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German Pages 405 [408] Year 1976
Hermann Driie Psychologie aus dem Begriff
W DE G
Hermann Driie
Psychologie aus dem Begriff Hegels Persönlichkeitstheorie
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1976
CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen Bibliothek
Driie, Hermann Psychologie aus dem Begriff: Hegels Persönlichkeitstheorie. - 1. Aufl. Berlin, New York: de Gruyter, 1976. ISBN 3-11-004603-2
© 1976 by Walter de Gruyter Sc Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Presse-Drude, Augsburg Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin Printed in Germany
Vorwort Die Psychologie unserer Zeit ist eine autonome Wissenschaft, in der die Überprüfbarkeit der gefundenen Ergebnisse und aufgestellten Sätze an der Erfahrung als Kriterium benutzt wird. Für die Bedeutung und die Gültigkeit dieser Psychologie ist es unerheblich, ob sie sich von Ahnungen des Tiefsinns oder philosophischen Spekulationen leiten läßt. Audi ist nicht abzusehen, wie die interne Solidität der wissenschaftlichen Psychologie durch den Versuch einer philosophischen Fundierung verbessert werden könnte. Von dieser Feststellung wird die Legitimität der Anstrengungen der Philosophie und der Wissenschaftstheorie, die Grundlagenklärung der Wissenschaften allgemein voranzutreiben, nicht berührt. Der Wert der Bemühungen einer wissenschaftlich verfahrenden Philosophie sollte auch in dieser Hinsicht von niemandem in Zweifel gezogen werden. Das Verhältnis, das heute zwischen Psychologie und Philosophie besteht, ist trotzdem mißlich. Schon an Äußerlichkeiten zeigt sich dies: Mathematiker beispielsweise dürfen, ohne in ihrer Disziplin deshalb schräg angesehen zu werden, offen philosophische Neigungen entwickeln. Dasselbe gilt für Physiker. Auch das wissenschaftliche Ansehen eines Soziologen würde durch ein solches Interesse nicht berührt. Bei einem Psychologen könnte dies anders aussehen. Worin mag diese unterschiedliche Behandlung begründet sein? Seit ihrem Entstehen hat die Philosophie versucht, nicht nur Ontologie, Ethik, Ästhetik usw. zu sein, sondern auch psychologisches Wissen zu entwickeln. Piaton und Aristoteles begannen mit entsprechenden Ansätzen; in der Neuzeit weiteten Descartes, Leibniz und Locke - und jeder wiederum schulbildend — diese Bemühungen noch erheblich aus. So wurde die Psydiologie des Abendlandes weitgehend zu einer Anstrengung aus dem philosophischen Denken. Und in dieser Psychologie ging es nicht nur um theoretische Grundlagen, sondern auch um konkrete inhaltliche Annahmen und Behauptungen. Viele Aussagen über Psydiisdies, umfassende und ins Detail gehende, wurden aus dem jeweiligen Denken abgeleitet; dabei wurde nicht berücksichtigt, daß, gemessen an den Prinzipien einer allgemein und im einzelnen überprüfungsbereiten Psychologie, eine Meinung, ein Gedanke bzw. ein System zu solchen inhaltlichen Feststellungen wissenschaftlich nicht berechtigt ist, sondern daß zu ihrer ausgewiesenen Gewinnung vorerst empirische Verfahren entwickelt werden müssen. Gerade in den philosophischen Entwürfen der Psydiologie - und hier wäre an erster Stelle Hegels „Psychologie aus dem Begriff" zu nennen - aber spielt wiederholbare Erfahrung weder als Methode noch als Kriterium eine irgendwie gewichtige Rolle. Die jahrhundertelang andauernde Ungetrenntheit der Philosophie und der
VI
Vorwort
