig belegtem sprechen seltener singen, nîgen, ansehen, vrô sîn und weinen. Hier wird eine stärkere Einbindung des Lachens in das Handlungskonzept höfischen Verhaltens und Interagierens deutlich – anders als in der Heldenepik wird hier auch der Bereich der höfischen Kurzweil als Ausdruck der höfischen Gemeinschaft mit in den Konzeptbereich einbezogen, wie z. B. durch singen ausgeführt wird: »sie lachten unde sungen / sie wâren frô unde geil« (Daniel von dem blühenden Tal, v. 5288 f.). Steht das mit lachen kombinierte Verb nicht in der gleichen Satzgliedfunktion, findet eine Verschiebung der Perspektive statt: Durch die Verbindung von lachen mit sehen kommt es z. B. zur Betonung der sinnlichen Wahrnehmung und des körperlichen Aspektes des Lachens. Wird die Art, in der gelacht wird, z. B. durch Adverb bestimmt, wird hier seltener die Intensität spezifiziert. Etwas häufiger finden sich qualitative Zuschreibungen, wie vroelîche oder gerne: »Artus, der saeldenbaer, / vroeleich lachte und sprach« (Garel vom blühenden Tal, v. 18682 f.). Relativ häufig steht lachen im Partizip Präsens und im Partizip Präsens im adjektivischen Gebrauch. Es spezifiziert dann Handlungen, die innerhalb höfischer Konventionen situiert sind, wie z. B. den Bereich der Kommunikation und die der Affektkontrolle unterworfene Körperbeherrschung oder referiert auf den in der Artusepik bedeutenden Zusammenhang von lachen und munt. Die Kombination von lachen 59
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Garel von dem blühenden Tal von dem Pleier, hrsg. v. Wolfgang Herles. Wien 1981.
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im Partizip Präteritum mit einer Form von werden findet sich in der Artusepik häufig; sie markiert die Tatsache, dass über jemanden oder etwas gelacht wird, bei Negation wird eine Situation beschrieben, in der es unangemessen ist zu lachen. In allen Belegen ist die Bedeutung ›auslachen‹ anzusetzen – das Auslachen bzw. die Schadenfreude sind die Anlässe, die bei dieser Verwendungsweise Lachen provozieren. Dabei fällt auf, dass diesen Belegen eine Generalisierung des Subjektes gemein ist, um so ein nicht-gesellschaftskonformes Lachen zu beschreiben – alle lachen, aber das Lachen wird keinem einzelnen Individuum oder einer genauer spezifizierten Gruppe zugeordnet: »daz von in wart ir ligens vil gelachet« (Lohengrin, v. 2380). 60 Unter Zuhilfenahme des Stilmittels der Personifikation werden Zustände tiefer Emotionalität beschrieben, die das Individuum nicht ausdrücken kann. Diese Verwendung wird angenommen, wenn entweder eine tatsächliche Personifikation vorliegt und ein Abstraktum durch die Zuordnung der Tätigkeit des Lachens zu einem Handlungsträger wird oder wenn nicht die Person an sich, sondern nur ihr munt oder ihr herz im Sinne eines pars-pro-toto lacht. »er was ein krône und ein dach rehter rîterschefte, wand er mit sîner krefte und sîner manheit allez disse landes leit ze vreuden hât gemachtet, daz manic herze lachet dem der übel wurm Pfetân ofte leide hât getân an vriunden und an guote.« (Wigalois, vv. 5578–87)
In diesen Fällen kennzeichnet das Lachen die Reaktion auf Zustände emotionaler Erregung, in denen die Ambivalenz von positiven und negativen Gefühlen thematisiert werden kann. Bei der Beantwortung der Frage, wer in der Artusepik lacht, ergibt sich ein grundlegend anderes Bild als in der Heldenepik, obwohl auch hier die Männer wiederum mehr zu lachen haben als die Frauen. In der Artusepik werden die lachenden männlichen Figuren jedoch viel häufiger nur durch Personennamen bezeichnet. Die Darstellung ihrer Position innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie scheint in 60
Lohengrin. Edition und Untersuchungen hrsg. v. Thomas Cramer. München 1971.
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diesem Zusammenhang von sekundärer Relevanz zu sein. Bei der Bezeichnung der weiblichen Individuen wird nicht nur auf Attribute körperlicher Schönheit, sondern u. U. auch auf intellektuelle Fähigkeiten referiert: »Die wyß lachet unde sprach« (Meleranz, v. 1719). 61 Am deutlichsten fällt auf, dass in der Artusepik seltener und weniger spezifiziert in Gruppen gelacht wird. Lachen dient damit weniger der Konstituierung von Gesellschaft und Hierarchie durch Integration und Ausgrenzung als vielmehr der Stiftung von Identität durch Ausdruck individueller Emotionalität und Begründung bzw. Festigung interpersonaler Beziehungen in Gruppen sehr viel kleineren Umfangs. Zusammenfassend lässt sich hier sagen, dass die Darstellung des ›intuitiven‹ Lachens in der Artusepik seltener und weniger bildhaft erfolgt. Lachen ist damit kein expliziter Ausdruck von Geschlechtsspezifik, von positiver oder negativer Aggressivität und hierarchischer Gesellschaftsstruktur – es ist vielmehr Ausdruck von Individualität. Das Lachen in der Artusepik kann daher auch ›individuelles‹ Lachen sein, indem eine stärkere Betonung des Lachens als individueller und emotionaler Reaktion innerhalb zwischen-menschlicher und nicht nur gesellschaftlicher Beziehungen erfolgt. Es ist damit nicht nur Parameter des höfischen Protokolls, sondern auch der positiven Emotionen.
Fazit Das im stärkeren Maße für die Heldenepik herausgestellte ›intuitive‹ Lachen lässt sich im Spannungsfeld zwischen schwarzem Lachen, spontanem Lachen und Spottgelächter verorten, aber auch als nonverbaler Ausdruck des intellektuell nicht Fassbaren interpretieren. Es ist insofern als inklusives Lachen zu verstehen, als dass es der Konstituierung von höfischer Gesellschaft und der Gewährleistung ihres Fortbestandes dient – die dabei entstehenden Lachgemeinschaften ergeben sich in starker Abhängigkeit zu dem Anlass des Lachens und bestehen i. d. R. nur aus einem Ausschnitt der höfischen Gesellschaft. Darüber hinaus kann es einen implizit exklusiven Charakter haben: »Melerantz von Frankreich« – der Meleranz des Pleier. Nach der Karlsruher Handschrift. Edition – Untersuchungen – Stellenkommentar, hrsg. v. Markus Steffen. Berlin 2011.
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In der sprachlichen Umsetzung wurde dies durch die analysierten Aufzählungen und Mengenbezeichnungen deutlich, die eben nur auf einen Teil der Gesellschaft referieren. Explizit exklusiv wird das intuitive Lachen, wenn auch das nicht-lachende Subjekt bezeichnet wird oder das Lachen sich in Form des Spottgelächters auf das Leid oder die Verhöhnung eines Gegenübers gründet. Die gesellschaftsstiftende Funktion des intuitiven Lachens tritt in der Heldenepik stärker hervor als in der Artusepik; das ergibt sich speziell durch die Bezeichnung der lachenden Individuen, die sich in der Heldenepik stärker auf die Darstellung des Einzelnen in seiner Funktion für die Gesellschaft und eben nicht auf dessen Individualität bezieht. Intuitives Lachen ist nur in seltenen Fällen als Reaktion auf ein (sprachlich) komisches Ereignis zu bewerten. Die unterschiedlichen Arten des in beiden Textsorten belegten ›höfischen‹ Lachens können – nach Althoff – auch als Form des institutionalisierten Lachens gedeutet werden. Dabei wird hier von einem Einklang von Zeichen und Emotion ausgegangen, sodass das Lachen als Code höfischer Konventionen interpretiert werden kann. Höfisches Lachen dient der Konstituierung von Gesellschaft und der Verortung des Individuums in eben dieser Gesellschaft, sodass es in erster Linie als inklusives Lachen verstanden werden muss. Der im höfischen Lachen enthaltende exklusive Charakter – der sich durch den Ausschluss aller nicht-höfischen Figuren ergibt – hat hier eben nicht explizit die Funktion bzw. Intention der Abwehr und Denunziation. Das für die Artusepik herausgestellte ›individuelle‹ Lachen kann mit Haug als Ausdruck der reinen Lebensfreude und damit auf der Ebene der Handlung als intentionsloses Lachen gedeutet werden, dessen Funktion darauf beschränkt ist, dem Rezipienten als Interpretationshilfe zu dienen. Die vorliegende Studie hat versucht, exemplarisch zu verdeutlichen, inwiefern eine Analyse der sprachlichen Verwendung Aufschluss über die Formenvielfalt des Lachens in ausgewählten Texten des Mittelalters geben kann. Die dabei gefundenen Ergebnisse zeitigen sowohl eine textsortenspezifische Darstellung als auch Funktionalisierung auf sprachlicher Ebene, die ihre Entsprechung auf inhaltlicher Ebene findet.
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Nichts zu lachen? Komödie bei Gottsched* Nicola Kaminski
Der Name Gottsched klingt nicht so, als hätte er in einem Sammelband unter dem Titel »Fröhliche Wissenschaft – zur Genealogie des Lachens« etwas verloren. Wenn man den von Lessing entthronten Leipziger Literaturpapst Johann Christoph Gottsched schon mit Komödie in Zusammenhang bringt – und natürlich ist das in gattungsgeschichtlicher Perspektive ganz unvermeidlich –, dann ist die Rede von (ich zitiere Hugh Barr Nisbets 2008 erschienene Lessing-Biographie) »satirische[r] Figurenkomödie von meistens penetrant moralischem Zuschnitt«. »Deutsche Literaturhistoriker«, fährt Barr Nisbet fort, »haben ihr die Bezeichnung ›sächsische Typenkomödie‹ gegeben auf Grund der klischeehaften, wenn nicht gar karikierten Gestalten, die sie bestimmten.« 1 Diese nachträgliche Gattungs* Auf Wunsch der Autorin erscheint der Beitrag in der alten Rechtschreibung. 1 Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. München 2008, 69. Es kann nicht sinnvoll erscheinen, einen Forschungskonsens auch nur annähernd mit Anspruch auf Vollständigkeit zu dokumentieren. Beispielhaft sei zitiert die Charakterisierung ›der‹ »Komödie gottschedscher Prägung« (25) durch Christian Neuhuber: Das Lustspiel macht Ernst. Das Ernste in der deutschen Komödie auf dem Weg in die Moderne: von Gottsched bis Lenz. Berlin 2003, 24–32, hier 26: »Die von Gottsched inspirierte sächsische Komödie operiert mit einem Figureninventar, das in der (scheinbaren) Eindeutigkeit der Gesellschaft bei richtigem, d. h. vernünftigem Verhalten keine Identitätsprobleme kennt. Wer aus der Rolle fällt, kann aufgrund dieser obligat definierten Homogenität dem stabilen Normensystem lediglich (durch vernünftige Einsicht) wieder zugehörig gemacht oder folgerichtig von ihm ausgeschlossen werden. Eine differenziertere Auseinandersetzung mit abweichender Individualität ist hier noch nicht möglich. Denn das Regelwerk der vorgestellten Gesellschaft darf per definitionem keine Brüche aufweisen. Als krisensichere Basis gewährleistet es eine homogene Identität nur durch die Integration in das Idealbild; dieses ist jedoch im Anderssein des Protagonisten nur in Umrissen skizziert. Die Fiktionalität einer in sich konsistenten Gesellschaft, die nach den Gesetzen der Vernunft funktioniert und mit ihren Regelkodices reibungslose Intersubjektivität ermöglicht, kann freilich nur mit entsprechend verkürzten Charakteren in Szene gesetzt werden. Um ihre Funktionalität innerhalb dieses Rahmens zu sichern, müssen sie an das postulierte Regelsystem derart
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bezeichnung seitens einer Literaturgeschichtsschreibung, die Gottsched (immer noch) mit den Augen Lessings und Goethes ansieht, 2 scheint mir durchaus symptomatisch für eine Blickverengung, die die textuellen Phänomene ihrerseits von vornherein typisiert. Die ›sächsische Typenkomödie‹ scheint selbst ein standardisierter Typus, Komödie von der Stange gewissermaßen, bei dem genaueres Hinsehen nicht lohnt, die stellvertretende Kollektivbezeichnung bereits genügt. Entsprechend selektiv ist der Zugriff, nicht nur auf die dramatischen Exemplare der ›sächsischen Typenkomödie‹, sondern auch auf Gottscheds poetologische Konzeptualisierung von Komödie. Als Konzept wird das gar nicht erst wahrgenommen, eher schon als Rezept. Obwohl »Das eilfte Capitel. Von Comödien oder Lust-Spielen« im zweiten Teil von Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen 1730 immerhin gut siebzehn Seiten umfaßt, 3 in der »dritte[n] und vermehrte[n] Auflage« von 1742 sogar dreiund-
angepasst sein, dass jene Seiten, die zu einem ausgereifteren, wirklichkeitsnäheren Charakter führen würden, rigoros beschnitten sind. Nur Typen, restringiert auf Eindimensionalität, stellen ein einwandfreies Ergebnis des moralischen Exempels sicher. Durch diverse Eigenschaften gekennzeichnet, stehen sie beispielhaft für mögliche und ›unmögliche‹ Verhaltensweisen des Menschen im Alltagsleben und gewinnen ihr Profil durch die Nähe oder Entfernung zum Ideal der Norm. Liegt im normkonformen Verhalten deren Bestätigung, so in der Abweichung ihr komisches Potential, das dem Zuschauer zur Lehre dienen soll.« Symptomatisch auch die Reduktion auf »das ›System Gottsched‹« bei Gudrun Loster-Schneider: Louise Adelgunde Gottscheds ›Testament‹. Ein ›parodistisches‹ Vermächtnis zur Gottschedschen Komödienpoetik. In: Andreas Böhn (Hrsg.): Formzitate, Gattungsparodien, ironische Formverwendung: Gattungsformen jenseits von Gattungsgrenzen. St. Ingbert 1999, 59–83, hier 64–66, Zitat: 64. 2 Vgl. dazu Nicola Kaminski: Nachwort. In: Johann Christoph Gottsched: Die parisische Bluthochzeit König Heinrichs von Navarra, ein Trauerspiel. Mit Erläuterungen und einem Nachwort hrsg. v. Nicola Kaminski. Hannover 2011, 115–151. 3 Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen; Darinnen erstlich die allgemeinen Regeln der Poesie, hernach alle besondere Gattungen der Gedichte, abgehandelt und mit Exempeln erläutert werden: Uberall aber gezeiget wird Daß das innere Wesen der Poesie in einer Nachahmung der Natur bestehe. Anstatt einer Einleitung ist Horatii Dichtkunst in deutsche Verße übersetzt, und mit Anmerckungen erläutert von M. Joh. Christoph Gottsched. Leipzig 1730 Verlegts Bernhard Christoph Breitkopf, 585–603. »Fröhliche Wissenschaft«
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zwanzig Seiten, 4 reduziert man seine Komödienpoetik auf wenige normative Bestimmungen, 5 im wesentlichen die folgenden: 6 (1) »Die Comödie ist nichts anders, als eine Nachahmung einer lasterhaften Handlung, die durch ihr lächerliches Wesen den Zuschauer belustigen, aber auch zugleich erbauen kann« 7 – Definition der Verlachkomödie. (2) »Zu einer comischen Handlung nun kann man eben so wenig, als zur tragischen, einen ganzen Character eines Menschen nehmen, der sich in unzählichen Thaten äussert« 8 – Typen, keine Charaktere. (3) »Die Personen, so zur Comödie gehören, sind ordentliche Bürger, oder doch Leute von mäßigem Stande« 9 – Ständeklausel. (4) »Die ganze Fabel einer Comödie muß, ihrem Jnnhalte nach, die Einheit der Zeit und des Ortes, eben so wohl als die Tragödie, beobachten« 10 – die Einheiten.
Versuch einer Critischen Dichtkunst Durchgehends mit den Exempeln unsrer besten Dichter erläutert. Anstatt einer Einleitung ist Horazens Dichtkunst übersetzt, und mit Anmerkungen erläutert, von Johann Christoph Gottscheden, der Weltweish. u. Dichtk. öffentl. Lehrer zu Leipzig, Dritte und vermehrte Auflage, mit allergnädigster Freyheit. Leipzig 1742. Verlegts Bernhard Christoph Breitkopf, 729–751 (»Das XI. Capitel. Von Comödien oder Lustspielen«). 5 Beispielsweise in dem sozialgeschichtlich perspektivierten, durchaus auf Rehabilitierung Gottscheds zielenden Abriß von Horst Steinmetz: Das deutsche Drama von Gottsched bis Lessing. Ein historischer Überblick. Stuttgart 1987, 31–42. Oder, Gottsched immerhin des monographischen Formats würdigend, um so markanter darum aber in der äußersten Verknappung, bei P. M. Mitchell: Johann Christoph Gottsched (1700–1766). Harbinger of German Classicism. Columbia, SC 1995, 36. 6 Zugrundegelegt wird als zeitgenössisch aktueller Referenzhorizont für Gottscheds ab 1741 erscheinende Deutsche Schaubühne die zweite Auflage von 1737: Versuch einer Critischen Dichtkunst für die Deutschen; Darinnen erstlich die allgemeinen Regeln der Poesie, hernach alle besondere Gattungen der Gedichte, abgehandelt und mit Exempeln erläutert werden, Ueberall aber gezeiget wird: Daß das innere Wesen der Poesie in einer Nachahmung der Natur bestehe. Anstatt einer Einleitung ist Horatii Dichtkunst in deutsche Verse übersetzt, und mit Anmerkungen erläutert von Johann Christoph Gottscheden, Der Weltweish. und Dichtkunst öffentl. Lehrer zu Leipzig. Zweyte und verbesserte Auflage, mit allergnädigster Freyheit. Leipzig 1737. Verlegts Bernhard Christoph Breitkopf, 690–709 (»Das XI. Hauptstücke. Von Comödien oder Lustspielen«). 7 Ebd., 700. 8 Ebd., 701. 9 Ebd., 702. 10 Ebd., 703. 4
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(5) »Die Eintheilung derselben muß eben sowohl, wie oben in Trauerspielen, in fünf Aufzügen geschehen« 11 – formaler Aufbau. (6) »Von den Characteren in der Comödie ist weiter nichts besondres zu erinnern; als was bey der Tragödie schon vorgekommen. Man muß die Natur und Art der Menschen zu beobachten wissen, jedem Alter, jedem Stande, jedem Geschlechte, und jedem Volke solche Neigungen und Gemüthsarten geben, als wir von ihnen gewohnt sind« 12 – Wahrscheinlichkeit der typisierten dramatischen Charaktere. (7) »Von der Lustigkeit im Ausdrucke möchte mancher fragen, wie man dazu gelangen könne? Jch antworte, das Lächerliche der Comödien muß mehr aus den Sachen als Worten entstehen« 13 – Handlungskomik, nicht Wortkomik. Setzt man diese sieben Lehrsätze, die auf den letzten zehn Seiten des Kapitels entwickelt werden, nun zu einem, wie man glaubt, Gottscheds Komödienpoetik ausmachenden Regelwerk zusammen, so erhält man ein Sieb mit derart weiten Maschen, daß so gut wie jede der nach Gottscheds Vorgaben entstandenen und unter seiner Herausgeberschaft in die Deutsche Schaubühne aufgenommenen Komödien durchgeht. Ist das aber tatsächlich ein Beweis für die realexistierende ›sächsische Typenkomödie‹ ? 14 Dieser die Forschung unkontrovers bestimmenden Auffassung möchte ich entgegentreten, zum einen mit einer Akzentuierung der gattungsgeschichtlichen Darstellung in Gottscheds Komödienkapitel, zum andern mit exemplarischen Lektüren zweier Komödien aus der von ihm zwischen 1741 und 1745 herausgegebenen Deutschen Schaubühne. Gottscheds Komödienkapitel ist vom ersten Satz an, auch in den herauspräparierten sieben ›Lehrsätzen‹, unübersehbar auf das vorangegangene Kapitel zur Tragödie bezogen, und zwar weniger aufgrund struktureller Äquivalenzen unter kontrastivem Vorzeichen Ebd. Ebd., 705. 13 Ebd., 707. 14 Nach jahrelanger Beschäftigung mit Exemplaren der sogenannten sächsischen Typenkomödie, wobei jedes einzelne sich als Distanzierung, Problematisierung, ironische Brechung des Schemas ›der‹ Typenkomödie erwies und der Bestand potentieller Typenkomödien immer mehr zusammenschrumpfte, beschleicht mich der Verdacht, daß es sie in Wahrheit nicht gibt. Daß es sich vielmehr um ein germanistisches Konstrukt handelt, das als kontrastive Folie dient, um den je eigenen (zur positiven Norm erhobenen) Untersuchungsgegenstand, etwa die Komödien Johann Elias Schlegels oder des jungen Lessing, vorteilhaft dagegen abzuheben. 11 12
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oder um die moralisch fragwürdigere Komödie durch Verweis auf die seriösere Tragödie zu legitimieren, sondern weil gattungsgeschichtlich Tragödie und Komödie einen Ursprung hätten. 15 »Die Comödie ist, wenigstens dem Namen nach, jünger, als das Trauerspiel«, mit diesen Worten beginnt »Das XI. Hauptstücke«, »[d]enn in der That waren sie vor alters einerley; da man noch, dem Bachus zu Ehren, die schimpflichsten Lieder an Festtagen zu singen pflegte, und selbige Tragödien nannte.« 16 Sieht man sich durch diesen Auftakt veranlaßt, zurückzublättern zum Anfang des »X. Hauptstücke[s]«, so wird man auch dort am Ursprung keineswegs auf apollinisch-vernunftgeleitete Ordnung stoßen, sondern auf durch und durch Dionysisches: auf »verwirrtes Wesen ohne Verknüpfung und Ordnung«, 17 »Zoten«, 18 »Räuschchen« und »allerley Possen«. 19 Gottscheds Tragödienkapitel und Komödienkapitel vollbringen am Anfang jeweils ein gewaltiges Scheidungswerk, das aus dem unordentlich-zotigen Tragödienkomödiensumpf zunächst Vernünftig-Regelmäßiges von Dunkel-Possenhaftem sondert, um sodann in einem zweiten Scheidungsakt Tragödie und Komödie, die ursprünglich untrennbaren Gattungszwillinge, als Gattungsopposition zu reformulieren, ohne die Komödie erneut an den zotigen Sumpf zu verlieren. Daß diese Operation für die Komödie schwieriger ist als für die Tragödie, zumal hier die poetologische Autorität fehlt, liegt auf der Hand. Man kann sich darum fragen, warum Gottsched sich durch seine die Gattungsgrenze unterlaufenden Ursprungsgeschichten, 20 die durch die Tradition frühneuzeitlicher Poetik nicht gefordert waren, 21 überhaupt in dieses Dilemma Diese Dimension von Gottscheds Komödienkapitel untersucht, entgegen dem mainstream der Gottsched-Forschung, eingehend Christopher Wild: Geburt der Theaterreform aus dem Geist der Theaterfeindlichkeit: Der Fall Gottsched. In: Lessing Yearbook 34 (2002), 57–77, bes. 66–72, allerdings einseitig unter der Perspektive einer theaterfeindlich-entsinnlichenden Säuberung der Ursprünge. 16 Critische Dichtkunst 1737 (Anm. 6), 690. 17 Ebd., 667. 18 Ebd., 668. 19 Ebd., 666. 20 Wild (Anm. 15), 72, spricht von Gottscheds »phantasmatische[r] Geschichte der griechischen Tragödie«. 21 Allenfalls in Albrecht Christian Rotths 1688 erschienener umfassender Poetik wird Komödie als Wurzel von Komödie und Tragödie entworfen, allerdings ohne Konfliktpotential. Vgl. Kürtzliche / Doch deutliche und richtige Einleitung zu den Eigentlich so benahmten Poetischen Gedichten / i. e. Zu den Feld- und Hirten-Gedichten / zu den Satyren / zu den Comödien und Tragödien / wie auch zu den Helden- und LiebesGedichten / Dabey Theils deren Ursprung / theils ihr Wachsthum und Beschaffen15
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bringt. Akribisches Bemühen um Vollständigkeit möchte man bei so einem wie Gottsched zunächst vermuten. Doch spricht gegen solch eine eher äußerliche Motivation, daß auch in der weiteren geschichtlichen Darstellung des Komödienkapitels die Gefährdung der Gattung durch den Zoten- und Possensumpf stets gegenwärtig bleibt: Nachdem bei den Griechen sich die »Ueberbleibsel der alten unflätigen Tragödien« allmählich verloren hätten und auch im Bereich der Komödie »ordentlichere Stücke« die Regel geworden seien, 22 brächen schon bei Plautus wieder »viel garstige Zoten und niederträchtige Fratzen« 23 durch ebenso wie »[i]n neuern Zeiten« bei den Italienern, deren Poeten »unendlich viel abgeschmackte Narrenpossen« in »[i]hre beste[n] Comödien« gebracht hätten, vor allem aber deren Personifikation in Gestalt der lustigen Figur, »Harlekin und Scaramutz«, der »ewigen Hauptpersonen ihrer Schaubühne«; 24 selbst der von Gottsched eigentlich als ›regelmäßig‹ gepriesene Molière habe es, »dem Pöbel zu gefallen«, nicht lassen können, »die italienischen Narrenpossen nachzuahmen«. 25 Dagegen, insbesondere gegen die lustige Figur, 26 errichtet Gottsched, Satz für Satz, sein poetologisches Reglement: Nachahmung einer Handlung, die »lasterhaft« und »lächerlich« ist (nicht nur lächerlich wie der Harlekin, dessen Komik moralisch nicht verrechenbar ist), 27 ausgeführt von »ordentliche[n] heit / theils wie sie noch itzo müssen eingerichtet werden / vorgestellet wird / Der studirenden Jugend zum besten entworffen von M. Albrecht Christian Rotthen / des Gymnasii zu Halle in Sachsen ConR. Leipzig / in Verlegung Friedrich Lanckischen Erben / Anno 1688, 75–77 (»Cap. IV. Von den Comödien. Tit. I. Von den Nahmen und der Natur der Comödien insgemein«), wo sich die Gattungsdifferenzierung im Transfer des ursprünglichen »Dorff-Lied[es]« (75) »in die Stadt« (76) vollzieht: »Und das ist nach der Zeit in zwey unterschiedliche Gedichte getheilet worden / deren das eine den alten Nahmen κωμωδία behalten / das andere aber τραγωδία genant worden« (77). 22 Critische Dichtkunst 1737 (Anm. 6), 690 und 691. 23 Ebd., 693. 24 Ebd., 694 und 695. 25 Ebd., 698. 26 Vgl. dazu Horst Steinmetz: Der Harlekin. Seine Rolle in der deutschen Komödientheorie und -dichtung des 18. Jahrhunderts. In: Neophilologus 50 (1966), 95–106, der freilich darauf aufmerksam macht, daß der von Gottsched vertriebene Harlekin – die »komische[] Figur aus den Haupt- und Staatsaktionen«, der »sich in der Regel burleskplumper und zweideutiger komischer Mittel bedienende[] Pickelhering[] und Hanswurst[]« (96) – nicht zu verwechseln ist mit dem Harlekin der commedia dell’arte. 27 Critische Dichtkunst 1737 (Anm. 6), 700. Vgl. ebd.: »Es ist also wohl zu merken, »Fröhliche Wissenschaft«
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Bürger[n]« 28 mit wahrscheinlichem Charakter (der Harlekin läßt sich ständisch nicht verorten, und der Natur abgeschaut ist sein Charakter auch nicht), in fünf Akten unter Einhaltung der Einheit von Zeit, Ort, Handlung (Element des Harlekins ist das die Haupthandlung unterbrechende Zwischenspiel), basierend auf Handlungskomik (nicht wie beim Harlekin auf Wortwitz oder körperkomischen Slapstickeinlagen). Gottscheds Komödienkonzept zielt so auf die Ausschließung von Komik um ihrer selbst willen, zweckfreier, asozialer, körperlicher, anarchischer Komik – und dennoch ist gerade dies Ausgeschlossene in seiner Critischen Dichtkunst verbal durchweg präsent, wie ein verbotenes Genußmittel, das markiert, wie sehr Komödie bei Gottsched von Mal zu Mal auf dem Spiel steht. Sollte Gottscheds Komödienkonzept doch komplexer sein, als das Phantombild der schwarzweißmalenden ›sächsischen Typenkomödie‹ erwarten läßt? Der Verdacht erhärtet sich, wenn man die von ihm zwischen 1741 und 1745 herausgegebene Deutsche Schaubühne näher in Augenschein nimmt, die schon äußerlich, mit Blick auf die Erscheinungschronologie, jeder Erwartung von ›Regelmäßigkeit‹ zuwiderläuft: Zuerst erscheint 1741 der »Zweyte[] Theil«, 29 es folgt noch im selben Jahr der »Dritte[] Theil«, 30 bis 1742 »endlich auch der erste Theil« herauskommt; 31 daß das Methode hat, zeigt die ab 1746 herausgebrachte zweite Auflage der Deutschen Schaubühne, erneut in der ›unordentlichen‹ Folge »Zweyter Theil«, »Dritter Theil«, »Erster Theil«. 32 Die Probe aufs Exempel kann freilich nur die Lektüre der daß weder das Lasterhafte noch das Lächerliche für sich allein in die Comödie gehöret; sondern beydes zusammen, wenn es in einer Handlung verbunden angetroffen wird. Vieles läuft wieder die Tugend, ist aber mehr strafbar und wiederlich, oder gar abscheulich, als lächerlich. Vieles ist auch lächerlich; wie zum Exempel, die Harlekinspossen der Jtaliener: Aber darum ist es doch nicht lasterhaft.« 28 Ebd., 702. 29 Die Deutsche Schaubühne nach den Regeln der alten Griechen und Römer eingerichtet, und mit einer Vorrede herausgegeben von J. C. Gottscheden. Zweyter Theil. Leipzig, bey Bernhard Christoph Breitkopf, 1741. 30 Die Deutsche Schaubühne nach den Regeln der alten Griechen und Römer eingerichtet, und mit einer Vorrede herausgegeben von J. C. Gottscheden. Dritter Theil. Leipzig, bey Bernhard Christoph Breitkopf, 1741. 31 So in der Vorrede an den »Geneigte[n] Leser«. Die Deutsche Schaubühne nach den Regeln und Exempeln der Alten. Erster Theil, nebst einer Vorrede, und des Erzbischofs von Fenelon Gedanken von der Tragödie und Comödie ans Licht gestellet von Joh. Christoph Gottscheden Prof. der Weltw. und Dichtk. zu Leipz. Leipzig, gedruckt bey Bernhard Christoph Breitkopf, 1742, 5. 32 Die Erscheinungsreihenfolge legen – bei auf dem Titelblatt identischem Erschei-
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Schaubühnen-Komödien selbst liefern: eine Lektüre, die den Texten – wie ihrem Herausgeber – in Hinsicht auf das Komische konzeptuelles Potential zutraut. In diesem emphatischen Sinn gelesen werden sollen im folgenden zwei der dort gedruckten neunzehn Komödien, eine aus dem zuerst erschienenen »Zweyte[n] Theil« von 1741, der ebenso wie der »Dritte[]« und der »Erste[] Theil« mangels »deutsche[r] Originalstücke« 33 Übersetzungen aus dem Französischen, Englischen und Dänischen bringt, und eine aus dem »Sechste[n] und letzte[n] Theil« von 1745, der, so kann man Gottscheds Vorredenpolitik entnehmen, bereits eine florierende deutsche Dramenproduktion dokumentiert. 34 Exemplarisch gelesen werden sollen, so die von mir vor-
nungsjahr 1746 – die Vorredendatierungen offen: Die Deutsche Schaubühne nach den Regeln der alten Griechen und Römer eingerichtet, und mit einer Vorrede herausgegeben von J. C. Gottscheden. Zweyter Theil. Neue verbesserte Auflage. Leipzig, bey Bernhard Christoph Breitkopf, 1746 (»Leipzig, den 24 Decembr. 1745«, a 5v); Die Deutsche Schaubühne nach den Regeln der alten Griechen und Römer eingerichtet, und mit einer Vorrede herausgegeben von J. C. Gottscheden. Dritter Theil. Neue verbesserte Auflage. Leipzig, bey Bernhard Christoph Breitkopf. 1746 (»Leipzig, den 28 Sept. 1746«, a 5v); Die Deutsche Schaubühne, nach den Regeln und Exempeln der Alten. Erster Theil, nebst des vortrefflichen Erzbischofs von Fenelon Gedanken, von der Tragödie und Comödie überhaupt, ans Licht gestellet von Joh. Christoph Gottscheden. Prof. der Weltw. und Dichtk. zu Leipzig. Neue verbesserte Auflage. Leipzig, bey Bernhard Christoph Breitkopf, 1746 (»Geschrieben an der Neujahrsmesse 1747«, 14). 33 Diese programmatische Wendung zeigt zu Beginn der »Vorrede« des vierten Bandes den als Zäsur inszenierten Übergang von übersetzten zu »ursprünglich deutsche[n] Schauspiele[n]« an. Die Deutsche Schaubühne, nach den Regeln und Mustern der Alten, Vierter Theil, darinn sechs neue deutsche Stücke enthalten sind, Nebst einer Fortsetzung des Verzeichnisses deutscher Schauspiele, ans Licht gestellet von Joh. Christoph Gottscheden. Leipzig 1743. Verlegts Bernhard Christoph Breitkopf, 3. 34 Der Deutschen Schaubühne, nach den Regeln und Mustern der Alten, Sechster und letzter Theil, darinnen sechs neue Stücke enthalten sind, ans Licht gestellet von Johann Christoph Gottscheden. Leipzig 1745. Verlegts Bernhard Christoph Breitkopf. Gottsched beschließt die »Vorrede« zu diesem Band mit einer zufriedenen Bilanz (**2v): »Und also schließe ich nun diese ganze Sammlung deutscher Schauspiele und überlasse es geschickten Dichtern, unserm Vaterlande künftig noch was bessers zu liefern. Jch bin zufrieden, daß ich die Möglichkeit gewiesen, theils die Schönheiten fremder Bühnen in unsrer Sprache darzustellen; theils durch deutsche Originalstücke solchen Mustern zu folgen. Jch bin auch desto sicherer, daß ich diesen Zweck erreichet, je weniger Antheil ich selbst daran habe. Denn von acht und dreyßig Stücken, die darinn vorkommen, gehören mir selbst nicht mehr als sechse: alle übrige habe ich andern guten Köpfen und geschickten Federn zu danken. Es fehlt also unserm Vaterlande an solchen Geistern nicht, welche auch auf der Schaubühne seine Ehre gegen den Stolz unsrer Nachbarn behaupten können.« »Fröhliche Wissenschaft«
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geschlagene Versuchsanordnung, Jean de France oder Der deutsche Franzose von Ludvig Holberg (im dänischen Original 1722) 35 und Das Testament der Gottschedin, 36 und zwar mit besonderem Augenmerk auf der von Gottsched aus der Komödie verbannten lustigen Figur, dem Harlekin. Das den zuerst erschienenen »Zweyte[n] Theil« der Deutschen Schaubühne beschließende Lustspiel Jean de France oder Der deutsche Franzose läßt sich regelrecht als szenische Reflexion des performativen Widerspruchs zwischen Ausschließung und Vergegenwärtigung der ausgeschlossenen Harlekinskomik lesen. Daß der Titelheld im Zentrum einer nach ihm benannten Komödie steht – wer wollte das verwunderlich finden? Und doch dürfte Jean de France, laut Personenverzeichnis Sohn eines Bürgers mit dem deutschen Namen Franz, strenggenommen auf Gottscheds reformierter Komödienbühne nicht Fuß fassen. Denn nicht erst sein Auftritt in eigener Person in der dritten Szene des Stücks weist ihn unverkennbar als lustige Figur aus, der mit moralischem Maßstab nicht beizukommen ist – im Dreiertakt »La la la la la la« singend betritt er den Plan, 37 deutsch-französisch radebrechend sucht er seinen deutschen Schwiegervater in spe zu französieren, drei Szenen weiter läßt er mehr schlecht als recht seine Eltern ein Menuett singen und tanzen. Schon die indirekte Exposition durch den Hausknecht Hans – der seinerseits einiges Talent zur lustigen Figur hat und mit Hans Franz (so der bürgerliche Name des Jean de France 38 ) den Namen teilt –, schon diese indirekte Exposition in der zweiten Szene identifiziert die Titelfigur bemerkenswert treffsicher. Der Hausknecht Hans vermeldet seinem im Gespräch mit dem Nachbarn begriffenen Herrn nämlich die Rückkehr des »junge[n] Herr[n]« aus Paris und beschreibt ihn, nachdem er sich in komischem Nicht- und Falschverstehen von dessen Fragen nach »mon pere« und Jean de France oder Der deutsche Franzose. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen. Aus dem Dänischen des Herrn Professor Hollbergs übersetzt von M. George August Detharding. In: Deutsche Schaubühne, Zweyter Theil (Anm. 29), 427–503. Zum Original und dessen Datierung vgl. die »Stichworte zu den Dramen der Deutschen Schaubühne, ihren Verfassern und Übersetzern« von Horst Steinmetz in Johann Christoph Gottsched: Die Deutsche Schaubühne. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1741– 1745 mit einem Nachwort von Horst Steinmetz. Stuttgart 1972, Sechster Teil, 23*– 29*, hier 26*. 36 Das Testament, ein deutsches Lustspiel in fünf Aufzügen. In: Deutsche Schaubühne, Sechster Theil (Anm. 34), 81–204. 37 Jean de France (Anm. 35), 437. 38 Vgl. ebd., 438. 35
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»mon tres chaire mere« ein wenig lächerlich gemacht hat, 39 auf Herrn Franz’ Fragen »Wie sieht er aus? Wie ist er gekleidet?« folgendermaßen: »Wunderlich genug. Jch weis nicht, ob sie jemals den Scherwenzel 40 gesehen haben: recht so sieht er aus. Er geht in einem rothen Schlafrocke, und hat einen Huth auf, der noch sechsmal so breit ist, als meiner; und welcher eben eine solche Figur hat, als derjenige, den der Harlekin trug, wie sie letztens hingegangen waren, die Comödie vom starken Manne spielen zu sehen.« 41 Jean de France Vgl. ebd., 435 f., letzteres vom Diener verballhornt zu »er […] fragte weiter nach seiner drey scher Mere«. 40 Gemeint ist »in einem noch auf dem Lande« – so schreibt Adelung 1798 zu diesem »in allen Wörterbüchern übergangenen, obgleich sehr bekannten Worte[]« – »in Deutschland, Pohlen, Schlesien, Böhmen u. s. f. üblichen Kartenspiele, der Untere in allen Farben«. Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, von Johann Christoph Adelung, Churfürstl. Sächs. Hofrathe und Ober-Bibliothekar. Dritter Theil, von M–Scr. Mit Röm. Kais. auch K. K. u. Erzh. Österr. gnädigsten Privilegio über gesammte Erblande. Zweyte vermehrte und verbesserte Ausgabe. Leipzig, bey Breitkopf und Härtel. 1798, 1427 s. v. ›Der Schêrwênzel‹. 41 Jean de France (Anm. 35), 436. Was den Eindruck einer für den zeitgenössischen Rezipienten unmittelbar sich erschließenden Referenz macht, ist – zumindest über Gottscheds umfassendes »Verzeichniß aller Theatralischen Gedichte, so in deutscher Sprache herausgekommen«, das er im Anschluß an die »Vorrede« zum »Zweyte[n] Theil« der Deutschen Schaubühne (Anm. 29), 43–72, abdruckt und in drei »Nachlese[n]« in den (numerisch) folgenden drei Teilen fortsetzt (»Dritter Theil« [Anm. 30], XVII-XXXII; »Vierter Theil« [Anm. 33], 29–48; Die Deutsche Schaubühne, nach den Regeln und Mustern der Alten, Fünfter Theil, darinn sechs neue deutsche Stücke enthalten sind, Nebst einer Fortsetzung des Verzeichnisses deutscher Schauspiele, ans Licht gestellet von Joh. Christoph Gottscheden. Leipzig 1744. Verlegts Bernhard Christoph Breitkopf, 21–34) – unter dem Titel »Comödie vom starken Manne« (oder einer ähnlichen Formulierung) nicht nachweisbar. Das ist insofern nicht verwunderlich, als diese Referenz bereits in der Vorlage, Holbergs Jean de France Eller Hans Frandsen Comœdie Forestilled Paa Den Danske Skueplads 1722, begegnet. COMOEDIER Sammenskrevne for Den nye oprettede Danske Skue-Plads Ved Hans Mickelsen Borger og Jndvaaner i Callundborg. Med Just Justesens Fortale Første Tome. Tryckt Aar. 1723, H 5r–M 2v, hier H 10r: »hand er ligesaa breed som den / Hans Wurst havde / da Hosbond var sidst og saae paa den stercke Mand.« Vgl. den Kommentar in: Ludvig Holberg. Værker i tolv Bind. Digteren. Historikeren. Juristen. Vismanden. Udgivet med Indledninger og Kommentarer af F. J. Billeskov Jansen. Billedredaktion og Billedtekst ved F. J. Billeskov Jansen og Volmer Rosenkilde. Bd. III. o. O. 1969, 153: »den sterke Mand, en kendt tysk Artist, der i 1722 havde givet Forestillinger i København.« Nicht auszuschließen ist allerdings, daß die vermeintliche Titelreferenz, die für das deutsche Publikum als solche ins Leere geht (auch das wäre nicht kontraproduktiv, denn konstitutiv für die über den Harlekin aufgerufene Theatertradition ist fehlende schriftliche Fixierung), auch in der Übersetzung als Referenz 39
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respektive Hans Franz wird also in der Lustspielwirklichkeit als Komödienfigur wahrgenommen, und zwar im Rahmen eines Komödienrepertoires, eines Figurenarsenals, wie die Gottschedsche Dichtungsreform es nicht mehr auf dem Theater sehen möchte: Wandertruppenaufführungen mit Harlekin-Zwischenspielen. Und diese Wahrnehmung hat offenbar international Gültigkeit, denn auch Pierre, der aus Paris mitgebrachte Diener des Jean de France, bestätigt sie: »Und sie Monsieur reden wie un fou, une bête, ein Narr, un boufon«, bietet er seinem Herrn im dritten Akt Paroli, »als wenn sie dans un Tollhaus, oder à l’un Theatre gebohren wären.« 42 Ja, am Ende des Lustspiels, als Jean de France sich in seiner Vaterstadt unmöglich gemacht hat und ihm der Boden unter den Füßen brennt, eröffnet Pierre mit der Wiedergabe von bösen Nachreden Dritter über Jean de France dessen förmliche Austreibung aus der fiktiven Wirklichkeit: »Einige nennen sie, Monsieur, Hans Basemains, weil sie allenthalben herum gehen, und den Frauenspersonen die Hände küssen. […] Einige sind gröber, und nennen sie Hans Wurst, Hans Narr, Hans Affe, Hans Gauckler, Hans Strümpf-Besichtiger, Hans Markschreyer, Hans Rumpfwackler, Hans Stelzenmann, Hans Capriolenschneider, Hans – – –«. An dieser Stelle versucht Jean de France ein erstes Mal, vergeblich, die Tirade zu stoppen. »Hans Petit-Maitre, Hans Tänzer, Hans Deutschverderber, Hans – – –«. Zweiter vergeblicher Unterbrechungsversuch. »Hans Spieler, Hans Pflastertreter, Hans Harlekin, Hans Hase, Jean-potage – –«. 43 Erneute Unterbrechung, nun erfolgreich, doch sind die entscheidenden Titulaturen bereits gefallen: Hans auf eine Person zu denotieren ist: auf Johann Carl (von) Eckenberg (1685–1748), den »letzte[n] Repräsentant[en] der Haupt- und Staats-Aktion, so wie der niedrigen Possenreißerei«, der als der »starke Mann« auftrat. L. Schneider: Johann Carl von Ekkenberg, der starke Mann. Eine Studie zur Theater-Geschichte Berlins. In: Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1848. Begründet von L. Wolff; fortgesetzt von A. Heinrich, Souffleur des Königlichen Theaters. Zwölfter Jahrgang. Berlin, den 1. Januar 1848. Jm Selbstverlage des Herausgebers, 125–169, hier 125. Vage biographische Hinweise auf Verbindungen nach Dänemark für die Zeit vor 1731 (vgl. 127 und 132) lassen sogar die Vermutung zu, daß Holberg und sein deutscher Übersetzer sich trotz der zeitlichen Differenz auf ein und denselben Darsteller beziehen. Der »starke Mann« begegnet 1742 auch in Briefen an Gottsched, vgl. Johann Christoph Gottsched. Briefwechsel unter Einschluß des Briefwechsels von Luise Adelgunde Victorie Gottsched. Bd. 8: November 1741–Oktober 1742. Hrsg. und bearbeitet von Detlef Döring, Franziska Menzel, Rüdiger Otto und Michael Schlott. Berlin/Boston 2014, 111 und 461. 42 Jean de France (Anm. 35), 460. 43 Ebd., 490 f.
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Wurst, Hans Harlekin, Jean potage, allesamt Namen der lustigen Figur in deutscher, italienischer und französischer, letztlich jedoch internationaler Tradition des Stegreiftheaters. 44 Jean de France wird weniger als Sohn des Bürgers Franz ausgetrieben denn als Theaterfigur, die man in der fiktiven Wirklichkeit aus eigener Anschauung kennt. Daß die Lustspielhandlung in Gottscheds Deutscher Schaubühne dafür sorgt, daß eine solche Figur die fiktive Wirklichkeit und also auch die Komödienbühne räumen muß, und zwar auf immer (»Jch komme niemals wieder zurücke«, versichert Jean de France in seinem Abschiedsbrief 45 ), erscheint poetologisch folgerichtig. Die Austreibung des Harlekins als programmatischer poetologischer Akt wird in diesem Horizont selbst zur Komödie. Allerdings gewissermaßen zur letzten ihrer Art. Ist der Harlekin samt der ihm eigenen Sprach- und Körperkomik einmal ausgetrieben, steht er als Titelheld nachfolgender Lustspiele nicht mehr zur Verfügung. Das aus dem Dänischen übersetzte Lustspiel Jean de France oder Der deutsche Franzose in letzter Position des zuerst erschienenen »Zweyte[n] Theil[s]« der Deutschen Schaubühne präsentiert sich solcherart nicht als traditionsbegründend und zur Nachfolge einladend, sondern markiert drastisch das Ende einer Tradition. 46 Jean de France oder Der deutsche Franzose setzt nicht nur die Austreibung der Titelfigur in Szene, sondern treibt sich poetologisch als Komödie aus Gottscheds Deutscher Schaubühne, in der er sich gleichwohl befindet, selbst aus. Wie aber kommt es dazu? Die handlungsentscheidende Wende wird von zwei Dienerfiguren herbeigeführt, Martha und Peter, die in einer Spiel-im-Spiel-Inszenierung Jean de France »noch französischer und närrischer […] machen, als er schon war«, 47 wodurch er zunächst den Schwiegervater gegen sich aufbringt, dann den Vater, dann einen Gläubiger und schließlich mittels »Gefängniß« und 44 Vgl. dazu Walter Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie. Commedia dell’arte und Théâtre italien. Stuttgart 1965, bes. 80–86 (»Die komische Figur«). 45 Jean de France (Anm. 35), 501. 46 Die Annahme von Hinck (Anm. 44), 199, »[m]it welcher Stärke die Commedia dell’arte und Molière auf die dänische Komödie Holbergs eingewirkt haben, kann dem Herausgeber der ›Deutschen Schaubühne‹ nicht bewußt gewesen sein« (andernfalls hätte er »Holberg […] wohl kaum in so nachdrücklicher Weise empfohlen«), erscheint mir angesichts der pointierten Positionierung am Ende des Eröffnungsbandes wenig überzeugend. 47 Jean de France (Anm. 35), 499.
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»Zuchthaus[]« gesellschaftlich exkommuniziert werden soll. 48 Spiel im Spiel ist dabei nicht bloß – metaphorisch – meine Beschreibungskategorie. Vielmehr bezeichnet Martha die unter ihrer Regie sich entfaltende Intrige ganz explizit als Komödie, und zwar gleichsam mit gattungsgeschichtlichem Marker: »Ey du dummer Mensch! das ist sehr altväterisch«, mokiert sie sich in der ersten heimlichen Beratung, wie man den jungen Liebenden helfen könne, deren Liebesglück durch die Versprechung Elisabeths an Jean de France zu Bruch zu gehen droht, über Peters Vorschlag, »dem alten Hieronymus«, Vater der Braut, »eine Summe Geldes wegzumausen« (offenbar, um die Braut finanziell unattraktiv zu machen). »Das hast du aus einer alten Comödie gestohlen«, lautet ihr vernichtendes Urteil. 49 Eine Einschätzung, die sie noch einmal wiederholt, als sie den Liebenden ihren besseren Plan eröffnet: »Er ging und speculirte eine halbe Stunde, wie auf eine Predigt: und endlich kam er mit einer alten verschimmelten Erfindung zum Vorscheine, wovon alle Comödien voll sind.« 50 Ihr eigener »Anschlag«, so die Implikation, versteht sich demgegenüber nicht als ›alte verschimmelte‹, sondern als zeitgemäße Komödie: »Sie wissen daß der junge Franz von dem, was französisch läßt, so sehr eingenommen ist, daß, wenn es auf parisisch wäre, am hellen Tage ohne Beinkleider zu gehen, so thäte er es auch. Nun ist es ihnen bekannt, daß ich bey einem französischen Koche drey Jahre in Diensten gewesen, und in der Zeit so viel französisch gelernet habe, als zum täglichen Gebrauche nöthig ist. Jch will mich für eine französische Dame ausgeben, die neulich von Paris angekommen, und in Herrn Franz verliebt ist. Was weiter daraus werden wird, mag die Zeit lehren. Lassen sie mich nur sorgen: Peter soll mein Kammerdiener seyn.« 51
Martha will also mit Jean de France Komödie spielen, wie sie einen guten Akt später, als das Spiel schon im Gange ist und die jungen Liebenden sich nach dem Erfolg erkundigen, denn auch ausdrücklich erklärt. Auf Antonius’ Frage »Nun wie gehts, meine liebe Martha?« erwidert sie: »Recht gut, aber sie kommen zu ungelegener Zeit. Denn ich habe den jungen Franz her beschieden. Er ist sterblich verliebt in mich, ob er mich gleich niemals gesehen hat. Denken sie doch, wie 48 49 50 51
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närrisch er ist? Jch habe ihn überredet, einen alten Holzschnitt, um den Hals zu tragen, den ich aus einem alten Buche geschnitten, und auf ein hölzern Brett geklebt habe.« 52 Darauf Elisabeth: »Aber wie ist es doch möglich, daß man ihn zu einer solchen Tollheit bereden kann?« Martha: »Nunmehr ist mir alles möglich, denn er glaubt, daß ich eine französische Dame sey, und neulich von Paris angekommen bin.« Antonius: »Aber was gewinnen wir dabey, daß wir ihn so beschimpfen? 53 « Martha: »Dieses, daß sein künftiger Schwiegervater seine Tochter eher einem Schorsteinfeger 54 als ihm geben wird. Wie es aber mit ihnen ablaufen wird, mein Herr Antonius, das weis ich noch nicht. Es geht mir, wie denen, die Comödien schreiben: wenn sie eine verfertigen, so fällt es ihnen von selbst ein, wie sie sie ausführen und endigen sollen.« 55 Die selbsternannte ›Komödienschreiberin‹ Martha, so wird deutlich, treibt zwar – im Einklang mit Gottscheds Critischer Dichtkunst – den Harlekin Jean de France aus. Doch gelingt ihr dies mittels einer »Comödie[]«, die gleich in doppelter Hinsicht ganz und gar nicht nach Gottschedschen Vorgaben funktioniert: (1) In ihrem Zentrum steht ein Harlekin, der zu noch harlekineskerem Verhalten provoziert wird, statt daß es etwa um seine Besserung und Resozialisierung ginge (im Gegenteil: »lassen sie ihn nur rasen, […] [e]s wäre die allerunglückseligste Zeitung für mich, wenn ich hörte, daß er sich besserte«, erklärt Antonius geradezu 56 ). (2) Eine vorab feststehende und in ihrer dramatischen Entwicklung fixierte Komödienhandlung gibt es nicht, vielmehr legt Martha nur die Figurenkonstellation fest und vertraut dann – wie im Stegreiftheater – auf Improvisation und glücklichen Zufall. 57 Die Sympathieträgerin und Perspektivfigur Martha verkörpert als Prinzipalin einer Harlekinade und Agentin Gottschedscher Ebd., 472. Das fehlende Fragezeichen (im Original endet die Replik ohne jedes Satzzeichen) wurde ergänzt. 54 ›Schorstein‹ für ›Schornstein‹ ist im gesamten 18. Jahrhundert noch die übliche Form. Vgl. zeitnah Grosses vollständiges UNJVERSAL LEXJCON Aller Wissenschafften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. […] Neunter Band, F. Halle und Leipzig, Verlegts Johann Heinrich Zedler, Anno 1735, 760–762 s. v. ›Feuer-Mauer oder Feuer-Esse, Schorstein‹. 55 Jean de France (Anm. 35), 473. 56 Ebd., 456. 57 »In der Textualisierung und hierauf aufbauend der Literarisierung des Theaters«, somit der »Unterwerfung des Theaters unter den Text«, erkennt Bernhard Greiner: Die Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretationen. Tü52 53
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Harlekinaustreibung in Personalunion 58 exakt jenen in der Critischen Dichtkunst beobachtbaren performativen Widerspruch der Einschließung des Ausgeschlossenen. Ein Widerspruch, der für die nachfolgenden Komödien der Deutschen Schaubühne nach Auflösung verlangt, nach Ausräumung solcher Komik um ihrer selbst willen, wie Marthas Inszenierung eines noch gesteigerten ›Jean de France‹ sie produziert. Zum Glück für das lachwillige Publikum sieht die dramatische Wirklichkeit der Deutschen Schaubühne (ungeachtet ihres miserablen Rufs) jedoch anders aus: komplexer. Das soll abschließend, mit tendenziell exemplarischem Anspruch (im Wissen, daß die Textbasis dafür zu schmal ist), am ersten Lustspiel des »Sechste[n] und letzte[n] Theil[s]« der Deutschen Schaubühne zur Diskussion gestellt werden. Aus mindestens zwei Gründen erscheint es plausibel, für Das Testament besondere Nähe zum Komödienkonzept des Schaubühnen-Herausgebers Gottsched zu postulieren: zum einen ist es im Wortsinn unter seinem Dach entstanden, stammt aus der Feder seiner übersetzend und als Autorin maßgeblich an der Deutschen Schaubühne beteiligten Frau Luise Adelgunde Victorie Gottsched; zum andern erhebt Gottscheds Vorrede zum »Sechste[n] Theil« dieses Lustspiel unter Berufung auf Horaz und Destouches fast schon in den Rang eines kaum zu erreichenden Musters, während es gegen Molière, mit seiner »Bande« herumziehender »gemeiner Comödianten« Inbegriff des die Komödie latent bedrohenden Zoten- und Possensumpfs, klar abgegrenzt wird. 59 Der Handlungsgrundriß scheint denn auch mustergültig: Im Zentrum steht die vielleicht schwer, vielleicht auch nicht so schwer oder gar nicht kranke, in jedem Fall aber »wunbingen und Basel 2 2006 (zuerst 1992), 130 f., demgegenüber den »Fluchtpunkt« von »Gottscheds Reformarbeit«. 58 Inwieweit hier von Gottscheds Seite ein ironischer Reflex auf Friederica Carolina Neuber, die sogenannte Neuberin, die 1737 unter Gottscheds Ägide »eine legendäre und zugleich eine der umstrittensten Bühnenaktionen«, die »›Harlekin-Verbannung‹«, federführend in Szene gesetzt haben soll, intendiert ist, bleibt offen. Nicht unbeträchtliches Ironiepotential entspränge dann dem pointierten Kontrast, denn die Neuberin war seit der Gründung ihrer Schauspieltruppe 1727 von Anfang an – und durchaus zu ihrem Leidwesen – eine Prinzipalin ohne Harlekin. Vgl. hierzu die kritische Relektüre der vermeintlich programmatisch poetologisch fundierten Harlekinaustreibung von Daniela Schletterer: Die Verbannung des Harlekin – programmatischer Akt oder komödiantische Invektive? In: Frühneuzeit-Info 8 (1997), 161–169. Zitat: 161. 59 Vgl. Deutsche Schaubühne, Sechster Theil (Anm. 34), * 7v–* 8r. Zitat: * 7v.
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derlich« erscheinende Oberstin von Tiefenborn, 60 »eine alte reiche Wittwe«, 61 deren Testamentsabfassung von den von ihr adoptierten mittellosen drei Kindern ihrer Schwester, jungen Erwachsenen in heiratsfähigem Alter, erwartet wird. Eine Situation, die zur Charakterprobe gerät, mit eindeutig schwarzweißgezeichnetem Verlauf und absehbarem Ausgang: Fräulein Amalie, die Älteste, drängt am entschiedensten auf Festschreibung ihres Erbes, um auf dem Heiratsmarkt reüssieren zu können, Herr von Kaltenbrunn, herzloser noch als die Schwester, gibt das erwartete Erbe bereits mit vollen Händen aus und ist treibende Kraft bei dem Versuch, den Erbfall noch ein wenig zu beschleunigen, 62 während Fräulein Caroline, die ›gute‹ Schwester, mit gelassener Herzlichkeit abwartet, sich um die Tante kümmert, ihr aber auch ohne Umschweife widerspricht, wenn sie sich kränker macht, als sie ist. Naheliegend, in ihr die glückliche Alleinerbin zu vermuten, während die ›bösen‹ Geschwister leer ausgehen – ein moralisches Lehrstück, wie es im Buche steht, allerdings, abgesehen von den hypochondrischen Anfällen der Oberstin, halbwegs komikfrei. Diesen Eindruck erhält das Stück auch dann noch aufrecht, als sich im Gespräch der Oberstin mit ihrem Arzt unter vier Augen herausstellt, daß sie sich absichtlich kränker stellt, als sie in Wahrheit ist, und den verbündeten Doctor Hippokras als Beobachter auf ihre potentiellen Erben ansetzt. Bis zum Ende des zweiten Aktes. Dann auf einmal verkehren sich alle bis dahin sicheren Wertungen, wird das Spiel der Oberstin kenntlich als weitaus komplexer, motiviert nicht nur durch die selbstlose Absicht moralischer Charakterprüfung, sondern durch ein handfestes Eigeninteresse. 63 Wie die schwarzgezeichDas Testament (Anm. 36), 84. Ebd., 82 (Personenverzeichnis). 62 Vgl. seine kaum verdeckte Anstiftung des (falschen) Arztes Doctor Schlagbalsam, der Tante »so was ein[zu]geben, daß sie noch ein wenig schlechter dran wird«, ja dafür zu sorgen, »daß sie ihr Testament nicht gar zu lange überlebe«. Ebd., 162 f.; vgl. insgesamt den zweideutigen Wortwechsel 160–167. 63 Eine Komplexität generierende »Abweichung von der Folie« konstatiert, ebenfalls von der »Figur der Protagonistin, der Oberstin v. Tiefenborn«, ausgehend, auch Loster-Schneider (Anm. 1), 71, sieht sie jedoch in einer der Autorin Gottsched zugerechneten, gegen die auf Schemaerwartungen reduzierte Gattungsschablone ihres Mannes gerichteten Subvertierung des »Gottschedsche[n] System[s]« (77): »In der Figur seiner Heldin schreibt das ›Testament‹ […] das Gottschedsche Postulat auf weibliche Rationalität aus, unterlegt es jedoch zugleich mit zwei problematischen Bereichen: der weiblichen Autonomie sowie der weiblichen Emotionalität und Körperlichkeit« (72 f.). Mehrere Einwände sind gegen Loster-Schneiders Deutung geltend zu machen: 60 61
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neten Figuren Amalie und von Kaltenbrunn sehnt auch die Oberstin den Moment der Testamentseröffnung herbei – doch nicht um nach Maßgabe charakterlicher Vorzüge und Schwächen bei der Verteilung des Erbes zu belohnen oder zu bestrafen, sondern um, gegen den Schwur am Sterbebett ihres ersten Gemahls 64 und gegen die Interessen der jungen Generation, die eigene Wiederverheiratung zu betreiben. 65 Unversehens ist aus der moralisch abgekarteten Schwarzweißzeichnung ohne Komik ein (freilich immer noch nicht komisches) Problemstück geworden, dessen weder ganz schwarze noch ganz weiße Antagonistinnen den Rezipienten mit komplizierter Interessenabwägung konfrontieren – hie die heiratslustige Witwe, die sich nicht zur »Sklavinn ihrer lachenden Erben« machen lassen will, 66 da Amalie, die einklagt, nicht lebenslang »wie ein Kind im Hause« gehalten zu werden, sondern durch Heirat ihren »eigene[n] Heerd« zu begründen. 67 Und die Komödie? Sie kommt buchstäblich durch die Hintertür ins Spiel, ganz und gar handlungsunnotwendig als Lust am Ko1) Sie konzentriert sich, gegen die erklärte Absicht (vgl. 74), für ihre gendertheoretische Lesart (deren – durchaus nicht revolutionär – im Sinne der Heldin perspektiviertes Resultat bereits vorab feststeht) ausschließlich auf die Figur der Oberstin, die dabei zwar an emotionaler Komplexität gewinnt, jedoch weiterhin eindimensional als ›gut‹ gezeichnet wird, wie umgekehrt ihre Gegenspielerin Amalie eindimensional ›böse‹ bleibt. 2) Bei der Modellierung des subversiven Widerstands der Gottschedin gegen das männlich-monologische poetologische Regime Gottscheds wird nicht bedacht, daß Das Testament in Gottscheds Deutscher Schaubühne erscheint. Die implizite Annahme, Gottsched wäre für solch eine subversive Pointierung blind gewesen, erscheint zu schlicht (wenn auch kompatibel mit dem zuvor aufgebauten eindimensionalen Popanz). 3) Offenbar gelenkt von ihrem Beweisziel, liest Loster-Schneider nicht genau. So spricht den für ihre Lesart eines von der Oberstin verfolgten Konzepts potenzierter Maskerade wesentlichen »Handlungsleitsatz ›ich spiele hier eine sehr närrische Rolle‹ (T 143)« (73) nicht die Oberstin, sondern Amalie, vgl. Das Testament (Anm. 36), 143. 64 Zwar macht die Oberstin »weinend« geltend, »Jch gab meinem sel. Gemahl auf dem Todbette das Wort, daß ich mein Tage nicht wieder heirathen wollte«, doch läßt sie sich im Fortgang der Szene diese »Gewissenssache« vom Bruder des von ihr Erkornen ohne ernstlichen Widerstand als »Possen« ausreden. Ebd., 122–124, hier 122 f. 65 Dieser durchaus fragwürdige Zug der Oberstin bleibt in der Regel unbemerkt, vgl. z. B. die insgesamt durchaus differenzierte Darstellung von Susanne Kord: Little Detours. The Letters and Plays of Luise Gottsched (1713–1762). Rochester, NY 2000, 71, die »Frau von Tiefenborn« als »the only parental figure in Gottsched’s plays that can be considered at all competent« beurteilt. 66 Das Testament (Anm. 36), 124. 67 Ebd., 141.
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mischen um seiner selbst willen, gerade dadurch poetologisch aber um so signifikanter. Ihr Medium ist – wie im Jean de France – ein Spiel im Spiel, ihre Drahtzieherin die Oberstin von Tiefenborn, 68 ihr Anteil am Lustspiel nicht weniger als die letzten beiden Akte. Schien das von der Oberstin veranstaltete Spiel zunächst noch Mittel zum moralischen Zweck (Krankspielen im Dienste der Charakterprüfung, Testamentseröffnung, um einerseits zu belohnen respektive zu bestrafen, andererseits trotz strenger Überwachung ihrer Kontakte zur Außenwelt die Wiederverheiratung juristisch zu besiegeln), so entpuppt es sich mit Beginn des vierten Akts als zweckfreie Komik um der Komik willen. Daß der Bräutigam als zusätzlich zu Doctor Hippokras zu Rate zu ziehender Arzt eingeschleust wird, erscheint noch vollkommen zweckmäßig, ebenso, daß die Oberstin ihn bei seiner Ankunft »dem Doctor Hippokras übergeben« will, »als wenn er ihn erst von meiner Krankheit unterrichten müßte«. 69 Doch was folgt, die vorgeblich ernsthafte Instruktion eines vermeintlichen Kollegen, erweist sich als lustvoll ausgekostete Inszenierung fachsprachlicher Mißverständnisse, skandiert durch leitmotivisches Lachen (zehnmal auf sieben Seiten). 70 Einige Kostproben: Doctor Hippokras instruiert Doctor Schlagbalsam, so nennt der verkappte Bräutigam sich (alles andere als wahrscheinlich oder natürlich), 71 über den KrankheitsverVgl. Kord (Anm. 65), 79 f., die »a play-within-a-play, authored and performed by Frau von Tiefenborn«, konstatiert. 69 Das Testament (Anm. 36), 152. 70 Das beobachtet auch Loster-Schneider (Anm. 1), 75 f., die die Instruktion des vorgeblichen Arztes als »schulbuchmäßige Adels- und Gelehrtensatire« nach dem Vorbild des »Dottore und de[s] Capitano aus der ›Commedia dell’arte‹« verbucht und das »Lachen […] vor allem in den handlungslogisch redundanten und hybrid ausgestalteten paradigmatischen Szenen« gründen sieht. 71 Dafür aber mit Blick auf das ihm von Amalie und von Kaltenbrunn nur wenig verdeckt angetragene Ansinnen, die Krankheit der Oberstin durch »zweydeutige Arzeneyen« (Das Testament [Anm. 36], 164) zu beschleunigen, hochironisch. Vgl. in Zedlers Universal-Lexicon die über Seiten sich hinziehenden Rezeptartikel unter den Stichworten ›Balsamum Apoplecticum‹ und ›Schlagbalsam‹ : Grosses vollständiges UNJVERSAL LEXJCON Aller Wissenschafften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden […]. Dritter Band, B–Bi. Halle und Leipzig, Verlegts Johann Heinrich Zedler, Anno 1733, 256–259; Vier und Dreyßigster Band, Sao–Schla (1742), 1729–1733. Die Wirkung erläutert beispielsweise der Artikel ›Schlagbalsam, Agricolä‹, 1729 f.: »Dieser ist nicht allein im Schwindel, sondern auch im Schlage, und andern grossen Hauptkranckheiten mit grossen Nutzen zu gebrauchen. Will es jemand zur Erhaltung seiner Gesundheit thun, der nehme in vierzehn Tagen acht Tropffen in einem Schweißtreibenden Nasse 68
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lauf folgendermaßen: »Die Krankheit von der Frau Oberstin, fieng sich also mit einer starken Agrypnia an, wobey ein starker Rheumatismus war, und man aus den neben-Symptomatibus, Pleuresiam, Cachexiam, et Haemoptosin zu besorgen hatte.« Schlagbalsam zeigt sich entsetzt: »Ums himmels willen! Herr Doctor, da bekomme ich einen sehr dunkeln Begriff von der Krankheit. Sie reden ja lauter Arabisch. Jch weis viel was die Agrippina in der Medicin heißt!« 72 Wie derart aus der griechischen Diagnose »Agrypnia«, Schlaflosigkeit, ein »Mensch« namens »Agrippine« wird, »das« Schlagbalsam »[m]ein Tage […] nicht gesehen« haben will, 73 so veranlaßt ihn die Gefahr der »Haemoptosis«, blutigen Auswurfs, zu der verwunderten Rückfrage: »Was hatte sie denn bey der Mopsosie gemacht? Jst das nicht eine Hundekrankheit?« 74 Und als angesichts derartiger Fehlgriffe Hippokras, schwankend zwischen Lachen und komischer Verzweiflung, feststellt »Jch sehe wohl, Sie sind nur ein Empiricus«, tut sich gleich der nächste sprachkomische Abgrund auf. »Nun so sagen sie geschwinde«, fragt Schlagbalsam, »was ist ein Vampyricus? Das ist ja ein Teufelskind, was den Leuten in Ungarn das Blut aussaugt?« 75 Unverkennbar: die zielgerichtete Verkleidungsintrige der Oberstin hat sich zur Harlekineinlage verselbständigt. 76 Und dies nicht von ungefähr: Wie im Jean de France der Titelheld in der fiktiven Wirklichkeit als Theaterfigur, eben als Harlekin, wahrgenommen worden war, so signalisieren auch hier die beiden Gesprächspartner, nun selbstbezogen, theatralisches Rollenbewußtsein, indem sie ihre Unterhaltung bei »Moliere« beginnen (ausgerechnet Molière, gegen ein, und schwitze ein wenig darauf. […] Jndem man schwitzet, so reinigt sich das Geblüte, und alles unreine gehet durch den Schweiß weg.« Als Langzeitperspektive wird versprochen, was Amalie und von Kaltenbrunn für die Oberstin auf gar keinen Fall wünschen: »und so kan der Mensch bis an seine letzte Stunde frisch und gesund erhalten werden.« 72 Das Testament (Anm. 36), 154. 73 Ebd. 74 Ebd., 157. 75 Ebd., 155 f. 76 Nicht recht nachvollziehbar ist mir, wie demgegenüber Loster-Schneider (Anm. 1), 76 f., die »Wiederkehr« von »Harlekin und Pierrot« in der Figur des Herrn von Kaltenbrunn diagnostizieren kann. Zwar läßt sich eine »Affinität […] zur Körperlichkeit […] und zur Pantomime« in der Tat beobachten, und auch sein Schlußwort an das Publikum mag man als Beiseitesprechen in diese Richtung verrechnen; doch ist er von allen Figuren diejenige, die am wenigsten aus der moralischen Verantwortung entlassen werden kann.
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den Gottscheds Vorrede Das Testament abgegrenzt hatte!) und der Frage, ob er »als ein Poet, und zwar als ein comischer Poet, die Sache« – gemeint ist die Darstellung der »französischen Aerzte[]« – »höher getrieben« habe, »als sie vielleicht in der That gegründet« sei. 77 Vollends zur Harlekinade aber gerät die mit Spannung erwartete vorletzte Szene, die, beherrscht von der allerseits immer wieder durch Lachen unterbrochenen Verlesung des Testaments durch den detailversessenen Notar Remigius Leodegarius Gänsekiel, ein komisches Kabinettstück für sich darstellt, 78 von dem eine Kostprobe zu geben schon deshalb den Rahmen sprengt, weil des Notars umständliche, an ebenso plastischen wie belanglosen Nebenbestimmungen reiche Amtssprache Sätze produziert, die sich über zwei und mehr Seiten hinzieDas Testament (Anm. 36), 153. Daß Loster-Schneider (Anm. 1), 75, das Lachen im Testament sich nur »zum Teil auch« in der »Testamentszene« entfalten sieht, zeugt von einem Mißverständnis, welches sich in der Gottscheds Poetik und das Testamentformular des Notars parallelisierenden Schlußpointe (79) zu erkennen gibt: »In der ›parodistischen‹ Schreibweise der Gottschedin kehrt das Lachen in die Komödie des Präzeptors Gottsched zurück, wie der Wille der Komödiantin Tiefenborn in den vor-geschriebenen Formulartext des gelehrten Notarius Publicus Gänsekiel.« Dies »fictional analogue« wird bereits von Arnd Bohm: Authority and Authorship in Luise Adelgunde Gottsched’s Das Testament. In: Lessing Yearbook 18 (1986), 129–140, hier 137, behauptet; im Anschluß daran auch Kord (Anm. 65), 146. Mitnichten ist jedoch der Notar als Gelehrter zu bewerten und das von ihm vorbereitete Testament als zeitgenössisch ernstzunehmendes ›Formular‹, in das erst die komödiantische Witwe Komisches einschriebe; vielmehr setzen Gänsekiel und der von ihm verantwortete Schriftsatz von vornherein Harlekinskomik in Reinform in Szene. Als unkomische Referenz, worin all der von der Oberstin monierte »Plunder« selbstverständlich fehlt, vergleiche man die »Formula Testamenti scripti, oder eines schrifftlichen Testaments« in Johann Christoph Nehrings seit 1687 mehrfach wiederaufgelegtem Manuale Notariorum: Johann Christoph Nehrings MANUALE NOTARIORUM, oder Hand-Buch der Notarien, Worinnen Allerley unter den Lebendigen und auf den Todes-Fall zu errichtende Handlungen nebst dem bürgerlichen und peinlichen Processe Aus den alten Römischen und neuen Käyserlichen- auch Chur- und Fürstlichen Sächsischen Rechten und Ordnungen erkläret, und So wohl von Notariat-Instrumenten als andern Urkunden, Briefen und Schrifften nach dem heutigen Stylo eingerichtete Formulen mitgetheilet werden, Nunmehro in vielen Stücken vermehret und verbessert mit einem Register versehen von Thomas Hayme, D. Mit Kön. Pohlnisch und Churf. Sächs. allergn. PRIVILEGIO. Leipzig und Eisenach. 1754. Verlegts Michael Gottlieb Grießbach. Hochfürstl. Sächs. Waimar- und Eisenach. privil. Hof-Buchhändl., 765–768 (dokumentiert der »Leipzig den 7 Martii 1740« [A 5r] datierten »Neue[n] Vorrede« des Herausgebers zufolge den für das am »15. Junii des 1745. Jahres« abgefaßte Testament der Oberstin als aktuell anzunehmenden normativen Rahmen). Das Testament (Anm. 36), 195 und 196. 77 78
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hen. Am Ende dieser komischen Retardation steht die Eröffnung der Oberstin, daß (wie zu erwarten) nur Caroline ein (freilich auf Lebenszeit befristetes) Erbe erhält, 79 daß der eigentliche »Universalerbe[]« aber (und darin besteht ihr Überraschungscoup) Herr Anshelmus Hubertus von Ziegendorf alias Doctor Schlagbalsam heißt. 80 Zur poetologischen Pointe zugespitzt, bedeutet das aber nicht weniger als folgendes: Die moralisch keineswegs eindeutig bewertbare Oberstin von Tiefenborn verbindet sich im »letzte[n] Theil« von Gottscheds Deutscher Schaubühne unter juristischer Beglaubigung durch eine lustige Figur (den Notar) mit einer lustigen Figur (dem harlekinesken Doctor Schlagbalsam alias Herrn von Ziegendorf). Ihr das Lustspiel beschließendes Verlobungsfest wird so zugleich zur Feier der Wiederkehr jener von Jean de France verkörperten und mit ihm aus der Deutschen Schaubühne ausgetriebenen Komödie der Zoten und Possen, deren Ausschließung Gottscheds Komödienkonzept komikgenerierend einschließt. 81
Loster-Schneider (Anm. 1), 78, bewertet Carolines Ausstattung – »20000. Thaler baares Geld, und das Rittergut Frohenlohe auf Lebenslang« (Das Testament [Anm. 36], 200) – als »so großzügig […], daß sie autark ist und eine Menge Mitgiftjäger anlocken wird«. Zu bedenken ist jedoch, daß die Befristung des Immobilienbesitzes »auf Lebenslang« Caroline nicht mit einer zur Familiengründung ermutigenden Zukunftsperspektive versieht. 80 Das Testament (Anm. 36), 200. 81 Unterstellt ist damit, daß Gottsched als Herausgeber der Deutschen Schaubühne – im Einklang mit der Titelmetapher aus dem Bereich der Theaterarchitektur – ein wohldurchdachtes Publikationskonzept verfolgte. Diese Frage untersucht eingehend das Bochumer Dissertationsprojekt von Marina Doetsch unter dem Titel »Konzeption und Komposition von Gottscheds Deutscher Schaubühne«. 79
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II. Philosophische Strukturen des Lachens
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Geschichte der Befreiung – Befreiung der Geschichte Zur Politik des Lachens bei Hegel, Ruge und Marx Niklas Hebing I.
Hinführung und Aufriss: Die Gewinnung eines Themas
Hegel über Lachen und Komik – kann das wirklich ernst gemeint sein? Es könnten gute Gründe gefunden werden, ein solches Thema selbst als Witz zu verstehen. Man könnte sich fragen: Ist etwa der Hegel gemeint, der die Wissenschaft der Logik geschrieben hat, die dem Leser abverlangt, sich auf den »Standpunkt des Begriffs« zu bringen, welcher sich »nicht mit den Händen greifen« und damit »Hören und Sehen« 1 vergehen lässt? Etwa der Hegel, der von Heine beschrieben wird als »Geistesweltumsegler, der unerschrocken vorgedrungen bis zum Nordpol des Gedankens, wo einem das Gehirn einfriert im abstrakten Eis« 2 ? Etwa der Hegel, der auf seinem berühmtesten Portrait von Jakob Schlesinger als alter Griesgram gemalt wird, dem nichts schwerer zu fallen scheint, als auch nur eine Andeutung von Lächeln zu zeigen? Man könnte – und wenn dies wirklich soll, fällt es vielleicht sogar leichter, das Lachen und Hegels Philosophie als Widerspruch, die Konfrontation als Kontrast zu verstehen und somit lächerlich zu finden, als stattdessen auf den Gedanken zu kommen, jenes spiele für diesen gar eine bedeutende Rolle. Eine rhetorische Frage bedient das bequeme Ressentiment noch einmal: Kann eine solche Philosophie nicht bloß unfreiwillig komisch sein? Tatsächlich verhält sich die Sache völlig anders. Mit Lachen und Komik setzt sich Hegel nicht nur in mehreren Kontexten seines philosophischen Systems dezidiert auseinander, er nimmt sie nicht nur nach ihrer ganzen geistigen Tiefe ernst – das Komische und seine leibliche Beantwortung haben sogar eine herausragende systematiAus den sekundär überlieferten Zusätzen zur Encyclopädie von 1830: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke, Bd. 8. Frankfurt a. M. 1970, 307 f. 2 Aus Heines Schwabenspiegel. In: Heinrich Heine: Werke, hg. v. Wolfgang Preisendanz u. a. Frankfurt a. M. 1968, Bd. 4, 319. Im Folgenden zitiert als ›HW‹. 1
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sche Bedeutung für dieses Denken insgesamt, eine Bedeutung, die schwerlich überschätzt werden kann. Dass diese These alles andere als unmittelbar einsichtig oder allgemein anerkannt ist, liest sich an der bisherigen Hegel-Forschung auf das Deutlichste ab. Hegels Philosophie umweht die Aura von Strenge, Härte, Trockenheit – und eben mit Heine gesprochen: Kälte. Es gibt nur wenige, in der Masse untergehende, Abhandlungen, welche diese Dimension der Philosophie Hegels andeuten; und über die Andeutung reichen sie zumeist nicht hinaus. 3 So ist bisher nahezu vollständig übersehen worden, dass der Philosoph eine beeindruckende, damals keineswegs selbstverständliche Offenheit für sämtliche Formen der Komik und des Lachens besitzt sowie die Phänomene mit seinem begrifflich präzisen Instrumentarium angemessen beschreiben kann. Wahrlich komisch ist demnach nicht die Befragung der Philosophie Hegels nach einer Theorie des Lachens, sondern angesichts des Stellenwerts, den sie diesem Lachen zuspricht, die Tatsache, dass der Umstand bisher noch nicht ausführlich entfaltet wurde. Dieses Lachen soll aber mit der vorliegenden Untersuchung keineswegs ausgetrieben, sondern vielmehr freigelegt werden bis auf den eigenen Wesenskern. Wie bestimmt Hegel das Komische im Kontext seines Systems und was bestimmt sich dabei systematisch für das Phänomen des Komischen überhaupt, das ohne die Denkform Hegels nicht erkannt werden könnte? Vollends deutlich wird an der in diese Auseinandersetzung eingeflochtenen Diskussion von Hegels Ansatz innerhalb der Hegel-Schule, wie die Antwort auf die Frage zu lauten hat. Hegels Gedanken werden daher im Folgenden mehrfach mit den Weiterführungen seiner Schüler konfrontiert, konturiert und vertieft. Auf diesem Diskursfeld soll schließlich aufscheinen, was die – nur geschichtsphilosophisch beschreibbare und historisch in Veränderung begriffene – politische Dimension des Lachens ist. Kernthese, Leitlinie wie Leitbestimmung ist hierbei das Lachen über eine Komik als ›Darüberhinaussein‹. Was dies konkret bedeutet, erläutert sich durch folgende Darlegung.
3 Michael Schulte: Die »Tragödie im Sittlichen«. Zur Dramentheorie Hegels. München 1992; Mark W. Roche: Tragedy and Comedy. A Systematic Study and a Critique of Hegel. New York 1998; Werner Hamacher: (Das Ende der Kunst mit der Maske). In: Karl Heinz H. Bohrer (Hrsg.): Sprachen der Ironie – Sprachen des Ernstes. Frankfurt a. M. 2000; Dieter Henrich: Fixpunkte. Frankfurt a. M. 2003, 65–125; Stephan Kraft: Zum Ende der Komödie. Eine Theoriegeschichte des Happyends. Göttingen 2011.
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Grundlegung im Subjekt: Hegels Anthropologie des Lachens
Die sogenannte ›Anthropologie‹ ist im Rahmen von Hegels Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften ein Element der Philosophie des subjektiven Geistes, und damit ein bedeutsamer Bestandteil der Wesensbestimmung des konkreten Einzelmenschen, wie dieser nach seiner geistigen Seite aufgefasst wird. Sie ist eine Philosophie der inneren Dispositionen des Subjekts, i. e. seiner Vermögen, allgemeinen Tätigkeitsweisen sowie basalen emotionalen und kognitiven Leistungen. 4 Weil die Anthropologie die erste, grundlegende »Abtheilung« der Subjektivitätstheorie ist, sie im Gesamt des Berliner Systems direkt auf die Naturphilosophie und deren letzte Stufe des noch bewusstlosen tierischen Organismus folgt sowie als Stufengangsmoment der bewussten Geistigkeit diesem Animalischen nicht nur entwächst, sondern in ihm auch verwurzelt bleibt, hat sie noch den »Naturgeist« oder – was dasselbe ist – die »Seele« 5 zu ihrem Gegenstande. Aufgabe der Seelenlehre Hegels ist es, als Begriffsbestimmung des Naturgeistes, durchsichtig zu machen, wie sich der Geist als Seele aus seiner Herkunft im Körper herausarbeitet, auf ihn angewiesen bleibt und sich dabei zugleich von ihm als einem ihn zunächst Determinierenden befreit. 6 Darstellungsziel der Anthropologie als Seelenlehre ist es, über einzelne »Moment[e] der Entwicklung« des Naturgeistes hinweg, also nicht in starren Definitionen, sondern als dialektische Bewegung, zu demonstrieren, wie »in der Seele […] das Bewußtseyn« erwacht, und diesen Fortgang dabei als einen notwendigen »Proceß« 7 zu erweisen, der durch immanenten Widerspruch angetrieben wird: Einerseits ist die Seele in die »Form des dumpfen Webens« 8 versunken, andererseits entwickelt sie sich, aus der Dumpfheit zu Bewusstsein kommend, zur Verwirklichung freier Geistigkeit, die nach außen drängt. Diese Darstellung ist somit 4 Vgl. Ludwig Siep: Hegels politische Anthropologie. In: Ottfried Höffe (Hrsg.): Der Mensch – ein politisches Tier? Essays zur politischen Anthropologie. Stuttgart 1992, 110 ff. 5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. Hamburg 1968 ff., Bd. 20, 386. Im Folgenden zitiert als ›HGW‹. 6 Vgl. zur »Naturbasis« des Geistes: Andreas Arndt/Wilhelm Raimund Beyer/Wolfgang Lefèvre/Wolfgang Virmond: Hegel: Natur und Geist. Bochum 1988, 12. 7 HGW 20, 386 f. 8 Ebd., 396.