Psychologie dürfte indes ihre sachlichen Gründe haben. Denn der Gegenstand der Psychologie - in der Sprache des 20. Jahrhunderts „das Verhalten", in der des 19. Jahrhunderts „die Empfindung", in der des 18. Jahrhunderts „die V e r mögen", in der des 17. Jahrhunderts „die Seele" - ist dem Gegenstand der Philosophie des Subjekts - der Person, dem Menschen, dem Individuum, dem transzendentalen Subjekt, oder wie immer dieses Zentrum von der jeweiligen Philosophie benannt werden mag - regional sehr nahe. Beide Einheiten fungieren im individuellen Menschen, nicht in einem soziologischen
Forschungsgegenstand,
einer Institution, einem „objektiven Geist". So ist es verständlich, daß die Philosophie versuchte, in ihren Analysen oder Spekulationen über das Subjekt „wie im nebenbei" psychologische Ergebnisse zu gewinnen. Die spiegelbildliche A n t wort auf diese Ansprüche ergab den Psychologismus: er wollte in seinen psychologischen Untersuchungen „wie im nebenher" die philosophischen Probleme vereinnahmen und dartun, d a ß alle philosophischen Sätze gänzlich aus psychologischen Vorgängen ableitbar seien. - Diese Entwicklung führte mehrfach dazu, daß Philosophie und Psychologie sich wechselseitig aufzuheben suchten oder doch wenigstens sich nicht gegenseitig als souverän anerkannten. Gerechterweise wird man zu diesen Absichten feststellen müssen, daß die Ansprüche der Philosophie auf die Psychologie durchaus umfassender waren, als dies für die umgekehrte Richtung gilt. D i e Achtung dieser beiden Disziplinen voreinander und ihre Freiheit voneinander wurden so erheblich erschwert. I m Gebiet der deutschsprachigen Philosophie trat ein weiteres Phänomen belastend hinzu, das der angelsächsischen, aber auch der französischen und der italienischen Philosophie weitgehend unbekannt ist: eine spezielle Psychologiefeindschaft. Schon K a n t bestritt die Möglichkeit der „empirischen Seelenlehre", den R a n g einer eigentlichen Naturwissenschaft einnehmen zu können, weil M a thematik auf die Phänomene des inneren Sinnes nicht anwendbar sei. Fichte verachtete die Psychologie offen als ein „nichts" (vgl. S. 100). D e r Marburger Neukantianismus hielt sie ihres empirischen Charakters wegen für etwas wissenschaftlich Sekundäres (was ihn nicht hinderte, Lust zu einer transzendentalen Fundierung der Psychologie zu hegen). - D i e seit der ersten H ä l f t e des 19. J a h r hunderts selbständig werdende Psychologie wiederum hatte kaum noch Verbindungen zur Philosophie insgesamt. Zum einen w a r sie froh darüber, daß sie, wie die Physiologie, die ihr erstes wissenschaftliches Vorbild war, den Spekulationen der „idealistischen" Philosophie und der „romantischen" Medizin entkommen war; zum anderen ist es ein legitimes Verlangen einer jeden anfangenden wissenschaftlichen Forschungsrichtung, daß sie sich von ihrer theoretischen „Mutter" weg auf eigene Füße stellt. S o lebten die meisten großen Schulen der Psychologie 1 - Strukturalismus, Funktionalismus, Behaviorismus, Reflexologie, Gestaltpsychologie, Psychoanalyse -
von ihrer dokumentierten Distanz
zur
Philosophie. Diese wissenschaftlichen Bewegungen hatten u. a. das Ergebnis, daß 1
des 19. und 20. Jahrhunderts
Vorwort
VII