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die Darstellung einer zunehmenden Befreiung der geistigen Seele aus der bewusstlosen Gefangenschaft in der Natur. Der Individualgeist wird dabei begriffen als in einer selbst noch natürlichen Entwicklung sich zur bewussten Geistigkeit »bildend« sowie zugleich als in der Auseinandersetzung mit der geistig verfassten Lebenswelt sich »erziehend« 9 . »Aeußerungen« des Geistes müssen dabei begriffen werden »als die Momente seines Sich-zu-sich-selbst-Hervorbringens, seines Zusammenschließens mit sich, wodurch er erst wirklicher Geist ist« 10 . Dieser geistphilosophische Seelenbegriff bildet die Voraussetzung, um Hegels Verständnis des Lachens in den Blick nehmen zu können. Lachen ist nichts weniger als eine der wesentlichen vorsprachlichen Veräußerungsformen der geistigen Seele, durch die sie sich in der Welt ausdrückt. Als Expressivität, die an der äußeren Gestalt des Menschen erscheint, ist Lachen zunächst ganz leiblich. Es zeigt an, aus der Versenkung in den Naturgeist erwacht zu sein und innere Regungen äußerlich manifestieren zu können. Hegel spricht von lachender »Verleiblichung« 11 , die zum Indikator der fortschreitenden Besitzergreifung des Körpers zum Leib wird. Gemäß der hegelschen Topographie der Geistphilosophie besitzt Lachen somit einen körperlich-geistigen Doppelcharakter. – Doch Ausdruck ist immer Ausdruck von etwas, in diesem Falle die Verleiblichung von Seelenvorgängen als multifaktorielle Prozesse innerhalb der Seele. Lachen ist eine physische Veräußerung, ein empfindsames Anzeigen von Innerlichkeit, vor allem von Empfindungen. Hegel meint, die geistige Empfindung strebe ursächlich danach, sich nach außen als besondere Tätigkeit zu zeigen, damit sie sich als Negativität in diesem Außen wieder mit sich zusammenschließe. 12 Sie dränge darauf, sich kundzutun, weil der Widerspruch mit sich und dem empfundenen Außen zur Aufhebung treibe. Mit einer gewissen Nähe zu Kants Lachtheorie in der Critik der Urtheilskraft sowie der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht baut Hegel dieses Konzept weiter aus 13 : Wenn der Mensch mit Plötz-
Ebd., 387. Ebd. 11 Ebd., 399 f., 412, 418. 12 Ebd., 419 f. 13 Vgl. Kant’s gesammelte Schriften. Akademieausgabe. Berlin 1900 ff., Abtlg. I, Bd. 5, 331 ff.; Abtlg. I, Bd. 7, 255, 262. 9
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lichkeit in einen Kontrast gerissen werde, sei er außer sich. 14 Er ist gebannt von diesem schockhaften Widerspruch als etwas gegen seine Erwartung. Im Zustand seines Gefesseltseins an eine Fremdheit kann er aber nicht verweilen; deutlich über Kant hinausgehend versteht Hegel Lachen als immanente Negativität, eine Negation der Negation. Lachen, das sich am Kontrast entzündet, befreit von der störenden Erfahrung und lässt den Menschen seelisch wieder mit sich zusammenstimmen. Hegel sagt, Lachen äußert sich nicht bloß – es ›entäußert‹ vielmehr die Empfindung eruptiv, so dass es sie in einer zweiten Negation ›weg-schafft‹. 15 Kathartisch frei geworden findet sich der Mensch in seinem Selbstgefühl vor. Zugleich verweist das Äußerliche aber auf die Besitzergreifung des Leibes durch ein geistiges Prinzip: Als Identität von Innen und Außen macht sie sich seine Fähigkeiten zu den ihrigen. Nicht nur indem sie etwa die Hand zum Werkzeug formt, um damit einen tätigen Bezug zur äußeren Wirklichkeit zu gewinnen, auch der lachende Mund wird zu einem geistigen Organ, das bereits im vorsprachlichen Lachen das Kommunizieren mit der Lebenswelt ermöglicht. So zeigt der Leib im Lachen äußerlich an, beseelt einen freien Geist zu beherbergen, der sich von der fesselnden Macht der Empfindung gelöst hat, mit sich übereinstimmt, sich selber fühlt und selber weiß. Hegels Theorie des Lachens gelangt damit zum entscheidenden Punkt: Der Körper ist zum Leib angeeignet worden 16 – zwar nicht durch Überwindung als absolute Negation, denn als Grundlage der Seele bleibt diese stets und eng auf ihn bezogen –, in der durchbildenden Besitzergreifung hingegen wird er jedoch schließlich nicht nur zum »Prädicat«, und somit zum geeigneten Instrument ihrer Zwecke, er wird auch zu einem »Zeichen« 17 der Seele, in welchem sie sich inhaltlich ausdrücken kann. Die Seele wird zur Idealität im Materiellen und der Leib als Ausdruck ihrer selbst gesetzt. Für spätere Stufen der Geistphilosophie ist hiermit ein entscheidender Schritt getan: Die Befreiung von körperlich gebundener Macht über das Individuum, die Stiftung von Selbstgefühl sowie die HervorbrinVgl. zum Folgenden: HGW 25,1, 59, 301, 670. Vgl. ebd., 60; HGW 25,2, 1003. 16 Vgl. Hermann Drüe u. a.: Hegels »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriß. Frankfurt a. M. 2000, 216; Jens Rometsch: Hegels Theorie des erkennenden Subjekts. Systematische Untersuchungen zur enzyklopädischen Philosophie des subjektiven Geistes. Würzburg 2007, 84 f. 17 HGW 20, 419. 14 15
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gung eines Bewusstseins dieser Freiheit lässt Lachen zur selbstbezüglichen Distanzierung werden, die sich nach innen als Subjektivität empfindend genießt und diese Verfassung nach außen zeichenhaft zu erkennen gibt. Beide Seiten sind als dialektisch sich produzierende nicht voneinander zu lösen, so dass Lachen seelische Einheit herstellt, sowohl weggeschaffend-befreit als auch immerzu verbunden mit dem Ausdruck dieser Einheit, als »die auf Kosten des lächerlichen Gegenstandes empfundene Zusammenstimmung des Subjects mit sich« 18 in seiner Welt; Darüberhinaussein als Überwindung des Dualismus.
III. Rudiment und Rekonstruktion einer Sozialphilosophie der Komik: Hegel und Ruge Mit der Bestimmung des Lachens als einer entäußernden Mitteilung der Seelenregung hat Hegel das Feld der Anthropologie im engeren Sinne bereits verlassen und öffnet es für den entwickelteren Rahmen einer Sozialphilosophie der Komik. Lachen wird hier nach intersubjektiven Abhängigkeiten und Vorbedingungen befragt. Die Erörterungen Hegels führen in der Konsequenz zur Skizzierung von Grundlinien einer komplexen Bildungsgeschichte des lachenden Geistes, die ebenfalls von der individuellen auf die überindividuelle Ebene führen und schließlich voll entfaltet im Kontext der Ästhetik auf ihren wahren absolut-geistigen Kern gebracht werden. Weil Hegels Vorlesungen über den subjektiven Geist allerdings das Lachen lediglich randläufig thematisieren, die Entwicklung des Bewusstseins also keineswegs den Schwerpunkt einer Theorie des lachenden Subjekts besitzt, weist die geistphilosophische Weiterführung Lücken auf, denn Hegel schreibt keine kontinuierliche und konsistente Theorie des komischen Bewusstseins. – Eine dem Selbstverständnis nach konsequent an Hegels Ansatz orientierte Ausarbeitung hat der Hegelianer Arnold Ruge in seinen Sechs lächerlichen Briefen über das Lächerliche von 1837 sowie der Neuen Vorschule der Aesthetik aus dem Jahr zuvor – in zweiter, stark überarbeiteter Auflage unter dem Titel Aesthetik des Komischen 1848 publiziert – vorgelegt. 19 So soll HGW 25,2, 1003. Vgl. zur Nähe Ruges und Hegels: Arnold Ruge: Aus früherer Zeit. Autobiographie, Bd. 4. Berlin 1863 ff., 10 ff.; Margarete Pohlmann: Der Humanismus im 19. Jahrhundert – Eine neue Religion? Arnold Ruges Auseinandersetzung mit dem Christentum.
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im Folgenden die Gelegenheit ergriffen werden, Elemente, die bei Hegel unterbelichtet bleiben, aus den Bestimmungen Ruges zu gewinnen resp. mit deren Hilfe anzureichern; mit Einschränkung lassen sie sich produktiv auf Hegels Entwicklungsgang des Geistes beziehen. Ruge grenzt Hegels Position signifikant von anderen Ansätzen ab, vor allem denjenigen Schellings und der Spätromantiker, und lässt sich dabei methodisch für sein Projekt einer spekulativen Behandlung des Komischen rüsten. Wie schon Hegel fasst Ruge das Komische sowohl geistphilosophisch als auch intersubjektiv, und zwar in einem komplex entwickelten Modell: Zunächst bestimmt er es als einen bewusstlosen – und das bedeutet: noch nicht als komisch erkannten – gegenständlichen Vorgang. Ohne etwas als Komik erkannt zu haben, kann aber nicht sinnvoll vom Komischen, geschweige denn vom Lachen als Bewusstsein verratende Reaktion, gesprochen werden. Der Unbewusstheit als der komischen Voraussetzung stellt Ruge somit die gegenteilige Bestimmung entgegen, erst das allgemeine Bewusstsein werde sich über die Komik des unbewusst komischen Gegenstands bewusst. Die spekulativ gewonnene, nebenher auch Schelling und seinen Schüler Stephan Schütze diskutierende Definition des Komischen als »Bewußtsein eines Unbewußten« 20 wird jedoch erst im Rahmen zwischenmenschlicher Beziehungen plausibel, indem Komik als Verhältnis zwischen bewusstlosem Objekt und von dieser Komik Bewusstsein gewinnendem Subjekt verstanden wird. Weil sie nur interdependent bestimmt werden können, entzweit und dennoch aufeinander verwiesen, als der Lachende und sein Gegenstand, dieser vor allem als eine unfreiwillig komische Figur komisch, gelangt Ruge zur Einsicht: »An sich also existirt das Lächerliche gar nicht, es ist ein Wechsel auf Sicht, und seine Existenz ist der Augenblick, wo er honorirt wird« 21 . Ruge will damit unterstreichen, Komik entstehe vor allem intersubjektiv und situativ; der von ihm beschworene, in Nichtexistenz verstreichende Augenblick stellt sich im gesellschaftlichen Kontext und mit besagter Plötzlichkeit her. Vor allem aber – das ist im Rahmen seiner Theorie des Komischen ein entscheidender Punkt – kann dieser »blitzartige[n] Natur« eine feste Existenz allein in der Frankfurt a. M. 1979, 25 ff.; Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, 9. Aufl. Hamburg 1986, 95 ff., 317 ff. 20 Arnold Ruge: Werke und Briefe, hrsg. v. Hans-Martin Sass. Aalen 1985 ff., Bd. 1, 186. Im Folgenden zitiert als ›RWB‹. 21 Ebd., 187. »Fröhliche Wissenschaft«
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»Gegenwart des Geistes« gegeben werden, d. h. in der ebenso plötzlich »erwachenden Geistesthätigkeit des Lachenden« 22 . Als Wahrheit der Philosophie Hegels hebt Ruge daher am Komischen hervor, es müsse als spontane Tätigkeit des Geistes verstanden werden, der sich prozessual Bewusstsein von einer Welt verschafft, die ihm als selbstgesetzte Objektivität entgegentritt. Indem sich selbst bewusst werdendes Lachen das Komische erst durch diesen Weltbezug zur Voraussetzung haben kann, ist Komik wesentlich als ein intersubjektiv und sozial gestiftetes Phänomen beschreibbar. Das intersubjektive Moment fasst Ruge aber noch konsequenter als bisher erarbeitet: Handelt es sich hinsichtlich der Konfrontation von Bewusstheit und Unbewusstheit nämlich nicht bloß um ein Subjekt-Objekt-, sondern um ein Subjekt-Subjekt-Verhältnis, begreift er es nicht als abstrakte Gegenüberstellung, sondern als Verhältnis zweier aneinander eine Entwicklung vollziehender Subjekte. Der bewusstlose und insbesondere in dieser Bewusstlosigkeit bei anderen ein Lachen provozierende Eine verharrt keineswegs im unbewussten »Zustande der bloßen Fähigkeit zum Lächerlichen«, da dieser »ein ihm selbst unziemlicher« ist; denn zum »Begriff des Geistes gehört doch offenbar das Wissen von sich« 23 , das diesem Subjekt aber zunächst mangelt. Erst das lachende Subjekt wird zum Anstoß einer erkenntnisstiftenden Entwicklung im Sinne der Verwandlung des unbewussten Zustands in Bewusstsein; erst das Lachen, die »Gewaltthat, den in seinem Widerspruch Ruhenden zu dieser Bewegung und Belebung desselben zwingen zu wollen« 24 , nötigt dem vernünftigen Subjekt auf, ihn in das wissende Gelächter hineinzuholen: Nimmt er das Angebot an, »so lacht er mit, und wird sich selbst zum Gegenstande des Gelächters; nimmt er es nicht an, so lachen die Andern nur desto lauter darüber« 25 . Das Komische besitzt somit ein reflexiv-epistemisches Moment, indem Lachen ein Gewaltakt am Unbewusstsein des Anderen ist, der durch die Möglichkeit des Einstimmens ins Gelächter über sich Selbstbewusstsein gewinnen kann. Im Vergleich kann gesehen werden, dass Ruge diese Ausführungen in Analogie zu Hegels Bestimmungen des Lachens formuliert, denn auch Hegel fragt angesichts des Lachens nach intersubjektiven 22 23 24 25
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Bezügen, geistiger Fortbildung und schließlich absolut-geistiger Funktionalisierung des Lachausdrucks, wodurch dieser vollends in Selbstbewusstsein aufgehoben wird. Es zeigt sich, dass Hegel mit seiner Geistphilosophie keine ›reine Metaphysik der Subjektivität‹ schreiben will, sondern eine konkrete Geistphilosophie subjektiver Vollzüge als Bezüge. 26 Dazu muss er das Subjekt als selbstbezügliches Ich im Spannungsfeld von Natur und Geist und zugleich im Kontext seiner konkreten Lebenswelt verorten. Seine Vermittlung der Physiologie des Lachens mit der Inhaltsbestimmung freier Geistigkeit ermöglicht es, beide Seiten des Lachens, d. h. innere Empfindung als auch äußeren Ausdruck, im Prozess der fortschreitenden Kultivierung und Kollektivierung zu einem geformten Ausdruck zu begreifen. Hegel meint, das Lachen sei »Auflösung und hat viele Grade: das gemeine Ausschütten, das Lachen der Heiterkeit und das Lächeln der edlen Seele, der höheren Geistigkeit« 27 . Dieser Bildungsprozess erstreckt sich auch auf den Gehalt: Herangebildet wird ebenso das, worauf Lachen verweist, d. h. die inneren Empfindungen und Vorstellungsinhalte, die sich quasi in ein und demselben Prozess mit vergeistigen. ›Vergeistigen‹ bedeutet u. a., nicht alles Kontrastive sogleich als Lachen machende Irritation aufzugreifen, sondern die allgemeine Seite hervorzuheben. Hegel entdeckt also wie Ruge das wesentliche Lachen nicht im spöttischen Verlachen von allem und jedem, sondern in einer zunehmend Differenzierung und Distinktion vermehrenden Selbstbezüglichkeit als Selbstverlachen, gewonnen durch die Relation mit anderen. In der sozialen Sphäre schafft das Lachen Identitäten des Selbst in seiner Lebenswelt, die Zugehörigkeit zu Gemeinschaften, die Abgrenzung gegen andere sowie das Selbstbild in der Anerkennung durch ebendiese. Ruge greift Hegels Gedanken auf, indem er ebenfalls den Wesenskern des Lachens als »Gedankenbewegung« eines »thätige[n] Geist[s]« versteht, die ein rationaler Akt ist, der sich auf dem Wege der entäußernden »Erschütterung« beim »Eintreten des Komischen in den Geist« 28 vollzieht. Die ausgleichende Erschütterung ist Folge des Erkennens: Geist »befreit sich von seiner Schranke, so wie er sie
Vgl. Birgit Sandkaulen: »Die Seele ist der existierende Begriff«. Herausforderungen philosophischer Anthropologie. In: Hegel-Studien 45 (2010), 45 f. 27 HGW 25,1, 59. 28 RWB 1, 199. 26
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erkennt« 29 ; er macht sich absolut, indem er sich von den Fesseln des bewusstlosen Weltbezugs befreit sowie in dieser Befreiung als Akt der Selbstverwirklichung wieder zu sich selbst findet. Diese Selbstverwirklichung des Menschen ist ihm der tiefere und eigentliche Grund des lachenden Genusses; es ist die unverlierbare Individualität, die hier zur Sicherheit ihres Selbstgefühls gelangt, nichts weniger als die »höchste Stufe dieses allgemeinen Selbstbewußtseins«, der »ästhetische Zeugungsact des freien Menschen« 30 . Hegel wie Ruge gelangen folglich zur vollen Anerkennung des Lachens als eines geistigen Selbstzwecks. Gemäß der allgemeinen Darstellungsrichtung, die Hegel verfolgt, muss auch die Theorie des Lachens als ein Stufengang verstanden werden, der an multipler Bezüglichkeit zugewinnt. Telos ist das vollständige Durchsichtigmachen des Lachens als Selbsterkenntnis des Geistes. So sind schon im anthropologisch bestimmten Lachen höhere Formen der freien Komik angelegt – dies zu denken, ermöglicht sich durch den Systemgedanken. Über den sozialen Zusammenhang hinaus ist es aber vor allem die Kunst, die das Lachen für überindividuelle, kultur- und weltgeschichtliche Zwecke in den Dienst nimmt: Sie verdichtet die Komik des Lebens in absolut-geistiger Weise, wie sie in diesem gewöhnlich nicht aufscheint, und wird dem Leben selbst wiederum zur Vorlage, sich tiefer über sich zu verständigen bzw. für die eigene zunächst bewusstlose Komik zu sensibilisieren. Es sind die Vorlesungen über die Philosophie der Kunst sowie die Phänomenologie des Geistes, in denen Hegel auch nach dem Lachen als einer erkenntnisleistenden ästhetischen Erfahrung fragt.
IV. Heimkehr des Lachens in den absoluten Geist: Dimensionen der Kunstphilosophie Der Konnex zwischen Anthropologie und Kunstphilosophie gerät in Sicht: Wie das Lachen als Zeichen freier Geistigkeit kann auch das Kunstwerk als äußerlich gesetzter Ausdruck innerer Prozesse verstanden werden, die an der Leiblichkeit als lebendiger Materie erscheinen. Auch Kunst ist sinnlich expressiver Geist. Im Lachen erreicht dieser Ausdruck ästhetisches Selbstbewusstsein; beispiels29 30
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weise das Lachen des Komödienschauspielers ist nicht bloß sinnlich leiblicher Ausdruck einer Seelenregung, es ist leiblicher Ausdruck des Selbstverhältnisses des freien Menschen, an welchem auktorial Bewusstwerdungsprozesse selbstbestimmter Subjektivität anschaulich dargestellt werden. Indem das Komische in der Kunst zur Selbstanschauung des geistigen Menschen wird, löst es den Vollbegriff des Ästhetischen ein, wie Hegel ihn allgemein für die Kunst festschreibt. Komödienerfahrung zeigt sich als sinnlich konkreter Begriffsinhalt. Auch Ruge spitzt seine Theorie des Komischen in der Ästhetik zu, ja es zeigt sich, dass er wie Hegel seinen basalen Begriff des Komischen für die Analyse der Funktion von Witz und Lachen innerhalb der Kunst entwickelt hat. Kernmoment des Komischen war ihm wie demonstriert das Stiften des Freiheitsbewusstseins, Enthüllen der Wahrheit, der Stachel der Kritik. Die politisch-ästhetische Dimension las sich bereits mit, wird von Ruge aber explizit in literarischen Rezensionen aus derselben Schaffensphase auseinandergesetzt: In der Studie Heinrich Heine und seine Zeit entwickelt er eine politische Theorie der komischen Literatur, worin der Witz als scharfe Kritik an den Widersprüchen des monarchistisch repressiven Preußen ausgedeutet wird; »Heine ist das Extrem der Selbstbefreiung, der Witz, der über Alles hinaus ist« 31 . Diese Form von Literatur ist Ruge ein »Verstand, der die Welt nicht ernst nimmt, sondern […] kritisirt« – ein solcher ist für ihn »immer schon die Revolution« 32 selbst. Subversives Potential entfaltet er aber nicht als Waffe gegen Undemokratie und prekäre Verhältnisse; die Annahme einer solchen unmittelbaren politischen Wirksamkeit wäre naiv. Es ist vielmehr seine aufklärerische Funktion im Kampf gegen gezielte ideologische Verschleierung realer Unfreiheit im Staat der vernunftlosen Wirklichkeit. Im literarischen Witz bricht der gesellschaftliche Widerspruch hervor und wird einsichtig. Ruge ist überzeugt, mit einer solchen Zerstörung des Scheins werde auch der Wille zur Durchsetzung freiheitlicher Zustände einhergehen: »Wie der Witz sehr am Orte ist gegen alles Unwahre, so die Revolution gegen alles Freiheitswidrige.« 33 Verbürgt ist ihm dies dadurch, dass der Witz »überall das Selbstbewußtsein der Person geltend« mache und »ihren unbefange-
31 32 33
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nen […] Zustand« 34 aufhebe. Komik ist das Ausdrucksmittel, welches das Selbstbewusstsein zum Wissen seiner Stellung im Politischen befreit und durch soziale Vermittlung zu sich selbst befreiter Selbstbewusstseine den Staat demokratisiert. Politische Bedeutung in der Kunst gibt auch Hegel dem Komischen, allerdings weniger in der Literaturszene seiner Gegenwart als vielmehr in historischen Etappen des Kunstschaffens verortet. Hegel bestimmt die komische Kategorie keineswegs ahistorisch, sondern durch einen eigenwilligen methodischen Schritt: Der Begriff der alten attischen Komödie des Aristophanes ist ihm das Substitut für eine bewusst ausgesparte allgemeine Definition des Komischen in der Ästhetik. Er ist überzeugt, eine ungeschichtliche Bestimmung gehe am Gegenstand vorbei, weil sich der Begriff immer schon in konkreten, einzelnen Gestaltungen verwirkliche. Stattdessen fragt er, unter welchen Bedingungen die Momente der alten Komödie in die Neuzeit verlängert werden können und inwiefern sie umgeschrieben werden müssen. – Von großem Interesse ist es dabei, dass er die Komödie nicht bloß als vollwertige und mit den ernsten Gattungen gleichrangige Kunstform anerkennt, sondern in bestimmter Hinsicht sogar als eine der Tragödie überlegene künstlerische Gattung – und zwar in zweierlei Verständnis. Erstens hat sich das Komödiensubjekt im Lachen von der tragischen Macht des Göttlichen befreit. 35 Es ist ganz Mensch, und nicht bloß individuelles Attribut des Absoluten, wie der Heros, der auf Erden allein das verwirklicht, was im Olymp vorgezeichnet ist. Die Erkenntnis, sich selber Selbst zu sein, seine Wahrheit nicht im Götterhimmel, sondern in sich zu haben, ist Hegel eine umfassende Revolution der Denkungsart durch die Komödie. Dies verdeutlicht sich an der tragischen und komischen Maske: Um zum eigenen Selbst zu finden, muss das Selbstbewusstsein des Helden »aus seiner Maske hervor treten, und sich darstellen« 36 . Wenn das Komödiensubjekt also sein Selbst als ein solches erkennt, das nicht Agens und Attribut einer göttlichen Macht ist, muss es sich hinter der Maske gefangen Ebd., 27. Folgende Ausführungen beziehen sich auf Hegels Phänomenologie des Geistes: HGW 9, 397 ff.; vgl. dazu auch: Schulte: Die »Tragödie im Sittlichen«, 63 ff., 247 ff., 275 f.; Niklas Hebing: Die ästhetische Geburt selbstbefreiter Subjektivität. Hegels dreifache Theorie der klassischen Komödie. In: Filozofija i društvo 24 (2013), 212– 238. 36 HGW 9, 397. 34 35
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fühlen. In der Tragödie war die Maske dem Helden noch wesentlich; der Schauspieler verschwand hinter ihr als allgemeiner Charakter, bestimmt und nicht selbstbestimmt, gesichtslos und überindividuell blieb er leblos. Das komische Subjekt hingegen erkennt die Maske als Schein und spielt mit ihr, kann sie abnehmen, um einzelner Mensch, sie wieder aufsetzen, um Charakter oder Persona zu sein. Lachend bricht aus diesem ironisch offenbar gewordenen Schein die konkrete Individualität hervor. Absoluter Handlungsgrund ist ihr nicht mehr das ewige Schicksal als ein nie abreißender Faden der Rache, der Opfer um Opfer fordert – absoluter Handlungsgrund ist sie nur sich selbst; und selbstversöhnt ist sie allein sich Gott und wahres Schicksal. – Für den Chor als Repräsentanten des Volkes, aber auch für die Zuschauer, bedeutet dies, nicht mehr in Jammern und Schaudern zu erstarren, nicht mehr in Furcht vor Göttern und der mitleidlosen Notwendigkeit des Schicksals zu verharren. Daher sagt Hegel, hier kehre das Gelächter der Götter Homers heim in das menschliche Selbstbewusstsein, so dass dieses es plötzlich als ein in den Olymp hineinprojiziertes des Menschen durchschaut. 37 Es ist sein heimgekehrtes Lachen, das sich schließlich auch gegen die Göttermacht wendet, die menschlich, allzumenschlich für kein wahres Absolutes mehr gilt. Göttlich ist allein das menschliche Lachen, das die Anschauung der eigenen Menschlichkeit vermittelt. Des Menschen Spiel wird zur »göttliche[n] Komödie« 38 ; diese vereint Heterogenes: Sie ist Wissen vom Tod Gottes und der Religion, sie ist zugleich Guckkasten der versammelten Stärken und Schwächen des Menschen. Als zweiten Punkt demonstriert Hegel, dass dieser zunächst nur vereinzelt bestimmte Mensch aber nicht in subjektivistische Willkürfreiheit abrutscht. Fernab eines Verlusts der Gemeinschaft und ihrer wesentlichen Bezüge arbeitet er einen mit der Komödie aufkommenden demokratischen Geist heraus. 39 War die Tragödie noch der Theaterraum, der den aristokratischen Protagonisten gehörte, sind es in der Komödie die Bürger, die selbstbestimmt handeln. Der ›Demos‹ erstürmt die Bühne und gibt sich damit einen selbstbewussten Ausdruck der eigenen Kraft und Substantialität. Auf den Brettern des Theaters schaut er sich an, in seiner Wahrheit und seinem ganzen Recht: Frauen, Kinder und Metöken, die noch in der Tragödie patriar37 38 39
Vgl. ebd., 399. Aus Hegels Naturrechtsaufsatz: HGW 4, 459. Vgl. HGW 9, 398.
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chalisch unterdrückt waren, erhalten eine Stimme. Bestand der tragische Freiheitsbegriff der alten Polis noch darin, dass bloß »Einige frey sind, nicht der Mensch als solcher«, vor allem nicht die »Sclaven« 40 , artikuliert die Komödie den Drang einer gemeinschaftlichen Bewegung, den Begriff ›Mensch‹ auf alle Menschen auszuweiten: dass von der Freiheit niemand ausgeschlossen bleibe. Dieses Bewusstsein bleibt nicht innerlich, es ist bestrebt, sich eine politische Wirklichkeit zu verschaffen. Das fröhliche Ende der Komödie erscheint als Signum einer freiheitlich ausgelassenen Lebensbejahung. Das hat weitere politische Konsequenzen: Die Tragödie war letztlich affirmativer Ausdruck der Polis, denn sie erreichte die Befreiung des Helden aus dem Konflikt mit der politischen Herrschaft nur mit Hilfe seiner Opferung. 41 Das absolute Schicksal demonstrierte die Übermacht der absoluten Autoritäten Polis und Götterhimmel und ließ terroristische Subjekte wie Antigone in der bedingungslosen Unterordnung untergehen. Anders die Komödie: Der Held wird der Vernichtung durch das göttliche Schicksal enthoben, und zwar indem er selbst als Göttlichkeit und Schicksal erscheint. Im Lachen der Komödie entsteht das Bewusstsein, die alte Ordnung nicht als adäquate Wirklichkeit des Geistes anerkennen zu können, weil es ihr unmöglich ist, das Recht der Individualität des Einzelmenschen zu integrieren. Das verlangt nach neuer Objektivität. Das Verlachen der obsoleten Politik stiftet im Kollektiv ein Selbstbewusstsein, das auf tätige Veränderung als Verwirklichung des Neuen drängt. Dieses Neue stellt sich dar als demokratische, hierarchiefreie Wirklichkeit, nicht zuletzt weil das Publikum vom heroisch-aristokratischen Helden ununterschieden ist. Alle stimmen befreit ein in das Lachen der selbstsicheren Subjektivität auf der Bühne. Es ist dieser Aspekt der lachenden Revolution, der sich den Hegel-Schülern anbietet, um an die Komödientheorie des Lehrers anzuknüpfen: Heinrich Theodor Rötscher bestimmt die Komödie als künstlerisch nachvollzogene Auflösung überkommener Staatsordnungen durch subversive Subjektivität 42 ; Bruno Bauer überführt die ›Heimkehr des Lachens‹ in eine provokante Religionskritik 43 ; FrieHGW 18, 152. Vgl. HGW 9, 251 ff., 393 ff. 42 Vgl. Heinrich Theodor Rötscher: Aristophanes und sein Zeitalter. Eine philologisch-philosophische Abhandlung zur Altertumsforschung. Berlin 1827, 47. 43 Vgl. Bruno Bauer: Hegels Lehre von der Religion und Kunst von dem Standpunkt des Glaubens aus beurteilt. Leipzig 1842, 223. 40 41
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drich Theodor Vischer weitet Hegels Theorie zur allgemeinen Lehre vom Komischen aus, in welchem sich ein Bewusstsein der Selbständigkeit und Selbstproduktion des Menschen ausspreche, so dass seine Formen die geschichtlich wie begrifflich höheren seien: es enthalte »das Tragische […] in sich, hat somit mehr, ist darüber hinaus« 44 .
V. Welthistorisches Selbstbewusstsein: Das Happy End der Geschichte Dieses Darüberhinaussein des Komischen kann zurück auf Hegel bezogen werden: Er hat die politische Dimension am Lachen philosophisch durchdrungen, veräußerter Ausdruck einer Überwindung alter Ordnung zu sein. Dass ein ehedem erhabener Ernst sich ablebt, in Komik verschwindet und mit dieser etwas Neues beginnt, sind wesentliche Momente, die Hegel zu einer geschichtlichen Gesetzmäßigkeit erhebt, die am Übergang zwischen Zeitaltern, Epochen und politischen Ordnungen Realität gewinnt. Lachen wird zum Geburtshelfer, zur Besinnung auf die Macht der kollektiven Subjektivität, die das Obsolete tatkräftig zu überwinden drängt. – Ausdrücklich gelange die schöne Kunst der Griechen durch die Komödie an ihr Ende, so dass am Komischen das Ende des klassischen Kunstbegriffs als entscheidende Zäsur in der Geschichte ablesbar werde, ohne Trauer, aber mit Konsequenzen. 45 Vom Komödienkonzept ausgehend entwickelt Hegel sein Verständnis weiterer komischer Formen: Etwa die Widersprüche und Probleme der spätrömischen Kaiserzeit erhalten eine ideale künstlerische Anschauung in der Satire. 46 Das Ende einer ehedem glorreichen Epoche lässt sich auch hier mit den Mitteln des Komischen vorzüglich verdichten. Gleiches entdeckt Hegel bei Künstlern, die den Untergang des französischen Absolutismus in lachenden Antizipationen erahnen: Diderots Rameaus Neffe und insbesondere Beaumarchais’ Figaro-Trilogie, zu der Napoleon schreibt, die Revolution habe nicht etwa mit dem Sturm auf die Bastille begonnen, son-
Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, Bd. 6. Stuttgart 1857, 1444. 45 Vgl. Hegel: Vorlesung Die Philosophie der Kunst. Im Sommer 1823. Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho. Zitiert nach dem Manuskript, 288. Im Folgenden zitiert als ›HVK‹. 46 Vgl. ebd.. 44
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dern mit diesem Theaterstück. 47 Nicht zuletzt in Hegels begeisterter Interpretation des Don Quixote wird deutlich, dass ihm die komischen Gestaltungen ästhetische Widerspiegelung sozialen Umbruchs sind. 48 Am Ende historischer Zeitabschnitte lebt sich der vormalige Ernst dieser Kunst unter schallendem Gelächter ab. – Doch jedes ›Happy End‹ wird neuer Anfang sein. An der Komödie seiner Gegenwart, die Hegel gegen deren Kritiker vehement verteidigt, preist er ein bürgerliches Selbstbewusstsein, das um seine Größe weiß und sich zugleich selbstkritisch die eigenen beschränkten Privatinteressen, das sogenannte ›Versumpfen‹ in kleinlichen bürgerlichen Zwecken, ankreidet. 49 Schließlich feiern Hegels Gedanken zum Humor die gelungene Option einer zeitgenössischen Dichtung der heiteren, freien Humanität. 50 Hegel macht in Einzelanalysen deutlich, dass wesentliche Konkretionen der komischen Kunst, ihrer höchsten Bestimmung und Möglichkeit nach, in einer Phase soziopolitischer Veränderungen entstehen. Die Formen eignen sich zu Ausdrucksmitteln, um geschichtliche Wendepunkte adäquat zu verdichten und das Erfahrungspotential abschließend zu reflektieren. Sind die Masken zu leeren Hüllen geworden, abstrakte Figuren ohne Lebendigkeit und Wesen, wird die Nichtigkeit im Gelächter über sich aufgeklärt. Als Spiel des erfüllten Gebietens ist das Komische nicht mehr nur Ende, sondern Vollendung. 51 Ist es aber Vollendung, muss es konsequenterweise als Ziel begriffen werden, auf welches die Entwicklungen hinausliefen. Sobald der Höhepunkt erreicht ist, ist alles Vorhergehende vergangen. An den Rändern zeigt sich sodann die vergangene Gestalt ganz unverstellt. Im Ende erlangt sie Wissen von ihrem Wesen, ihren Grenzen, ihrer Geschichtlichkeit. Im Verschwinden gibt sich das Ganze zu erkennen, denn erst in der lachenden Selbstdistanzierung wird erkennbar, was vorbei ist und als Geschichte begriffen werden kann. Komik als Vollendung ist entscheidendes Moment der Geschichtserkenntnis und in dieser Erkenntnis Befreiung, Befreiung der Geschichte zur vollen Durchsicht ihrer selbst. In Hegels philosophischer Ästhetik wird das Komische mit einer besonderen Bedeutung für das Vgl. HGW 9, 282 f. Vgl. HVK, 181 ff. 49 Vgl. ebd., 286 f.; vgl. auch: HGW 15, 48; HGW 16, 3 ff. 50 Vgl. HVK, 184 ff. 51 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Hamacher: (Das Ende der Kunst mit der Maske), 121 ff. 47 48
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kollektive Geschichtsbewusstsein der geschichtlich Handelnden verbunden. Das wirkt nicht zuletzt auf den späterhin berühmtesten Vertreter der folgenden Generation.
VI. Lachender Materialismus: Komödie im Geschichtlichen bei Karl Marx Unumwunden kann hinsichtlich Marx von einem »Ansatz zu einer wirklichen Weiterentwicklung der Thesen Hegels zur Komödie« 52 und zum Lachen gesprochen werden. Er denkt Hegel unter Abgrenzung und gleichwohl in engem Bezug auf dessen kunstgeschichtsphilosophische Bestimmungen fort. Ob dabei die Komödie allerdings lediglich »als Metapher für den Abschluss von welthistorischen Epochen« 53 verstanden werden sollte, muss im Rahmen der vorliegenden Untersuchung in Zweifel gezogen werden. Sie ist mehr bei Marx. Zwar hat er seine Philosophie nicht nach einem Hegel vergleichbaren Systemgedanken entworfen, der ja das Lachen zunächst anthropologisch bestimmt, um es für geschichtsphilosophische Funktionen grundzulegen; er hat ebenfalls keine umfangreicheren Ausführungen kunstphilosophischen Inhalts an das Licht der Öffentlichkeit gebracht. Dennoch ist die Kunst, auch die komische und vor allem in der Literatur, für ihn wie für Hegel ästhetischer Reflex geschichtlichen Bewusstseins. Auch wenn Marx künstlerische Phänomene nicht um der Phänomene willen zum Gegenstand macht, sondern zumeist in den Kontext politischer Problematiken stellt, kommt der Kunst eine systematischere Relevanz zu als bloß eine Metaphern bereitstellende. Wie Hegel begreift Marx künstlerische Praxis als in Abhängigkeit stehend von der Dynamik des Geschichtsprozesses; oder wie er sich in der nicht publizierten Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie von 1859 ausdrückt: »an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft« 54 . Für Marx’ Gegenwart der »Lokomotiven und elektrischen Telegraphen«, der »Druckmaschine« und »Blitzableiter« kann die griechische Kunst heroischer Handlungen Kraft: Zum Ende der Komödie, 314. Ebd. 54 Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Berlin 1956 ff., Bd. 13, 641. Im Folgenden zitiert als ›MEW‹. 52 53
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des »Achilles« und göttlicher Taten eines »Vulkan« 55 kein Boden der Selbstanschauung sein. Nicht ohne Grund meint Marx das Wesen seiner Zeit verdichtet in Balzacs Comédie humaine nachlesen zu können. 56 Kunst ist keine gefällige und zufällige Veranschaulichung geschichtlicher Tendenzen, sondern eine substantielle Reflexion des gegenwärtigen Standes, eine Reflexion, die erst möglich wird durch künstlerische Arbeit, die gerade nicht Lohnarbeit mit dem Charakter eines bloßen Mittels, sondern Selbstzweck, also autotelisch, und somit grundsätzlich verschieden ist von ökonomischer Nutzenrationalität, ja dieser sogar zwingend entgegengesetzt. 57 Das Verhältnis von Kunst und Geschichte kann nach Marx’ Modell als dasjenige von Basis und Überbau beschrieben werden. In diesem Sinne gilt ebenso für Tragödie und Komödie, dass sie bewusstseinsgeschichtlicher Ausdruck realgeschichtlicher Prozesse sind. Hegels Naturrechtsaufsatz analog geht Marx in der Einleitung Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1844 auf die dramatische Gattungsdichotomie ein, um in kritischer Absicht Tendenzen der politischen Geschichte zu beschreiben, die in die eigene Gegenwart münden. 58 Bei Marx ist es jedoch nicht die Abstraktheit neuzeitlichen Rechtsdenkens, die ihm Stein des Anstoßes ist, sondern das restaurative ›ancien régime‹ in Deutschland. Nicht bloß dass die deutsche Politik vergeblich auf die durchschlagende Revolution nach Vorbild der französischen wartet und damit deutlich »unter dem Niveau der Geschichte« 59 steht – in unvergleichlicher Rückwärtsgewandtheit werden hier sogar »die Restaurationen der modernen Völker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen« 60 , d. h. der preußische König restauriert seinen Staat im konterrevolutionären Gleichzug mit dem linksrheinischen Nachbarn, ohne dass einer solchen Negation der Negation eine aufständische erste Negation vorausgegangen wäre. Daher betrachtet Marx den progressiven Kampf gegen gegenwärtige Zustände als einen Kampf gegen vergangene Zustände fortschrittlicherer Staaten. Ebd. Vgl. etwa MEW 25, 49. 57 Vgl. Debatten über die Preßfreiheit bzw. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie in: MEW 1, 71; MEW 42, 405; vgl. vor allem Terry Eagleton: Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie, übers. v. Klaus Laermann. Stuttgart/Weimar 1994, 212 ff. 58 Vgl. Hebing: Die ästhetische Geburt selbstbefreiter Subjektivität. 59 MEW 1, 380. 60 Ebd., 379. 55 56
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Für die Parallele zu Hegels Ästhetik des Komischen stellt es sich als aufschlussreich heraus, dass Marx im politisch-historischen Kontext vom ›Vollendungscharakter‹ spricht, der mit dem gegenwärtigen preußischen Staat eingelöst worden sei. Sogleich hebt er hervor, den Untergang des Absolutismus in den modernen Staaten habe die Weltgeschichte als eine Tragödie erlebt, das deutsche Fortbestehen dieses überholten Herrschaftsmodells als eine Komödie. Da der deutschen Gegenwart höchste Vollendung zugesprochen wurde, erscheint die Komödie auch bei Marx signifikant als das Lachen machende Endspiel einer vormals ernsthaft-erhabenen Gestalt staatlicher Souveränität. »Das moderne ancien régime ist nur mehr der Komödiant einer Weltordnung, deren wirkliche Helden gestorben sind.« 61 Die Analyse deckt sich mit dem, was Marx einige Jahre später in seinen Bemerkungen Zu den Ereignissen in Nordamerika am Rande feststellt: dass nämlich »in der Tat die Komödie über der Tragödie steht, der Humor der Vernunft über ihrem Pathos« 62 . Die Widersprüche spitzen sich zwar in der Komödie in vollendeter Deutlichkeit zu, doch in welchen Punkten unterscheidet sie sich von der Tragödie? An Hegels Position konnte unterstrichen werden, nicht von einer unzulässigen Vermischung der Sphäre des objektiven mit derjenigen des absoluten Geistes ausgehen zu dürfen; es käme einer Überforderung der künstlerischen Form gleich zu meinen, ihre kritische Energie ginge unmittelbar auf das lachende Bewusstsein über und bündele in ihm eine nach außen drängende Potenz der Subversion. Marx stimmt mit Hegel überein, in der Komödie finde nachträglich ein zeitgeistiges Selbstbewusstsein seinen markanten Ausdruck und verständige sich darin über die Erfordernisse der politisch-sozialen Handlungssphäre. Marx macht deutlich, als wahrlich ›tragisch‹ könne die Geschichte vom Untergang der alten Ordnung so lange bezeichnet werden, wie diese an ihre Berechtigung »glaubte und glauben mußte«, »die Freiheit dagegen ein persönlicher Einfall war« 63 . Zur Erinnerung: Hegel sprach in der Phänomenologie des Geistes davon, dass in der Tragödie das in sich selbst gründende Selbstbewusstsein sich noch hinter der Maske verbarg, weil die Substantialität von Polis und Götterhimmel noch keine Ironie als Aufschein des Subjektivitätsprinzip zulassen konnte. Marx meint, diese 61 62 63
Ebd., 382. MEW 15, 553. MEW 1, 381.
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politische Ordnung sei zwar schon »ein weltgeschichtlicher Irrtum«, sie kämpfe aber »mit einer erst werdenden Welt« 64 , ein Kampf, der dem von Hegel unterstrichenen Kampf der Polis vergleichbar ist, die sich in Sokrates gegen ihr eigenes und in ihr aufkommendes modernes Rechtsprinzip stellt. – Hat die Freiheit sich aber als Freiheit jedes einzelnen Bürgers vom bloß fixen ›persönlichen Einfall‹ zur »Aufgabe der Geschichte« 65 emanzipiert, und ist die herrschende politische Ordnung nicht in der Lage, dieses geschichtlich höhere Prinzip zur Wirklichkeit kommen zu lassen, bildet das ›ancien régime‹ »sich nur noch ein, an sich selbst zu glauben, und verlangt von der Welt dieselbe Einbildung« 66 . Getäuscht und betäubt durch die Einbildung wird die alte Ordnung lächerlich. So scheint auf, dass allein im Kontext der Geschichte der Befreiung, die als Zusammenhang von Real- und Bewusstseinsgeschichte verstanden wird, die komische Gattung als ideale Ausdrucksform begriffen werden kann, in welcher sich der politische »Anachronismus« 67 in voller Klarheit artikuliert. Marx macht in dieser Geschichte Phasen unterschiedlicher Dignität als gelungener oder misslungener Durchsetzung des Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit aus. Die Geschichte der Freiheit »macht viele Phasen durch, wenn sie eine alte Gestalt zu Grabe trägt«, d. h. eine Gestalt, die versucht, sich gegen die Dynamik des geschichtlichen Fortschritts zu stemmen; die »letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ist ihre Komödie« 68 . In Marx’ Komödienbegriff bloß eine Metapher für historische Zusammenhänge zu sehen, ist naheliegend, jedoch einseitig, denn Marx deutet an anderer Stelle an, dass die literarische Form immer auch lachende Erkenntnis ist: Phasen der Geschichte verlaufen als Komödie, und zugleich offenbart die Komödie die Komik dieses Verlaufs. 69 Eine geschichtliche Aufeinanderfolge von Tragödie und Komödie beobachtet Marx jedoch nicht allein im Deutschland seiner Gegenwart. Der Übergang als Umschlag in lächerliche Farce wird von ihm auch in anderen historischen Abschnitten erkannt. Nach den einschneidenden europäischen Ereignissen um die Jahre 1848/49 wandelt sich jedoch der Komödienbegriff von Marx, und zwar bedingt 64 65 66 67 68 69
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Ebd. Ebd., 379. Ebd., 382. Ebd., 379, 382. Ebd., 382. Vgl. MEW 29, 590 ff., 600 ff.; MEW 32, 302 ff.; vgl. auch: MEW 1, 104; MEW 5, 41.
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durch seismische Erschütterungen auf dem Feld der Geschichte. 1852 verdichtet er seine historische Erfahrung mit den Entwicklungen im restaurativen Frankreich zu seiner Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Gleich zu Beginn, einer thetischen Bündelung des Ergebnisses historiographischer Analyse gleich, parallelisiert Marx ebenfalls Strukturen des Geschichtsprozesses mit der Kontinuität zwischen den dramatischen Gattungen, nun mit explizitem Verweis auf die Philosophie, der dieser Gedanke entlehnt ist: »Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.« 70 – Mindestens zwei Aussagen fallen sogleich ins Auge: Nicht bloß von zwei Ereignissen und ihrem Verhältnis der Analogie und Wiederholung ist hier die Rede, sondern von einer Art weltgeschichtlichem Gesetz, das in allen großen Taten wirksam sei. Marx verallgemeinert seine Einzelbeobachtung zur immer wiederkehrenden Prozessgestalt. Zum anderen deutet er auf Hegel hin, jener habe den Vergleich mit einer Bewegung vom Tragischen zum Komischen anzuführen versäumt. Ob Marx sich aus Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte tatsächlich auf den Abschnitt über Rom von der Republik zum Imperium bezieht, soll nicht weiter thematisiert werden 71 ; entscheidend ist, dass sich Marx auf Hegels Philosophie der Geschichte bezieht und nicht auf andere Texte, denn er kennt sie gut genug, um zu wissen, dass nur dort vergessen wird, den Tragödien-/ Komödienvergleich anzustellen. So stimmt Marx mit Hegel überein, die Komödie als künstlerischen Ausdruck zu deuten, in welchem sich die Kehre von einer ehedem großartigen Idee und ihrer geschichtlichen Verwirklichung zum Lachen machenden Abklatsch reflektiert. Gemäß dem Anlass und Thema seiner Schrift ist diese Farce die Konterrevolution Louis Bonapartes, des Neffen von Napoleon, der 1851 kurz nach dem Putsch nicht nur republikanische Errungenschaften der 48er-Revolution, sondern auch der Revolutionen unmittelbar zuvor zu Nichte und sich selber schließlich zum Kaiser der Franzosen machte. Im Hintergrund steht die Tragödie der Französischen Revolution. Die Ereignisse ab 1848 analysiert Marx und nimmt sie zum Anlass, allgemeine Einsichten in die Dynamik von Revolution und Konterrevolution zu formu70 71
MEW 8, 115. Vgl. Kraft: Zum Ende der Komödie, 314 f.
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lieren. Dabei entstand eine Komödientheorie der Geschichte, die aus Hegels Ansatz entwickelt wird. Die tragischen Helden der Revolution handeln nach »Selbsttäuschungen«, die für das Gelingen ihres weltgeschichtlichen Handelns unabdingbare Voraussetzung sind; sie gewähren ihnen, »den bürgerlichen beschränkten Inhalt ihrer Kämpfe sich selbst zu verbergen und ihre Leidenschaft auf der Höhe der großen geschichtlichen Tragödie zu erhalten« 72 . Die undurchschauten Bedingungen ihres Handelns werden auf diese Weise in subversiver Produktivität wirksam, eine Produktivität, die als Überwindung der alten Ordnung notwendig zerstörerisch im Sinne des ›terreur‹ wirken musste. So konnte die Revolution nur in der Guillotine tragisch gipfeln. Ist dieser erste Akt abgeschlossen, verlassen die mordenden und sterbenden Heroen die Bühne und machen Platz für bürokratisch penible Juristen, die fleißig und ganz unheroisch die nötigen Verträge und Verfassungen innerhalb der Grenzen der revolutionär durchgesetzten Grundsätze ausarbeiten. Damit sich aber in Marx’ revolutionsdramatischem Dreiakter dieser tragische Ablauf in komisches Wohlgefallen auflösen kann, ist ein verändertes Handeln nötig, das durch Ziehen einer Lehre aus der jüngsten Geschichte entsteht. Es soll umgedacht und verhindert werden – und dennoch steht schließlich »der Revolution eine unerhörte Blamage bevor […]« 73 . Es entsteht »die große Komödie der Gleichheit, die der ganzen Geschichte ihren Sinn verleiht« und die Revolution »in komische Ironie« 74 verwandelt. Damit die in Revolutionäre und Gegenrevolutionäre zerrissene bürgerliche Gesellschaft wieder mit sich versöhnt werden kann, wird die Forderung der radikalen, klassenlosen Demokratie in die Wirklichkeit des Frühkapitalismus verkehrt, mit dem sich die Mehrheit zunächst irgendwie arrangieren kann. Was in der Tragödie noch mit Blut und Leben umkämpft wurde, wird hier schlicht vergessen und in Bedeutungslosigkeit verzerrt. Die proletarische Revolution hat sich über ihre tragischen Konsequenzen hinweg verloren und ihren politischen Inhalt Preis gegeben, weil das Proletariat durch eine Reihe ergebnisloser Kämpfe an Kraft verloren hatte. Das gegenseitige Aufreiben von politisierten Proletariern und MEW 8, 116; vgl. hierzu und im Folgenden: Hauke Brunkhorst: Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Frankfurt a. M. 2007, 191 ff. 73 MEW 8, 119. 74 Brunkhorst: Karl Marx, 198. 72
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Geschichte der Befreiung – Befreiung der Geschichte
gemäßigten Bourgeois schuf die günstige Gelegenheit für den Hanswurst Bonaparte, die Gunst der Stunde zu ergreifen. Trotz seiner Lächerlichkeit besaß er genug Ernst, im Verbund mit dem Lumpenproletariat die Gegenrevolution einzuleiten. Die weiteren Entwicklungen sind vor allem die Lähmung der heroischen Kräfte, die sich zunehmend mit pseudorepublikanischer Herrschaft anfreundeten. Die Komödie endet heiter ausgelassen im falschen Freudentaumel, denn eine solche Freude kann nur entstehen, wenn Selbsttäuschung und Betäubung das revolutionäre Subjekt über den Verlust der politischen Substanz hinwegtragen. Sie ist tragikomisch darin, ihre wahren Ziele auf halbem Wege verloren und sich mit einem abgerungenen Lachen Trost verschafft zu haben.
VII. Reflex und Brechung: Politische Philosophie des Lachens Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Ausführungen stellt es sich als Irrtum heraus zu behaupten, Marx habe in der Erfahrung der historischen Ereignisse auf Distanz zu Hegel gehen müssen. 75 Insbesondere in diesem Element seiner Erörterungen kann er sich auf Hegel stützen. Der große Unterschied, der Marx von Hegel trennt, liegt woanders und wurde augenfällig, als herausgearbeitet wurde, wie Marx seinen Komödienbegriff umdefiniert. Er teilt zwar vor wie nach 1848 Hegels Beobachtung – ebenso wie Heine in seinen Ideen –, dass »nach dem Abgang der Helden […] die Clowns und Graziosos mit ihren Narrenkolben und Pritschen« die Bühne der Weltgeschichte betreten; doch erst nach 1848 bringt er sie zur pessimistischen Analyse, dass dies nach »blutigen Revolutionsszenen und Kaiseraktionen« lächerliche Figuren wie »die dicken Bourbonen« 76 oder Louis Bonaparte seien. Die epistemische Qualität von Komödie und Komödienvergleich verändert sich für Marx also trotz der Gesetzmäßigkeit, die er in Weltgeschichte und Dramenform ausmacht, mit den Erfahrungen, die an den politischen Entwicklungen gewonnen werden und Voraussetzung für die allgemeine Umdeutung seiner Revolutionstheorie zwischen dem Kommunistischen Manifest 1848 und dem Achtzehnten Brumaire sind: von der Zuversicht, es sei nur eine Frage weniger Jahre, bis das entschlossene Proletariat den an Macht 75 76
Vgl. ebd., 191. HW 2, 211.
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überlegenen, aber handlungsunfähigen Bourgeois ein Ende bereitet habe, zur Einsicht, dass diese Entschlossenheit sich auch selber bremsen kann. Auf ganzer Linie mit Hegel steht also lediglich der frühe Komödienbegriff, der von der Gattung als von der Artikulation eines politischen Anachronismus ausgeht, der vom Proletariat als dem tätigen Subjekt der Weltgeschichte Überwindung verlangt: der lachende Widerspruch einer geschichtsdialektisch abgestorbenen Gestalt mit ihrem Fortbestand. Beim späteren Marx ist es die gescheiterte Überwindung, die ein grimassenhaftes Lachen erweckt, von Hegel ausgehend ein groteskes Lachen der verhinderten Vollendung der Geschichte. Was Hegel und Marx aber über alle Phasen und Facetten ihres Komikbegriffs hinweg teilen, ist die höchste Bestimmung, die dem Lachen zu Teil wird, politisches Bewusstsein stiftender Ausdruck geschichtlichen Handelns zu sein. Nicht immer besitzt es diese erhabene Relevanz; doch dass beide Philosophen historische Realisationen herauszustellen fähig sind, beweist das positivistisch nicht messbare epistemische Potential, das in der eruptiven Regung einiger Muskelpartien des Mundwinkels steckt.
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Die Mechanik des Lebendigen Eine Prolepse des Surrealismus oder Henri Bergson zum Lachen Holger Glinka
Gewidmet ist diese Arbeit meinem unvergessenen Freund Harun Farocki (9. 1. 1944–30. 7. 2014), mit dem ich am 2. 11. 2013 im Berliner Paulysaal über Bergsons Theorie des Lachens diskutiert habe.
I.
Zur Publikationsgeschichte von Le rire
Ab 1899 druckt die Revue de Paris in mehreren Folgen 1 Henri Bergsons (1859–1941) Le rire. Essai sur la signification du comique (Das Lachen. Essai über die Bedeutung des Komischen), der bereits ein Jahr später im Verlag Félix Alcan zu Paris auch in Buchform erscheint. Die Publikation erweist sich schon bald als ein großer verlegerischer Erfolg. Im selben Jahr, 1900, tritt Bergson, Sohn jüdischer Eltern, am Collège de France eine Professur für griechische und lateinische, ab 1904 zudem für zeitgenössische Philosophie an. Dies bildet den Auftakt einer mit Ehrungen überhäuften akademischen Karriere. 2 Für seine 1907 erschienene Aufsatzsammlung L’évolution créatrice (Schöpferische Entwicklung) wird Bergson 1927, zur Blütezeit der Pariser Surrealisten, mit dem Nobelpreis für Literatur dekoriert. Le rire wird heute zu den Meisterwerken französischer Essayistik gerechnet. Kurze Zeit nach ihrem erstmaligen Erscheinen wird die kleine Sammlung in mehrere europäische Sprachen übersetzt: 1902 ins Polnische, 1910 ins Schwedische, 1911 ins Englische und 1920 ins Holländische. Die erste deutsche Übersetzung besorgen 1914 Julius Frankenberger und Walter Fränzel 3 für den Jenaer Verlag Eugen Die-
Die drei Teile sind: Du comique en général; Force d’expansion du comique und Le comique de situation; Le comique de charactère. 2 Bergson hält auch Universitätsvorträge zur Thematik des Lachens. 3 Fränzel steht wie z. B. auch Sebastian Kneipp, Arnold Rikli, Friedrich Eduard Bilz, Gustav Lilienthal, Johann Heinrich Lahmann, Bruno Wille, Rudolf Steiner, Gustav 1
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derichs; bis 1924 folgen weitere Auflagen. Der Nachdruck dieser Übersetzung 1948 gehört nach dem Zweiten Weltkrieg zu den ersten Publikationen des Westkulturverlags Anton Hain. 4 Der Verlag wird erst zwei Jahre zuvor im damals in der Französischen Besatzungszone gelegenen Meisenheim am Glan gegründet. Auf Grundlage der 23. Auflage der bei Diederichs ursprünglich erschienen Übersetzung Frankenberger-Fränzel veranlaßt der Züricher Arche Verlag 1972 eine neue Übersetzung des Werkes, die Roswitha Plancherel-Walter besorgt. Ein erster Nachdruck erscheint 1988 bei Luchterhand in Darmstadt. Im August 2011 schließlich wird Bergsons Das Lachen in dieser auf dem Buchmarkt inzwischen vergriffenen Übersetzung als Band 622 der Philosophischen Bibliothek bei Felix Meiner in Hamburg neu aufgelegt. Im Anhang findet sich Bergsons Nachwort zur 23. Auflage des Jahres 1924. 5 In seiner dreiteiligen, mit gut 100 Seiten nicht sonderlich umfänglichen Schrift legt Bergson nicht nur einen Versuch über das Komische vor, sondern sucht darüber hinaus, eine Taxonomie desselben herauszuarbeiten. Zwischen den Zeilen stimmt er dabei einen Lobgesang an auf das künstlerische Schöpfertum – und avanciert so zum Verkünder einer neuen Generation symbolistischer Literaten und bildender Künstler. 6 Gleichwohl sind es nicht nur Symbolisten, sondern mehr noch die Surrealisten, die sich von Bergson inspirieren lassen. 7 Maurice Nadeau erzählt, die jungen Surrealisten beschäftigten sich mit Hegel sowie Carl Einstein und Gräser und Heinz Paasche der von Karl Wilhelm Diefenbach begründeten Lebensreform-Bewegung nahe. 4 Henri Bergson: Das Lachen. Titel der Originalausgabe: »Le Rire«. Ins Deutsche übertragen von Julius Frankenberger und Walter Fränzel. Lizenzausgabe nach der 1921 im Verlage Eugen Diederichs, Jena, erschienenen 2. Auflage der Übersetzung. Meisenheim am Glan 1948. (Sigle: DL + Seitenzahl) 5 Henri Bergson: Das Lachen. Hamburg 2011. (PhB 622) – Diese Ausgabe verweist irrtümlich auf Walter »Fraenkel«, der gemeinsam mit Julius Frankenberger eine deutsche Übersetzung des Essais besorgt habe. Dies ist nicht korrekt. Gemeint ist natürlich Walter Fränzel. – Ebd., 141. 6 Eine Retrospektive auf Bergsons Wirkungskreis eröffnet z. B.: Paul Valéry: Rede auf Bergson. – In: ders.: Werke. Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden. Band 4. Zur Philosophie und Wissenschaft. Herausgegeben von Jürgen Schmidt-Radefeldt. Frankfurt a. M. 1989. 151–155; hier: 152. – In der Zeit der deutschen Besetzung weigert sich Valéry, mit den Besatzungsmächten zusammenzuarbeiten. Als er den Nachruf auf »den Juden Henri Bergson« schreibt, kostet ihn schließlich dieser Text die Position des Präsidenten der Académie française. 7 Vgl. z. B.: Maurice Nadeau: Geschichte des Surrealismus. Deutsch von Karl Heinz Laier. Reinbek bei Hamburg 7. Auflage April 2012. 16.
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Die Mechanik des Lebendigen
»rannten eifrig in Bergsons Vorlesungen am Collège de France und hörten, wie er gegen die Vernunft vom Leder zog und die Allmacht des élan vital, des Lebensschwungs, der schöpferischen Entwicklung verkündete.« 8 Die Konzentration liegt im Folgenden auf der für Henri Bergson zentralen Kontrastierung von Vitalismus sowie einem in besonderer Weise verstandenen Mechanismus, m. a. W. auf dem Dualismus von Lebendigkeit und Erstarrung, von Bewegung und Stillstand (oder welche Antagonismen ansonsten bemüht werden mögen). So sucht der vorliegende Beitrag Bergsons Einsicht in die »Verfalzung des Mechanischen mit dem Lebendigen«, 9 wie er sich in Le rire ausdrückt, in ihren grundlegenden Aspekten nachzuvollziehen. In einer weiteren Perspektive zählt Bergson hier zu denjenigen, die den Weg ebenen für das surrealistische Projekt, in Wissenschaft und Kunst das Bewußtsein zu schärfen für die Phänomenvarianten des Mechanismus. In größeren Überblicksdarstellungen sowohl zum speziellen als auch zum allgemeinen Surrealismus fehlt der Name Bergsons für gewöhnlich. 10
II.
Surrealismus und Politik
Guillaume Apollinaire verwendet im Programm zu Erik Saties Ballett »Parade« den Terminus surréalisme. Der Text von Francis Poulencs Oper Les mamelles de Tirésias (Uraufführung Paris 1947) bezieht Ebd., 16. DL 26. – »D’abord, cette vision du mécanique et du vivant insérés l’un dans l’autre nous fait obliquer vers l’image plus vague d’une raideur quelconque appliquée sur la mobilité de la vie, s’essayant maladroitement à en suivre les lignes et à en contrefaire la souplesse.« – Henri Bergson: Le rire. Essai sur la signification du comique. – In: Henri Bergson: Œvres. Textes annotés par André Robinet. Introduction par Henri Gouthier. Paris 1970. 379–485; hier: 405. (Édition du centenaire) (Sigle: LR + Seitenzahl) – Originalzitate werden immer dann angeführt, wenn der Mechanismus ausdrücklich thematisch ist. 10 Vgl. z. B.: Der Surrealismus in Wort und Bild. 1919–1939. Text von Gaëtan Picon. Aus dem Französischen von Knud Lambrecht. Lausanne 1976. – Surreale Welten. Meisterwerke aus einer Privatsammlung. Piranesi, Goya, Redon, Klinger, Kubin, Ernst, Dalí, Magritte, Klee, Bellmer, Wols, Dubuffet. Mailand 2000. – Karin von Maur: Yves Tanguy und der Surrealismus. Mit Beiträgen von Susan Davidson, Konrad Klapheck, Gordon Onslow Ford, Andreas Schalhorn, Beate Wolf. Ostfildern-Ruit 2000. 8 9
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sich auf das gleichnamige Drama von Apollinaire, das in den Jahren 1903–1916 entsteht; 1916 auch begegnen sich André Breton und Apollinaire erstmals. Apollinaires Veröffentlichung der Tragödie 1917 unter dem Titel »drame surréaliste« führt den Begriff surréalisme sodann in die breitere Öffentlichkeit ein. 11 Louis Aragon bestätigt in Une vague de rêves (Eine Traumwoge) Bretons 1919 angestellte »Bemühungen, den Mechanismus des Traumes zu erfassen, auf der Schwelle des Schlafes die Schwelle und die Natur der Inspiration […].« Nach 1920 sagt sich der französische Surrealismus – was zu selten gesehen wird – vom (zumindest literarischen) Expressionismus los. Werner Spies bemerkt zu einem frühen, noch den expressionistischen Anfängen verpflichteten Werk Max-Ernsts: »Wie in der zentralen Figur der Collage taucht in Max Ernsts Bild Hut in der Hand, Hut auf dem Kopf (um 1913) ein Herr auf, der solch kontinuierlichen Ortswechsel eines Gegenstandes als eine von Bergson stigmatisierte, zum Lachen aufreizende Mechanik vorführt.« 12 Wenn Spies von einem »weltanschaulich oder politisch verengten Surrealismus« 13 spricht, charakterisiert Paul Valéry den Philanthropen Bergson anders: »Er hat mit ganzer Seele an der Vereinigung der Geister und der Ideale gearbeitet, von der er glaubte, sie sollte derjenigen der politischen Organismen und der Kräfte vorangehen […].« 14 In Frankreich herrscht unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine große Kriegsbegeisterung. Der Eifer, insbesondere gegen Deutschland ins Feld zu ziehen, basiert nicht zuletzt auch auf beidseitig gepflegten Klischees; gleichwohl wird z. B. auch im italienischen Futurismus gegen den ›deutschen Geist‹ mobilgemacht. 15 Die Dadaisten dagegen bilden eine kleine Gruppe von Kriegsgegnern, von denen sich niemand freiwillig zum Militärdienst meldet; im Gegenteil setzen sich viele in die neutrale Schweiz ins Exil ab. Ähnlich wie Bergson suchen sich bald auch expressionistische Autoren einer »Enthumanisierung« durch die aufkommende Industrialisierung zu entziehen und warnen vor einer Gesellschaft ohne Jürgen Grimm: Das avantgardistische Theater Frankreichs. München 1982. 79 ff. Werner Spies: Max Ernst. Collagen. Inventar und Widerspruch. Köln 1988. 59. – Andernorts spricht Spies von einem »unreflektierten Mimetismus«. – Werner Spies: Die Rückkehr der Schönen Gärtnerin. Max Ernst 1950–1970. Köln 1971. 17. 13 Spies: Die Rückkehr der Schönen Gärtnerin. Max Ernst 1950–1970. 18. 14 Valéry: Rede auf Bergson. 153. 15 Noch 1922 scheitert Bretons Projekt eines internationalen Kongresses »Verteidigung des modernen Geistes« in Paris. 11 12
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Abb. 1: Max Ernst, Hut in der Hand, Hut auf dem Kopf (um 1913) 16
Einfühlung und Moral. Sie fühlen sich von der Anonymität der Großstadt, von Maschinen sowie durch die diktatorische Autorität der Großunternehmer bedroht, ja selbst zur Maschine degradiert. Geisteswissenschaftler wie Bergson suchen Antworten: Nur die Für die Bearbeitung des verwandten Bildmaterials bedanke ich mich herzlich bei Birthe Zgodda.
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Intuition, die innere Anschauung, nicht der »zergliedernde« Verstand, könne das Wesentliche erfassen. 17 In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg führen in Deutschland die verstärkte Militarisierung bzw. die turbulente Außenpolitik sowie die immensen Forderungen an die Weimarer Republik infolge des Vertrags von Versailles (1919) schon bald zu wirtschaftlichen Problemen und politischer Destabilisierung. Insbesondere durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs mißtrauen viele Künstler der Vernünftigkeit des Menschen im Blick auf eine bessere Zukunft. Die Entdeckung der »Unvernunft«, die besondere Macht der Irrationalität und damit einhergehend des Unterbewußten resp. Unbewußten (Sigmund Freuds Psychoanalyse lernt Breton 1915 kennen 18 ) rücken zunehmend in die Zentren von Kunst und Wissenschaft. Ein näheres Verständnis dieser Wirkungen könnte – so die Hoffnung – eine Art Gesundung der Gesellschaft herbeiführen. Wenn Breton sagt: »Il se peut que la vie demande à être déchiffrée comme un cryptogramme«, 19 dann ist das gesuchte Kryptogramm des Lebens der Traum, »und die Traumdeutung der Versuch seiner Entzifferung.« 20 Gleichwohl spielt die konkrete Deutung des Traummaterials durch Aufdeckung latenter Traumgedanken bei den Surrealisten schon bald keine wesentliche Rolle mehr; alsdann genügt es ihnen, die bislang zu wenig beachtete Präsenz dieser Traumrealität als solcher zu problematisieren. Entsprechend orientieren sie sich auch nicht an der zentralen Forderung Freuds, die Herrschaft des Bewußtseins über den Bereich des Dunklen, Unbewußten, Irrationalen auszudehnen i. S. jenes bekannten Postulats, das Freud 1932 zu den »therapeutischen Bemühungen der Psychoanalyse« rechnet: »Ihre Absicht ist ja, das Ich zu stärken, es 17 Dieser Geist durchweht auch Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes – Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (1918–1922). Schon früher beschwört Friedrich Nietzsche den »Übermenschen«, sprich den neuen Menschen, der sich ungeachtet von Gefahren dem Neuen aussetzen solle (vgl. den »Seiltänzer« in »Zarathustras Vorrede« zu Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, der 1883–1885 erscheint). 18 1916 arbeitet Breton im Psychiatrischen Zentrum in Saint-Dizier. 1921 besucht er Freud in Wien. Dieser verhält sich vorwiegend reserviert gegenüber dem Surrealismus. Die Begegnung zwischen ihm und Breton soll für beide Seiten ausgesprochen enttäuschend verlaufen sein; Freud mißtraut weiteren Begegnungen seither. 19 André Breton: Nadja. Nouvelle édition Paris 1964. 131. 20 Ginka Steinwachs: Mythologie des Surrealismus oder die Rückverwandlung von Kultur in Natur. 2., verb. Aufl. Basel/Frankfurt a. M. 1985. 21. (II. Traum und Automatismus bei Freud und Breton)
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vom Über-Ich unabhängiger zu machen, sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern und seine Organisation auszubauen, so daß es sich neue Stücke des Es aneignen kann. Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee.« 21
Abb. 2: Victor Brauner, Machine surréaliste, 1937
Die fundierende Theorie surrealistischer Schau – in der Retrospektive erscheint der Surrealismus nicht selten inkonsistent, ja esoterisch – soll das bereits 1924 erscheinende Manifeste du Surréalisme (dt. Erstes Manifest des Surrealismus) André Bretons liefern. Dort findet sich folgende Definition: »Surrealismus, Subst., m. – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken versucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung. Enzyklopädie. Philosophie. Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Sigmund Freud: XXXI. Vorlesung. Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit. – In: ders.: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. – In: ders.: Gesammelte Werke. Fünfzehnter Band. Frankfurt a. M. fünfte Auflage 1969. 63–86; hier: 86.
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Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens. Er zielt auf die endgültige Zerstörung aller anderen psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme [deren hellsichtiger früher Theoretiker: Henri Bergson, H. G.] an ihre Stelle setzen.« 22
Bretons »Automatismus« (écriture automatique): Das ist ein instinktiver Produktionsprozeß, 23 dem der Künstler sich überläßt; schon 1920 veröffentlichen Breton und Philippe Soupault, den Breton 1917 bei Apollinaire kennenlernt, ihre gemeinsamen champs magnétiques, ein für den Surrealismus grundlegendes Experiment des »automatischen Schreibens« zur Erkundung des Unterbewußten. 24 Freuds Psychoanalyse – und insbesondere ihr erfolgreichster, populärster Teil: die Traumdeutung – ist im Paris der Surrealisten Gegenstand leidenschaftlicher Diskussionen; eine weitere wichtige Quelle bildet hier Gerard de Nerval. »Bretons Theorie des Surrealismus«, so Peter Gorsen treffend, »stützt sich auf die von Freud analysierten Mechanismen der ›Entstellung‹ (Verdichtung und Verschiebung). Er erkennt in der Traumarbeit eine Parallele zur Entfremdungsästhetik des Surrealismus. Breton, Bergson, Freud setzen sich mit dem reproduzierenden, ›nicht schöpferischen‹ Gedächtnis auseinander, das dem Vergessen und der Verdrängung entrissen werden müsse. Es hat in der synchronen Simultaneität von Wahrnehmung und Erinnerung eine paradoxale Zeitstruktur. Das Unbewusste im ›reinen psyAndré Breton: Erstes Manifest des Surrealismus 1924. – In: ders.: Die Manifeste des Surrealismus. Deutsch von Ruth Henry. Reinbek bei Hamburg 1986. 9–43; hier: 26 f. 23 Siehe hierzu: Hermann H. Wetzel: Das Leben poetisieren oder »Poesie leben«? Zur Bedeutung des metaphorischen Prozesses im Surrealismus. – In: Peter Brockmeier/ Hermann Wetzel (Hgg.): Französische Literatur in Einzeldarstellungen. Band 3. Von Proust bis Robbe-Grillet. Stuttgart 1982. 71–131. – Wetzel betont: »Poesie ist […] für Breton keine literarische Gattung, sondern eine umfassende menschliche Tätigkeit (Poiesis), die das ganze Leben umgestaltet; die Perspektive einer Veränderung des herrschenden Wirtschaftssystems erscheint dann nicht mehr ganz so weit hergeholt. Diese Auffassung von Kunst erinnert teilweise an H. Bergson, Breton radikalisiert und ›demokratisiert‹ aber seinen Ansatz. Für H. Bergson fallen Kunst und praktische Lebensbewältigung auseinander.« – Ebd., 74. 24 Jean Cocteau erinnert sich: »An den Wänden hingen Gemälde seiner (sc. Apollinaires) Freunde. Außer dem Portrait mit dem Nelkenspalier und den staksigen Mädchen der Laurencin gab es Fauves, Kubisten, Expressionisten, Orphisten und aus der Epoche des Maschinismus einen Larionow, von dem er zu sagen pflegte: ›Das ist mein Gaszähler‹.« – Jean Cocteau: Über Apollinaire. – In: ders.: Prosa. Berlin 1971. 149– 152; hier: 150. – Die Rede ist von Michail Fjodorowitsch Larionow (1881–1964). 22
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Abb. 3: Max Ernst, Quand la lumière fait la roue (Wenn das Licht ein Rad schlägt), 1925
chischen Automatismus‹ bleibt durch primäre Erinnerung bzw. Retention dem Bewusstsein ständig gegenwärtig. Das retentionale Gedächtnis ist der Schlüssel zur Traumphilosophie des Surrealismus. Es ist die gesuchte, den Dualismus von Geist und Materie überwindende Einheit in der ›Surrealität‹ und in der philosophischen Intuition Bergsons. Breton und Bergson eint die gleiche Bewusstseinserweiterungsmetaphysik, die den Wesensunterschied von Kunst und Leben, Kultur und Natur annulliert, während Freud ihren Widerspruch oder Konflikt rational herausarbeitet und damit in einer dualistischen Position verharrt.« 25
Zum Ende der 1920er Jahre wird Walter Benjamin im Zuge einer für ihn bereits seit 1925 währenden Beschäftigung mit dem Surrealismus einen ersten Abgesang auf diese seit Charles-Pierre Baudelaire 26 auch Peter Gorsen: Die Traumphilosophie des Surrealismus. Breton, Bergson, Freud. – In: texte – psychoanalyse, ästhetik, kulturkritik. 28 (2008), 2, 100. 26 »Das für Benjamin so zentrale Motiv der Mortifikation des Lebendigen, seiner Anverwandlung an das Anorganische, seiner Erstarrung, ist eher dem späteren Symbolismus verwandt, der die Kunst mit dem Anorganischen assoziierte, als Baudelaire, 25
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zu seiner Zeit immer noch unabgegoltene Theorie der Moderne einläuten (wobei Bergson als Prophet der Surrealisten gleichwohl ungenannt bleibt): »Hier wurde der Bereich der Dichtung von innen gesprengt, indem ein Kreis von eng verbundenen Menschen ›Dichterisches Leben‹ bis an die äußersten Grenzen des Möglichen trieb.« 27 Wenn Ernst Bloch 1934 in dem Stück Denkende Surrealismen schreibt: »Eine philosophische Hand wie die Benjamins greift in dies Niedere hinein und in das Nebenbei, das es kenntlich macht, zeigt daraus Dinge her, auf die ein vernünftiger Mann vor zehn Jahren kaum gekommen wäre. Wie in der Dichtung, so im Gedanken taucht Wunderliches auf, betrifft sich«, 28 dann macht er wie Benjamin auf das zur Verwirklichung drängende politische Moment im avantgardistischen Surrealismus aufmerksam: »Ein naheliegender Irrtum: den Surrealismus für eine literarische Bewegung zu halten. Als solche ist sie freilich klein, einflußlos, eine Sache von Konventikeln. Aber die Schriften dieser Autoren formieren sozusagen nur die scharfe Spitze eines Eisbergs, die unterm Meeresspiegel sein Massiv in die Breite streckt. Es ist gerade eine Aufgabe der Kritik zu erkennen, an welche aktuellen außerliterarischen Tendenzen diese Schriften anschließen.« 29 obwohl Benjamin zu der bis heute anhaltenden Tendenz, Baudelaire als einen Symbolisten zu interpretieren, in vielem gerade quer steht, in einer Distanz, die er nicht zuletzt der Nähe seines Denkens zum Surrealismus verdankt, die ihn, sehr produktiv, in Baudelaire eigentlich fast schon einen Surrealisten avant la lettre sehen läßt. Es ist unbestreitbar, daß Baudelaire, nicht zuletzt mit dem Arbeitsbegriff, den Symbolismus vorwegnahm. Aber seine singuläre Größe liegt darin, daß er beide gegensätzlichen Tendenzen, die sich später in Symbolismus und Surrealismus trennten, in sich enthält, und zwar so, daß er sie in einer, darum immer so widersprüchlich erscheinenden Ästhetik aufeinander bezieht.« – Dieter Mettler: Baudelaire: »Ein Ich, das unersättlich nach dem Nicht-Ich verlangt.« Würzburg 2000. 11. 27 Walter Benjamin: Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz. – In: ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gerschom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Band II,1. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1977. 295–310; hier: 296. – Die literarische Welt läßt den Essay Der Sürrealismus erstmalig im Februar 1929 in drei Folgen erscheinen. – Möglicherweise ist Valéry von Benjamins Sürrealismus-Studie beeinflußt, wenn ihm Bergson »wie der letzte große Name in der Geschichte der europäischen Intelligenz« erscheint. – Valéry: Rede auf Bergson. 155. 28 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Erweiterte Ausgabe. – In: ders.: Gesamtausgabe. Band 4. Frankfurt a. M. 1962. 367. 29 Benjamin: A. a. O. Band II,3. 1035. – Hierin folgt ihm der marxistische Max Horkheimer in seiner Besprechung von Bergsons 1932 bei Félix Alcan in Paris erscheinen-
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Wenn Benjamin konstatiert, der Surrealismus kreise »in allen Büchern und Unternehmen« darum, die »Kräfte des Rausches für die Revolution zu gewinnen« 30 und damit quasi das Potential des Lebendigen in diesem Revolutionären beschwört, baut Bergson dieser Ansicht vor: »Flüssig wie das Leben, noch flüssiger will […] Denken sein.« 31 Die gängige Zuordnung Bergsons zur Denkrichtung des sog. Vitalismus oder – so der philosophiegeschichtlich etablierte Terminus – der Lebensphilosophie bestätigt sich nicht zuletzt mit Blick auf den paradigmatischen Passus, dem die philosophische Voraussetzung, die Bergsons These über das Lachen bzw. das Komische zugrunde liegt, zu entnehmen ist: »Der Gedanke, daß man das Leben maßregeln könne, ist überhaupt verbreiteter, als man denkt: er ist in seiner Art natürlich, obwohl wir ihn eben durch künstliche Zerlegung gewonnen haben. Er ist vielleicht die Wurzel der Pedanterie, die ja im Grunde nichts anderes ist als Kunst, die klüger sein will als die Natur.« 32
Bereits 1922 versichert André Breton: »Irgendwie weiß man, was meine Freunde und ich unter Surrealismus verstehen. […] Wir bezeichnen damit einen bestimmten psychischen Automatismus, der dem Trancezustand recht nahekommt […].« 33 Werner Spies schreibt über den späten Max Ernst: »Die Voraussetzungen des surrealistischen Manifests – logisch nicht mehr reduzierbare Wort- und Bildalchimie, Freud – waren ihm selbst seit Jahren zu Prinzipien geworden Les deux sources de la morale et de la religion: »Es zeigt sich, daß er [sc. Bergson] selbst heute dem impressionistischen Ursprung seiner Philosophie noch näher steht als der politischen Funktion, welche seine Grundgedanken kraft der geschichtlichen Entwicklung inzwischen gewonnen haben. Der von ihm mitbegründete Intuitionismus spielt in der Gegenwart eine von der Theorie der gesamtgesellschaftlichen Tendenzen ablenkende Rolle; das neue Buch zeigt, daß Bergson im Gegensatz dazu, wenn freilich auch in höchst abstrakter Weise, um den wirklichen geschichtlichen Fortschritt bekümmert ist.« – In: Zeitschrift für Sozialforschung. Herausgegeben im Auftrag des Instituts für Sozialforschung von Max Horkheimer. Jahrgang II/1933. Paris 1934. 104–106; hier: 104. 30 Benjamin: Band II,1. 156. – »Nous sommes bien décidés à faire une Révolution« lautet denn auch die DÉCLARATION du 27 Janvier 1925 des Gemeinsamen Manifestes des Büros für surrealistische Forschung. 31 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. 351. 32 DL 31. LR 410. 33 André Breton: Entrée des médiums. – In: Littérature. Paris. 6 (1922). (Dt. Übers. von Johannes Hübner: Eintritt der Medien. – In: Robert Desnos: Die Abenteuer des Freibeuters Sanglott. München 1973.) – Die Zeitschrift Littérature hat Breton 1919 mit Soupault und Aragon gegründet. »Fröhliche Wissenschaft«
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den.« 34 1924 gründet Breton die populärwissenschaftliche Zeitschrift La Revolution surrealiste, 35 auf deren Titelblatt zur No 1, die noch im Dezember des Jahres erscheinen kann, bezeichnenderweise das Motto »Wir müssen zu einer neuen Erklärung der Menschenrechte gelangen.« (»Il faut aboutir a une nouvelle déclaration des droits de l’homme.«) prangt. Nun schließen sich auch viele Pariser Dadaisten den Surrealisten an. Breton kommentiert das Verhältnis Dadaismus – Surrealismus in Les pas perdus wie folgt: »Es wird unmöglich heißen können, der Dadaismus sei zu etwas anderem nütze gewesen, als uns in diesen Zustand der Bereitschaft und des totalen Offenseins zu versetzen, worin wir bisher auf den Einsatz warteten, um nun daraus illusionslos zu dem hin aufzubrechen, was uns in Anspruch nimmt.« Ist die Doktrin des Surrealismus mit dem 1924er Manifest bestätigt worden, folgt das Zweite Manifest 1929 mit nur geringfügigen Veränderungen. In der Galerie Pierre in Paris findet im November 1925 das Kunstereignis der ersten surrealistischen Gruppenausstellung statt mit Werken von Hans Arp, Giorgio de Chirico, Max Ernst, André Masson, Joan Miró, Paul Klee, Man Ray, Pierre Roy und auch Pablo Picasso. 36 Gleichwohl setzen nach 1928/29 politische Streitigkeiten den Auflösungsprozeß der Gruppe der Surrealisten in Gang. 1930 schreibt Salvador Dalí, der erst Ende der 20er Jahre zur surrealistischen Bewegung stößt, in seiner ersten programmatischen surrealistischen Schrift L’âne pourri (Der Eselskadaver), die in Bretons Zeitschrift Le Surréalisme au service de la révolution erscheint: »Ich glaube, der Augenblick ist nahe, wo ein Denkvorgang paranoischen, aktiven Charakters gleichzeitig mit dem Automatismus und anderen passiven Zuständen die Verwirrung zum System erheben und zum vollständigen Verruf der realen Welt beitragen kann.« Diese Methode der bewußten Manipulation des Unbewußten nennt er »paranoischkritisch« und beruft sich dabei auf die Notwendigkeit einer zerstörenden Überschreitung der realen Welt. Doch in Wahrheit realisiert dieses Projekt nichts weniger als Dalís frühe Einsicht in das grundsätzSpies: Die Rückkehr der Schönen Gärtnerin. 19. – »Es hatte sich gezeigt, daß die Berufung auf den reinen schöpferischen Automatismus nur dort Ergebnisse von Belang zustandebrachte, wo die Mystifikation ›Automatismus‹ als Möglichkeit und Grenze erkannt worden war.« – Ebd., 20. 35 1930 wird die Zeitschrift umbenannt in Le Surréalisme au service de la révolution. 36 Vgl. z. B.: Sarah Wilson/Eric de Chassey/Gladys Fabre/Simonetta Fraquelli/Nicholas Hewitt/Katarzyna Murawska-Muthesius/Kenneth Silver (Hgg.): Paris. Metropole der Kunst 1900–1968. Köln 2002. 110–117. 34
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liche Dilemma im Surrealismus: Die Umwälzung aller Lebensverhältnisse, so Breton & Co., solle ja durch Verfahren erreicht werden – écriture automatique, Traumprotokolle –, die das Ich auf Passivität verpflichten. Zwischen den Intentionen und den Praktiken, die das Eintreten des Wunderbaren dem objektiven Zufall überlassen, besteht eine Kluft, die Dalí mit seiner »paranoisch-kritischen Methode« glaubt schließen zu können. Die große Exposition Internationale du Surréalisme in Paris im Jahr 1938 37 führt noch einmal die wichtigsten Leistungen des Surrealismus zusammen. Die Ausstellung ist nur möglich, weil bereits vollzogene oder bevorstehende Brüche verschiedener Künstler mit der surrealistischen Kerngruppe ignoriert werden. Mit der Trennung von Paul Éluard, spätestens jedoch mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ein Jahr später setzt die Versprengung der Potentatoren des Surrealismus ein. Wie André Masson und Max Ernst emigriert Breton in die USA. Doch der Surrealismus beginnt nicht etwa, in die Geschichte des Denkens und der Kunst einzugehen. Breton hält 1942 vor Studenten der Yale University eine bemerkenswerte Rede, in der er einerseits fast nostalgisch auf den bereits historisch gewordenen Surrealismus zurückblickt, der, wie er sagt, »nur im Zusammenhang mit dem Krieg zu verstehen [ist] – von 1919–1938 –, im Zusammenhang sowohl mit dem, von dem er ausgeht, als auch mit dem, in den er ausläuft.« Andererseits aber betont Breton nachdrücklich, daß der Surrealismus nicht tot sei; trotz einer Wiederbelebung während der Jahre der Résistance (1940–1944) kann aber nach dem Zweiten Weltkrieg von einer surrealistischen Bewegung kaum noch die Rede sein. Noch 1985 bemerkt Ginka Steinwachs: »In Deutschland hat der Surrealismus […] noch gar keine Gegenwart besessen. Vielmehr ist er in den Kinderschuhen des Dadaismus stekkengeblieben, die abzulegen ihn der Beginn des ›Dritten Reiches‹ gehindert hat.« Die metaphysische Konsolidierung eines philosophischen Surrealismus verfolgt neuerdings Wolfram Hogrebe, der im Prager und Pariser Surrealismus eine »Entsubjektivierungstendenz« erkennt. 38 In der Galerie Beaux-Arts, 140, Rue du Faubourg Saint-Honoré werden die Werke von 70 Künstlern aus 14 Ländern versammelt. – Näheres hierzu bei: Marianne Oesterreicher-Mollwo: Surrealismus und Dadaismus. Provokative Destruktion, der Weg nach innen und Verschärfung der Problematik einer Vermittlung von Kunst und Leben. Freiburg i. Brsg. 1978. 38 Wolfram Hogrebe: Philosophischer Surrealismus. Berlin 1914. 12 f., Anm. 9.; 61– 97; hier: 63. – So auch: Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? Ein Essay. Hamburg 1958. 37
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III. Bergsons Vitalismus An der Schwelle des Halbschlafs, haben wir gesehen, sucht und (er-)findet Breton um 1919 diejenigen Sätze, welche die automatische Schrift aus sich entlassen; Max Ernst erschafft deren bildnerischen ›Counterpart‹, die Collagen bzw. die »unpassenden« Verbindungen. Surrealismus bedeutet Achtsamkeit auf den Automatismus des bis dato der Reflexion, der Vernunfteinsicht Entzogenen. Mit der Metapher »beau comme la rencontre fortuite sur une table de dissection d’une machine à coudre et d’un parapluie« (»schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Seziertisch«) hatte Comte de Lautréamont die Theorie des Surrealismus inspiriert; sie entstammt dem sechsten Gesang seines Werks Les Chants de Maldoror des Jahres 1874. Paul Valéry versteht Bergons metaphysischen Impuls wie folgt: »Während seit dem 18. Jahrhundert die Mehrzahl der Philosophen von physikalisch-mechanischen Auffassungen beeinflußt waren, hatte sich unser berühmter Kollege [sc. das jüngst verstorbene Akademie-Mitglied Bergson, H. G.] glücklicherweise zu den Wissenschaften des Lebens verführen lassen.« 39 Was Valery nicht sieht: Bergson erkennt im Leben selbst den Quellgrund seiner Hintertreibung: die Formen des das Leben durchfurchenden Mechanischen nämlich. Insofern ergeht an Georg Simmel die Frage, inwiefern Bergson die tragische Dimension des Konfliktes zwischen dem im Blick auf das Leben Sekundäre, der mechanistischen Welt, und dem Leben selbst entgangen sei. 40 Denn zumindest in Le rire wird diese Dialektik noch nicht durch einen versöhnlichen Intuitionismus eingeebnet: »Komisch ist jede Verkettung von Handlungen 107 f. – Wenn Breton im Manifest des Surrealismus mehrfach betont, »Surrealite«, »Überwirklichkeit«, bezeichne keine »über« der Realität liegende zweite Wirklichkeit, sondern die Aufhebung sowohl der alltäglichen als auch der Traum-Wirklichkeit in eine beide umfassende Realität (»la résolution future des ces deux états, en apparence si contradictoires, que sont la rêve et la réalité, en une sorte de réalité absolue, de surréalité«), geht Hogrebe in Anknüpfung an Plotin, Eriugena sowie der Sohar andere Wege, sieht er doch die Philosophie »aus dem Milieu eines heuristischen Surrealismus geboren […].« – Hogrebe: Philosophischer Surrealismus. 9. – Für Breton inszeniert der Surrealismus dem Anspruch nach aber eine Art »Über-Realität« jenseits der Kontrolle durch die Vernunft – jedoch ausdrücklich unter Einbeziehung von Traum, Zufall und Wunderbarem. 39 Valéry: Rede auf Bergson. 152. 40 Georg Simmel: Zur Philosophie der Kunst. Philosophische und kunstphilosophische Aufsätze. Potsdam 1922. 138 ff.