die Psychologie in der zweiten H ä l f t e des 20. Jahrhunderts als eine rundum anerkannte Disziplin arbeiten kann. Auch die Versuche einer direkten philosophischen Bevormundung haben ihr offensichtliches Ende gefunden. Deshalb sollte es an der Zeit sein, das Verhältnis zwischen Philosophie und Pychologie in einer neuen, freieren Perspektive zu sehen. Audi in einer Psychologie, die vom erfahrungswissenschaftlichen Standpunkt ausgeht, dürfte es nützlich sein, nunmehr die gesamte eigene Geschichte zu befragen: Sogar ein anscheinend belastendes Erbe kann fruchtbar gemacht werden, wenn man es sich in kritischer Prüfung aneignet. In dieser Absicht ist hier die Psychologie des absoluten Idealismus zur Untersuchung gewählt worden. Von Späteren wurde ihr besonders zum Vorwurf gemacht, daß sie das Subjektive erst dann zu würdigen wisse, wenn es als Subjektives zu existieren aufgehört habe und zum Allgemeinen des Begriffs umgewandelt worden sei, wenn das Sein des Subjekts also als Denken des Begriffs existiere. In der Tat geht Hegel davon aus, daß das Denken Sein ist. Freilich will er die These, daß das Denken Sein ist, nicht als abstraktes Festhalten an einer Verstandesbestimmtheit aufgefaßt wissen, sondern als Begreifen einer vernünftigen Wahrheit, in der als Widerspruch auch die ihr entgegengesetzte Bestimmung aufgewiesen werden kann. Immer ist deshalb der Begriff die Einheit mit sich erst in seinem Anderssein; er muß seiner Allgemeinheit die Möglichkeit freier Entwicklung verschaffen. Deswegen muß er sich als nur ideelle Einheit verneinen und die Realität zu selbständiger Objektivität aus sich entlassen. (Was wird hier allerdings „selbständig" heißen?) Diese Freisetzung erfolgt im Charakter der Tätigkeit. Die Erzeugung der Realität hat also ausnahmslos das Handeln des Begriffs zur Voraussetzung. Der Begriff ist erst dann wirklicher Begriff, wenn er seine Bestimmungen f ü r sich gesetzt hat - und sie so beherrscht, vernünftig beherrscht, wie es heißt. Als dieser Begriff, der in seiner Realität gegenwärtig ist und an und f ü r sich mit ihr in Einheit wirkt, ist er vernünftige Idee. Die Technik des Begriffs in diesem Verfahren besteht in einem nur immanenten Unterscheiden, denn außerhalb seiner ist ja nichts. Deshalb gelangt der Begriff nie zu einem „an sich" oder auch nur „für ihn" Neuen. Das gilt auch für die Form seiner eindeutigsten Konkretion, die die Vernunft als begreifendes, letztlich als selbst-begreifendes Erkennen ist. Bei Hegel ist dies kein Nachteil: der Inhalt der Vernunft selbst ist das Wesen der Wirklichkeit, der sittlichen und der natürlichen. Die Vernunft hat so die Aufgabe, sich sich selbst gegenüberzusetzen, sich dadurch f ü r sich zu machen, um vollends bei sich selbst zu sein. D a mit stellen sich der Vernunft die drei Aufgaben 1. der Logik, 2. der Naturphilosophie, 3. der Geistesphilosophie bzw. der Wissenschaft vom Geiste. In dieser 3. Abteilung begegnet sie der Psychologie... - Auch die Psychologie wird in jeder Beziehung aus dem Begriff zu schaffen sein, denn es gilt: „Alles, was nicht diese durch den Begriff selbst gesetzte Wirklichkeit ist, ist vorübergehendes D a sein, äußerliche Zufälligkeit, Meinung, wesenlose Erscheinung, Unwahrheit, Täuschung u. s. f. (SW 7, 38)
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Vorwort
In der folgenden Arbeit soll untersucht werden, 1. spruchs des Begriffs für die Psychologie bedeutet, 2. dieser These audi psychologisch befragen kann, 3. an Hegeischen Lehre diese These ertragreich und konkret
was diese These des Anob man die Begründung welchem Gegenstand der durchgeführt worden ist.