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und Ereignissen, die uns die Illusion des Lebens und das deutliche Gefühl eines mechanischen Arrangements zugleich verschafft«, 41 so Bergson. Denn unter Leben versteht Bergson Veränderung, und das vornehmste Gesetz des Lebens laute, »nie sich zu wiederholen«, 42 wenngleich es in der Schöpferischen Entwicklung auch heißt: »Je stärker die Dauer ein Lebewesen mit ihrem Siegel stempelt, um so offenbarer scheidet sich der Organismus vom bloßen Mechanismus, über den die Dauer hinweggleitet, ohne ihn zu durchdringen.« 43 Die durée, d. h. die erlebte Zeit im Unterschied zum physikalischen Zeitraum i. S. einer quantitativ zugänglichen Serie von Jetztpunkten, läßt sich nicht messen. Was heißt es, Zeit zu messen? Ausgehend von dieser Frage propagiert Bergson einen Gegenentwurf zum »vulgären« (Heidegger) Begriff der Zeit. 44 Die Vorstellung von einem ausgedehnten und meßbaren Medium, in dem sich einzelne Zeitpunkte wie Perlen entlang einer Kette aneinanderreihen, leistet nach Bergson nichts weiter als eine künstliche Rekonstruktion des bewußten Erlebens. Als Gegenspielerin einer derartigen Zeitvorstellung bestimmt Bergson die wirkliche, psychisch erfahrene Zeit als durée: Denn in Wirklichkeit – so sein Argument – durchdringen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gegenseitig, 45 und in jedem Bewußtseinsvorgang kann sich potentiell das gesamte Seelenleben widerspiegeln. Bergson charakterisiert die Dauer somit als Modus der Verwirklichung, der ein kontinuierliches Ineinander-Übergehen unterschiedlicher Qualitäten betrifft. Mit einer solchen Lehre von der Zeit des Geistes trifft Bergson den Nerv insbesondere der zeitgenössischen
DL 41. – »Est comique tout arrangement d’actes et d’événements qui nous donne, insérées l’une dans l’autre, l’illusion de la vie et la sensation nette d’un agencement mécanique.« – LR 419. 42 DL 22. LR 402. 43 Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung. Berechtigte Übersetzung von Gertrud Kantorowicz. Jena 1921. 43. 44 Martin Heidegger: Sein und Zeit. – In: Edmund Husserl (Hg.): Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. Band VIII. Halle a. d. S. 1927. §§ 78–81. 45 Ähnlich denkt Husserl 1905 das Verhältnis von Retention, Urimpression und Protention. – Edmund Husserl: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893–1917). Herausgegeben von Rudolf Boehm. – In: Husserliana. Edmund Husserl. Gesammelte Werke. Band X. Auf Grund des Nachlasses veröffentlicht in Gemeinschaft mit dem Husserl-Archiv an der Universität Köln vom Husserl-Archiv (Louvain) unter Leitung von H. L. van Breda. Haag 1966. Insb. §§ 11–13; 31; Beilage I. 41
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Kunst: Seine »Intuition der Dauer« – quasi der Zeit voraus – hegt keinen geringeren Anspruch, als als Wegbereiterin des Neuen zu fungieren: Denn unter den Künstlern seiner Zeit en vogue ist die Avantgarde, ist ein intuitives Moment, ist der Bruch mit Konventionen, ist ein befreiender und zukunftsweisender Blick, ist eine Ästhetik der Bewegung und Veränderung, ist ein experimenteller und programmatischer Zugang, der Kunstpraxis als Lebenspraxis inszeniert. Theorie und Praxis diverser Avantgarden weisen so ein breites Spektrum Bergsonscher Motive auf: Während Kubisten und Futuristen eine Darstellung von Bewegung und Veränderung nach dem Prinzip der Simultaneität versuchen, sind surrealistische bzw. dadaistische Bildwelten von Spontaneität und Zufall geprägt. Surrealismus ist ab 1925 auch Malerei, 46 insbesondere jedoch Literatur bzw. Poesie. Besonders Reichweite und Grenzen schriftstellerischer Verfahrensweisen, über die – gleichwohl um willen einer »bürgerliche[n] Existenz« – interessanterweise unter dem Vorzeichen einer »μηχaνη«, sc. »jener gesezliche Kalkul«, bereits Friedrich Hölderlin nachdenkt, 47 sind von Bedeutung; erinnert sei hier zudem an den rebellischen Robert Desnos (1900–1945). 48 Theodor W. Adorno betont den Rationalismus innerhalb der Verfahrensweise surrealistischer Montagetechnik in Malerei und Lyrik, die notwendig – wie bei jedweder Theorie der Kunst, so auch hier – allererst retrospektiv zu Bewußtsein komme. Wenn der Rationalismus unser Dasein aber nur ausschnitthaft zur Aufhellung bringt, gibt es neben dieser Weltkonstruktion aus Vernunft auch eine Realität der Vorstellung, der Phantasie und der Ahnung. Der Künstler selbst ist nur eine Art passiver
Ausdruck einer ersten Begegnung des Surrealismus mit der Malerei ist die 1925 in der Pariser Galerie Pierre gezeigte Ausstellung Peintres Surréalistes mit Werken von Picasso, Andrea de Chirico alias Alberto Savinio sowie weniger bekannten Künstlern. 47 Man denke hier nicht nur an Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig … (1800), sondern mehr noch an die »Anmerkungen zum Oedipus«. – Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. ›Frankfurter Ausgabe‹. Historisch-kritische Ausgabe herausgegeben von D. E. Sattler. Band 16. Sophokles. Herausgegeben von Michael Franz, Michael Knaupp und D. E. Sattler. Basel/Frankfurt a. M. 1988. 249–258. 48 »Pflücke pflücke die Rose und befaß dich nicht mit deinem Geschick pflücke pflücke die Rose und das Palmblatt und hebe die Lider des jungen Mädchens damit sie dich betrachte in Ewigkeit.« – Robert Desnos: XII. Für einen Traum am Tage. – Aus: ders.: Die Finsternis (1927). – In: ders.: Finsternis. Gedichte. Der Geheimnisvollen. Die Finsternis. Aus dem Französischen von Eva-Maria Thimme. [Berlin-Kreuzberg] 1985. 25–84; hier: 57. 46
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Registrierapparat 49 – jedwede logische Kontrolle brächte den Mechanismus zum Stillstand. So ist der Surrealismus reiner psychischer Automatismus. Die Grundidee der Romantik: der Glaube an eine ursprüngliche Einheit des Menschen mit dem Universum (man denke an Orphismus 50 sowie die mystischen Tendenzen beim Blauen Reiter), gerät in die ›harte Systematik‹ des Surrealismus. Bergson reflektiert ziemlich genau auf diese Unvernunft, diese (Un-)Tiefen des menschlichen Selbst, wie Adorno richtig sieht, wenn er sagt: »Der Surrealismus sammelt ein, was die Sachlichkeit den Menschen versagt; die Entstellungen bezeugen, was das Verbot dem Begehrten antat. Durch sie errettet er das Veraltete, ein Album von Idiosynkrasien, in denen der Glücksanspruch verraucht, den die Menschen in ihrer eigenen technifizierten Welt verweigert finden. Wenn aber heute der Surrealismus selber obsolet dünkt, so darum, weil die Menschen bereits jenes Bewußtsein der Versagung sich selbst versagen, das im Negativ des Surrealismus festgehalten ward.« 51
Ähnlich gibt Gottfried Benn, für den Expressionismus und Futurismus ein Surrealismus mit anderen Mitteln sind, zu bedenken: »Verworrensein und nicht schreiben können, ist noch kein Surrealismus.« 52
IV. Die Replik auf die Komik: das Lachen Zählt Bergson noch an der Wende zum 20. Jahrhundert zu den am meisten gelesenen und einflußreichsten Philosophen, gerät er nach 1920 zunehmend in Vergessenheit bzw. wird – beinahe zur Gänze – abgelehnt. Wohl erst Gilles Deleuze (1925–1995), eifriger Autor berechnender Philosophen-Monographien, ist es, der ihn 1966 mit einer Vgl. hierzu z. B.: Uwe M. Schneede: Die Kunst des Surrealismus. Dichtung, Malerei, Skulptur, Fotografie, Film. München 2006. 140 f. 50 Apollinaire verwendet »Surrealismus« und »Orphismus« zunächst gleichwertig. – Hartmut Kircher: Guillaume Apollinaire – ein Avantgardist nicht ohne Tradition. – In: Hartmut Kircher, Maria Kłańska, Erich Kleinschmidt (Hgg.): Avantgarden in Ost und West. Literatur, Musik und bildende Kunst um 1900. Köln 2002. 111–130; hier: 116. 51 Theodor W. Adorno: Rückblickend auf den Surrealismus. – In: Noten zur Literatur I. Frankfurt a. M. 1958. 155–162; hier: 162. 52 Gottfried Benn: Doppelleben. – In: ders.: Autobiographische und vermischte Schriften. Gesammelte Werke in vier Bänden herausgegeben von Dieter Wellershoff. Vierter Band. Wiesbaden 1961. 69–172: hier: 154. 49
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einflußreichen Untersuchung wieder in die Diskussion einführt. 53 Darin deutet er Bergsons »Elan vital als Differenzierungsprozeß«, 54 schenkt jedoch dessen Essai Le rire keine Aufmerksamkeit. Der Grund liegt auf der Hand: Deleuze, der Bergson zunächst als einen Denker der Differenz interpretiert, versteht ihn nicht weniger auch als einen solchen der Intuition 55 – mithin als Cartesianer 56 –, die er schlechthin als Bergsons Methode ausgibt, und vor diesem Hintergrund erläutert er die Texte in L’évolution créatrice sowie Matière et Mémoire (Materie und Gedächtnis) (1896). Angesichts jeweils vergleichbarer Praktiken von Intuitionserzeugung hätte es gleichwohl auf der Hand gelegen, den Kontext ›Bergson und der Surrealismus‹ herzustellen. Deleuze bezieht jedoch zunächst die in Materie und Gedächtnis verhandelte Problemstellung, die der Untertitel mit Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist (Essai sur la relation du corps à l’esprit) deutlicher faßt, zunächst auf Descartes und weist in seinen zwei Bänden Bewegungsbild. Kino 1 und Zeitbild. Kino 2 vielmehr Bergson als das philosophische Rückgrat aus. Bergson selbst ist zwar kein Cineast gewesen; 57 gleichwohl weist Deleuze nach, daß Bergson Gilles Deleuze: Le bergsonisme. Paris 1966. (Initiation philosophique, 76) (Dt.: Bergson zur Einführung. Herausgegeben und übersetzt von Martin Weinmann. Hamburg 1989.) – Daneben verfaßt Deleuze Bücher über Hume (1953), Nietzsche (1962, dessen Werke er mit Foucault auch kritisch ediert; seiner Freundschaft mit ihm widmet Deleuze 1986 das Buch Foucault), 1963 Kant und 1968 Spinoza; diese Reihe beschließt das Leibniz-Buch (1986). 54 Deleuze: Bergson zur Einführung. 115–142. 55 Ebd., 23–51. – Siehe auch: ders.: Bergson, 1859–1941. – In: ders.: Die einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953–1974. Herausgegeben von David Lapoujade. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M. 2003. 28–44; hier: 28–34. – Sowie: ders.: Nachwort für die amerikanische Ausgabe: Eine Rückkehr zu Bergson. – In: ders.: Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975–1995. Herausgegeben von David Lapoujade. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M. 2005. 318–321. 56 In Descartes’ Regulae ad directionem ingenii ist es die intuitio, welche die größte Entwicklung nimmt. 57 »Henri Bergson wendet seine vitalistische Theorie bereits früh auch auf die Analyse des Mediums Film an und erteilt diesem ein herbe Absage. Das Filmleben sei ein Scheinleben und nicht zu vergleichen mit dem élan vital, der noch im Schauspiel anwesend sei. Nach seiner Ansicht, die Gilles Deleuze in den späten 80er Jahren zum Anlass nimmt, die gesamte Filmgeschichte durchzumustern, nimmt die Kamera einen abstrakten Standpunkt ein, dem nichts Konkretes mehr von Seiten des Subjektes entspricht. Was am Film lebendig wirkt, ist damit in seiner Sicht etwas Totes, das Leben nur vortäuscht und das nicht im Sinne von ästhetischem Schein, der notwendig sich an etwas Erstarrtem bildet, sondern als arglistige Täuschung.« – Wolfgang Bock: Das 53
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zeitgleich zur Erfindung des Kino eine Begriffsanalyse entwickelt, die nur unter der Voraussetzung des entstehenden Kinos möglich ist: »Das Kino ist bergsonianisch«, heißt es einmal emphatisch. So konstatiert Deleuze für das klassische Kino das Bewegungs-Bild, da die Zeit der Bewegung untergeordnet sei, somit nur indirekt wahrgenommen werde. Nach dem Zweiten Weltkrieg verkehre sich diese Hierarchie: Die Zeit beginne, das Bild zu dominieren und werde direkt vernehmbar. In diesem Sinne herrscht nach Deleuze im modernen Kino vorrangig das Zeit-Bild vor. Diese Bilder setzten sich nicht in Reaktion fort, und sie würden auch nicht durch eine Aktion ausgelöst, vielmehr handele es sich hier um ausschließlich optische und rein akustische Beschreibungen (Opto- bzw. Sonozeichen) von Situationen, auf die nicht reagiert werde. 58 Die Ursache solcher Bilder sei nunmehr ein mentaler Zustand; Erinnerungen, Träume, Wahnvorstellungen usw. erzeugten Bilder oder würden durch Bilder erzeugt – die Filmfiguren würden von dem, was sie sehen, d. h. von ihrer Situation gefesselt und so selbst zu Zuschauern. Deleuze diagnostiziert daher eine Krise des Aktionskinos, das zum cinéma de voyant mutiere. Vor diesem Hintergrund erschließt sich Bergsons These zum Lachen leichter. Lachen versteht Bergson als Ausdruck einer Lebendigkeit, die »stets mit der Achtung [zu] behandeln [ist], die man dem Lebendigen schuldet«, 59 wie er sagt. Seine Antwort auf die geheimnisumwölkte Frage, warum eigentlich der Mensch lacht, lautet kurz gesagt: Wir lachen über Automatismen, über im Menschen zur Versteifung, Erstarrung Gelangtes. Bergson versucht, diese seine These an zahlreichen Beispielen der Alltags-, Situations- sowie der Wortoder Charakterkomik zu bewähren. Quellen und Beispiele zieht Bergson insbesondere aus der Literatur heran, so daß sein Essai nicht nur ein unterhaltsames Lesevergnügen bereitet, sondern auch zu einer Bildungsreise durch die französische Literaturgeschichte gerät. Die Aufbereitung eines immensen empirischen Materials zeichnet auch schon Matière et Mémoire aus. Das Verhältnis des Lebendigen zum Mechanischen zeigt sich nach Bergson in einer bestimmten Form menschlichen Aufmerkens, Lachen über Monsieur Hulot (Tati, Bergson). Zum Verhältnis von Witz, Humor und Erkenntnis. – In: Zeitschrift für kritische Theorie. Herausgegeben von Gerhard Schweppenhäuser und Wolfgang Bock. Lüneburg. 16 (2003), 80–113. 58 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. Aus dem Französischen von Klaus Englert. Frankfurt a. M. 1997. 224. 59 DL 7. LR 387. »Fröhliche Wissenschaft«
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die den Mechanismus des Lachens zu Bewußtsein bringe: Menschen lachen dann, wenn das gewohnte Verhalten als unangemessene Routine – als mechanisch geradezu – entlarvt wird. Ungeschicklichkeit erzeugt Lachen. Bergson nennt das Beispiel eines stolpernden Mannes: Jemand geht die Straße entlang. Rutscht er aus oder stolpert er, verliert er auf irgend eine Weise die Kontrolle über seine Bewegungen, schwankt er, verhindert soeben noch den Sturz und setzt dann seinen Weg irritiert fort: Dies sei komisch. Warum? Bergsons Antwort lautet: Weil das geschmeidige, aufmerksame, veränderungstolerante Verhalten unterdrückt wird durch das bewußtlose mechanische Gehen. Dies verdeutlicht aber, daß unsere Körper-Routine genau darin besteht. Bergson thematisiert ein maschinenartiges/-gleiches Verhalten, das uns angreifbar macht, sobald etwas Unvorhergesehenes geschieht, das eigentlich eine spontane Verhaltensveränderung bzw. -anpassung erfordert hätte. Wir lachen immer dann, wenn etwas Mechanisches das Lebendige »überwuchert« oder, wie Bergson auch sagt, es mit einer »Kruste« 60 überzieht und solche Überlagerungen sodann zum Vorschein kommen. Die Entlarvung des Mechanischen, welches das Lebendige überwölbt, findet Bergson komisch. Soziologisch gesehen geht es hierbei um einen Detektionsmechanismus, der unangemessene Mechanisierung aufspürt und zum Auslachen freigibt. Für Bergson geht es demnach nicht um das Lachen als solches, sondern genauer um das Auslachen. Lachen deutet er als einen gesellschaftlichen Affekt, denn wir lachen mit anderen und über andere, über – mit Lenz Prütting zu sprechen – »Lach-Opfer«: 61 Lachen als Vergesellschaftungsform, überspitzt gesagt. Das ist aber nicht negativ zu bewerten: Denn wie das Lachen ist auch die Gesellschaft selbst für Bergson etwas Lebendiges, d. h. ein komplexer Organismus i. S. einer Einheit, eines Ganzen. Wie bereits erwähnt heißt lebendig sein für Bergson aber auch, sich verändern zu können. Daher kreist Bergsons Philosophie immer wieder um die entscheidenden Begriffe »Veränderung« und »Wandel«. Dabei geht es letztlich um die Frage des Werdens: Wie kann etwas zu etwas anderem werden, Modifikationen durchlaufen? Im speziellen Fall des Lachens – oder des Auslachens – bedürfe dieses stets eines Echos: Gelacht werde in einer Gruppe, die Ebd., 26. – »Du mécanique plaqué sur du vivant […].« – LR 405. Lenz Prütting: Homo ridens. Eine phänomenologische Studie über Wesen, Formen und Funktionen des Lachens. In drei Bänden. Band 1. Freiburg/München 2013. 34.
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Abb. 4: André Masson, Naissance de l’automate; auch: Anatomie de mon univers, naissance (Geburt des Automaten; auch: Anatomie meines Universums, Geburt), 1938
durch die Inklusionsfunktion des Lachens an Stabilität gewinne: Wer mitlache, gehöre zu einer Gemeinschaft, die sich durch die aktuell Lachenden finde und bestimme. Dem Lachen kommt sonach eine eminent soziale Funktion zu. »Fröhliche Wissenschaft«
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Daraus folgt, daß auch die Komik der menschlichen Sphäre angehört (man könnte ergänzen: wie viele andere Regungen auch, so z. B. die Scham, deren äußerliches Zeichen das Erröten ist, das sich im Tierreich so nicht findet; das mag darin begründet sein, daß ein Mensch – niemals jedoch ein Tier – es hin und wieder nötig hat, sich zu schämen). Weil die Komik in diesem Sinne zum Kreis des Lebendigen zählt, dürfe sie nach Bergson auch nicht definiert, in ein begriffliches Korsett gezwängt werden. Das Faktum des Lachens deutet Bergson aber auch als gesellschaftliche Sanktionsform, die sich als Folge eines Fehlverhaltens einstellt: Zutiefst menschlich handele der Mensch dann, wenn er sich natürlich verhalte; wo immer er einem Automatismus folge – sei es aus Zerstreutheit oder Gewohnheit –, handele er gewissermaßen wider seine Natur. So erweitert Bergson seine Grundthese wie folgt: »Was […] lächerlich ist, ist eine gewisse mechanische Starrheit, da wo wir geistige Rührigkeit und Gelenkigkeit fordern.« 62 Dieses Phänomen im Akt des Lachens quasi zu reflektieren, halte die Gesellschaft wach, veränderungstolerant sowie aufmerksam. Mit Bergson ließe sich daher sagen: In der Verlebendigung der Dinge wird in Wirklichkeit die Verdinglichung des Lebendigen sichtbar. Wenn die Dinge ›menscheln‹, wird es komisch, weil sich dann das Mechanische im Menschlichen, im Lebendigen präsentiert. Oder mit Bergson philosophisch gewendet: »von der Idee einer künstlichen Mechanisierung des menschlichen Körpers bis zu der Idee jedweder Verdrängung des Natürlichen durch Künstliches.« 63 Wenn also für Bergson die Gesellschaft ständig im Wandel begriffen ist, dann produziert sie selber permanent neue Problemlagen, auf die sie auch reagieren muß. Und genau dies fordert Bergson: Die Gesellschaft müsse stets wandlungsoffen sein, m. a. W.: Bergson beschreibt die Anforderungen, denen die Moderne sich zu stellen hat. Andererseits jedoch muß eine komplexe Gesellschaft auch Stabilität aufweisen. Sie kann nicht jedes Mal auf jede unbedeutende Irritation spontan reagieren, und sie sollte auch nicht permanent darauf aus sein, Neues zu beobachten. Deshalb ist sie darauf angewiesen, erwartDL 11. – »Ce qu’il y a de risible dans un cas comme dans l’autre, c’est une certaine raideur de mécanique là où l’on voudrait trouver la souplesse attentive et la vivante flexibilité d’une personne.« – LR 391. 63 DL 31. – »[…] depuis l’idée d’une mécanisation artificielle du corps humain, si l’on peut s’exprimer ainsi, jusqu’à celle d’une substitution quelconque de l’artificiel au naturel.« – LR 410. 62
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bar, berechenbar zu werden – und genau dies leisten Routinen und Mechanismen des Verhaltens: Wir tun zur selben Zeit, in derselben Situation – wahrscheinlich – immer das Gleiche. Das Problem hierbei: Vertrautheiten entlasten und vereinfachen; Aufmerksamkeit und Spannung für Veränderungen dagegen kosten Energie und Zeit. Deshalb ist das Verhältnis von Routine und Mechanik auf der einen Seite, Veränderungstoleranz und gespannter Aufmerksamkeit auf der anderen Seite ungleichgewichtig, asymmetrisch: Die Routine ist immer im Vorteil. Wenn aber, so Bergson, die Handlungen der Menschen als ein Zusammengesetztes gedacht werden müssen, 64 ist es von Vorteil, ein Wissen um die einzelnen Bestandteile dieses Komplexen zu erwerben. Ein solches Wissen jedoch darf das Erkannte nicht als ein Erstarrtes repräsentieren. So erfordern das Leben und die Gesellschaft für Bergson Spannung und Geschmeidigkeit sowohl des Körpers als auch des Geistes: Diese beiden sich ergänzenden Kräfte lassen das Leben spielen, es sich ereignen. So steht für Bergson jedwede Erstarrung des Charakters, des Verstandes, ja selbst des Körpers unter Verdacht, weil sie Anzeichen nachlassender Lebenskraft sein könnte, die schließlich in die Isolation führen, d. h. einen gemeinsamen Mittelpunkt, um den das Ganze der Gesellschaft schwingt, aufgeben könnte – und diese Erstarrung letztlich Exzentrizität werden will. Zwar ist das Lachen, wie gesehen, eine Art soziale Geste; Bergson sagt aber auch: »Durch die Furcht, die es einflöst, steuert es [die] Exzentrizitäten, hält bestimmte Kräfte höherer Ordnung beständig gespannt in wechselseitiger Durchdringung, die sonst leicht sich absondern und einschlafen würden, kurz, es macht alles geschmeidig, was an mechanischer Starrheit auf der Oberfläche des sozialen Körpers noch vorhanden ist. Das Lachen gehört also nicht in das Gebiet der reinen Ästhetik, da es (unbewußt in vielen Einzelfällen und bisweilen selbst gänzlich amoralisch) das Nützlichkeitsziel allgemeiner Vervollkommnung verfolgt.« 65 Für die Kunst als eine Möglichkeit der Formalisierung des Komischen gilt nach Bergson: »Soll die Übertreibung komisch wirken, so darf sie DL 25. LR 404. DL 16. – »Par la crainte qu’il inspire, il réprime les excentricités, tient constamment en éveil et en contact réciproque certaines activités d’ordre accessoire qui risqueraient de s’isoler et de s’endormir, assouplit enfin tout ce qui peut rester de raideur mécanique à la surface du corps social. Le rire ne relève donc pas de l’esthétique pure, puisqu’il poursuit (inconsciemment, et même immoralement dans beaucoup de cas particuliers) un but utile de perfectionnement général.« – LR 396.
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nicht als das Ziel erscheinen, sondern nur als Mittel, dessen sich der Zeichner bedient, um uns die Verzerrungen sinnenfällig zu machen, die er in der Natur angelegt sieht. Die Verzerrung ist das Wichtige, sie interessiert uns.« 66 Beispiele für solche Exzentrizitäten findet Bergson in komischen Physiognomien: Wenn die Häßlichkeit übertrieben werde, entstehe das Verunstaltete, das lächerlich sei. Jede Abnormität, die von Normalgliedrigen lediglich nachgeahmt werden könne, könne komisch wirken. Bergson spricht sogar davon, mancher wollte »mit seinem Körper Grimassen schneiden«. 67 Umgekehrt verwandele ein komischer Gesichtsausdruck das gesamte seelische Leben des Menschen in versteinerte Linien. Auch abgeschwächte lächerliche Verunstaltungen können zur komischen Häßlichkeit auswachsen. 68 Ein Gesicht zeige zwar immer Charakter, insofern sei es immer ›statisch‹ ; gleichwohl finde sich in jedem Gesicht auch stets ein beweglicher Ausdruck. Denn Form sei immer eine latente Bewegung, so Bergson. Generell gilt jedoch: je mehr Mechanik, desto komischer. Doch, so Bergson – nun etwas ausführlicher zitiert –, »wie auch immer die Theorie laute, auf die unsere Vernunft schwört, unsere Einbildungskraft hat ihre ganz bestimmte Philosophie: 69 in jeder menschlichen Form wittert sie das Streben einer Seele, die Materie zu formen, einer unendlich zarten, ewig beweglichen Seele, der Schwerkraft entrückt, weil nicht die Erde sie anzieht. Von ihrer Leichtbeschwingtheit teilt sie etwas dem von ihr beseelten Körper mit. Das Unkörperliche, das so in den Körper eingeht, nennen wir Grazie. Aber die Materie leistet Widerstand. Sie ruht in sich, möchte jenes immer unruhig tätige höhere Prinzip zu ihrer eigenen Trägheit bekehren und machen, daß es in Automatismus verkümmert. Sie möchte die sinnvollen Bewegungen des Körpers zu toten, sinnlosen, gewohnheitsmäßigen Gesten werden lassen, in stehende Grimassen die veränderlichen Züge des Gesichts verwandeln, kurz, dem ganzen Menschen ein solches Aussehen aufdrücken, daß er in der Stofflichkeit mechanischen Tuns versunken und verbraucht scheint, statt sich immer wieder im Umgang mit einem lebendigen Ideal zu erholen. Da, wo es so der Materie gelingt, die lebendige Außenseite der Seele abzutöten, sie zu verdichten, alle Bewegung festzulegen, aller Grazie zu widerstehen, da gewinnt sie dem Körper eine koDL 20. LR 399. DL 18. LR 398. 68 Ebd. 69 Oder die Logik der Phantasie entspricht nicht der Logik des Verstandes, wie er auch einmal in Abwandlung Blaise Pascals sagt. – Vgl.: »Le cœur a ses raisons que la raison ne connoît point; on le sait en mille choses.« – Blaise Pascal: Pensées. Fr. 277. 66 67
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mische Wirkung ab. Wenn man jetzt also das Komische aus seinem Gegenteil definieren wollte, müßte man es nicht sowohl der Schönheit als der Grazie entgegensetzen. Es ist mehr der Steifheit als der Häßlichkeit verwandt.« 70
V. Zwei Beispiele: Raabe und Vischer Interpretationen der Bergsonschen Deutung des Lachens resp. der Komik reichen von einer Retrojektion des Faschismus 71 bis zu Vergleichen mit Jacques Tatis Monsieur Hulot oder Loriots Verständnis von Komik. 72 Im Folgenden werden zwei andere Beispiele zur Illustration herangezogen. In Wilhelm Karl Raabes ab November 1863 in den ersten zwölf Heften der Deutschen Roman-Zeitung vorabgedrucktem und 1864 erstmals in Buchform erscheinenden Roman Der Hungerpastor treDL 20 f. – »[…] quelle que soit la doctrine à laquelle notre raison se rallie, notre imagination a sa philosophie bien arrêtée: dans toute forme humaine elle aperçoit l’effort d’une âme qui façonne la matière, âme infiniment souple, éternellement mobile, soustraite à la pesanteur parce que ce n’est pas la terre qui l’attire. De sa légèreté ailée cette âme communique quelque chose au corps qu’elle anime: l’immatérialité qui passe ainsi dans la matière est ce qu’on appelle la grâce. Mais la matière résiste et s’obstine. Elle tire à elle, elle voudrait convertir à sa propre inertie et faire dégénérer en automatisme l’activité toujours en éveil de ce principe supérieur. Elle voudrait fixer les mouvements intelligemment variés du corps en plis stupidement contractés, solidifier en grimaces durables les expressions mouvantes de la physionomie, imprimer enfin à toute la personne une attitude telle qu’elle paraisse enfoncée et absorbée dans la matérialité de quelque occupation mécanique au lieu de se renouveler sans cesse au contact d’un idéal vivant. Là où la matière réussit ainsi à épaissir extérieurement la vie de l’âme, à en figer le mouvement, à en contrarier enfin la grâce, elle obtient du corps un effet comique. Si donc on voulait définir ici le comique en le rapprochant de son contraire, il faudrait l’opposer à la grâce plus encore qu’à la beauté. Il est plutôt raideur que laideur.« – LR 400. 71 Prütting: Homo ridens. Band 2. 1261–1271. – Hogrebe spricht diesen Kontext an. – Hogrebe: Philosopischer Surrealismus. 83 f. 72 Zu denken wäre etwa an Die Nudel (Spaghetti [an der Lippe]). Gleichwohl äußert sich Loriot alias Bernhard-Viktor Christoph-Carl von Bülow in einem Gespräch einmal über Bergson wie folgt: »[André Müller:] Der Philosoph Bergson hält das Lachen für ein Korrektiv der Gesellschaft gegenüber dem Außenseiter. Durch das Gelächter werde er gleichsam in die Gemeinschaft zurückgeholt. [Loriot:] An diese Theorie glaube ich nicht, denn Außenseiter haben mich nie interessiert. Der Einzelne, den ich zeige, steht stellvertretend für das Verhalten der Mehrheit. Ich bekomme massenhaft Briefe von Leuten, die fragen, woher ich wüßte, was bei ihnen zu Hause geschieht. Das Lachen über mich ist ein Lachen des Wiedererkennens.« – Interview mit Loriot erschienen am 7. 2. 1992 in der ZEIT. 70
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ten der »Judenjunge« Moses Freudenstein sowie Hans Unwirrsch, der grundgute, dem schwächeren Moses zur Seite stehende Deutsche auf. Raabe erzählt: »In jenen vergangenen Tagen herrschte – vorzüglich in kleineren Städten und Ortschaften – noch eine Mißachtung der Juden, die man so stark ausgeprägt glücklicherweise heute nicht mehr findet. Die Alten wie die Jungen des Volkes Gottes hatten viel zu dulden von ihren christlichen Nachbarn; unendlich langsam ist das alte, schauerliche Hepphepp, welches so unsägliches Unheil anrichtete, verklungen in der Welt. Vorzüglich waren die Kinder unter den Kindern elend dran, und der kleine, gelbe, kränkliche Moses führte gewiß kein angenehmes Dasein in der Kröppelstraße. Wenn er sich blicken ließ, fiel das junge, nichtsnutzige Volk auf ihn wie das Gevögel auf den Aufstoß. Gestoßen, an den Haaren gezerrt, geschimpft und geschlagen bei jeder Gelegenheit, ließ er sich auch so wenig als möglich draußen blikken und führte eine dunkle, klägliche Existenz in der halbunterirdischen Wohnung seines Vaters. An diesem Tage aber hatte ihn sein Unstern doch mitten unter seine Peiniger geführt; und man hatte, wie gewöhnlich in solchen Ausnahmefällen, ihn in einen engen Kreis geschlossen. Was fiel dem Judenjungen ein, daß auch er den neuen Schnee sehen wollte? In der Mitte seiner Tyrannen stand Moses Freudenstein und reichte mit verhaltenen Tränen und einem Jammerlächeln die Hand, in welche jeder junge Christ und Germane mit hellem Hohngeschrei hineinspie, in die Runde. Es gab wenige Leute in der Kröppelstraße, die nicht ihren Spaß an solcher infamen Quälerei gefunden hätten. Keiner von den Gaffern in den Haustüren trat dazwischen, um der Erbärmlichkeit ein Ende zu machen. Man lachte, zuckte die Achseln und hetzte wohl gar noch ein wenig; es hatte eben wenig auf sich, wenn der schmutzige Judenjunge ein bißchen in seiner Menschenwürde gekränkt wurde. Hilfe und Rettung sollten für Moses Freudenstein von einer Seite kommen, von woher er sie nicht erwartet hatte. Hans Unwirrsch hatte bis zu dieser Stunde auch hier mit den Wölfen geheult, und was die andern taten, hatte er leichtsinnig, ohne Erbarmen und ohne Überlegung ebenfalls getan. Jetzt kam die Reihe an ihn, in die offene Hand des heulenden Judenknaben zu speien, und wie ein Blitz durchzuckte es ihn, daß da eben eine große Niederträchtigkeit und Feigheit ausgeübt werde. Es war ihm, als blicke das bleiche Gesicht des Lehrers Silberlöffel, der gestern begraben worden war, ernst und traurig über die Köpfe und Schultern der Buben in den Kreis. Hans spie nicht in die Hand des Moses! Er schlug sie weg und streckte seine Faust den Kameraden entgegen. Wild schrie er, man solle den Moses zufriedenlassen, er – Hans Jakob – leide es nicht, daß man ihm ferner Leid antue. Die Faust fiel auf die erste Nase, die sich frech näher drängte. Blut floß – ein verwickelter Knäuel! […] Hernieder in den Laden des Trödlers Samuel Freudenstein rollten Moses und Hans, schwindlig, zerschlagen, mit blutenden Mäulern und verschwollenen
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Augen. Auch Moses Freudenstein hatte zum ersten mal in seinem Leben einen Schlag gegen seine Peiniger zu führen gewagt. Es war eine glorreiche Stunde, und ihr Einfluß auf das Leben von Hans Unwirrsch war unberechenbar im Guten wie im Bösen. Indem er aus dem wilden Gewühl der Gassenschlacht die Stufen in den Trödelladen hinabrollte, fiel er in Verhältnisse, welche unendlich wichtig für ihn werden sollten. In mehr als einer Hinsicht entschied sich sein Schicksal an diesen Tage; eine ganz andere Welt tat sich vor seinen Augen auf. Es wohnten seltsame Leute in dem Keller, Leute, die auch ihren Hunger hatten und ihn nach Kräften zu befriedigen suchten. Leute, über welche die Kröppelstraße sehr mit Unrecht sich erhaben dünkte.« 73
Hans und Moses verbindet von diesem Augenblick an Freundschaft (die gleichwohl nicht von dauerhaftem Bestand sein wird). Wer besagte Begebenheiten, die Raabe schildert, zum Lachen findet, beweist Humor à la Bergson: Umwillen eigener Beglaubigung resp. Selbstbestätigung verlacht hier die Gruppe den Einzelnen. In Erinnerung gerufen sei zweitens Friedrich Theodor Vischers heute kaum noch beachtetes quasi-autobiographisches Werk Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft, das 1879 zum Druck kommt. Die die Reisebekanntschaft »A. E.«, die der Erzähler alias Vischer ipse in Italien macht, befallende innerliche »Tücke des Objektes« besteht aus mit mechanischer Präzision auftretenden lästigen Anfälligkeiten für Atemwegserkrankungen wie Husten, Katarrh, grippalen Infekten u. ä. Und ähnlich befällt den Anti-Helden auch die Sphäre der Objekte: »›Wer kann nun daran denken, wer auf die Vermuthung kommen, wer so übermenschliche Vorsicht üben, solche Tücke des Objekts zu vermeiden! Und dazu lebe ich! An solches hündisches Suchen muß ich meine arme, kostbare Zeit verschwenden! […] Von Tagesanbruch bis in die späte Nacht, so lang irgend ein Mensch um den Weg ist, denkt das Objekt auf Unarten, auf Tücke. […] So lauert alles Objekt, Bleistift, Feder, Tintenfaß, Papier, Cigarre, Glas, Lampe – Alles, Alles auf den Augenblick, wo man nicht Acht gibt.‹« 74
Wilhelm Raabe: Der Hungerpastor. – In: ders.: Meisterwerke. Erster Band. Leipzig 1963. 5–452; hier: 42–44. – Diesen Hinweise verdanke ich Lenz Prütting. 74 Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft von Friedrich Theod. Vischer. Neunte Auflage. Erster Band. Mit einem Lichtdruck nach der Büste Friedrich Vischers von Prof. A. Donndorf. Stuttgart/Leipzig 1902. 24; 32. – Diesen Hinweis verdanke ich Markus Stumm. 73
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VI. Bergson zum Komischen in Form und Bewegung Bergsons Erörterungen zum Komischen in Form und Bewegung klingen wie Kommentare zu den beiden zuvor genannten Beispielen. Von dem »Komischen der F o r m « unterscheidet Bergson das »Komische der Bewegung und der Gebärde«: Erst wenn die zuvor von ihm beschriebene Widerständigkeit der Materie den Seelen-Kräften standhält, können nicht-lächerliche Gebärden, von einem anderen nachgeahmt, lächerlich wirken. »Wir werden erst in dem Momente nachahmbar, wo wir nicht mehr wir selber sind,« 75 sagt er, denn: Übermäßig Mechanisches ist das Fremde unserer Persönlichkeit. Wenn es dann aber zunächst wieder heißt: »Stellungen, Gebärden und Bewegungen des menschlichen Körpers sind in dem Maße komisch, als uns dieser Körper dabei an einen bloßen Mechanismus erinnert«, 76 geht Bergson nun aber weiter, indem er unverhohlen von einem »Gesetz« (»loi«) spricht, das auf eine Fülle von Fällen zutreffe. Worauf dies abzielt, erläutert er mit den Anforderungen, denen eine komische Zeichnung genügen müsse, nämlich daß sie »umso komischer wirkt, je bestimmter und auch je diskreter sie uns im Menschen eine Gliederpuppe sehen läßt. Bestimmt muß dieser Eindruck sein, d. h. man muß im Innern des Menschen deutlich – gleichsam transparent – einen zerlegbaren Mechanismus erkennen. Er muß aber auch diskret sein, d. h. das Ganze des Menschen, bei dem jedes Glied ein Stück Mechanismus geworden ist, muß noch den Eindruck eines lebendigen Wesens machen. Der komische Effekt ist umso greifbarer, die Kunst des Zeichners steht umso höher, je mehr diese beiden Vorstellungen, die eines Menschen und die einer Maschine, gleich stark hervorgerufen werden. Und die Eigenart eines komischen Zeichners hinge davon ab, welche besondere Art von Leben er einer bloßen Gliederpuppe verleiht.« 77 DL 23. LR 402. DL 21. – »Les attitudes, gestes et mouvements du corps humain sont risibles dans l’exacte mesure où ce corps nous fait penser à une simple mécanique.« – LR 401. 77 DL 22. – »[…] que le dessin est généralement comique en proportion de la netteté, et aussi de la discrétion, avec lesquelles il nous fait voir dans l’homme un pantin articulé. Il faut que cette suggestion soit nette, et que nous apercevions clairement, comme par transparence, un mécanisme démontable à l’intérieur de la personne. Mais il faut aussi que la suggestion soit discrète, et que l’ensemble de la personne, où chaque membre a été raidi en pièce mécanique, continue à nous donner l’impression d’un être qui vit. L’effet comique est d’autant plus saisissant, l’art du dessinateur est d’autant plus consommé, que ces deux images, celle d’une personne et celle d’une mécanique, sont plus exactement insérées l’une dans l’autre. Et l’originalité d’un dessinateur comique pourrait se définir par le genre particulier de vie qu’il communique à un simple 75 76
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Abb. 5: Stichwort »Biomechanik«
pantin.« – LR 401. – 1925 wird Fernand Légers mit Amédée Ozenfant (1886–1966) gegründete Académie de L’Art Moderne ein Mittelpunkt der »Maschinenästhetik«. Bereits 1924 kommt Légers gemeinsam mit Dudley Murphey konzipierter Film Le Ballet mécanique in die Kinos, den Georges Antheil musikalisch untermalt. »Fröhliche Wissenschaft«
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Es geht also wieder um die Vorstellung eines im Inneren des Menschen angelegten und nach bestimmten Gesetzen funktionierenden Mechanismus. Zum in Rede stehenden »Komischen der Gebärde« zählt Bergson auch die Wechsel der Moden, denen die sich wandelnde Kleidung der Menschen entspringt. Kleidung wird somit konsequent als Verkleidung und damit als Quelle des Komischen gedeutet. Bergson: »Ein Mann, der sich verkleidet, ist komisch. Ein Mann, den man für verkleidet halten könnte, ist auch komisch. So wird durch Ausdehnung und Übertragung jede Verkleidung komisch, nicht allein die des einzelnen Menschen, gleichermaßen auch die der Gesellschaft und selbst die der Natur.« 78 Daher sind jedes Kleidungsstück und auch die Gesetze der Reihe ihrer Erscheinungen: die Moden, recht eigentlich als lächerlich zu entlarven. Bergson macht sich über die verkleidete Gesellschaft, Maskeraden und Konfektionen lustig: »Wieder ist das die Starrheit, die mit der inneren Geschmeidigkeit des Lebens disharmoniert«, 79 sagt er. Auch feierlichen gesellschaftlichen Anlässen inhäriere stets eine formale Art Komik, die ausbrechen wolle: »Man könnte sagen,« so Bergson, »daß die Zermonien für den sozialen Körper das sind, was die Kleidung für den Körper des einzelnen: sie verdanken ihrem Ernst dem Umstande, daß wir sie mit dem ernsten Gegenstande in eins sehen, an den die Sitte sie knüpft, sie verlieren aber diesen Ernst in dem Augenblicke, wo unsere Phantasie sie von ihm loslöst.« 80 Sobald man sich nur auf die Form des Zeremoniellen konzentriere, werde es schon komisch. So sieht Bergson letztlich der Uridee des Mechanismus, die »das Leben überdeckt«, die Idee der Verkleidung geschuldet. 81 Viele Dinge seien jedoch per se komisch: Eine »fortdauernde Gewohnheit hat ihre komische Kraft eingeschläfert. Ein plötzlicher Bruch mit der Gewohnheit, der Mode ist nötig, wenn diese Kraft geweckt werden soll.« 82 Es sei nicht wahr, so Bergson, wenn das Lachen aus dem Kontrast oder der Überraschung heraus erklärt werde: Manchmal gebe es keine Lust zum Lachen – und es geschehe dennoch.
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DL 28. LR 407. DL 29. LR 408. DL 29. LR 408. DL 30. – »[…] celle d’un mécanisme superposé à la vie.« – LR 408. DL 26 f. LR 405.
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Abb. 6: Nicholas de Larmessin, Habit de Marêchal, um 1680
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VII. Zur philosophiegeschichtlichen Verortung Setzt man einen sich durchhaltenden Problembestand der Geschichte der Philosophie voraus (philosophia perennis et universalis), leistet Bergson wie zuvor schon mit Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit (1896) auch mit Le rire noch einmal einen Beitrag zum Leib-Seele-Problem. Dabei scheint er von traditionellen Motiven geleitet: Werde der Körper für die Seele ein lästiger Ballast, eine schwere Hülle, dann werde er Materie, halte sie am Boden und laste auf der lebendigen Energie. 83 In summa diskreditiert Bergson den Körper: Seine Bedürfnisse »necken«, wie er sagt, das Seelenleben: »auf der einen Seite die moralische Persönlichkeit mit ihrer intelligent vielseitigen Energie, auf der anderen der stupid gleichförmige Körper, der immer mit einer maschinenmäßigen Hartnäckigkeit dazwischenklappt.« 84 Bergsons formuliertes allgemeines Gesetz: »komisch ist jeder Vorfall, der unsere Aufmerksamkeit auf die physische Natur des Menschen lenkt, wenn es sich um seine geistige handelt«, 85 könnte sein Entdecker daher auch problemlos umkehren und sagen, das Lachen ereigne sich immer dann, wenn »unsere Aufmerksamkeit unvermittelt von der Seele auf den Körper gelenkt wird.« 86 Menschen, die von ihrem Körper belästigt werden – Dickleibige z. B. –, seien lächerlich. Oder auch – Bergsons zweites Beispiel – Schüchterne: Einen solchen geniere sein Körper, und er sehe sich nach einem Platz um, »wo er ihn ablegen könnte«, 87 wie es heißt. Um willen des Erhalts der Pathetik mühten sich aus diesem Grunde auch die tragischen Dichter, das Körperliche auszublenden: Deren Helden essen und trinken nicht; sich »mitten in einer pathetischen Rede setzen, hieße sich daran erinnern, daß man einen Körper hat,« 88 konstatiert Bergson zu recht. Wieder geht es ihm um »Mechanisches als Überzug, als Kruste über Lebendigem«, 89 d. h. hier über eine Person, ein menschliches Wesen. »Der Mechanismus dagegen ist eine Sache. Was das Lachen hervorrief, war also die momentane Verwandlung
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DL 32. LR 410 f. DL 32. LR 411. DL 32. LR 411. DL 32. LR 411. DL 33. LR 411. DL 33. LR 412. DL 35. – »[…] du mécanique plaqué sur du vivant.« – LR 414.
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Abb. 7: Hieronymus Bosch, Baummensch, um 1500
einer Person in eine Sache,« 90 so Bergson. Wir lachen z. B. über den Baron Münchhausen, der auf einer Kanonenkugel durch die Luft fährt. 91 DL 35. – »Le dispositif mécanique est au contraire une chose. Ce qui faisait donc rire, c’était la transfiguration momentanée d’une personne en chose […].« – LR 414. 91 DL 36. LR 414. – Nicht zu verwechseln mit des Lügenbarons Kanonenwurf: »Sogleich fing ich meine Arbeit an, hob alle ihre Kanonen, über dreihundert Stück, von den Achtundvierzigpfündern bis zu den Vierundzwanzigpfündern herunter, von den Lafetten und warf sie drei Meilen weit in die See hinaus.« – Münchhausens wunderbare Reisen. Die phantastischen Geschichten des Lügenbarons und seiner Nachfolger. 90
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Jedenfalls scheint Bergson die Philosophie – und nicht die in seiner Zeit erstarkende akademische Psychologie – als zuständig dafür anzusehen, dem Geist des Komischen auf die Schliche zu kommen: »Manche komische Erscheinung,« so Bergson, »die an sich unerklärlich ist, wird in der Tat nur durch die Ähnlichkeit mit einer andern verstanden, die ihrerseits nur durch ihre Verwandtschaft mit einer dritten komisch wirkt, und so geht das lange weiter, so daß die psychologische Analyse, so hell und eindringlich sie sein mag, notwendig straucheln muß, wenn sie nicht den Faden faßt, längs dem der komische Eindruck von einem Ende der Reihe zum andern gewandert ist.« 92
Wenn Bergson sich schließlich fragt, worin dieser »durchgängige Zusammenhang« gründe: »Durch welchen Druck, welchen seltsamen Stoß gleitet das Komische so von Bild zu Bild, immer weiter weg von seinem Ursprung, bis es sich in unendlich fernen Analogien bricht und verliert?«, 93 findet er letztlich keine sonderlich befriedigende Antwort: Der Geist des Komischen sei eine lebendige Energie, »in der kurzen Zeit, die ihr gegeben ist, sich soviel Raum zu erobern, wie sie irgend kann.« 94 So kommt Bergson dazu, den Geist des Komischen eine »merkwürdige Pflanze« 95 zu nennen.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Erwin Wackermann. Hamburg 1966. 70. 92 DL 39. LR 417. 93 DL 39. LR 417. 94 DL 39. LR 418. 95 DL 39. LR 418.
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Fröhlichkeit und Lachen im Werk Friedrich Nietzsches Linda Simonis
»Daß der tiefste Geist auch der frivolste sein muß, das ist beinahe die Formel für meine Philosophie«. 1 In diesem Bekenntnis, das Nietzsche in einem Brief an Ferdinand Avenarius vom Dezember 1888 bekundet, deutet sich ein besonderes Verhältnis an, das Nietzsches Denken und Schreiben mit dem Bereich des Lachens verbindet. Eine Philosophie, die das Frivole zu ihrer Sache macht, nimmt, so ist zu erwarten, eine grundsätzliche Umwertung der Begriffe des Ernsts und des Spiels, des Tiefsinns und der Leichtfertigkeit bzw. Heiterkeit vor. In der Tat sind Lachen, Leichtigkeit und Heiterkeit Motive, die sich wie ein roter Faden durch Nietzsches Werk hindurch ziehen und insbesondere für die Texte des mittleren Werks, von der Fröhlichen Wissenschaft bis zu Also sprach Zarathustra charakteristisch sind. Lachen und Fröhlichkeit sind dabei, so wird in den folgenden Ausführungen näher zu erläutern sein, keine bloß äußerliche Zutat zu einer auch ohne sie möglichen Form des Philosophierens. Vielmehr handelt es sich um Operationen, die es überhaupt erst ermöglichen, eine bestimmte Art des Denkens und Schreibens ins Werk zu setzen. Ein erster Hinweis auf die konstitutive Bedeutung, die dem Lachen in Nietzsches Denken zukommt, lässt sich dem Projekt einer Philosophie der Heiterkeit entnehmen, das Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft umreißt. Dort heißt es in einem Aphorismus des Vierten Buchs: »Der Intellect ist bei den Allermeisten eine schwerfällige, finstere und knarrende Maschine, welche übel in Gang zu bringen ist: sie nennen es ›die Sache ernst nehmen‹, wenn sie mit dieser Maschine arbeiten und gut denken wollen. […] Und ›wo Lachen und Fröhlichkeit ist, da taugt das Denken 1 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1986, Bd. 8, Nr. 1183, 516–517. Auf diese Ausgabe verweist im Folgenden die Sigle KSB. Nachweise in Klammern im Text mit Band- und Seitenzahl.
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Nichts‹ : – so lautet das Vorurtheil […] gegen alle ›fröhliche Wissenschaft‹. – Wohlan! Zeigen wir, dass es ein Vorurtheil ist!« 2
Lachen und Fröhlichkeit bilden hier zunächst ein Gegenprogramm, das Nietzsche in ironischem Einspruch einer verbreiteten, jedoch aus seiner Sicht fehlgehenden Auffassung und Handhabung des Denkens entgegenhält. Der Ernst, den Nietzsche somit zurückweist, bezeichnet dabei nicht nur eine Meinung oder theoretische Konzeption, sondern vielmehr einen intellektuellen Habitus, der als solcher zugleich auf die Praxis und den Vollzug des Denkens zurückwirkt. Wer den Intellekt und dessen Tätigkeit im Zeichen des Ernstes begreift, wird auch, so der Tenor der zitierten Stelle, nicht anders als in diesem Modus denken können. Er liefert sich bzw. sein Denken jener »finsteren und knarrenden Maschine« aus, gegen deren Heimsuchungen Nietzsche das Lachen und die Fröhlichkeit aufzubieten sucht. Wenn Nietzsche die Agentur des Denkens, den Intellekt, als »Maschine« bezeichnet, so bekundet sich darin zudem ein Hinweis auf die körperlich-physiologische Basis des Denkens. Die Tätigkeit des Intellekts ist Nietzsche zufolge nicht in Differenz zum Körper des Denkenden zu begreifen, sondern in enger Verknüpfung mit jenen körperlich-physiologischen Vorgängen zu sehen, aus denen sie hervorgeht und auf deren Grundlage sie sich vollzieht. Es ist also nicht die Vorstellung des Intellekts als Maschine als solche, die Nietzsches Kritik und ironischen Spott hervorruft. Nietzsches Anliegen ist es vielmehr, die intellektuelle Maschine auf andere Weise in Gang zu setzen, um sie von ihrer Schwerfälligkeit und ihrem »Knarren« zu befreien. Lachen und Frohsinn stellen für Nietzsche das Vehikel bereit, in der Mechanik des Intellekts diesen anderen Gang und neuen Elan hervorzutreiben. Hier zeigt sich eine weitere Nuancierung, die Nietzsche gegenüber hergebrachten Vorstellungen des Intellekts vornimmt. Mit der Aufforderung zur Fröhlichkeit bringt er ein Moment des Affektiven zur Geltung, das als Voraussetzung, ja als integrales Element des anvisierten Denk- und Erkenntnisprozesses firmiert. Der Affekt steht so für Nietzsche nicht im Gegensatz zum Intellekt. Dieser kann vielmehr – insbesondere wenn es sich um einen positiven Affekt wie den der Fröhlichkeit handelt – darauf hinwirken, die Pro2 Friedrich Nietzsche: Die Fröhliche Wissenschaft. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1988, Bd. 3, Nr. 327, 555. Auf diese Ausgabe verweist im Folgenden die Sigle KSA. Nachweise in Klammern im Text mit Band- und Seitenzahl.
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duktivität des Denkens anzuregen und zu stärken. Dieses produktive Potential des positiven, freudigen Affekts will Nietzsches Projekt einer ›Fröhlichen Wissenschaft‹ fruchtbar machen, um die Kräfte des Denkens zu mobilisieren und zu steigern. Die Fröhlichkeit, die sich im Lachen ausdrückt, erhält von daher für Nietzsche auch den Status eines Heilmittels, einer Arznei, durch die sich der Denkende von den lähmenden, die intellektuelle Tätigkeit hemmenden Wirkungen des Ernstes zu befreien vermag. Der Habitus der Fröhlichkeit, für den Nietzsche plädiert, bestimmt dabei zunächst, jedoch nicht nur das Verhältnis des Philosophen zu sich selbst, zu seiner körperlichen und geistigen Befindlichkeit. In ihm manifestiert sich überdies eine spezifische Positionierung gegenüber der Tradition, gegenüber etablierten Konventionen des Denkens und Wissens. Nietzsches Plädoyer für den Frohsinn ist nicht zuletzt ein Einspruch gegen jenen ›Geist der Schwere‹, 3 der aus seiner Sicht die geläufige Auffassung des Denkens und den bisher vorherrschenden Gang seiner Geschichte bestimmt hat. Als Gegenmittel gegen diesen Ernst der Philosophie und Wissenschaft erhebt Nietzsche die gaya scienza, das frohe oder heitere Wissen, wobei er diesen Begriff der provenzalischen Sprache der mittelalterlichen Troubadors entlehnt und damit, wie er im Rückblick in Ecce Homo notiert, an »jene Einheit von Sänger, Ritter und Freigeist« (KSA 6, 333–334) erinnert, die ihm in der Gestalt des Troubadour exemplarisch ausgeprägt erscheint. 4 Dass Nietzsche hier an Begriffe und Figuren der provenzalischen Kultur anknüpft, ist kein Zufall. Denn die Stimmung oder Haltung des frohen Denkens verbindet sich in seinem Werk mit einer bestimmten landschaftlichen Topik, jener südlichen Landschaft des Mittelmeers, die in Nietzsches kulturkritisch inspirierter Topographie als gleichsam klassischer Ort der Heiterkeit gilt. 5 Diese Verbindung der gaya Zu dieser zentralen Formel, in der Nietzsche all jene Instanzen und Mächte zusammenfasst, die der Aktivität des Lebens und Denkens entgegenstehen, vgl. Marco Brusotti: Die Leidenschaft der Erkenntnis: Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche. Berlin/New York 1997, 580–584. 4 Vgl. Tilman Borsche: Fröhliche Wissenschaft freier Geister – eine Philosophie der Zukunft? In: Mihailo Djurić (Hrsg.): Nietzsches Begriff der Philosophie. Würzburg 1990, 53–72, hier 63–64. 5 Vgl. Paolo D’Iorio: Le voyage de Nietzsche à Sorrente. Paris 2012, 42–46. Vgl. auch Walter Erhart: ›Gott ist tot‹ – ›Es lebe der Gott Italiens‹. Friedrich Nietzsches Metaphysik des Südens. In: Gunter E. Grimm/Ursula Breymayer/Walter Erhart (Hgg.): ›Ein Gefühl von freierem Leben‹. Deutsche Dichter in Italien. Stuttgart 1990, 189– 206. 3
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scienza mit der Topik des Südens lässt sich exemplarisch an einer Passage aus Ecce Homo nachvollziehen, in der Nietzsche die Entstehung seines Zarathustra-Buchs der Gunst des mediterranen Raums und seines heiteren Himmels zuschreibt: »Den darauf folgenden Winter [gemeint ist der Winter 1882/83] lebte ich in jener anmuthig stillen Bucht von Rapallo unweit Genua, die sich zwischen Chiavari und dem Vorgebirge Porto fino einschneidet. […] Den Vormittag stieg ich in südlicher Richtung auf der herrlichen Strasse nach Zoagli hin in die Höhe, an Pinien vorbei und weitaus das Meer überschauend […]« (KSA 6, 336–337).
Die Landschaft der Heiterkeit, die Nietzsche hier in wenigen Zügen umreißt, könnte suggerieren, es handle sich bei dem Projekt der gaya scienza um eine Haltung oder Stimmung, die sich gleichsam von selbst einstelle, in dem Maße, in dem das philosophierende Subjekt in das Ambiente des Südens eintauche und sich dessen Ausstrahlung von Ruhe und Gelassenheit überlasse. Dieser Eindruck einer gleichsam widerstandslosen Heiterkeit, die der Denkende bloß zu erleben und zu empfangen brauche, ist jedoch trügerisch. Nietzsche betont vielmehr, dass der gewünschte Frohsinn nur als Folge eines vorangehenden Aktes der Anstrengung zu erreichen sei und gleichsam aus einer intensiven Arbeit des Denkenden hervorgehe. Die Mühen dieses Akts der Vorbereitung stellt die Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft programmatisch heraus: »›Fröhliche Wissenschaft‹ : das bedeutet die Saturnalien eines Geistes, der einem furchtbaren langen Drucke geduldig widerstanden hat – geduldig, streng, kalt, ohne sich zu unterwerfen, aber ohne Hoffnung –, und der jetzt mit Einem Male von der Hoffnung angefallen wird, von der Hoffnung auf Gesundheit, von der Trunkenheit der Genesung« (KSA 3, 345).
Die Übungen, denen sich das denkende Ich im Vorfeld der gaya scienza unterziehen muss, werden hier vor allem als ein Modus des Widerstands aufgefasst, der dabei keineswegs als eine nur passive Resistenz, sondern als eine aktive, alle Kräfte des Subjekts mobilisierende Form des Gegenhaltens erscheint. Auf die Mühen der Hervorbringung der gaya scienza verweist auch die Metaphorik von Schwangerschaft und Geburt, in der Nietzsche in seinem Selbstkommentar in Ecce Homo die Entstehung des Zarathustra-Projekts umschreibt (KSA 6, 335– 336):
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»Rechne ich dagegen von jenem Tage [gemeint ist der Zeitpunkt der ersten Idee des Zarathustra-Projekts] an vorwärts, bis zur plötzlichen und unter den unwahrscheinlichsten Verhältnissen eintretenden Niederkunft im Februar 1883 […] so ergeben sich achtzehn Monate für die Schwangerschaft. Diese Zahl gerade von achtzehn Monaten dürfte den Gedanken nahelegen, unter Buddhisten wenigstens, dass ich im Grunde ein Elephanten-Weibchen bin.«
Wie die beiden zitierten Wort- bzw. Bildfelder – des Widerstands und der Schwangerschaft – andeuten, geht es bei der Heiterkeit in Nietzsches Sinne vor allem um die Auflösung eines vorangehenden Drucks oder einer Spannung. Wie vor allem die zuerst zitierte Stelle zu erkennen gibt, ist Heiterkeit hier gewissermaßen kein naiver, autarker, in sich selbst ruhender Zustand, sondern ein Zustand der Erleichterung, der aus einer Konstellation der Anspannung und des Konflikts hervorgeht. Von daher ist es kein Zufall, dass Nietzsche den Übergang in diesen Zustand der Fröhlichkeit in der oben zitierten Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft in medizinischen Begriffen, als einen Vorgang der Genesung von einer Krankheit beschreibt. Der Prozess der Genesung stellt sich dabei in der Selbstbeschreibung der Vorrede als eine eigentümliche Verschränkung von Erleben und Handeln dar. Die Ankunft der Fröhlichkeit erscheint als ein Ereignis, das zwar gewünscht und durch geduldiges Aushalten vorbereitet, aber nicht erwartet oder durch strategisches Kalkül herbeigeführt werden kann. Es überkommt den Genesenden als etwas gänzlich Unwahrscheinliches und Unerwartetes. 6 Im Sinne des medizinischen Registers, das in der Vorrede zur Geltung gebracht wird, lässt sich dieses unerwartete Moment der Erleichterung auch als eine Form der Katharsis begreifen, eine (gleichermaßen physiologische wie psychologische) Reinigung des Subjekts von bestimmten negativen Affekten. Nietzsche knüpft hier an eine antike Vorstellung an, die hinter Aristoteles zurückreicht und außer im kultischen Bereich insbesondere in medizinischen Kontexten verbreitet war. 7 Auch bei der Katharsis, wie wir sie aus der aristotelischen Beschreibung der Wirkung der Tragödie kennen, haben wir es mit einem plötzlichen Effekt 6 Vgl. Fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 345: »Die Dankbarkeit strömt fortwährend aus, als ob eben das Unerwartetste geschehn sei, die Dankbarkeit eines Genesenden – denn die G e n e s u n g war dieses Unerwartetste.« 7 Vgl. Fortunat Hoessly: Katharsis: Reinigung als Heilverfahren: Studien zum Ritual der archaischen und klassischen Zeit sowie zum Corpus Hippocraticum. Göttingen 2001, 11–14 und 97–98.
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der Erleichterung und Befreiung zu tun, der sich nach einem Vorgang des Aushaltens negativer Zustände wie jenen des Schreckens und Jammers einstellt. 8 In Nietzsches Vorrede nimmt die antike Figur der Katharsis die Gestalt einer Reinigung von den negativen Affekten des Ernstes und der Traurigkeit und einer Befreiung von deren lähmenden Wirkungen an: »Dies ganze Buch ist eben nichts als eine Lustbarkeit nach langer Entbehrung und Ohnmacht, das Frohlocken der wiederkehrenden Kraft« (KSA 3, 346). Wichtig ist hier, die Leitideen der »Lust« und des »Frolockens« in ihrem engen Zusammenhang mit dem Konzept der Kraft zu sehen. Als positive, heitere Affekte sind sie nicht nur Ausdruck und Indiz des erfolgreichen Heilungsprozesses, sondern wirken ihrerseits entscheidend daran mit, die Tätigkeit des Subjekts und dessen Kräfte zu stärken. 9 Der skizzierte Erneuerungs- und Ermächtigungsprozess umfasst dabei sowohl eine physische und ethische als auch eine epistemische Dimension. Das zur Fröhlichkeit konvertierte Subjekt ist, auf der Linie der antiken Tradition, 10 durch die ins Lot gebrachte und selbstgesteuerte Ökonomie seiner Affekte zunächst Herr seiner selbst. Diese neu erlangte (physische und ethische) Konstitution geht dabei Hand in Hand mit einer neuen Einstellung des Denkens und Erkennens, die Nietzsche in den Begriffen der Offenheit und des Abenteuers umschreibt. Die Fröhlichkeit begrüßt er demgemäß als Zeichen eines »plötzlichen Gefühls und Vorgefühls von Zukunft, von nahen Abenteuern, von wieder offnen Meeren, von wieder erlaubten, wieder geglaubten Zielen« (KSA 3, 346). Die Befreiung vom passiven Zustand des Ernstes artikuliert sich nicht zufällig in einer räumlichen Metaphorik sich öffnender neuer Ausblicke und Horizonte des Denkens. In dem Maße, in dem der Denkende aus der Herrschaft des Ernstes heraustritt, ist er zugleich bereit, sich auf das Wagnis einzulassen, jene unbekannten Räume eines neuen Denkens zu erkunden. Die gleiche Metaphorik der Öffnung und Ausweitung des Hori8 Vgl. Carsten Zelle: Katharsis. In: Harald Fricke (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2. Berlin/New York 2000, 249–252. Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit dem antiken Katharsis-Konzept vgl. Glenn W. Most: Nietzsche gegen Aristoteles mit Aristoteles. In: Martin Vöhler/Dirck Linck (Hgg.): Grenzen der Katharsis in den modernen Künsten: Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud. Berlin 2009, 51–62. 9 Vgl. Gilles Deleuze: Nietzsche et la philosophie. Paris 1962, 6–67 und 130–131. 10 Vgl. Marco Brusotti: Die Leidenschaft der Erkenntnis: Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche. Berlin/New York 2011, 17–18 sowie 133–138.
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zonts findet sich bezeichnender Weise auch an einer anderen Stelle der Fröhlichen Wissenschaft (Fünftes Buch, Nr. 343), in jenem Passus, der die Reaktion des philosophischen Freigeists auf die Nachricht vom Tod Gottes umreißt. Die Wahrnehmung dieses Ereignis koinzidiert dort mit einer über den Philosophen hereinbrechenden Stimmung der Heiterkeit, die im Bild einer Fahrt hinaus ins offene Meer umschrieben wird (KSA 3, 574): »Stehen wir vielleicht zu sehr noch unter den nächsten Folgen dieses Ereignisses – und diese nächsten Folgen, seine Folgen für uns sind, umgekehrt als man vielleicht erwarten könnte, durchaus nicht traurig und verdüsternd, vielmehr wie eine neue schwer zu beschreibende Art von Licht, Glück, Erleichterung, Erheiterung, Ermutigung, Morgenröthe … In der That, wir Philosophen und ›freien Geister‹ fühlen uns bei der Nachricht, dass der ›alte Gott todt‹ ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagniss des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ›offnes Meer‹.«
Auffallend sind hier zunächst die Metaphern des Lichts und der Morgenröte, die, gleichsam als klimatisch-meteorologische Attribute, die Stimmung der Heiterkeit anzeigen. Der Einbruch der Fröhlichkeit stellt sich dabei, in genauer Parallele zur Vorrede, als eine Erfahrung dar, in der Erleben und Handeln auf eigentümliche Weise verschränkt sind: Die Heiterkeit ist zunächst ein reaktiver Affekt, der auf das Ereignis »Gott ist tot« antwortet und insofern dem Modus des Erlebens angehört. Unterdessen erschöpft sich die Fröhlichkeit keineswegs in diesem nur reaktiven Moment, sondern sie wird von dem sie erfahrenden Subjekt bejaht und als eine gleichsam selbst gewählte Einstellung angenommen. Das Erleben verwandelt sich so in eine Disposition zum Handeln, zur intellektuellen Aktivität, die sich am Ende des zitierten Passus in den Figuren des Aufbruchs und Ausfahrt ins offene Meer manifestiert. Zieht man aus den bisherigen Beobachtungen eine vorläufige Bilanz, lässt sich festhalten: Die besondere Valenz, die Nietzsche der Fröhlichkeit und dem Lachen als Vehikel einer neuen Form des Philosophierens zuschreibt, hängt mit dessen eigentümlicher Zwischenposition zwischen einem intellektuellen und einem körperlichen Vollzug zusammen. Durch diesen doppelten, physischen und intel»Fröhliche Wissenschaft«
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lektuellen Bezug, ist das Lachen für Nietzsche dazu disponiert, die körperlich-physiologische und in Eins damit die geistige Mechanik des Subjekts in Bewegung zu versetzen und so dessen Tätigkeitsvermögen und Denkkräfte zu stimulieren. Dem Lachen und der Fröhlichkeit ist so zugleich ein besonderer Bezug zu jener Dimension des Lebens inhärent, die Nietzsche als Anliegen und unverzichtbares Element eines Denkens begreift, das mehr als bloß logisches Kalkül sein will. 11 Das Lachen vermag diese vitale Dimension des Denkens offen zu legen und zur Geltung zu bringen; in ihm äußert sich jener Impetus des Ja-Sagens und der Bejahung des Lebens, 12 der Nietzsche als Kennzeichen einer neuen Art des Philosophierens gilt. Zwar hat es zunächst den Anschein, als seien Lachen und Fröhlichkeit lediglich vorübergehende Befindlichkeiten, die mal hier, mal dort als mehr oder weniger zufällige, situationsbedingte Zustände des Subjekts auftreten. Gleichwohl erschöpfen sich die Äußerungen der Fröhlichkeit für Nietzsche nicht in diesem Status eines akzidentiellen und ephemeren Zustands. Aus Nietzsches Überlegungen gewinnt man vielmehr den Eindruck, dass diese Zustände eingeübt und durch Wiederholung zu habituellen Haltungen verfestigt werden können. So betrachtet stellen Lachen und Fröhlichkeit für Nietzsche Übungen im Sinne der antiken Selbsttechniken 13 dar, die die positiven Vermögen und Kräfte des Subjekts kultivieren und stärken. 14 Das spezifische Potential des Lachens scheint für Nietzsche gerade in dieser eigentümlichen Doppelheit zu liegen: Einerseits erscheint das Lachen als unvorhersehbares und ephemeres Ereignis, das das Subjekt überkommt und gleichsam als etwas Fremdes, Äußeres in das Denken hineinbricht, andererseits kann es, in dem Maße, in dem es der Wiederholung und Einübung zugänglich ist, zu einem Habitus des Denkenden werden und so als ein integrales Element und Movens des Philosophierens wirksam werden. Der erneuernde und befreiende Impetus, der sich für Nietzsche mit der Fröhlichkeit verbindet, beschränkt sich unterdessen nicht auf die hier zunächst betrachtete Ebene des individuellen Subjekts. Auf dem Spiel steht vielmehr eine Operation von weitreichenderer Tragweite, die nicht weniger als eine Vgl. Deleuze: Nietzsche et la Philosophie, 130–131. Vgl. ebd., 268: »Rire est affirmer la vie et, dans la vie, même la souffrance.« 13 Vgl. Pierre Hadot: Exercices spirituels et philosophie antique. Paris 1993. 14 Vgl. Marco Brusotti: Die Leidenschaft der Erkenntnis, 133–135; sowie Wilhelm Schmid: Uns selbst gestalten. Zur Philosophie der Lebenskunst bei Nietzsche. In: Nietzsche-Studien, Bd. 21, 1992, 50–62. 11 12
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Auseinandersetzung mit den wirkungsmächtigsten Traditionen der Geschichte des Denkens impliziert. Wie die Formel vom Tod Gottes in dem oben zitierten Passus aus der Fröhlichen Wissenschaft anzeigt, haben wir es hier mit einem Ereignis zu tun, dass in seinen Konsequenzen über die individuelle Situation des denkenden Ich weit hinausreicht. Der Umschwung in die Heiterkeit bezeichnet zugleich eine epochale Zäsur in der Geschichte des Denkens, in der sich die Möglichkeit einer neuen Philosophie der Zukunft ankündigt. Das Projekt einer Philosophie der Heiterkeit, das die Fröhliche Wissenschaft entwirft, lässt sich somit nur im Kontext von Nietzsches Auseinandersetzung mit der ideen- und kulturgeschichtlichen Tradition des Okzidents angemessen begreifen, einer Tradition, die nicht zuletzt durch den Einfluss des Christentums bestimmt wurde. Nietzsche sieht in der christlichen Tradition eben jene gegnerische Macht des Ernstes und der düsteren Affekte, gegen die er seinen freidenkerischen Einspruch zugunsten des Lachens und der Heiterkeit lanciert. Die christliche Tradition, insbesondere in ihrer institutionellen Ausprägung als Kirche, bedeutet für Nietzsche insofern eine lebensfeindliche Instanz, als sie die negativen Affekte des schlechten Gewissens und des Ressentiments kultiviert und dem Subjekt eine passive Haltung des bloßen Erleidens auferlegt. 15 Es ist jener Nexus von Schuld und Leiden, den Nietzsche im asketischen Ideal des Christentums erblickt und aus dessen polemischer Inversion seine Philosophie der Fröhlichkeit ihren emanzipatorischen Impetus bezieht. Grenzt sich Nietzsches gaya scienza somit kritisch vom christlichen Denken ab, so ist damit noch keineswegs ausgemacht, dass sie ihrerseits auf jeden Rekurs auf mythische oder religiöse Elemente verzichtet. Die Dekonstruktion des christlichen Ernstes, die Nietzsches Philosophie betreibt, vollzieht sich vielmehr in der Weise, dass sie anstelle des »alten Gottes« der Traurigkeit neue Götter der Fröhlichkeit und des Lachens setzt. Die wohl bemerkenswerteste mythische Figur, die in Nietzsches Werk als Anwalt der Heiterkeit und des Lachens auftritt, ist Zarathustra. Mit dieser Figur knüpft Nietzsche an den Namen des altpersischen Religionsstifters an, den er in freier fiktionalisierender Umschrift zur Titelfigur seines in prophetischem Duktus verfassten philosophisch-literarischen Textes erhebt. Die Figur des Zarathustra, die Nietzsche in diesem Text entwirft, ist viel15 Vgl. das Kapitel »L’idéal ascétique et l’essence de la religion« in: Deleuze: Nietzsche et la philosophie, 223–230.
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schichtig: Sie knüpft zum einen an die Tradition der Figur des philosophischen Denkers und Weisen an, der, wie etwa Sokrates, Philosophie und Leben zu vermitteln sucht; zum anderen erinnert Zarathustra an die Gestalt des religiösen Propheten bzw. Religionsstifters, die er indessen in dem Maße konterkariert, als er sich weigert, ein Wissen zu verkünden, das sich in Form einer religiösen Lehre oder eines dogmatischen Gehalts fixieren ließe. Einen ersten Hinweis auf die Verbindung der Zarathustra-Gestalt mit der Grundstimmung der Heiterkeit gibt Nietzsche in einem rückblickenden Selbstkommentar, wenn er seinen Zarathustra als ein in »halkyonischem« Stil verfasstes Werk bezeichnet. 16 ›Halkyonisch‹ ist dabei eine Anspielung auf die sogenannten ›halkyonischen Tage‹, die Wintersonnenwende im antiken Griechenland, die sich durch ihr mildes Klima und ihr ruhiges, nahezu windstilles Ambiente auszeichnete. 17 Nimmt man diese Selbstbezeichnung beim Wort, rückt Nietzsches Zarathustra somit in den Kontext jener Philosophie der Heiterkeit ein, die Nietzsche mit der Fröhlichen Wissenschaft begonnen hatte und die er nun, unter anderen Vorzeichen, wieder aufgreift. Die frohe Botschaft, die Zarathustra verkündet, ist zuvörderst eine Initiation in das Lachen. »Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde«, so lautet Zarathustras Credo, das er sogleich mit einer Aufforderung verknüpft: »Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tödtet man. Auf lasst uns den Geist der Schwere tödten!« (KSA 4, 49) Wenn Nietzsches Zarathustra das Lachen zu einem ethischen Imperativ erklärt, so ist dies nicht zuletzt als polemischer Gegenzug zu einer Position der Abwehr des Lachens zu verstehen, in der Nietzsche einen Grundzug der biblisch-christlichen Tradition erblickt. Als klassische Fundstelle dieses Topos der Ablehnung des Lachens im Christentum gilt Nietzsche dabei die in den Schriften der Kirchenväter und bei Johannes Chrysostomos überlieferte Bemerkung, dass Jesus nie gelacht habe. 18 Nietzsches kritische Auseinandersetzung mit der Problematik des Lachens im ChristenVgl. Ecce Homo, Vorwort, KSA 6, 259: »Man muss vor Allem den Ton, der aus diesem Munde kommt, diesen halkyonischen Ton richtig hören […]«. 17 Vgl. Jan Bauke: ›Ein Buch für alle und Keinen‹. Er- und Entmächtigungsfiguren in Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra. In: Philipp Stoellger (Hrsg.): Sprachen der Macht. Gesten der Er- und Entmächtigung in Text und Interpretation. Würzburg 2008, 133–148, hier 138. 18 Vgl. Elisabeth Arend-Schwarz: Lachen und Komik in Giovanni Boccaccios Decameron. Frankfurt a. M. 2004, 66–67. 16
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tum bekundet sich wohl am deutlichsten im 16. Abschnitt des Vierten Teils des Zarathustra, in dem Nietzsche jene bekannte Stelle des Lukas-Evangeliums: »Weh euch, die ihr jetzt lacht! Denn ihr werdet weinen und klagen« (Lukas 6, 25) aufgreift und sie als ein grundsätzliches Verdikt gegen das Lachen herausstellt. In Nietzsches kommentierender Umschrift heißt es: »Welches war hier auf Erden bisher die grösste Sünde? War es nicht das Wort Dessen, der sprach: ›Wehe Denen, die hier lachen!‹ […] Der – liebte nicht genug: sonst hätte er auch uns geliebt, die Lachenden!« (KSA 4, 365) Sicher nimmt Nietzsche mit dieser Lektüre, die die zitierte Stelle des Lukas-Evangeliums aus ihrem Kontext herauslöst und sie als isolierte, unbedingte Geltung beanspruchende Aussage präsentiert, eine in gewisser Hinsicht verkürzte und einseitige Deutung vor. Überhaupt stellt Nietzsches These einer grundsätzlichen Verbannung und systematischen Zurückweisung des Lachens in der biblischen Tradition eine Überpointierung dar, 19 die das Motiv der Ablehnung des Lachens um der rhetorischen Klarheit und polemischen Wirkung willen zuspitzt. Die Grundidee einer Marginalisierung bzw. Verbannung des Lachens in der christlichen Tradition liefert Nietzsche gewissermaßen den polemischen Bezugspunkt, von dem aus er seine eigene Aufwertung des Lachens entwickelt, um sie als Einspruch gegen eine überkommene Vorherrschaft des Ernstes in Religion und Philosophie geltend zu machen. Nietzsches satirische Exposition und Entlarvung dieses Lachverbots zielt dabei weniger auf eine Kritik der biblischen Texte; sie nimmt vielmehr die kirchliche Auslegungstradition und, damit verbunden, die institutionelle Ausgrenzung des Lachens in kirchlichen Kontexten ins Visier. In seiner Verteidigung des Lachens kann Nietzsche dabei paradoxerweise an eine Motivik der Wertschätzung des Lachens anknüpfen, die gleichsam als apokryphe Schicht, in der christlichen Tradition selbst angelegt ist. 20 Gemeint sind jene gnostischen Strömungen innerhalb des frühen Christentums, die Jesus als eine tanzende oder lachende Figur vorstellen und denen das Lachen als ein Mittel der Enthüllung und der Erkenntnis gilt. 21 Auch wenn er jene gnostischen Auffassungen nicht explizit benennt, wird man anZur Bedeutung des Lachens in der Bibel vgl. den Beitrag von Alexander Jaklitsch in diesem Band. 20 Vgl. Guy Stroumsa: Christ’s Laughter: Docetic Origins Reconsidered. In: Journal of Early Christian Studies, 12 (2004), Nr. 3, 267–288. Vgl. auch ders., Le rire du Christ. Essais sur le christianisme antique. Paris 2006. 21 Vgl. Jean-Daniel Dubois: Jésus apocryphe. Paris 2011. 19
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nehmen dürfen, dass sie Nietzsche aus den Schriften der Kirchenväter bekannt waren, die, das spätere Verdikt vom Standpunkt der offiziellen Kirche vorwegnehmend, bereits adversus haereses plädieren. Diese marginalen, aus späterer kirchlicher Sicht heterodoxen Tendenzen mögen Nietzsche einen Anknüpfungspunkt gegeben haben für den Entwurf einer Gegenfigur zur biblischen Erlösergestalt, wie er sie insbesondere in seinem Zarathustra präsentiert. Vor diesem Hintergrund ist es interessant zu bemerken, dass Nietzsches Projekt einer im Zeichen des Lachens zu entwerfenden Philosophie dessen eigener Selbstbeschreibung zufolge eine apokryphe Form des Denkens und Wissens darstellt und damit einen unsicheren und prekären Status in Kauf nimmt. So macht Nietzsche keinen Hehl daraus, dass der Bruch mit den Konventionen der etablierten Traditionen für den esprit libre eine Gefahr in sich birgt: Derjenige, der für das Lachen Partei ergreift, begibt sich auf ein Terrain, das außerhalb des Bereichs des kulturell akzeptierten Wissens angesiedelt ist. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist die Ankündigung des Zarathustra-Projekts im Brief an Heinrich Köselitz vom 1. Februar 1883, der Nietzsche das folgende Bekenntnis anfügt: »Mit diesem Buche bin ich in einen neuen ›Ring‹ eingetreten – von jetzt ab werde ich wohl in Deutschland unter die Verrückten gerechnet werden« (KSB 6, 321). Wenn Nietzsche hier eine Zuschreibung vorauszusehen glaubt, die ihn bzw. sein Buch mit dem Stigma des Wahnsinns belegen wird, so ist diese Selbstverortung mehr als nur eine Pose oder rhetorische Inszenierung. Mit der Antizipation jener Zuschreibung situiert er sich in einem Raum extremer Marginalität, in einem Bezirk, der aus dem Bereich des gesellschaftlich Akzeptierten und Sagbaren ausgeschlossen ist. Die Figur des Ausschlusses, die sich hier abzeichnet, wird unterdessen an der zitierten Stelle von Nietzsche nicht bedauert oder kritisiert, sondern lediglich im Modus einer lakonischen Feststellung notiert. Sie erscheint als unvermeidbare Konsequenz des Sachverhalts, dass das schreibende Ich mit der Fertigstellung und Veröffentlichung seines Textes »in einen neuen ›Ring‹ eingetreten ist«. Der zu erwartende Sprechakt der Exklusion erweist sich in dieser Perspektive insofern als folgerichtig, als er eine Lokalisierung nurmehr bestätigt, die der Text bzw. der Schreibende selbst schon vollzogen hat. Der Akt des Hinübertretens, der hier, sei es als absichtliche, sei es als unwillkürliche Handlung, in den Blick gerückt wird, hat mit einem Potential des Überschreitens zu tun, das dem Lachen inne168
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Fröhlichkeit und Lachen im Werk Friedrich Nietzsches
wohnt. Im Lachen manifestiert sich für Nietzsche, wie Karl Jaspers zu Recht bemerkt hat, der »Einwand gegen alle bestimmte, festgewordene, sich in ihrer Endgültigkeit absolut gebende Wahrheit.« 22 Zarathustra, der das Lachen zum Prinzip seines Denkens erhebt, macht sich diesen transgressiven Impetus zu eigen: Er tritt in ein Gebiet hinaus, das vom Standpunkt des herkömmlichen, in die Bahnen der Konvention sich fügenden Denkens nur als Raum eines radikalen Anderen und fremdartigen Außen erscheinen kann. Wie die Fröhliche Wissenschaft ist somit auch das ZarathustraProjekt durch den Impuls charakterisiert, sich auf ein Denken des Unvertrauten und Neuen einzulassen. Im Kontext dieses Projekts weist Nietzsche dem Lachen einen besonderen Stellenwert zu, insofern es sowohl das Vehikel darstellt, durch das das Denken in den Raum des Unbekannten und Neuen vordringt, als auch das Ausdrucksmittel bezeichnet, in dem sich die anvisierte Position einer von den Fesseln der Konvention befreiten Philosophie bekundet. Nietzsche lässt dabei in bezeichnender Weise offen, ob es sich beim Lachen um einen Akt des Denkenden oder vielmehr um einen Vorgang handelt, der sich an diesem vollzieht. Beim Lachen haben wir es, wie es scheint, mit einer Operation zu tun, die zwischen Handeln und Erleben, Aktivität und Passivität changiert. Jedenfalls scheint sich im Lachen eine spezifische mediale Dynamik zu entfalten, die die bewussten Intentionen des Subjekts übersteigt und es auf eine Ebene transportiert, die es ohne den Motor und Elan des Lachens kaum hätte erreichen können. Der Kunstgriff des Philosophen, der Nietzsche hier vorschwebt, scheint darin zu bestehen, sich mit der Dynamik des Lachens gleichsam symbiotisch zu verbinden, sich deren Schwung mimetisch anzuschmiegen, um sie dabei zugleich zu einem Medium und Instrument des eigenen Denkens zu machen. Wie sich diese Wirkung des Lachens in Nietzsches Texten ins Werk setzt und in welcher Weise das Lachen dort einen Weg eröffnet, die konventionellen Bahnen und Kodifizierungen eines überkommenen Denkens zu verlassen, möchte ich im Folgenden an exemplarischen Stellen aus Nietzsches Also sprach Zarathustra näher erläutern. Wer Nietzsches Zarathustra vor der Folie des oben Ausgeführten in Augenschein nimmt, wird sich eines gewissen Zwiespalts nicht erwehren können. Wir haben es hier offenbar mit einem Text zu tun, Karl Jaspers: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Nachdruck der 4. Aufl., Berlin/New York 1981, 224.
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der sich jener religiösen und metaphysischen Tradition, die er doch zu unterlaufen und zu überwinden sich anschickt, in einer merkwürdigen Art von Mimikry annähert. Er bedient sich einer Sprache, die in Stil und Bildlichkeit der Sprache der Bibel nachempfunden ist. Durch die prophetische Rede, die Nietzsche seinem erfundenen »Weisen« 23 Zarathustra in den Mund legt, erzeugt er den Gestus eines Diskurses, der die Autorität des Gültigen und göttlich Verbürgten beansprucht. Dabei erschöpft sich das Zarathustra-Projekt keineswegs in einer literarischen Nachahmung der Bibel noch in dem Versuch, ihr in ironischer Kontrafaktur ein freidenkerisches Komplement, eine »Bibel der Zukunft« entgegenzusetzen. Also sprach Zarathustra ist zugleich das paradoxe Vorhaben eines modernen Philosophen, »einen klassischen Text zu schreiben.« 24 Ein solcher Text aber ist, wie Nietzsche als guter Philologie weiß, mit den Merkmalen einer semantischen Vielschichtigkeit und Sinnfülle ausgestattet, denen – einem auf die frühromantische Hermeneutik zurückgehenden Topos gemäß – ein unabschließbares Repertoire möglicher Deutungen korrespondiert. 25 Die Annahme einer unendlichen Auslegbarkeit des klassischen Textes ist dabei im Kontext einer philologisch-hermeneutischen Tradition, die von Friedrich Schlegel zu Nietzsche und Jacob Burckhardt führt, mit der Ausbildung einer besonderen Lektüretechnik gepaart, die als spezifisch philologische Operation die unterstellte semantische Komplexität ihres Gegenstands entfalten soll. Es ist das Verfahren der Wiederholungslektüre, 26 das sich als favorisierte Technik des Philologen empfiehlt und dem man zutraut, im wiederholten und intensiven, bei einzelnen Stellen verweilenden Nachvollzug des Textes immer neue Sinnschichten und Bedeutungsnuancen offen zu legen. Nietzsche, der selbst aus der Schule jener Tradition herkommt, ist sich bewusst, dass das waghalsige Unternehmen, einen ›klassischen Text‹ nicht lesen, sondern schreiben zu wollen, der genannten Volker Gerhardt: Die Erfindung eines Weisen. Zur Einleitung in Nietzsches Zarathustra. In: Ders. (Hrsg.): Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Berlin 2012, 1–11, hier 10. 24 Ebd., 2. 25 Vgl. Martin Bäuerle: Kommunikation mit Texten: Studien zu Friedrich Schlegels Philologie. Würzburg 2008, 144. 26 Vgl. Nikolaus Wegmann: Was heißt einen ›klassischen Text‹ lesen? Philologische Selbstreflexion zwischen Wissenschaft und Bildung. In: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hgg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart/ Weimar 1994, 334–450, hier 422–23. 23
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Prämisse semantischer Vielschichtigkeit und Offenheit genügen muss. Diesem Erfordernis trägt das Zarathustra-Buch, so ließe sich in einer ersten Annäherung formulieren, unter anderem durch die Operation des Lachens Rechnung. Denn diese bewirkt, indem sie den erwartbaren Gang des Gedankens unvermittelt unterbricht, eine Öffnung und Ausweitung des Diskurses, die zu neuen Deutungen und Sinnangeboten auffordert. Die Bewegung des Lachens weist darüber hinaus eine formale Parallele zur philologischen Methodik auf, die sie geeignet erscheinen lässt, als Prinzip der Herstellung und Rezeption des zu verfertigenden klassischen Textes zu dienen. In ihr ist jene Figur der Wiederholung vorgezeichnet, die die bevorzugte Lektüretechnik des klassischen Philologen kennzeichnet. Das wiederholte Lachen kann so als Modell und Anleitung zum wiederholten Lesen fungieren. Die Wiederholungsfigur, in der die Übung des Lachens mit der des Lesens übereinkommt, wird von Zarathustra in ein Bild gefasst, das dem Bereich religiöser Praktiken entnommen ist: in die Metapher des Rosenkranzes: »Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: euch, meinen Brüdern, werfe ich diese Krone zu! Das Lachen sprach ich heilig; ihr höheren Menschen, lernt mir – lachen!« (KSA 4, 368) Betrachtet man den Sprachduktus der zitierten Stelle, so rücken zunächst die sprachliche Form des Ausrufs und der grammatische Modus des Imperativs in den Blick, die der Äußerung ihren charakteristischen nachdrücklichen Ton verleihen. Darüber hinaus wird hier zugleich eine bestimmte Redeform zitiert bzw. imitiert – das Modell der Ansprache des Propheten oder religiösen Lehrers an seine Jünger, wie wir es etwa aus den Evangelien oder den Reden des Buddha kennen. Die Adressaten der Rede werden dabei in Nietzsches Text als »meine Brüder« bzw. »ihr höheren Menschen« angesprochen. Im Kontext dieser religiösen Redeform ist auch das für den zitierten Passus zentrale Motiv der Rosenkranz-Krone zu sehen. Zarathustra exponiert damit ein Objekt, das im religiösen Kontext als Gegenstand der Andacht und Mittel des Gebets fungiert. Die Kette des Rosenkranzes, an deren Gliedern sich die Hand des Betenden entlang tastet, gibt in ihrer kreisförmigen Struktur gewissermaßen das konkrete, materielle Modell der sich wiederholenden Bewegung des Gebets vor. In Nietzsches Adaptation des Rosenkranzes 27 vollzieht sich unterdesZum Motiv der Rosenkranz-Krone an der genannten Stelle des Zarathustra vgl. auch Mario Bührmann: Zarathustras Lachen. In: Katja Gvozdeva/Werner Röcke
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sen eine entscheidende Verschiebung und Umkehrung dieser Figur: Die Kette des Gebets verwandelt sich in eine Kette des Lachens, die nun nicht mehr den monotonen Ablauf einer den Betenden als passives Sprachrohr in ihren Bann ziehenden Litanei bezeichnet, sondern eine Bewegung, die ihren Teilnehmer in die Rolle des aktiven Mitwirkenden und Tätigen versetzt. Die Rosenkranz-Krone, die Zarathustra seinen Jüngern zuwirft, firmiert so als Aufforderung, durch die Imitatio des Lachens an dessen befreiender Kraft teilzuhaben. Das Lachen wird jedoch nicht nur als Mittel empfohlen, es ist darüber hinaus Gegenstand eines religiösen Sprechakts, dem der Heiligsprechung: »Das Lachen sprach ich heilig.« Dieser Akt ist unterdessen weniger als Sakralisierung des Lachens um seiner selbst willen, als vielmehr aus seinem polemischen Bezug zum sprichwörtlich gewordenen Topos des ›heiligen Ernstes‹ zu verstehen, unter dessen Mantel die Gebote einer überkommenen Moral und Religion ihre Geltung behaupten. Von seinem konventionellen Referenten, dem Ernst, abgekoppelt, wird das Attribut des Heiligen nun dessen Gegenbegriff, dem Lachen zugewiesen. Durch diese Dissoziation der Vorstellung des Ernstes von den Konzepten des Heiligen und des Göttlichen nimmt Nietzsche eine entscheidende semantische Umakzentuierung der tradierten Semantik vor. Sie kann zugleich als Indiz jener »Umwerthung der Werthe« (KSA 11, 218) gelten, 28 die Nietzsche zum Programm und zur Aufgabe der herbeizuführenden Philosophie der Zukunft macht. Dabei ist bemerkenswert, dass das Lachen in diesem Zusammenhang zugleich als Gegenstand und als Vehikel der zu vollziehenden Umwertung erscheint. Es ist Gegenstand dieses Vorgangs, insofern dem Lachen nun eine epistemische und ethische Qualität zugeschrieben wird. Von seiner hergebrachten Geringschätzung befreit, wird es in den Status eines Werts, eines erstrebenswerten Vermögens oder Tuns, erhoben. Zudem kann das Lachen durch die ihm inhärente Dy(Hgg.): ›risus sacer – sacrum risibile‹. Interaktionsfelder von Sakralität und Gelächter im kulturellen und historischen Wandel. Bern/Frankfurt a. M./New York 2009, 217– 236, hier 230, der darin zugleich eine Anspielung auf die Dornenkrone Jesu (Mt. 27, 29) vermutet. 28 Zu diesem Leitkonzept von Nietzsches Philosophie vgl. Jörg Salaquarda: Umwertung aller Werte. In: Archiv für Begriffsgeschichte, 22 (1978), 154–174, sowie Andreas Urs Sommer: Was (er)schafft die Umwertung aller Werte? Zu Nietzsches Kreativitätsmythologemen. In: Oliver Krüger (Hrsg.): Mythen der Kreativität: das Schöpferische zwischen Innovation und Hybris. Frankfurt a. M. 2003, 196–206.
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namik aber auch als Motor der Umwertung dienen. Setzt es doch charakteristischer Weise eine Bewegung der Inversion in Gang, die die Positionen von Oben und Unten, Hoch und Niedrig in ihr Gegenteil umschlagen lässt und so die herkömmliche Ordnung der Dinge auf den Kopf stellt. Kommen wir zurück auf jene beiden Konzepte, die in Nietzsches Zarathustra zuvörderst zur Zielscheibe der kritischen Werterevision werden: auf die des Ernstes und der Fröhlichkeit. Wie wir gesehen haben, ist es im Kontext des Zarathustra nicht zuletzt deren jeweilige Assoziation oder Dissoziation mit dem Bereich des Sakralen, über die sich ihre Aufwertung oder Abwertung artikuliert. Entscheidend ist hier die oben beobachtete Strategie der Dissoziation des Sakralen von seinem herkömmlichen Komplement, dem Ernst, die ein wiederkehrendes Motiv des Zarathustra darstellt. Aufschlussreich in diesem Kontext ist das bereits zitierte ›Bekenntnis‹ Zarathustras, das daher hier nochmals angeführt sei: »Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde. Und als ich meinen Teufel sah, da fand ich ihn ernst, gründlich, tief und feierlich: es war der Geist der Schwere, – durch ihn fallen alle Dinge. Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tödtet man. Auf, lasst uns den Geist der Schwere tödten!« (KSA 4, 49) Die Vorstellung des tanzenden Gottes, als dessen mögliche Verkörperung Nietzsche die Gestalt des Dionysos vor Augen gestanden haben mag, 29 kann gewissermaßen als bildhafte Formel jenes Habitus der Heiterkeit gelten, unter dessen Vorzeichen Nietzsche das Ideal des ›höheren Menschen‹ zu denken versucht. Die Leichtigkeit und ungezwungene Virtuosität des Tänzers erscheint als Gegenfigur zur gravitas des Ernstes, dessen Tiefe und Feierlichkeit hier nicht mit der Sphäre des Erhabenen oder Göttlichen, sondern mit dem Teufel liiert werden. Während die diabolische Schwere hinabzieht, stellt der Tanz eine Technik dar, die sich der Schwerkraft entgegensetzt und sie zu überwinden vermag. Auf den ersten Blick erstaunen mag in diesem Zusammenhang, dass das dem Tanz affine und ihm zur Seite gestellte Lachen hier nicht nur als Ausdruck der Fröhlichkeit und Bejahung und des Lebens erscheinen, sondern das Lachen überdies als eine Technik des Kampfes dienen soll, als eine Waffe, die zu töten vermag. Dieser Rekurs auf die Semantik des Kampfes zeigt an, dass Nietzsche Vgl. Renate Reschke: Die andere Perspektive. Ein Gott der zu tanzen verstünde. Eine Skizze zur Ästhetik des Dionysischen im Zarathustra. In: Gerhardt (Hrsg.): Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra, 193–213, hier 193–195.
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es dem Lachen bzw. der Heiterkeit zutraut, als eine Kraft zu wirken, die es vermag, den gegnerischen Kräften einer lebensfeindlichen Kultur Widerstand zu bieten und sich gegen diese durchzusetzen. Wenn Nietzsche somit den Konflikt kultureller Werte im Bild des Kampfes denkt, so hat er dabei nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie, den Kampf gegen einen äußeren Gegner im Blick. Die Auseinandersetzung, um die es hier geht, ist vielmehr zunächst ein Kampf des Subjekts mit sich selbst, ein Ringen mit den eigenen Schwächen und Dummheiten. Das Projekt der gaya scienza, das Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft beginnt und im Zarathustra fortsetzt, ist insofern vor allem ein Projekt der Überschreitung und Selbstüberwindung. Von daher ist es nur konsequent, dass Zarathustra die ›Waffe‹ des Lachens nicht nur auf seine Gegner richtet, sondern sie auch gegen sich selbst zum Einsatz bringt. In seinen Taktiken der ironischen Aushebelung gehen das Lachen über den Anderen und das Lachen über sich selbst Hand in Hand; ja letzteres scheint überhaupt erst die Bedingung der Möglichkeit bereit zu stellen, dass ich über einen Anderen bzw. eine gegnerische Position wirkungsvoll lachen kann. Wenn es somit in Zarathustras ›Lehre‹ noch einen Imperativ gibt, so ist es der, über sich selber zu lachen. Im vierten und letzten Teil des Zarathustra, im Abschnitt »Vom höheren Menschen«, wird diese Aufforderung nachdrücklich formuliert: »Ihr höheren Menschen hier, seid ihr nicht alle – missgerathen? Seid guten Muths, was liegt daran! Wie Vieles ist noch möglich! Lernt über euch selber lachen, wie man lachen muss!« (KSA 4, 364) Oder, wie es an anderer Stelle heißt: »Wie Vieles ist noch möglich! So lernt doch über euch hinweg lachen! Erhebt eure Herzen, ihr guten Tänzer, hoch! höher! Und vergesst mir auch das gute Lachen nicht!« (KSA 4, 367) Vor diesem Hintergrund gewinnt auch Nietzsches Begriff des ›Übermenschen‹ oder des ›höheren Menschen‹ eine neue Bedeutungsdimension. Es geht hier, so wird deutlich, weniger um einen Machtmenschen oder Superman, sondern um eine Gestalt, die durch eine Bewegung der permanenten Selbstkritik und Selbstüberschreitung charakterisiert ist. 30 Die Selbstkritik vollzieht sich dabei aber nicht bzw. nicht ausschließlich auf dem Wege der Reflexion oder des rationalen Nachdenkens, sondern vorzugsweise im Modus des Lachens. Kennzeichen des sogenannten höheren Menschen ist es, dass er, indem er über sein Missratensein, d. h. über seine Fehler und Be30
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Vgl. Bührmann: Zarathustras Lachen, 226.
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grenztheiten lachen kann, sich zugleich über diese, wie es heißt, »hinweglacht« und sie auf diese Weise überwindet. Insofern ist es kein Zufall, dass sich das Lachen für Nietzsche bzw. Zarathustra mit dem Begriff des Möglichen verbindet: »Oh, wie Vieles ist noch möglich!« Denn in dem Maße, in dem das Lachen das Gegebene in eine heitere oder ironische Distanz rückt, 31 eröffnet es einen die Realität transzendierenden Raum, der ein offenes Potential noch unentdeckter Möglichkeiten in sich birgt. Das Lachen stellt somit für Nietzsche, so lässt sich zusammenfassend festhalten, ein Medium bereit, das es erlaubt, überkommene Gewohnheiten und moralische Vorurteile zu überwinden sowie festgefahrene Bahnen des Denkens aufzubrechen, 32 zugunsten einer Öffnung für ein Neues und Unbekanntes, zu dessen Erschließung es erst noch einen anderen, neuen Modus des Denkens zu finden gilt. In diesem Kontext scheint dem Lachen vor allem eine antizipierende Rolle zuzukommen, nämlich die Aufgabe, der gesuchten neuen Philosophie den Weg zu bahnen und diese vorzubereiten. Es scheint hingegen weniger geeignet, jene neuen Ideen selbst zu formulieren oder sie im Modus von Behauptungen oder Thesen zu konstatieren. Das Lachen ist seiner medialen Disposition nach eine unabschließbare Figur, die, wenn sie ihrer eigenen immanenten Dynamik folgt, gar nicht bei der Behauptung einer einmal gesetzten positiven Aussage stehen bleiben kann, sondern geneigt ist, diese vielmehr ihrerseits wieder zum Gegenstand der Ironie, des Spotts und des Verlachens zu machen. So betrachtet scheint das Lachen kaum geeignet, ein Medium zu bieten, in dem sich eine (neue) philosophische Position formulieren und verteidigen ließe. Diese Beobachtung muss unterdessen für Nietzsches Projekt, aus dem Lachen eine Philosophie der Bejahung und des Ja-Sagens zu entwickeln, ein Problem darstellen: Denn wie kann das Lachen bejahen, wenn ihm der für die bejahende Äußerung konstitutive Modus des assertiven Sprechens, d. h. des Feststellens und Aussagens, gar nicht zu Gebote steht? 33 31 Vgl. Bärbel Frischmann: Lachen. In: Christian Niemeyer (Hrsg.): Nietzsche-Lexikon. 2. Aufl., Darmstadt 2011, 211. 32 Zu diesem subversiven Impuls des Lachens vgl. Christiaan L. Hart-Nibbrig: Nietzsches Lachen. In: Merkur, 37 (1983), 84–87, hier 84. 33 Damit steht zugleich die Frage nach der Macht des Lachens auf dem Spiel, d. h. die Frage, wie sich im Lachen die Macht manifestieren kann, neue Werte zu setzen. Vgl. dazu Jan Bauke: Ein Buch für Alle und Keinen, 133–148, der Nietzsches Projekt als
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Die genannte Schwierigkeit löst sich auf, wenn man das Blickfeld der Untersuchung erweitert und die affirmative Dimension auf einer anderen Ebene aufsucht als der der Sprache und des Begriffs. Das bejahende Moment des Lachens gehört offenbar einem anderen Register an als dem des sprachlichen oder begrifflichen Sinns. Es ist einem Ensemble von Äußerungsformen zuzuordnen, die man als paralinguale Kommunikationsweisen bezeichnen könnte und die sich im Unterschied zum distinktiven Register der Sprache auf einer gleitenden, kontinuierlichen Skala des Ausdrucks manifestieren. 34 Zu jenen gleitenden Äußerungsformen zählen – neben dem Lachen und der Artikulationen der Fröhlichkeit – auch Tanz, Rhythmus und Musik. Diesen paralingualen Ausdrucksformen scheint Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft und im Zarathustra eine besondere Bedeutung beizumessen. Sie gehören allesamt jenem Repertoire von Figuren an, die Nietzsches Texte als Gegenmittel gegen die Versuchungen des Ressentiments und die verhärteten Schablonen eines überkommenen Denkens in Anschlag bringen. Nietzsche traut diesen mimetisch-analogen Äußerungsweisen eine feinere Ausdrucksfähigkeit und größere Wirkungskraft zu als dem distinktiven Instrumentarium der begrifflichen Sprache. 35 Von daher verwundert es nicht, dass er im Zarathustra in eins mit dem Lachen Rhythmus und Tanz als zentrale Formen der poetisch-prophetischen Mitteilung herausstellt. So ist der Tanz bzw. der tanzende Gott nicht nur das Leitmotiv von Zarathustras häretischem Credo; letzterer hat sich diese Bewegungsform vielmehr selbst zu eigen gemacht. Die tänzerische Äußerungsform ist dabei gleichsam zu seinem natürlicher Verhaltensstil geworden: »Zarathustra der Tänzer, Zarathustra der Leichte, der mit den Flügeln winkt, ein Flugbereiter, allen Vögeln zuwinkend, bereit und fertig, ein Selig-Leichtfertiger« (KSA 4, 366). Auf den gleichen Komplex außersprachlicher Ausdrucks- und Mitteilungsformen, deren paradigmatische Ausprägung Nietzsche im Tanz erblickt, verweist schließlich auch die Assoziation des Zarathustra-Projekts mit der Musik, die Nietzsche in einem Selbstkommentar programmatisch hervorhebt: »Man darf vielleicht den ganzen »Dialektik« von »Ermächtigungs- und Entmächtigungsstrategien« (ebd., 144) beschreibt. 34 Vgl. Dietz Bering: Paralinguistische Mimesis. Sprachskepsis und Sprachvertrauen bei Friedrich Nietzsche. In: Jürgen Schiewe (Hrsg.): Welche Wirklichkeit wollen wir? Beiträge zur Kritik herrschender Denkformen. Schliengen 2000, 37–50. 35 Ebd., 39–42.
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Zarathustra unter die Musik rechnen; – sicherlich war eine Wiedergeburt in der Kunst zu hören, eine Vorausbedingung dazu« (KSA 6, 335). Das Lachen reiht sich somit für Nietzsche in das Ensemble jener rhythmisch-musikalischen Ausdrucksformen ein, die er, in Abgrenzung vom Bereich des begrifflichen Sinns, dem Register des Lebens zuordnet und denen er zutraut, eine andere, beweglichere und nuancenreichere Form des Ausdrucks zu finden – im Sinne eines mimetischen Bestrebens, den Impuls des Lebens selbst nachzuempfinden und nachzubilden. An dieser Stelle bietet es sich an, nochmals genauer zu fragen, um welche Art der Erkenntnis es hier zu tun ist: Was leistet der Rekurs auf das Lachen und die ihm affinen Formen des Tanzes und musikalischen Ausdrucks? Nimmt man den gleitenden, nicht-fixierbaren Charakter dieser Äußerungsweisen ernst, liegt es auf der Hand, dass diese Äußerungsformen keine logisch-begriffliche Erkenntnis hervorbringen können. An einem Wissen, das sich auf den Begriff bringen und als Lehre tradieren lässt, scheint Nietzsche indessen auch kaum gelegen zu sein. In den Figuren des Lachens und des Tanzes führt er vielmehr ein Element in das Denken ein, das diesem bislang fremd war, aus dem es jedoch den Anstoß bezieht, bislang unbekannte, gewagte Operationen zu vollziehen. Lachen, Fröhlichkeit, Tanz sind also nicht als Formulierungen einer neuen Erkenntnis, sondern als Modi der Vorbereitung und Vorwegnahme einer solchen zu betrachten. Es sind Äußerungsformen, die auf eine neue Form des Philosophierens einstimmen, die dazu anleiten, einen bestimmten Modus oder Stil des Denkens zu erproben und einzuüben. Lachen, Fröhlichkeit und Tanz zu Operationen des Philosophierens zu erklären bedeutet somit zugleich eine Öffnung des Denkens zu vollziehen, um einem Moment Rechnung zu tragen, dass sich auf der Ebene des begrifflichen und theoretischen Erkennens nicht fassen lässt, jedoch gleichwohl für dieses konstitutiv ist. Dieses außersprachliche und außerbegriffliche Moment, das Nietzsche hier anvisiert, verweist zudem auf eine praktische Dimension. Denn die genannten paralingualen Äußerungsformen gehören in dem Maße, in dem sie eine körperlich-gestische Bewegung, ein performatives Tun vollziehen, dem Bereich des Handelns an. Die Art des Wissens, die Nietzsche in der Idee der gaya scienza entwirft, schließt somit einen konstitutiven Bezug zum Handeln und Verhalten des Menschen ein. Dieses praktische Moment ist dabei keineswegs als eine vom Denken gänzlich getrennte Dimension vorzustellen; vielmehr bezieht ein »Fröhliche Wissenschaft«
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Denken, das aus dem paralingualen Impetus der Fröhlichkeit hervorgeht, von diesem auch eine handlungsförmige Kontur. Ein solches Denken ist für Nietzsche selbst eine Form des Handelns, ein intellektueller und sprachlicher Akt. Bedenkt man diesen unhintergehbaren praktischen Aspekt von Nietzsches Philosophie der Heiterkeit, erklärt sich auch eine auf den ersten Blick merkwürdige begriffliche Zuordnung, die Nietzsche vornimmt, wenn er den Tanz als eine »Tugend« bezeichnet. 36 Es ist der Tänzer Zarathustra, dem er diese Zuschreibung in den Mund legt. Wie ist diese sonderbare Kategorisierung des Tanzes als Tugend zu verstehen? Offensichtlich ist der Ausdruck Tugend hier nicht im Sinne der christlichen Ethik oder einer bürgerlichen Moral zu lesen. Nietzsche nimmt darin vielmehr die Bedeutung des alten Begriffs der virtus auf, wie sie in der antiken Philosophie und bei Spinoza begegnet. Man mag hier zunächst an das antike Konzept der arete denken, der Tüchtigkeit und Vortrefflichkeit, die Nietzsche in den homerischen Helden exemplarisch ausgeprägt sah. 37 Einen weiteren Akzent bezieht die Vorstellung des Tanzes als Tugend aus Spinozas Definition der Tugend als potentia: Die Tugend besteht demzufolge in einem Vermögen, in der Fähigkeit des Subjekts im Einklang mit seinem Streben nach Selbsterhaltung tätig zu sein. 38 Die tänzerische Äußerung gilt Zarathustra somit in dem Maße als tugendhaft, als sie (und darin kommt sie für Nietzsche mit dem Lachen überein) die kreativen, lebenserhaltenden Kräfte des Subjekts aktiviert und zur Geltung bringt. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass die Tugend in Zarathustras Ausspruch eine individuelle Kontur erhält. Es ist seine Tugend, die Zarathustra in seinem Lob des Tanzes herausstellt: Da der Tanz zugleich seinen persönlichen Habitus ausmacht, haben wir es bei der Formel vom Tanz als Tugend zugleich mit einer Selbstbeschreibung Zarathustras und seines Philosophierens zu tun. Zu Nietzsches Konzeption der Tugend gehört es dabei auch, dass sie nicht ein für allemal gegeben, sondern stets aufs Neue erworben KSA 4, 290: »Wenn meine Tugend eines Tänzers Tugend ist, und ich oft mit beiden Füssen in gold-smaragdenes Entzücken sprang […]. 37 Vgl. Jakob Dellinger: Tugend. In: Christian Niemeyer (Hrsg.): Nietzsche-Lexikon. Darmstadt 2 2011, 381–382, hier 381. Vgl. auch Thomas H. Brobjer: Nietzsche’s Ethics of Character. A Study of Nietzsche’s Ethics and its Place in the History of Moral Thinkers. Uppsala 1995, 91–97. 38 Vgl. ebd., 381, und Friedrich Balke: Gilles Deleuze. Frankfurt a. M./New York 1998, 97–98. 36
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und eingeübt werden muss. Von daher stellt der Tanz auch eine Übung dar, die Zarathustra den ›höheren Menschen‹ empfiehlt: »Ihr lerntet alle nicht tanzen, wie man tanzen muss – über euch hinweg tanzen!« (KSA 4, 367) Mit den Begriffen der ›Tugend‹ und der ›Übung‹, die hier eine neue Akzentuierung erfahren, ist ein ethisches Moment angesprochen, das Nietzsches Projekt charakterisiert. Dieses Moment zeigt sich in einer bestimmten Einstellung des Denkens, die Nietzsche dem Philosophen der Heiterkeit abverlangt und die er in den Figuren des provenzalischen Freigeists und des Weisen Zarathustra exemplarisch vor Augen führt. Das heitere Denken nimmt für Nietzsche charakteristischer Weise die Form einer Entscheidung an, einer Entscheidung gegen den Ernst, die sich der Anhänger der gaya scienza als gleichsam auf Dauer gestellte intellektuelle Haltung zu eigen macht. Letztere schließt die Bejahung der aktiven, kreativen Potenzen des Denkens und Schaffens ebenso ein wie die Abwehr der täuschenden ›Wahrheiten‹ einer überkommenen Philosophie und der Idole einer zur Konvention erstarrten Religion. Der Habitus der Heiterkeit bezeichnet dabei, insbesondere was seine abwehrende Komponente betrifft, keinen abstrakten Grundsatz, der sich aufstellen und damit gewissermaßen ein für allemal in Geltung setzen ließe. Es geht vielmehr um ein Prinzip, das sich im Handeln manifestieren und bewähren muss, indem es den Anfechtungen des Götzendienstes standhält. Dies lässt sich anhand des Kapitels »Die Erweckung« aus dem letzten Teil des Zarathustra exemplarisch veranschaulichen. Zarathustra, der nach einem Streifzug in seine Höhle zurückkehrt, stellt mit Entsetzen fest, dass seine zur Fröhlichkeit bekehrten Jünger und Tiere in den Zustand des Ernstes und der Idolatrie zurückgefallen sind (KSA 4, 388): »Plötzlich aber erschrak das Ohr Zarathustra’s: die Höhle nämlich, welche bisher voller Lärmens und Gelächters war, wurde mit Einem Male todtenstill; – seine Nase aber roch einen wohlriechenden Qualm und Weihrauch, wie von brennenden Pinien-Zapfen. ›Was geschieht? Was treiben sie?‹ fragte er sich und schlich zum Eingange heran […]. Sie sind Alle wieder fromm geworden, sie beten, sie sind toll! – sprach er und verwunderte sich über die Maassen.«
Es bedarf eines erneuten Einsatzes des Lachens und der Fröhlichkeit, um diesem Rückfall in den Ernst paroli zu bieten und ihn wieder in Heiterkeit umschlagen zu lassen. Die Pointe von Zarathustras Ver»Fröhliche Wissenschaft«
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fahren, durch das er den in seiner Höhle versammelten »höheren Menschen« die Äußerungen der Fröhlichkeit zu entlocken versucht, besteht darin, dass er deren Bekundungen der Anbetung nicht etwa negiert, sondern sie nachahmt: »An dieser Stelle der Litanei aber konnte sich Zarathustra nicht länger bemeistern, schrie selber I-A, lauter noch als der Esel, und sprang mitten unter seine tollgewordenen Gäste« (KSA 4, 390). Der Kunstgriff, durch den Zarathustra das Ritual der Anbetung unterläuft, liegt dabei in der Verbindung der Nachahmung mit einem Moment der Übertreibung und Überbietung. Zarathustra stimmt nicht nur in den Refrain des »I-A« mit ein, sondern er tut dies in einer exzessiven, übertriebenen Weise, die das Narrenhafte und Unpassende seines Tuns herausstellt. Die Nachahmung des Rituals schlägt so um in dessen ironische Kontrafaktur – ein Effekt, der durch das Moment der iterativen Wiederholung verstärkt wird. Denn das I-A, dem im Kontext des Rituals zunächst eine bestätigende Funktion zukommt, verliert im Zuge seiner sich beschleunigenden und unkontrollierten Iteration zusehends diese affirmative Qualität und verwandelt sich mehr und mehr in ein bedeutungsleeres, rein lautliches Sprachelement. Im Modus der wiederholenden Imitatio wird das religiöse Ritual in einen Chor der spöttischen Verulkung überführt, der Zarathustra und seine Gäste in einer Gemeinschaft der Fröhlichen vereint: »Oh meine neuen Freunde, sprach er, […] wie gut gefallt ihr mir nun, – seit ihr wieder fröhlich wurdet!« (KSA 4, 393) Die zitierte Stelle verdeutlicht auf prägnante Weise, was für Nietzsche den spezifischen Reiz und das Wirkungspotential des Lachens ausmacht: Das Lachen zeichnet sich, wie die genannte Episode des ›Eselsfests‹ vorführt, dadurch aus, dass in ihm ein kritisch-polemischer Impetus und ein erzeugender, etwas Neues hervorbringender Effekt Hand in Hand gehen. Zwar ist das Lachen zunächst ein Medium der Distanzierung und Kritik, insofern sein spöttischer, ironischwitziger Zug darauf hinwirkt, die vermeintliche Autorität eines Werts, eines Ideals oder einer als gültig angenommenen Position zu unterlaufen und so zu Fall zu bringen. Es erschöpft sich indessen nicht in diesem destruktiven Moment, sondern führt durch seinen spielerischen, heiteren Charakter zugleich einen bejahenden Impuls mit sich, der die Bewegung der Negation übersteigt und gewissermaßen dazu ermuntert, den durch die Beseitigung der vermeintlichen Wahrheiten oder Idole frei gewordenen Raum neu zu besetzen. Die Figur des Lachens gewinnt so den Status einer Aufforderung, über die 180
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überwundene Position hinaus zu gelangen und an jenem Prozess der Erneuerung des Denkens mitzuwirken, den Nietzsche der Philosophie im Wahlspruch der gaya scienza zur Aufgabe macht.
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Lachen und Lächeln in der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners 1 Hans-Ulrich Lessing
Das Phänomen des Lachens hat zahlreiche Deutungen und Erklärungsversuche erfahren, wie die monumentale Studie von Lenz Prütting 1 eindrucksvoll vor Augen führt. Auffallend dabei ist allerdings, dass die Klassiker der modernen philosophischen Anthropologie für dieses offensichtliche Monopol des Menschen z. T. nur wenig Interesse aufgebracht haben. So haben weder Max Scheler noch Arnold Gehlen dem Lachen als spezifisch menschlicher Aktivität Analysen gewidmet. Die große Ausnahme bildet Helmuth Plessner, dessen Buch Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens eine der bedeutendsten und innovativsten philosophisch-anthropologischen Theorien des Lachens enthält. 2 Das Neuartige an Plessners Unternehmen ist sein Versuch einer anthropologisch-hermeneutischen Analyse und Erklärung des Lachens. Das soll heißen: das Lachen als Monopol des Menschen und als Sinn- oder Bedeutungszusammenhang wird auf der Basis des »ganzen Menschen« verstanden, also integriert in die spezifische exzentrische Position des Menschen, die nach Plessner durch eine Gebrochenheit von Leib-Sein und Körper-Haben und eine Verschränkung der körperlichen mit der geistig-seelischen Sphäre ausgezeichnet ist. Plessner schließt sein Buch offenbar schon zu Beginn des Jahres 1934 ab, in dem sein holländischen Exil beginnt, das er – nachdem sein Versuch, in der Türkei ein akademisches Unterkommen zu finAus Plessners Gesammelten Schriften (10 Bände. Frankfurt a. M. 1980) wird im Folgenden unter Angabe der römischen Band- und der arabischen Seitenzahl zitiert, aus Lachen und Weinen nur mit einfacher Seitenzahl. 1 Lenz Prütting: Homo ridens. Eine phänomenologische Studie über Wesen, Formen und Funktionen des Lachens. 3 Bände. Freiburg/München 2013. 2 Gehlen hat im übrigen Plessners Versuch, das Lachen zu verstehen, kurz als vergebliches Bemühen abgetan. Vgl. Arnold Gehlen: Fortschritte der Instinktformung beim Menschen. In: Ders.: Gesamtausgabe Band 4: Philosophische Anthropologie und Handlungslehre. Frankfurt a. M. 1983, 225. 1
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den, gescheitert war – einer Einladung des Physiologen Buytendijk nach Groningen zu verdanken hat (vgl. X, 332). Das Buch erscheint allerdings erst 1941 in einem holländischen Verlag; vorausgegangen war im Jahr zuvor der Aufsatz Das Problem von Lachen und Weinen, 3 der eine Kurzfassung des Buches enthielt. Eine 2. Auflage kommt 1950 heraus, 4 eine dritte 1961. 5 Eine vierte Auflage erlebt das Buch dann 1970 in dem von Günter Dux herausgegebenen Sammelband Philosophische Anthropologie. 6 Inzwischen ist die Schrift im Band VII von Plessners Gesammelten Schriften [201–387] zugänglich. 7 Den Analysen von Lachen und Weinen kommt in Plessners philosophischer Anthropologie insofern eine herausragende Funktion zu, als hier seine anthropologischen Grundprinzipien, die er in seinem Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch [= GS IV] (1928) entwickelt hatte, am Beispiel einer phänomenologisch geführten Hermeneutik zentraler menschlicher Ausdrucksphänomene fruchtbar gemacht werden. Damit steht Lachen und Weinen in einer Reihe von Arbeiten, die von seinem frühen Hauptwerk Einheit der Sinne über den gemeinsam mit Buytendijk verfassten Aufsatz Die Deutung des mimischen Ausdrucks, dem Projekt einer »Hermeneutik des nichtsprachlichen Ausdrucks«, das Plessner in mehreren Aufsätzen verfolgt hat, bis zu den späten Arbeiten aus dem Umkreis einer »Anthropologie der Sinne« reicht. In seiner Schrift versucht Plessner den Nachweis zu liefern, dass In: Tijdschrift voor Philosophie 2 (1940), 317–384. München 1950. 5 Bern und München 1961. 6 Frankfurt a. M. 1970. 7 Zu Plessners Theorie des Lachens vgl. zuletzt u. a.: Hans-Peter Krüger: Zwischen Lachen und Weinen. Band I: Das Spektrum menschlicher Phänomene. Berlin 1999, bes. 144–164; Gustav Seibt: Der Einspruch des Körpers. Philosophien des Lachens von Platon bis Plessner – und zurück. In: Karl Heinz Bohrer/Kurt Scheel (Hgg.): Lachen. Über westliche Zivilisation. Sonderheft Merkur 2002, 751–762; Mirko Wischke: Jenseits der Grenze möglichen Verhaltens. Adorno, Plessner und Schopenhauer über Mitleid, Lachen und Weinen. In: Schopenhauer-Jahrbuch 84 (2003), 41–55; Vallori Rasini: Menschlicher Ausdruck und Grenzverwirklichung. Lachen und Weinen. In: Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie. Hrsg. von Bruno Accarino/Matthias Schloßberger I (2008), 199–208; Joachim Fischer: Ekstatik der exzentrischen Positionalität. »Lachen und Weinen« als Plessners Hauptwerk. In: ebd., 253– 270; Joachim Fischer: Lachen und Weinen. In: Eike Bohlken/Christian Thiess (Hgg.): Handbuch Anthropologie. Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik. Stuttgart-Weimar 2009, 363–367; Lenz Prütting: Homo ridens. Bd. 3, 1453–1592. 3 4
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Lachen und Weinen »Ausdrucksformen einer Krise sind, der das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper […] in gewissen Situationen zutreibt«. Die Fähigkeiten des Lachens und Weinens sind insofern »echte Grundmöglichkeiten des allgemein Menschlichen, allem geschichtlichen Wandel, allen Moden von Scherz, Witz, Komik, Humor, Ironie, Schmerz und Tragik zum Trotz« (211). Sie sind sozusagen überhistorisch und überkulturell und damit echte Anthropina, also Wesenseigenschaften des Menschen. Methodisch läuft Plessners Versuch über eine Deutung des menschlichen Verhaltens, das – so seine Auffassung – den menschlichen Körper erklärt und verständlich macht (vgl. 208). Damit wird das Verhältnis der Person zu seinem Körper, d. h. die leiblich-körperliche Daseinsweise zum entscheidenden Ausgangspunkt und Fundament der Analyse. Die Grundfrage seines Buches lautet: »wie ist es zu verstehen, daß ein lebendiges Wesen aus Fleisch und Blut, das über Sprache und Zeichengebung verfügt – womit es sich von den Tieren unterscheidet –, das zugleich im mimischen Ausdruck seine vitale Gebundenheit und Verwandtschaft mit tierischem Wesen dokumentiert – wie ist es möglich, dass ein solches Doppel- und Zwischenwesen lachen und weinen kann?«
Oder anders gefragt: »welche Bedingungen müssen gegeben sein, damit derartige im Vollsinn jedenfalls dem Menschen vorbehaltene Reaktionen sich vollziehen können?« (213) Plessner begreift das Lachen als »Zusammenspiel des Menschen mit seinem Körper«, wodurch es zum »Spiegel« bzw. zur »Offenbarung des Wesens des Menschen« wird (214). Auf diesem Zusammenspiel der menschlichen Person mit seinem Körper, auf dem Verhältnis Person-Körper liegt für Plessner damit der Fokus seiner Analysen. Plessners Untersuchung liegt die Grundthese zugrunde, dass die Existenz des Menschen in der Welt durch das Verhältnis zu seinem Körper bestimmt ist und dass das Verständnis des menschlichen Wesens damit gebunden ist an die Möglichkeit von Ausdruck als Einheit aus geistigen, seelischen und körperlichen Komponenten (vgl. 218). Mit seinen Begriffen »Verhältnis des Menschen zu seinem Körper« »körperlich«, »seelisch« und »geistig« appelliert Plessner, wie er sagt, an die »alltägliche Verständnisbereitschaft« (218; vgl. 219). Sie sollen nicht mehr zum Ausdruck bringen, als was sie in deren Horizont bedeuten. Methodisch basiert Plessners phänomenologisch geführte Analyse auf der alltäglichen Erfahrung, auf Anschauungsnähe, auf dem Verzicht strenger, 184
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eindeutiger und klarer Definitionen und terminologischer Strenge. Er will das in Frage stehende Phänomen somit unverzerrt und unverstellt, unvoreingenommen und vorurteilsfrei – also gut phänomenologisch – zur Anschauung bringen und ein »Verständnis der Ausdrucksweise selbst« herbeiführen (220). Intendiert ist somit eine phänomenologisch-hermeneutische Untersuchung, mit der der Versuch unternommen werden soll, den »Sinn« der Ausdrucksformen des Lachens und Weines freizulegen (230). Lachen bezeichnet Plessner neben der Sprache, den Gesten und Gebärden als eigene Ausdrucksform. Das Lachen als eine Ausdrucksform zu begreifen, heißt – so Plessner – »vom Menschen als Ganzem ausgehen, nicht von Partikularem, das sich quasi selbständig aus dem Ganzen loslösen läßt wie Körper, Seele, Geist, Sozialverband«. Und »als Ganzer ist uns der Mensch, d. h. der Mitmensch, und sind wir uns selber zugänglich im Kontext des Verhaltens, des Umgangs mit unseresgleichen und der Umwelt« (223). Damit wird das Verhalten zu einem leitenden Begriff der Analyse, denn die Ausdrucksformen sind nach Plessner »Formen des Verhaltens zu anderen, zu sich, zu Dingen und Ereignissen, zu allem, was Menschen begegnen kann. Sie liegen nicht in dem Sperrgebiet eines gegen die äußere Wirklichkeit isolierenden Bewußtseins, nicht im Inneren oder im Äußeren menschlicher Existenz, vielmehr quer zu allen diesen Gegensätzen.« (224) Da zum Ausgangspunkt und Fundament von Plessners deutender Analyse des Lachens das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper wird, ist eine besondere Fassung des menschlichen Wesens vorausgesetzt. Wird üblicherweise das Menschliche in seiner Vernünftigkeit oder Geistigkeit verortet, um seine Monopole zu erklären, so versucht Plessner einen neuen Weg zu beschreiten, da in seinen Augen zunächst dunkel bleibt, was das Lachen mit der Geistigkeit zu tun hat. Denn Lachen verweist auf das Untermenschliche, das von affektiven Quellen gespeist wird. Dabei stellt sich dann allerdings sofort die Frage, warum die dem Menschen nächstverwandten Tiere nicht lachen. Die Erkenntnis der Gründe des Lachens gibt somit die Antwort auf die Frage, warum nur der Mensch im Vollsinn lacht (vgl. 228). Die Voraussetzung für die Beantwortung dieser Frage ist neben dem unvoreingenommenen Blick auf das Phänomen ein eigener methodischer Ansatz. Dieser sucht keine Kausalerklärungen und vermeidet biologische, trieb- und sozialpsychologische Deutungen. Er stellt vielmehr den Versuch dar, das Phänomen Lachen in seinem ur»Fröhliche Wissenschaft«
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sprünglichen Erfahrungsbereich zu verstehen. Mit seinen Ansatz will Plessner das von Descartes begründete Zwei-Substanzen-Modell, die von ihm sogenannte »Zweiseitenauffassung des Menschen« überwinden, die den Menschen in eine psychisch-geistige und eine körperliche Dimension auftrennt. Da das Verhalten weder rein physiologisch noch rein psychologisch zu verstehen ist, muss ein Ansatz gefunden werden, der dieser spezifischen Seinsweise gerecht wird. Denn das Lachen als ein Verhalten ist nicht nur ein körperlicher Vorgang, sondern ebenso ein Vorgang, bei dem der ganze Mensch involviert ist (230 f.). Er ist sozusagen ein psychisch-geistig geprägtes Physisches. Das Lachen zeigt – anders als mimische Gebärden – keine symbolische Prägung; es tritt als eine »unbeherrschte und ungeformte Eruption […] des gleichsam verselbständigten Körpers in Erscheinung« (234). Der Mensch fällt ins Lachen. Er antwortet in ihm »auf etwas, aber nicht mit einer entsprechenden Formung, die der sprachlichen Gliederung, der mimischen Gebärde, Geste oder Handlung an die Seite zu stellen wäre. Er antwortet – mit seinem Körper als Körper wie aus der Unmöglichkeit, noch selber eine Antwort finden zu können. Und in der verlorenen Beherrschung über sich und seinen Leib erweist er sich als ein Wesen zugleich außerleiblicher Art, das in Spannung zu seiner physischen Existenz lebt, ganz und gar an sie gebunden.« (234 f.)
Diese »Unergründlichkeit im Verhältnis des Menschen zu seinem Körper« (235) wird bei Plessner somit zur Basis seiner Analyse des Lachens. Sie ist auch das eigentliche Fundament seiner philosophischen Anthropologie, deren Grundlagen und Gesetze von ihm in den Stufen des Organischen entwickelt wurden. Daraus ergibt sich die enge Beziehung, die zwischen den Stufen und Lachen und Weinen besteht. Dieses Buch ist gleichsam eine Anwendung der theoretischanthropologischen Grundlegung einer philosophischen Anthropologie, wie sie die Stufen bieten, auf zwei Monopole des durch eine exzentrische Position ebenso ausgezeichneten wie geschlagenen Menschen. Plessners neue Sicht auf den Menschen besteht in der entscheidende Einsicht, dass der Mensch kein eindeutiges, sondern vielmehr ein doppeldeutiges Verhältnis zu seinem Körper hat. Seine Existenz hat ihm – wie er formuliert – »den Doppelsinn eines ›leibhaften‹ Wesens und eines Wesens ›im Körper‹ auferlegt, der einen realen Bruch für sein Dasein bedeutet« (235). Plessner hat diese den Menschen auszeichnende Struktur mit seinem Begriff der »exzentri186
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schen Positionalität« (vgl. 243 ff.; Stufen IV, 360 ff.) zu fassen versucht. Das zentrisch organisierte Tier erlebt zwar, aber nicht sich. Die Möglichkeit der Selbstreflexivität ist allein dem Menschen vorbehalten. Mit dem Menschen hat das Lebendige eine neue Stufe erreicht. Da die Stufung des Organischen durch das Gesetz strukturiert ist, »wonach das Moment der niederen Stufe, als Prinzip gefaßt, die nächsthöhere Stufe ergibt und zugleich als Moment in ihr auftritt (›erhalten‹ bleibt)« (IV, 362), ist das Leben des Menschen, »ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch«. Durch diese Exzentrizität ist die menschliche Existenz, wie Plessner mit geradezu existenzialistischem Pathos schreibt, »wahrhaft auf Nichts gestellt« (IV, 365). Als exzentrisches Wesen, ohne die Natürlichkeit und Instinktsicherheit der Tiere ist der Mensch »nicht im Gleichgewicht, ortlos, zeitlos im Nichts stehend, konstitutiv heimatlos« und daher »von Natur, aus Gründen seiner Existenzform künstlich« (IV, 385), d. h. er ist darauf angewiesen, das fehlende Gleichgewicht zu schaffen. Und dieses ist seine Kultur. Wesentlich für die menschliche Existenzform ist ein durch die Exzentrizität bedingter »Bruch«, der durch den »Umschlag vom Sein innerhalb des eigenen Leibes zum Sein außerhalb des Leibes« hervorgerufen wird. Dieser Umschlag ist ein »unaufhebbarer Doppelaspekt« der menschlichen Existenz. Der Mensch – so Plessner – »lebt diesseits und jenseits des Bruches, als Seele und als Körper und als die psychophysisch neutrale Einheit dieser Sphären« (IV, 365). Auf diese »Gebrochenheit« im Verhältnis des Menschen zu seinem Körper, die die Grundlage seines Daseins bildet, weisen – so Plessners These – Phänomene wie Lachen und Weinen hin. Denn im Lachen ereignet sich eine Emanzipation des körperlichen Geschehens von der Person. Die Person, die lacht, verliert ihre Beherrschung, genauer die Herrschaft über ihren Körper, bleibt aber Person, indem der Körper für sie die Antwort übernimmt (237). Die Daseinsweise des Menschen ist durch diese Ambiguität ausgezeichnet. Er lebt »als Leib im Körper.« Das heißt: »Ein Mensch ist immer zugleich Leib (Kopf, Rumpf, Extremitäten mit allem, was darin ist) – auch wenn er von seiner irgendwie ›darin‹ seienden unsterblichen Seele überzeugt ist – und hat diesen Leib als diesen Körper.« (238) Beide Ordnungen, die personale und die körperliche, sind »ineinander verschränkt und bilden eine merkwürdige Einheit« (240). Der Mensch muss zu ihnen ein Verhältnis finden; er steht unter einem »Zwang zum Ausgleich« zwischen dem Körpersein und dem Körperhaben (241 ff.). »Fröhliche Wissenschaft«
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Die mit dem Begriff der exzentrischen Position oder Positionalität charakterisierte Sonderstellung der menschlichen Daseinsweise wird nun zur Grundlage der Behandlung des Phänomens des Lachens, denn wenn das Lachen ein Monopol des Menschen ist, muss es aus seinem Wesen verstanden werden (vgl. 243), d. h. es muss aus dem mit dem Begriff »exzentrische Positionalität« beschrieben Sachverhalt verstanden werden (vgl. 245). Das Lachen gehört – wie die Sprache und die Mimik – zum Bereich der Expressivität, und dieser Bereich gehört unmittelbar mit der für den Menschen spezifischen »Situation der Gefangenheit im eigenen Körper zusammen« (245), denn Expressivität entspricht »der ständig neu auszugleichenden Spannung und Verschränkung zwischen Körper Sein und Körper Haben«. Sie ist – mit anderen Worten – »eine ursprüngliche Weise, damit fertig zu werden, daß man einen Leib bewohnt und zugleich ein Leib ist« (249). In der konkreten Analyse des Lachens hebt Plessner zunächst das Lachen von der Gebärdensprache, den Gesten ab. Lachen besitzt – anders als die Gebärdensprache, die auf sprachliche Weise, d. h. zeichenvermittelt zu verstehen gibt – einen »rein expressiv-reaktiven Charakter«, und ihm kommt keine dem Lachenden bewusste Zeichenfunktion zu (257). Lachen ist eine echte Ausdrucksgebärde, die durch Unvertretbarkeit und Unablösbarkeit vom Ausdrucksgehalt (vgl. 260), durch Unmittelbarkeit und Unwillkürlichkeit ausgezeichnet ist (vgl. 262). Im Unterschied zur Region der rein mimischen Ausdrucksgebärde, den emotional durchstimmten Expressionen, »in denen eine Stimmung, ein Affekt, eine Gemütsbewegung sich auslebt, in die sie ausstrahlt«, fehlt beim Lachen (und Weinen) dieser »Übergang vom Inneren ins Äußere«. Denn Lachen und Weinen »kann der Mensch nur, wenn er sich ihnen überläßt. Er verfällt ins Lachen, er läßt sich fallen – ins Weinen.« (273) Darüber hinaus zeigt der Vorgang des Lachens – so Plessner – »einen Verlust der Beherrschung, ein Zerbrechen der Ausgewogenheit zwischen Mensch und physischer Existenz« (273). Dieser »Verlust der Beherrschung im Ganzen« besitzt beim Lachen – im Unterschied zur Mimik – Ausdruckswert. Lachen ist Zeichen und Ausdruck einer »Desorganisation des Verhältnisses zwischen dem Menschen und seiner physischen Existenz« (274; vgl. 223, 326, 327). Aber diese Desorganisation lässt sich als Gebärde und sinnvolle Reaktion verstehen: »In der Katastrophe noch, die sein sonst beherrschtes Verhältnis zum eigenen Leib erfährt, triumphiert der Mensch und bestätigt sich als Mensch«, denn 188
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durch »die Zerstörung der inneren Balance wird das Verhältnis des Menschen zum Körper in eins preisgegeben und wiederhergestellt«, weil »die effektive Unmöglichkeit, einen entsprechenden Ausdruck und eine passende Antwort zu finden, […] zugleich der einzig entsprechende Ausdruck, die einzig passende Antwort [ist]« (274). Die Notwendigkeit des Menschen, zur »Mehrdeutigkeit seines physischen Daseins als Körper im Körper im Hinblick auf sie ein eindeutiges Verhältnis zu finden«, scheitert in bestimmten Situationen. In solchen Situationen, die die Fähigkeit des Menschen zum Ausgleich überfordern, weil sie sich – wie Plessner sagt – als »Lagen fehlender Bewandtnis« erweisen, versagen rationale, d. h. sinnvolle Antwortmöglichkeiten, wie sie Sprache, Geste, Handlung und Gebärde bieten. Die natürliche Folge ist Desorganisation. Während aber »unbeantwortbare und zugleich bedrohende Lagen« Schwindel erregen (275; vgl. 327), erregen »unbeantwortbare und nicht bedrohende Lagen« Lachen (oder Weinen): »Der Mensch kapituliert als Leib-SeeleEinheit, d. h. als Lebewesen, er verliert das Verhältnis zu seiner physischen Existenz, aber er kapituliert nicht als Person. Er verliert nicht den Kopf.« Auf die unbeantwortbare Lage findet er – »kraft seiner exzentrischen Position, durch die er in keiner Lage aufgeht« – die einzig noch mögliche Antwort: »von ihr Abstand zu nehmen und sich zu lösen«: »Der außer Verhältnis zu ihm geratene Körper übernimmt für ihn die Antwort, nicht mehr als Instrument von Handlung, Sprache, Geste, Gebärde, sondern als Körper. Im Verlust der Herrschaft über ihn, im Verzicht auf ein Verhältnis zu ihm bezeugt der Mensch noch sein souveränes Verständnis des Unverstehbaren, noch seine Macht in der Ohnmacht, noch seine Freiheit und Größe im Zwang. Er weiß auch da noch eine Antwort zu finden, wo es nichts mehr zu antworten gibt.« (276)
Als eigentliche Quellen des Lachens bezeichnet Plessner den Scherz, die Komik und den Witz (vgl. 280, 290). Weitere Anlässe des Lachens können der Kitzel, das Spielen, die Verlegenheit und die Verzweiflung sein. Warum lacht der Mensch über das Komische? In seinem Versuch, das Wesen des Komischen neu zu bestimmen, stellt Plessner fest, dass eigentlich komisch nur der Mensch sein kann. Das Lachen, das dem Komischen antwortet, interpretiert Plessner als eine »elementare Reaktion gegen das Bedrängende des komischen Konflikts« (299). Fundiert sind komische Konflikte in Ambivalenzen: »Komische Phänomene, Szenen, Handlungen, Personen sind in sich als Erschei»Fröhliche Wissenschaft«
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nungen ambivalent und gegensinnig für unsere Auffassung. So lassen sie uns nicht in Ruhe und bieten doch nie die Aussicht, daß wir mit ihnen ›zu Rande kommen‹.« (299 f.) Was aber ist charakteristisch für den komischen Konflikt? Als seine Elemente bestimmt Plessner unter Rückgriff auf die einschlägigen Untersuchungen von Bergson und Friedrich Georg Jünger Gegensinnigkeit als Einheit (vgl. 294 f.), Doppelwertigkeit und Doppeldeutigkeit (vgl. 300) sowie die »unangemessene Provokation, die einen Widerspruch in sich begreift« (301). Komisch heißt: »aus dem Rahmen fallend, anstößig, widersprechend, doppelsinnig – etwas, womit man nichts anfangen, was man sich nicht zurechtlegen kann« (303). Den Witz zeichnet nach Plessner Doppelsinn bzw. die »Überlagerung mehrfachen Sinnes« aus (311). Zum Lachen zwingt der Witz, weil mit ihm – bedingt durch eine »Sinnüberschneidung« (314, 315, 317, 323) – die Sprache über ihre Grenze gerät: »Ein an den Ausdruck gebundenes und gewiesenes Verstehen verselbständigt sich gegen ihn durch Bindung und Verweisung an ihn.« (313) Im Witz entdeckt der Mensch sein doppeltes Verhältnis zur Sprache, »in ihr zu reden und gegen sie zu reden« (313). Das Gemeinsame der verschiedenen Anlässe des Lachens liegt zunächst darin, dass »nur solche Grenzlagen […] zum Lachen [reizen], die, ohne bedrohend zu sein, durch ihre Nichtbeantwortbarkeit es dem Menschen zugleich verwehren, ihrer Herr zu werden und mit ihnen etwas anzufangen.« (328) Aber »Unbeantwortbarkeit bei fehlender unmittelbarer Existenzbedrohung« versteht Plessner nur als notwendige, nicht aber schon als hinreichende Bedingung, die erfüllt sein muss, damit eine Situation zum Lachen reizt. Hinzukommen muss eine Bindung, die sie auf den Menschen ausübt. Das Lachen ist eine Ausdrucksreaktion der Desorganisiertheit (327) bzw. eine »Katastrophenreaktion«, die eine Desorganisation im Verhältnis des Menschen zu seinem Körper darstellt (334). Im Lachen wird – so Plessner – »das beherrschte Verhältnis zum Körper gesprengt« (334); die Person verliert die Souveränität über ihren Körper. Der Ursprung der Desorganisation liegt – das ist die Essenz von Plessners Analyse – darin, dass der Mensch in einer Situation an eine Grenze gekommen ist, »die nicht nur faktisch, sondern prinzipiell jede Möglichkeit der Auseinandersetzung unterbindet« (360). Wir lachen in Situationen, auf die es keine andere Antwort gibt (359). Auseinandersetzungsmöglichkeit und Grenze bestimmt Plessner dabei unter Rekurs auf die »normale Daseinssituation des Menschen«. Diese ist konstituiert 190
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durch ein System von Bewandtnissen, ein Geflecht von Sinn und Sinnzusammenhängen. Für den Mensch heißt »Bewandtnis haben«: »sich an etwas halten können, weil es das ist und nicht jenes, und mit ihm etwas anfangen können« (361). Das menschliche Leben ist angewiesen auf ein »Minimum an Sinnhaftigkeit«, es rechnet u. a. mit einer gewissen Stabilität, einem Minimum an Eindeutigkeit, Ordnung und Geschlossenheit. Der Mensch erwartet Zusammenhänge und Bezüge, »in die der Mensch mit etwas sich einfügt« (361). Zum Lachen reizen den Menschen ihn positiv bindende, nicht ernst zu nehmende »unbeantwortbare Lagen, in denen der Mensch sich nicht orientieren, zu denen er kein Verhältnis gewinnen, deren Bewandtnis er nicht durchschauen, die er nicht verstehen und nicht nehmen, mit denen er nichts anfangen kann« (362). Indem der Mensch lacht, antwortet er auf ein solches Unbeantwortbares in seiner Mehrsinnigkeit. Durch die im Lachen vollzogene »Kapitulation als leibseelisch-geistige Einheit« behauptet er sich gleichwohl »als Person«. Lachen lässt sich damit als »Reaktion auf eine Grenzlage« bestimmen. Lachen ist »die Reaktion auf Unterbindung des Verhaltens durch unausgleichbare Mehrsinnigkeit der Anknüpfungspunkte« (367; vgl. 368, 378, 379, 380). Wie ist es aber möglich, dass der Mensch als ein geistiges Wesen sein Verhältnis zu seinem Körper auf diese Weise überhaupt verlieren kann? (Vgl. 372) Der Grund für diesen »Umschlag von der personalen Existenz in und mit einem Leib zur Existenz als Körper« liegt in dem spezifischen Verhältnis des Menschen zu seinem Körper, d. h. in der exzentrischen Position (372), also in der »Doppeldeutigkeit« seines physischen Daseins (vgl. 373). Verliert der Mensch die Möglichkeit, einen Ausgleich zwischen seinem Leib-Sein und Körper-Haben herzustellen, ist Desorganisation die Folge. Die beiden Sphären trennen sich, und der Körper emanzipiert sich »als Instrument und Resonanzboden von der Person«, und »irgendein Automatismus beginnt zu spielen für den Menschen, der als einer ganzen Existenz mächtige, beherrschte Person ausgespielt hat« (375). Lachen ist nach Plessner somit eine Reaktion auf eine Krise menschlichen Verhaltens überhaupt. Es ist eine Antwort auf eine Grenzlage und beantwortet »die Unterbindung des Verhaltens durch unausgleichbare Mehrsinnigkeit der Anknüpfungspunkte« (378), wodurch die mögliche Eindeutigkeit unterbunden wird, »an der sich jedes ernste Verhalten orientiert« (380). Das Lächeln, dem Plessner eine Einzelstudie gewidmet hat [VII, »Fröhliche Wissenschaft«
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419–434], wird von ihm als eigene Art verstanden, nicht etwa als Vorstufe oder Verkleinerungsform des Lachens. Sie ist eine »Ausdrucksweise sui generis« (206, VII, 425, 430). Lächeln unterscheidet sich sowohl vom affektgeladenen Ausdruck wie von den »Katastrophenreaktionen« des Lachen und Weinens (vgl. VII, 423). Dem Lächeln fehlen sowohl die Explosivität wie die grobe Affektladung, »es ist lautlos und gedämpft, ein Ausdruck im Diminutiv« (VII, 423). Lächeln ist keine Vorform des Lachens, kein verkürztes, verkleinertes oder keimhaftes Lachen (vgl. VII, 425). Der spezifische Charakter des Lächelns ist »seine Distanziertheit, Verschwiegenheit, Verhaltenheit«, weshalb Plessner als eigentliches Wesen des Lächelns seine Fähigkeit herausstellt, dass es »im Ausdruck zum Ausdruck Abstand wahrt« (VII, 426). Dabei kann das Lächeln, das ursprünglich eine natürliche Ausdrucksgebärde ist, auch die Funktion einer künstlichen Geste übernehmen. Durch die dem Lächeln zukommende Distanziertheit (vgl. VII, 426, 428, 431) kann es Bedeutung als »Mittel und Ausdruck der Kommunikation« gewinnen: »Man gibt sich lächelnd zu verstehen« (VII, 428), allerdings »in verhaltener, verhüllter, unausgesprochener Form« (VII, 429). Anders als beim Lachen, bei dem der Mensch seine Selbstbeherrschung verliert, bewahrt er im Lächeln »seine Distanz zu sich und zur Welt«: »Lachend und weinend ist der Mensch das Opfer seines Geistes, lächelnd gibt er ihm Ausdruck« (VII, 432). Daher bezeichnet Plessner das Lächeln in einer glücklich gewählten Formulierung als »Mimik der menschlichen Position« (VII, 431). Denn Lächeln als Ausdruck drückt in jeder Form die »Menschlichkeit des Menschen« aus (VII, 434). Lächeln ist insoweit die »spezifische Mimik des Menschen in seiner Menschlichkeit« (VII, 445; vgl. VII, 445). 8 Man könnte daher auch sagen: während das LaDas Lächeln ist »1. Keimform, Bremsform und Übergangsform für Lachen und Weinen, also mimischer Ausdruck im Umkreis nichtmimischer Expressionen; 2. mimischer Ausdruck ›von‹ und Geste ›für‹ eine unübersehbare Fülle von Gefühlen, Gesinnungen, Haltungen, Umgangsweisen und Zuständen wie Höflichkeit und Unbeholfenheit, Überlegenheit und Verlegenheit, Mitleid, Verständnis, Nachsicht, Dummheit und Gescheitheit, Mildheit und Ironie, Unergründlichkeit und Offenheit, Abwehr und Lockung, Staunen und Wiedererkennen; 3. Geste der Maske […], die alles und nichts sagt, die repräsentative Gebärde schlechthin, insofern ein Spiegel der Exzentrizität als der uneinholbaren Abständigkeit des Menschen zu sich selbst« (206). Oder wie er an anderer Stelle schreibt, ist das Lächeln – im Gegensatz zum Lachen – eine Geste. Es ist damit – so Plessner – »auch konventioneller Fixierung fähig, in der der Mensch der Position seiner selbst das Person Ausdruck verleiht«. Er versteht das Lächeln daher als »spezifische Mimik des Menschen in seiner Menschlichkeit«: »Nicht
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chen (und das Weinen) Reaktionsformen einer exzentrischen Positionalität sind, ist das Lächeln ihre Aktionsform. Gegen Plessners anthropologisch gestützte Theorie des Lachens möchte ich abschließend mit gebotener Zurückhaltung einen kritischen Einwand vorbringen. Lachen ist nach Plessner eine Reaktion an der Grenze des Verhaltens (vgl. 376), eine Reaktion auf eine Krise menschlichen Verhaltens überhaupt. Es ist eine Antwort auf eine Grenzlage und beantwortet »die Unterbindung des Verhaltens durch unausgleichbare Mehrsinnigkeit der Anknüpfungspunkte« (378), wodurch die mögliche Eindeutigkeit unterbunden wird, »an der sich jedes ernste Verhalten orientiert« (380). Lachen kann aber auch, wie schon Schopenhauer gesehen hat, 9 ein Akt sein, in dem sich Erkenntnis spiegelt. Und das – so scheint es mir – unterschlägt Plessner, weil er zu stark unter dem Zwang seines anthropologischen Schemas des zum Ausgleich verurteilten Menschen in seiner konstitutiven Gebrochenheit steht. In der Komik, im Witz, dessen Essenz Plessner zufolge »in der blitzartigen Erhellung, in der überraschenden Entdeckung, in der plötzlichen Verbindung einander fremder Elemente« liegt (310), kommt es zum Aufscheinen von etwas Unerwartetem, indem ein bisher unbefragt verbindlich Genommenes erhellt bzw. in einem neuen Licht gezeigt wird, und wir lachen darüber, gerade weil wir den komischen Konflikt verstanden haben, nicht weil wir desorganisiert sind und der Körper sich von unserer Herrschaft emanzipiert hat. Ich illustriere dies an einer berühmten Anekdote, die meines Wissens erstmals Werner Heisenberg in seinen Erinnerungen mitgeteilt hat. 10 Heisenberg berichtet, dass Niels Bohr die ersten Gespräche im Jahr 1927 über das Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion mit einer Geschichte abschloss: »In der Nähe unseres Ferienhauses in Tilsvilde wohnt ein Mann, der hat über der Eingangstür seines Hauses ein Hufeisen angebracht, das nach einem alten Volksglauben Glück bringen soll. Als ein Bekannter ihn fragte: ›Aber mehr affektgebunden, nicht mehr an Grenzlagen sich entfaltend, die echte Manifestationen menschlicher Ohnmacht sind, erscheint das Lächeln als die Geste triumphalen Entzogenseins der Person von sich selbst. In ihr kommt das Außersichstehen und sich von sich selbst Unterscheidenkönnen des Menschen zum Ausdruck« (VII, 445). 9 Vgl. Arthur Schopenhauer: Zur Theorie des Lächerlichen. In: Ders.: Zürcher Ausgabe Band III: Die Welt als Wille und Vorstellung. 2. Band, 1. Teilband. Zürich 1977, 109–122. 10 Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik. München 1969, 129 f. »Fröhliche Wissenschaft«
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bist du denn so abergläubisch? Glaubst du wirklich, daß das Hufeisen dir Glück bringt?‹, antwortete er: ›Natürlich nicht; aber man sagt doch, daß es auch dann hilft, wenn man nicht daran glaubt.‹« Was bringt uns hier zum Schmunzeln oder gar zum Lachen? Dass wir in eine unbeantwortbare Lage geraten, auf die unsere Person mit Desorganisation reagiert? Oder ist es nicht vielmehr so, dass uns einerseits der undurchschaute eklatante Selbstwiderspruch von Bohrs Bekanntem und vielleicht mehr noch die Erkenntnis erheitert, dass die durch die Leitwissenschaft der Physik geprägte Moderne offensichtlich noch Spielräume lässt für krudesten Aberglauben? Ich lache, weil ich verstanden habe, weil ich Bohrs Nachbarn in seiner doppelten Naivität durchschaut habe, und indem ich über diese Anekdote lache, gerate ich nicht an eine Grenze, sondern ich überschreite sie. Lachen wird so zur Resonanzinstanz jener Erkenntnis, die im Witz und in der Komik zum Ausdruck kommt, wenn das Widersprüchliche verknüpft, das Unerwartete, Unvorhergesehene, noch nicht Zusammengesehene offengelegt wird und unmittelbar vor Augen tritt. Das Lachen ist daher nicht nur ein Ausdruck einer Krise oder Ohnmacht, sondern die spontane Artikulation einer Einsicht bzw. ein Akt des Verstehens. Man lacht, nicht weil man die Sprache verliert, sondern weil das Lachen eine Reaktion ist, die der (komischen) Situation angemessen ist. Gute Komik – ich erinnere nur an die köstlichen Sketche von Loriot – bietet Erkenntnismöglichkeiten, weil durch sie etwas – um Ernst Bloch zu variieren – zur Kenntlichkeit verfremdet wird. Im Lachen bricht sich Erkenntnis Bahn, die durch Komik und Witz, die man als Treibstoffe des Geistes bezeichnen kann, ausgelöst ist. Der Geist öffnet sich für neue Einsichten, die sich durch unerwartete Verknüpfungen, Widerspruch und Protest gegen die erwartbare Ordnung einstellen. Denken Sie etwa an Loriots bekannten Sketch (»Zimmerverwüstung«), in dem ein in einem Wohnzimmer wartender Versicherungsvertreter in der guten Absicht, Ordnung zu stiften, indem er ein Bild gerade rückt, unter der musikalischen Untermalung von Ravels Bolero eine Kette von kleinen, sich allmählich steigernden Katastrophen auslöst, die in einem furiosen Chaos, nämlich der Verwüstung der gesamten Zimmereinrichtung enden. – Ein Sketch von geradezu philosophischer Tiefe.
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Was ist das spezifisch Menschliche? – Weinen und Lächeln als anthropologisch relevante Phänomene anhand von Filmsequenzen aus »Terminator 2« und Überlegungen von Helmuth Plessner Eine philosophiedidaktische Perspektive* Klaus Thomalla Vielleicht ist es zunächst verwunderlich, wie zwei so unterschiedliche Bereiche zusammenzubringen sind: der Film »Terminator 2« 1 und Helmuth Plessners Gedanken zum menschlichen Verhalten 2 . Die Antwort liegt darin, dass ich versucht habe, im Rahmen einer Unterrichtsreihe zur philosophischen Anthropologie das Besondere der menschlichen Existenz herauszustellen, sodass es auch Schülern 3 von heute nahegebracht werden kann. Die folgenden Überlegungen haben also ihren Ursprung im Schulleben, weshalb sie im Sinne einer Unterrichtsstunde aufgebaut sind und sich in vier Abschnitte gliedern: Einstiegsphase, Erarbeitungsphase, Vertiefungsphase und Fazit.
I.
Einstiegsphase oder: Filmsequenzen aus »Terminator 2« als Ausgangspunkt
Um die Schüler mit der Filmhandlung wenigstens in groben Zügen vertraut zu machen, wird ihnen eine kurze Inhaltsangabe präsen* Es handelt sich um die leicht veränderte Fassung des folgenden Beitrags: Klaus Thomalla: Was ist das spezifisch Menschliche? Weinen und Lächeln als anthropologisch relevante Phänomene am Beispiel von Filmsequenzen aus »Terminator 2« – Sekundarstufe II. In: Ethik & Unterricht 23 (3/2012), 41–44. 1 »Terminator 2: Judgment Day« (Vereinigte Staaten/Frankreich 1991; dt.: Terminator 2: Tag der Abrechnung); Regie: James Cameron; Drehbuch: James Cameron, William Wisher Jr.; Originalsprache: Englisch; Länge: 147 Minuten; Altersfreigabe: FSK 16. 2 Helmuth Plessner: Elemente menschlichen Verhaltens (1961). In: Ders.: Mit anderen Augen. Stuttgart 1982, 63–93; die relevanten Textauszüge finden sich in den Materialien unter V. 3 Hier sind die Schülerinnen stets einbezogen. »Fröhliche Wissenschaft«
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tiert, 4 die als Einführung in die Filmsequenzen dient: Im Film »Terminator 2« wird – wie schon im ersten Teil – für das Jahr 2029 der Kampf von Menschen gegen Maschinen vorausgesagt, die sich zu den neuen Herren der Welt aufgeschwungen haben. Skynet ist ein lernfähiger Computer, der den Menschen außer Kontrolle geraten ist. Er hat die Maschinen auf die Vernichtung der Menschen programmiert. Ein Terminator des Typs T-800, ein Cyborg, ist von der Widerstandsbewegung der Zukunft umprogrammiert und durch die Zeit zurückgeschickt worden. Sein Ziel ist es, den zehnjährigen John Connor, den zukünftigen Anführer der Menschheit im Kampf gegen die Maschinen, zu beschützen. Der Gegenspieler des guten Terminators ist ein Nachfolgemodell des T-800, ein T-1000, der den Auftrag hat, John Connor zu töten. Der T-1000 besteht aus flüssigem Metall, kann deshalb seine Form beinahe beliebig verändern und ist somit dem T-800 in entscheidender Weise überlegen. Mit Hilfe des T-800 wollen John Connor und seine Mutter Sarah bestimmtes Material im Bereich der künstlichen Intelligenz vernichten, das in der Computerfabrik Cyberdyne aufbewahrt und weiterentwickelt wird – den Arm und den Hauptprozessor des ersten Terminators, die im Zuge eines Kriegs der Menschen gegen die Maschinen Letzteren nützlich werden könnten. Den zweiten Teil des Einstiegs machen die Filmsequenzen aus (M 1) 5 , die so gewählt sind, dass sie die in dieser Stunde zu problematisierenden anthropologischen Phänomene erhellen und in eins damit das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine kennzeichnen. Sie werden den Schülern mit einem Beobachtungsauftrag gezeigt, der lauten könnte: »Betrachtet die Filmsequenzen unter der Perspektive, inwiefern sie für das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine von Bedeutung sind!« – Ich fasse die Erkenntnisse aus den Filmsequenzen in drei Punkten zusammen:
4 Dazu: Yvonne Pollnick: Der Terminator als Messias. Amerikanisches Actionkino als moderner Kulturträger (Magisterarbeit, Universität Mannheim 1993). Taunusstein 2 2009, 55–56; Art. Terminator 2 – Tag der Abrechnung. In: Wikipedia: http://de.wiki pedia.org/wiki/Terminator_2_%E2%80%93_Tag_der_Abrechnung; 01. 07. 2015. 5 Siehe dazu die Materialien unter V.
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I.1
Weinen als menschliches Phänomen
Die Frage nach der Bedeutung des Weinens, das wir an dieser Stelle als Kontrastfolie zum Lachen betrachten, durchzieht den Film, von der Flucht im Auto angefangen bis zu seinem Ende im Stahlwerk. Wenn der T-800 John fragt, was mit seinen Augen los sei, als dieser weint (vgl. M 1, erste Sequenz), so spiegelt sich schon in der Art des Fragens die Differenz zwischen Mensch und Maschine wider. Es ist der T-800, der die Frage nach dem Weinen im Verlauf des Films im Gespräch mit John wieder aufgreift: »Warum weint ihr?« John antwortet: »Du meinst: wir Menschen?« und sagt weiterhin, er wisse es nicht, Menschen weinten eben, »wenn es wehtut«. Auch dieses Gespräch bringt das Differenzverhältnis zwischen Mensch und Maschine zum Ausdruck: Das Weinen ist typisch für uns Menschen, und eine Maschine kann dies kaum nachempfinden. Das wird vollends offensichtlich, wenn der T-800 nachfragt, ob es Schmerz sei, der das Weinen auslöst. Für die Maschine bleibt die Ursache des Weinens verborgen: Johns Erklärung, es könne alles in Ordnung sein, aber trotzdem wehtun, verweist auf den Bereich des Seelischen, der außerhalb der Wahrnehmung der Maschine liegt (vgl. M 1, vierte Sequenz). Zugleich aber gibt es zwischen der zuerst gestellten Frage, was mit Johns Augen los sei, und der zweiten nach dem Weinen einen bemerkenswerten Unterschied: Auch wenn der T-800 nicht nachempfinden kann, warum wir Menschen weinen, reflektiert er doch über das Phänomen und hat nunmehr durch John erfahren, dass es sich dabei nicht um einen krankhaften Zustand der Augen handelt, sondern um etwas typisch Menschliches.