Die Schreibweise der Hegelzitate ist der heutigen Rechtschreibung angeglichen worden; ausgenommen davon wurde aus Verständnisgründen die Zeichensetzung. Die Zitate aus den „Vorlesungen über die Ästhetik" sind der verbesserten Ausgabe von F. Bassenge entnommen; jedodi werden dazu die Seitenangaben der „Sämtlichen Werke" (SW) angegeben. Eigene Übersetzungen aus anderen Sprachen sind kursiv wiedergegeben. Besonderen Dank für sachliche Hinweise sage ich Herrn Prof. Dr. H. J. Weitbrecht, Direktor der Universitäts-Nervenklinik und Poliklinik Bonn (f), und Herrn Prof. Dr. Dr. W. Kern, Institut für Dogmatik und Fundamentaltheologie der Theol. Fakultät der Universität Innsbruck. Für Mithilfe bei den Korrekturen danke ich Herrn Dipl.-Psych. W. Schmidt, Wiss. Ass., und Herrn Dipl.Psych. U. Grauberg, Wiss. Hilfskraft, besonders aber auch meiner Frau.
Inhaltsverzeichnis A Hegel und die Psychologie § 1 Hegel über die Psychologie Die Widersprüdilichkeit der Psychologie in Hegels Denken 1 Skepsis gegenüber der Psychologie 2 - Ablehnung der Ideenassoziation 4 - Ablehnung der Physiognomik 5 - Ablehnung der Mnemotechnik 8 - Zurückweisung aller autonomen Psychologie 8 - Der Gegensatz zwischen Zustand und Aufgabe der Psychologie 10
1
§ 2 Hegels Plan einer Psychologie Die Werklage 12 - Die Stellung der „Phänomenologie des Geistes" 12 — Vermutungen über den Inhalt von Hegels Plan 14
12
§ 3 Über Hegel als Psychologen Große Psychologen über Hegel: Wundt, Freud, Jung, Bühler 16 Die psychologische Bewertung der Phänomenologie und der Philosophie des subjektiven Geistes 18 - Lob 22 - Kritik (insbesondere Exners Kritik) 24
16
§ 4
30
Hegels Quellen Dichter, Pädagogen und Philosophen 30 Klassiker 31
Die philosophischen
§ 5 Wirkungen Hegels auf die Psychologie Die Beschäftigung mit Hegels Philosophie nach 1831 32 - Die Psychologie der Hegeischen rechten Schule 33 - Der Beginn der naturwissenschaftlichen Psychologie 35 - Der Gegenstand der Untersuchung 37
32
Β Der Gedanke einer begrifflichen Psychologie § 6 Psychologie und Wissenschaft Der Begriff und die Realität 39 - Der Begriff und die Wissenschaft 44 Der Begriff und die Psychologie 48
39
§ 7 Psychologie im Dienste des „Geistes" und der „Idee" Die Psychologie in den Stadien der Philosophie des subjektiven Geistes 51 - Die Beziehung zwischen der triadischen Spekulation und den empirischen Ergebnissen 54 - Psychologische Kritik der Triade 56 - Hegels Kritik an Rationalismus und Empirismus 59
51
χ
Inhaltsverzeichnis
§ 8 Gesetze der Psychologie Das Problem der gesetzmäßigen Erfassung des Seelischen 61 Gesetze der Assoziation und des Ausdrucks 65 - Gesetze der Funktionen 69 - Gesetze der Person 71 — Verfahren der Psychologie 74
61
C Prolegomena der Persönlichkeitstheorie § 9 Zur Geschichte des Begriffs Person Der Personbegriff im Altertum 77 - „Person" bei deutschen Theologen, Dichtern und Philosophen 80 §10 Persönlichkeitstheorie als philosophisdi-methodisches Problem und als Wissenschaft Die Abhängigkeit der Persönlichkeitstheorien vom philosophischen Denken 84 - Der allgemeine Begriff und die besondere Realität 86 Die Einzelheit der Person und ihre Freiheit 90 - Die Person als Begriff und als Konstrukt 92
77
84