I.2
Operation »Menschwerdung«
Zu bedenken ist: Zwischen der ersten und der zweiten Frage nach dem Weinen liegt eine Schlüsselszene, welche die »Hominisierung« der Maschine einleitet: die Entfernung der Sperre, die den Netzwerkprozessor (CPU), einen Computer, der sich auf der Basis von Erfahrungen zu ändern vermag, blockiert (vgl. M 1, zweite Sequenz). Auf diese Weise wird der T-800 vom sogenannten »read-only mode«, der davon abhalten soll, zu viel zu denken – wie der T-800 Sarah bestätigt
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– auf den »learning mode« umgestellt. 6 So kann der T-800 – mit den Worten von John – lernen, »menschlicher« zu werden, damit er »nicht ewig so ein Ätzer bleibt« (vgl. M 1, zweite Sequenz). Es ist diese Operation, durch die »die kybernetische anthropomorphe Maschine«, die Arnold Schwarzenegger durch minimalistische Mimik und Gestik darstellt, »eine beachtliche ›Persönlichkeitsveränderung‹« erfährt. 7 Mit dieser »Menschwerdung« geht eine nochmalige Verwandlung einher, was das Phänomen des Weinens betrifft: Als der Abschied naht und der Terminator Sarah bittet, ihn im flüssigen Stahl zu versenken, woraufhin John anfängt zu weinen, sagt der T-800 zu ihm: »Ich weiß jetzt, warum ihr weint. Aber das ist etwas, das ich niemals tun kann.« (M 1, fünfte Sequenz) – Es ist ihm, der Maschine, nicht möglich, Johns Traurigkeit zu teilen, aber er kann diese rational als angemessene Antwort auf den Verlust begreifen, den sein Weggang für John bedeutet. 8 Das so geheimnisvolle »Land der Tränen«, wie es in Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz heißt, 9 bleibt dem T-800 verborgen, obgleich er intellektuell begriffen hat, warum Menschen weinen. Wenn der Grund des Traurigseins stets »ein Wissen um Begrenztheit, eine Vergegenwärtigung der Vergänglichkeit« ist, 10 wie sollte dann der T-800, dessen Kraftzelle einhundertzwanzig Jahre hält, dieses Gefühl empfinden? Weder kennt die Maschine das »Verfehlen einer Situation« noch »die Aussichtslosigkeit eines Zustands«, die beide als Gründe für das Gefühl des Traurigseins angesehen werden können. 11 Das spiegelt in beeindruckender Weise ein Gespräch zwischen dem T-800 und John wider, in dem es – ausgerechnet bei der Suche nach Waffen – um das Gefühl der Angst geht: Weder kennt der Terminator die allgemeine Angst noch die Angst vor dem Tod, nach der ihn John fragt: »Du Vgl. Antti Kuusela: Wittgenstein and What’s inside the Terminator’s Head. In: Richard Brown/Kevin S. Decker (Hgg.): Terminator and Philosophy. I’ll Be Back, Therefore I Am. New Jersey 2009, 266–277, hier 274. 7 Vgl. Theo Ligthart: Terminator … Über das Ende als Anfang. Wien 2003, 49. 8 Vgl. Jason T. Eberl: What’s So Bad about Being Terminated? In: Brown/Decker (Hgg.): Terminator and Philosophy, 202–217, hier 215. 9 Vgl. Antoine de Saint-Exupéry: Le petit prince (1946); dt.: Der kleine Prinz. Düsseldorf 43 1986, 28. 10 Vgl. Wilhelm Schmid: Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst. Frankfurt a. M. 2004, Tb-Ausgabe 2007, 316; Hervorhebung im Original. 11 Vgl. ebd.; Hervorhebung im Original. 6
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fühlst wirklich überhaupt nichts, wenn du darüber nachdenkst?« – Die Antwort des T-800 zeigt, dass er trotz aller Verwandlung eine Maschine ist: Er müsse »funktionsfähig« bleiben, »bis die Mission abgeschlossen ist«. Alles andere sei »nicht von Bedeutung« (vgl. M 1, vierte Sequenz).
I.3
Wie ein Terminator lächelt
Johns erster Versuch, dem T-800 das Lächeln beizubringen, stellt – ähnlich wie im Blick auf das Weinen – eher die Differenz zwischen Mensch und Maschine heraus, insofern der T-800 das Lächeln wie eine zu analysierende Aufgabe betrachtet, deren Ergebnis man die Anstrengung ansieht (vgl. M 1, dritte Sequenz). Dagegen wirkt das zweite Lächeln, das dem T-800 über die Lippen kommt, als er eine vollautomatische Mini-Gun in der Hand hält, geradezu menschlich (vgl. M 1, vierte Sequenz). Im ersten Fall lächelt die Maschine nicht, weil sie Freude empfindet, sondern sie bewegt ihre Lippen, weil dies Johns Instruktionen sind. 12 Anders beim zweiten Lächeln: Hier scheint der T-800 sich über den Fund zu freuen, was im Lächeln zum Ausdruck kommt. Freilich ist die Maschine dazu nicht aus sich selbst heraus fähig, sondern weil John es ihr beigebracht hat. Wenn es sich beim Lächeln um eine »bewusst gewählte Haltung« handelt, die sich »in der reflektierten Mimik« ausdrückt, 13 wird man dem T-800 zu diesem Zeitpunkt so etwas wie ein geistiges Leben unterstellen können. 14 Nach alledem steht als Leitfrage im Raum: »Was macht das spezifisch Menschliche aus?« – Um dies aus philosophischer Sicht zu vertiefen, bietet es sich nun an, Plessners Texte zu Rate zu ziehen, der sich mit der Problemfrage am Beispiel von Lachen, Weinen und Lächeln beschäftigt hat.
Vgl. Greg Littmann: The Terminator Wins: Is the Extinction of the Human Race the End of People, or Just the Beginning? In: Brown/Decker (Hgg.): Terminator and Philosophy, 7–20, hier 17. 13 Vgl. Schmid: Mit sich selbst befreundet sein, 314. 14 Vgl. auch Kuusela: Wittgenstein and What’s inside the Terminator’s Head, 273– 274. 12
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II.
Erarbeitungsphase oder: Lachen, Weinen und Lächeln aus der Sichtweise von Helmuth Plessners philosophischer Anthropologie
Diese Phase kann arbeitsteilig gestaltet werden, sodass sich eine Gruppe mit dem Text »Über Lachen und Weinen« (M 2) auseinandersetzt, die andere mit dem Beitrag »Über das Lächeln« (M 3). Um zu verhindern, dass die Ebenen vermischt werden, kommt es darauf an, die Arbeitsaufträge losgelöst von den Filmsequenzen zu formulieren. Im Vordergrund steht zunächst die Textarbeit, wenn die Schüler die wesentlichen Textaussagen markieren sollen. In einem zweiten kooperativen Schritt gilt es, in Partnerarbeit zu diskutieren, inwiefern es sich bei diesen Phänomenen um etwas spezifisch Menschliches handelt; an dieser Stelle wird also die Leitfrage wieder aufgenommen. Was Lachen und Weinen betrifft, geht es nach Plessner um »Reaktionen auf Grenzen, an welche unser Verhalten stößt« 15 . In ihnen spiegelt sich ein »Unvermögen« 16 wider. Die Ordnung, die sonst unser Verhalten bestimmt, erweist sich als begrenzt. 17 Der Mensch verliert sie und kann sich und seinen Körper nicht mehr beherrschen: Er wird distanzlos zum eigenen Gesicht. 18 Voraussetzung dafür ist aber, dass er grundsätzlich in Distanz zu sich selbst stehen kann; diese Fähigkeit nennt Plessner »Exzentrum«. Beim Lachen und Weinen geschieht dem Menschen ein Bruch dieser Selbstbeherrschung. Aber nur ein Wesen, das grundsätzlich in Distanz zu sich steht, kann aus der bisherigen Ordnung herausfallen und die Distanz zu sich selbst verlieren. 19 Während das Lachen durch Kontrollverlust charakterisiert ist, bewahrt der Mensch beim Lächeln seine Distanz zu sich und den Anderen. Während er beim Lachen und Weinen seine exzentrische Höhe verliert und insofern Opfer wird, ist das Lächeln deren souveräner Ausdruck. 20 Weil in Bezug auf beide Phänomene die nur dem Menschen eigene exzentrische Höhe Voraussetzung ist – sei es im Hinblick auf 15 16 17 18 19 20
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Plessner: Elemente menschlichen Verhaltens, 80. Ebd. Vgl. ebd., 81–82. Vgl. ebd., 84. Vgl. ebd., 83. Vgl. ebd., 84.
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Lachen und Weinen, um die Kontrolle überhaupt verlieren zu können, sei es, bezogen auf das Lächeln, um die Kontrolle zu behalten und der Distanz Ausdruck zu geben –, handelt es sich um spezifisch menschliche Phänomene. 21
III. Vertiefungsphase oder: Warum der T-800 lächeln, aber nicht weinen kann Die Vertiefung kann darin liegen, diese Ergebnisse auf das Verhältnis zwischen John und dem T-800 zu übertragen, wie es in den Filmsequenzen erscheint: Da der Terminator kein Unvermögen empfindet, benötigt er auch keine Reaktionen auf Grenzen, als die Plessner Lachen und Weinen versteht. Das spiegelt die Situation wider, in der John ihn fragt, ob er Angst vor dem Tod habe, was der T-800 verneint (vgl. M 1, vierte Sequenz). Eine Maschine zeichnet sich durch Perfektion aus, kommt also nie »mit [ihrem; K. T.] Latein zu Ende«, wie Plessner in Bezug auf Lachen und Weinen schreibt. 22 Sie kennt keine Fehlreaktionen. So gesehen, befindet sich der T-800 in ständiger Distanz, ohne je aus dieser Höhe fallen zu können. Mithin kann der für den Menschen charakteristische Bruch im Verhalten der Maschine gerade nicht passieren. Daher ist es dem T-800 nicht möglich zu weinen, obgleich er am Ende rein kognitiv begreifen kann, warum Menschen dies tun. Anders aber beim Lächeln: Da es sich um eine »abgewogene Geste« handelt, welche die Distanz gerade zum Ausdruck bringt, 23 ist auch der T-800 dazu in der Lage, nachdem die Sperre des Mikroprozessors entfernt worden ist (vgl. M 1, zweite Sequenz).
Im Gegensatz dazu geht das Tier im Hier-Jetzt auf, insofern es allein »aus seiner Mitte heraus und in seine Mitte hinein« lebt. Zwar ist auch beim Menschen »die tierische Natur« erhalten geblieben, da auch er im Hier-Jetzt steht, doch ist diesem sein Zentrum bewusst geworden; denn er besitzt ein »Selbst- und Gegenstandsbewusstsein«, was ihm eine gewisse Distanz zu sich und den Dingen ermöglicht (vgl. Stephan Pietrowicz: Helmuth Plessner. Genese und System seines philosophisch-anthropologischen Denkens. Freiburg-München 1992, 419–420). 22 Vgl. Plessner, Elemente menschlichen Verhaltens, 80. 23 Vgl. ebd., 84. 21
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IV. Fazit Nach alledem ist zu Recht davon gesprochen worden, der Film »Terminator 2« inszeniere die Überwindung der Differenz von Mensch und Maschine. 24 Dies konnte im Rahmen der drei Unterrichtsphasen anhand der Phänomene des Lächelns und Weinens verdeutlicht werden, die im Film das spezifisch Menschliche zum Ausdruck bringen, an das sich der T-800 immerhin annähert. Zu bedenken ist, dass diese »Vermenschlichung« die Prägung der Maschine durch den Menschen, hier John Connor, voraussetzt. Er ist nicht nur deren Programmierer, der die Maschine aus der Zukunft in die Gegenwart schickt, mit dem Auftrag, ihn dort zu beschützen, sondern auch deren Erzieher. 25 Im Laufe der Handlung wird der T-800 »zu einem symbiotischen Mensch/Maschinen-Wesen«, das lernt, »mit den Menschen von Angesicht zu Angesicht zu kommunizieren« 26 , was nicht zuletzt im Phänomen des Lächelns Ausdruck findet. Allerdings bleibt trotz aller »Hominisierung« eine gewisse Ambivalenz, insofern der Geist des T-800 seine CPU ist, ein Ding: Das innerliche Sein des Terminators wird sichtbar, als »die artifiziellen Schädelknochen des metallenen Endoskeletts« zutage treten: »Das Sein des Geistes zeigt sich als metallener Knochen.« 27 Eines der Augen bleibt menschenähnlich, das andere erscheint nun als Objektiv einer Videokamera, in deren Linse ein rotes Licht wie ein Lebenszeichen erstrahlt. 28 So zeigt der T-800 »sein wahres Gesicht« 29 , das kaum mehr etwas mit jener Geste des Lächelns gemeinsam hat, die uns an die Vermenschlichung des T-800 hat glauben lassen.
24 25 26 27 28 29
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Vgl. Ligthart: Terminator …, 53. Vgl. ebd., 41. Ebd., 59. Ebd. Vgl. ebd., 58. Ebd.
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V. Materialien M 1: Filmsequenzen: Ausschnitte aus »Terminator 2: Tag der Abrechnung« (ca. 11 Minuten) Erste Sequenz: John weint (1:03:43–1:04:58) […] T-800: Was ist mit deinen Augen los? John: Gar nichts. Zweite Sequenz: Wie kann ein Terminator »menschlicher« werden? (1:06:09–1:08:12) […] John: Wie lange lebst du, ich meine: hältst du, was auch immer? T-800: Mit meiner gegenwärtigen Kraftzelle 120 Jahre. John: Kannst du auch Sachen lernen, auf die du nicht programmiert wurdest? Naja, damit du, du weißt schon, menschlicher werden könntest, damit du nicht ewig so ein Ätzer bleibst. T-800: Mein CPU ist ein Prozessor mit neutralem Netz, ein lernender Computer, aber Skynet blockiert ihn durch eine Sperre, wenn wir alleine ausgesandt werden. Sarah: Die wollen nicht, dass ihr zu viel denkt, oder? T-800: Richtig. John: Kann man das rückgängig machen? […] Dritte Sequenz: Lächeln fällt schwer (1:12:17–1:13:15) John: Da wär’ noch was: Du könntest mal’n bisschen lockerer werden. Die verbissene Nummer kommt auf Dauer nicht so gut. Du musst ja nicht so’n Klotz sein, oder! Du kannst mal ab und zu lächeln. T-800: Lächeln? John: Ja, du weißt schon: lächeln. […] John: Siehst du den Typen da? Das ist ein Lächeln. Der T-800 analysiert mit seinem Augenscanner das Lächeln und versucht, es zu kopieren. John: Gar nicht schlecht, aber vielleicht kannst du’s irgendwann nochmal vorm Spiegel üben! »Fröhliche Wissenschaft«
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Vierte Sequenz: Der Terminator fragt: Warum weint ihr? (1:21:57–1:24:44) John: Hast du manchmal Angst? T-800: Nein. John: Auch nicht vor dem Tod? T-800: Nein. John: Du fühlst wirklich überhaupt nichts, wenn du darüber nachdenkst? T-800: Nein. Ich muss funktionsfähig bleiben, bis die Mission abgeschlossen ist. – Alles andere ist nicht von Bedeutung. John: Tja, ich muss auch funktionsfähig bleiben; ich bin einfach zu wichtig. Der T-800 findet eine Mini-Gun und lächelt daraufhin. John (erwidert das Lächeln): Das ist genau dein Ding, he?! […] T-800: Warum weint ihr? John: Du meinst: wir Menschen? T-800: Ja. John: Ich weiß nicht; wir weinen eben. Naja, wenn es wehtut. T-800: Schmerz löst es aus? John: Mmh, nein, es ist anders. Es kann alles mit dir in Ordnung sein, aber es tut trotzdem weh. Verstehst du das? T-800: Nein. Fünfte Sequenz: Der Abschied (2:18:00–2:21:50) […] Sarah: Es ist zuende! T-800: Nein. Es gibt noch einen Chip. (Der T-800 zeigt auf seinen Kopf.) Und der muss ebenfalls zerstört werden. Hier. (Der T-800 gibt Sarah den Schalter zum Bedienen des Kettenzugs.) Ich kann mich nicht selbst terminieren. Ihr müsst mich in den Stahl hinablassen. John (verzweifelt): Nein! T-800: Es tut mir leid, John. Es tut mir leid. John will den T-800 zurückhalten. John: Nein, es wird gut werden! Alles wird gut! Bleib bei uns! Es wird o. k. sein! […] T-800: Es muss hier enden. John will den T-800 nochmals zurückhalten. 204
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John: Ich befehle dir, nicht zu gehen! Ich befehle dir, nicht zu gehen! Ich befehle dir, nicht gehen! T-800 (schaut John an): Ich weiß jetzt, warum ihr weint, aber das ist etwas, das ich niemals tun kann. Der T-800 wischt John mit seinem Finger eine Träne weg. Sie umarmen sich. Sarah gibt dem T-800 die Hand. T-800: Auf Wiedersehen. Der T-800 wird von Sarah in den flüssigen Stahl hinabgelassen.
M 2: Helmuth Plessner: Über Lachen und Weinen (1961) Lachen und Weinen sind Reaktionen auf Grenzen, an welche unser Verhalten stößt. Sie sind Äußerungen eines Unvermögens, das freilich nicht an den zahl- und regellosen kleinen oder großen Niederlagen abgelesen werden darf, die unser Leben durchziehen. Sie haben vielmehr prinzipiellen Charakter und hängen mit der menschlichen Verhaltensstruktur als solcher zusammen. Was ihr zuwider ist, nicht weil es unseren Mitteln unangemessen ist, die zu seiner Bewältigung nicht ausreichen, sondern weil es Verhalten überhaupt von sich aus außer Kraft setzt und abweist, erregt Lachen und Weinen. Durch sie bezeugt der Mensch, auf Grenzen möglichen Verhaltens gestoßen zu werden, und zwar in des Wortes eigentlicher Bedeutung. Diese Erfahrung, mit seinem Latein zu Ende gekommen zu sein, hat nicht den Charakter eines aus Überlegungen und Probierversuchen resultierenden Eingeständnisses, sondern muss – sonst lassen sich die vorsprachlichen Äußerungsformen aufquellenden Gelächters und aufsteigender Tränen nicht erklären – mit der Verkörperung als Instrument der Verhaltensbildung selber in Zusammenhang stehen. Nach dem üblichen Schema gehört Lachen auf die helle und heitere, Weinen auf die dunkle und traurige Seite des Gefühlslebens, und Gefühle sollen es sein – und sind auch immer im Spiel –, denen sie Ausdruck verleihen. […] Dass wir von ihnen [Lachen und Weinen; K. T.] übermannt werden, bildet einen Hinweis auf ihre mit einer offenbaren Störung der Verhaltensbildung irgendwie verknüpfte Funktion. Menschliches Verhalten entspricht immer irgendwelchen Verhältnissen, die ihm Abstand gewähren, zu Dingen und Situationen wie zu sich selber. Irgendeine Ordnung muss herrschen, in der und mit der es sein Bewenden hat. Diese Bewandtnis trägt den Wort»Fröhliche Wissenschaft«
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gebrauch, das verfügende Umgehen und planvolle Handeln. Sobald diese Ordnung nicht einfach in Unordnung geraten ist, die sich wieder beseitigen lässt, sondern als Ordnung sich begrenzt zeigt, das heißt das andere ihrer selbst in Erscheinung tritt, wird das Verhalten gebremst. Der Schock verschlägt uns die Sprache und setzt uns außer Gefecht. Ist unser Abstand im Verhältnis zur Sache selber nicht aufgehoben, so erheitert uns die Situation, wir finden sie komisch oder witzig, wir lachen. Sind wir selber aber betroffen und um jeden Abstand gebracht, so erliegen wir dem Schmerz, dem Leid, der Rührung und Ergriffenheit, wir weinen. […] Mit Lachen und Weinen meldet sich die Unterbindung der Verkörperung als des Mittels zur geregelten Bildung menschlichen Verhaltens. Sie stellen sinnvolle Fehlreaktionen auf die Unmöglichkeit dar, zwischen der Person und ihrem Körper das zum Verhalten entsprechende Verhältnis zu sichern. An ihnen wird die Distanziertheit der Person als Bruch im Verlust ihrer auf Ordnung der Verhältnisse bezogenen und gestützten Selbstbeherrschung sichtbar. Einem Wesen ohne Distanz, ohne Exzentrum kann das nie passieren. Darum können Tiere weder lachen noch weinen. Nur der Mensch hat die Höhe, aus der er sich fallen lässt. Nur der Mensch kennt mit dem Sinn zugleich Doppelsinn, Unsinn und das, was darüber hinausreicht. (Aus: Helmuth Plessner: Elemente menschlichen Verhaltens [1961]. In: Ders.: Mit anderen Augen. Stuttgart 1982, 63–93, hier 80–83.) Arbeitsaufträge: 1. 2.
Einzelarbeit: Lies den Textauszug und markiere die zentralen Textaussagen. Partnerarbeit: Fasst die wichtigen Textaussagen stichpunktartig zusammen und diskutiert, inwiefern es sich bei den beschriebenen Phänomenen um etwas spezifisch Menschliches handelt.
M 3: Helmuth Plessner: Über das Lächeln (1961) Wie zum Ausgleich für die in jedem Sinne unbeherrschten, explosiven und desastreusen Ausbruchsformen, in welche der Mensch durch die Unterbindung seines [im Wege von Ordnungen; K. T.] vermittelten Verhältnisses zur Welt gerät [gemeint sind Lachen und Weinen; 206
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K. T.], verfügt er über eine, und zwar echte mimische Gebärde, das Lächeln. Unter allen Ausdrucksformen hat sie das Privileg der geringsten Bindung an eine besondere Emotion. Die leichte Auflockerung des Gesichts, in der sich alle Erregungen mit schwacher, unausgesprochener Antriebsform unmittelbar und unwillkürlich spiegeln: Staunen, Zufriedenheit, Geöffnetheit zum anderen, Verständnis, bietet sich von selbst als ein Spielfeld dar. In den starken Affekten und in den explosiven Reaktionen des Lachens und Weinens sind wir hingenommen und überwältigt. Jede Distanz zum eigenen Gesicht ist ausgelöscht. Im Lächeln dagegen herrscht ein Gleichgewicht zur eigenen Gebärde, die damit Maskenfunktion annehmen kann, mit der Zärtlichkeit wie Aggressivität, Geöffnetheit wie Verschlossenheit gleichermaßen zum Ausdruck kommen. Wie von selbst gleitet das Lächeln aus dem Bereich der unwillkürlichen mimischen Gebärde in den der abgewogenen Geste über, die unergründlich wirken kann, weil sie alles und nichts sagt. So bewahrt der Mensch seine Distanz zu sich und zur Welt und vermag sie, mit ihr spielend, zu zeigen. Lachend und weinend ist er das Opfer seiner exzentrischen Höhe, lächelnd gibt er ihr Ausdruck. (Aus: Helmuth Plessner: Elemente menschlichen Verhaltens [1961]. In: Ders.: Mit anderen Augen. Stuttgart 1982, 63–93, hier 83–84.) Arbeitsaufträge: 1. 2.
Einzelarbeit: Lies den Textauszug und markiere die zentralen Textaussagen. Partnerarbeit: Fasst die wichtigen Textaussagen stichpunktartig zusammen und diskutiert, inwiefern es sich bei dem beschriebenen Phänomen um etwas spezifisch Menschliches handelt.
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Die Fremdelphase. Zur Genealogie personaler Lachmündigkeit Lenz Prütting
I.
Genealogische Ansätze
Die Frage nach der Genealogie des Lachens wird von den wichtigsten Argumentationstraditionen, die sich bis heute in der Gelotologie herausgebildet haben, ganz unterschiedlich beantwortet. Für die physiologisch orientierte Schule von René Descartes bis Arthur Koestler ist Lachen ein Reflexverhalten, das sich nach dem Reiz-Reaktions-Modell als unverfügbares Widerfahrnis an uns und mit uns vollzieht wie jeder andere Reflex auch. Das kann es aber schlecht sein, weil z. B. das Interaktions-Lachen sehr wohl ein tendenziell verfügbares Verhalten ist, sodass der Grundfehler dieser Theorie darin besteht, das weite Feld des Lachens ganz dogmatisch auf das tendenziell unverfügbare Bekundungs-Lachen zu reduzieren. Und außerdem übersehen die Vertreter dieser Theorie, daß Reflexe grundsätzlich stereotyp und gleichsam »situations-blind« ablaufen, wohingegen Gelächter aller Art eine spezifische Antwort auf die jeweils aktuelle Situation ist, und sich deshalb auf einer riesigen Bandbreite abspielt, die vom stillen Schmunzeln bis zum ekstatischen Lachausbruch reicht. Für die energetisch orientierte Schule von Herbert Spencer bis herauf zu Sigmund Freud und seinen Gefolgsleuten ist Lachen die Abfuhr überflüssiger organischer Energie auf der Grundlage des EnergieErhaltungs-Satzes von Mayer/Helmholtz/Joule, entsteht also quasi als Abfall-Produkt und laut Freud immer dann, »wenn ein früher zur Besetzung gewisser psychischer Wege verwendeter Betrag von psychischer Energie unverwendbar geworden ist, so daß er freie Abfuhr erfahren kann.« 1 Warum diese Abfuhr überflüssiger Energie aber nicht als Sprint ums Haus, als Sprung über den Tisch oder als Fieber Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Der Humor. Frankfurt a. M. 2009, 160.
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sich manifestiert, was ja genau so plausibel wäre, verraten uns Spencer und Freud nicht, und sie verraten uns auch nicht, warum diese Abfuhr von überflüssiger Energie nicht als ungehemmter Schrei erfolgt wie das Niesen, sondern als explosiv gestotterte Ausatmung, also als ein in sich gekonterter Gestaltverlauf. Daß die so überaus typische Verlaufsgestalt des Lachens für diese Theorie überhaupt kein Thema ist, muß den Gelotologen schon mal sehr mißtrauisch stimmen, weil hier das Phänomen als Phänomen nicht ernst genommen wird. Genau wie bei der physiologisch orientierten Theorie des Lachens ist also auch diese energetisch orientierte Theorie mit einem fundamentalen Reduktionismus erkauft, weil weder das tendenziell verfügbare Interaktions-Lachen noch das Resonanz-Lachen, zu dem wir uns anstecken lassen, mit dieser Theorie plausibel erklärt werden können. Der Haupteinwand gegen die energetische orientierte Genealogie des Lachens liegt aber darin, daß es diese ominöse organische Energie als meßbare Größe gar nicht gibt. Sie ist gewissermaßen das Phlogiston der Freudianer. 2 Für beide Schulen vollzieht sich die Genealogie des Lachens also nicht irgendwann illo tempore, sondern immer wieder in bestimmten Situationen, und das Lachen wird entweder durch bestimmte Reize oder durch einen Überschuß an ad hoc unverwendbarer Energie ausgelöst. Nicht minder fragwürdig ist die Antwort der evolutionsgeschichtlich orientierten Gelotologie von Charles Darwin bis herauf zu Konrad Lorenz und seinen Schülern auf die Frage nach der Genealogie des Lachens. Für sie vollzog sich die Genealogie des Lachens tatsächlich irgendwann illo tempore, denn Darwin zieht auf den letzten Seiten seines Buches Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren (1872) die Bilanz: »Wir können zuverlässig annehmen, daß das Lachen als ein Zeichen der Freude oder des Vergnügens von unsern Vorfahren ausgeübt wurde, lange ehe sie verdienten, menschlich genannt zu werden; denn sehr viele Arten von Affen stoßen, wenn sie vergnügt sind, einen oft wiederholten Laut aus, welcher offenbar unserm Lachen analog ist und von zitternden Bewegungen ihrer Kiefer und Lippen begleitet wird, wobei die Mundwinkel nach hinten und oben gezogen, die Wangen gefurcht und selbst die Augen glänzend werden.« 3 Vgl. dazu Dieter E. Zimmer: Tiefenschwindel. Die endlose und die beendbare Psychoanalyse. Reinbek 1990, 136 ff. 3 Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren. Frankfurt a. M. 2000, 400. Vgl. dazu den »Stammbaum des Lachens und Lä2
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Die Reduktion der Lachpalette allein auf das Bekundungs-Lachen muß man also auch bei Darwin monieren, doch hier ist sie mit dem Umstand erkauft, daß er Lachen ausschließlich als Ausdrucks-Verhalten wertet und nicht auch als kommunikative Handlung, wie dies beim Interaktions-Lachen der Fall ist. Außerdem kann Darwin auch nicht allzu genau hingehört haben, denn sonst hätte er merken müssen, daß diese seltsame Lautgebung der Schimpansen, die er für eine vor-menschliche Form des Lachens hält, keine laute und gestotterte Ausatmung ist wie beim menschlichen Lachen, sondern, wie Robert R. Provine 4 entdeckt hat, ein lautes Hecheln, also ein besonders intensiver, rascher und lautbegleiteter Wechsel von Ein- und Ausatmung, und damit schon physiologisch gesehen ein völlig anderer Gestaltverlauf als das Lachen. Spätestens mit dieser Entdeckung von Provine hat sich das vielberedete Lachen der Schimpansen endgültig als ein weiteres Phlogiston erwiesen, diesmal als das Phlogiston der Verhaltensforscher, und wir können mit aller Entschiedenheit sagen: Tierisches Lachen gibt es nicht, und nicht einmal bei unseren nächsten tierischen Verwandten, und das heißt im Umkehrschluß: Lachen ist, wie schon Aristoteles wußte, tatsächlich ein Verhalten, das ausschließlich dem Menschen vorbehalten ist. So steht es auch in einem schönen Gedicht des deutschen Barock-Dichters Barthold Heinrich Brockes über das Lachen von 1743, das mit den Versen beginnt: »Daß Gott, vor allen andern Thieren, auf Erden uns vergnügen wollen, Und daß es eigentlich Sein Wille, daß wir uns hier vergnügen sollen, Davon scheint in der That das Lachen ein deutlicher Beweis zu seyn, Als welches allen Thieren fehlt, es hat es bloß der Mensch allein.«
Und es endet mit den Versen: »Drum bleibt mein erster Lehr-Satz fest, zu welchem ich mich wieder lenke: Das Lachen selbst zeigt Gottes Güte, und ist ein göttliches Geschenke.« 5
Profan philosophisch und mit Aristoteles formuliert heißt dies: Lachen ist ein proprium hominis, das mit dem Menschsein selbst unchelns« von J. A. van Hooff bei Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung. München 3/1972, 173 und die Kritik dazu in: Lenz Prütting: Homo ridens. Freiburg/München 2013, 1385 ff. 4 Vgl. dazu Robert Provine: Laughter. London 2000, 81 f. 5 Barthold Heinrich Brockes: Land-Leben in Ritzebüttel, als des Irdischen Vergnügens in GOTT Siebender Theil. Reprint Bern 1970, 687.
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mittelbar gegeben ist, weil es der menschlichen Natur und Kultur untrennbar zugehört, und auf dieser These beruht denn auch die anthropologisch orientierte Argumentationstradition von Aristoteles über Laurent Joubert bis herauf zu Kant, Plessner und Schmitz, als deren Schüler auch ich mich verstehe. Diese anthropologisch orientierte Theorie des Lachens, wie sie besonders von Helmuth Plessner und Hermann Schmitz entworfen worden ist, besagt, extrem verkürzt, daß das Lachen nicht eine Krise der Person ist – das haben schon unabhängig voneinander Laurent Joubert 1579 6 und Louis Poinsinet de Sivry 1769 7 so gesehen –, sondern der Durchgang durch eine Krise, also der Sturz in eine Krise und deren Überwindung, denn die zentrale These Plessners lautet: »In der Katastrophe noch, die sein sonst so beherrschtes Verhältnis zum eigenen Leib erfährt, triumphiert der Mensch und bestätigt sich als Mensch. Durch das entgleitende Hineingeraten und Verfallen in einen körperlichen Vorgang, der zwanghaft abläuft und für sich selbst undurchsichtig ist, durch die Zerstörung der inneren Balance wird das Verhältnis des Menschen zum Körper in eins preisgegeben und wiederhergestellt.« 8
Diesen Grundgedanken von Plessners Gelotologie hat auch Hermann Schmitz aufgenommen und weiter vertieft, indem er diesen Durchgang durch eine Krise der Personalität nicht als bedauerlichen Unfall versteht, der besser unterbleiben sollte, sondern geradezu als Gesundbrunnen, und das heißt als existenznotwendiges Erlebnis zur immer wieder neu zu leistenden Stabilisierung der Person als ein dialektisches Zusammenspiel von personaler Regression und personaler Emanzipation. Damit wird diese anthropologisch fundierte Theorie des Lachens als integrales Element einer Könnens-Ethik gewertet und als Teilbereich der praktischen Philosophie verstanden. Und deshalb betont Schmitz: »Ich finde das gemeinsam Besondere des Lachens und Weinens auf dem Gebiet personaler Regression nicht in der Reaktionsweise und schon gar nicht in einer Bewahrung des erreichten Niveaus personaler Emanzipation
Vgl. Laurent Joubert: Traité du Ris. Reprint Génève 1973, und Prütting: Homo ridens, 670 ff. 7 Vgl. Louis Poinsinet de Sivry: Traité des causes physiques et morales du rire, relativement à l’Art de l’expliquer. Reprint Exeter 1986, und Prütting: Homo ridens. 1056 ff. 8 Helmuth Plessner: Lachen und Weinen. In: Plessner: Gesammelte Schriften. Bd. VII: Ausdruck und menschliche Natur. Frankfurt a. M. 2003, 201–388, hier 274. 6
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vor dem Regressionsschicksal, sondern in einer teleologischen Tendenz, die durch die Regression hindurch deren Überwindung vorwegnimmt: Das Lachen ist Aufschwung in der Regression oder durch sie hindurch zum Triumph, das Weinen eine Ausweichreaktion des in die Enge Getriebenen, der durch Preisgabe seines Niveaus personaler Emanzipation, indem er in die Enge seines Leibes regrediert, dieser vielmehr in die Weite entkommt.« 9
Dieses teleologische Element, das den lachenden und weinenden Menschen durch die Krise der Personalität führt, bezeichne ich als den dem Lachen und Weinen immanenten uroborischen Impuls, weil dieser bewirkt, daß Lachen und Weinen sich nach dem Prinzip consumendo consumor gleichsam selbst verzehren und daraus auch ihre kathartische Funktion beziehen, die den Durchgang durch die Krise der Personalität allererst ermöglicht. Im Rahmen einer derart verorteten anthropologisch orientierten Theorie des Lachens ist es also völlig sinnlos, überhaupt nach einer vor-menschlichen Phylogenese des Lachens zu fragen, wenn wir denn schon nach der Genese des Lachens fragen wollen, und deshalb sollten wir gleich bei der Ontogenese des menschlichen Lachens ansetzen, wie dies James Sully 10 als erster getan hat. Allerdings argumentierte auch er immer noch zu sehr in den von Darwin und Haeckel vorgegebenen Bahnen, sodaß er immer noch glaubte, die Ontogenese des menschlichen Lachens wiederhole die Phylogenese des Lachens zum Menschen hin, und das Lachen der Kinder und »Wilden« sei eine Vorstufe des Lachens des erwachsenen weißen Europäers. Sein großes Verdienst besteht aber darin, diese Frage nach der Ontogenese des menschlichen Lachens überhaupt gestellt zu haben, denn es erwies sich bald als höchst sinnvoll, so zu fragen, allerdings nur dann, wenn man bereit ist, sich von einigen Dogmen evolutionsgeschichtlicher Argumentation zu trennen. Ich meine damit die von Aristoteles stammende These, die Natur mache keine Sprünge, und das von Ernst Haeckel verkündete Biogenetische Grundgesetz. Schafft man sich auf diese Weise einen unbefangeneren Blick auf Emergenz-Phänomene aller Art, so kann man sich sofort auch mit der These anfreunden, daß nicht nur die Entwicklung vom Tier zum Menschen als Sprung auf eine neue Stufe der Entwicklung verlaufen sein muß, mit dem zugleich auch völlig neue Fähigkeiten verbunden sein mußten, sonHermann Schmitz: Die Person. Bonn 1980, 116. Vgl. James Sully: An Essay on Laughter. Its Forms, its Causes, its Development and its Value. London 1902, und Prütting: Homo ridens. 1363 ff. 9
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dern daß diese neuen Fähigkeiten als plötzlich vorhandene und späterhin vererbte spezifisch menschliche Tätigkeitsbereitschaften in einzelnen ontogenetischen Entwicklungs-Schüben eigens angeeignet werden müssen, in bestimmten Situationen aber auch durch Bedrängnisse aller Art gemindert werden oder sogar wieder tendenziell verlorengehen können. Wie diese Entwicklungssprünge auf immer neuen Stufen des Organischen als Stufen von Positionalität zu denken wären, auf deren letzter und bislang höchster Stufe der Mensch in exzentrischer Positionalität steht, hat Helmuth Plessner in seinem naturphilosophischen Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch von 1928 ausführlich und überzeugend dargestellt. Allerdings hat Günter Dux darauf hingewiesen, daß auch die Stufe exzentrischer Positionalität zwar als Möglichkeit ererbt ist, daß sie aber trotzdem noch durch einen neuen ontogenetischen Entwicklungssprung eigens erworben werden muß, weil ein neugeborener Säugling sich noch in einem quasi-tierischen, zwar nicht vor-menschlichen, aber doch vor-personalen Zustand befindet, denn: »Die biologische Natur des Menschen kennt (noch) keine exzentrische Positionalität. Das wird am neugeborenen Gattungsmitglied deutlich sichtbar. Es ist ein biologisches System mit einer natural (noch) unzureichenden Ausstattung – dies und nicht mehr soll der (durch Arnold Gehlen) von Herder entlehnte Begriff des Mängelwesens zum Ausdruck bringen –, aber einem Potential, sich diese Ausstattung zu erwerben. Auch die exzentrische Positionalität als Form reflexiven Bewußtseins, wie sie einzig dem Menschen eigen ist, entwickelt sich erst.« 11
Und auch sie entwickelt sich in Sprüngen von einer Stufe auf die nächst höhere. Bezogen auf das Lachen heißt dies, daß der Mensch zwar immer und auch als Säugling schon lachen kann, daß er aber zu bestimmten Formen von Gelächter erst auf bestimmten Stufen seiner späteren ontogenetischen Entwicklung gelangt. Der für unsere Fragestellung weitaus wichtigste und entscheidendste Entwicklungssprung ist die Fremdelphase, in die ein Kind im Alter von acht bis neun Monaten eintritt, denn diese Fremdelphase ist gleichsam der Urknall der Personalität, durch den das kleine Kind nicht nur zur Person wird, sondern zugleich damit auch personale Lachmündigkeit erlangt. Günter Dux: Für eine Anthropologie in historisch-genetischer Absicht. In: Günter Dux/Ulrich Wenzel (Hgg.): Der Prozeß der Geistesgeschichte. Frankfurt a. M. 1994, 93–115, hier 95.
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II.
Kriterien personaler Lachmündigkeit
Aus dieser zentralen These ergeben sich nun einige weitere Thesen, die es im Folgenden kurz zu erläutern und zu begründen gilt 12 : • Lachen auf der Stufe personaler Lachmündigkeit hat eine Lebensfunktion, denn es dient in seiner gesamten Bandbreite der Stabilisierung der Person durch das ihm immanente Stirb’-undwerde-Spiel zwischen personaler Regression und erneuter personaler Emanzipation. • Ontogenetisch gewonnen wird diese personale Lachmündigkeit in der Fremdelphase, wenn sich das Kind zum aufrechten Stand aufrichtet und sich in diesem behauptet, sich zugleich damit aber auch zur Person aufrichtet und sich als solche behauptet. • Das prä-personale Lachen vor der Fremdelphase unterscheidet sich in erkennbarer Weise fundamental vom personalen Lachen danach, denn die Fremdelphase ist der Wendepunkt in der Ontogenese des Lachens vom völlig unverfügbaren zum tendenziell verfügbaren Lachen. • Alles prä-personale Lachen ist also völlig unverfügbares Lachen, weil es auf die unverfügbar vorgegebene Einstellung wehrloswillenloser Selbstpreisgabe und Hingabe gegründet ist. • Nach der Fremdelphase treten Varianten des Lachens hinzu, die auf dem dialektischen Spiel von Selbstpreisgabe und Selbstbehauptung beruhen. • Die Stufen der in der Fremdelphase erworbenen Lachmündigkeit entsprechen strikt den verschiedenen Stufen, Graden und Niveaus personaler Emanzipation. • Nur das, was in der Fremdelphase an Lachmöglichkeiten erworben wird, kann danach durch Schübe personaler Regression auch wieder mehr oder weniger verlorengehen, nach diesen regressiven Einbrüchen aber auch wiedergewonnen werden, sofern diese regressiven Schübe nicht pathologischer Natur sind. • Die konstitutiven Kriterien, die für alle Varianten des Lachens gelten, gehen allerdings nie verloren, denn alle Varianten des Lachens haben eine gerichtete, aber in sich gekonterte Verlaufsgestalt, und dies gilt auch für die pathologischen Varianten des Lachens. Vgl. dazu Prütting: Homo ridens. Kapitel 3.3, 1692 ff. und 3.4, 1712 ff., wo diese Thesen ausführlich dargestellt und begründet werden.
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Was an regulativen Kriterien bei Varianten des para-personalen Lachens von verminderter Personalität (also z. B. bei rollenhaftem Gelächter) verlorengehen kann, ist das Kriterium synästhetisch-synergetischer Zugleichheit, situativer Stimmigkeit und situativer Verfügbarkeit, wodurch diese Varianten von Lachen und Lächeln immer irgendwie maskenhaft starr, verzerrt und aufgesetzt wirken. • Was bei den para-personalen, v. a. bei den pathologischen Varianten des Lachens verlorengeht, ist vor allem der uroborische Impuls, weil alle Varianten von pathologischem Gelächter sich nicht selbst verzehren, sondern unvermittelt abbrechen. So gesehen sind alle Varianten von pathologischem Lachen ein Rückfall in das prä-personale Verhalten vor der Fremdelphase. Soweit die Thesen. Nun haben Laurent Joubert in seinem Traité du Ris von 1579 und Louis Poinsinet de Sivry in seinem Traité des causes physiques et morales du rire von 1768 völlig unabhängig voneinander das Lachen als Krise der Personalität gesehen, wohingegen Helmuth Plessner es in seinem berühmten Buch Lachen und Weinen von 1941 viel tiefsinniger als Durchgang durch eine Krise gedeutet hat, und Hermann Schmitz hat diesen Ansatz in seiner Anthropologie Die Person 13 von 1980 übernommen und noch weiter vertieft als Stirb’und-werde-Spiel von personaler Regression und personaler Emanzipation. Durch diese neue und vertiefte Sicht auf das Lachen als Durchgang durch eine Krise der Personalität bekommt nun der in der frühkindlichen Fremdelphase erworbene uroborische Impuls einen Schlüsselcharakter als Signatur personaler Lachmündigkeit, weil er nach dem Prinzip consumendo consumor den Wiedergewinn der Kriterien entfalteter Personalität in der Krise und aus der Krise heraus bewirkt und den Lachenden nach seinem Sturz in die Ekstase wieder zu sich selbst finden läßt, denn dieses Tauchbad in die Krise der Personalität bedeutet im Einzelnen: • Verlust und Wiedergewinn der Eutonie als beherrschte Körperspannung; • Verlust und Wiedergewinn des souveränen Habitus als aufrechte Haltung; • Verlust und Wiedergewinn der Stetigkeit als gleitender Gestus; •
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Vgl. dazu Hermann Schmitz: Die Person. Bonn 1980.
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Verlust und Wiedergewinn der souveränen Übersicht als gezielt ruhender Blick; • Verlust und Wiedergewinn der rhythmischen Symmetrie als geregelte Ein- und Ausatmung; • Verlust und Wiedergewinn der Wachheit als situative Präsenz; • Verlust und Wiedergewinn beherrschter Sprachlichkeit als Fähigkeit zu satzförmiger Rede. Und das wiederum heißt: • Die kurzfristig verlorengegangene beherrschte Körperspannung stellt sich wieder ein, sodaß man seinen Körper wieder einigermaßen im Griff hat. • Die kurzfristig zerbrochene aufrechte Haltung kehrt zurück, nachdem man sich im Wortsinne »krumm und bucklig« gelacht hat; man richtet sich also wieder auf und kann, wenn man will, wieder dastehen wie der Apoll von Belvedere. • Die Bewegungen entgleiten einem nicht mehr ins Ruckhafte, in Hin-und-her-Bewegungen oder in Bewegungen-auf-der-Stelle, sondern werden wieder beherrscht, gezielt und fließend. • Das Gesicht, das sich beim Lachen zu einer Grimasse mit starrem Blick, offenem Maul und gefletschten Zähnen verzerrt hatte, glättet sich wieder, der Blick kann wieder gezielt gerichtet werden und auf ausgewählten Objekten beliebig lange und beliebig intensiv ruhen. • Die Atmung, die beim Lachen zu einem Katarakt explosiv gestotterter Ausatmung verkommen war, glättet sich wieder zum Ebenmaß von ruhiger und symmetrischer Ein- und Ausatmung. • Die situationsadäquate Präsenz stellt sich wieder ein, nachdem man beim Lachen buchstäblich »weggetreten« und nicht ganz bei sich war, sodaß man nunmehr wieder »voll da« und voll bei sich selbst ist. • Und schließlich kann man auch wieder wie gewohnt in vollständigen Sätzen reden, nachdem, man kurzfristig eher gestottert und gelallt hat und in sinnlosen Wort-Wiederholungen auf der Stelle trat. So gesehen könnte man auch sagen, im personalen und lachmündigen Lachen durchlebe man eine Krise der Personalität mit glücklichem Ausgang, mythologisch formuliert also eine Variante von Tod und Wiedergeburt oder von Hadesfahrt und Wiederauferstehung, was dem Kranken jedoch verwehrt ist, weil ihm der uroborische Impuls abhanden gekommen ist, sodaß er in der Krise steckenbleibt. •
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Doch dieser uroborische Impuls prägt, wie gesagt, durchaus nicht jede Art von Gelächter, sondern nur das Lachen, das wir als lachmündiges Lachen in voller Personalität bezeichnen dürfen, denn das prä-personale Lachen des Säuglings vor der Fremdelphase, in der sich das kleine Kind zur Person aufrichtet, kennt den uroborischen Impuls noch nicht, und das para-personale Lachen, das meist ein pathologisches Lachen ist, hat ihn verloren und kennt ihn deshalb nicht mehr.
III. Die Fremdelphase Was geschieht nun alles in dieser Fremdelphase, daß sie eine derart zentrale Schlüsselfunktion für die Genealogie der Personalität ebenso wie für die Genealogie personaler Lachmündigkeit haben kann? Da ist zunächst als das spektakulärste Phänomen die Aufrichtung zur vertikalen Haltung zu nennen, die ein kleines Kind etwa im Alter von acht bis zehn Monaten mit aller Hartnäckigkeit erstrebt, und dazu hat Erwin Straus eine klassische Studie vorgelegt, in der er die aufrechte Haltung als eine ererbte Tätigkeitsbereitschaft deutet, die nach dem Akt-Potenz-Schema zwar vorgegeben ist, aber trotzdem noch eigens realisiert werden und späterhin weiterhin behauptet werden muß, denn: »Die aufrechte Haltung gehört zum Wesen der Gattung Mensch. Aber, ist sie ihm auch angeboren oder richtiger eingeboren, dem Individuum wird sie nicht von der Natur geschenkt, er hat sie zu erwerben.« 14 Genauer: Er hat sie ontogenetisch zu erwerben, was in der Fremdelphase geschieht, genau wie der Erwerb der exzentrischen Positionalität im Sinne von Helmuth Plessner (worauf ja schon Günter Dux verweisen hatte), und genau so verläuft auch der Erwerb der Personalität im Sinne von Hermann Schmitz. Und damit müßte klargeworden sein: Die aufrechte Haltung ist eine Form von Selbstbehauptung, ja sie ist geradezu die elementarste Form von Selbstbehauptung, weil der aufrechte Stand in einem fort behauptet werden muß; und sie ist auch die früheste Form von Selbstbehauptung des Menschen, ontogenetisch beim einzelnen Menschen, phylogenetisch bei der Gattung Mensch. Nichts anderes Erwin Straus: Die aufrechte Haltung. Eine anthropologische Studie. In: Erwin Straus: Psychologie der menschlichen Welt. Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960, 224–235, hier 225.
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hatte ja schon Herder verkündet, als er in seinem philosophischen Hauptwerk eine Hymne auf den vertikalen Impuls als Signatur phylogenetischer, ontogenetischer und ethogenetischer Emanzipation anstimmte und den sich aufrichtenden Menschen als den »ersten Freygelassenen der Schöpfung« feierte. 15 Phylogenetisch gesehen manifestiert sich laut Herder der vertikale Impuls als Schritt vom Tier zum Menschen; ontogenetisch gesehen als Aufrichtung des Kindes zum freien Stand in der Fremdelphase; ethogenetisch gesehen als die hier neu erworbene Fähigkeit zur ethisch-moralischen Selbstbehauptung, also dazu, Ja und Nein zu sagen und Abstand nehmen zu können. Aber nicht nur das: Die Aufrichtung zur Vertikalen ist auch gelogenetisch relevant, weil sich in der Fremdelphase auch der ontogenetische Entwicklungs-Sprung vom völlig unverfügbaren prä-personalen Lachen zum tendenziell verfügbaren personalen Interaktions-Lachen vollzieht. Und nun ist es an der Zeit, diese vorgreifende Behauptung in die These zu fassen: In der Fremdelphase erhebt sich das Kind nicht nur zur Person, sondern erlangt zugleich damit auch personale Lachmündigkeit. Wie diese Entwicklung im Einzelnen vor sich geht, hat der Wiener Kinderpsychologe René Arpad Spitz durch eine Reihe von Experimenten mit Säuglingen deutlich gemacht, die er in seiner Studie Vom Säugling zum Kleinkind (1967) wie folgt zusammenfaßt: »Im dritten Lebensmonat reagiert das Kind auf das (lächelnde) Gesicht des Erwachsenen mit einem Lächeln, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Das Gesicht muß von vorn dargeboten werden, so daß der Säugling beide Augen sehen kann, und das Gesicht muß sich bewegen. Es ist dabei unwesentlich, welcher Teil des Gesichtes oder Kopfes sich bewegt, ob die Bewegungen ein Kopfnicken, eine Bewegung des Mundes oder etwas anderes ist.« 16
Es ist also gleichgültig, ob sich im lächelnden Gesicht des Erwachsenen etwas bewegt oder ob sich das Gesicht als Ganzes vor dem jeweiligen Hintergrund bewegt; es geht offenbar ausschließlich darum, daß sich das Gesicht vor dem unbewegten, starren Hintergrund nach dem bekannten Figur-Grund-Prinzip ablösen kann. Wie das lächelnde Gesicht im Einzelnen aussieht, ist ebenfalls Johann Gottfried Herder: Ideen zur Geschichte der Menschheit. In: J. G. v. Herders Werke. Carlsruhe 1820, Bd. 3, 173. 16 René Arpad Spitz: Vom Säugling zum Kleinkind. Stuttgart 1967, 104. 15
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völlig gleichgültig; wichtig für den Säugling ist nur die Konfiguration aus Stirn, Augen und Nase, und seltsamerweise spielt der Mund, mit dem wir doch im allgemeinen das Lächeln in Verbindung zu bringen pflegen, eine weit geringere Rolle. Es ist auch gleichgültig, ob der Säugling den Erwachsenen, der ihn da anlächelt, kennt oder nicht, weil für den Säugling im Alter zwischen ca. achtzig Tagen und ca. acht Monaten offenbar alle lächelnden Gesichter von »chaotischer Mannigfaltigkeit« 17 und damit ununterscheidbar gleich sind, ganz so, als ob sie hinter einer Nebelwand verborgen wären. Und deshalb lächelt er wahllos und unterschiedslos und gleichsam »ohne Ansehen der Person« zurück, sobald er in diesem Alter mit Blickkontakt angelächelt wird. Das lächelnde Gesicht kann auch jederzeit durch eine Maske ersetzt werden 18 , und auch die Hautfarbe des Lächelnden 19 spielt nicht die geringste Rolle. Das Resonanz-Lächeln des Säuglings ist jedoch kein stereotypes Einheitslächeln, sondern läßt sich in seiner Intensität gezielt manipulieren, denn es läßt sich zum lauten Gelächter steigern, wenn sich die lächelnde Maske oder das lächelnde Gesicht des Erwachsenen mehr oder weniger heftig auf und ab bewegen, oder wenn bestimmte Teile des Gesichts oder der Maske oder auch beide als Ganzes im bekannten »Guckguck-Spiel« 20 kurz verdeckt und wieder aufgedeckt werden. Bei einer nur partiellen Abdeckung des Gesichts oder der Maske zeigt sich, daß die Manipulation der Mundpartie das Verhalten des Säuglings kaum beeinflußt, daß die Partie der Augen und damit eben der Blickkontakt hingegen entscheidend sind: »Wenn man ein Auge oder beide verdeckte, während der Säugling das nickende Gesicht des Versuchsleiters anlächelte, hörte die Reaktion des Lächelns abrupt auf.« 21 Das Resonanz-Lächeln verschwindet also nicht allmählich mit einem gewissen »Bremsweg«, sondern wirkt wie abgeschaltet, und das bedeutet, daß das Resonanz-Lachen ohne jeden uroborischen Impuls und damit ohne jede immanente Eigengesetzlichkeit ist; es ist also völlig fremdbestimmt und zugleich damit völlig unverfügbar oder, wie wir auch sagen könnten: es ist (noch) kein mündiges Lachen. Das Resonanz-Lächeln des Säuglings läßt sich aber nicht nur bis
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Hermann Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. Bonn 1994, 181. Vgl. Spitz: Vom Säugling zum Kleinkind, Abbildung 7 u. 8, und 110 f. Ebd., 105. Ebd.,108 f. Ebd., 111.
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zum lauten Lachen steigern oder abrupt stoppen, es läßt sich auch ganz sachte bis zum Verschwinden herunter dimmen. Wenn nämlich das lächelnde Gesicht des Erwachsenen oder die entsprechende Maske langsam aus der frontalen Position heraus ins Profil gedreht wird, verschwindet auch mehr und mehr das Lächeln auf dem Gesicht des Säuglings, und zwar genau in dem Maße, in dem das lächelnde Gesicht sich vom Säugling abwendet, bis es schließlich angesichts der reinen Profil-Position ganz aufhört. 22 Sobald sich aber das lächelnde Gesicht wieder aus der Profil- in die Frontal-Position dreht, erscheint auch wieder synchron dazu das Lächeln auf dem Gesicht des Säuglings, und dies um so ausgeprägter, je mehr sich das lächelnde Gesicht des Erwachsenen in die volle Frontal-Position dreht. Offenbar fehlt bei der Stellung im reinen Profil der volle Blickkontakt, der die beiden Lächelnden optimal aufeinander ausrichtet und dadurch erst die Grundlage für das Resonanz-Lachen bildet. Diese von Spitz durchgeführten Versuche zur Manipulation des Resonanz-Lachens zeigen noch ein weiteres Ergebnis, das Spitz jedoch wegen seiner dogmatischen Orientierung am Reiz-ReaktionsModell glatt übersehen hat. Es fällt nämlich jedem, der derlei Versuche mit Säuglingen selbst wiederholt, sofort auf, daß das Resonanz-Lächeln eben gerade kein Antwort-Lächeln ist, das, als eigene Aktion, erst nach einer bestimmten Reaktionszeit erfolgt, sondern daß es ein Mitlächeln ist, das ohne Reaktionszeit und strikt synchron in Ablauf und Intensität mit dem ihm angebotenen Lächeln des Erwachsenen abläuft, sodaß es immer nur zusammen mit dem angebotenen Lächeln und dem Blickkontakt erscheint, zusammen mit ihm sich entsprechend modifiziert und zusammen mit ihm und dem Blickkontakt auch verschwindet. Es erscheint also immer auf beiden Gesichtern nicht nur gleichzeitig, sondern zugleich, sofern diese in einer frontalen Position mit vollem Blickkontakt optimal aufeinander ausgerichtet sind, sodaß man den Eindruck gewinnt, als ob beide Partner nur ein einziges, beiden gemeinsames Lächeln auf dem Gesicht hätten, mit dem sie einander anlächeln. Aus diesem Grund bietet sich für dieses eindrucksvolle Phänomen der Ausdruck »Resonanz-Lächeln« an, der bei Spitz nicht vorkommt, weil der Säugling in dieser Phase seiner Entwicklung das ihm vom Erwachsenen angebotene Lächeln eben nicht von sich aus spontan erwidert, also als Reaktion mit Reaktionszeit und als Ergebnis 22
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Ebd., Abbildung 6 und Seite 107 f.
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einer Entscheidung, sondern ganz wie eine Saite mitschwingt, wenn eine andere Saite mit entsprechender Spannung angeschlagen wird, oder wie ein Spiegel ein Gesicht ohne Reaktionszeit willenlos und automatenhaft identisch und synchron wiedergibt. Deshalb hätte man dieses Resonanz-Lächeln des Säuglings auch »Spiegellächeln« nennen können. Erwachsene können einem solchen Blick standhalten und ihn erwidern und zwar je nach Situation individuell erwidern, können ihm aber auch ausweichen. Sie können sich auch vom Lachen anderer anstecken lassen, sie können sich diesem Resonanz-Lachen aber auch verweigern, sodaß sie nicht in dieses Mitlachen hineingleiten. Säuglinge im prä-personalen Stadium können dies offenbar noch nicht und sind dem Augenpaar, das sie da anschaut, wehrlos und willenlos ausgeliefert, und ebenso dem damit verbundenen Lächeln oder Lachen, das sie nicht von sich aus individuell erwidern, sondern wie ein Spiegel bloß identisch und synchron wiedergeben. Weil das Resonanz-Lächeln des Säuglings also kein individuelles Antwort-Lächeln ist und deshalb auch keine individuelle situationsspezifische Stellungnahme des Säuglings, gibt es dem angelächelten Erwachsenen auch nichts zu verstehen. Es ist zwar nicht bedeutungslos, aber doch bedeutungsleer, kann aber gerade wegen dieser Bedeutungsleere mit allerlei Bedeutungen aufgefüllt und dann als Ausdruck rückhaltloser positiver Zuwendung gedeutet werden, und deshalb sind wir Erwachsenen auch so gerührt und geschmeichelt, wenn wir ein fremdes Kind dieses Alters anlächeln und dieses dann zurücklächelt, als ob es uns immer schon kennen und schätzen und mit seinem Lächeln ausgerechnet uns meinen würde. Wahrscheinlich liegt gerade in diesem Impuls zu positiver Zuwendung die von Spitz vermutete lebenserhaltende Funktion des ResonanzLächelns, mit dem »Mutter Natur« durch eine wohlwollende List den Säugling gerade in seiner Phase nesthockerischer Hilflosigkeit ausgestattet hat. Doch dieser hilflose und wehrlose Zustand bleibt nicht ewig so, sondern ändert sich schlagartig mit dem Eintritt in die Fremdelphase, in der das kleine Kind sich zur Person aufrichtet, denn von diesem Moment an ist der Blickkontakt und zugleich damit das ResonanzLachen für das Kind nicht mehr ein automatenhaft anmutendes unverfügbares Geschehnis, sondern ein wählbares Erlebnis, und das Kind gewinnt die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Einstellungen bestimmten Widerfahrnissen gegenüber zu wählen und verfügt nunmehr über die Möglichkeit, die ganze Bandbreite von Einstellungen »Fröhliche Wissenschaft«
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zwischen wehrloser Hingabe und trotziger Renitenz gezielt einzunehmen. Mit einem Wort: Der Säugling ist Person geworden, und darüber hinaus hat er sich auch noch zu einer lachmündigen Person emanzipiert. Herder würde von ihm sagen: Er ist »der erste Freygelassene der Schöpfung: er stehet aufrecht […], er kann forschen, er soll wählen.« 23 Irgendwann zwischen dem siebten und neunten Monat tritt beim Säugling nämlich ein Zeitpunkt ein, von dem ab das wahllose und automatenhaft erfolgende Resonanz-Lächeln aufhört und das Kind nicht mehr »ohne Ansehen der Person« zurücklächelt, sondern genau zwischen Fremden und Freunden unterscheidet. Dazu Spitz: »Nähert sich dem Kind ein Fremder, so löst dies ein unverkennbares, charakteristisches und typisches Verhalten in ihm aus; es zeigt individuell verschiedene Grade der Ängstlichkeit, ja sogar der Angst und lehnt den Fremden ab. Das Verhalten der einzelnen Kinder zeigt ziemlich große Verschiedenheiten; es kann »schüchtern« den Blick senken, die Augen mit den Händen zuhalten, das Gesicht mit dem hochgehobenen Kleid zudecken, sich im Bett auf den Bauch werfen und das Gesicht unter der Bettdecke verstekken, es kann weinen oder schreien. Der gemeinsame Nenner ist eine Kontaktverweigerung, ein Sich-Abwenden, mehr oder weniger von Angst getönt.« 24
Für dieses Verhalten, das Spitz hier so anschaulich beschreibt, hat sich leider die Bezeichnung »Achtmonatsangst« eingebürgert, die aber ganz unglücklich, ja sogar richtig irreführend ist. Zum einen macht die Bezeichnung »Achtmonatsangst« dieses Verhalten allein am Alter des Säuglings fest und nicht am jeweils erreichten Stand der Entwicklung, der bei Kindern gleichen Alters ja sehr unterschiedlich sein kann, weshalb es weit sinnvoller wäre, die Benennung dieses Phänomens an andere deutlich ablesbare Leistungen des Säuglings zu knüpfen, die im selben Alter bzw. auf demselben Stand der Entwicklung auftreten, z. B. an der Krabbelphase oder an der Fähigkeit, aufrecht zu sitzen oder gar aufrecht zu stehen. Viel plausibler als der Begriff »Achtmonatsangst« scheint mir deshalb das Wortfeld »fremdeln« bzw. »Fremdelphase«, weil damit das von Spitz so anschaulich beschriebene Verhalten des Säuglings nicht nur benannt, sondern auch gleich auf den Begriff gebracht wird, und deshalb will ich diesen Begriff auch weiterhin gebrauchen. Der gemeinsame Nenner all der ver23 24
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Herder: Ideen zur Geschichte der Menschheit, 173. Spitz: Vom Säugling zum Kleinkind, 167.
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Die Achtmonatsangst 25
schiedenen Ausprägungen des Fremdelns ist, wie aus der Beschreibung von Spitz deutlich hervorgeht, die noch vor-sprachlich und deshalb allein durch Gestus, Vultus, Habitus artikulierte Abweisung bestimmter als fremd empfundener Erwachsener, auch wenn diese noch so freundlich lächeln mögen, insbesondere aber die gezielte Abweisung oder Verweigerung des Blickkontakts mit Fremden, der vonseiten des Säuglings unmöglich gemacht wird. Offensichtlich schälen sich für den Säugling in dieser Phase seiner Entwicklung Gesichter aus dem Zustand chaotischer Mannigfaltigkeit heraus und bekommen individuelle Züge, ganz so, als ob diese Gesichter sich aus dem Nebel, in dem sie bislang verborgen waren, gelöst hätten, und Hand in Hand damit verliert auch der Blick des Erwachsenen seine unwiderstehlich bannende Macht. Die Bezeichnung »Achtmonatsangst« ist aber vor allem deshalb so irreführend, weil das Fremdeln mit Angst gar nichts zu tun hat. Angst tritt beim Kind in dieser Situation überhaupt erst dann auf, wenn der auf diese Weise abgewiesene Erwachsene das Kind trotzdem nicht nur weiterhin anlächelt, sondern sich ihm trotzdem auch noch nähert, es trotzdem berühren oder gar auf den Arm nehmen will, ohne daß das Kind sich wehren kann. Dies kann dann beim Kind zu ausgeprägten Panik-Reaktionen führen, und diese Panik-Reaktionen waren es wohl auch, die zu der Bezeichnung »Achtmonatsangst« geführt haben. Der Impuls, der beim Frem25 Das hier wiedergegebene eindrucksvolle Foto findet sich bei Spitz: Vom Säugling zum Kleinkind, 167.
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deln deutlich wird, heißt also nicht »Weg davon!« oder »Weg von mir!« oder »Nix wie weg!«, aber im Bewußtsein dessen, daß man es nicht schafft, sondern »Weg mit dir!« / »Ich will dich nicht sehen!« / »Ich will mit dir nichts zu tun haben!« / »Du bist mir fremd!« Nun könnte man natürlich das Fremdeln, das Sichaufrichten zum aufrechten Stand, das Trotzen und das Ende des unverfügbaren Resonanz-Lächelns als Vorgänge sehen, die sich in der Entwicklung eines Säuglings mehr oder weniger zufällig etwa zur gleichen Zeit abspielen, miteinander aber weiter nichts zu tun haben. Sie könnten aber sehr wohl auch einzelne Aspekte eines umfassenderen ontogenetischen Programms sein, zu dem auch noch andere Phänomene als weitere Teilaspekte gehören, die sich in synergetisch-synästhetischer Zugleichheit manifestieren, weil auch dieses Programm den ganzen Menschen erfaßt, der es dann ausagiert mit allem, was er ist und hat und kann und tut. Um dies zu entscheiden, ist jedoch ein anthropologisches Denkmodell notwendig, das uns die Möglichkeit bietet, diese einzelnen Aspekte sinnvoll einander zuzuordnen. Aber genau dies finden wir bei dem dogmatischen Freudianer René Arpad Spitz nicht, dem es wesentlich darum geht, die Entwicklung des Ich im Freudschen Seelenmodell durch empirische Beobachtungen zu illustrieren. Und deshalb sind wir hier auch an dem Punkt angelangt, an dem wir uns von Spitz verabschieden müssen.
IV. Labile Personalität In der Anthropologie von Hermann Schmitz liegt jedoch ein Schlüssel zur Klärung auch der Probleme bereit, an deren Deutung Spitz gescheitert ist. Denn wenn Schmitz auf die »grundlegende Bedeutung der Negation für personale Emanzipation überhaupt« 26 hinweist, und wenn wir weiter bei ihm lesen, der aufrechte Stand sei »das körperliche Wahrzeichen personaler Emanzipation« 27 und dann nach weiteren körperlichen Kriterien personaler Emanzipation suchen, die sich an Gestus, Vultus und Habitus ablesen lassen, so merken wir bald, daß auch das Fremdeln dazu gehört, weil das Fremdeln des Säuglings eben eine sehr markante Form der »Abstandnahme vom
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Schmitz: Person, 78. Ebd., 135, Anmerkung 510.
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Fremden« 28 ist, den oder das das kleine Kind durch »objektivierende Negation« 29 entschieden von sich abweist bzw. von dem es sich durch neinsagende Selbstabgrenzung losreißt. Dies kann durch negative Abwendung, also durch Flucht, geschehen, aber auch, wie auf unserem Bild, durch negative Zuwendung, also durch Aggression und trotzige Renitenz. Entscheidend ist allein der programmatische negative Impuls als ein »Nein!«, das mit allem artikuliert wird, was dem kleinen Kind an mimetischem Potential zur Verfügung steht. Mit diesem Befund sind wir nun in der Lage, auch das Fremdeln mit allem was dazu gehört, in das große dynamische Zusammenspiel von personaler Emanzipation und personaler Regression einzuordnen, in das wir ja auch schon das Lachen eingeordnet haben, und dadurch gewinnt das Fremdeln viel schärfere Konturen und erscheint als die ontogenetisch früheste Form personaler Emanzipation, ja geradezu als das Grundmodell personaler Emanzipation überhaupt. Das hat sofort massive Konsequenzen auch für Deutung des Lachens im thematischen Zusammenhang mit dem Fremdeln, denn die Ablösung des Säuglings aus dem unverfügbaren Automatismus des Resonanz-Lächelns durch das Fremdeln ist, so gesehen, gleichsam eine zweite Abnabelung, durch die der Säugling aus dem vorpersonalen Stadium im vollen Wortsinn heraus tritt und sich zur Person erhebt, auch wenn diese Person vorerst noch ein Persönchen sein mag und vorerst auch noch auf einem relativ niederen Niveau personaler Emanzipation lebt. Mit diesem Schritt aus dem vor-personalen Stadium heraus erhebt sich der Säugling aber zugleich auch zu einer neuen, höheren und nunmehr personalen Form von LachFähigkeiten und Lach-Möglichkeiten, erhebt sich also zu personaler Lachmündigkeit. Ebenso wie die aufrechte Haltung ist auch personale Emanzipation laut Schmitz »labil und prekär« 30 und muß, weil ständig gefährdet, immer erneut behauptet werden 31 , und oft genug gehen beide zugleich auch wieder verloren, können aber immer auch wieder zurückgewonnen werden. Genau so hat es ja auch Erwin Straus beschrieben und gedeutet. Weil laut Schmitz die aufrechte Haltung und der aufrechte Stand »das körperliche Wahrzeichen personaler 28 29 30 31
Ebd., 386. Ebd. Ebd., 55. Vgl. dazu Straus: Die aufrechte Haltung. Eine anthropologische Studie, 225.
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Emanzipation« 32 sind, beschreibt Schmitz das Spiel von personaler Emanzipation und Regression vorzugsweise in der Metaphorik von Aufstehen und Hinfallen, und wenn man sich die zu dieser Metaphorik passenden Szenen plastisch vorstellt, so sieht man sofort vor seinem geistigen Auge ein in seinem Laufstall umher purzelndes Kind vor sich, das sich mitten in der Fremdelphase befindet und mit aller Mühe, aber auch mit aller Entschlossenheit den aufrechten Stand probt und damit sein gesamtes späteres Leben vorwegnimmt. Ich zitiere, appelliere an die Fantasie meiner Zuhörer und lade Sie ein, sich die entsprechenden Szenen vorzustellen: »Personale Regression ist Rückgang oder Rückfall(!) des personalen Subjekts in primitive Gegenwart oder auf sie zu, so wie personale Emanzipation umgekehrt dessen Erhebung(!) aus dieser und Abstandnahme von ihr ist.« 33
Oder: »Ohne personale Emanzipation bliebe der Mensch tierisch und würde gar nicht zur Person; ohne personale Regression bliebe die Person gleichsam hohl, weil der Aufstand(!) personaler Emanzipation aus der Hinfälligkeit (!) unmittelbaren Betroffenseins dann wie eine abstrakte einsame Gebärde der Aufrichtung(!) wäre.« 34
Oder: »In Wirklichkeit ist personale Regression so etwas wie ein Sturz.« 35
Gerät man nach dem Gewinn der Lachmündigkeit ins Lachen, so geht von all dem, was in der Fremdelphase gewonnen worden ist, zwar viel von dem ausgezeichneten Verhalten verloren, doch all dies geht immer nur kurzfristig und vor allem niemals unwiederbringlich verloren, weil der uroborische Impuls es immer wieder rekonstituiert. Man fällt also nie wieder in den prä-personalen Zustand zurück, es sei denn in pathologischen Zuständen, die die Personalität als ganze und dauerhaft beschädigen und damit auch das Lachen spezifisch überformen. Und dann ist auch der Sturz ins Lachen ein Sturz ins Bodenlose. Doch all dies gehört schon in ein anderes Kapitel. 36
Schmitz: Person, 135, Anmerkung 510. Ebd., 105. 34 Ebd. 35 Ebd., 105 f. 36 Vgl. dazu Prütting: Homo ridens. Kapitel 3.4.6.5, 1751 ff., in dem einige Fälle von pathologischem Gelächter dargestellt und analysiert werden. 32 33
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III. Subversionen des Lachens
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»Wissenschaft lacht nicht« – Lachen als Subversion der Normierung Kevin Liggieri
»Man kann nicht nicht lachen, wenn man Codes durcheinanderwirft. Wenn ihr das Denken in Beziehung zum Außen bringt, entstehen Momente dionysischen Lachens, das ist das Denken in frischer Luft.« 1 (Gilles Deleuze) »Dem Lachen, das bei seiner Lektüre alle Vertrautheiten unseres Denkens aufrüttelt, des Denkens unserer Zeit und unseres Raumes, das alle geordneten Oberflächen und alle Pläne erschüttert […].« 2 (Michel Foucault)
I.
Transgression und Limitation
Lachen ist definitorisch ein »lautes, stoßweises Ausatmen mit Zusammenziehungen gewisser Gesichtsmuskeln (Lachmuskeln), die die Mundwinkel nach außen ziehen, auch krankhaft (Lachkrampf) bei Hysterie (s. d.).« 3 Schon dieser Lexikon-Artikel von 1911 bringt das so fröhlich gesellschaftliche Phänomen des homo ridens mit »unwillkürlichen«, pathologischen Phänomenen in Verbindung, die dem Lachen stets inhärent zu sein scheinen. 4 Gilles Deleuze: Nietzsche. Ein Lesebuch. Berlin 1979, 116 f. Die vorliegende Ausarbeitung basiert auf einem Artikel des Autors in früherer Form: Narrative des irrationalen Lachens – Lachen als Subversion der Normierung und als Chance einer Subjektivierung. In: Helene von Bogen u. a. (Hgg.): Literatur und Wahnsinn. Berlin 2015, 49–60. 2 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M. 2003, 17. 3 Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon, 5.te Aufl., Bd. 2. Leipzig 1911, 3. In ähnlich physiologischer Beschreibung des Lachens als »eigentümliche Modifikation der Atembewegungen« auch Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 12. Leipzig 1908, 15. 4 Rudolf Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Bd. 1. Berlin 1904, 580. Vgl. dazu auch Lenz Prütting: Homo ridens. Freiburg/München 2013, Kapitel 3.4.6.5, 1
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Die vorliegende Untersuchung zur Radikalität und Subversion des Lachens soll sich mit diesen bestimmten Parametern eines wahnsinnigen Lachens beschäftigen. Das Diskurs- und Dispositivfeld des transgressiven Lachens scheint in seinem Facettenreichtum schwer überschaubar, aus diesem Grund kann im Folgenden nur ein exemplarisch experimenteller Überblick gegeben werden, der keineswegs auf Ganzheit abzielt. Die Analyse geht dabei zweigeteilt vor: Im ersten Teil werden anhand von Foucaults maßgeblicher Analyse des Wahnsinns Parameter und Erscheinungsformen herausgearbeitet, die sich in ähnlicher Weise an einer Normierungsresistenz des Lachens manifestieren lassen. Wo der Wahnsinn zu Transgression tendiert, dort wird meist auch Limitation verlacht. Im zweiten Teil liegt der Fokus inhaltlich und formal gezielter auf Literatur, die als ein Exil für die beiden, ausgestoßenen, pathologisierten Problempatienten Lachen und Wahnsinn zu sehen ist. Mit literarischen Beispielen (als einer Wissensformation) wird deutlich zu machen sein, dass Lachen und Wahnsinn graduell nicht verschieden sind, und demnach beide wissenschaftlichen Strukturen zuwiderlaufen. Trotz der qualitativen Ähnlichkeit, scheint die moderne Disziplinar- bzw. Kontrollgesellschaft dennoch sporadisch unterschiedlich mit den beiden Phänomenen, Lachen und Wahnsinn, umzugehen. Folglich würde eine lachende Wissenschaft nicht auf Anhieb als Paradoxon empfunden werden. Diesem Widerspruch muss anhand von verschiedenen Reflexionen über Diskursformationen nachgegangen werden.
II.
Wahnsinniges Lachen und lachender Wahnsinn
II.1 Zur Genealogie des Wahnsinns und seiner Disziplinierung Folgt man Foucault, so bringt die Vernunft den Wahnsinn mit »einem eigenartigen Gewaltakt […] zum Schweigen.« 5 Dieses Schweigen ist sprachlos, da es nur noch aus »unvollkommene[n] Worte[n] ohne feste Syntax [besteht], die ein wenig an Gestammel erinnern […].« 6 Die 1751 ff., wo einige Fälle von pathologischem Gelächter dargestellt und analysiert werden. 5 Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1973, 68. 6 Philipp Sarasin: Foucault zur Einführung. Hamburg 2005, 19.
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Vernunft, die in ihrem analytischem Sprechen einen »Monolog« über den Wahnsinn führt, entzieht ihrem ›Anderen‹ in einem Gewaltakt somit die sinnvolle Sprache. 7 Da der Wahnsinn, den Foucault als »delirierend[e] Rede« 8 und »bizarre[s] Benehmen« beschreibt, nicht mehr die Sprache der Vernunft spricht, bricht er notwendigerweise auch mit der »Intersubjektivität der vernünftigen Rede.« 9 Ein logosleerer Raum entsteht. Diese Reinigung und Trennung ist paradoxerweise paradigmatisch für die Konstituierung der rational beobachtenden, überwältigenden und domestizierenden Vernunft, die mittels Institutionen ihren Gegenpart wegschließt. 10 Die Reinigungsbewegung gehört – wie Bachelard und Latour herausarbeiten – zur maßgeblichen Praxis der modernen Wissenschaften. 11 Diese Reinigung erschafft zwei vollkommen voneinander getrennte ontologische Zonen: die der Vernunft einerseits und die des Wahnsinns andererseits. 12 Der Wahnsinn steht damit unter dem »Regime der strafenden Vernunft«. 13 Doch was macht den Wahnsinn so gefährlich, dass man ihn exkludieren und unter Beobachtung stellen muss? Welche Sprache ist es, die negiert oder zumindest kontrolliert werden muss? Es ist jene Dynamik des Wahnsinns, die sich der Unterwerfung unter die Sprache und Praxis der Vernunft sowie ihrer Objektivierung verweigert 14 , indem sich in ihr die »reinst[e] Subjektivität und radikalst[e] Freiheit« 15 , die sich den Zwängen der Vernunft, den Gesetzen der Sprache und dem Gefängnis der Moral entzieht, spiegelt. Der Wahnsinn »provoziert [damit] eine Zerrissenheit ohne Versöhnung, durch die die Welt gezwungen ist, sich in Frage zu stellen.« 16 Bedrohend zeigt sich für die aufgeklärte Welt in jedem Irren die totale Sinnlosigkeit, die jedoch paradoxerweise erst Vernunft und Sinn produziert. SpenEbd. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, 239. 9 Sarasin: Foucault zur Einführung, 24. 10 Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, 204 ff. 11 Vgl. Henning Schmidgen: Bruno Latour. Zur Einführung. Hamburg 2011, 145. 12 Vgl. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Berlin 1995, 19. 13 Sarasin: Foucault zur Einführung, 20. 14 Ebd., 29. Die Vernunft lässt den Wahnsinn nur in ihren Reihen (Asyl, Psychiatrie) sprechen, und selbst dort ist es ein Akt der Gewalt, der den Wahnsinn aus dem verordneten Schweigen zum Reden bringt (vgl. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, 405; 413). 15 Ebd., 38. 16 Foucault: Der anthropologische Zirkel. Berlin 2003, 66. 7 8
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cer-Browns Diktum »draw a distinction« ist auch hier maßgebend 17 , da die Trennung, die Grenze, der Bruch zum Motor der differenzierten Beschreibung bzw. Codierung wird: hier die Vernunft, dort der Wahnsinn, hier der Normale, dort der Irre. In diesem Sinne geht es auch bei Foucaults Betrachtung des Wahnsinns um eine Grenzlinie der abendländischen Kultur 18 , die eine Struktur »der sozialen Trennung, […] der Ausschließung« aufzeigt. 19 Aus den genannten Gründen der Subversion sowie der Transgression ist die Ratio bedacht darauf ihrem Gegenpart keine Stimme zu geben, ihn wegzusperren, bis sie ihn normalisierend als Untersuchungsobjekt wieder in sich aufnehmen kann. 20 Den einzigen Ausweg und das einzige Exil des Wahnsinns bietet der Ort bzw. NichtOrt der Literatur. 21 Die Problematisierungsfelder, die objektiviert und George Spencer-Brown: Laws of Form. London 1969, 1. Vgl. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, 9–10. Nach Foucault ist seit dem 17. Jahrhundert der Wahnsinn nur noch in einer Internierung möglich, dort ist sein begrenzter Raum (ebd., 71). 19 Foucault: Schriften in vier Bänden, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a. M. 2001–2005, Bd. 1, 235. 20 Heideggers Aussage abändernd kann man auch für die Wissenschaft sagen, dass sie nicht lache (vgl. Martin Heidegger: Was heißt Denken? 4. Aufl. Tübingen 1984, 4). Als Wissenschaft behält sie stets die Beobachterposition, so kann es zwar eine (das zeigen die philosophisch-soziologischen Beiträge in dieser Untersuchung deutlich) Wissenschaft des Lachens, jedoch keine lachende Wissenschaft geben, da diese sich selbst aufheben würde. 21 Vgl. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, 49, 164, 536. Nach Foucault bieten eben jene Dichter wie Hölderlin, Nietzsche oder Artaud Fluchtpunkte an. Siehe dazu auch Foucault: Ordnung der Dinge, 76, 82. Vgl. besonders Antonin Artaud: Das Theater und die Grausamkeit/Das Theater der Grausamkeit (Erstes Manifest). In: Ders.: Das Theater und sein Double (Werke in Einzelausgaben, Bd. 8), übers. von Gerd Henninger. München 1996, 89–109. Theater muss sich nach Artaud zum Extremsten hin erneuern (vgl. ebd., 90). Artaud strebt eine gänzlich neue »Mobilisierung von Gegenständen, Gebärden und Zeichen« an (ebd., 92). Es geht ihm nicht mehr um Verstehen oder Kommunikation, sondern um die Bildkraft dieser Zeichen. Bei Artaud wird damit ein Schauspiel vorgestellt, welches die »nervlich[e] Sensibilität« ausreizt und bis an die Grenzen geht (ebd., 92), wobei gerade der Bezug zur Gebärde zentral ist (ebd., 95 ff.). Diese Gebärde ist eine »Sprache im Raum«, eine Sprache aus »Klängen«, »Schreien«, »Lichtern«, und »onomatopoetische[n] Laute[n]« (ebd., 96). Theater soll somit eine »Metaphysik des Wortes, der Gebärde, des Ausdrucks« schaffen (ebd., 96). Auch Artaud spricht in diesem Kontext von einem »Zerstörungs-Humor«, der sich durch das Lachen die Gepflogenheiten der Vernunft aneignet (ebd., 97). Theater als Entgrenzung wird zum »Lyrismus der Gebärde« (ebd., 97) und wirkt damit funktional auf Körperfunktionen ein (ebd., 98). Theater soll die innere Welt des Menschen (Geist/Hirn/gedachte Realität) in Frage stellen. Die Sprache der Bühne steht demnach 17 18
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interniert werden, werden zugleich auch ästhetisiert. Die genannten Parameter sollte man nun bei der Betrachtung des Lachens im Auge haben, denn schon Foucault denkt den Wahnsinn und das Lachen in ihrer Wechselbeziehung zusammen, wenn er schreibt, dass »Drohung und Verlachen, schwindelerregende Unvernunft der Welt und unbedeutende Lächerlichkeit des Menschen« im Mittelalter und in der Renaissance vernehmbar waren. 22 Ähnlich wie der Wahnsinn ist auch das Lachen Subversion sowie Transgression und damit im höchsten Grade normalisierungsresistent.
II.2 Wahnsinniges Lachen als normresistentes Phänomen Das Lachen teilt das Schicksal des Wahns, da auch das Lachen als unkontrollierbarer Ausbruch von der Vernunft zensiert wird. Permanente Gefahr droht, wenn das subversive Lachen die »überlästige Hofmeisterin Vernunft« ihrer »Unzugänglichkeit« überführt 23 , und allzu schnell offenbaren sich auf zynische Weise Grenzen und Schwächen dieser ›ernsten‹ Vernunft. Die Geschichte bringt hierbei immer wieder Diskursfelder des Lachens hervor, zu denen Denker sich äußerten und oft nicht gerade zustimmend Stellung bezogen haben. Nur exemplarisch soll an einigen kontingenten Beispielen die Kontextualisierung dieses außer-ordentlichen Phänomens aufgezeigt werden. Hierbei wird eine konträre Ansicht zu Richerts Deutung des Lachens herangezogen, da der Theologe Richert das radikal subverdem Traum nahe und ist nicht durch die Vernunft gebunden (ebd., 100). Die Entgrenzung der Sprache und des Leibes durch »beschwörende Gesten, emotionale und willkürliche Haltungen, rasendes Stampfen von Rhythmen und Lauten« (ebd., 101) wird durch die »Ohnmachten des Wortes« ausgedrückt. Dem Theater soll das »konvulsivisch[e] Leben« zurückgegeben werden (ebd.). 22 Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, 31. Zu den epistemischen Ordnungen des 16. Jahrhunderts siehe Beate Kellner/Jan-Dirk Müller/Peter Strohschneider (Hgg.): Erzählen und Episteme. Literatur im 16. Jahrhundert. Berlin/New York 2011, besonders Rainer Werning: Konterdiskursivität bei Rabelais, 21–41. Die zentrale Frage ist, wo sich Lachen und Wahnsinn trennen. Wird der Wahnsinn wirklich ab dem 17. Jahrhundert interniert und das subversive Lachen domestiziert? Um diese Frage zu beantworten, müsste eine größer angelegte Studie präskriptive, pädagogische wie medizinische und theologische Texte erarbeiten. 23 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2. Stuttgart 1987, 128, abgedruckt in: Helmut Bachmaier (Hrsg.): Texte zur Theorie der Komik. Stuttgart 2005, 46. »Fröhliche Wissenschaft«
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sive Lachen meines Erachtens nach zu einseitig als »schönwendiges Lachen« (begründet bei Aristoteles: εὐτραπελία, die »Wohl-Gewandtheit« 24 ) zu entschärfen versucht. Das Lachen solle eben keine Waffe mehr, sondern nur noch Adjektiv der Vernunft sein. Besänftigend spricht Richert von einer »lachenden Vernunft« 25 , wobei der Autor das gebildete Lachen, das weder Hohn noch Torheit und sicherlich keine Unvernunft in sich trägt, im Blick hat. Lachen unterstütze damit die Vernunft, und verbinde zu einem sozialen und friedvollem Zusammenleben. 26 Dieses vernünftige Lachen entzieht bei genauem Hinsehen nicht nur dem Lachen seine Sprengkraft, sondern verschweigt schlicht auch jenes Potential, welches eben das andere, subversive Lachen, welches dem Wahnsinn so nahe steht, birgt. Richert schreibt mit seiner Betrachtung des schönwendigen Lachens (der Vernunft) an der Norm fort, und gibt gerade dem Problematisierungsfeld »Lachen« und seiner Fremdbeobachtung im Zuge eines Machtdiskurses zu wenig Raum. Daher soll im Folgenden auf andere Weise an das Gebiet des Lachens herangegangen werden: Entwirft man zunächst schematisch eine Typologie des Lachens, wird deutlich, wie stark die Überschneidungen zum Wahnsinn sind. Drei Aspekte sind dabei genauer zu betrachten: die Subversion der Religion und der Politik sowie die Irritation des Leibes. Schaut man zuerst auf den religiösen Aspekt, so wird deutlich, dass das Lachen häufig in der Moderne als Resultat eines Einblicks in die Welt gedeutet wird, die entweder nun von Gott befreit keinen Sinn mehr hat, oder als Erkenntnis des Nihilismus und seiner lachenden Bejahung sowie der menschlich-antiautoritären Hybris klar antigöttlich konnotiert ist. In diesem Sinne erkennt Jean Paul, dass »der Erbfeind des Erhabenen […] das Lächerliche [ist] […].« 27 Damit hat das verabsolutierte Lachen, welches »unweigerlich einen gewissen Hochmut« ausdrückt, so plädiert Baudelaire in radikalerer Weise, »unverkennbar satanische Merkmale«. 28 Doch dieser satanische 24 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik IV. 14, 1128a. Dazu auch Peter Kuhlmann in dem vorliegenden Band. 25 Friedemann Richert: Kleine Geistesgeschichte des Lachens. Darmstadt 2011, 2.te Auflage, 157. 26 Ebd., 158. 27 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. In: Ders.: Werke, Bd. 5. München 1973, hrsg. von Norbert Müller, 105–115, abgedruckt in: Bachmaier (Hrsg.): Theorie der Komik, 29–33, hier: 29. Nach Jean Paul wäre ein »komisches Heldenepos« ein Widerspruch. 28 Charles Baudelaire: Vom Wesen des Lachens. In: Friedhelm Kemp/Claude Pichois
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Hochmut scheint wiederum zutiefst menschlich zu sein. 29 Gebündelt zeigt sich die religiöse Sinnlosigkeit in Sartres Stück Geschlossene Gesellschaft, in dem die Protagonisten nicht zufällig am entferntesten Ort Gottes, der Hölle, nach der deprimierenden Einsicht, dass die Hölle die anderen sind, in wahnsinniges Lachen ausbrechen. Eine sinnlose Ewigkeit mit dem gleichen Personal entlockt Estelle und Garcin nur noch Lachen und Wahn: »Estelle (lacht schallend): Für immer, mein Gott, ist das komisch! Für immer! / Garcin: (sieht beide an und lacht): Für immer!« 30 Das Lachen ist damit nicht nur in seinem Nihilismus gottlos, sondern, das deutet Baudelaire schon an, gerade in seiner Hybris. Der Mensch lacht über den nicht mehr zum Lachen fähigen Gott. Eine Weisheit, die vielleicht keiner so zynisch einkleidet wie Goethes Mephisto, wenn er zu Gott sagt: »Verzeih, ich kann nicht hohe Worte machen, / Und wenn mich auch der ganze Kreis verhöhnt; / Mein Pathos brächte dich gewiß zum Lachen, / Hättest du dir nicht das Lachen abgewöhnt.« 31 Vielleicht lachen die Engel über Mephisto, dieser aber lacht dafür über die eigentlich unanfechtbare religiöse Autorität. Lachen agiert dabei diabolisch, weil es in den gewohnten ontologischen und erkenntnistheoretischen Sortierungen nicht zu fassen ist. 32 Schaut man nach dem Gesagten in einem zweiten Schritt auf die Subversion der Politik, so erscheint der Mensch als irrationales Wesen, das in seinem Lachen die Sprengkraft birgt soziale Normen zu irritieren und nivellieren. Der Staatstheoretiker Thomas Hobbes rückt hierbei den politischen Aspekt des Lachens als »sudden glory« (»plötzlicher Triumpf« auch über andere Personen) in den Mittel(Hgg.): Charles Baudelaire. Sämtliche Werke / Briefe, Bd. 1. München 1977, 284– 305, hier: 290, abgedruckt in: Bachmaier (Hrsg.): Theorie der Komik, 67. Das Satanische zeigt sich besonders in dem Aspekt der eigenen »Überlegenheit« (ebd.). Siehe zur genauen Betrachtung Baudelaires den Beitrag von Felix Hüttemann im vorliegenden Band. 29 Ebd., 70: »[…], da das Lachen durchaus von Grund aus menschlich ist, ist es auch von Grund auf widersprüchlich, insofern es zugleich Anzeichen einer unendlichen Größe und eines unendlichen Elends ist, […].« 30 Jean-Paul Sartre: Geschlossene Gesellschaft. Reinbek 1986, 59. 31 Johann Wolfgang von Goethe: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 3 hrsg. von Erich Trunz. Hamburg 1988, 12. 32 Vgl. Käte Meyer-Drawe: Menschen im Spiegel ihrer Maschinen. München 1996 [Übergange. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt], 183. Dichotomien wie Subjekt/Objekt, Ratio/Irratio und Sprache/Handlung verlieren ihre feste Positionalität. »Fröhliche Wissenschaft«
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punkt: »Wer glaubt durch Wort und Tat sich vor anderen ausgezeichnet zu haben, der neigt zum Lachen.« 33 Damit liegt »die Gewalt des Gelächters […] in dem Lachenden und keineswegs in dem, worüber gelacht wird.« 34 Bei dieser »Gewalt des Gelächters« geht es, das darf nicht übersehen werden, auch um ein Machtverhältnis, welches eine Vertikalspannung nicht nur gegen den Verlachten, sondern gerade auch gegen Obrigkeiten wie Religion und Politik aufweist. Damit wird eine Machtausübung praktiziert, die sich gegen die »objektivierende Vergegenständlichung« ausspricht, 35 da der Mensch im Lachen bei sich ist. Er ist auf zweierlei Weise ›Subjekt‹ : Zum einen ist er nur bei sich und kann Autoritäten verlachen, zum anderen ist er aber auch Unterworfener, da sein Leib ihn regiert. 36 Auf diese subjektive Machtumkehrung geht auch Hegel in seiner Ästhetik ein, und markiert damit den Bezug zur Kunst. Im Lachen setzt sich demzufolge für Hegel das Subjektive über alle Widrigkeiten der entgegenstehenden Welt hinweg; mag es objektiv noch so schlecht stehen, lachend vergewissert sich der Mensch seiner Superiorität. 37 Das Subjekt erhebt sich in diesem Akt mit der absoluten Freiheit des Geistes über alle wesentlichen Zwecke und Normen. Im gleichen Sinne argumentiert auch der Junghegelianer Vischer, der dem lachenden Subjekt eine »absolute Freiheit und Frechheit« zuspricht. 38 Diese Autonomie kennt nur sich als Gesetz und kein Äußeres. Es »kennt […] kein po-
33 Thomas Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger. Eingeleitet und herausgegen von Günter Gawlick. Hamburg 1959, 33 f., abgedruckt in: Bachmaier (Hrsg.): Theorie der Komik, 16–17, hier 16. 34 Baudelaire: Vom Wesen des Lachens, 70. 35 Foucault: Überwachen und Strafen. Frankfurt a. M. 2008, 238. Dazu auch Christoph Menke: Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz. In: Alex Honneth/Martin Saar (Hgg.): Michael Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Frankfurt a. M. 2003, 283–299, hier: 284. 36 Vgl. Käte Meyer-Drawe: Sich fallen lassen: Lachen und Weinen. In: Journal Phänomenologie 39 (2013), 17–22. 37 Vgl. Gerhard Plumpe: Ästhetische Kommunikation. Opladen 1995, Bd. 1, 342, sowie Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesung über die Ästhetik. Dritter Teil: Die Poesie. Stuttgart 1971, 312 f. Zur genauen Betrachtung Hegels siehe Niklas Hebing im vorliegenden Band. 38 Friedrich Theodor Vischer: Über das Erhabene und Komische – und andere Texte zur Ästhetik. Frankfurt a. M. 1967, 182, abgedruckt in: Bachmaier (Hrsg.): Theorie der Komik, 57. Zur problematischen Lage des verabsolutierten Lachens siehe auch Alexander Jaklitsch im vorliegenden Band.
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sitives Resultat, [und] will nur den Widerspruch.« 39 Damit ist, so Vischers Konklusion, das »rechte Lachen […] dialektisch.« 40 Gerade dieser Widerspruch im Lachen, der die Vernunft genauso herausfordert wie der Wahnsinn, ist charakteristisch für das Leben selbst. »Denn überall wo Leben ist, ist Widerspruch, und wo Widerspruch ist, ist das Komische anwesend.« 41 Nimmt man diesen Ausspruch Kierkegaards auf, so muss man ergänzen, dass das Leben stets leiblich grundiert ist. Mit dem dritten Aspekt der leiblichen Irritation, rückt das Lachen nochmals näher zum Wahnsinn, der nicht nur den Geist, sondern eben auch den ganzen Körper ergreift. 42 Die Kontrolle, die das Individuum gewöhnlich über seinen Körper hat, bricht zusammen, wenn gelacht wird. In dieser Leiblichkeit des Lachens scheinen nun zwei Ansätze produktiv zu sein: Plessners anthropologische und Canettis eher soziologische Ansicht. Beide sollen kurz erläutert werden. Da es kognitive Eigenschaften braucht, gleichzeitig Körper und Geist betreffend, sieht Plessner in dem Lachen eine Abgrenzung zum zentrierten Tier, welches nicht in Distanz zu sich treten kann. Der lachende Mensch erfährt Kontrollverlust und so ein »Grenzlager« 43 , folglich eine Zerstörung der Balance. Was Lachen betrifft, handelt es sich nach Plessner um »Reaktionen auf Grenzen, an welche unser Verhalten stößt.« 44 Die Ordnung, die unser Verhalten bestimmt, er-
Ebd. Im gleichen Sinne geht auch für Friedrich Georg Jünger »[a]lles Komische […] aus einem Konflikt hervor« (Friedrich Georg Jünger: Über das Komische. Frankfurt a. M. 1948, 13–25, abgedruckt in: Bachmaier (Hrsg.): Theorie der Komik, 104–105, hier: 104). 40 Ebd. 58. Die Komik ist damit die »negative Seite der Hegelschen Methode«, da sie zwar »nichts fix und absolut werden [läßt]«, und jeden Satz mit seinem Gegensatz ergänzt, jedoch das »positive Resultat« weglässt. Es fehlt die Konklusion und Synthese (ebd.). 41 Sören Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu philosophischen Brocken. Düsseldorf/Köln 1957–1958 abgedruckt in: Bachmaier (Hg.): Theorie der Komik, 62. 42 Lachen ist ein physiologischer Prozess und ein Ausdruckshandeln einer anthropologischen Konstante. Somit ist es ein reflexartiger Vorgang, der vom »Stammhirn« (Thalamus/Hypothalamus) kontrolliert wird, welches nur emotionale und keine kognitiven Verhaltensweisen bedient. 43 Helmuth Plessner: Elemente menschlichen Verhaltens. Frankfurt a. M. 1961, 57. Zur genauen Analyse Plessners Theorie siehe Hans-Ulrich Lessing im vorliegenden Band. 44 Ebd., 80. 39
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weist sich als begrenzt 45 , somit geschieht bei der Vokalisation von Lachen und Weinen, die sich stark auf Atmung und Muskulatur auswirkt, dem Menschen ein Bruch seiner Selbstbeherrschung. 46 »Ich lache« wird inhaltlich zu einem sinnlosen Satz, da es keine ego-rationale Entscheidung ist, die hier lacht: Der Leib lacht. 47 Trotz dieser Unwillkürlichkeit und Unbeherrschbarkeit des Lachens, wird der Leib nicht zum Kerker, sondern zum Motor der Emanzipation, auch wenn Ich-Verlust die Folge ist. Genauso wie das cartesianische cogito den Wahnsinn ausschließt, verschließt es sich auch dem Leiblichen, Irrationalen und damit dem Lachen, in dem weder ego noch cogitore einen autoritären Platz finden. Lachen kann demnach als ein »KippPhänomen« beschrieben werden, welches ein »Zusammenbrechen« dichotomer Positionen hervorruft. 48 Mit Blick auf das Gesagte sollte deutlich geworden sein, dass sich auf dieser »wechselseitigen Negation« 49 keine stabile rationale Ordnung errichten lässt. Lachen als außer-ordentliches Phänomen ist dabei nicht nur politisch und theologisch codiert, es bildet, wie Plessner und auch Iser herausgearbeitet haben, auch eine »Krisenantwort des Körpers«. 50 Als Kompensation und damit weniger anthropologisch als mehr soziologisch deutet es Canetti, der im Lachen der Hyäne mit aufgerissenem Mund und gefletschten Zähnen den Beuteverlust erkennen will. Lachen ist für Canetti furchterregend, da es den Menschen als Tier zeigt: Packen und Fressen. Der gewaltsame Sturz des Menschen
Ebd., 81–82, sowie 84. Ebd., 83. Hans-Peter Krüger: Zwischen Lachen und Weinen. Das Spektrum menschlicher Phänomene. Berlin 1999, 158: »Lachen und Weinen beruht auf den einander entgegengesetzten Richtungen, in denen der Mensch in dieser Grenzlage gerät. […] Lachen kann man wie eine Verlagerung des Verhaltenszentrums nach außen verstehen, die fortreißt und durch keine innere Verhaltenszentrierung mehr ausbalanciert werden kann. […] In der Anschauung des Lachens fliegt gleichsam der Körper dem Leib nach außen davon.« 47 Vgl. Meyer-Drawe: Menschen im Spiegel ihrer Maschinen, 181. 48 Wolfgang Iser: Das Komische: Ein Kipp-Phänomen. In: Wolfgang Preisendanz/ Rainer Warning (Hgg.): Das Komische. München 1976 [Poetik und Hermeneutik], 398–402, hier: 399. 49 Ebd. 50 Ebd. Das »Kollabieren« schreibt sich in den Menschen ein und wird verkörpert. »In der Mobilisierung des körperlichen Verhaltens zeigt sich zugleich die Krisenhaftigkeit der ungewohnten Situation an.« 45 46
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ist klassischer Anlass zum Lachen, da sich das Tier im Menschen noch auf die gestürzte Beute werfen will: »Das Lachen ist als vulgär beanstandet worden, weil man dabei den Mund weit öffnet und die Zähne entblößt. Gewiß enthält das Lachen in seinem Ursprung die Freude an einer Beute oder Speise, die einem als sicher erscheint. Ein Mensch, der fällt, erinnert an ein Tier, auf das man aus war und das man selber zu Fall gebracht hat. Jeder Sturz, der Lachen erregt, erinnert an die Hilflosigkeit des Gestürzten; man könnte es, wenn man wollte, als Beute behandeln. Man würde nicht lachen, wenn man in der Reihe der geschilderten Vorgänge weitergehen und sich’s wirklich einverleiben würde. Man lacht, anstatt es zu essen. Die entgangene Speise ist es, die zum Lachen reizt; das Gefühl der plötzlichen Überlegenheit wie schon Hobbes gesagt hat. Doch hat er nicht hinzugefügt, daß sich dieses Gefühl nur dann zum Lachen steigert, wenn die Folge dieser Überlegenheit ausbleibt.« 51
Da Canetti im Lachen den Ursprung der Freude an einer Beute oder Speise, die einem als sicher erscheint, sieht, ist das Lachen auch hier, wie schon bei Sartre, eine Kompensation des Scheiterns. Tiefer als Plessner dringt Canetti in das Animalisch-Irrationale und auch Grausame des Lachens ein, und geht mit Baudelaire konform, der das Lachen des Menschen als einen »Biß« beschrieb. 52 Der Mensch zeigt sich im Lachen deutlich als animal irrationale. 53 In der Literatur wird gerade dieses Mimisch-groteske, welches Plessners Kontrollverlust und Canettis nihilistische Kompensation des aufgerissenen Maules zeigt, eindrucksvoll verarbeitet. Radikal offenbart sich dieser leibliche Ausbruch der Obszönität und Brutalität bis hin zum Rauschhaft-Dionysischen bei Bataille 54 , einem Dichter, der sich selbst als »Philosoph des Gelächters« 55 bezeichnet und in seinen Texten Transgression bis zum Äußersten bejahend propagiert. Elias Canetti: Masse und Macht, Bd. 1. München/Wien 1979, 248. Hierzu auch Manfred Schneider: Ahnen des Gelächters. Canettis Exorzismus des Komischen. In: Gerald Stieg/Jean-Marie Valentin (Hgg.): Ein Dichter braucht Ahnen. Elias Canetti und die europäische Tradition. Akten des Pariser Symposiums, 16.–18. November 1995. Bern 1997, 49–60, und Peter Friedrich im vorliegenden Band. 52 Baudelaire: Vom Wesen des Lachens, 67, 70. 53 Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, 143. 54 Gerade hier wäre eine Nietzscherezeption des Rausches und Dionysischen (Aufgehen in der Masse, totale Entdifferenzierung) angebracht, da auch Nietzsche die Unvernunft in Verbindung zur Dionysosgestalt sieht. Zu Nietzsches Lachen siehe Linda Simonis Artikel im vorliegenden Band. 55 Georg Bataille: Der heilige Eros. Mit einem Entwurf zu einem Schlußkapitel, über51
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In Batailles Theorie und seiner (literarischen) Praxis verbinden sich das Lachen immer wieder mit Formen der Transgression: »Das Lachen ist nicht ehrfurchtsvoll – es ist ein Zeichen des Schreckens. Das Lachen ist die Kompromißhaltung, die der Mensch gegenüber dem einnimmt, was ihn abstößt, wenn dieses ihm nicht mehr ernst erscheint.« 56 Diese Aussage wird an einem literarischen Beispiel eindrucksvoller deutlich: »Hinter mir lagen, in wildem Durcheinander, schmutzige nackte Körper auf dem Boden. Zwei von uns hatten sich an Glassplittern geschnitten und bluteten; ein Mädchen erbrach sich; wir waren von einem so gewaltsamen, unbändigen Lachen geschüttelt worden, daß der eine seine Kleidung, der andere einen Sessel oder die Dielen bepißt hatte.« 57 Obwohl Batailles Schilderungen eine Nähe zu Canettis animalischen Ausbrüchen sowie Plessners »Exzentrizität« aufweisen, gehen sie doch über beide hinaus und brechen selbst noch mit diesen Grenzen. 58 Im klaren Bruch zu Richerts vernünftigem Lachen scheinen hier Grausamkeit, Wahn und Lachen eine Trinität zu bilden, die sich gegen die traditionell-christliche Dreifaltigkeit wendet und diese verlacht. 59 Das Lachen überkommt den Menschen, ergreift und überwältigt ihn; es schüttelt seinen ganzen Körper: »Ich bin eigentlich nur das Lachen, das mich ergreift.« 60 In der ›lustvollen‹ Literatur Batailles kommt ein Lachen zum Vorschein, das »den Gegensatz von Lust und Schmerz betont […] [und] auch ihre tiefe Verwandtschaft [enthüllt].« 61 Für Bataille ist es das Lachen, setzt von Max Hölzer. Darmstadt/Neuwied 1979, 272. Für die Anregungen hierzu danke ich Markus Tillmann. 56 Ders.: Madame Edwarda. In: Ders.: Das Obszöne Werk, 55–78, hier 57. 57 Ders.: Die Geschichte des Auges. In: Ders.: Das Obszöne Werk. Hamburg 2012. 22. Aufl., übersetzt von Marion Luckow, 5–54, hier 13. Dazu Andreas Hetzel/Peter Wiechens (Hgg.): Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung. Würzburg 1999, bes. der Beitrag von Helga Finter: Poesie, Komödie, Tragödie und die Masken des Unmöglichen. Georges Bataille und das Theater des Buches, 259–275. 58 Die Literatur übernimmt Wirklichkeitserfahrung, da auch in dem Roman die wahnsinnig-lachende Hauptakteurin weggeschlossen wird und ihre Stimme verliert. Aber anders als in einer normierenden Disziplinargesellschaft bekommt sie immerhin die Autorität der Narration zugesprochen (vgl. Bataille: Die Geschichte des Auges, 16, 28–30). 59 Ebd., 15. Es ist die »Freude daran, die Grenzen zu überschreiten« (ebd., 27). Die logische Konsequenz ist, nach einem grotesk-perversen Akt in einer Kirche mit einem Priester, der am Ende zu Tode gewürgt wird, dass die beiden Hauptakteure, ein Junge und ein Mädchen, »in Lachen ausbrachen« (Bataille: Die Geschichte des Auges, 45). 60 Ders.: Die Freundschaft. Das Halleluja. München 2002, 157. 61 Ders.: Madame Edwarda, 57.
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welches am Ende »eine Art entehrend[e] Verdammung rechtfertigt.« 62 In diesem Sinne plädiert der Dichter für einen Willen zur Überschreitung, der ein »vollständige[s] Lachen«, das nicht mehr vor unserem Abscheu oder unserer Abstoßung haltmacht, heraufbeschwört. 63 Dieses Lachen, welches den Menschen »erleuchtet« 64 und damit eine neue andere Art der Erkenntnis ermöglicht, scheint zu einer neuen Religion geworden zu sein, zu einer Offenbarung, die nicht mehr be- sondern radikal entgrenzen will. Bei Bataille kündigt sich grotesk an, dass Lachen nicht nur medizinisch der Manie zugeordnet ist 65 , sondern auch bzw. gerade von seinen Fremdzuschreibungen her auf jene Felder verweist, die in der normierenden, normalisierenden und pathologisierenden Moderne Beachtung finden. Baudelaire nimmt auf dieses Netzwerk eines Wahnsinnslachens Bezug und stellt so fest, dass »das Lachen gemeinhin der Anteil der Narren ist, und das es stets mehr oder minder Unwissenheit und Schwachheit voraussetzt.« 66 Baudelaire diagnostiziert weiter: »Man beachte, dass das Lachen eine der häufigsten und zahlreichsten Äußerungen des Wahnsinn ist.« 67 Damit wird Lachen zum »Symptom« sowie zur »Diagnose«. 68 Der Arzt Büchner erkennt diese Bilateralität und setzt mit seinem Lenz der Verbindung von Lachen und Wahnsinn ein literarisches Denkmal: »Und dann bekam er [Lenz, K. L.] plötzlich eine Stärke und erhob sich kalt und gleichgültig; seine Tränen waren ihm dann wie Eis, er mußte lachen. Je höher er sich aufriß, desto tiefer stürzte er hinunter. Alles strömte wieder zusammen. Ahnungen von seinem alten Zustande durchzuckten ihn und warfen Streiflichter […]. Lenz mußte laut lachen, und mit dem Lachen griff
Ebd., 58. Ebd., 59. 64 Ebd., 62. Vgl. die paradoxe Verbindung von Tod, Schrecken und Lachen (ebd., 71). 65 Das krankhafte Lachen spiegelt sich im Sardonischen Lachen wieder, welches reine expressive Körperreaktion ist. Dieses »krampfhaft[e], mit Gesichtsverzerrungen verbunden[e] Lachen, von den Alten nach einem auf Sardinien wachsenden giftigen Kraut (Sardonia herba) benannt, dessen Genuß den Mund wie zum Lachen verzieht« ist keine soziale Geste mehr (Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon, 5. Auflage, Band 2. Leipzig 1911, 611). Zur Körperreaktion des Lachens siehe auch Lenz Prüttings Text in diesem Band, besonders zur Krise der Personalität. Zur Manie als Form der bipolaren Störung siehe Volker Faust: Manie. Eine allgemeine Einführung in die Diagnose, Therapie und Prophylaxe der krankhaften Hochstimmung. Stuttgart 1997. 66 Baudelaire: Das Wesen des Lachens, 66. 67 Ebd., 68. 68 Ebd., 71. 62 63
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der Atheismus in ihn und faßte ihn ganz sicher und ruhig und fest. […] Am folgenden Tag befiel ihn ein großes Grauen vor seinem gestrigen Zustand. Er stand nun am Abgrund, wo eine wahnsinnige Lust ihn trieb, immer wieder hineinzuschauen und sich diese Qual zu wiederholen.« 69
Lachen ist, so lässt sich zusammenfassen, zwar eine anthropologische Konstante, gleichzeitig aber in seiner Radikalität auch Symptom des Wahns. Trotz der zahlreichen Parameter, die sich Lachen und Wahnsinn teilen, und aufzeigen, dass Lachen qualitativ nicht unterschieden ist vom Wahnsinn, würden die meisten dennoch zögern, beide schlicht gleichzusetzen. Nicht jeder, der lacht, wird interniert. 70 Die Verbindung von Wahnsinn und Lachen, von der Foucault ab dem Spätmittelalter und der Renaissance ausging, scheint für uns nur noch bedingt nachvollziehbar zu sein. Vielleicht weil wir, wie Richert ungewollt zeigt, Lachen – in Differenz zum medizinisch eingekreisten Wahnsinn – als nicht mehr revolutionär oder antiautoritär erfahren. 71 Kann man diesem Argument folgend annehmen, dass wir das Lachen mit auto- sowie heteronomen Techniken domestiziert haben? Wie Foucault über den Arzt sagt, dass er zwar den eingekreisten Wahnsinn »bezähmen« aber nicht kennen kann 72 , so scheint es, als wären auch wir durch die Disziplinargesellschaft unsere eigenen Zähmer geworden. Das Lachen kann, weil es eine anthropologische Konstante ist, zwar nicht gänzlich weggeschlossen werden, doch seine Kraft und Dynamik durch innere und äußere Domestikation einbüßen. Eine Zähmung, die umso subtiler ist, da sie oft analog zu einer vernünftigen Sozialisierung läuft. Eine gänzliche Unterbindung und Separierung des Lachens vom Wahnsinn, das zeigen die angeführten Beispiele, scheint jedoch aussichtslos. Zu Recht stellt sich die Frage, was die vorgestellte Argumentation – abgesehen vom exemplarisch didaktischen Charakter – mit LiGeorg Büchner: Werke und Briefe. München 1988, 149, 151. Die Trennung von Lachen und Wahnsinn gründet sich darauf, dass beide auf verschiedenen ontologischen Ebenen agieren. Während Wahnsinn eher generell ein Zustand/Status ist, bleibt Lachen eine Instanziierung, ein Symptom und Ausdruck, somit etwas, das in einzelnen Akten geschieht, aber generell kein allgemeines ›Mindset‹ beschreibt. 71 Das Lachen scheint mit der Stand-Up-Comedy in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein, jedoch ist dieses ein Lachen in festgelegten und damit auch wieder geordneten Räumen der Domestikation. 72 Vgl. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, 530. 69 70
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teratur zu tun hat. Daher soll im letzten Teil der Untersuchung für eine Exilstellung der Literatur und die darin beinhaltende Anschlussfähigkeit plädiert werden.
III. Literarisches Asyl III.1 Lachende Entropie und systemtheoretische Voraussetzungen Betrachtet man die kommunikative Ebene, so stellt sich die Frage, wie sehr das Lachen, welches sich explosiv laut sowie körperlich gegen das rigoros-vernünftige Debattieren auflehnt, auch die Sprache selbst zum Kollabieren bringt. 73 Vollzieht das Lachen damit die Zunahme an Entropie der modernen Gesellschaft? Kommunikationsverlust, Sinnverlust, und Deutungsverlust könnten ihre Wurzeln in einem mad laughter haben. Oder ist das Lachen gerade keine zensierende, sondern eine produktive Macht, die durch radikale Expression Anschlussfähigkeit ermöglicht, eben weil ver- und mitgelacht werden darf (bspw. in der Komödie). Der Lachende wie der Wahnsinnige kann sich, so die These im Folgenden, nicht verständlich artikulieren. Er ist im doppelten Sinn sprachlos: zum einen, weil er nicht über sich selbst sprechen kann, da jede Beobachtungsposition von der vernünftigen Sprache eingenommen und codiert wird, zum anderen, weil er eben ganz Leib ist, wenn er lacht, und nicht Geist. Mit Levi-Strauss gesprochen hängt unsere soziale Titulierung von »Mensch« und »Gemeinschaft« eng mit dem zusammen, was wir »Sprache« nennen: »Wer Mensch sagt, sagt Sprache; und wer Sprache sagt, sagt Gemeinschaft.« 74 Bricht diese anthropologische Kausalkette jedoch an einem Glied auseinander, gibt es (nicht nur) Kommunikationsprobleme. Der Lachende kann keine logisch-reflektierte Syntax begründen, da jede Ordnung (auch die Symbolische der Sprache) auf einem Vernunftsystem gründet. Die Syntax ist jedoch notwendig für eine Semantik (Sinn) in der Kommunikation. Im Lachen wird die Partitur des Dialoges gestört und es scheint befremdEin herrschaftsfreier Diskurs ist mit dem Lachenden nicht möglich, da dieser zwar frei ist, aber in seiner radikalen Subjektivität alle anderen Positionen verlacht und dadurch Herrschaft konstatiert. 74 Claude Levi-Strauss: Traurige Tropen. Frankfurt a. M. 1985, 385, siehe dafür auch Stefan Münker/Alexander Roesler: Poststrukturalismus. Stuttgart/Weimar 2012, 2.te aktualisierte und erweiterte Auflage, 8. 73
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lich für uns Rational-Erzogene. 75 Luhmann folgend kann man sagen, dass der Witz »jede weitere Kommunikation [abschneidet]«, da er »die Form einer Paradoxie wählt.« 76 Gegen diesen Witz steht nach Luhmann – ähnlich wie bei Foucault – »das professionelle Gebaren des Therapeuten«. 77 Kommunikation (lat. Communicatio: Mitteilung) als Verbindung, Zusammenhang oder Verständigung (zwischen Menschen), ist stets wechselseitig zu denken, da ein Kreislauf zwischen mindestens zwei Partnern, die aktiv am Prozess beteiligt sind, stattfindet. Information ist das, was, »um übertragen werden zu können, oberhalb des Niveaus der Phänomene des reinen Zufalls wie dem weißen Rauschen […] liegen muss.« 78 Kommunikation ist damit (nach Shannon/Weaver) »das Entgegennehmen einer Nachricht von einem Sender, der den gleichen Zeichensatz zur Informationsübertragung benutzt, wie der Empfänger«. 79 Für eine gelungene Kommunikation muss auf beiden Seiten, die Information sinnvoll eingeordnet und interpretiert werden. Diese »Mutter aller Informationstheorien« 80 von Shannon/ Weaver soll nun um Saussures strukturalistische Linguistik und Wittgensteins Ideen zur Privatsprache erweitert werden, da in diesen Theorien produktive Ansätze liegen, um auch die Entropie des wahnsinnigen Lachens näher zu verstehen. Lachen als amorphe Masse von Lauten ist frei vom Inhalt und differenzierter Codierung, da es als amorphe Singularität sinnlos (bzw. formlos) und unverständlich bleiben muss. 81 »Eine Folge von Lauten ist nur etwas Sprachliches, wenn sie Träger einer Vorstellung ist; für sich selbst genommen ist sie nur mehr Gegenstand einer physiologischen Untersuchung.« 82 Durch das Gerade zum sprachlichen Wandel im Laufe der Zeit siehe Joerg O. Fichte/Lothar Fietz/Hans-Werner Ludwig (Hgg.): Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens: Vergleichende Studien zum Funktionswandel des Lachens vom Mittelalter zur Gegenwart. Tübingen 1996. 76 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Frankfurt a. M. 1984, 459. 77 Ebd., 460. 78 Gilbert Simondon: Die Existenzweise technischer Objekte. Zürich 2012, 124. 79 Claude Shannon: A Mathematical Theory of Communication. In: Reprinted with corrections from The Bell System Technical Journal, 27 (1948), 379–423, 623–656, (übers. von K. L.). 80 David D. Woods/Erik Hollnagel: Joint Cognitive Systems: Foundations of Cognitive Systems Engineering. Boca Raton 2005, 11 (übers. von K. L.). 81 Vgl. Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin/New York 1967, 2. Aufl., 37. 82 Ebd., 124. 75
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Zeichen erhält diese amorphe Masse des vorsprachlichen Denkens erst eine artikulierte und sprachlich vorgeordnete Form. »Psychologisch betrachtet ist unser Denken, wenn wir von seinem Ausdruck durch die Worte absehen, nur eine gestaltlose und unbestimmte Masse. Philosophen und Sprachforscher waren immer darüber einig, daß ohne die Hilfe der Zeichen wir außerstande wären, zwei Vorstellungen dauernd und klar auseinander zu halten. Das Denken, für sich allein genommen, ist wie eine Nebelwolke, in der nichts notwendigerweise begrenzt ist. Es gibt keine von vornherein feststehenden Vorstellungen, und nichts ist bestimmt, ehe die Sprache in Erscheinung tritt.« 83
Damit ist eine Sprache des Einzelnen nicht denkbar, erst als kollektive Leistung einer Sprachgemeinschaft, die den Zeichen ihre jeweilige Bedeutung beimisst, »indem sie ein Zeichen in Umlauf bringt und ihm dadurch kommunikativen Wert verleiht«, kann Kommunikation möglich werden. 84 Die Sprache ist demzufolge keine einfache Substanz, sondern ein gegliedertes und gliederndes System, das »als Verbindungsglied zwischen dem Denken und dem Laut« fungiert. 85 Lachen als Laut ohne (geordnetes) Denken muss subversiv oder zumindest entropisch wirken, da »[e]in (Sprach-)System […] eine Gesamtheit im Sinne eines Netzwerks struktureller Relationen zwischen Zeichen [ist], deren Wert sich durch Position und Opposition gegenüber den anderen Zeichen innerhalb des Systems ergibt.« 86 So bekommen nach Saussure »Signifikanten« im »System« (z. B. Sprache) ihre »Werte« bzw. Bedeutungen nur aus der Differenz zu anderen Signifikanten. Ohne diese Differenz oder außerhalb dieses Systems kann es keine Bedeutung und keinen Sinn geben. Forsch formuliert könnte man sagen, der Lachende wie der Wahnsinnige agiert im System Sprache so destruktiv, dass er durch die Grenzauflösung eine Sinnvermittlung unmöglich macht: Die Worte verlieren ohne Unterscheidung ihre Bedeutung. 87 Damit gilt jenes, was WittEbd., 133. Dazu auch Jaklitsch, der vom »absolute[n] Lachen« spricht, »weil es eine nicht-zielgerichtete Zerstreuung beinhaltet, die der zielgerichtet-geordneten Grundstruktur dieser Welt (mit ihren klaren ›Spielregeln‹) zuwiderläuft« (vgl. Jaklitsch in diesem Band). 84 Jürgen Reischer: Zeichen. Information. Kommunikation. Analyse und Synthese des Zeichen- und Informationsbegriffs. Version 1 vom 22. 11. 2006, 19. http://epub. uni-regensburg.de/10483/1/ZeichenInfoKomm.pdf (abgerufen am 20. 12. 2014). 85 Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 133. 86 Reischer: Zeichen. Information. Kommunikation, 24. 87 Vgl. zum »Rauschen« des Wahnsinns auch Friedrich Kittler: Signal-Rausch-Ab83
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genstein über eine Privatsprache sagt, die zu keiner sozialen intersubjektiven Kommunikation mehr fähig ist. Das wahnsinnige Lachen scheint eine Art radikalisierte Privatsprache zu sein, bei der sich »[d]ie Wörter dieser Sprache […] auf das beziehen sollen, wovon nur der Sprechende wissen kann; auf seine unmittelbaren, privaten Empfindungen. Ein Anderer kann diese Sprache also nicht verstehen.« 88 Die Privatsprache ist wie das wahnsinnige Lachen sinnlos, weil es monologische Zirkularität aufweist. Die Kommunikation scheitert notwendigerweise, da Expedient und Perzipient keinen gemeinsamen Code haben bzw. es keinen rational-kollektiven Code beim wahnsinnigen Lachen gibt. 89 Wenn das sprachliche Zeichen nach Saussure »seiner Natur nach sozial« 90 ist, dann ist das wahnsinnige Lachen das a-soziale Andere der Sprache. Lachen vermittelt zwar eine bestimmte Kommunikation, diese aber ist im wahnsinnigen Lachen frei von Inhalt und somit rauschhaft. 91 Nimmt man dieses rausch-hafte Phänomen ernst, so kommt es zu einer »Verbindung […] Außerhalb der Axiome«, wobei sich das wahnsinnige Lachen als eine Art »nomadisches Denken« zeigt, welches sich »nach dem nomos, nicht nach dem logos [richtet].« 92 Das wahnsinnige Lachen ist nicht sesshaft, es wurzelt nicht in einer Tradition kollektiver Sprachgemeinschaft, sondern durchdringt Modi von Übergängen. Denken wie Sprache sind hier keine festen, siche-
stand. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hgg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a. M. 1988, 342–359, hier: 353 ff. 88 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Kritisch-genetische Edition, hrsg. von Joachim Schulte. Frankfurt a. M. 2001, § 243. 89 Hierbei darf nicht übersehen werden, dass die Kommunikation in ihrer naturwissenschaftlichen (Kommunikation und Information), sprachwissenschaftlichen (Kommunikation und Zeichen) und sozialwissenschaftlichen (Kommunikation und Sozialität) Perspektive selbst ein komplexes System ist, welches viele verschiedenen Betrachtungsweisen ermöglicht (vgl. Klaus Merten: Kommunikation. Eine Begriffsund Prozeßanalyse. Opladen 1977; Dieter Krallmann/Andreas Ziemann: Grundkurs Kommunikationswissenschaft. München 2001). 90 Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 20. 91 Man kann Watzlawick zustimmen, dass man nicht nicht kommunizieren kann, das Gesendete bleibt jedoch beim Lachen unverständlich und kein Dialog, keine sinnvolle Interaktion wird evoziert (vgl. Paul Watzlawick: Wesen und Formen menschlicher Beziehungen. In: Hans-Georg Gadamer/Paul Vogler (Hgg.): Neue Anthropologie, Bd. 7. München 1975, 103–132, hier: 112). 92 Stephan Günzel: Immanenz. Zum Philosophiebegriff von Gilles Deleuze. Essen 1998, 123.
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ren Orte der Autorität, sondern Übergange, die sich destruieren. 93 Deleuze fasst das Lachen im Sinne Nietzsches auf diese Weise zusammen: »Das Lachen und nicht der Signifikant. […] Anstelle unseres kleinen Narzißmus oder der Schrecken der Schuldhaftigkeit kommt aus großen Büchern das Schizo-Lachen oder die revolutionäre Lust. Man kann es ›die Komik des Übermenschlichen‹ oder auch ›Clown Gottes‹ nennen […]. Man kann nicht nicht lachen, wenn man Codes durcheinanderwirft. Wenn ihr das Denken in Beziehung zum Außen bringt, entstehen Momente dionysischen Lachens, das ist das Denken in frischer Luft.« 94
III.2 Asyl der Literatur Wie kann nun die Literatur, die gesellschaftliche Narrative beherbergt, dieses gesperrte Lachen zum Sprechen bringen? Wie kann eine sinnlose Syntax gelesen, geschweige denn verstanden werden? Wie kann ein Ordnungssystem wie Literatur überhaupt bestehen ohne verstanden oder genau artikuliert zu werden? Der Kern dieser Fragen zielt auf die Codierung, mit der Literatur operiert. Da es Literatur nicht um wissenschaftliche, rationale Anschlussfähigkeit gehen kann, werden literarische Texte nicht unter der binären Codierung wahr/ falsch gelesen und damit nicht zwangsläufig unter eine vernünftige Autorität gestellt. Literatur codiert in systemtheoretischer Annahme ihre Texte nach interessant/langweilig. 95 Das wahnsinnige Lachen, welches Unruhe und Chaos, Verwirrung und Entgrenzung stiftet, ist aus demselben Grund auch spannend. Die verrückt-lachenden Protagonisten verstören weiterhin, werden aber im literarischen System nicht ausgelagert und objektiviert, sondern behalten ihre Subjektivität und provozieren sogar Anschlussfähigkeit. Sie wecken, schlicht gesagt, das Interesse des Lesers.
Vgl. zum Nomadischen Denken von Deleuze, siehe Günzel: Immanenz: Zum Philosophiebegriff von Gilles Deleuze, Anm. 242. 94 Deleuze: Nietzsche, 116 f. [Kursiv von K. L.]. In Verbindung zum Wahnsinn Gilles Deleuze/Felix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt a. M. 1974, 22. 95 Gerhard Plumpe/Niels Werber: Literatur ist codierbar. Aspekte einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft. In: Siegfried J. Schmidt (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven. Opladen 1993, 9– 44. 93
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In diesem Rahmen öffnet sich nun eine Sichtweise, die Literatur als Rückzugsort des Wahnsinns sowie des Lachens und des wahnsinnigen Lachens proklamiert, indem sie es literarisiert. Literatur wird Utopie, und damit ein »Gegendiskurs« in einem außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses, in dem sich durch die unterschiedliche Codierung Möglichkeiten der Anschlussfähigkeit ergeben. 96 Der wissenschaftliche Denkstil, der gegenwärtig alle Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens bestimmt, »wie das so umfassend und wirksam keiner anderen Instanz oder Institution auch nur annähernd gelingt«, schließt den Wahnsinn wie den subversiv Lachenden systematisch aus. 97 So gefangen im wissenschaftlichen Diskurs, gibt es für den Menschen kein Außerhalb mehr. Wenn überhaupt ein Außen des Diskurses möglich ist, dann nur um dem Preis des Stigmas der Unwissenschaftlichkeit sowie Unverständlichkeit. In diesem Sinne wird »jede abweichende Disposition […] ausgegrenzt« und »in rasant zunehmendem Maße psychiatrisiert.« 98 In der radikalsten Unwissenschaftlichkeit und Unverständlichkeit steht der Wahnsinnig-Lachende, der das Außen der Wissenschaft versinnbildlicht. 99 Es sei nur angemerkt, dass die hier vorgeschlagene Deutungslinie von Literatur als subversive Kraft keineswegs eine umfassende Perspektive darstellen kann. Ein weiter zudenkender Punkt scheint
96 Foucault: Ordnung der Dinge, 76. Literatur ist, um den Terminus von Foucault zu verwenden, eine »Heterotopie«, zumindest in der Bedeutung wie der Begriff in Ordnung der Dinge eingeführt wird. Dort ist die Heterotopie die Struktur eines »raumlose[n] Denkens« mit »obdachlosen Wörtern« (Foucault: Ordnung der Dinge, 20 ff.). Literatur zeugt für Foucault von einer Ordnungsstruktur mit Widersprüchen und Leerstellen. 97 Gerhard Plumpe: Gedanken über Literatur und eine Wissenschaft davon. In: Leo Kreutzer (Hrsg.): Mein Gott Goethe. Hamburg 1980, 7–11, hier: 7. Foucault bemerkt diesen Aspekt an einem Text von Borges, der in der modernen, neuen epistemischen Ordnung als unverständlich und lächerlich erscheint. Dieses »Unbehagen« ist es, das uns lachen lässt (vgl. Foucault: Ordnung der Dinge, 21). Es ist ein Lachen, »das bei seiner Lektüre alle Vertrautheiten unseres Denkens aufrüttelt, des Denkens unserer Zeit und unseres Raumes, das alle geordneten Oberflächen und alle Pläne erschüttert, […]« (ebd., 17). Lachen sprengt dabei die epistemische Oberfläche auf und zeigt ein Andersdenken; es wirkt damit dynamisch gegen Verfestigungen. 98 Ebd., 9. 99 In diesem Sinne hat auch der Wahnsinn nach Foucault noch einen Platz im »Herzen unserer Kultur«, jedoch ist es nicht mehr der Platz in der Mitte der Gesellschaft, sondern in der Peripherie, so beispielsweise in der Lyrik (vgl. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, 164).
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die Frage zu sein, inwieweit Literatur Leistungen und Anregungen der Wissenschaft (Medizin, Biologie, Recht, etc.) nicht nur einfach aufnimmt, sondern sogar dazu beiträgt, eine Domestikationsgschichte des Lachens fort zu schreiben, womit Lachen in Form der Literarisierung ebenfalls in ein Ordnungssystem einspannt und ›annektiert‹ werden würde. 100 Die Literatur agiert demnach nicht als Gegendiskurs, sondern taxonomisch als Fahnenträger der Normierung.
IV. Wer zuletzt lacht Lachen ist ein Stabilsisierungselement und evoziert in seiner verbindenden Kraft eine Art »Echo« der Sozialität. Diese »soziale Note« des Lachens scheint für ein Zusammenleben konstitutiv, denn »[u]nser Lachen ist stets das Lachen einer Gruppe.« 101 Rekapituliert man die angeführten Überlegungen, so lässt sich, trotz der unbezweifelbaren sozialen Geste, die das Lachen darstellt, sagen, dass ein herausragender Aspekt im Lachen (wie im Wahnsinn) ein sprachlicher Verlust und Gewinn ist; der Körper verweigert sich der Ratio, Norm und Disziplinierung. Lachen ist damit Verlust und Gewinn, Unterdrückung und Herrschaft. Dabei geht es nicht um eine simplifizierende Gleichsetzung von Lachen und Wahnsinn, sondern um die Analyse eines besonderen Aspekts des Lachens, der »auch da noch eine Antwort zu finden [weiß], wo es nichts mehr zu antworten gibt. Er hat, wenn auch nicht das letzte Wort, doch die letzte Karte im Spiel, dessen Verlust sein Gewinn ist.« 102 Das soziale, vernünftige aber auch syntaktische Scheitern wird zur Chance. Das Schweigen zum Reden, Objektivierung zu Subjektivierung, ja selbst Subversion noch zum Spannungsträger. Lachen und auch Wahnsinn sind »Demontagen einer Transfiguration des Leibes ins Logozentrische.« 103 Sie bilden ein Anders-Sein gegen das Vernünftig-Disziplinierte, ein Sein, das jedoch längst nicht mehr im akademisch und sozialen Bereich Autonomie erfährt. Dieses a-rationale Sein scheint allein von der Kunst
100 Literatur als Ordnungsstruktur lässt das Lachen bzw. die Sinnlosigkeit nur begrenzt in ihrem System zu. Für diese Anmerkung danke ich Nicola Kaminski. 101 Henri Bergson: Das Lachen. Jena 1921, 5–18, abgedruckt in: Bachmaier (Hrsg.): Theorie der Komik, 78–88, hier: 82; 81. 102 Plessner: Elemente menschlichen Verhaltens, 276. 103 Meyer-Drawe: Menschen im Spiegel ihrer Maschinen, 195.
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akzeptiert sowie integriert zu werden, da hier die Chance besteht etwas außerhalb des Diskurses zu sagen. Kunst kann somit vielleicht ein »Asyl für alle unterdrückten Träume, Talente, Ängste, Erinnerungen, Narrheiten« sein. 104
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Plumpe: Gedanken über Literatur und eine Wissenschaft davon, 10.
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Désinvolture oder die heitere Verachtung Vom Dandy und seinem kalten Lächeln Felix Hüttemann Für Yvonne Wübben und Nicolas Pethes
I.
Einleitung »Die Welt gehört den kalten Geistern« (Niccolò Machiavelli) »So ist die Langeweile nichts anderes als die Auflösung des Schmerzes in der Zeit« (Ernst Jünger)
Das Lachen, im Alltag als ein Zeichen der Freude, der Kontaktaufnahme und dem tief menschlichen Bedürfnis nach Nähe interpretiert, kann sich in vielen Situationen auch als das genaue Gegenteil herausstellen. Lachen ist auch ein Werkzeug der Distinktion. Fühlen wir uns nicht abgeurteilt oder ausgeschlossen, wenn wir in einer Gruppe die oder der Einzige sind, welche(r) nicht lacht, lachen kann? Ein anderes Mal erzählen wir einen Witz oder eine lustige Anekdote und niemand reagiert. Es herrscht sozusagen eisiges Schweigen. Wir werden nur kalt angelächelt. Ich möchte mich hier einer Figur annähern, die mir als Paradebeispiel für diese Distanz, Kälte und – um es schon mit einem Vertreter dieser Zunft zu sagen – der Désinvolture erscheint. Es geht darum, sich dem Dandy sowohl in seiner historischen wie auch populärkulturell-literarischen Gestalt anzunähern. Um es genauer zu formulieren: Wir begeben uns auf die Suche nach seinem Lächeln, denn so sehen wir es noch später bei Charles Baudelaire: Lachen tut dieser nicht. Der Dandy, im Weiteren folge ich hier den Einteilungen der wunderbaren Studie von Günter Erbe 1 , ist im Wesentlichen eine Gestalt des 19. Jahrhunderts. Wenngleich, wie noch zu zeigen sein wird, sich Charakteristiken des Dandys ins 20. und – ich denke – auch ins 21. Jahrhundert erhalten haben. Die typische Phase, in der man vom 1 Günter Erbe: Dandys. Virtuosen der Lebenskunst. Eine Geschichte des mondänen Lebens. Köln/Weimar/Wien 2002.
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Dandy sprechen kann, ist und bleibt, sei es auch in etwaiger Verallgemeinerung vieler Facetten 2 , auf diese knappen einhundert Jahre beschränkt. Allen Facetten und Formen der Selbststilisierungen der Dandys unterschiedlichen Ortes und Zeit sind folgende, wenn man mit Helmut Lethen 3 resp. Helmuth Plessner sprechen will, Verhaltenslehren: Selbstkult, Ironie, Langeweile (Ennui), Impertinenz, Verhüllung oder auch Maskenhaftigkeit und Kult der Distanz bzw. Kälte. 4 Eine große Konstante in der Selbstsorge des Dandys soll hier als ihre heitere Verachtung, oder Désinvolture herausgearbeitet werden. Auf der Spur dieser heiteren Verachtung, dem Verachtungslächeln des Dandys, werde ich wie folgt vorgehen: Zuvorderst werde ich den Dandy kurz in seinen Typisierungen darstellen, um ihn dann beispielhaft an zwei Vertretern, dem Urdandy George »Beau« Brummell (1778–1840) und an den Ausführungen Charles Baudelaires (1821– 1867), in seinen Facetten aufzeigen, um sich dadurch schrittweise seinem spezifisches Lächeln zu nähern. In einem letzten Schritt sollen die herausgearbeiteten Charakteristiken des Dandy-Lächelns mit Reflektionen des 20. Jahrhunderts bei Ernst Jünger abgeschlossen werden.
II.
Die Dandys – Oder: Stoiker des Boudoirs »Wir können ihn uns wie einen Reisenden vorstellen, der in einer Wintersnacht eine Herberge betritt: er bringt den Schnee und das Eis von draußen mit sich; er sieht und denkt noch, aber er spürt seinen Körper nicht mehr. Er ist empfindungslos geworden.« 5
Man unterscheidet im Grunde den englischen Dandy der Regency Zeit (die Regentschaft von George dem IV. ca. 1800 oder häufig auch
Etwa die Unterschiede zwischen den englischen Dandys der Regency Ära, den französischen Dandys der Restauration bis zum zweiten Kaiserreich oder den ästhetizistisch-dekadenten Dandys des Fin de Siècle. Wir werden die einzelnen Typisierungen unten weiter verfolgen. 3 Vgl. Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a. M. 1994. 4 Vgl. Erbe: Dandys, 9. 5 Jean-Paul Sartre: Baudelaire. In: Ders.: Gesammelte Werke. Schriften zur Literatur 1938–1946. Der Mensch und die Dinge. Bd. 1. Reinbek 1986, 75. 2
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1811–1830), archetypisch personifiziert durch George »Beau« Brummell, und den französischen Dandy der Restauration bzw. des zweiten Kaiserreichs, wie beispielsweise Charles Baudelaire. Eine dritte dandyeske Erscheinungsform sind ihre »dekadenten-ästhetizistischen« Epigonen bis zur Jahrhundertwende, aus England Oscar Wilde (1854–1900) oder von französischer Seite beispielsweise Robert de Montesquiou 6 (1855–1921). 7 Der Dandy – vordergründig von seinen Kritikern als lebender Kleiderständer abgekanzelt – wartet mit einer ihm genuin eigenen Philosophie und Geisteshaltung der Kälte und Distanz auf. Wenngleich viele Dandys sowohl von den Stoikern als auch den Zynikern der Antike vieles entlehnt haben, scheinen die Dandys doch vor allem der Gegenreformation und dem aggressivem Katholizismus eines Joseph de Maistre oder generell dem konservativem Spektrum verpflichtet. Dies gilt im Besonderen für Baudelaire, aber auch für Huysmans und zieht sich durch bis zu genuin politischen Dandys à la Ernst Jünger 8 und Carl Schmitt. 9 Dandys sind, wie es Jules Barbey d’Aurevilly, selbst Dandy, Literat und Verehrer Brummells, ausdrückte, »Stoiker des Boudoirs«, welche »unter der Maske das Blut aus der ihnen zugefügten Wunde [trinken], statt die Maske abzusetzen.« 10 Bevor wir zum kalten Lächeln des Dandys und zu weiteren Reflexionen zur Philosophie des Dandys kommen, werde ich kurz darstellen, wie die Charakteristiken des Dandys von George »Beau« Brummell und im Weiteren auch von Charles Baudelaire kultiviert wurden.
Montesquiou war nebenbei bemerkt u. a. das Vorbild für Joris-Karl Huysmans Protagonist Des Esseintes aus dem Roman À rebours dt. »Gegen alle« bzw. Gegen den Strich. 7 Vgl. zu einer differenzierteren bzw. detaillierten Unterteilung und Schilderung: Erbe: Dandys. 8 Vgl. zum Zusammenhang von Ernst Jünger und Dandyismus das viel beachtete und gescholtene Buch von Karl Heinz Bohrer: Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. München/Wien 1978. Vgl. auch: Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Wir werden weiter unten auch dazu kommen. 9 Für den Hinweis Carl Schmitt als (politischen) Dandy zu betrachten danke ich sehr Lenz Prütting. 10 Jules Barbey d’Aurevilly: Über das Dandytum und über George Brummell. Ein Dandy ehe es Dandys gab. Berlin 2006, 73. 6
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II.1 Brummell der King of Fashion – Oder: Hättest du geschwiegen, du wärest in England geblieben »Das Absolute wird zur Geste. Das Unerreichbare wird als Dandy, als Clown, als Straßenjunge symbolisiert.« 11
George »Beau« Brummell kam aus einfachen Verhältnissen, ein Selfmademan, der sich zum King of Fashion der gesamten englischen Oberschicht der Regency Ära mauserte. Barbey überlieferte den Satz Lord Byrons, er wäre lieber Brummell als Napoleon gewesen. 12 Dies soll eine erste Andeutung seines damaligen Einflusses aufzeigen. Brummell gilt, nicht zuletzt durch den viel beachteten Essay Barbeys 13 , als die Personifikation des Dandys schlechthin. 14 »Er war das Dandytum selbst.« 15 Der Essay Barbeys lässt sich auf der einen Seite als eine Erinnerung an Brummell und auf der anderen Seite als Traktat – ja vielleicht sogar Phänomenologie – der Eitelkeit lesen. Man könnte mit Barbey das Dandytum als methodische bzw. zu kalter Lebenskunst gefrorene Eitelkeit verstehen. Im Sinne wie Michel Foucault den Ästhetizismus als eine Transformation des Selbst ausdeutet. 16 »Doch kann man das Denken des 19. Jahrhunderts über weite Strecken als schwierigen Versuch, als eine Reihe schwieriger Versuche verstehen, eine Ethik und eine Ästhetik des Selbst zu rekonstruieren. […] Ist es möglich, eine Ethik oder eine Ästhetik des Selbst auszubilden oder wiederherzustellen? Um welchen Preis und unter welchen Bedingungen?« 17 Brummell freundete sich mit George de-
Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1994, 218. 12 Barbey: Über das Dandytum und über George Brummell, 33 f. 13 Vor allem Baudelaire schätze diesen Essay und nutze ihn als Einfluss für seine eigenen Dandy-Studien (vgl. Erbe: Dandys, 181 ff.). 14 Man könnte auch sagen: Er war die Verdinglichung des Dandytums schlechthin. Der Zusammenhang zwischen Dandyismus, Verkünstlichung, Technisierung und Selbstauflösung wird im Weiteren angedeutet. Diesem Sachverhalt werde ich demnächst mehr Aufmerksamkeit widmen. 15 Barbey: Über das Dandytum und über George Brummell, 26. 16 Vgl. Michel Foucault: Dits et Ecrits, Bd. 4, 336; 654. Vgl. auch: Ders.: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collége de France (1981/82). Frankfurt a. M. 2009. 17 Vgl. Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts, 313 [Hervorhebung F. H.]. Jedoch müssen wir hierbei einschränkend beachten, dass der frühe englische Dandyismus (noch) nichts mit Ästhetizismus literarisch-dekadenter Manier zu schaffen hatte. Zumindest außerhalb der Stilisierung der eigenen Erscheinung und in seiner Selbstsorge 11
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m IV. an, noch bevor dieser seine Regentschaft antrat. Er hatte in ihm, der ebenso wie Brummell für seinen exaltierten Lebensstil bekannt war, einen großen Förderer und Schutzpatron. Zumindest bis Brummell, so die Anekdoten, sich dem König in seinem Dandytum überlegen glaubend, die Gunst und Geduld Georg IV. überstrapazierte. Davon wird aber später noch die Rede sein, um hier die Pointe noch nicht vorwegzunehmen. Ich füge einen kurzen Exkurs über die Mode und Veränderung durch Brummell ein, um deutlich zu machen, dass sich durch die äußeren modischen Bekleidungslehren durchaus auf die Verhaltenslehren des Dandys schließen lässt. Beides ist durch Elitarismus und Exklusivität – unter dem Deckmantel des Understatements und der ἀταραξία (Unerschütterlichkeit) – gekennzeichnet. Brummell gilt als einer der Erfinder des modischen Understatements. Gedeckte Farben und Kleiderschnitte von bestechender Schlichtheit, zumindest für die damaligen Verhältnisse, waren sein Beitrag zur Modewelt seiner Zeit. Er kreierte eine bestimmte Sorte Frackschnitt, einen eigenen Krawattenknoten und führte die gestärkte Krawatte ein, dem in der englischen Oberschicht folgsam nachgeeifert wurde. Selbstredend ist der Siegeszug des »schlichten« Dandyismus Brummells vor allem dem aufsteigendem englischen Schneiderhandwerk und der aufkommenden Baumwollindustrie Englands zu verdanken. 18 »Mehr Aufmerksamkeit wurde nun auf den tadellosen Schnitt des Anzugs und auf Accessoires gelegt. Die englischen Dandys um den Prinzregenten und Beau Brummell schufen einen neuen Stil der Herrenmode, geprägt durch Korrektheit, tadellosen Sitz und Beachtung der geringsten Details. Fräcke mit fallenden Schößen in moderaten Farben, geknöpfte Westen, Kniehosen aus Wildleder und dazu passende Stiefel oder an den Knöcheln befestigte Pantalons […].« 19
Von Brummell ist folgende Bekleidungs- bzw. Verhaltenslehre überliefert: »Wenn John Bull [Bezeichnung für den Durchschnittsengländer (F. H.)] sich nach Ihnen umdreht, sind Sie nicht gut gekleidet,
als Distinktionsmerkmal. Der dekadente Ästhetizismus wurde erst rund 50 Jahre später ein virulentes Merkmal des Dandyismus. 18 So ist der Dandyismus insgesamt natürlich vielmehr das Gesamtergebnis der Zeitumstände (Zerfall der alten Adelsstrukturen, Industrialisierung, das Aufkommen der Maschine als technisches Individuum, etc.) als der einzelnen Person Brummells. Jedoch kulminieren in ihm die typischen Stilisierungen des Dandytums. 19 Vgl. Erbe: Dandys, 34. »Fröhliche Wissenschaft«
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entweder zu steif, zu unbeweglich oder zu modisch.« 20 Bei aller beschworenen Schlichtheit gilt es hier keineswegs zu vergessen, dass es in dieser Kleiderordnung darum ging, dem Durchschnitt nicht aufzufallen, jedoch erkannte man sich unter Kennern, also Dandys unter sich, sofort am tadellosen Schnitt und der Qualität der Stoffe. Dadurch schotteten sie sich wie eine verschworene Gemeinschaft gegen die Nichteingeweihten ab. Jeder Verstoß gegen diese Maxime der Schlichtheit wurde vom King of Fashion Brummell gnadenlos sanktioniert. Was uns endlich zur Kälte und dem kalten Verachtungslachen bzw. -lächeln des Dandys führt. Brummell ahndete vermeintliche oder auch wirkliche Verstöße des Benehmens und der Kleidung durch schneidende Kommentare, im englischen durchaus mit »wit« 21 gekennzeichnet, welches von »humour« und »fun« abzugrenzen ist und sich ins Deutsche wahrscheinlich am besten mit »Schlagfertigkeit« übersetzen lässt. Barbey schildert diese Attacken Brummells folgendermaßen: »Er mischte Schrecken und Sympathie zu gleichen Teilen und braute einen Zaubertrank des Einflusses. […] Er war im Gespräch so bissig […]. Seine Bemerkungen kreuzigten […]. […] Er erzeugte sie durch Betonung, Blicke, Gesten, Andeutungen, sogar durch Schweigen: das ist eine Erklärung, warum von ihm so wenige Aussprüche überliefert sind.« 22 Diese schneidenden Bemerkungen, gepaart mit dem den Dandy weiter auszeichnenden Verachtungslächeln, werden jetzt im Weiteren von mir untersucht. Bevor eine Anekdote Brummells zitiert wird, werde ich zuerst das Verachtungslachen, wie es Lenz Prütting in seinem Buch zur Phänomenologie des Lachens aufführt, zusammenfassen. 23 Prütting unterscheidet zwischen einem Verachtungslachen auf Augenhöhe, welches auf Selbsterhöhung abzielt und einem Verachtungslachen von unten. Das Verachtungslachen von unten ist eine Art »Dem Starken Trutz! Dem Schwachen Schutz« – verstanden auch Vgl. Harriette Wilson: H. Wilson’s Memoirs of Herself and Others. London 1929, 40. 21 Das Oxford Dictionary gibt an: wit: (also wits) The capacity for inventive thought and quick understanding; keen intelligence. Vgl. unter: http://www.oxforddictiona ries.com/definition/english/wit (Stand: 19. 08. 14.). 22 Vgl. Barbey: Über das Dandytum und über George Brummell, 61 ff. 23 Vgl. Lenz Prütting: Homo ridens. Eine phänomenologische Studie über das Wesen, Formen und Funktionen des Lachens. 3 Bde. Freiburg 2013. Vgl. zum Verachtungslachen: Bd. 2, 1149–1153 u. Bd. 3, 1865–1877. 20
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als Zeichen der Verachtung des Unterprivilegierten etwa des Proletariers oder des antiken Zynikers – gegenüber der Herrscherklasse. Eine dritte Unterscheidung, in Absetzung zu den beiden bereits genannten, ist das Verachtungslachen von oben, das láag-Lachen des alttestamentarischen Gottes. Es ist ein Lachen, dass von oben herab auf alle unter ihm stehenden niederprasselt und alle bzw. alles unter sich begräbt. Das Verachtungslachen des Dandys changiert irgendwo zwischen demjenigen auf Augenhöhe, welches auf Erniedrigung des Anderen und Selbsterhöhung zielt, und, im Falle Brummells als selbst und eben auch fremd ernannter King of Fashion, dem Verachtungslachen von oben. 24 Prütting bemerkt zum Dandy, den er hauptsächlich im Zusammenhang mit Baudelaire anführt, Folgendes: »Und wenn man die Frage stellt, ob es wohl eine für den Dandy spezifische Form von Gelächter gebe, lesen wir bei Baudelaire, ein Dandy könne, wenn er denn überhaupt lache, nur das láag-Lachen Jahwes lachen, das nur Göttern vorbehalten ist, das aber gerade deshalb dem Dandy zusteht.« 25 Prütting begreift den Dandy überzeugend als einen konservativen, demokratiefeindlichen Höfling ohne Hof, als selbsternannten Aristokraten in der verschärften Tradition der schwarzen Romantik. 26 Er steht damit dem ebenso auf der Peripherie balancierenden zynisch von unten agierenden Bohemien entgegen. Den Unterschied von Dandy und Bohemien macht der selbsternannte, und damit in guter dandyesker Tradition stehende Lord Breaulove Swells Whimsy in seinem humoristisch überspitzten Dandy-Handbuch Die Kunst mit einem Hummer spazieren zu gehen deutlich: »Der Bohemien missachtet Regeln, die der Durchschnittsbürger sich nicht erlauben kann zu missachten, der Dandy befolgt Regeln, die der Durchschnittsbürger sich nicht erlauben kann zu befolgen.« 27 Ein blasiertes Verachtungslächeln zur Wahrung von Distanz, Kultivierung der Kälte und der Selbsterhöhung zeichnet das Spezifische am Dandy-Lächeln aus. Bevor wir dies anhand von Baudelaire weiter ausdifferenzieren, kehren wir noch einmal zurück zum King of Fashion, Beau
Oder wie es Prütting sehr treffend als Hasslachen bzw. »Lachkotze« bezeichnet. Prütting: Homo ridens, Bd. 2, 1153. 26 Vgl. ebd. 1149 ff. 27 Lord Breaulove Swells Whimsy: Die Kunst mit einem Hummer spazieren zu gehen. Handbuch für den wahrhaften Dandy. Köln 2013, 21. 24 25
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Brummel, und seiner beißenden Diktatur des »wit«, die ihn letztlich vom eigenen marmornen Sockel gestoßen hat. Günter Erbe zeichnet folgendes Bild von Brummells beißenden Attacken: »Impertinenz und absurde Späße auf Kosten seiner adeligen Freunde waren Mittel der Selbstbehauptung, die Brummell perfekt beherrschte.« 28 Dies würde auf ein Verachtungslächeln auf Augenhöhe hindeuten, da Brummell dieses zur eigenen Selbsterhöhung und Stilisierung nutze, denn erinnern wir uns, der King of Fashion war in gewissem Sinne ein Parvenü, ein Selfmademan und alles andere als adelig von Geburt oder Stand im eigentlichen Sinne. Erbe schildert folgende Anekdote: »Ein neureicher Bewunderer lud ihn [Brummell (F. H.)] einmal zum Essen in sein Haus ein und forderte ihn auf, die Tischrunde selbst zusammenzustellen. Als die Dinnerparty begann, soll Brummell sein Erstaunen darüber geäußert haben, daß der Gastgeber die Kühnheit besaß, mit am Tisch Platz zu nehmen.« 29 In dieser Anekdote lässt der kalte ausschließende Spott Brummells die verächtlich nach oben gezogenen Mundwinkel und die abweisende Gestik des King of Fashion vor dem geistigen Auge des Lesers vorbeiziehen und gleichsam erahnen, dass der Dandy letztlich nur seiner eigenen Selbsterhöhung verpflichtet war. Man kann sich kaum vorstellen, dass Brummells Lächeln dazu einlud erwidert zu werden. Diesem blasierten Selbsterhöhungslächeln ist es letztlich zu verdanken, dass sein Freund und Förderer King George der IV. den Dandy fallen ließ. Es sind mehrere Anekdoten überliefert, von denen sowohl Barbey, als auch andere berichten. Auf einer Party seines favorisierten Clubs etwa soll sich Brummell mit der Frage an ein Clubmitglied, wer denn »sein dicker Freund« sei, über die Korpulenz des Regenten, lustig gemacht haben. 30 Ebenso habe Brummell, so berichtet Barbey, keine Möglichkeit ungenutzt gelassen, die Mätressen des Monarchen der Lächerlichkeit preiszugeben. Was letztlich der Tropfen war, der das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen brachte, ist nicht überliefert und ich will auf weitere Spekulationen verzichten. Belegt ist jedoch, dass sich Brummell in gesetzterem Alter mit hohen Spielschulden und unbezahlten Schneiderrechnungen und Krediten ins französische Exil begeben musste. Sein Einfluss war, 28 29 30
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Erbe: Dandys, 39. Ebd. Vgl. ebd., 42.
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Désinvolture oder die heitere Verachtung
trotz nicht abbrechender Besuche von englischen und französischen Bewunderern, wie etwa Barbey, versiegt. Dem King of Fashion wurden letztlich sein eigener »wit« und seine eigene Verachtung zum Verhängnis. Doch angeblich habe er dies mit einem viel sagenden Lächeln ertragen.
II.2 Baudelaire – Oder: Kann ein verarmter poète maudit ein Dandy sein? Mit Baudelaire begegnet uns ein anderes Bild des Dandys. Er ist jetzt weniger ein King of Fashion und durch Schlagfertigkeit glänzender Salonlöwe als vielmehr ein elitärer Geistesmensch und Lebenskünstler, in dem durchaus die Grenzen von Bohème und Dandytum zu verschwimmen scheinen. Das Ideal des Baudelaireschen Dandys scheint mehr eine Selbstvergewisserung des ästhetizistischen Künstlers zu sein. Zu Zeiten Brummells konnte ein Dandy zwar künstlerische Neigungen haben, so werden etwa Lord Byron durchaus dandyeske Züge zugewiesen, jedoch ist ein echter Dandy nie ein schaffender Künstler im eigentlichen Sinne. Er ist kein Schöpfer, Autor oder Künstler in dem Sinne, dass er etwas aus sich selbst heraus schafft. 31 Er ist zu sehr sich selbst als einem Gesamtkunstwerk verpflichtet. Dies ändert sich mit dem Import des Dandytums nach Frankreich und vor allem in der dekadenten Phase des Fin de Siècle. Baudelaire ist der maßgebliche ›Ideologe‹ eines vornehmlich asketisch, jedoch ebenso dekadent-ästhetizistischen Dandytums, wie wir es im Weiteren vor allem mit dem Dandybild in der Literatur verbinden. Sei es Wildes Lord Henry im Dorian Gray oder Des Esseintes in Huysmans À rebours bis hin zum Großen Gatsby Fitzgeralds. Baudelaire hat interessanterweise kein Manifest oder Traktat seines Dandytums hinterlassen, denn eine geplante Studie zum Dandy kam über erste Konzepte nicht hinaus. 32 Baudelaire brachte in guter dandyesker Manier binnen 18 MoEr ist mehr ein Arrangeur oder Monteur des bereits Bestehenden, der durch Sampling und Remodeling seine Welt entwirft. Dies macht ihn zu einem Vorreiter der Pop-Moderne bzw. -Literatur. Vgl. dazu: Alexander Tacke/Björn Weyand (Hg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Köln 2009. 32 Baudelaire kündigte seinem Verleger ein Publikationsvorhaben unter dem Titel Le Dandysme littéraire ou la grandeur sans convictions (»Der literarische Dandyismus oder Die Größe ohne Überzeugungen«) an ohne dieses je fertig zu stellen. Vgl. Erbe: Dandys, 187 u. 181. 31
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naten über die Hälfte des geerbten väterlichen Vermögens durch. Daraufhin mit verhältnismäßig knapper Leibrente unter Vormundschaft gestellt, gestaltete sich der dandyeske Lebensstil à la Brummell, Byron oder ihm bekannten französischen Dandys, wie Roger de Beauvoir, als zunehmend schwierig. Nichtsdestotrotz kleidete sich Baudelaire nach dem englischen Vorbild. Er erschien vornehmlich in schwarzer schlichter Kleidung von hoher Qualität, was ihn von seinen Künstlerkollegen der Bohème deutlich abhob. »In diesem Milieu der Deklassierten aller gesellschaftlichen Schichten verstand es Baudelaire, durch dandyhafte Allüren Aufmerksamkeit zu erregen und im Kampf gegen die bürgerliche Trivialität seine Originalität unter Beweis zu stellen.« 33 Baudelaire stand vor der Diskrepanz zwischen eigenem Ideal und der lebensweltlichen Realität der eigenen knappen monetären Bedingungen. Über den Umweg des Schriftstellers und Geistesmenschen verwirklichte er aber sein ganz eigenes Dandytum und wurde zum Theoretiker des Künstlerdandys avant la lettre. Baudelaire hat außerhalb seiner Lyrik vor allem zwei Essays hinterlassen, in denen er seine spezielle Form des Dandytums aufzeigt; derjenige über das Lachen Vom Wesen des Lachens und allgemein von dem Komischen in der bildenden Kunst und der zweite ist die Auseinandersetzung des Poeten mit dem Künstler Constantin Guys Der Maler des modernen Lebens. Auf den ersten Essay zum Lachen werde ich nur etwas stiefmütterlich eingehen, da Baudelaires Theorie des Lachens demjenigen entspricht, was wir oben in Anlehnung an Prütting als láag-Lachen in katholisch-christlicher Tradition angedeutet haben. 34 Für Baudelaire, in der angedeuteten Tradition von Joseph de Maistre und Augustinus wie auch der schwarzen Romantik stehend, hat das Lachen etwas Satanisches, Schlechtes. Wenngleich Baudelaire bezeichnenderweise bemerkt: »Das Lachen ist satanisch und demnach tief menschlich. Es ist im Menschen eine Konsequenz des eigenen Überlegenheitsbewußtseins.« 35 Bei all dem Bösen, Satanischen und Vernichtenden im menschlichen Lachen bei Baudelaire ist als Erbe: Dandys, 185. Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit Baudelaires Theorie des Lachens: Vgl. Prütting: Homo ridens, Bd. 2, 1115–1160. 35 Charles Baudelaire: Vom Wesen des Lachens und allgemein von dem Komischen in der bildenden Kunst. In: Henry Schumann (Hg.): Charles Baudelaire. Der Künstler und das moderne Leben. Essays, »Salons«, Intime Tagebücher. 2. Aufl. Leipzig 1994, 117–137, hier 124 f. (Hervorhebung von mir (F. H.)). Zur Charakteristik eines subversiv-diabolischen Lachens siehe auch Kevin Liggieri im vorliegenden Band. 33 34
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einziges das Dandy-Lächeln übrig. Prütting resümiert zu Baudelaires Lachtheorie: »Was bleibt bei soviel Lächerlichkeit, Verzweiflung und Selbstverachtung noch übrig an Möglichkeiten für Gelächter jenseits des Heiteren? Eigenlicht nur noch das blasiert-verächtliche Lächeln des Dandys […].« 36 Wir wissen, Baudelaires Dandy grinst ein Verachtungslächeln von oben. In welchem Rahmen der Baudelairesche Dandy denn lächelt und was ihn, diesen »Blasierten«, ausmacht, werden wir im Weiteren jetzt verfolgen. Blasiertheit, mit anderen Worten Hybris oder Hochmut – wie der sich spiegelnde Narziss – scheint ein wesentliches Kennzeichnen dieses Dandys zu sein. So schreibt Baudelaire: »Der Dandy ist blasiert oder gibt vor, es zu sein, aus Politik und Kastengeist.« 37 Weiterhin charakterisiert Baudelaire seine Dandyhaltung so: »Der Dandyismus, der eine Institution außerhalb der Gesetze ist, hat rigorose Gesetze, denen alle die Seinen streng unterworfen sind, wie auch im übrigen das Ungestüm und die Unabhängigkeit ihres Charakters sein möge.« 38 Wir erinnern uns an das Zitat aus dem Dandy-Handbuch des selbst ernannten Lord Whimsy weiter oben, dass der Dandy Gesetze befolge, die der Durchschnitt nicht zu befolgen wage. Diese Dandytypisierung hat hier bei Baudelaire seinen Ursprung. Die Eleganz und Distinguiertheit des Äußeren ist für Baudelaire lediglich »ein Symbol der aristokratischen Überlegenheit seines Geistes.« 39 Ebenso sind Baudelaires Rauschexzesse, seine Eskapaden mit Absinth, Opium und Haschisch, als Selbstsorge bzw. Selbsterhöhung des Geistes zu verstehen. 40 Die Verhaltenslehre dieses Dandys folgt ebenso wie bei Brummell der Maxime zu erstaunen ohne selbst jemals erstaunt zu sein. 41 Die leidende Künstlerseele, voller Wahn, Rausch und Melancholie, wie ihn der Ästhetizismus oder die schwarze Romantik stilisiert, kann unter der Baudelaireschen Maxime nichtsdestotrotz ein großer Dandy sein, wenn sie sich an folgende Regel hält: »Ein Dandy kann ein blasierter, kann sogar ein leidender Mensch sein; aber in Vgl. Prütting: Homo ridens, Bd. 2, 1149. Charles Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens. In: Schumann (Hg.): Charles Baudelaire, 290–320, hier 297. 38 Erbe: Dandys, 306. 39 Vgl. ebd., 307. 40 Vgl. Charles Baudelaire: Die künstlichen Paradiese. In: Max Bruns (Hg.): Charles Baudelaire Gesammelte Werke Bd. 2. Die künstlichen Paradiese (Opium und Haschisch). Kempten 1981. 41 Vgl. Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens 308. 36 37
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letzterem Falle wird er lächeln, wie der Lakedämonier unter dem Bisse des Fuchses lächelte.« 42 Der Dandy ist Priester und gleichzeitig Opfer seines ästhetischen Selbstkults. Diese Selbsttechniken der Distanz und Kälte sind ihm Disziplinierung, man möchte fast sagen, Domestizierung, der (Künstler-)Seele. 43 »[E]r selbst ist die Kälte – steril, unverbindlich und rein. Als Kontrast zu der weichen, lauen Schleimigkeit des Lebens […].« 44 Der Baudelairesche Dandy ist ein Mensch in der Revolte. Er ist in Auflehnung gegen die Durchschnittlichkeit und die ihm verhasste Bourgeoisie: »[A]lle sind sie [die Dandys (F. H.)] Repräsentanten dessen, was das Beste am menschlichen Stolz und Hochmut ist: jenes heutzutage nur allzu seltenen Bedürfnis, die Trivialität zu bekämpfen und zu zerstören.« 45 So versteht Baudelaire den Dandyismus, der dem Bürger verächtlich entgegengrinst, als einen »Heroismus der Niedergangsepoche.« Er ist ein Dekadenzphänomen, aber nicht bunt schillernd und lautstark ausschweifend wie die späten römischen Kaiser, sondern manieriert lächelnd, im schwarzen Frack unbeteiligt auf den Untergang anstoßend. Wie es später Ernst Jünger in seiner »Burgunderszene« 1944 – durch ein Weinglas die Bombardierung von Paris betrachtend – in Reminiszenz an den das brennende Rom besingenden Nero, hat wieder aufleben lassen. 46 Albert Camus widmet sich in seinem Buch Der Mensch in der Revolte dem Dandy Baudelairescher Prägung als revolutionärer Figur und stellt ihn in die Nähe zum Nihilismus. Auch Camus stellt den Dandy in die Tradition der Gegenreformation und der schwarzen Romantik und nennt de Maistre, de Sade, Lord Byron und die Satansfigur aus Miltons Verlorenem Paradies als Gewährsmänner. Der Dandy ist der Kulminationspunkt (schwarz-)romantischen Protestes gegen die gottgegebene Ordnung: »Aber in tiefstem Quellgrund fordert die Romantik zuerst das moralische und göttliche Gesetz heraus. Das ist der Grund, weshalb ihr eigentlichster Ausdruck nicht der Revolutionär [sei es der Marxist, Nihilist oder Anarchist (F. H.)], son-
Ebd. (Hervorhebung von mir (F. H.)). Ebd. 44 Vgl. Sartre: Baudelaire, 74. 45 Vgl. Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens, 308 f. 46 Vgl. Ernst Jünger: Das Zweite Pariser Tagebuch: In: Ernst Jünger: Sämtliche Werke. Erste Abteilung. Tagebücher III. Bd. 3. Strahlungen II. Stuttgart 1979, 271. 42 43
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dern logischerweise der Dandy ist.« 47 Der Dandy ist für Camus immer in der Opposition. Er ist, mit einem anderen teuflischen Verführer gesprochen, der Geist der stets verneint. Wie Sisyphos, der seinen Stein weiter und weiter den Berg hinauf rollt, nur um ihn wieder abwärts fallen zu sehen, ist der Dandy auch einer dieser unruhigen Geister, der sich selbst schafft. Dies in besonderem Maße; denn dieser ist sowohl bei Brummell als auch bei Baudelaire nur den eigenen Gesetzen verpflichtet. »Der Dandy erschafft sich eine eigene Einheit mit ästhetischen Mitteln. Aber es ist eine Ästhetik der Absonderlichkeit und der Verneinung. […] Der Dandy steht seiner Rolle gemäß in der Opposition. Er bewahrt sich selbst nur in der Herausforderung.« 48 Der Dandy als Revolutionär wider dem Durchschnitt im Akt seiner Selbsterhöhung, durch sein verächtliches Lächeln gekennzeichnet, erscheint mir – man bedenke seine Gewährsmänner wie Joseph de Maistre, seine kalte Egozentrik und seine noch anzusprechenden Epigonen wie Ernst Jünger und Carl Schmitt – wie ein konservativer Revolutionär avant la lettre. Wenngleich ihn sein Ästhetizismus und sein Bedürfnis nach Distanz im Falle Baudelaires glücklicherweise von konservativer bis hin zu faschistischer Realpolitik etwa eines Carl Schmitt fernhielt. Nach diesem kurzen Exkurs zu Camus und der Gefahr des Dandytums in konservativ-revolutionäre Bestrebungen zu kippen, abschließend zurück zum Baudelaireschen Dandy, bevor wir zu Ernst Jüngers Reflektionen im Essay Über den Schmerz (1934) 49 als dem Spiegelbild des Verachtungslächelns kommen. Die größte Neuerung von Baudelaires Dandy scheint mir die Verbindung aus Dandytum im alten Sinne Brummells als Stoiker des Boudoirs und Künstlertum zu sein. So lässt sich die Problematik insofern aufzeigen, als dass sich der Dandy eines Brummell für nichts außer sich selbst interessieren muss. Jedoch ein Künstlerdandy im Stile Baudelaires – und wir reden hier schließlich vom Poeten und Autor der Fleurs du mal, der als Einfluss ganzer Lyrikergenerationen einzuschätzen ist – ist kein arbeitsscheuer Müßiggänger. Als Mann der Menge 50 muss dieser alles in sich aufsaugen, sich für alles interes-
Albert Camus: Der Mensch in der Revolte. Reinbek 1969, 43. Ebd. 44 f. 49 Ernst Jünger: Über den Schmerz. In: Ernst Jünger: Sämtliche Werke. Zweite Abteilung. Essays I. Bd. 7. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 2002. 2. Aufl. 50 Näheres dazu vgl. die auf Baudelaire sehr einflussreiche Erzählung Edgar Allen 47 48
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sieren. Zumindest hat er das realiter, denn genau diesen vermeintlichen Müßiggang will Baudelaire uns als Ausgangspunkt seines Schaffens suggerieren: »Was mich groß gemacht hat, war zum Teil der Müßiggang. […] Zu meinem großen Vorteil jedoch, was die Reizbarkeit der Empfindung, die Meditation und die Begabung zum Dandy und Dilettanten betrifft.« 51 Hier im Bild des Dilettanten ist Baudelaires Dandy versteckt. So schreibt Baudelaire in sein Tagebuch: »Dandyismus. Was ist der höhere Mensch? Nicht der Spezialist, sondern der Mann der Muße und der allseitigen Bildung.« 52 Im Dilettanten haben wir ihn, den Dandy, Flaneur und Mann der Menge, Müßiggänger und den an allem interessierten Universalgelehrten der modernen selbst-sorgenden Lebenskunst zugleich. Baudelaires Dandy ist das Geisteskind eines Schriftstellers, der versucht seinen literarischen Dandyismus trotz fehlenden Reichtums und dem Zwang sich den Lebensunterhalt verdienen zu müssen, aufrechtzuerhalten. So ist Baudelaires Dandy eine Hybridgestalt, auf der einen Seite »die Schaffung eines Männerideals: des heroischen Müßiggängers und Elegants, der Verkörperung des Sublimen und des menschlichen Stolzes im angehenden Massenzeitalter«, 53 auf der anderen Seite »das Dilemma eines Dandys, der gezwungen ist zu arbeiten.« 54 Er ist ein arbeitsamer Dandy, der sein Schaffen unter dem Verachtungslächeln gegen die Trivialität der Gesellschaft versteckt und versucht der Welt Ästhetisches abzuringen.