§11 Historische Voraussetzungen der Hegelsdien Persönlichkeitstheorie Die Seele als Feld der Introjektion 96 - Die neuzeitlichen Wendungen gegen die Metaphysik der Seele 97 - Das Verständnis des Psychischen bei Hegels Zeitgenossen 100
96
§ 12 Die Person und das Recht in Hegels Theorie Die abstrakte Wirklichkeit des Rechts 102 - Die Rechtsperson 105
102
§13 Gott als Person in Hegels Theorie Das geistige Begreifen Gottes 107 - Die Projektion als Instrument des vorstellenden Geistes 109
107
D Psychopathologische Prolegomena §14 Zur Pathographie Hegels
113
a) Psychopathologische Vermutungen über Hegel 113 Theorien und ihre psychologischen Momente 113 - Ansichten Ortegas, Weins, Jungs, Künzlis 114 - Die Rolle der Hypochondrie 116 - Die Hypothese der Psychoseabwehr 118 — Die Schizophreniethese 121 b) Problemspezifische Resultate der klinischen Psychopathologie . 125 Typen der Schizophrenie 125 - Symptome der Schizophrenie 127 Krankheitsverläufe 130 - Postume Diagnosen 133 c) Zur psychopathologisdien Diagnose Christiane Hegels . . . . Bruder und Schwester: Ideal und Wirklichkeit 135 - Christianes Leben und ihre Erkrankungen 136 - Differentialdiagnostische Analyse 140
135
d) Zur psychopathologisdien Diagnose Hegels
147
Inhaltsverzeichnis
XI
Der Schizophrenieverdacht 147 - Biographische Analyse 155 - Der Niedersdilag psychischer Störungen im Werk 159 - Die Ablehnung der objektiven Größe 161 - Das Bedürfnis der Heimholung 164 E Der Begriff und die Person § 15 Die Erfassung der Persönlichkeit 173 Verschiedene Auffassungsrichtungen der Persönlichkeit 173 - Ontologische Rationalität in der Persönlichkeitsdeutung 177 — Der universale Phänomenalismus (bei Hegel und im Behaviorismus) 178 Der systematische Anfang der Persönlichkeitserfassung bei Hegel 180 Die Durchführung des Auftrages: Γνώθι σεαυτόν 182 - Hegels Ablehnung der „Menschenkenntnis" 184 - Hegels Bewertungen des „gesunden Menschenverstandes" 185 §16 Begriff und Leben Das Wesen des Lebens 188 - Das natürliche und das ideelle Leben 190 - Die Selbstbewegung und das Nervensystem 191 - Das ursprüngliche Urteil des Lebens, der Lebensprozeß und die Gattung 193
188
§ 17 Begriff und Idi Die Zeitlichkeit und die Aktivität des Ich 194 - Der Trieb und das Interesse 197 - Die Begründung der Objektivität des Gedankens im Ich 200 - Die These der Identität des Ich und des Denkens 202 - Das Denken als Be-greifen und als Nadi-denken 204 - Die Ablehnung der pathischen Charaktere des Ich 205 - Die Gefahr des Verfallens des Ich an die Endlichkeit 207
194
§ 18 Begriff und Individuum Das unbestimmte und das bestimmte Individuum 209 - Das Individuum und die Negation der Negation 211 - Die Einfachheit und die Komplexität des Individuums 213 - Der Schmerz und die Erzeugung des Bedürfnisses nach Identität 215 - Die Besonderung, die Schuld und das Böse 217 - Der Weltzustand der Dinge und der Trieb des Individuums 220 - Die Gattung und der Tod des Individuums 221 - Der weltliche Beginn des Individuums 224 - Das Individuum und die Sozialität 226
209
§ 19 Begriff und Mensch Die Naturbestimmtheit und der Wille 229 - Sein und Fürsichsein des Menschen 231 - Die Polarität zwischen Entwicklung und Wesen 234 - Die Begierde 237 - Die Selbsterzeugung des Menschen 240
229
§ 20 Begriff und Seele Die Seele im Dinglichen 243 - Die Seele als Substanz 245 - Die Seele und das Bewußtsein 247 - Die Wege der Empfindungen 251 Die Beziehungen zwischen Seele und Leib 254 - Die Aufgabe der
243
Inhaltsverzeichnis
XII
im Dienste der Idee stehenden Seele 257 - Die Seele als Projektionsobjekt 260 § 21 Begriff und Person a) Das Begreifen der Person als Deuten und Forschen
262 262
Ontische, ontologische und ethische Personauffassungen 262 - Die philosophischen Interpretationen der Person vor Hegel 263 - Die personalistische Psychologie Sterns und seiner Nachfolger 266 Phänomenologische und schichttheoretisdie Konzeptionen 269 - Der Verzicht auf inhaltliche Persondeutungen in der neueren Psychologie 271 - Die Person als erfahrungswissenschaftlicher Forschungsgegenstand 274 - Das Gefalle zwischen „Person" und „Persönlichkeit" in Sprache und Psychologie 276 b) Das Begreifen der Person aus dem Begriff
277
Die Persönlichkeit als Begriff, die Person als Wirklichkeit 277 Hegels Programm in der Literatur 281 - Der Zusammensdiluß des Lebens und der Persönlichkeit 282 - Der Wille und das Handeln 284 - Das Sein der menschlichen Person: die Tat 285 - Das Interesse und das Geltungsstreben 288 - Die Bestimmung der Person durch ihr Wirken in nadihegelschen Theorien 289 F Die Logik des personalen Fungierens § 22 Die Erscheinung der Person Die Setzung von Innen und Außen 295 - Die Erschaffung der Erscheinung aus dem Begriff 298 - Der Ausdruck als Selbstbeobachtung der Person 300 - Die Differenz zwischen Wirken und Empfangen 303 - Die wirkliche Erscheinung der Person in ihrem Werk 305
295
§ 23 Das Gebot der Unverborgenheit Die Überwindung der Innerlichkeit 307 - Das offene Handeln und die List 309 - Die unvollendbare Erscheinung der Totalität der Person 311
307
§ 24 Der Zwang des Wirkens
313
a) Der Zweck des Tuns 313 Die Tätigkeit als Wesen des Geistes 313 - Die Differenz zwischen den Phänomenen des Bewußtseins und seiner Aufgabe 316 - Der Trieb aus dem Geiste 319 - Der subjektive Zweck 323 - Die Verwirklichung des Zwecks 327 - Die tätige Form in der Natur 331 — Der Gedanke als wirkender Wille 334 b) Die Aristotelesdeutung Hegels Aristotelesrezeption 336 - Das Sich-selbst-Denken des Ge-
336
Inhaltsverzeichnis
XIII
dankens 337 - Empfinden, Wahrnehmen und Denken als Tun 343 Die Einzigkeit des Tuns 349 c) Der endlose Werktag Die Ablehnung des Gewordenen 352 - Die ununterbrochene Bearbeitung der Unmittelbarkeit 354 - Die Wirklichkeit als Gesetztheit 357
352
d) Die Bezwingung des Verlustes
360
Die alles heimholende Persönlichkeit 360 - Das Ende der Angst 364 Literaturverzeichnis
367
Namenregister
375
Sachregister
379
A Hegel und die Psychologie § 1 Hegel über die Psychologie Die Widersprüchlichkeit der Psychologie in Hegels Denken Nach Hegels Gesamtkonzeption kann die Psychologie, eine wie audi immer zu fassende Psychologie, nicht eine autonome Disziplin sein, sondern sie muß in Abhängigkeit vom Zentralbegriff des Hegeischen Denkens und Systems, eben dem Geist, gesehen und verfaßt werden. Unter diesen Voraussetzungen muß Hegel die empirische Psychologie ablehnen: „Die Lehre vom Geiste wird gewöhnlich als empirische Psychologie behandelt, und der Geist als eine Sammlung von Kräften und Vermögen betrachtet, die sich zufälligerweise beieinander befinden, so daß eines und das andere unbeschadet der übrigen eben so gut auch nicht da sein könnte." (SW 6, 259) Mit diesem Satz spricht Hegel seine Deutung des Seelischen sowie sein rigoroses Mißverständnis der empirischen Psychologie exakt aus, indem er feststellt: 1. Der Geist und die Seele können in adäquater Weise überhaupt nidit empirisch betrachtet werden, sondern eben nur durch Begriffsarbeit. 