II.3 Ernst Jünger – Oder: Schmerz ist, wenn man trotzdem lacht Nachdem wir dem Verachtungslächeln und dem »wit« Brummells auf die Spur gekommen und den allenfalls grinsenden Künstlerdandy Baudelaires aufgegriffen haben, werfen wir jetzt einen Blick auf die bereits in der Einleitung angedeutete Transzendierung des Dandys ins 20. Jahrhundert. Wir weiten den Blick in dieser Betrachtung erstPoes: Der Mann der Menge. (engl. The man of the crowd. 1840.) Vgl. auch Walter Benjamin: Der Flaneur. Oder auch Benjamins Baudelaire-Studien. 51 Vgl. Charles Baudelaire: Mein entblößtes Herz. In: Henry Schumann (Hg.): Charles Baudelaire. Der Künstler und das moderne Leben. Essays, »Salons«, Intime Tagebücher. 2. Aufl. Leipzig 1994, 331–338, hier 334. 52 Ebd. 53 Vgl. Erbe: Dandys, 189. 54 Vgl. ebd. 190.
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mals in den deutschen Sprachraum aus und müssen vorwegnehmen: Wirkliche Dandys nach Brummells Gusto mit deutschsprachiger Feder und Zunge gab es wenige. 55 Jedoch haben sich bestimmte Stilisierungen und Motive erhalten und ins nächste Centennium gerettet. Ich werde versuchen, einige Motive im Hinblick auf das Verächtungslächeln am Beispiel des von mir schon mehrfach erwähnten Ernst Jüngers aufzuzeigen. Ernst Jünger, einer der großen Selbststilisierer der deutschen Literatur, hat dem Dandy, vor allem dem Baudelaireschen, viel zu verdanken. Wir müssten an dieser Stelle eine ganze dandyeske Tour de force durch das Jüngerscher Werk auf der Suche nach unserem Verachtungslächeln unternehmen. Es fehlen für dieses lohnenswerte Unterfangen an dieser Stelle nur der Raum und leider auch die Zeit. Deswegen werde ich mich auf der Suche nach dem Dandylächeln auf Jüngers essayistisch-philosophischen Reflexionen des Schmerzes und der Désinvolture konzentrieren. Jüngers literarische Dekadenz- und Dandybilder müssen an dieser Stelle im Großen und Ganzen außen vor bleiben. 56 Doch sei mir nichtsdestotrotz gestattet, einen kleinen Exkurs zum ›Dandy im Schützengraben‹ und literarischem Soldatendandy zu unternehmen. Der Salon in dem Jünger seine erste Stilisierung dandyesker Manier erlebte bzw. auslebte, waren die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges. Seine Stilisierung in den Kriegstagebüchern folgt dem »Kult des Bösen« Baudelaires und der Dekadenz eines Des Esseintes: »Heute Nachmittag fand ich in der Nähe der Latrine von der Festung Altenburg zwei noch zusammenhängende Finger- und Mittelhandknochen. Ich hob sie auf und hatte den geschmackvollen Plan, sie zu einer Zigarettenspitze umarbeiten zu lassen. Jedoch es klebte […] noch grünlich weißes ver-
Allenfalls: Hermann Fürst Pückler-Muskau. Seine aus dandyistischem Interesse sehr zu empfehlenden Texte: Briefe eines Verstorbenen. 2 Bde. Berlin 1987. Ansonsten vor allem Ästhetizisten wie Hofmannsthal und George, Künstlerdandys bzw. Bohemiens wie etwa Gottfried Benn, Ernst Jünger, oder Bertolt Brecht, reiche Müßiggänger wie Thomas Mann, oder später Thomas Bernhard und in neuerer Zeit zeigen »Pop-Literaten« wie Rainald Goetz und vor allem Christian Kracht an den Dandy erinnernde Stilisierungen. 56 Wer sich auf die literarische Suche begeben möchte, dem rate ich zu: Ernst Jünger: Das Abenteuerliche Herz I und II. Wie auch seine unterschätzte, aber wunderbare Novelle: Eine gefährliche Begegnung. Seinem frühen Roman: Sturm. Dem Spätwerk: Eumeswil und natürlich und vor allem: Den Pariser Tagebüchern aus: Strahlungen. 55
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westes Fleisch zwischen den Gelenken, deshalb stand ich von meinem Vorhaben ab.« 57
Jünger im Allgemeinen für einen kalten, von jeder Emotion freigemachten »Stereoskopen Blick« 58 berüchtigt, führt die ἀταραξία des Dandys weiter fort. In den zwanziger Jahren entwarf sich Jünger, nach seinem Romanerfolg In Stahlgewittern zu einem gewissen Ruhm gekommen, zu einem konservativ-nationalrevolutionären Publizisten mit einer dezidiert antibürgerlichen Haltung. Schon die Selbstdarstellung eines konservativen Antibürgers dürfte uns nach der Auseinandersetzung mit Baudelaire wissend aufhorchen lassen. Jünger pflegte Kontakte zum konservativen wie auch linken künstlerischen Milieu der ihm verhassten Weimarer Republik. Er traf Ernst Niekisch und Arnolt Bronnen, sowie natürlich Carl Schmitt aber auch Erich Mühsam und Bertolt Brecht. 59 Die typische Jüngersche Ambivalenz, sich nicht eindeutig festlegen zu lassen, was ihn sein gesamtes Leben und Schaffen ausmachen wie auch Vorwürfe einbringen wird, ist ebenso eine dandyhafte Attitüde. Die eigene Undurchschaubarkeit bei gleichzeitiger auf andere gerichtete Tiefenschärfe, ist etwas, dass Brummell schon charakterisiert hatte. Jünger kultivierte für sich eine Haltung, die er Désinvolture nannte. Sie ist nach Jünger etwas, »für die uns der entsprechende Ausdruck fehlt.« 60 Désinvolture erscheint als eine »göttergleiche Überlegenheit«, eine »Unschuld der Macht.« 61 Sie ist, wie so vieles bei Jünger ein Destillat aus der nietzscheanischen Philosophie. Wer im Besitz von Désinvolture ist, bei dem gibt es keinen Zweifel. Er steht in Beziehung zum Willen zur Macht. 62 Wenngleich die Désinvolture keine Frage des Willens, sondern der eigenen Haltung ist. Sie ist für Jünger nicht für jeden erlernbar. Jünger fasst zusammen: »Die Désinvolture als die unwiderstehliche Anmut der Macht ist eine besondere Form der Heiterkeit […].« 63 Karl-Heinz Vgl. Ernst Jünger: Kriegstagebücher 1914–1918. Stuttgart 2013. 4. Aufl. Vgl. zum Stereoskopischen Blick: Ernst Jünger: Sämtliche Werke. Zweite Abteilung Essays III. Bd. 9. Das Abenteuerliche Herz. 2. Aufl. Stuttgart 1999, 111 ff. 59 Zu Leben und Werk Jüngers Vgl: Helmuth Kiesel: Ernst Jünger. Die Biographie. München 2007. Vgl. auch: Matthias Schöning (Hg.): Ernst Jünger Handbuch. Leben Werk Wirkung. Stuttgart/Weimar 2014. 60 Vgl. Jünger: Das Abenteuerliche Herz. Zweite Fassung, 260. 61 Vgl., ebd. 62 Vgl., ebd. 63 Vgl., ebd., 261 57 58
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Bohrer definiert diese Haltung als die des »aristokratischen Menschen« mit »sullanischer Kälte« ausgestattet und der »mitleidlosen unbeteiligten Beobachtung« verpflichtet. 64 Bohrer bemerkt weiter: »Die Désinvolture kann verglichen werden mit der Unbekümmertheit eines Kindes, das eben tut, was alle gerne tun würden, aber nicht zu tun wagen […].« 65 Hier haben wir es mit einer Form der DandyHeiterkeit zu tun, die unser dandyeskes Verachtungslächeln auf die Spitze treibt. Es ist die Freude an der eigenen, selbst gewählten und konstruierten Aristokratie, die Berauschung an der eigenen Überlegenheit. Der Dandy Jüngers ist derjenige, frei nach Carl Schmitt, der über seine Aristokratie entscheidet. Er ist sich selbst der Souverän. Dandyismus trifft Dezisionismus. Distinguo ergo sum. 66 Für die anderen nur das altbekannte Lächeln übrig, treibt es ihn zur heiteren Selbsterhöhung. Die Désinvolture ist Jüngers »täglich zu übende Haltung für die Gegenwart« 67 , quasi sein soldatisch-künstlerisches Exerzitium. Nach der Einführung dieses Soldatendandys oder des »Des Esseintes des Schützengrabens« wollen wir zu seiner philosophischen Auseinandersetzung mit dem Schmerz und dem impliziten Verachtungslächeln kommen. Nach seinem Großessay Der Arbeiter 68 von 1932, einem diagnostisch, wie auch prognostisch überaus rücksichtslos brisanten, wie auch, bei allen beunruhigenden Problematiken, medien- wie auch technikphilosophisch hellsichtigem Werk, 69 schrieb Jünger eine Art Praxisanalyse seines Arbeitertypus: Eine Auseinandersetzung Über den Schmerz. Wir erinnern uns an Baudelaires lächelnden Lakedämonier angesichts des Bisses des Fuchses. Vgl. Bohrer: Ästhetik des Schreckens, 31 Ebd., 427. Vgl auch Jünger: Das Abenteuerliche Herz. Zweite Fassung, 261. 66 Das Mottozitat aus: Carl Schmitt: Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947– 1951. Berlin 1991. 67 Vgl. Bohrer: Ästhetik des Schreckens, 427. 68 Ernst Jünger: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. In: Ernst Jünger: Sämtliche Werke. Zweite Abteilung. Essays II. Bd. 8. Der Arbeiter. 2. Aufl. Stuttgart 2002. 69 Bei aller Problematik Jüngers, seines Werkes und seiner Person, muss man ihm in diesem Essay trotzdem eine große Stilisierungskunst und einen Weitblick im Hinblick auf Medien- und Technikanalyse zugestehen. Vgl. dazu Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Oder auch: Hans-Harald Müller/Harro Segeberg (Hg.): Ernst Jünger im 20. Jahrhundert. München 1995. Auch meinen Aufsatz zu Jünger, der im September 2015 erscheint: Felix Hüttemann: Die Materialschlacht. Ernst Jüngers Werkstätten – Landschaft der Automation. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. 64 65
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Was Baudelaire bereits andeutet, gestaltet Jünger 1934 in der Entemotionalisierung von Lachen und Schmerz zum kalten Exzess aus. Vorweg ist zu sagen, dass Jünger mit seinem »Arbeiter« eine Art von entindividualisierter Arbeiter-Aristokratie 70 entworfen hat. Hierbei treffen die moderne entindividualisierte Masse des 20. und der aristokratisch-dekadente Elitarismus des 19. Jahrhunderts aufeinander. Mit Jüngers Analyse betreten wir wieder den oben bereits bei Camus angedeuteten Weg in der Verbindung von Nihilismus und Dandyismus. Denn es ist der Fall, dass das Verachtungslächeln des Dandys, wie auch »der Schmerz unsere Werte nicht anerkennt.« 71 Der Schmerz ist nicht nur ein nihilistischer Einbruch in unsere Lebenswelt, er ist für Jünger der Analyseschlüssel des Selbst und der Welt. Jünger bringt es folgendermaßen auf den Punkt: »Nenne mir dein Verhältnis zum Schmerz, und ich will Dir sagen, wer Du bist!« 72 Also ist man ein lächelnder Dandy, ein schmerzgefeiter Lakedämonier oder gar ein auf Sicherheit bedachter verachtenswerter, weil dem Schmerz entfliehender, lauthals lachender Bürger? Der Schmerz ist der Prüfstein des Jüngerschen Dandys. Jünger predigt geradezu ein neues distanziertes oder eben objektives Verhältnis zum Schmerz: »Bringt man […] die angemessene Kälte auf […] [die] des Zuschauers, der von den Rängen des Zirkus aus das Blut fremder Fechter verströmen sieht, so fühlt man bald, daß dem Schmerz ein sicherer und unausweichlicher Zugriff innewohnt.« 73 Die Kälte der dekadenten römischen Kaiser, wir hatten sie im Zusammenhang mit Jünger schon angedeutet, wird hier zur Stilisierung und Kultivierung des Schmerzes als Lebensart neu heraufbeschworen. Jünger entwirft, wie sein Vorbild Baudelaire, den Dandyismus zur Opposition gegen das bürgerliche Primat der Ratio. Gegenreformatorische bzw. antiaufklärerische Bilder der Romantik werden von Jünger, wie schon bei Baudelaire, ins Feld geführt: »[S]ie [die Aufklärung (F. H.)] hat auch eine lange Reihe praktischer und für ein Jahrhundert des menschlichen Geistes typischer Maßnahmen hervorgebracht, so, um einige zu nennen, die Abschaffung der Folter […], die Zum Arbeiter ist noch anzumerken, dass Jünger diesen keineswegs marxistischproletarisch, sondern als eine metaphysische Gestalt begreift; hierbei vor allem Oswald Spengler und Nietzsche folgend. 71 Vgl. Ernst Jünger: Über den Schmerz. In: Ernst Jünger: Sämtliche Werke. Zweite Abteilung. Essays I. Bd. 7. Betrachtungen zur Zeit. 2. Aufl. Stuttgart 2002, 148. 72 Ebd. 145. 73 Ebd. 147. 70
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Erfindung des Blitzableiters, die Pockenimpfung, die Narkose, das Versicherungswesen […]. [U]nd wo man sich etwa über sie belustigt, geschieht das aus einem romantischen Dandyismus heraus, in dem sich der feinere Geist inmitten eines uferlos demokratischen Zustandes gerne gefällt.« 74
Eine Neuerung, die wir bei Jünger beobachten können, die viele weitere dandyeske Entwürfe im 20. Jahrhundert auszeichnet, ist der Hang zur Technikaffinität. Die Medien und die Technik werden zu Steigbügeln der dandyesken Selbstgestaltung und letztlich erstrebter Selbstauflösung. 75 Schon Sartre attestiert Baudelaire: »[A]us Stolz und Groll versuchte dieser Mann zeitlebens, sich in den Augen der Anderen und in seinen eigenen Augen zu einem Ding zu machen.« 76 Laut Jünger besteht die große dandyeske Kunst darin, durch das Ertragen des Schmerzes und durch den Widerstand gegen das Lachen, sich selbst als Objekt sehen zu können und den Körper nur als Instrument oder eben als Ding und Medium unter anderen zu betrachten: »Dieses zweite und kältere Bewusstsein deutet sich an in der sich immer schärfer entwickelnden Fähigkeit sich selbst als Objekt zu sehen. […] Wir arbeiten nicht nur, wie kein anderes Leben vor uns, mit künstlichen Gliedern, sondern wir stehen auch mitten im Aufbau seltsamerer Bereiche, in denen durch die Anwendung künstlicher Sinnesorgane ein hoher Grad der typischen Übereinkunft geschaffen wird.« 77
Wird hier an dieser Stelle der Dandy etwa kollektivistisch oder gar verdinglicht? Nichts könnte ihm vordergründig ferner liegen. Doch zieht sich ein Flirt des Dandys des 20. Jahrhunderts mit der technisch-medialen Selbstauflösung von den dreißiger Jahren über die »kybernetisierten« Sechziger und Achtziger 78 bis zur Pop-Literatur Christian Krachts. 79 Ein Sonderfall bietet, nebenbei bemerkt, der Ebd. 152 f. Ein überaus spannender Zusammenhang, den ich hier nur andeuten kann. Ich werde den Zusammenhang von Dandytum, Kybernetik und Posthumanismus an anderer Stelle in einem 2015 erscheinenden Sammelband zum Transhumanismus herausgegeben von Kevin Liggieri und mir weiter verfolgen. 76 Sartre: Baudelaire, 51. [Hervorhebung im Original]. Im Übrigen bezeichnet Sartre die mit der Selbstauflösung flirtenden Dandys auch als einen »Selbstmörderklub« (ebd. 91). 77 Vgl. Jünger: Über den Schmerz, 181. 78 Vor allem bei Oswald Wiener. Vgl. den paradigmatischen Sammelband: Verena von der Heyden-Rynsch (Hg.): Riten der Selbstauflösung. München 1982. Darin vor allem der Aufsatz Oswald Wieners: Eine Art Einzige, 35–78. Hier weist Wiener auf den Dandy und seine Affinität zur Verkünstlichung hin. 79 Christian Krachts Roman 1979 beeinflusst von Robert Byron, Ernst Jünger und 74 75
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»mörderisch-dandyeske« Wallstreethändler Patrick Bateman, der American Psycho von Bret Easton Ellis, welcher mit Vorliebe andere auflöst. Der Akt der Verkünstlichung und der medialen Auflösung führt uns zur dandyesken Gretchenfrage des 20. Jahrhunderts, die Susan Sontag in ihren Notes on Camp gestellt hat: »Wie kann man im Zeitalter der Massenkultur Dandy sein?« 80 Camp als eine neue Variante des Ästhetizismus im Zeitalter des Massenkonsums zeigt gerade in seinem Hang zum Künstlichen, Überspitzten, Spielerischem und ironisch Gebrochenem eine neue Variante des Dandyismus auf. Es zeigt sich als eine Faszination des Vulgären, des vermeintlich Geschmacklosen. Aber Camp sieht eben doch »alles in Anführungsstrichen.« 81 Es wird sich eben nicht festgelegt. Es ist die dann doch altbekannte Tradition der Ambivalenz von Brummell bis Jünger. Ebenso war schon in den Ausläufern des 19. Jahrhundert, in der Dekadenz des Fin de Siècle, die Tendenz des Künstlichen stark hervorgetreten. So schuf sich Huysmans Protagonist De Esseintes sein eigenes Refugium voll bizarrer Gegenstände, wie der Likörorgel, kunstvoll in farbige Leder gebundene Bücher Baudelaires oder Mallarmés, exotischer Pflanzen und obszönen Kunstwerken. 82 Jüngers Dandy erweitert das Verachtungslächeln Baudelaires um die Reflexion und Stilisierung des Schmerzes als elitärem Adelsmerkmal. Er fügt eine Attitüde zum Technischen hinzu und behält die aufgezeigte Tendenz zum Nihilismus, zum Kult der Kälte und des Bösen bei, um letztlich Baudelaires Verachtung für das Lachen als Kontrastfolie des Schmerzes umfassend zu bestätigen. Der Schmerz ist der Prüfstein und die Bewährung des wahren Dandys, um dem empfindlichen Bürger verächtlich entgegenzugrinsen.
Gabrielle D’Annunzio, erzählt eine Geschichte der Selbstauflösung eines dekadenten Westlers, der 1979 von Teheran aus eine Reise der Selbstzerstörung antritt, die zur freudigen Selbstkasteiung in einem maoistischen Arbeitslager führen wird. Von Camp (im Sinne Sontags) geht es ins (maoistische) Conzentrationcamp. Kracht demaskiert damit jedes Spielerische des Camp zur bloßen Farce, um es dann wiederum ironisch zu brechen. 80 Susan Sontag: Anmerkungen zu Camp. In: Dies: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Frankfurt a. M. 2012. 10. Aufl., 322–341, hier 337 (Hervorhebung F. H.). 81 Ebd. 327. 82 Man vergesse natürlich nicht die berühmte mit Gold und Edelsteinen bestückte Schildkröte, die nebenbei Robert de Montesquiou wirklich besessen haben soll.
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Désinvolture oder die heitere Verachtung
III. Fazit – Oder: Die heitere Verachtung Es war unser Ziel, dem Verachtungslächeln und dem Typus des Dandys auf die Spur zu kommen. Über den Urdandy Brummell als King of Fashion, dem das Verachtungslächeln ein Instrument zur Selbsterhöhung und Philosophie des Selbstkultes war, veränderte sich der Dandy bei Baudelaire zu dem Schmerz weglächelnden, lakedämonischen Künstler im Kampf gegen die Trivialität. Dieser wagte den Spagat zwischen Kunst und Welt. Er ist eine satanische, aber nach Baudelaire eben tief menschliche Figur im Kampf um die Ästhetisierung des Ichs und der Welt gegen die göttliche Moral. Diese Attitüde transzendierte Ernst Jünger ins 20. Jahrhundert. Er erweiterte das Verachtungslächeln des Baudelaireschen Dandys um die Kontrastfolie des Schmerzes und die Verkünstlichung durch die Technik. Er machte Essenzen des Dandys konsumierbar für die technisierte Massengesellschaft nach 1918, die sich anhand entemotionalisierter Verhaltenslehren des 19. Jahrhunderts reorganisierte. Wo steht der Dandy heute? Kann man in unserer digitalen Welt noch davon sprechen? Gibt es vielleicht sogar ein dandyeskes »Internet der Dinge«? Wenngleich jemand wie Roland Barthes dem Dandytum durch die industriell hergestellte Massenmode den Tod bescheinigte, ist die dandyeske Selbstsorge nicht verschwunden. 83 Sie ist vielmehr in unserer postmedialen Zeit polyvalent geworden. 84 Sie digitalisiert sich. Wenn man so will, ist der Dandy konvergent zu den umweltrelationalen Medien unserer Zeit in Verbindung zu den technischen, literarischen und digitalen Objekten auf eine andere Stufe getreten. Kann man die Dandygeschichte als eine Mediengeschichte begreifen? Dies werde ich an anderer Stelle ausführlicher verfolgen. Zusammenfassend lässt sich sagen: Bei allen Variationen, die uns im Bild des Dandys über die Zeitenwenden begegnen, scheint ihm ein Vgl. Roland Barthes: Das Dandytum und die Mode. In: Verena von der HeydenRynsch (Hg.): Riten der Selbstauflösung, 303–307. Nebenbei bemerkt; ist etwa die Maßschneiderei für Herren immer noch höchst produktiv und in jüngster Zeit wieder äußerst on vogue. So ist Barthes Argument hinfällig, denn das wesentliche Instrument modischer Selbstgestaltung steht dem Zahlungswilligen immer noch stets offen. Wenngleich natürlich im Herrenanzug des Jahres 2015 nicht mehr das Provokationspotential stecken mag wie noch zu Zeiten Brummells oder Baudelaires. Ein Statement ist er dennoch geblieben oder wieder geworden. 84 Vgl. zum Begriff des Postmedialen und der Polyvalenz: Félix Guattari: Die drei Ökologien. 2. Aufl. Wien 2012. 83
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Kennzeichen unverändert inhärent zu bleiben: Sein kaltes Verachtungslächeln in Abstand zur allzu trivialen Welt und den »gewöhnlichen« menschlich allzumenschlichen Anderen darin. Friedrich Nietzsche lässt uns aber der Attitüde des Dandys auf die Schliche kommen: »Wie? Ein großer Mann? Ich sehe in ihm nur den Schauspieler seines eignen Ideals.« 85 Der Dandy ist und bleibt eine sinistre Faszinationsfigur an dem sich nach wie vor Künstler und Theoretiker abarbeiten. Albert Camus resümierte zur Faszinationskraft des Dandys: »Wenn die Dandys sich nicht umbringen oder verrückt werden, machen sie Karriere und stehen Modell für die Nachwelt.« 86 Müssen wir uns damit den Dandy als glücklichen Menschen vorstellen?
Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente Sommer-Herbst 1882. zitiert nach: http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/NF-1882,3[1] [Stand: 22. 08. 14.] 86 Camus: Der Mensch in der Revolte, 46 [Hervorhebung von mir (F. H.)]. 85
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Kannibalisches Gelächter Überlegungen zu Elias Canettis »Lachtheorie« Peter Friedrich
I. Elias Canettis Hauptwerk Masse und Macht ist vielen bis heute fremd geblieben. In einem vielzitierten Rundfunkgespräch mit Canetti bezeichnete bereits Theodor W. Adorno Canettis Buch als »Skandalon«. 1 Aus der Sicht wissenschaftlicher Konventionen ist das permanente Durchkreuzen einer vermeintlich wissenschaftlichen Redeabsicht durch literarische Techniken in der Tat ärgerlich und anstößig: Das Spiel mit Analogien und Ähnlichkeiten, aphoristisch zugespitzte Behauptungen, willkürlich erscheinende Begriffssetzungen, also eine freie Anwendung sprachlicher Mittel, die jedoch gleichwohl auf Richtigkeit und Geltung angelegt scheinen, kennzeichnen die Schreibweise des Buches und auch die darin enthaltene Auffassung des Lachens. Mit einigem Recht also weist Adornos Verdikt darauf hin, dass es sich bei Masse und Macht um ein Werk handelt, das an der Dezentrierung von Sinn und kulturellem Bedeuten arbeitet, an Grenzüberschreitungen, insbesondere auch im Verhältnis von anthropologischer Faktizität und literarischer Rhetorizität. Was dieses extravagante Zusammenspiel von Faktizität und Rhetorizität anbelangt, hat man sich in der Canetti-Forschung übrigens auf das Label einer poetischen Anthropologie geeinigt 2 , um die gelegentlich irritierende und oft kunstvoll imaginierte Gleichrangigkeit mythischer, literarischer, philosophischer und wissenschaftlicher Rede über den Menschen zu charakterisieren. Aus einer so komponierten Schreibweise poetischer Grenzüberschreitung ist auch Canettis vielzitierte
Elias Canetti: Gespräch mit Theodor W. Adorno. In: Elias Canetti: Werke. Aufsätze, Reden, Gespräche. Zürich 2005, 140–163, hier 142. 2 Dagmar Barnouw: Elias Canettis poetische Anthropologie. In: Herbert G. Göpfert (Hrsg.): Canetti lesen. Erfahrungen mit seinen Büchern. München/Wien 1975, 11– 31. 1
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Beschreibung des Lachens als kulturelle Hemmung einer ursprünglich kannibalischen Fresslust, die ich im Folgenden darstellen und kommentieren möchte, entstanden. Ich werde zunächst einen schlaglichtartigen Überblick über die poetisch-anthropologischen Aspekte des Lachens in Canettis Werk versuchen, dann auf die erwähnte Bestimmung des Lachens in Masse und Macht und auf ihre intertextuelle und gegendiskursive Dimension eingehen. In einem dritten Schritt versuche ich schließlich, Canettis Lachensdarstellung als eine Form der epistemologischen Komik, genauer: einer bisoziativen Ähnlichkeitskomik zu lesen, denn es gibt doch gute Gründe für die Annahme, dass Canetti womöglich nicht sehr viel zu einer wissenschaftlichen Klärung der Genealogie des Lachens beitragen kann, aber durch eine komische Figur des Scheiterns im Nachdenken über das Lachen an das Lachhafte jedes Theoretischen erinnert. 3
II. In seinem autobiographischen Roman Die gerettete Zunge stellt Canetti einen Zusammenhang zwischen Lachen, Kannibalismus und literarischen Motiven anhand einer kindlichen Angst-Erinnerung her. Der kleine Canetti lernt im englischen Exil in Manchester bei einer Privatlehrerin die französische Sprache, freilich mit einer falschen Aussprache. Wenn Canettis Eltern Gäste im Hause haben, wird das Kind aufgefordert, seine einzige französische Lektüre, die es auswendig gelernt hat, aufzusagen. Da der kleine Canetti dies mit Inbrunst und in einem englisch gefärbten Französisch tat, lachte die Runde der Erwachsenen mit weit aufgerissenem Mündern und entblößten Gebissen. Canetti fährt folgendermaßen fort: »Als es soweit war, bogen sich alle vor Lachen. […] Selbst die Damen […] lachten mit weit offenem Mund, als ob sie mich im nächsten Augenblick verschlingen würden. […] Lachen ist mir seither ein Rätsel geblieben, über das ich viel nachgedacht habe, es ist mir bis heute ein Rätsel geblieben. […] Ich brachte alles, was ich damals erlebte, in Zusammenhang mit Büchern, die ich las. Es war nicht weit gefehlt, dass ich die hemmungslos lachende Vgl. zum Folgenden auch die ausführlichen Darlegungen in Peter Friedrich: Die Rebellion der Masse im Textsystem. Die Sprache der Gegenwissenschaft in Elias Canettis ›Masse und Macht‹. München 1999, 118–154.
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Meute der Erwachsenen als Menschenfresser empfand, die ich aus ›Tausendundeine Nacht‹ und ›Grimms Märchen‹ kannte und fürchtete. Am stärksten wuchert die Angst, es ist nicht zu sagen, wie wenig man wäre ohne erlittene Angst.« 4
Der Erinnerung liegt zunächst eine konventionelle Auffassung des Komischen zugrunde, wonach es sich um eine zum Lachen reizende Ungereimtheit, Normabweichung oder Konsequenz lose Fehlhandlung handelt und hierzu gehören natürlich auch – seit der Antike – falsche Aussprache und Wortentstellung. 5 Das Kind kann aber nicht den Grund des Lachens erfassen, sondern nimmt nur das Ausdrucksverhalten der Lachenden wahr: Die weit aufgerissenen Münder und die gefletschten Zähne stellen eine Bedrohung dar, die den kleinen Canetti weinen machen und weit aufgerissene Münder und gefletschte Zähne – das weiß doch jedes märchenlesende Kind – gehören Anthropophagen, Menschenfressern. Canetti liefert daraufhin aber auch eine psychologische Erklärung des Lachens: Die versammelten bulgarischen Bildungsbürger, die gelernt hätten, akzentfreies Französisch zu sprechen, aber mit ihrem Englisch im Exil »einige Mühe hatten«, »genossen«, so Canetti, »eine schamlose Meute, die Umkehrung ihrer eigenen Schwäche an einem Kind«. 6 Lachen erscheint als Konversion eines Mangels des Lachenden; die schamlose Meute der Erwachsenen genießt, für den Augenblick eines Lachens, die Erniedrigung des Anderen als Kompensation eigener Schwäche bzw. als Gefühl der Überlegenheit. Das ist eine relativ konventionelle psychologische Auffassung des Lachens als Verlachen, die aber die infantile und von Märchenphantasien induzierte Kannibalismus-Imagination – auch beim erwachsenen Autor – keineswegs verdrängt. Die kindliche Wahrnehmung wird also nicht überwunden, sondern es bleibt die Erfahrung der erlittenen Angst und die durch Märchen und Mythos forcierte Rätselhaftigkeit des kannibalischen Ursprungs des Lachens hat sich als Deutungsmuster verfestigt. Ein zweites Mal schildert Canetti das Lachen einer Gruppe von Menschen im zweiten Band seiner Autobiographie Die Fackel im Ohr. Der 19-jährige Canetti besucht in Wien eine der legendären Vorlesungen von Karl Elias Canetti: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. Frankfurt a. M. 1981, 65. 5 Rainer Warning: Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie. In: Wolfgang Preisendanz/Rainer Warning (Hgg.): Poetik und Hermeneutik VII. Das Komische. München 1976, 279–333, hier 285 und 286 (Anm.) 6 Canetti: Die gerettete Zunge, 65. 4
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Kraus. Der junge Kraus-Enthusiast zeigt sich von der tierähnlichen Physiognomie des berühmten Redners und von dessen variationsreicher Stimmmodulation fasziniert. Unter dem Eindruck der krausschen Stimmkunst entfaltet sich im überfüllten Hörsaal eine eigentümliche Massendynamik. Canetti berichtet: »Von Anfang an und während der ganzen Veranstaltung war es die Stille vor einem Sturm. Schon die erste Pointe, eigentlich war es nur eine Anspielung, wurde durch ein Gelächter vorweggenommen, das mich erschreckte. Es klang begeistert und fanatisch, befriedigt und drohend zugleich, es kam, bevor noch eigentlich ausgesprochen war, worum es ging. […] Es waren nicht einzelne, die lachten, sondern viele zusammen. Wenn ich einen schräg links von mir ins Auge faßte, um die Verzerrungen seines Gelächters, dessen Ursachen ich nicht erfaßte, zu begreifen, klang es hinter mir genauso und ein paar Sitze weiter weg auf allen Seiten. […] Immer waren es viele und immer war es ein hungriges Lachen. Ich hatte bald heraus, daß die Leute zu einem Mahl gekommen waren und nicht, um Karl Kraus zu feiern.« 7
Der in der Geretteten Zunge als märchenhaft, infantil und rätselhaft ausgewiesene Konnex zwischen Fraß und Gelächter hat sich offenbar verselbständigt, denn das erinnernde Ich ist sich dessen nun gewiss, dass sich die intellektuelle Lachmeute zu einer Totemmahlzeit, zu einem kannibalischen Ritual versammelt hat. Wie bereits in der Kindheitserinnerung stellt auch hier »verunglückte Sprache« den Lachanlass her, denn bekanntlich hat Karl Kraus (in Die Fackel aber auch in seinen öffentlichen Vorträgen) in der Entstellung der Sprache und an »verderbten Texten die Verhängnisse seiner Zeit« aufzeigen wollen. 8 Zudem wiederholt sich auch die Negation eines didaktischen Sinns des Lachens: Das Fehlerhafte wird nicht im kollektiven Verlachen als das Unvernünftige oder Lasterhafte erkannt und trägt zu einer moralischen Besserung des Publikums bei, sondern firmiert schlichtweg als Durchbruch eines Atavismus, als eine aggressive Fresslust gegenüber dem, was der Wiener Wortmagier durch seinen bissigen Vortrag zu Fall gebracht hat. Das Verbot der Anthropophagie 7 Elias Canetti: Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921–1931. Frankfurt a. M. 1982, 69 f. 8 Manfred Schneider: Kritik der Paranoia. Elias Canetti und Karl Kraus. In: Susanne Lüdemann (Hrsg.): Der Überlebende und sein Doppel. Kulturwissenschaftliche Analysen zum Werk Elias Canettis. Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2008, 189–213, hier 195 f. Schneiders Text liefert eine instruktive Darstellung des konfliktreichen Verhältnisses Canettis zu Karl Kraus anhand der Leitkategorie der »Paranoia«.
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ist das kulturelle Verbot schlechthin. In der europäischen Gesellschaft scheint es, neben dem Inzesttabu, eine unhintergehbare Bedeutung zu haben; es steht für die Einsicht in die Notwendigkeit von Tabus und für den Respekt des Gleichen vor dem Gleichen. Außerdem impliziert es eine essentielle Differenzbestimmung zwischen Kultur und Natur, Mensch und Tier, Zivilisation und Barbarei. 9 Canetti hat in Masse und Macht einen ambivalenten theoretischen Gebrauch von Berichten und Mythen über Kannibalen gemacht. Einerseits firmiert Kannibalismus hier als kruder Machtvorgang: Anthropophagie ist nicht allein die Beseitigung einer bedrohlichen Macht, sondern durch die Einverleibung des anderen Menschen nährt und steigert man die eigenen Kräfte. Andererseits hebt Canetti an der totemistischen Opfermahlzeit aus den Ursprungslegenden der australischen Aranda ihren Kommunionscharakter hervor: Die vom Vater verspeisten Söhne verwandeln sich zu Larven und essen im Leib des Essenden »zurück« 10 , d. h. das Modell des Essens und Gegenessens firmiert als mythische Versinnbildlichung von Gleichheit und Gemeinschaft bzw. von Symmetrie und Reziprozität als stete Verwandlung der Körpersubstanzen. Festzuhalten bleibt zunächst, dass Canetti die Gier nach der Übertretung dieses Verbots in die intellektuelle Sphäre des abendländischen Hörsaals eingeschrieben hat: Spott, Komik, Satire, die Lachen erregenden Entlarvungstechniken des krausschen Vortrags, setzen im Publikum symbolisch eine der vermeintlich fundamentalsten Diätregeln unserer Kultur außer Kraft. Im Lachen des Publikums stürzen die Binäroppositionen Kultur vs. Natur, Mensch vs. Tier ineinander und es wird deutlich »dass Canettis Interesse an archaischen Situationen weniger vom Vertrauen in eine kulturelle Entwicklung getragen ist, die den Menschen vom Tier ablöst, als vielmehr von dem Bemühen, in der Komplexität moderner Gesellschaften das Fortwirken archaischer Kräfte nachzuweisen.« 11 9 Vgl. Anja Saupe: Kannibalismus und Kultur. Zu einer Poetik des Tabubruchs in der Fiktion – Drama, Comic und Film. Frankfurt a. M. 2011, 9 f. 10 Elias Canetti: Masse und Macht. 3 Aufl. Frankfurt a. M. 1981, 398 11 Anne D. Peiter: Komik und Gewalt. Zur literarischen Verarbeitung der beiden Weltkriege und der Shoa. Köln/Weimar/Wien 2007, 285 f. Erhard Schüttpelz hat die entsprechenden »literarische Arbeitstechniken« und »ästhetischen Entwürfe[]« Canettis unter dem Begriff des »Primitivismus« zusammengefasst. Seit den 1930er Jahren, so Schüttpelz, haben zahlreiche avantgardistische Autoren, Wissenschaftler und Künstler das Denken der sogenannten »Primitiven« als Folie eigener »ästhetischer Entwürfe« bzw. theoretischer Erklärungsversuche benutzt. Vgl. E. Schüttpelz: Elias Canettis Primitivismus. Aus der Provinz der Weltliteratur. In: Susanne Lüdemann
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In Canettis Dramentheorie ist die Kopräsenz von Archaik und Moderne, Tierischem und Menschlichem, Natur und Kultur auf die Spitze getrieben. Canetti erläutert im Gespräch mit Manfred Durzak seine auf dem Konzept einer sogenannten »akustischen Maske« aufgebaute Vorstellung vom Drama. Dabei schlägt er die Idee der sprachlichen Interaktion oder der Kommunikation im dramatischen Text provokant aus und behauptet, dass die menschliche Rede nicht auf Verständigungsabsicht beruhe, sondern auf wechselseitige Maskierung durch charakteristische bzw. typisierende Sprachgeräusche. Als Beleg für diese Ansicht verwies Canetti auf eine Schallplatte mit Tierstimmen, die der englische Biologe Julian Huxley 1938 unter dem Titel Afrikanische Tiere bei Nacht veröffentlich hat: »[D]a kommt nun die Stimme eines Tigers, eines Servals, eines Schakals, verschiedene Hyänen, wobei die eine Hyäne – sie hat eine Stimme wie ein Lachen – lacht. Die Platte endet mit dem wirklichen Lachen eines Irrsinnigen, der die Stimme dieser Hyäne ist. Das hat nicht nur als Ereignis die Form eines Dramas, denn es ist eine Jagd, die Erlegung eines Tieres, sondern es ist auch stimmlich ganz das. Ich hatte das Gefühl, das ist das größte Dokument, das mir je unter gekommen ist, für das was ich eigentlich will.« 12
Die Beziehung zwischen menschlichem und tierischem Lachen ist aus der Ähnlichkeit des Lachgeräusches herausgehört. Canetti zeigt sich hier als Geräuschespezialist, der den dokumentarischen Wert der akustischen Ähnlichkeit, die reine Materialität des Signifikanten, favorisiert und höher bewertet als semantische Differenzen. Die ›Sprache‹ des irrsinnigen Menschengelächters und das Lachen der Hyäne konvergieren hörbar in einem wesentlichen Punkt, der die Urszene alles Dramatischen sein soll, nämlich dem blutigen Nahrungsgeschäft. Diese Form der Erkenntnisgewinnung ist kennzeichnend für Canettis surrealistischen Naturalismus, d. h. für eine Schreibweise, die das krude, natürliche Faktum ohne vermittelnde Argumentationsschritte in die kulturellen Welten einschreibt. Canetti balanciert dabei auf der Grenze zwischen zoologischem Wissen und dessen systematischer Ausschlagung. Denn während das irrsinnige Menschenlachen – mit (Hrsg.): Der Überlebende und sein Doppel. Kulturwissenschaftliche Analysen zum Werk Elias Canettis. Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2008, 287–309, hier 287. 12 Canetti: Gespräch mit Manfred Durzak. Akustische Maske und Maskensprung – Materialien zu einer Theorie des Dramas, in: Canetti: Werke. Aufsätze, Reden, Gespräche, 298–317, hier 306.
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dem Canetti das Lachen der Hyäne vergleicht – deswegen als irrsinnig bezeichnet wird, weil es sich im Außerhalb der Sprach- und Vernunftordnung ereignet, also kein Mitlachen möglich macht, denn den Mitmenschen entzieht sich der Grund dieses Lachens, sind die charakteristischen Lachlaute der Hyäne doch wohl unzweifelhaft Ausdruck sozialer Kommunikation. 13 Hierbei ist es irrelevant, ob Canetti dieses wissen konnte oder nicht, sondern er praktiziert die poetische Überschreitung einer wissenschaftlichen Regel durch dichterische Selbstermächtigung ganz bewusst. Er möchte dieses quasi-genieästhetische Vorgehen zu einer Stör- und Findefigur aufwerten. Anders und im Hinblick auf Gaston Bachelards prominenten Begriff des epistemologischen Hindernisses formuliert: Während sich für den Wissenschaftstheoretiker Bachelard die wissenschaftliche Erkenntnis (etwa in der Physik) durch die Beseitigung »vorwissenschaftlichen« Denkens zur »objektiven Erkenntnis« mühsam durcharbeiten muss, in dem (wissenschaftshistorisch und individualgeschichtlich) die »Erkenntnishindernisse« der Sprache (Analogien und Bilder), der ersten Erfahrung, der Substanz, des Animismus und des Mythos beseitigt werden müssten, 14 strebt Canetti diesen »vorwissenschaftlichen Zustand« eines kindlich mondänen Gemüts geradezu an. Auch Canettis Roman Die Blendung ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil er mit einem irrsinnigen Lachen endet. Nimmt man seine intertextuelle Dimension in den Blick, dann ist auffällig, dass es sich um die Verarbeitung zweier der bedeutendsten komischen Kontrastpaare der Literaturgeschichte handelt: Im Verhältnis Kiens und Fischerles dürfen wir die groteske Variation des komischen Paares Don Quijote und Sancho Pansa 15 erblicken und in der Figurenkonstellation Kien und Therese Wie amerikanische Zoologen um Frederic Theunissen in einer groß angelegten Feldstudie gezeigt haben, hängt das ernste Kichern der Hyäne zwar mit dem Geschäft der Nahrungsbeschaffung zusammen, es verfügt aber zugleich über feine Nuancen in der Tonhöhe und -länge sowie auch in der Klangfarbe, wodurch die Raubtiere ihre soziale Hierarchie etablieren, die Jagd koordinieren, aber auch im Konfliktfalle Hilfe suchen usw. Vgl. Nicolas Mathevon, Aaron Koralek, Mary Weldele, Stephen E. Glickman, Frédéric E. Theunissen: What the hyena’s laugh tells: Sex, age, dominance and individual signature in the giggling call of Crocuta crocuta. In: BMC Ecology 10/1 (2010), 9 ff. 14 Gaston Bachelard: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis. Übersetzt von Michael Bischoff. Mit einer Einleitung von Wolf Lepenies, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1984, 37 ff. 15 Vgl. Karl M. Michel: Der Intellektuelle und die Masse. In: Golo Mann u. a. (Hgg.): 13
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finden sich zahlreiche Elemente des prototypischen Kontrastpaares thrakische Magd und Thales von Milet. Folgt man Hans Blumenberg, dann ist der von der Thrakerin verlachte Sturz des himmelwärts schauenden Protophilosophen in den Brunnen eine Urszene abendländischer Theorie, in der das Gelächter der Innerweltlichkeit über die Weltabgewandtheit, die Praxis über die Theorie triumphiert. Der Hiatus zwischen theoretischer und praktischer Welt wird in der Thales-Anekdote als »Komik der reinen Theorie« vorgeführt, indem sie paradigmatisch darstellt, dass die Welt zu einer »Fallgrube« werden kann, »wenn nur der physische Körper des Philosophen der Polisrealität« angehört, aber für den Kopf eine sekundäre Realität gilt. 16 »Das Komische ist«, so fährt Blumenberg fort, »der Zusammenstoß von Wirklichkeitsbegriffen, deren Unverständigkeit gegeneinander lächerlich, in der Konsequenz aber auch tödlich sein kann.« 17 Diesem tödlichen Rezeptionsstrang der Anekdote hat Canetti mit seinem Roman eine radikale Version hinzugefügt: Der gelehrte Weltverweigerer Peter Kien wird von seinem Dienstpersonal, voran von seiner thrakischen Magd Therese, nach und nach in den Wahnsinn und dann in den Selbstmord getrieben. Canetti schildert die Figuren seines Romans als um eine fixe Idee aufgebaute monomanische Spezialsysteme, die, anstatt anhand des Lachens über ihre Fremdheit zu kommunizieren, an einer wechselseitigen Forcierung ihrer Wahnvorstellungen und an ihrer Überwältigung arbeiten. Am Ende dieses auf groteske Eskalation aufruhenden Prozesses der Jagd bzw. des wechselseitigen Erschleichens und Ergreifens, während dessen der Roman übrigens zahlreiche Varianten des Lachens vorführt, setzt sich der Prototypus der reinen Theorie mitsamt seiner Bibliothek in Brand: Den Eintritt des tödlichen Autodafés quittiert Peter Kien mit wildem Gelächter. »Als ihn die Flammen endlich erreichen, lacht er so laut, wie er in seinem ganzen Leben nie gelacht hat.« 18 In der platonischen Anekdote erinnerte der Brunnensturz den milesischen Philosophen Neue Rundschau 75. Berlin/Frankfurt a. M. 1964, 308–316, hier 311; Manfred Durzak: Gespräche über den Roman. Formbestimmungen und Analysen, Frankfurt a. M. 1976, 35 und Dieter Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn. Der Roman ›Die Blendung‹. Bonn 1972, 40. 16 Hans Blumenberg: Der Sturz des Protophilosophen. Zur Komik der reinen Theorie – Anhand einer Rezeptionsgeschichte der Thales-Anekdote. In: Preisendanz/Warning (Hgg.): Poetik und Hermeneutik VII. Das Komische. München 1976, 11–64, hier 13. 17 Ebd., 11. 18 Elias Canetti: Die Blendung. Roman. (35. Aufl.), Frankfurt a. M. 2007, 510.
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noch schmerzhaft daran, dass er außer einem Kopf auch einen Leib besitzt und zugleich führte das Lachen der Thrakerin ihm vor Augen, dass eine Sphäre des Praktischen existiert, die die Abgründigkeit seiner Weltabgewandtheit beobachtet und in komischer Versöhnung kontrastiert. Am Ende von Canettis groteskem Roman über die Zersplitterung der Welt ist das Lachen kein sozialer oder kommunikativer Akt mehr, durch den der Kontrast zwischen den spezialisierten Teilwertsystemen, der Hiatus zwischen Kopf und Leib, transparent gemacht werden könnte, sondern die Theorie verlacht sich selbst und lacht über die Nichtigkeit der eigenen Leiblichkeit, der sie sich durch ihre apokalyptische Selbstauslöschung entzieht, indem sie im Feuer mit der Materie verschmilzt: Sie lacht über das Lachen, das den Kontrast zwischen Kopf und Welt verlacht hatte.
III. Die zitierten Erinnerungen aus den autobiographischen Bänden zur kannibalischen Dimension des Lachens und der Topos des verlachten Sturzes haben sich in Canettis poetisch-anthropologischem Hauptwerk Masse und Macht folgendermaßen verknotet und verdichtet: »Das Lachen ist als vulgär beanstandet worden, weil man dabei den Mund weit öffnet und die Zähne entblößt. Gewiß enthält das Lachen in seinem Ursprung die Freude an einer Beute oder Speise, die einem als sicher erscheint. Ein Mensch, der fällt, erinnert an ein Tier, auf das man aus war und das man selber zu Fall gebracht hat. Jeder Sturz, der Lachen erregt, erinnert an die Hilflosigkeit des Gestürzten; man könnte es, wenn man wollte, als Beute behandeln. Man würde nicht lachen, wenn man in der Reihe der geschilderten Vorgänge weitergehen und sich’s wirklich einverleiben würde. Man lacht, anstatt es zu essen. Die entgangene Speise ist es, die zum Lachen reizt; das Gefühl der plötzlichen Überlegenheit, wie schon Hobbes gesagt hat. Doch hat er nicht hinzugefügt, daß sich dieses Gefühl nur dann zum Lachen steigert, wenn die Folge dieser Überlegenheit ausbleibt. Hobbes’ Auffassung des Lachens kommt der Wahrheit auf halbem Wege entgegen; zu ihrem animalischen Ursprung ist er nicht vorgestoßen, vielleicht weil Tiere nicht lachen.« 19
Canettis Vorstellung, die vom verlachten Sturz des Anderen ausgeht, gehört offensichtlich in die lange Tradition der sogenannten »Aggres19
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sions-« oder »Degradationstheorien« des Lachens. J. C. Gregory notiert 1924 in The nature of laughter: »Das Gelächter, das mit dem Menschen aus dem Nebel der Antike auftaucht, scheint einen Dolch in der Hand zu halten. Es gibt in der Literatur der Antike über das Lachen so viele Beispiele für brutalen Triumph, Verachtung und Fußtritte gegen den Besiegten, dass wir annehmen dürfen, dass das ursprüngliche Lachen ausschließlich aggressiv gewesen ist.« 20
Mit dem Satz, Hobbes, der prominenteste Vertreter der Degradationstheorie des Lachens, komme der Wahrheit auf halbem Wege entgegen, droht Canetti, wenn man so sagen darf, eine Forcierung oder Radikalisierung der Aggressionstheorie des Lachens an. In Elements of Law hat Hobbes in einer berühmten Parabel den ›freien Konkurrenzkampf des Lebens‹ mit einem Wettrennen verglichen, bei dem jeder der erste sein will. Zum Lachen heißt es dort: »Plötzlich Fallen ist Neigung zum Weinen/Einen anderen plötzlich Fallen sehen Neigung zum Lachen.« 21 Das Erlebnis dieses berühmt-berüchtigten »sudden glory«, so präzisiert Hobbes im Leviathan, hat zur Voraussetzung, dass ein Fehler vorliegt, dass dieser ein fremder ist und dass die Empfindung plötzlich eintritt: »Plötzlicher Stolz [sudden glory] ist die Leidenschaft, die jene Grimasse hervorbringt, die man Lachen nennt. Es wird entweder durch eine plötzliche eigene Tat verursacht, die einem selbst gefällt, oder durch die Wahrnehmung irgendeines Fehlers bei einem anderen, wobei man sich selbst Beifall spendet, indem man sich damit vergleicht.« 22
Das Lachen ist Bestandteil der menschlichen Natur und diese ist ihrerseits durch das Zusammenspiel von Selbsterhaltungsbegehren und Todesfurcht gekennzeichnet: Lachen quittiert die Freude über einen Vorteil im Überlebenskampf. Man könnte Hobbes als Gegenspieler eines karnevalistischen, angstfreien und machtkritischen Lachens bezeichnen. Hobbes Lachen ist im krassen Unterschied zum Renaissance-Konzept, das Michail Bachtin im Rückgriff auf Rabelais
Zit. n. Arthur Koestler: Der göttliche Funke. Der schöpferische Akt in Kunst und Wissenschaft. Bern/München/Wien 1966, 44 f. 21 Thomas Hobbes: Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen, hrsg. und eingeleitet von Ferdinand Tönnies. Darmstadt 1976 (Neudruck der Ausgabe von 1926), Kap. X, Abschnitt 21, 77. 22 Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, hrsg. v. Iring Fetscher. Neuwied/Berlin 1964, 44. 20
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in Erinnerung gerufen hatte 23 , nicht kollektiv, nicht festtäglich, nicht befreiend und nicht egalisierend, sondern individuell, alltäglich und differenzierend bzw. hierarchisierend; eine psychophysische Körpersensation konkurrierender Markt-Solitäre. Bei Canetti findet sich nun eine Um-Schrift und Fort-Schrift, die sich als Verschärfung und Verengung der Beziehung Lachender/Verlachter charakterisieren lässt: Das Bild des Sturzes als Lachanlass wird entdifferenziert und mit dem Tod in Verbindung gebracht. Der Theorie/Welt-Bezug des protophilosophischen Sturzes sowie die Freude an der Überlegenheit des Anderen durch den kompetitiven Vergleich bei Hobbes ist einem verdeckten Jäger/Beute-Schematismus gewichen: Durch die Wahrnehmung des Sturzes wird die kulturelle Verbrämung dieses Jäger/Beute-Bezugs plötzlich aufgebrochen, der Mensch stürzt in einen Atavismus. Das Lachen funktioniert als blitzartiges Bewusstwerden einer Überlegenheit, die sich ohne kulturelle Hemmung als vollständige Aggression gegen den Gestürzten ausgewirkt hätte, aber stattdessen, womöglich als Folge eines Verbots, die dynamische Aggressionsspannung in einem leerlaufenden psychophysischen Vorgang freisetzt. Auf das Verbot der Tötung und Einverleibung des Artgenossen als Beute reagiert der Körper ersatzweise mit konvulsivischen Schlingbewegungen der Kau- und Verdauungswerkszeuge: Genese des Lachens. 24 Diese Forcierung oder Radikalisierung kennzeichnet das Lachen als gehemmte Beziehung des Lebendigen zum Lebendigen. Der Gestürzte wirkt so, als hätte man ihn, wie bei der Jagd, selbst zu Fall gebracht und das Lachen unterhält eine Beziehung zum Tod des Anderen als mögliche Steigerung des Lebens bzw. zur Suspendierbarkeit der Tötungsabsicht – also zu Canettis Definition von Macht. Der logische Schematismus dieser Erklärung lässt sich auch mit der berühmten Kantschen Formulierung: »[d]as Lachen ist ein Affekt Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann. Frankfurt a. M. 1987. 24 Lachen, so notiert Canetti, finde »zwischen Fang und Fraß« statt. Weinen wäre, damit korrespondierend, der Moment vor dem Gefressenwerden. »Das freundliche Anlächeln beim Grüssen: Darum so komisch, weil eigentlich das Lachen Freude über das baldige Fressen ist.« Das Lächeln, heißt es an anderes Mal, ist so entwaffnend, weil man durch Vorzeigen der Waffen, die Absicht bekräftig, sie nicht zu benutzen, den anderen eben nicht zu fressen. Vgl. zu diesen unveröffentlichten Aufzeichnungen aus der Zeit der Arbeit an der Blendung Sven Hanuschek: Elias Canetti. Biographie. München/Wien 2005, 438 f. 23
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aus der plötzlichen Verwandlung eine gespannten Erwartung in nichts« 25 veranschaulichen. Während Kant allerdings an geistige Spannungen denkt, an »Verstandesvorstellungen«, die nicht Gegenstand der »Urteilskraft« werden können, reduziert Canetti diesen Entzug auf eine primitivistische Bedeutung. Analog zu einer vergleichbaren Vorgehensweise bei Arthur Koestler, der den Kant’schen Schematismus zu der Aussage, Lachen sei Entladung einer »Aggression, die ihres Zieles beraubt wurde« umgearbeitet hat 26 , verengt Canetti die Dreiheit Erwartung/Aggression/Entzug zur Dreiheit Beute/ Töten/Entzug-der-Speise. Es ist nicht jede gespannte Erwartung, noch nicht einmal irgendeine Aggression, die sich auflöst, sondern allein das kannibalische Begehren verflüchtigt sich in nichts bzw. an die Stelle der Introjektion und der Vertilgung des Anderen mit dem Ziel der Sättigung soll ein Leerlauf der Verschlingungs- und Verdauungswerkzeuge treten. Forcierung und Monosemantisierung des Lachanlasses sowie die sich damit überschneidende Konkretisierung des Lachschemas zielen darauf ab, ein bekanntes theoretisches und rhetorisches Inventar bzw. Pattern umzukehren. Die Canettische Version des Lachmechanismus’ Beute/Töten/Entzug der Speise lässt sich nämlich zu Freuds Theorem von der Genealogie des Lachens in Beziehung setzen, denn dessen Erklärung des Lachens geht folgerichtig vom direkten Gegenteil aus. Freud schreibt: »Meines Wissens tritt die für das Lächeln bezeichnende Grimasse der Mundwinkelverziehung zuerst beim befriedigten und übersättigten Säugling auf, wenn er eingeschläfert die Brust fahren läßt. Sie ist dort eine richtige Ausdrucksbewegung, da sie dem Entschluss, keine Nahrung mehr aufzunehmen, entspricht, gleichsam ein ›Genug‹ oder ›Übergenug‹ darstellt. Dieser ursprüngliche Sinn der lustvollen Übersättigung mag dem Lächeln, welches ja das Grundphänomen des Lachens bleibt, die spätere Beziehung zu den lustvollen Abfuhrvorgängen verschafft haben.« 27
Introjektion des begehrten Objekts, das Spüren der Übersättigung, die innere Vorhandenheit des Begehrten und der Ausdruck einer Zufriedenheit angesichts leiblicher Fülle (pleroma) als Ursprung des Lä25 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe, Band X, hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974, B 226. 26 Arthur Koestler: Der Mensch – Irrläufer der Evolution. Die Kluft zwischen unserem Denken und Handeln – eine Anatomie menschlicher Vernunft und Unvernunft. Bern/München 1978, 137. 27 Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Studienausgabe. Band IV, hrsg. von Alexander Mitscherlich. Frankfurt a. M. 1984, 138 (Anm.).
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chelns stellen ersichtlich das Gegenteil der Canettischen Vorstellung dar. Das Lachen entsteht bei Canetti gewissermaßen als kulturelles Phänomen in Folge des Hungers oder des Verzichts auf Speise, es entsteht dadurch, dass die Anwesenheit des Fremden im Eigenen durch ein Surrogat an körperlicher Aktivität ersetzt werden muss. Canetti hierzu: »Der Mensch allein hat es gelernt, den vollkommenen Prozess der Einverleibung durch einen symbolischen Akt zu ersetzen. Es scheint, dass die Bewegungen, die vom Zwerchfell ausgehen und fürs Lachen charakteristisch sind, eine Reihe von inneren Schlingbewegungen des Leibes zusammenfassend ersetzen.« 28 Die anti-freudianische Konversionsanstrengung Canettis – die ›Entmachtung‹ des Diskursivitätsbegründers Freud durch ein dementierendes Hadern gehört zu den wichtigen Kompositionsregeln von Masse und Macht – erschöpft sich aber nicht darin, Freuds Genealogie des Lachens umzudefinieren. Vielmehr geht es um eine Skandalisierung und Politisierung der symbolischen und kulturellen Bedeutung des oralen Schemas in der Psychoanalyse – aber auch weit darüber hinaus. Bei Freud, bei Hegel, Novalis und Bachtin etwa erscheint das oral-gastrische Erlebnis als Grundlage menschlicher Selbst- und Fremderfahrung, als Vorbild intellektueller Entfaltung und Identitätsbildung, ja als Modus der Menschwerdung. Die nutritive Logik der Subjekt/Objektbeziehung (Selbstwerdung durch Objektaufhebung und deren Reflexion) gilt als Grundelement der Hominisation, als Modell des Identitätsdenkens und der geistigen Weltaneignung. Michail Bachtin hat im karnevalistischen Konzept des grotesken offenen Körpers eine essende Weltkommunikation, in der Erkennen, Überleben und Siegen zusammenfallen, sehen wollen und auf die Persistenz dieser Metaphorik verwiesen: »Im Akt des Essens zeigt es sich mit großer Anschaulichkeit und Konkretheit: der Körper geht hier über seine Grenzen hinaus, er schluckt, verschlingt, zerteilt die Welt, nimmt sie in sich auf, bereichert sich und wächst auf ihre Kosten. Das im geöffneten, zubeißenden, kauenden Mund vollzogene Treffen von Welt und Mensch ist eines der ältesten und wichtigsten Sujets des menschlichen Denkens, eines der ältesten Motive überhaupt. […] Hier war der Mensch Sieger über die Welt, er verschlang sie, nicht umgekehrt, die Grenze zwischen Mensch und Welt war im für den Menschen positiven Sinn aufgehoben.« 29
28 29
Canetti: Masse und Macht, 145. Bachtin: Rabelais und seine Welt, 322 f.
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Im 19. Jahrhundert wird das Essen zum Modell geistigen Seins, etwa wenn Novalis notiert: »Alles Genießen, Zueignen und Assimilieren ist Essen, oder Essen ist vielmehr nichts als eine Zueignung. Alles geistige Genießen kann daher durch Essen ausgedrückt werden. […] Die körperliche Aneignung ist geheimnisvoll genug, um ein schönes Bild der geistigen Meinung zu sein.« 30 Eindringlich hat Hegel eine Situierung des Theoretischen im sinnlichen Körperschema durchdacht. Das »System der Sinne« ermöglicht demnach dem Lebendigen zwei Möglichkeiten der Aneignung der Welt: ihr theoretisches Aufnehmen durch Sehen und Hören und ihre praktische Vernichtung durch Schmecken und Riechen. Dabei erscheint der Mund in einer Doppelfunktion als Organ der vernichtenden Aneignung durch Essen und als Möglichkeit, die »Animalität« des Menschen durch die sprechende Stimme, aber auch durch Lachen, Schreien, Seufzen, zu mildern. 31 Im Mund – so präzisiert Hegel diese Doppelfunktion – hat »einmal die unmittelbare Verwandlung der Speise in Gebilde des lebendigen animalischen Organismus zu beginnen und andererseits, im Gegensatz gegen diese Verinnerlichung des Äußerlichen, die in der Stimme geschehende Objektivierung der Subjektivität [sich] zu vollenden.« 32 Im Essensvorgang wird das sichtbare Andere entformt und in die Unsichtbarkeit des Körperinneren versenkt. Umgekehrt formt der Mund die Unsichtbarkeit des subjektiven Innen zum Lautgebilde: Deformation und Vernichtung des Außen einerseits und sprachliche Veräußerlichung des Innerlichen andererseits. Die Dialektik zwischen »Einverleibung und Verlautbarung« hat Werner Hamacher am Werk Hegels luzide herausgearbeitet. Hamachers Resümee ist für ein Verständnis der Canettischen Verzeichnung bzw. kritischen Hintertreibung des Mundschemas bedeutsam: »Der Mund ist das Modell […], das spekulative Beispiel, das Struktur und Funktionieren aller anderen möglichen Beispiele determiniert und den systematischen Zusammenhang der Organe nach dem oralen Körperschema als die Ordnung des Logos sichert. Die Tätigkeit des Mundes ist, dort wo Novalis: Fragmente I. Werke. Briefe. Dokumente. Band 2, hrsg. v. Ewald Wasmuth. Heidelberg 1957, Fragment 1692. 31 Vgl. Manfred Riedel: Theorie und Praxis im Denken Hegels. Interpretationen zu den Grundstellungen neuzeitlicher Subjektivität. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1976, 21 f. 32 Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Werke in zwanzig Bänden. Bände 8–10. Frankfurt a. M. 1978, Band 10, § 401, Zusatz, 117. 30
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sie als Metapher des Geistigen erscheint, keine bloße äußerliche Analogie für den Prozess des Begreifens, sondern die systematisierende Klammer für die Komplexion zwischen Natur und Idee. Die Metapher des Mundes wirkt als Paradigma jedes möglichen dialektischen Übergangs des Real-Materiellen ins Ideelle, des Ideellen in sich, des An-sich in Für-Sich, als Metaphernschema, das alle Formen des Schlusses, vorab des spekulativen, strukturiert.« 33
Auch Freud stellt die Möglichkeit der Erfahrung des identischen Selbst durch Identifizierung in Beziehung zum eigenleiblichen Spüren des Essens, also durch einen Rückgriff auf die Doppelfunktion des Mundes: »Die Identifizierung ist eben von Anfang an ambivalent, sie kann sich ebenso zum Ausdruck der Zärtlichkeit wie zum Wunsch nach Beseitigung wenden. Sie benimmt sich wie ein Abkömmling der ersten oralen Phase der Libidoorganisation, in welcher man sich das begehrte Objekt durch Essen einverleibt und es dabei als solches vernichtet. Der Kannibale bleibt bekanntlich auf diesem Standpunkt stehen; er hat seine Feinde zum fressen lieb, und er frißt die nicht, die er nicht irgendwie lieb haben kann.« 34
Die Ambivalenz von Vernichtung und Vereinigung, der kannibalische Weg des Gleichen zum Gleichen, erweisen sich als vorbildende Vorgänge für die Enkulturation des Menschen sowie für die Möglichkeit der Identitätserfahrung, und zwar durch das grundsätzliche Erlebnis der eigenen Einheit als Aufhebung des Anderen, und hierher gehört auch der Wunsch zur Verschlingung, »als Urform aller Objektbeziehung.« 35 Die überbordende Bedeutung des Anthropophagen in der psychoanalytischen Theoriebildung sowie dessen prekären Status fasst Eva Horn folgendermaßen zusammen: »Anthropophagie ist Motiv in Mythen, es prägt die Symptombildung von Patienten, es ist Kernstück einer anthropologischen Spekulation über den Ursprung der Gesellschaft (in Totem und Tabu), es ist als Phantasma Analyseergebnis von Träumen und es dient schließlich als Modell für die BeWerner Hamacher: Pleroma – zur Genesis und Struktur einer dialektischen Hermeneutik bei Hegel. Georg F. W. Hegel: Der Geist des Christentums. Schriften 1796– 1800, mit bislang unveröffentlichten Texten hrsg. und eingeleitet von Werner Hamacher. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1978, 271. 34 Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse. Studienausgabe. Band IX, hrsg. von Alexander Mitscherlich. Frankfurt a. M. 1984, 98. 35 Eva Horn: Leichenschmaus. Eine Skizze zum Kannibalismus in der Psychoanalyse. In: Annette Keck u. a. (Hgg.): Verschlungene Grenzen. Anthropophagie in Literaturund Kulturwissenschaften. Tübingen 1999, 297–307, hier 297. 33
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schreibung von intrapsychischen Prozessen in der Trauer. Dabei legt sich der psychoanalytische Diskurs selten Rechenschaft darüber ab in welchem rhetorischen und epistemologischen Register (Modell, Phantasma, Mythos, Symptom) er sich gerade bewegt.« 36
Canettis Theorie des Lachens befindet sich also nicht zufällig am Ende seiner »Psychologie des Essens« in Masse und Macht, in die auch entsprechende Überlegungen zu den sogenannten »Eingeweiden der Macht« eingeschrieben sind. Diese Abschnitte hat Canetti um den Grundgedanken aufgebaut, dass alles, was gegessen wird, Gegenstand der Macht sei. Er fasst die Einverleibung als kruden Gewaltakt, als Extermination und sinnlose Selbstverzehrung des Seins. Alles systematische Verbinden, das sich in der Intensität des Begriffs ausdrücken will sowie der Formalismus und Logizismus des Denkens mit seinen egozentrischen Implikationen hat (folgt man Canetti) demnach seinen Ursprung in der elementaren Erfahrung der Einverleibung des Fleisches und erleidet darin auch seinen Fehlschlag. Wenn eben von einer Politisierung des Mundschemas die Rede war, dann soll dies heißen, dass sich die orale Erfahrung des Menschen für Canetti nicht bloß auf die Ausbildung von Ich-Funktionen bezieht bzw. als Metapher für einen begreifenden Ich-Welt-Bezug erscheint, sondern als mediale Erweiterung des oralsadistischen Beißvorgangs in die Humansphäre insgesamt reproduziert hat. Der Mund ist für Canetti kein Asyl der Sprache, sondern er liefert die erste und unmittelbare Erfahrung darüber, dass Existenz sich auf Verlust gründet, also auf der Beerdigung der Objekte im »Körpergrab.« 37 Im Kapitel »Ergreifen und Einverleiben« beschreibt Canetti die Funktion des Mundes als Übergang organischer Substanz in den Tod. Diese Beschreibung vergegenständlicht und destruiert das abstrakte Konzept der Identität durch eine genaue Verbalisierung des Verdauungsprozesses, mit dem Ziel, beide Vorstellungsebenen im Gedanken der Krudität konvergieren zu lassen. Canetti schreibt: »Die eigentliche Einverleibung der Beute beginnt im Mund. Es ist ein langer Weg den die Beute durch den Körper geht. Auf diesem Wege wird sie aufgesogen, was immer verwendbar an ihr ist, wird ihr entzogen. Was übrig bleibt, ist Abfall und Gestank. Dieser Vorgang, der am Anfang jeder animalischen Bemächtigung steht, ist aufschlussreich für das Wesen der Macht überhaupt. […] Der konstante Druck, unter dem die Speise gewordene Beu36 37
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Ebd., 307 im Rückgriff auf Pierre Fédida. Bachtin: Rabelais, 415.
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te steht, während der ganzen langen Weile, die sie durch den Körper wandert, ihre Auflösung und die innige Verbindung, die sie mit dem Verdauenden eingeht, das vollkommene und endgültige Verschwinden erst aller Funktionen, dann aller Formen, die einmal ihre eigene Existenz ausgemacht haben, die Angleichung oder Assimilation an das, was vom Verdauenden als Leib bereits vorhanden ist – all das lässt sich als der zentralste, wenn auch verborgenste Vorgang der Macht sehen.« 38
Canettis Darstellung ist nicht allein literarische Deskription eines physiologischen Prozesses, sondern auch radikale Kritik am Wege des Anderen ins Eine und an der vermeintlichen Grausamkeit dieses Vorgangs, der von der mit ihm einhergehenden Erfahrung des Genusses und der Überlebensnotwendigkeit der Nahrungsaufnahme überlagert wird. Die Aufhebung einer fremden Existenz im Akt des Essens wird als Steigerung des Mächtigen durch die Assimilation des Ohnmächtigen vorgestellt. Gleichzeitig ist die Assimilation Prototyp der Verbindung des Getrennten, an dem sich in anschaulicher Form die Herstellung von Identität unter Dingen als Machtvorgang aufzeigen lässt. Der Vorgang des Essens, in der Weise wie ihn Canetti erläutert, ist Einübung in die Macht, d. h. ein aus dem selbstverständlichen Überlebensanspruch abgeleiteter Zwang, das Objekt nicht als ein fremdes bestehen zu lassen und zugleich eine theoretische Funktion oder das semasomatische Modell zur Verknüpfung einer physiologischen Konstante mit einem Intellektualprinzip. Dieses Intellektualprinzip ist die Urteilsfunktion der Sprache/des Satzes, die Aussage des Identischen im Sprachprozess: Ebenso wie die Aufhebung der Existenz des Gegessenen zu einer Aufhebung von Alterität führt, ist die um den Satz von der Identität aufgebaute logische Urteilsfunktion ein Anwendungsfall der Gefräßigkeit. 39 In einer Aufzeichnung in Die Provinz des Menschen notiert Canetti hierzu unmissverständlich: »Jeder Aussagesatz in seiner scheinbaren Trockenheit, ist ein Urteil; das Urteil hat die Sprache aufgegessen.« 40 Gleichfalls liest man in Canettis Aufzeichnungsband: »Zwischen Erleben und Urteilen ist ein Unterschied wie zwischen Atmen und Beißen.« 41 Canetti rekonstruiert den Zusammenhang zwischen der elementaren Operation Canetti: Masse und Macht, 231 und 232. »Die Gefräßigkeit ist ein Anwendungsfall des Identitätsprinzips« (Bachelard: Die Bildung, 263). 40 Elias Canetti: Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942–1972. Frankfurt a. M. 1981, 124 41 Ebd., 41 38 39
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des logischen Denkens (die um die Kopula »ist« herum gebildet wird) und der elementaren Lebenspraxis des Essens (»isst«) durch eine Gleichsetzung zwischen den dritten Personen im Singular des Indikativ-Präsens der Verben »sein« und »essen«: S ist P, also die reine Form der Logizität des Ausdruck, transformiert bei Canetti zu einer semantischen Synonymie, das Urteil wird zum Biss: S isst P. 42 Hier liegt ein Grund für einige Merkmale der Schreibweise Canettis, die sich oft bemüht zeigt, auf urteilsprachliche Begriffsbildung und subordinierende Hypotaxen zu verzichten. Das klingt dann in seinen Aufzeichnungen beispielsweise folgendermaßen: »O Tiere, geliebte, grausame, sterbende Tiere; zappelnd geschluckt, verdaut und angeeignet; raubend und blutig verfault; geflohen, vereinigt, einsam, gesehen, gehetzt, zerbrochen; unerschaffen, von Gott geraubt, in ein täuschendes Leben ausgesetzt wie Findelkinder!« 43 Dieses ist ein vor Ekel erbrochener Satz, der – wie leicht zu bemerken ist – die Und-Konjunktion, die asyndetische Reihung, mithin eine maximale Differenz zum Urteilssatz als nicht identische Form der Attribuierung favorisiert. Die Ambivalenz des Mundes, d. h. das Zugleich der Vernichtungs-, der Zärtlichkeits- und Sprechfunktion skandalisiert Canetti nun dadurch, dass er in die natürliche Unvermeidlichkeit des Oral-Sadistischen die Kategorie des Ekels einführt. Die elementare Dialektik zwischen Identität/Subjektivität und einverleibender Aufhebung des Anderen gilt ihm als Skandal einer misslungenen Verbindung und Ursprung seines Ekels. »O der Ekel greift um sich, und der Ekel entstammt dem Fraß. Es ist alles vom Fraß angesteckt, es ist alles dem Fraß verfallen. Heuchlerisch der friedliche Tag, den manche erleben.« 44 Hier wird der Kontrast zu Freud (wie auch zu Hegel) auf die Spitze getrieben, indem Canetti den Ort der Ekelentstehung vom Genitalbereich auf den Mund verschiebt.
Ich lehne mich an Werner Hamachers kritisches Resümee zu Hegel an: »So wird […] das Wort ›ist‹, dieser ontologische Nukleus, von dem anderen Wort ›ißt‹, an dem es sein sinnliches Äquivalent haben soll, so affiziert, daß seine eigene Integrität dadurch in Frage gestellt ist. Bei dem Versuch ›ist‹ von ›ißt‹ zu sondern, um Einheit und Bedeutung des ›ist‹, das jede mögliche Einheit und Bedeutung fundiert, sicherzustellen, gräbt sich das defiziente, subordinierte ›ißt‹ um so tiefer ins ontologische ein und spaltet den Kern. Das eine ›ist‹ und ›ißt‹ im andern – und um den Sinn des identischen Sein ist es geschehn« (Hamacher: Pleroma, 162). 43 Canetti: Die Provinz des Menschen, 43 f. 44 Ebd., 135. 42
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»Wie ist es möglich, daß man Zerissenes in den Mund tut […] und dann aus demselben Munde Worte kommen. Wäre es nicht alles besser, man hätte eine andere Öffnung für die Nahrung und der Mund wäre für die Worte allein da? Oder ist in dieser intimen Verquickung aller Laute, die wir bilden, mit Lippen, Zähnen, Zunge, Kehle, eben den Gebilden des Mundes, die dem Nahrungsgeschäft dienen – ist in dieser Verquickung ausgedrückt, daß Sprache und Fraß für immer zusammengehören müssen, daß wir im Grunde, in allen Verkleidungen, eigentlich dasselbe Schreckliche und Blutige sagen, und das sich der Ekel in uns nur meldet, wenn mit dem Essen etwas nicht stimmt?« 45
Bekanntlich hatten Hegel und Freud von der Ambivalenz der Genitalien gesprochen, die den Ekel in das Sexualleben eingeführt haben soll. Der berühmte Satz des Spötters Heine (Gesprächspartner Hegels): »Was dem Menschen dient zum Seichen, damit schafft er seinesgleichen«, kommentiert Freud dahingehend, dass die Doppelfunktion von Harnentleerung und sexueller Verrichtung, die Ekelfunktion in die menschlichen Affektäußerungen eingebracht habe. 46 Es ist demnach nicht ekelerregend, dass sich Fundamentales des Menschen, nämlich seine Identität und seine Kommunikationsfähigkeit, an der Vertilgung durch den essenden und beißenden Mund geistig aufbaut, sondern die fehlgeschlagene Verbindung zwischen Pissen und Zeugen. Demgegenüber installiert Canetti die Doppelfunktion von Essen und Sprechen, das Paradox von leben durch sterben machen, als Topos des Ekelursprungs und als Objekt seiner Skandalisierungsanstrengung. Canetti unterstellt hierbei, dass sich die Notwendigkeit des Todes im Zeichen des Lebens, die sich im Essensvorgang tagtäglich genussvoll vollzieht, dazu eignet, die Notwendigkeit des Tötens als Motor des Überlebens in der politischen-kulturellen Rede zu plausibilisieren.
IV. Vergegenwärtigt man sich diesen Zusammenhang zwischen der »Psychologie des Essens« und dem Begriffsfeld Identität/Identifizierung/Urteil und konfrontiert ihn mit der Auffassung, dass der Vorgang des Essens durch das Lachen symbolisch ersetzt werden kann,
45 46
Ebd., 117. Freud: Bruchstücke einer Hysterieanalyse. In: Studienausgabe, Bd. VI, 108.
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ergibt sich eine interessante theoretische Pointe. Denn, wenn Lachen die Möglichkeit ist, dem Prozess der Einverleibung, dass hieße dann auch jegliche Form identischer Verbindung nach dem Vorbild des Essens, seinen Gegenstand zu entziehen und durch ein kulturell gesteuertes Fingieren oder durch einen symbolisch-operatorischen Akt zu ersetzen, so wäre einem Denken nach dem Vorbild des Lachens eine ähnlich theoriekonstitutive Bedeutung zuzumuten wie den Metaphern der Verspeisungslogik. Canettis entsprechende Vision: »Eine Gesellschaft, in der Menschen lachen und nicht essen.« 47 In einer unveröffentlichten Aufzeichnung aus dem Jahre 1942 heißt es: »In einigen Jahrhunderten wird vom Fraß nur noch das Lachen übrig sein.« 48 Alle Formen der Verlautbarung oder Darstellung, die uns Lachen machen, so hatte Arthur Koestler festgestellt, laufen »der Routinetätigkeit des Denkens in einer einzigen Begriffswelt« 49 zuwider; es handelt sich demnach stets um die gleichzeitige Anwesenheit mindestens zweier sich ausschließender Kodizes von Regeln oder assoziativer bzw. kognitiver Holons, die Koestler in Analogie zum Wort Assoziation als Bisoziation bezeichnet (z. B. die Dualismen MenschMaschine, Mensch-Tier, Trivialität-Erhabenheit etc.). Arthur Koestler und auch Claude Lévi-Strauss sehen den menschlichen Geist in einer permanenten »virtuellen Spannung«, jeder Zeit dazu bereit, auf einen Vorrat an »symbolischer Tätigkeit« zurückzugreifen, um unbekannte und überraschende Ereignisse bearbeiten zu können. Dieser Vorrat an symbolischer Energie oder die Bereitschaft eine symbolische Operation vorzunehmen wird beim Vorhandensein einer Bisoziation, also bei der gleichzeitigen Anwesenheit sich ausschließender Regelkodizes, aktiviert: Die virtuelle symbolische Tätigkeit schickt sich mit großer Spannung an, die Bisoziation aufzulösen. Wird aber nun dem »sprungbereiten Geist« plötzlich eine unerwartete Lösung, die berühmte Bananenschale auf der der gravitätisch einherschreitende Professor ausgleitet, präsentiert, muss sich die mobilisierte Hilfsenergie einen behelfsmäßigen Aktionsraum erschließen: »Das Lachen und seine Erschütterungen erfüllen diese Rolle, und der Zustand, der sie begleitet, entspricht einem Geschenk an die symboliCanetti: Die Provinz des Menschen, 231. Zit. n. Peiter: Komik und Gewalt, 237 (Anm.). 49 Koestler: Der Mensch, 135. Vgl. auch Arthur Koestler: Der göttliche Funke. Der schöpferische Akt in Kunst und Wissenschaft, Bern/München/Wien 1966. 47 48
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sche Funktion, die zu einem weit geringerem Preis befriedigt wird, als zu zahlen sie im Begriff war.« 50 Canettis Lachdefinition in Masse und Macht stellt zweifellos ein bisoziatives Knäuel dar. Die semantischen Felder Lachen, Essen, Stürzen, Jagen, Mensch, Tier, Kannibalismus werden gleichzeitig in Schwingungen versetzt und es werden mehrere sich überlagernde und gegensätzliche Assoziationen ausgelöst; es entsteht beim (Erst-) Leser ein »doppelsinniger Übergangszustand«, bei dem die »Balance des Affekts wie des Denkens gestört ist«. 51 Hinzu kommt sodann durch den direkten Anschluss an Hobbes’ Lach-Erklärung, die Einführung einer Wahrheitsbehauptung: »Hobbes’ Auffassung des Lachens kommt der Wahrheit auf halbem Wege entgegen; zu ihrem eigentlichen animalischen Ursprung ist er aber nicht vorgedrungen, vielleicht weil Tiere nicht lachen. Aber Tiere versagen sich auch keine Speise.« Zunächst ist also vom animalischen Ursprung des Lachens die Rede und im gleichen Satz wird behauptet, Tiere lachten nicht. Der Satz, der die Animalität des Lachens als dessen Wahrheit behauptet, umfasst zugleich eine Bestimmung des Tieres, die besagt: Das Tier ist das Wesen, das sich keine Speise versagt und deshalb ein nichtlachendes Wesen, der Mensch ist lachendes Wesen, weil er sich Speisen versagen kann – animalischer Ursprung des Lachens. Der animalische Ursprung des Lachens wird daraufhin mit dem Satz präzisiert: »Der Mensch allein hat es gelernt, den vollkommenen Prozess der Einverleibung durch einen symbolischen Akt zu ersetzen«, nämlich durch Lachen. Das Crecendo der Bisoziationen oder der IsotopieBrüche steuert daraufhin in die Beweisphase. Der Leser will nun endlich wissen, womit Canetti diese Herleitung belegt und diesen Beleg kann man nun mit Fug und Recht als ein Geschenk an die symbolische Funktion bezeichnen, einen plötzlichen Kurzschluss, der uns in schallendes Gelächter ausbrechen lässt – es handelt sich um das bereits erwähnte kostbarste Dokument, das Canetti kennt, die lachende Stimme der Hyäne: »Unter den Tieren gibt allein die Hyäne einen Laut von sich, der unserem Lachen wirklich nahe kommt. Man kann ihn künstlich erzeugen, indem man einer gefangenen Hyäne etwas zum Fressen vorsetzt und dann rasch entzieht, bevor sie Zeit zum Zupacken hatte. Es ist nicht müßig daran zu Claude Lévi-Strauss: Mythologica IV. Der nackte Mensch. Band 2. Frankfurt a. M. 1975, 772. 51 Koestler: Der göttliche Funke, 25. 50
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erinnern, daß ihre Nahrung in der Freiheit aus Aas besteht; man kann sich vorstellen, wie oft vieles, worauf sie Lust hatte, ihr von anderen vor Augen weggeschnappt wird.« 52
Nach der Feststellung der ›Animalität‹ des menschlichen Lachens, die daraufhin zur Unterscheidung von Mensch und Tier führt, weil Tiere nicht lachen, erfolgt der Beweis der gesamten Konstruktion des Lachens als Bestimmung des Humanen über die Ähnlichkeit des Lachgeräuschs ausgerechnet mit einem tierischen Lachen, weil es offenbar doch Tiere gibt, die sich eine Speise versagen müssen. Der Aufbau dieser Narration versetzt uns als Leser in gespannte Erwartung, eine komplizierte logische Verbindung herstellen zu müssen, mit der wir die Identität zwischen den Heterogenitäten begründen können, stattdessen werden wir mit einem kurzschließenden, analogiefähigen, tönenden Signifikanten, einer akustischen Bananenschale, beschenkt. Unsere bereitgestellte intellektuelle Spannung verausgabt sich in sinnlos gewordener Lauer – eben im Lachen. Koestler hat daran erinnert, dass das Lachen und die dieses evozierende bisoziative Störlogik ein Grundmoment des schöpferischen Aktes ist, und zwar insofern zuvor beziehungslose Aspekte durch die Denkfigur der Ähnlichkeit verbunden werden und damit auch »Augenblicke der Wahrheit« konstituieren könnten. 53 Canettis Masse und Macht ist in diesem ernsthaften Sinne ein lachhafter Text oder ein witziges Buch, wenn man Witz in seiner ursprünglichen Bedeutung als ein Vermögen versteht, durch das Wahrnehmen überraschender Ähnlichkeiten am Getrennten, Konventionen aufzusprengen, Sinnüberschneidungen herzustellen, Hierarchien zum Einsturz zu bringen und zur Aktivierung eines »spezifischen nicht realisierten sprachlichen Bedeutungspotentials« 54 beizutragen. Das liest sich, um ein letztes Mal auf das Mundschema in Canettis Buch zu rekurrieren, beispielsweise dann folgendermaßen: »Das auffälligste Instrument der Macht, das der Mensch und auch sehr viele Tiere an sich tragen, sind die Zähne. […] Man möchte sie als die erste Ordnung überhaupt bezeichnen. Glätte und Ordnung, als manifeste Eigenschaften der Zähne, sind in das Wesen der Macht überhaupt eingegangen. […] In den Maschinen und Fahrzeugen unserer modernen Welt hat sich die Glätte gesteigert; sie ist zu einer Glätte der Funktion überhaupt geworden. 52 53 54
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Canetti: Masse und Macht, 248. Koestler: Der göttliche Funke, 99 ff. Otto F. Best: Der Witz als Erkenntniskraft und Formprinzip. Darmstadt 1989, 2.
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Kannibalisches Gelächter
Die Sprache drückt den Zusammenhang am einfachsten aus, wenn man sagt, dass etwas glatt geht oder glatt funktioniert. Die Zähne sind die bewaffneten Hüter des Mundes. In diesem Raum ist es wirklich eng, er ist das Urbild aller Gefängnisse. […] An diesem furchtbaren Ort kann nichts gedeihen, auch wenn man Zeit hätte ihn zu bewohnen. Er ist verdorrt und verbietet die Saaten. Als man das Maul und die Drachen beinahe ausgerottet hatte, fand man einen symbolischen Ersatz dafür: die Gefängnisse.« 55
Die bisoziative Zeichenlogik kennzeichnet Canettis Ähnlichkeitsprosa; sie wird aus ihrem Ursprung im magisch-mythischen Denken gelöst und als Instrument gegen die Vernunft der Identitäten und Differenzen ins Feld geführt. Diese Sprache ist notwendig unpräzise und situiert genau dort, wo nach Foucault das »vage Gemurmel der Übereinstimmungen«, »die Unordnung der Natur«, die »vielfach verflochtenen Pluralitäten« 56 ausgesagt werden und wo bis heute die lachhaften und kreativen Formen des Gegendenkens entspringen.
Canetti: Masse und Macht, 228 ff. Vgl. das Kapitel »Die prosaische Welt« aus Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M. 1989, 46–77. 55 56
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Das versehrte Lachen – Neomoderne Gewaltclowns in der Literatur Anna-Sophie Jürgens
»Vous auriez dit les traits d’une pauvre et rudimentaire humanité en train de se façonner: des yeux qui paraissaient avoir coulé entre des paupières sans dessin, un nez qui formait un épatement de chair, une bouche qui semblait l’égueulement d’une poterie informe, un visage embryonnaire dans un teint sale et bis. Et le vilain être était sournoisement mauvais, hargneux, taquin, voleur de tout ce qui traînait et de la mangeaille gardée pour le lendemain.« 1
Dieser Clown aus Edmond de Goncourts Zirkusroman Les frères Zemganno ist nicht lustig. Vielmehr scheint er bösartig und wirkt zudem deformiert. Deformation, Hinterlist und v. a. Gewalt sind die Charakteristiken von jenen Zirkusclowns, welche nicht als pikaroähnliche, tendenziell fidele und spezifisch zirkuskuriose Figuren in der Literatur, und zwar durchaus losgelöst vom Zirkuskontext, ihr Unwesen treiben. Im Folgenden soll auf der Basis von Clowngestalten in (Zirkus-)Pantomimen, Zirkus und Literatur des 19. Jahrhunderts anhand ausgewählter Beispiele verfolgt werden, inwiefern einerseits malträtierte, andererseits exzessiv ›böse‹ literarische Clowns im 20. Jahrhundert Gewalt ›verkörpern‹ und infolgedessen als neomoderne Gewaltclowns zu verstehen sind – und wieso hier Schluss mit lustig ist.
I.
Der Clown als extraliterarischer Zirkusarchetyp
Ein Proto- oder Archetyp des Zirzensischen, Vertreter einer produktiven Anarchie und anthropologische Konstante mit transkultureller Gültigkeit ist der Clown, eine »Weltfigur aller Kulturstufen«, deren archaisch-mythische Herkunft von Indianerkulturen über die antike 1
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Edmond de Goncourt: Les frères Zemganno. Paris 2012, 309.
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Das versehrte Lachen – Neomoderne Gewaltclowns in der Literatur
Götterwelt – »In der indianischen Trickster-Figur und in Hermes findet sich der Widersacher bereits ebenso wie der Heilsbringer, beide Charaktere sind Facetten eines Archetypus.« – bis zur Commedia dell’Arte bereits vielfach verfolgt wurde. 2 Aufgrund seiner multiplen Identität und seinen mannigfaltigen, kulturhistorischen sowie multimedialen Artgenossen (Schelme, Harlekine, Pierrots, Bajazzos, Narren etc.) ist eine Definition dessen, was ein Clown überhaupt ist, 3 eine Herausforderung, wobei die verschiedenen Erscheinungsformen, in denen Clowngestalten über die Jahrtausende hinweg aufleuchte(te)n, eines gemeinsam haben: Sie sind ambivalent. Neben dem tölpelhaften, einfältigen oder fröhlich-idiotischen ZirkusclownTypus ist für die vorliegende Untersuchung zum Thema Gewalt und Clown v. a. der ›böse‹ Clown von Interesse, der sich im 19. Jahrhundert als Ausprägung einer modernen Ästhetik des Gewalttätigen in auf Theaterbühnen und Zirkusmanegen aufgeführten Pantomimen, d. h. in virtuosen Artisten-Stücken, herausbildete und dessen Entwicklung kurz zu skizzieren ist. 4
I.1
Der funambuleske Pierrot von Deburau
»La tête se détachait du cou, une grosse tête blanche et rouge, et roulait avec bruit devant le trou de souffleur, montrant le disque saignant du cou, la vertèbre scindée, et tous les détails d’une viande de boucherie récemment taillée pour l’étalage.« 5
Diese Beschreibung einer Bühnenszene durch Baudelaire gibt einen Eindruck des makabren, aufs Grässliche fixierten Inhalts der Panto2 Constantin von Barloewen: Clowns. Versuch über das Stolpern. München 2010, 12 u. 25. 3 Zu Narren siehe: Christine Baro: Der Narr als Joker. Figurationen und Funktionen des Narren bei Hans Sachs und Jakob Ayrer. Trier 2011. Zu Harlekinen vgl.: David Mayer: Harlequin in His Element. The English Pantomime 1806–1836. Cambridge 1969, 39 ff. u. Kay Dick: Pierrot. London 1960, 91 ff. Zur Begriffserklärung des Wortes Clown siehe: Noel Carroll: Horror and Humor. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 57/2 (1999), 145–60, hier 155 (Dick betont die Gegensätze und Widersprüche schon in der Etymologie des Wortes). 4 Zum traurigen Clown als weitere Erscheinungsform dieses Zirkusarchetyps siehe: Louisa E. Jones: Sad clowns and pale Pierrots. Literature and the popular comic arts in 19th-century France. Lexington 1984. 5 Charles Baudelaire: L’essence du rire et généralement du comique dans les arts plastiques. In: Ders.: Œuvres complètes Vol. 2 (1868). Paris 1976, 525–544, hier: 539.
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mimen des 19. Jahrhunderts und verdeutlicht, wie wenig sie – prächtige Schaustücke mit raffinierter Bühnentechnik und rasant wechselnden, bewegten Bildern voller akrobatisch präsentierter Gewalt, Totschlag und effektvoll inszenierter Unmoral – gemein haben mit der heutigen Pantomimen-Ästhetik (z. B. eines Marcel Marceau); zumal ihr grotesker Kern, wie von Brincken grandios herausarbeitet, um das Böse, die brutale Szene und all ihre Variationsmöglichkeiten an sich kreiste: »Personifiziert und vor allem ins ›Satanische‹ gesteigert wurde dieses Prinzip in Gestalt einer Figur, die heute, ins Kindische reduziert und zumeist mit aufgemaltem Tränchen im Auge, nicht einmal mehr ein Schatten ihres prekären Selbst ist: der Pierrot, der seine verderbliche Größe und groteske Erhabenheit erst durch das Talent eines einzigen Darstellers erhielt, an dessen artistischer Raffinesse sich alle Nachfolgenden zu messen hatten: Gaspard Deburau.« 6
Gewalt wurde in den französischen Pantomimen des Théâtre des Funambules – in dem Deburau, der »Spiritus Rector der Zirkusclowns«, 7 zwischen 1819 und 1846 als neu erfundene, d. h. besonders kühne, schurkenhafte und unverschämte Pierrot-Gestalt mit prekärer a-moralischer Motivation auftrat – als ästhetischer Effekt virtuos inszeniert, und zwar einerseits als komische Exploitation aus dem Gewaltfundus des Melodrams, andererseits auf Basis der Commedia dell’Arte. Wie von Brincken darlegt, wurde im »korpoexzentrischen Clownstheaters« der Funambules-Pantomimen (es wurde auf der Bühne artistisch geohrfeigt, geknufft, verdroschen u. v. m.) die unmittelbare Sinnpräsenz der jeweiligen Handlung dank der offensiv inszenierten moralischen Devianz und ästhetischen Ausschlachtung von Tabubereichen mittels der Überbetonung körperlichen Ausdrucks außer Kraft gesetzt, so dass sich die »akrobatische Korpo-Abilität der Darsteller vollauf in den Vordergrund spielen konnte«, d. h.: »Besonders in der den Konflikt manifestierenden Gewaltgeste [wurde] unmittelbare Sinn-Gegenwärtigkeit (als innerlicher Modus) gleichsam umgeschrieben in die rein temporäre Plötzlichkeit und Instantialität intensiver äußerlicher Gesten«. 8 Die Emphase der Funambules-Pantomimen lag folglich auf dem energetischen, nicht6 Jörg von Brincken: Tours de force. Die Ästhetik des Grotesken in der französischen Pantomime des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2006, 104. 7 Sylke Kirschnick: Manege frei! Die Kulturgeschichte des Zirkus. Berlin 2012, 64. 8 Von Brincken: Tours de force, 105, 121 u. 137.
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narrativen Aspekt, der logisch nicht unbedingt nachvollziehbar sein musste, wobei immer ein gewisses fantastisches Element mitschwang. 9 Körper wurden hier als Waffen verwendet, Dinge herausgeschnitten und Physis zerlegt und folglich die Demarkationslinie von Organismus und Objekt verwischt. Die mutilierten Pantomimen-Körper ertrugen in ihrer virtuosen Abstraktion vom natürlichorganischen Prinzip jedoch alles, d. h. »die Übertretung physischer Limits, die im Motiv von Gewalt und Verletzung prinzipiell immer mitimpliziert ist«, war ohne letalen Ausgang: »Organe haben darin nur noch provisorische Gegenwart, d. h. sie sind aktivierbares und deaktivierbares Requisit. Der gleichsam zentrumslose Körper ist zur Ansammlung von Spielmaterial befreit.« 10 In der durch die Funambules etablierten Theatralität der Gewalt wurde der Körper als Effekt des Artifiziellen inszeniert und der Clown zur Kunstfigur. Natürlichkeit war hier deformiert, oder anders: »Deformation ist Kunst – und wird im Lachen als solche affirmiert«. 11
I.2
Die Gewaltpantomimen der Hanlon Lees
»On doit notamment aux frères Hanlon-Lees d’avoir redonné un nouveau souffle au personnage de Pierrot, qui avait subi un déclin considérable suite à la disparition du théâtre des Funambules en 1862.« 12
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts (v. a. nach Deburaus Tod) heißt der Pierrot Clown, und zwar in Folge des Triumphzugs der Brüder Hanlon Lee mit ihrer »Art der Pantomime, die hinsichtlich ihres Grades an aggressiver Übertreibung und in ihrer gnadenlosen Ausschlachtung der Motivik des Grässlichen und Grausamen zur veritablen Überbieterin des original französischen Spiels avanciert«. 13 Anders Vgl. ebd. 159. Zu dem hierbei immer wieder herausplatzenden Lachen der Pantomime-Figuren selbst bzw. ihren Lachgrimassen, vgl.: ebd., 182. 10 Ebd., 149, 161 u. 168. 11 Ebd., 203. 12 Goncourt: Les frères Zemganno, 24 (Einleitung). 13 Von Brincken: Tours de force, 6. Zu Harlekin und Clown, vgl.: Kordula Rose-Werle: Harlekinade. Genealogie und Metamorphose. Struktur und Deutung des Motivs bei J. D. Salinger und V. Nabokov. Frankfurt a. M. 1980, 51. Grimaldis Clown gilt als Synthese aller bis ins 19. Jahrhundert überlieferten Narrentypen, wurde letztlich aber von der Bühne durch eine Giselle oder Norma verdrängt (siehe Rose-Werle: Harlekinade, 51 u. 64). Zu Baudelaire u. den Hanlon Lees, vgl.: Sophie Basch: Romans de Cirque. Paris 2002, XVIff. 9
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als Deburaus trotz seiner Schuftigkeit eleganter, delikat weiß geschminkter und stummer Pierrot sind die Hanlon-Clowns mit ihren dicken Wänsten nun grell angemalt und ihre insgesamt überbordende Phänotyp-Exzentrik ein Exzess an grotesker Leiblichkeit. 14 Insbesondere die von Baudelaire beschriebene Gestaltung ihrer Münder, das Lachen als Querschnitt durch das Gesicht, wie von Brincken es bezeichnet, 15 soll später noch von Bedeutung sein. Stärker als bei Deburau avanciert hier der natürliche Körper zur abstrakten Konfrontation einzelner Teile und »verschwindet zugunsten in Bewegung gesetzter geometrischer Struktur-Koordinaten von Klein und Rund, Weiß und Rot, Wange und Mund etc.«. 16 Noch intensiver als in den Funambules-Pantomimen wird dem Prinzip der Desintegration gefrönt, die Clowns »zerschneiden sich förmlich, verdoppeln sich, vergrößern und verkleinern sich – und dieser fortgesetzte Prozess physischer ›Auflösung‹ und Liquidisierung sowie die Rekurrenz von Bewegung auf ihr eigenes Fundament: den Körper, machen den alleinigen Inhalt der Darbietung aus«. 17 Mimetische Prinzipien sind nun vollends unterlaufen und hyperbolisch dargestellte Gewalt avanciert zum einzigen Inhalt aggressiv mechanischen – und also ungraziösen – Interfierens von Bewegungen und es ist interessant, dass Bergsons Le Rire im zeitlichen Umfeld der Auftritte der Hanlon Lees in Paris erschien, weshalb von Brincken und Simon über eine direktere Verbindung spekulieren. 18 In den Zirkuspantomimen 19 der Hanlon Lees wurde im GegenVgl. Baudelaire: L’essence du rire et généralement du comique dans les arts plastiques, 538 f. 15 Von Brincken: Tours de force, 262. 16 Ebd. 17 Ebd., 240. 18 Vgl. ebd., 292 u. Alfred Simon: La planète des clowns. Lyon 1988, 258 f. Vgl. Freud: »Die Antwort, warum wir über die Bewegungen der Clowns lachen, würde lauten, weil sie uns übermäßig und unzweckmäßig erscheinen. Wir lachen über einen allzu großen Aufwand« (Sigmung Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. In: Ders.: Gesammelte Werke Vol. 6. 3. Frankfurt a. M. 1961, 216). 19 Die Hanlon Lees spielten in Paris u. a. im Cirque Napoléon (vgl. Simon: La planète des clowns, 257). Zu Zirkuspantomimen, auch Harlekinaden genannt, siehe: Kirschnick: Manege frei!, 84 u. 98 sowie Günter Bose/Erich Brinkmann: Circus. Geschichte und Ästhetik einer niederen Kunst. Berlin 1978, 134 u. Ernst Günther/Dietmar Winkler: Zirkusgeschichte. Ein Abriss der Geschichte des deutschen Zirkus. Berlin 1986, 77. Direktes Vorbild für z. B. Wedekinds Lulu war eine gleichnamige Pantomime von Félicen Champsaur, die von 1888 bis 1894 ohne Unterbrechung im Nouveau Cirque gespielt wurde (vgl. Simon: La planète des clowns, 234). 14
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satz zu den Funambules-Pantomimen der Tod direkt und hyperbolisch inszeniert; d. h. eigentlich immer der schlimmstmöglichste Ausgang. Ein Beispiel ist die Pantomime Les quatres Pipelettes, an deren Ende einige um ihr Überleben kämpfende Schiffbrüchige eine groteske ›Rettung‹ erfahren: Sie werden versehentlich auf vielfältige Weise massakriert. 20 Besonders an den Hanlon-Pantomimen sind zudem ihre Transformationen und Abbreviaturen des Alltäglichen und Sozialen. So tritt Pierrot z. B. in der Pantomime Pierrot Menuisier als Sargmacher auf, der seine potenziellen Kunden jedoch im Sinne einer radikal-eigenwilligen Gewerbelogik selbst umbringt. 21 Die Pantomimen der Hanlon Lees wurden nicht nur von zeitgenössischen Kritikern wie Baudelaire oder Gautier gefeiert, sondern auch in der Literatur selbst reflektiert, so z. B. in dem bereits zitierten Roman Les Frères Zemganno. 22 Überdies diskutiert Baudelaire in L’Essence du rire den englischen Einfluss auf den französischen »pierrot à la tête de plâtre« 23 und betrachtet das Lachen – bei ihm an sich ein satanisches Element des Menschen – als Reaktion des Rezipienten auf die explosive Exzentrik dergleichen Pantomimen als »une hilarité folle, excessive« sowie »une ivresse de rire, quelque chose de terrible et d’irrésistible«, 24 d. h. als Lachspasmus: »Es ist die impulshafte, das strukturelle Zusammenspiel von Affinität und Distanz, von Faszination und Irritation analogisierende, Reaktion auf die wahrgenommene Inkommensurabilität.« 25 Im »vertige de l’hyperbole«, d. h. in den virtuos-makabren, akrobatischen und karikaturesken Verzerrungen der englischen Pantomimen, im Grotesken und dem darin verkörperten »comique absoulu«, manifestiert sich für Baudelaire eine moderne (Gewalt-)Ästhetik 26 – was Adornos Ideen zum Gewaltsamen der Moderne buchstäblich unterstreicht. Denn Adorno, für den das »Gewalttätige am Neuen«, das Effektvolle und die »Male der Zerrüttung« in Form des Experimentellen die Moderne charakterisie-
Vgl. von Brincken: Tours de force, 303. Ebd., 305. Vgl. die Pantomime Le Dentiste, in der ein Patient von seinen Schmerzen durch eine am Zahn befestigte Granate befreit wird (ebd., 320). 22 Goncourt: Les frères Zemganno, 347 u. 348. 23 Ebd. 24 Ebd., 535 und 539. 25 Von Brincken: Tours de force, 267. 26 Baudelaire: L’essence du rire et généralement du comique dans les arts plastiques, 339 u. 535. 20 21
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ren, 27 bestimmt in seiner Ästhetischen Theorie eine Kunst als genuin modern (und neu), die das Fremde, die Dissonanzen sowie das Hässliche als wesentliche Ausprägung offenbart: »Kunst muss das als hässlich Verfemte zu ihrer Sache machen, nicht länger um es zu integrieren, zu mildern oder durch den Humor, der abstoßender ist als alles Abstoßende, mit seiner Existenz zu versöhnen, sondern um im Hässlichen die Welt zu denunzieren, die es nach ihrem bilde schafft und reproduziert«. 28 Das Hässliche selbst ist hierbei dem Schönen (dialektisch) inhärent und »[d]as Grausame ist ein Stück ihrer kritischen Selbstbestimmung«. 29 Moderne Kunstwerke mit ihrem Doppelcharakter aus Autonomie und »fait social«, die Adorno mit Nachdruck empirisch verankert – »Noch das sublimste Kunstwerk bezieht bestimmte Stellung zur empirischen Realität, indem es aus deren Bann heraustritt, nicht ein für allemal, sondern stets wieder konkret, bewusstlos polemisch gegen dessen Stand zur geschichtlichen Stunde.« 30 – negieren in diesem Sinne virtuell das Lebendige, »sie töten, was sie objektivieren, indem sie es der Unmittelbarkeit des Lebens entreißen« 31 und formen es gleichzeitig um: »Kunst gerät in die Schuld des Lebendigen, nicht nur, weil sie durch ihre Distanz die eigene Schuld des Lebendigen gewähren lässt, sondern mehr noch, weil sie Schnitte durchs Lebendige legt, um ihm zur Sprache zu helfen, es verstümmelt.« 32 Dieses deformierende Vorgehen der Kunst lässt sich als exerzierte Grausamkeit verstehen, die Adorno definiert als den Akt, »aus dem Lebendigen, dem Leib der Sprache, den Tönen, der sichtbaren Erfahrung etwas heraus[zu]schneiden«. 33 Gewaltsame Deformation wird somit zum Kennzeichen moderner Kunstwerke, wobei »die finsteren Momente der Kunst etwas wie Lust bereiten […]. Mehr Lust ist bei der Dissonanz als bei der Konsonanz«, kurz: »Negation vermag in Lust umzuschlagen, nicht ins Positive.« 34 Ein Beispiel, oder besser Paradigma, für dergleichen gewaltsame Deformation und damit für den künstlerischen Gestaltungsprozess erkennt Adorno explizit im artistischen Akt und virtuosen Kunststück 27 28 29 30 31 32 33 34
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Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M. 1970, 41; vgl. 74. Ebd., 79. Ebd.,77 und 81. Ebd., 15. Ebd., 201. Ebd., 217. Ebd., 80. Ebd., 66.
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von Zirkus, Varieté und Music Hall, d. h. den »dynamisch-aggressiven Akt der Umgestaltung und der Integration des Empirischen in einen künstlerischen Kontext, in dem es seine ontologische Substanzialität [und jede Innerlichkeit, Anm. d. V.] einbüsst«. 35 Adorno bezeichnet diesen extremen und »äquilibristische[n] Akt« als »Tour de Force«, welcher Sinnzusammenhänge und Einheiten verunstaltet und damit eine Unmöglichkeit verwirklicht. 36 Das Hässliche und Gewaltsame als Essenz moderner Kunstwerke im Sinne von Adorno, d. h. die Negation von (lebendigen) Strukturzusammenhängen durch Virtuosität, ist ein Prozess, der geradezu exemplarisch in der Pantomimentradition des 19. Jahrhunderts offenbart wird und in den folgenden Texten durchschimmert, die deformierte oder gewaltsame Clowns – auch losgelöst vom Zirkuskontext – präsentieren.
II.
Versehrte und gewalttätige Clowns in der Literatur
»À la fin du siècle, le théâtre populaire sera définitivement mort, mais le personnage de Pierrot, comme celui d’Arlequin, aura passé aux mains des écrivains ›cultivés‹ : il sera devenu un thème littéraire, souvent imprégné d’ironie funèbre, un lieu commun poétique et un rôle de bal masqué.« 37
Dieses Zitat von Starobinski gilt es zu ergänzen, denn bei den vorgestellten, extraliterarischen Clowns des Funambules-Theaters sowie der Hanlon-Lee-Pantomimen generierten auch das Artifizielle und nicht zuletzt die Gewalt das Faszinosum der Darbietung – ganz wie bei literarischen Clowns. Zudem stellt das literarische Pendant zum Pantomimen-Clown eine Deregulierung des Verhältnisses von dramatischer Inhaltlichkeit und performativem Vollzug dar, jedoch ist der Spaßmacher hier kaum noch lustig – obwohl ihm das Lachen teilweise buchstäblich ins Gesicht geschrieben wird. Der eigenweltliche Raum der dramaturgisch inszenierten Pantomimenbühne mit seinen spezifischen szenischen Prinzipien wird in den im Folgenden vorVon Brincken: Tours de force, 99. Adorno: Ästhetische Theorie, 162. Zum modernen Kunstwerk, das jeder Innerlichkeit spottet, siehe: ebd., 162. Nancy diskutiert im Rahmen von Gewalt auch deren Unmöglichkeitsaspekt, vgl. Jean-Luc Nancy: Bild und Gewalt. In: Lettre international 49/2 (2000), 86–90, hier 86. 37 Jean Starobinski: Portrait de l’artiste en saltimbanque. Nouvelle édition revue et corrigée par l’auteur. Paris 2004, 19. 35 36
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gestellten Texten aufgelöst, d. h. die Inszene-Setzung von physischer Zerstörung passiert nun tatsächlich. Hierbei ist bemerkenswert, dass die frappanten und gräulichen Erlebnisse der literarischen Clowns zweiten Typs – des versehrten und versehrenden Clowns – ebenso wie Deburaus Pierrot und die Hanlon-Lee-Clowns tendenziell auffallend wenig affektive oder emotionale Beteiligung zeigen. Insofern fungieren sie (auf zynische Weise) als ›Maschinisten‹ von Körpern im Sinne von von Brincken. 38
II.1 Versehrte Clowns in Peter Weiss’ Mockinpott und Brechts Badener Lehrstück Um das Jahr 1900 findet eine souveräne Erneuerung der Clownfigur in Literatur und Theater u. a. bei Meyerhold und Jarry statt, welcher ihr – d. h. v. a. ihrer aggressiven und deformierenden/deformierten Facette –, in Ubu Roi neue Züge verleiht und sich dabei zum englischen Clown als direktem Vorbild bekennt. 39 Ubu als »un homme robot essentiellement moderne« 40 zeigt bei seinen mannigfaltigen, ins Artifizielle auslaufenden Gewalttätigkeiten und seiner aggressiv vorgebrachten Willkür keine nachvollziehbare Motivation, wohl aber eine überbetonte Kreatürlichkeit und einen in einem monumentalen Bauchnabel ausufernden Leib, »eine – im rein ästhetischen Sinne – Ver-Gewaltigung des menschlichen Körpers durch die ihm auferlegten nicht-organischen Kostüm- und Maskenteile sowie durch deren formale Relationen« 41 – ganz wie es für die Pantomimen-Tradition des 19. Jahrhunderts herausgearbeitet wurde. Gegen das Prinzip des Organischen gerichtete Clowns sowie die Negation des Lebendigen durch Zerschneidung und Zerstückelung im Sinne Adornos finden sich auch in Theaterstücken von Bertolt Brecht und Peter Weiss.
Von Brincken: Tours de force, 185 u. 186. Ebd., 380. Vgl. über Jarry, ebd., 381. Zu Ubu Roi, vgl. z. B.: Claudine AmiardChevrel: Du Cirque au Théâtre. Lausanne 1983, 12. Siehe Henri Béhar: Jarry. Le monstre et la marionette. Paris 1973, 8. 40 Tison-Braun in Béhar: Jarry, 11. 41 Von Brincken: Tours de force, 262. 38 39
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II.1.1 Brechts zerstückelter Herr Schmitt Nicht nur Beckett setzte sich mit dem Zirkusclown auseinander – Adorno schreibt sogar, dass dessen Werke den Zirkus »exorzieren« 42 –, sondern auch Brecht, und zwar mit direktem Bezug zu Becketts Clowns. So hätte er, Brecht, z. B. den Clowngestalten in En attendant Godot ein weniger abstraktes und stärker sozial konnotiertes Setting gegeben, d. h. Vladimir als Intellektuellen und Estragon als Proletarier dargestellt. 43 Ein Beispiel für Brechts eigene Bemühungen um politischere Clownfiguren ist sein Badener Lehrstück, 1929 inszeniert und einen Theaterskandal provozierend, das in drei »Untersuchungen« hinterfragt, ob es üblich sei, dass der Mensch dem Menschen helfe. In einer Gewaltszene mit drei Clowns wird Herr Schmitt als einer von ihnen mit viel Theaterblut aus ›Hilfsbereitschaft‹ zerlegt, im Sinne: »Wenn Ihnen der linke Fuß weh tut, dann gibt es nur eins: weg mit dem linken Fuß«. 44 Dergestalt wird der vormals komplette Clown zerstückelt; gekrönt von der Absägung seines Kopfes und dem Fazit: »Die Menge schreit: Der Mensch hilft dem Menschen nicht.« 45 Das Badener Lehrstück versteht Schechter als eine experimentelle Auseinandersetzung Brechts mit dem Clownesken: »Still, the play marks a transition in Brecht’s writing of clown scenes. It attempts to use clowning as a commentary on an age of widespread murder and suffering – something Brecht had done earlier in A Man’s a Man and would do again with variation in later plays.« 46 Die DesAdorno: Ästhetische Theorie, 127. Vgl. Brecht in Joel Schechter: Durov’s Pig. Clowns, Politics and Theatre. New York 1985, 64. 44 Bertolt Brecht: Das Badener Lehrstück vom Einverständnis. Frankfurt a. M. 1975, 15. Vgl. Lingen in Werner Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln. Berlin u. a. 1987, 315 f. 45 Brecht: Das Badener Lehrstück vom Einverständnis, 18. 46 Schechter: Durov’s Pig, 50. Zu Heiner Müllers Herzstück, in dem sich das per Taschenmesser herausoperierte muskuläre Hohlorgan als Ziegelstein entpuppt (vgl. Heiner Müller: Herzstück. Berlin 1983, 7) als Weiterentwicklung der Brechtschen Clowns, siehe: Schechter: Durov’s Pig, 53. Zu Handkes Kaspar als Nachfolger von Brechts Badener Lehrstück, siehe: ebd., 98 ff. Vgl.: »While the playwright populates his stage with six clown-like characters, Kaspar could be regarded as an anti-clown play, a performance in which the comic naiveté of a clown is aggressively destroyed by his educators (the prompters), and by language itself« (ebd., 101 f.). Zu Baal, der im gleichnamigen Brecht-Stück »Mr. Circus« heißt, und Brechts Wedekind-Einfluss, siehe: ebd., 45 ff. 42 43
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integration des Körpers zu einem losen Kompendium einzelner Teile, wie sie die Pantomimen des 19. Jahrhunderts entwickelten, wird hier blutrünstig ausexerziert und obwohl der malträtierte Clown spricht, ist sein Reden eigentlich Schweigen. II.1.2 Clown Mockinpott von Peter Weiss In Peter Weiss’ Theaterstück Wie dem Herrn Mockinpott das Leiden ausgetrieben wird – in dem die Titelfigur nach ungerechter Inhaftierung, jäher Verstoßung durch seine ihn betrügende Frau, nach fiesem Verlust seiner Arbeit sowie einer grotesken Arztbehandlung Gott seine Meinung sagt – erkennt Schechter direkte Einflüsse von Brechts ›Clownbehandlung‹. 47 Schon Honold hat zudem auf den Einfluss von Jahrmarktsformen, Schaubuden, Akrobaten und Jongleuren im Werk von Peter Weiss hingewiesen, nicht zuletzt im Hinblick auf das Stück Mockinpott. 48 In der Tat scheinen viele Elemente der oben beschriebenen Pantomimen-Tradition hier auf, nicht nur im typisierten Figurenarrangement, in der wechselnden Szenenfolge oder der Drastik des Verlaufs. 49 Haiduk seinerseits erkennt in Mockinpott die Prinzipien (v. a. eine Entfremdungsdramatik) von Hanswurstiaden und Slapstick wieder, 50 jedoch bieten die oben beschriebenen Pantomimen des 19. Jahrhunderts einen noch fruchtbareren Interpretationshintergrund für das Stück. Denn Jahrmarkt und Hanswurstiaden erklären kaum die Enteignung des eigenen Lebens und Körpers, 51 die Mockinpott austariert. Das Stück präsentiert nicht nur dezidiert clowneske Szenen – wie z. B. in Mockinpotts chronischem Schuhproblem (er trägt seine Fußbekleidung falsch herum bzw. verknotet sie) oder seinem Kampf mit diversen Gegenständen im Raum 52 –, sonEbd., 93. Vgl.: »While a number of critics have detected the influence of Artaud’s Theatre of Cruelty in Weiss’s mental asylum scenes, it could be argued that Brecht, too, created a ›theatre of cruelty‹ which influenced Weiss’ Mockinpott and Marat/ Sade, and Heiner Müller’s Heart Play« (ebd., 96). 48 Vgl. Alexander Honold: Wie dem Herrn Mockinpott das Leiden ausgetrieben wird. In: Martin Rector/Christoph Weiß (Hgg.): Peter Weiss’ Dramen. Neue Interpretationen. Opladen/Wiesbaden 1999, 89–107, hier 92. Vgl.: Manfred Haiduk: Der Dramatiker Peter Weiss. Berlin 1977, 44 u. 253. 49 Vgl. Honold: Mockinpott, 92. 50 Haiduk: Der Dramatiker Peter Weiss, 41. 51 Vgl. Honold: Mockinpott, 95. 52 Peter Weiss: Wie dem Herrn Mockinpott das Leiden ausgetrieben wird. In: Ders.: Stücke I. Frankfurt a. M. 1976, 113–153, hier 122 ff. u. 132. 47
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dern zeigt auch wie in den Pantomimen der Hanlons zu grausamen Machtmissbrauchern verzerrte und umgewertete Alltagsautoritäten (in diesem Fall z. B. einen hinterlistigen Arzt). Besonders auffällig ist zudem die Desorganisation der körperlichen Einheit: »Wurst [des Protagonisten Gegenspieler, Anm. d. V.] blickt in Mockinpotts aufgeklappten Schädel. Er hebt die Hand und knipst mit den Fingern. Schwester 2 reicht ihm einen großen Löffel. Er rührt in Mockinpotts Schädel herum. Mockinpott kichert und zappelt mit den Beinen. Die Schwestern halten ihn an den Beinen fest.« 53
In Folge dieser Behandlung überfällt Mockinpott regelmäßig ein unbändiger Lachreiz, ein Lachspasmus – wie ihn die Clowns der Pantomimen selbst zur Schau stellten. Die drastische und artifizielle Handlungsentwicklung wird in Mockinpott ohne jede psychologische Feinsinnigkeit vorangetrieben, wobei die spezifische Unbeteiligtheit der Figuren wiederum an die (Hanlon-)Pantomimen-Clowns erinnert, über die von Brincken vermerkt: »Die ganzen Tumulte und Desaster, denen sie ausgesetzt sind, affizieren als äußerliche Wirkungen, setzen in Bewegung, generieren szenische Dynamik als strikt physisch-mechanisches Phänomen.« 54 Ähnlich wie Herr Schmitt im Badener Lehrstück ist Mockinpott folglich ein verfolgter, zerlegter Clown, der – anders als in der Pantomimen-Tradition – selbst kein Schurke und Missetäter ist, sondern vielmehr das, was Tobias als »clowns of defeat« bezeichnet: »Trapped in a hostile and purposeless universe, these figures become painfully aware of their anti-heroic stature. […] Their bodies, psyche, memory, emotion, desire, motivation and language are all in a state of ever increasing, grotesque degeneration. […] They are impotent clowns who have despaired of despair itself.« 55
Schmitt und Mockinpott, die hier exemplarisch für den unheroisch zerlegten Clown stehen sollen, zeichnen sich – anders als die Clowns der Pantomimen – dadurch aus, dass sie in die textimmanente Welt, die sie zerlegt bzw. die sie ›zerlegen‹, nicht integriert sind.
Ebd., 139. Von Brincken: Tours de force, 265. Vgl. Honold: Mockinpott, 92. 55 Ashley Tobias: The Postmodern Theatre Clown. In: David Robb (Hrsg.): Clowns, Fools and Picaros. Popular forms in theatre, fiction and film. Amsterdam 2007, 37–56, hier 39. 53 54
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Um die vom Zirkuskontext losgelösten Gewaltclowns sowie v. a. ihre Ikonographie im Roman des 20. Jahrhunderts zu erfassen, bietet sich ein Exkurs zu zwei literarischen Werken des 19. Jahrhunderts an, die dank ihrer Protagonisten die phänotypische Gestalt des Gewaltclowns entschieden prägten, indem sie z. B. das bei den Hanlons noch aufgemalte Lachen bis zu den Ohren buchstäblich ›inkorporieren‹.
II.2 Exkurs: Versehrtes Lachen im 19. Jahrhundert: Victor Hugo’s Gwynplaine und Lautréamonts Maldoror »Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wurde das Genre Pantomime vollends zum Experimentierfeld für avancierte Literaten, die in der überkommenen Figuren- und Handlungsmotivik das ihren künstlerischen Zwecken und Themen gemäße ästhetische Inventar erblickten.« 56
Dementsprechend erweisen sich die Clowngestalten in den im Geist der Dekadenz verfassten Pantomimen-Texten von z. B. Paul Margueritte, Jules Laforgue oder Joris-Karl Huysmans als noch pathologischer, katastrophischer und makabrer. 57 Huysmans’ Pierrot-Stück – in dem der frisch verwitwete, aber auf skandalöse Weise Trauerzeremonielle verweigernde Pierrot u. a. seine Trauergäste erst mit einem Gartenschlauch bedroht, dann mit einer Waffe verjagt, in einer Bar tanzt und hernach eine als Braut kostümierte Schaufensterpuppe zu vergewaltigen versucht – ist hierfür ein Paradebeispiel: »Huysmans’ own Pierrot sceptique makes its hero into a similarly mechanical monster, a puppet of evil full of the clown’s wilful energy.« 58 Neben den Plots jener (literarischen) Pantomimen sind es die Gesichter von Gwynplaine und Maldoror, die die ihnen folgenden Gewaltclowngestalten prägen. Kurioserweise erschienen beide Romane (vollständig) im gleichen Jahr (1869); zu einer Zeit also als die Hanlons in Paris ihre Triumphe feierten. 59 Von Brincken: Tours de force, 323. Vgl. Ebd., 323 ff.; Dick: Pierrot, 180 f. u. Goncourt: Les frères Zemganno (Einleitung). 58 Jones: Sad clowns and pale Pierrots, 209. Zu dekadenten Pierrots siehe auch: Jules Laforgue: Pierrot, der Spaßvogel. Frankfurt a. M. 1965 und Christiane Mühlegger: »Pierrot s’agite et tout le mène«. Metamorphosen einer Lachfigur. Jules Laforgue und die Pierrotfigur im Zeichen der Philosophie des Unbewussten Eduard von Hartmanns. Frankfurt a. M. 2000, 83. 59 Vgl. Simon: La planète des clowns, 257. 56 57
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II.2.1 L’homme qui rit von Victor Hugo »›Ne ris donc plus!‹ ›Je ne ris pas‹, dit l’enfant. Ursus eut un tremblement de la tête aux pieds. ›Tu ris, te dis-je‹.« 60
Hugos umfangreicher Roman L’Homme qui rit, dessen Sujet um das Jahr 1690 in Großbritannien angesiedelt ist, verfolgt das Schicksal von Gwynplaine, ein ausgesetztes, von den so genannten Comprachicos chirurgisch manipuliertes Kind, das später unter tragischen Umständen zum Thronfolger avanciert. Für diese Untersuchung – v. a. für die Ikonographie des Gewaltclowns – ist insbesondere das Gesicht Gwynplaines von Interesse, welches von den Comprachicos in einer einzigartigen Operation – »Cette production artificielle de cas tératologiques avait ses règles. C’était toute une science. Qu’on s’imagine une orthopédie en sens inverse.« 61 – verunstaltet wird. Im Fall Gwynplaines ist das Resultat dieser »épouvantable chirurgie« 62 ein für seine Betrachter unerträglich komisches Dauerlachen und als solches der einzige Gesichtsausdruck, zu dem Gwynplaine fähig ist: »C’est en riant que Gwynplaine faisait rire. Et pourtant il ne riait pas. Sa face riait, sa pensée non. […] On lui avait à jamais appliqué le rire sur le visage. C’était un rire automatique, et d’autant plus irrésistible qu’il était pétrifié. Personne ne se dérobait à ce rictus.« 63 Da ihm die Zähne gelassen wurden, erinnert Gwynplaines Gesichtsphysiognomie an eine menschliche Maske – er ist »plutôt une création de l’art qu’une œuvre de la nature« 64 – sowie explizit an einen (lachenden) Totenkopf, wie ihm Gwynplaine als Kind auch begegnet. 65 Gwynplaines Victor Hugo: L’Homme qui rit. Paris 1982, 239. Ebd., 70. Vgl. Zu den Comprachicos: ebd., 69 u. 75. Über historische Quellen zu den Comprachicos wird spekuliert, vgl. Thomas Macho: Zoologiken. Tierpark, Zirkus und Freakshow. In: Gerd Theile (Hrsg.): Anthropometrie. München 2005, 155–178, hier 175; Max Poty: L’homme qui rit. Planète Hugo. Paris 2006, 73. 62 Victor Hugo: L’Homme qui rit. Paris 1982, 75. 63 Ebd., 340. Saltarino erkennt im »Lachenden Mann« ein direktes Vorbild für die »heutigen Clownsmasken«, was jedoch im Sinne der langen Pantomimen-Tradition (siehe oben) extrem zweifelhaft ist (vgl. Saltarino: Fahrend Volk. Abnormitäten, Kuriositäten und interessante Vertreter der wandernden Künstlerwelt. Leipzig 1895, VII). 64 Ebd., 342 f., sowie 347 u. 353 f. 65 Ebd. 343; vgl. 110. Vgl.: Joë Friedemann: Victor Hugo, un temps pour rire. SaintGenouph 2002, 139 u. 141. Die in einem Lachen gefletschten und in ihrer Phantomhaftigkeit den Erzähler verfolgenden Zähne einer (untoten) Leiche finden sich schon 60 61
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Tragik liegt in seiner unfreiwilligen Komik, wobei seine Publikumswirkung als »une indescriptible épilepsie d’hilarité« 66 bezeichnet wird, was an Hugounets Kommentar zu den Hanlon Lees erinnert, deren Auftritt er als »L’épilepsie dans la pantomime« beschreibt. 67 Mit seinem chirurgisch aufoktroyierten Lachen – »toute cette chair en désordre« 68 – versteht sich Gwynplaine selbst als Symbol; und als groteske Lachkarikatur verkörpert er Baudelaires »comique absolu« sowie ein pervertiertes Bergsonsches Gewaltlachen 69 auf geradezu kongeniale Weise. II.2.2 Les Chants du Maldoror des Comte de Lautréamont »Moi, je ne sais pas rire. Je n’ai jamais pu rire, quoique plusieurs fois j’ai essayé de le faire. C’est très difficile d’apprendre à rire.« 70
Mit dem expliziten Anliegen, die Abgründigkeit von Gott und Menschheit zu übertreffen, ergeht sich Maldoror in den sechs Gesängen des Lautréamontschen Prosagedichts als »Sprecherinstanz« 71 sowie als Sadist, Erotomane, Sodomit und Erzfeind der menschlichen Kreatur und Gottes in ständigen Transformationen und Metamorphosen in furios infernalischen und dezidiert unmotivierten Gewaltkaskaden (wie z. B. die detailreiche Vergewaltigung samt Ausweidung in Poes Erzählung Berenicë: »Vor den vielfältigen Bildern der Außenwelt hatte ich keinen anderen Gedanken als den an die Zähne. Nach ihnen sehnte ich mich mit wahnwitzigem Verlangen« (Edgar Allan Poe: Berenicë. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Erzählungen und Skizzen Vol. 1. Frankfurt a. M. 1990, 145–155, hier 152). 66 Hugo: L’Homme qui rit, 45; vgl. 352. Nicht zu vergessen ist, dass die Zuschauer Gwynplaines für ihre Lachspasmen zahlen. Zu L’Homme qui rit als Sozialsatire und humoristischer Roman siehe: Anthony Zielonka: L’Homme qui rit. Roman humoristique? In: Michel Collot (Hrsg.): L’Homme qui rit. Où la parole-monstre de Victor Hugo. Paris 1985, 83–98. Zu einem überzeugenden Vergleich von Gwynplaine und Frankensteins Monster als von ihren Schöpfern verlassene, deformierte Geschöpfe siehe: Christopher W. Thompson: A propos des lecteurs anglais de L’Homme qui rit. Sources et ressources de Victor Hugo. In: Collot (Hrsg.): L’Homme qui rit. Où la parole-monstre de Victor Hugo, 126 ff. 67 Vgl. von Brincken: Tours de force, 277. 68 Hugo: L’Homme qui rit, 343. 69 Vgl.: »Man kann die Gewalt, a minima, als das Ins-Werk-Setzen einer Kraft definieren, die dem dynamischen oder energetischen System, auf das sie einwirkt, äußerlich bleibt.« Nancy: Bild und Gewalt, 86. 70 Comte de Lautréamont: Les Chants de Maldoror. Paris 1990, 224. 71 Zur schwierigen Definition Maldorors siehe: Anne-Rose Meyer: Homo Dolorosus. Körper. Schmerz. Ästhetik. München 2011, 289.
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eines kleinen Mädchens durch ihn und seine Bulldogge in Gesang III verdeutlicht). Er agiert in seiner Vehemenz hierbei dergestalt maßlos, dass de Jonge seine Taten nur als Ausdruck schwarzen Humors begreifen kann, ein Ansatz, der mit Adorno unterstrichen werden könnte, der die Lust an den »finstersten Momente[n] der Kunst« nicht zuletzt am schwarzen Humor festmacht. 72 Die Gesichtsphysiognomie des vor Aggression pulsierenden Maldorors weist hierbei verblüffende Parallelen zu der Gwynplaines auf, mit dem Unterschied allerdings, dass er den operativen Eingriff zur ›Erweiterung‹ seines Lachens selbst vornimmt: »J’ai pris un canif dont la lame avait un tranchant acéré, et me suis fendu les chairs aux endroits où se réunissent les lèvres. Un instant je crus mon but atteint. Je regardais dans mon miroir cette bouche meurtrie par ma propre volonté. C’était une erreur! Le sang qui coulait avec abondance des deux blessures empêchait d’ailleurs de distinguer si c’était là vraiment le rire des autres. Mais, après quelques instants de comparaison, je vis bien que mon rire ne ressemblait pas à celui des humains, c’est-à-dire que je ne riais pas.« 73
Allein dieser Versuch, durch schneidende Gewalt ein Lachen zu erzeugen – das, wie bei Gwynplaine, unabhängig von der inneren Disposition erscheint –, erinnert an eine ›intra-textuelle‹ Version von Adornos moderne Kunstwerke charakterisierenden Aspekt der Deformation wie er schon bei den zerlegten Clowns beobachtet wurde, wobei im Fall von Gwynplaine und Maldoror Grausamkeit nicht durch Herausschneiden aus etwas Lebendigem, sondern durch ein Reinschneiden entsteht. 74 Die physische Attraktivität des Lachens wird ins Korporelle veräußert, oder anders: »Die Athletik des Körpers ver-
Adorno: Ästhetische Theorie, 66 u. Alex de Jonge: Nightmare Culture. Lautréamont and Les Chants de Maldoror. London 1973, 55. 73 Lautréamont: Les Chants de Maldoror, 70 f. Auf die gesichtsphysische Ähnlichkeit von Gwynplaine und Maldoror wurde bereits hingewiesen, vgl.: Friedemann: Victor Hugo, un temps pour rire, 140. 74 Vgl. Ellroys Roman Die schwarze Dahlie, in der die Leiche der so bezeichneten Frau ebenso gesichtsversehrt ist: »Die Schnitte gingen bis tief auf den Knochen, doch das allerschlimmste war das Gesicht des Mädchens. Es war ein einziger purpurner Bluterguss, die Nase tief in die Höhlung gequetscht. Der Mund war zu einem schrecklichen Lächeln von einem Ohr zum anderen aufgeschlitzt, als mach er sich irgendwie über die andere zugefügten Bestialitäten lustig. Ich wusste, dass ich dieses grausige Lächeln mit ins Grab nehmen würde« (James Ellroy: The Black Dahlia. London 1993, 106). 72
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längert sich […] bis hin zu dieser Akrobatik des Fleisches.« 75 Das gewalttätig applizierte sowie entleerte Lachen avanciert hier primär zum Ausdruck von Gewalt selbst; mit Nancy gesprochen: »Die Gewalt stellt sich als Gestalt ohne Gestalt aus, sie ist Zur-Schau-Stellung (monstration) und Darbietung, Ostentation dessen, was ohne Gesicht bleibt.« 76
III. Mordsclowns in der Literatur des 20. Jahrhunderts III.1 Vom Effekt des Artifiziellen Die demonstrative Zur-Schau-Stellung von Gewalt schlechthin ist das Kennzeichen zahlreicher mordender Clowns, die in der Zirkusliteratur selbst durchaus reflektiert werden, so z. B. im Zirkusroman Circus in Winter: »For years, she was plagued with circus nightmares: Ax-wielding clowns chased her down long hallways, Lobster Man grabbed her with his claws, and a slow, sad parade of elephants marched in chains into a big top from which they never emerged.« 77 Mordende Clowns (auch außerhalb von Alpträumen) werden mit ihrem lebensverneinenden Impetus jedoch nicht als Nekrophile im Sinne Fromms dargestellt, d. h. ihr Zerstörungswille entspringt keiner pervertierten Schwäche oder einer in ein illusionäres Omnipotenzgefühl transmutierten Langeweile, 78 denn ihre Beweggründe Gilles Deleuze: Francis Bacon. Logik der Sensation. München 1995, 20. Nancy: Bild und Gewalt, 86, sowie 89: »Die Doppeldeutigkeit des Bildes und der Gewalt – die der Gewalt, die im Bild am Werk ist, und die des Bildes, das sich in der Gewalt öffnet – ist die der Zur-Schau-Stellung (Monstration) des Grundes, seiner Monströsität oder seiner Monstruation. Es kann kein Monster ohne Doppelheit geben, denn das, was die Präsenz darstellt, präsentiert, kann diese genauso gut unbeweglich, voll, blockiert und bis auf den Grund seiner Einheit zugeschüttet festhalten, wie es sie vor sich werfen kann in eine Einheit, die immer schon zu singulär ist, um sich einfach zu identifizieren.« 77 Cathy Day: The Circus in Winter. Orlando 2004, 120. 78 Vgl.: »Die Nekrophilie kann man im charakterologischen Sinn definieren als das leidenschaftliche Angezogensein von allem, was tot ist, vermodert, verwest und krank ist; sie ist die Leidenschaft, das, was lebendig ist, in etwas Unlebendiges umzuwandeln; zu zerstören um der Zerstörung willen; das ausschließliche Interesse an allem, was rein mechanisch ist. Es ist die Leidenschaft, lebendige Zusammenhänge zu zerstückeln« (Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Stuttgart 1974, 301 (Hervorhebungen im Original)). Vgl. Rainer Funk: Mein Glauben an den Menschen. Erich Fromm. Düsseldorf 2009, 89 ff. 75 76
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werden kaum offenbart, vielmehr wird die von jenen Gestalten ausgeübte Gewalt zum Automatismus bar jeder psychologisch oder vernunftmäßig rekapitulierbaren Gründe; meistens bleiben die Mörderclowns anonyme Figuren. Durch die Fokussierung auf das formale, ›technische‹ Moment des Gewaltaktes (in diesem Fall die ›artistische‹ Tötungsinszenierung und ihre Virtuosität) wird der Inhaltsaspekt weitgehend entkräftet bzw. wie von Brincken für die PantomimenTradition formuliert: »Wo Realität als Effekt des Artifiziellen in Szene gesetzt und dermaßen abstrakt restrukturiert wird, verlieren jegliche Be- und Entglaubigungen von Seiten eines außerästhetischen (natürlichen) ethischen Fundaments ebenfalls an Gehaltmäßigkeit.« 79 Die literarischen Gewaltclowns verkörpern hierbei selbst ins Artifizielle stilisierte Korporealität; ihr Gesicht ist meistens eine Maske. 80 Anders als bei den Clowns der Funambules-Pantomimen oder den Hanlon Lees, die »[d]as Motiv eines der Mechanisierung des Alltäglichen zu Grunde liegenden Substrats an Inhumanität« 81 ausspielten, sind vom Zirkus- und Bühnenkontext losgelöste, mordlustige Gewaltclowns im Roman ein Einbruch in die Alltäglichkeit und das
Von Brincken: Tours de force, 190. Für Stiglegger liegt gerade in der damit einhergehenden Eigengesetzlichkeit und Selbstermächtigung der als »Inkarnation des Bösen« bezeichneten Gestalten ihre Attraktivität, zudem bemerkt er: »Der dunkle Souverän ist ein amoralisches Wesen, ja mehr noch: Er transzendiert die Moral und setzt sich selbst an deren Stelle« (Marcus Stiglegger: Der dunkle Souverän. Die Faszination des allmächtigen Gewalttäters im zeitgenössischen Thriller und Horrorfilm. In: Werner Faulstich (Hrsg.): Das Böse heute. München 2008, 271–282, hier 271). Auch ist der Nexus zwischen Clowngestalten und dem Wahnsinn augenfällig. De Banville bezeichnet die Pantomimen der Hanlon Lees z. B. als Wahnsinn, vgl. von Brincken: Tours de force, 277. Zur ›epileptischen Art‹ der Hanlon Lees, vgl. Basch: Romans de Cirque, XXIX. Baudelaire erkannte im Lachen zudem »une des expressions les plus fréquentes et les plus nombreuses de la folie« (Baudelaire: L’essence du rire, 530). In direktem Bezug zu den Hanlon Lees benannte Charcot die »deuxième période de l’hystéro-épilepsie« mit ihren konvulsivischen Krämpfen als »clownisme« (vgl. Basch: Romans de Cirque, XXX f.). Eine Verbindung zwischen psychischen Störungen (in dem Fall Schizophrenie), Clown und Monster findet sich in Peter Handkes Kaspar, siehe hierzu: June Schlueter: The Plays and Novels of Peter Handke. Pittsburgh 1981, 42 ff. sowie Schechter: Durov’s Pig, 99. 80 Vgl.: »In fact, the very word ›mask‹ is derived from the Arabic, maskharat, meaning ›clown‹« (Faye Ran: Modern Tragicomedy and the Fool. In: David Robb (Hrsg.): Clowns, Fools and Picaros. Popular forms in theatre, fiction and film. Amsterdam 2007, 25–36, hier 29). 81 Von Brincken: Tours de force, 306. 79
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Leben der von ihnen Affizierten. Auffallend ist hierbei ein karnivores Element, das – wie zu zeigen sein wird – die Gewaltclowns in die Nähe von Zirkusfreaks rückt, welche ebenfalls immer inszeniert, artifiziell, von der Norm abweichend sowie ›exotisch‹ sind. 82 Ran spricht von Freaks sogar als von »natural fools«. 83 Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass mordende Clowns genre-übergreifend gewalttätig aktiv sind, also nicht nur in den der Gothic- oder Horrorliteratur zugeschriebenen Texten ihre Opfer ›zermetzeln‹.
III.2 Thomas Ligottis anthropophage Clowns und Haruki Murakamis gewaltclowneskes Katzenmassaker Der Protagonist von Ligottis Erzählung The Last Feast of Harlequin, Dr. Toss, ein Anthropologe und als solcher Clownforscher mit persönlicher Clowndimension – »I also took a role behind the clownish mask myself« 84 –, begibt sich aus wissenschaftlichem Interesse zum Mirocawer Clownfest. Die hier von ihm angetroffenen Clowns lassen sich einteilen in Sündenbockgestalten, die dem Dummen August ähneln, sowie in bedenklichere Clownausprägungen: »In contrast to the Grotesque scapegoat, the more sinister clowns whom the crowd avoids are white-faced and without red-noses; this sinister clown-type is more liminal and difficult to define than typical clowns.« 85 Gerade die Letzteren sind es, die den Wissenschaftler schließlich umzubringen drohen, denn im Zuge eines »subterrenean sabbath« mit Anklängen an syrische Gnostiker entpuppt sich Toss’ Forschungsgegenstand unter der Leitung seines ehemaligen Professors in einer mit dem typischen Vokabular von Pantomimen des 19. Jahrhunderts beschriebenen Ritualszene – »For now was the transformation scene, the culmination of every harlequinade.« – als Subversion des Ratio-
Vgl. Kirschnick: Manege frei!, 172. Ran: Modern Tragicomedy and the Fool, 28. 84 Thomas Ligotti: The Last Feast of Harlequin. In: Peter Straub (Hrsg.): American Fantastic Tales. Terror and the uncanny from the 1940s to now. O. O. 2009, 351–388, hier 351. 85 Jason M. Harris: Smiles of Oblivion. Demonic Clowns and Doomed Puppets as Fantastic Figures of Absurdity, Chaos, and Misanthropy in the Writings of Thomas Ligotti. In: The Journal of Popular Culture 45/6 (2012), 1249–1265, hier 1252. 82 83
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nalen: als gefräßige Riesenwürmer. 86 Am Ende stellt sich heraus, dass der Protagonist – »O carne vale!« – als ein an »seasonal affective disorder« Leidender selbst schon lange ein Clownwurm war. 87 Im Rahmen einer derartigen, Lovecraft verschriebenen (und verschreibenden) Erzählung wird nicht nur in expliziter Pantomimen-Tradition blutrünstig eine Frau von Clownmaden devoriert, sondern die Clowns selbst mehrfach als Freaks bezeichnet. 88 »›Warm und frisch. Es hat sich im Mund noch bewegt‹« 89 ist auch das Katzenfleisch, das Jonnie Walker, der Whiskey-Clown in Haruki Murakamis Roman Kafka am Strand, im Rahmen eines tierischen Massenmords verzehrt, während er das »Heiho« der Sieben Zwerge aus Schneewittchen pfeift. In dieser drastischen KatzenMordszene wird jede dramatische Inhaltlichkeit ins Effektdynamische umgekehrt, d. h. der Ausdruck verselbständigt sich hier gegenüber dem Inhalt bzw. jedem nachvollziehbaren Beweggrund. Wie für die Hanlon-Clowns typisch, wird die entindividualisierte, gewaltverbrecherische Clowngestalt als »grotesker Antiheld etabliert und einer zumeist zahllosen Schar von relativ anonym bleibenden Opfern gegenübergestellt« 90 –, wobei das blutrünstige Killen von Katzen selbst in der Pantomimen-Tradition verankert werden kann. So tötet z. B. Pierrot in der schon erwähnten Pantomime Les quatres Pipelettes die Katzen seiner Conciergen und auch in der komischen Pantomime Marchand d’habits! erlegt Pierrot eine Katze, die (vorher schwanger) in einem Regen kleiner Kätzchen explodiert; zudem findet sich in Marguerittes Pantomime Au Cou du Chat eine »Katzenjonglage«, gefolgt von der blutigen Dekapitation des Tieres. 91 Die Attraktivität von freakhaften Clowns, Gewaltmotiven und des Brutalen lässt sich – im Hinblick auf die clownesken Pantomimen
Ligotti: The Last Feast of Harlequin, 384. Diese werden nachdrücklich mit Poes Conqueror Worm in Verbindung gebracht. Ligottis Clown-Würmer erinnern an Burtons Beetlejuice aus dem gleichnamigen Film. Zur Subversion des Realen bei Ligotti, siehe: Harris: Smiles of Oblivion, 1250. 87 Ebd., 385. 88 Ebd., 371 f., 375. Jener karnivore Aspekt findet sich auch in Stephen King’s Roman It, in dem es heißt: »›But … I think it bit into his armpit. […] I think that’s what it did. Bit into his armpit‹. […] ›There were bites on his arms, his left cheek, his neck‹« (Stephen King: It. St. Louis 1987, 33 u. 36). 89 Haruki Murakami: Kafka am Strand. München 2009, 280; vgl. 277. 90 Vgl. von Brincken: Tours de force, 304. 91 Vgl. ebd., 317, 343. 86
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– durch das »genuin optische[] Substrat« und den »monstratio-Charakter« der Gewalt, deren Sein – mit Rückgriff auf Jean-Luc Nancy – ganz in ihrer Äußerung liege, erklären. 92 So verwundert es nicht, dass Gewaltclowns sehr attraktiv für visuelle Medien sind und im 20. Jahrhundert eine ihrer komplexesten Verkörperungen im Joker der Batman-Sage erfahren. 93
IV. Schluss mit lustig Treten Clowns als zerlegte Opfer- oder zerlegende Täterclowns auf, bleiben human geartete Dispositionen sowie die narrative oder psychologische Nachvollziehbarkeit der Gewalt und Grausamkeit ebenso auf der Strecke wie das zirkusartistische Moment, durch das sich viele Zirkusclowns auszeichn(et)en, das nun höchstens im effektvoll-virtuosen Mordakt selbst aufleuchtet. In diesem Sinne ist Starobinskis einflussreicher Schrift Portrait de l’artiste en saltimbanque, in der die Identifikation der Künstler der Moderne mit der Gestalt des Gauklers verfolgt wird, zu widersprechen, denn die Zirkuswelt ist eben nicht nur »un îlot chatoyant de merveilleux, un morceau demeuré intact du pays d’enfance, un domaine où la spontanéité vitale, l’illusion, les prodiges simples de l’adresse ou de la maladresse mêlaient leurs séductions pour le spectateur lassé de la monotonie des tâches de la vie sérieuse«. 94 Bezüglich literarischer Gewaltclowns lässt sich übernehmen, was von Brincken über die Pantomimen schreibt: »Die Pantomime war somit eine Kunst, die beim Zuschauer Akte des Hinschauens ohne Erkennen, des Wahrnehmens ohne Begreifen initiierte.« 95 Mordende Clowns sind eine fremde »émanation, explosion«, 96 d. h. weitgehend anonym-hybride Schreckfiguren, 97 die einen Einbruch in die Welt der von ihnen Betroffenen darstellen und deren Impakt auf sie (intratextuell) alles andere als lustig ist, v. a. aufgrund ihrer ZirkusEbd., 105 u. 144 f. Vgl. Anna-Sophie Jürgens: Batman’s Joker, a neo-modern clown of violence. In: Journal of Graphic Novels and Comics. 5/4 (2014), 441–454. 94 Starobinski: Portrait de l’artiste en saltimbanque, 7; sowie von Brincken: Tours de force, 116. 95 Von Brincken: Tours de force, 169. 96 Baudelaire: L’essence du rire, 543; Adorno: Ästhetische Theorie, 41. 97 Vgl. Schechter: Durov’s Pig, 99 f. 92 93
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Das versehrte Lachen – Neomoderne Gewaltclowns in der Literatur
freak-Komponente. Denn Jonnie Walker, die Riesenwurmclowns und auch Stephen Kings Pennywise zeichnen sich durch einen dezidiert karnivoren Appetit aus, der ein typisches Kennzeichen des ›Wilden Mannes‹ im Zirkuskontext ist, wie er Anfang des 20. Jahrhunderts in Sideshows Aufsehen erregte, indem er u. a. rohes Fleisch vor Zuschauern verzehrte. Dergleichen Exponate stellten das Exotische als Gegenstück zur sozialen Alltäglichkeit, als Gegenteil der vertrauten, ›zivilisierten‹ Lebenswelt vor. So wurden z. B. in der Zirkuspantomime »Süd-West-Afrika« 1904 im Zirkus Busch als ›Wilde‹ ausstaffierte Freakperformer zusammen mit Tieren präsentiert bzw. in Käfigen vorgeführt, wo sie rohes Fleisch zerrissen, wobei eine »metaphorisch beschworene Parallele zwischen der Abrichtbarkeit ›wilder‹ Tiere und der Erziehbarkeit so genannter Exoten« evoziert wurde. 98 Bei den karnivoren Clowns als ›human curiosity‹ ist es allerdings weniger ihre körperliche Nonkonformität, geschweige denn ein Domestikationsaspekt, der die Freakshow aufruft, sondern v. a. ihre Kostümierung und der Spektakelcharakter, die Inszenierung ihrer ›Fleischeslust‹. In diesem Sinne sind die vorgestellten Mordclowns nicht mehr nur »ausgewiesene Amoraliker, Sadisten, pathologische Fälle« 99 wie die Pantomimen-Protagonisten Ende des 19. Jahrhunderts, sondern auch freakige ›Wilde‹ im Zirkussinne. In diesem ›wilden‹ Einbruch, d. h. in der Abweichung von der Normalität könnte etwas Komisches à la Bergson verborgen liegen – z. B. im so mechanisch-routinierten Zerfleischen und Zerhacken von Katzen, wie es Jonnie Walker, ein Liedchen pfeifend, vorführt –, jedoch reagieren die von den Gewaltclowns Betroffenen, eben weil sie persönlich betroffen und verletzt sind, nicht mit einem Lachen als Abwehr- und Korrekturmechanismus auf diese Devianz. Die hier vorgestellten literarischen Mord(s)clowns verkörpern die in Szene gesetzte, aggressive Verformung, die De-Formation (oder Tour de force) von eigenen und/oder fremden Körpern durch Gewalt – und mittels »Anatomiegreuel«, 100 d. h. kraft eines einschneidenden Kunststücks am Körper – und damit das, was Adorno (und vor ihm in Anklängen schon Baudelaire) als moderne Ästhetik
Kirschnick: Manege frei!, 172. Vgl. Rachel Adams: Sideshow U.S.A. Freaks and the American Cultural Imagination. Chicago 2001, 32 f. u. Rosemarie G. Thomson: Freakery. Cultural spectacles of the extraordinary body. New York 1996, 10. 99 Von Brincken: Tours de force, 343. 100 Adorno: Ästhetische Theorie, 75. 98
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herausarbeitete. Gewaltclowns lassen sich in der Tradition der Pantomimen verstehen, gehen aber darüber hinaus, indem sie aus dem Manegen- bzw. Bühnenraum heraus- und als ›Explosion‹ in eine ihnen fremde Alltäglichkeit hineindiffundieren und zudem Elemente des Zirkusarchetyps Freak inkorporieren. In diesem Sinne sind Gewaltclowns neomoderne Zirkusgestalten.
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Nina Bartsch, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Studium der Germanistik und Geschichte auf Lehramt an der Ruhr-Universität Bochum; Promotion 2012 mit der Arbeit Programmwortschatz einer höfischen Dichtersprache. Peter Friedrich, Dr. phil, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld. Studium der Germanistik und Philosophie an der RuhrUniversität Bochum; Promotion 1995 an der Universität Essen. Forschungsschwerpunkte: Masse, Macht und Literatur, Recht und Literatur, Medien- und Kommunikationstheorie. Ausgewählte Publikationen (zu Canetti): Die Rebellion der Masse im Textsystem. Die Sprache der Gegenwissenschaft in Elias Canettis »Masse und Macht«. München 1999; Tod und Überleben – Elias Canettis poetische Anti-Thanatologie. In: Susanne Lüdemann (Hg.): Der Überlebende und sein Doppel. Kulturwissenschaftliche Analysen zum Werk Elias Canettis. Freiburg 2008, 215–245; Das Erlebnis und die Masse. Zu Elias Canettis poetischer Massentheorie. In: Susanne Lüdemann/Uwe Hebekus (Hgg.): Massenfassungen. Beiträge zur Diskurs- und Mediengeschichte der Menschenmenge. München 2010, 125–145; Elias Canetti: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. In: Marion Bönninghausen/Jochen Vogt (Hgg.): Literatur für die Schule. Ein Werklexikon zum Deutschunterricht. Paderborn 2014, 135–137. Holger Glinka, Dr. phil. Historisch-systematische Abhandlungen zur Rechtsphilosophie, Religionsphilosophie und Erkenntnistheorie der Frühen Neuzeit, der Klassischen deutschen Philosophie und der Phänomenologie. – Aktuelle Veröffentlichungen: Zur Genese autonomer Moral. Eine Problemgeschichte des Verhältnisses von Natur»Fröhliche Wissenschaft«
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recht und Religion in der frühen Neuzeit und der Aufklärung. Hamburg, 2., durchgesehene Auflage 2012 (=Paradeigmata 31); Der Spielraum der Toleranz und die Dimension der Freiheit. Politik und Philosophie nach Spinoza, In: Toleranzdiskurse der Frühen Neuzeit. Hgg. v. Friedrich Vollhardt und Michael Multhammer. Berlin/Boston 2015, 216–235 (Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext); Kurt R. Meist: Vernunft und Philosophiegeschichte. Zu Husserls philosophiehistorischer Begründung der phänomenologischen Idee der Philosophie. Hgg. v. Holger Glinka. Freiburg 2015 (=Phänomenologie. Texte und Kontexte, Bd. 25). Niklas Hebing, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am HegelArchiv der Ruhr-Universität Bochum und Herausgeber der Bände Vorlesungen über die Philosophie der Kunst und Vorlesungen über die Philosophie der Natur der historisch-kritischen Hegel-Gesamtausgabe (Meiner); Forschungsschwerpunkte: Klassische Deutsche Philosophie, Hegelianismus und Kritische Theorie, Kunst als politisch-soziale Selbstverständigung, Geschichtsphilosophie medialer Systeme, Theorie der Subjektivität, Geschichte und Gegenwart des Aufklärungsdiskurses; aktuelle Veröffentlichungen: Selbstverlust und Wiedergewinnung. Hegels Philosophie moderner Kunst. In: Tobias Braune-Krickau/Thomas Erne/Katharina Scholl (Hgg.): Vom Ende her gedacht. Hegels Ästhetik zwischen Religion und Kunst. Freiburg 2014, 99–117; Die Bändigung des Irrationalen – Genie und Geschmack in Kants Ästhetik. In: Christoph Asmuth/Simon Gabriel Neuffer (Hgg.): Irrationalität: Schattenseite der Moderne? Würzburg 2015, 23–39; Kunst und Ökonomie bei Hegel. Politisch-ästhetische Herausforderungen der bürgerlichen Gesellschaft. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 59,2 (2014), 203–223. Felix Hüttemann, M.A., Doktorand und Stipendiat der Mercator Research Group »Spaces of Anthropological Knowledge« in der Arbeitsgruppe 3 »Medien und Anthropologisches Wissen« an der Ruhr Universität Bochum. Studium der Germanistik und Philosophie an der Ruhr Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: der Dandy als Signum des environmentalen Medienwandels, Mensch-Objekt Relationen als medienanthropologische Wissensformationen, Philosophien der Kybernetik, das literarische Objekt als Medium. Aktuelle Veröffentlichung: Der Mensch die obsolete Kopplungsstelle. Die 320
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Kybernetik als Zäsur des Denkens. In: Christina Brandt/Hans-Ulrich Lessing (Hgg.): Anthropologie 2.0. Münster/Wien 2015, 155–174. Alexander Jaklitsch, Dipl. Theol., Pastoralassistent im Bistum Essen, zuvor Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Fundamentaltheologie der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Ruhr-Universität Bochum (2011–2013). Studium der Katholischen Theologie in Bochum und Jerusalem (2006–2011). Ausgewählte Veröffentlichungen: Lächelnd von der Bibel zur Heiligen Schrift?! Humor als mystagogische Hermeneutik. Münster 2012; zuletzt: Kirche in ihrem Anspruch und Auftrag. Stuttgart 2015. Anna-Sophie Jürgens, M. A., promoviert seit 2011 an der LMU München. Dissertation im Fach Komparatistik über die »Poetik des Zirkus«, d. h. über die Erscheinungsformen des Zirkus im Roman des 20. und 21. Jahrhunderts. Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes und Promotionsstipendiatin. Ausgewählte Veröffentlichungen: The Joker, a neo-modern clown of violence. In: Journal of Graphic Novels and Comics 5/4 (2014), 441–454; Hermetische Liebesakrobatik: Joris-Karl Huysmans’ Des Esseintes und Thomas Manns Felix Krull im Zirkus. In: SprachKunst – Beiträge zur Literaturwissenschaft 2/2011 (2014), 271–338. Nicola Kaminski, Prof. Dr., seit 2005 Professorin für Neugermanistik, insbes. Literatur von der Frühen Neuzeit bis zum 18. Jahrhundert, am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum; Ausgewählte Veröffentlichungen: Kreuz-Gänge. Romanexperimente der deutschen Romantik. Paderborn 2001; EX BELLO ARS oder Ursprung der »Deutschen Poeterey«. Heidelberg 2004; »Der Dichtkunst Morgenröthe verließ der Erde Thal«: Viel Lärmen um Nichts. Modellstudie zu einer Literatur in Fortsetzungen. Hannover 2010 (zus. mit Volker Mergenthaler); Original-Plagiat. Peter Marteaus Unpartheyisches Bedenken über den unbefugten Nachdruck von 1742. Bd. 1: Quellenkritische Edition. Bd. 2: Stellenkommentar, Glossar. Hannover 2013 (zus. mit Benjamin Kozlowski, Tim Ontrup, Nora Ramtke und Jennifer Wagner); Zeitschriftenliteratur/Fortsetzungsliteratur. Hannover 2014 (hg. zus. mit Nora Ramtke und Carsten Zelle); Zuschauer im Eckfenster 1821/22 oder Selbstreflexion der Journalliteratur im Journal(text). Hannover 2015 (zus. mit Volker Mergenthaler). »Fröhliche Wissenschaft«
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Peter Kuhlmann, Prof. Dr., seit 2004 ordentlicher Professor für Klassische Philologie an der Georg-August-Universität Göttingen, zuvor Tätigkeit als Akademischer Rat an der Universität Düsseldorf sowie zeitweise im hessischen Schuldienst und als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Gießener SFB 434 Erinnerungskulturen tätig. Lehramtsstudium der Klassischen Philologie und Romanistik an den Universitäten Gießen und Kiel (Erstes Staatsexamen in den Fächern Latein, Griechisch, Spanisch); 1993 Promotion in Griechischer Philologie mit einer Arbeit zu den literarischen Papyri der Gießener Papyrussammlungen; 2000 Habilitation in Klassischer Philologie mit einer Arbeit zur Religionspolitik des Kaisers Hadrian. Hans-Ulrich Lessing, Prof. Dr., seit 2001 apl. Prof. für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Ausgewählte Veröffentlichungen: Die Idee einer Kritik der historischen Vernunft. Wilhelm Diltheys erkenntnistheoretisch-logisch-methodologische Grundlegung der Geisteswissenschaften. Freiburg/München 1984; Hermeneutik der Sinne. Eine Untersuchung zu Helmuth Plessners Projekt einer »Ästhesiologie des Geistes« nebst einem Plessner-Ineditum. Freiburg/ München 1998; Wilhelm Diltheys »Einleitung in die Geisteswissenschaften«. Darmstadt 2001; Wilhelm Dilthey. Leben und Werk in Bildern. Freiburg/München 2008 (zusammen mit Guy van Kerckhoven und Axel Ossenkop); Die Autonomie der Geisteswissenschaften. Studien zur Philosophie Wilhelm Diltheys. Erster Band: Dilthey im philsophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontext. Nordhausen 2015; Wilhelm Dilthey. Eine Einführung. Köln/Weimar/Wien 2011; zahlreiche Editionen (u. a. Dilthey, Plessner, Heidegger, Bollnow), Herausgaben, Aufsätze und Wörterbuchartikel. Kevin Liggieri, M.A., Doktorand der Mercator Research Group »Räume anthropologischen Wissens« an der Ruhr-Universität Bochum und Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung. Studium der Germanistik und Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Aktueller Forschungsschwerpunkt: die Optimierungen der Episteme ›Mensch‹ im Zeitraum des frühen bis mittleren 20. Jahrhunderts, ›Anthropotechnik‹ in Kultur- sowie Arbeitswissenschaft. Ausgewählte Publikationen: Zur Domestikation des Menschen – Anthropotechnische und anthropoetische Optimierungsdiskurse. Münster/Wien 2014 [Reihe: Philosophie – Sprache – Literatur, hg. von Hans-Ulrich
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Lessing]; Bad Boys der Philosophie. Eine Kritik stereotypisierter Philosophenbilder von Heraklit bis Sartre [Hg.]. Würzburg 2014. Lenz Prütting, Dr. phil, Studium der Philosophie, Literatur- und Theaterwissenschaft in Erlangen und München, Dissertation über den deutschen Theaterreformer Georg Fuchs. Von 1971 bis 1981 Assistent am Institut für Theaterwissenschaft an der Universität München, danach Dramaturg und Regisseur u. a. am Stadttheater Ingolstadt, am Münchner Volkstheater und an den Städtischen Bühnen Augsburg, währenddessen immer wieder Lehraufträge in Theaterwissenschaft, z. B. an der Bühnenbildklasse der Akademie der Bildenden Künste in München, am Institut für Theaterwissenschaft der Universität München, an der theaterwissenschaftlichen Abteilung der Universität Erlangen-Nürnberg und an der Universität Augsburg. Ausgewählte Veröffentlichungen: Die Revolution des Theaters. Studien über Georg Fuchs. München 1971; Nachrichten aus der Strafkolonie. Nachwort zum Reprint des philosophischen Romans »Belphegor« von Johann Karl Wezel in der Reihe »Haidnische Altertümer«. Frankfurt a. M. 1984, 453–502; Ingolstädter Dramaturgie. Programm-Essays aus den Jahren 1982–1987. Ingolstadt 1987; Zum Beispiel Ulm. Stadttheater als kulturpolitische Lebensform. Ulm 1991; Schwimmen, Hängen, Aussetzen: Drei Formen personaler Regression auf der Bühne. Ein Beitrag zur Anthropologie des Schauspielers. In: Forum modernes Theater, Band 14 (1999), Heft 1, 3–31; ›Werktreue‹. Historische und systematische Aspete einer theaterpolitischen Debatte über die Grenzen der Theaterarbeit. In: Forum modernes Theater, Band 21 (2006), Heft 1/2, 107–189; Homo ridens. Eine phänomenologische Studie über Wesen, Formen und Funktionen des Lachens. 3 Bde. München/Freiburg 2013. Linda Simonis, Prof. Dr., seit 2004 Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Ausgewählte aktuelle Veröffentlichungen: Philosophie des Streits? Nietzsches kritische und polemische Denk- und Schreibweisen. In: Holger Glinka/Kevin Liggieri/Christoph Manfred Müller (Hgg.): Denker und Polemik. Würzburg 2013, 123–143; Das apokryphe Imaginäre. Am Beispiel der gnostischen Paulus-Apokalypse. In: Comparatio, Bd. 6, 2014, H. 1, 29–46; mit Christian Moser (Hg.): Figuren des Globalen: Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien. Bonn 2014. »Fröhliche Wissenschaft«
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Klaus Thomalla, Dipl.-Theol., M.A., seit 2011 Gymnasiallehrer für Katholische Religionslehre, Philosophie und Praktische Philosophie in Wuppertal sowie Doktorand an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, zuvor Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum (2005–2008) und Studienreferendar für Katholische Religionslehre, Philosophie und Praktische Philosophie (2009–2011). Studium der Katholischen Theologie, Philosophie, Rechtswissenschaft und Erziehungswissenschaft in Bonn, Basel und Bochum. Ausgewählte Veröffentlichungen: Die Frage nach der ethischen Dimension des Handelns am Beispiel der Gentechnik: Zum Antwortversuch von Jürgen Habermas. In: Matthias Kaufmann/Lukas Sosoe (Hgg.): Gattungsethik – Schutz für das Menschengeschlecht? Frankfurt a. M./Berlin/Bern 2005, 131–159; Verfassungsrechtliche Elemente des Menschenwürdediskurses und ihre philosophischen Implikationen. In: Ethica 15 (2/2007), 195–221; Ist es erlaubt, aus Menschenliebe zu lügen? Wie eine moralische Grenzsituation Kants prinzipielle Sichtweise in Frage stellen kann – Sekundarstufe II. In: Ethik & Unterricht 23 (2/2012), 38–42.
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