2. Die empirische Psychologie sieht den Geist als etwas an, das sich aus Zufallsmomenten addiert. In der historischen Wirklichkeit ist dieses Axiom der Zufälligkeit von der empirischen Psychologie jedoch kaum vertreten worden; jede genetische oder strukturalistische Psychologie von Tetens an über Titdiener bis hin zu den neuesten Forschungszweigen suchte vielmehr gerade die ordnenden Momente der seelischen Komposition zu entdecken. Selbstverständlich wußte auch Hegel, daß die empirische Psychologie das Zufallsaxiom nicht offen vertritt oder geheim verfolgt; er glaubte, es ihr aber zum Vorwurf machen zu können, weil sie den Geist und die Seele nicht unter den teleologischen Prinzipien der Begriffsarbeit sieht und die Identitätsthese des Begriffs und der Realität nicht kennt und nicht kennen kann, damit aber unter den Voraussetzungen des Hegeischen Systems den ontologischen Fehler begeht, Geist und Seele unter seinslogischen Kategorien zu untersuchen statt unter Kategorien der Begriffslogik bzw. des subjektiven Geistes. Nach Hegel ist das Primäre in der wissenschaftlichen Erkenntnis, die Notwendigkeit eines Begriffes zu erweisen. Es ist „der Gang, als Resultat, geworden zu sein, sein Beweis und Deduktion". (SW 7, 40) Die Einordnung der Begriffe in ihren Kontext und ihre Explikation wieder aus ihm heraus sind also die wissenschaftliche Arbeit im strengeren, engeren Sinn. Dann aber kann nur diese Sicht bzw. dieses Verfahren wissenschaftlich optimal sein, weil die Dinge, die Vorgänge und die Welt
2
A Hegel und die Psychologie
überhaupt an sich nur das sind, was sie in und für die Vernunft sind. Weil es die Bestimmung der Dinge ist, für die Vernunft zu sein, in ihr ihre Erfüllung zu finden, ist jedes andere als das „Vernunft"-Verfahren wissenschaftlich von minderem Wert. Das Vernünftigwerden der Dinge soll aber nicht eine einseitige Leistung desbewußten, subjektiven Geistes sein. Die wissenschaftliche Arbeit an der Welt ist nicht nur „Phänomenologie des Geistes", sondern audi „Phänomenologie der vernunftfähigen Welt". Wenn die Dinge und die Vernunft zusammengehen können, so gilt hinsichtlich des Anteils der Dinge: „Es ist dies Resultat, in seiner positiven Seite aufgefaßt, nichts anderes, als die innere Negativität derselben, als ihre sich selbstbewegende Seele, das Prinzip aller natürlichen und geistigen Lebendigkeit überhaupt." (L 1, 38) Zu dieser Selbstbewegung „hin zur Vernunft" würden nach Hegel nicht nur die Dinge der Erscheinungswelt streben, sondern auch die für ihn philosophisch traktierbaren Dinge an sich. Der Geist ist sich selbst in seiner Phänomenologie durchsiditig geworden; wenn er sie hinter sich gebradit hat, ist er „vernünftig". Die Vernunft in den Dingen durchschaut sich selbst noch nicht; sie ist noch nur an sidi, ist „sich selbstbewegende Seele" und als solche nicht „Substanz", also Form und Realität ineins, sondern „Prinzip", also form-affin, form-ähnlich, jedenfalls aber nichts Seiendes, Passives, sondern „sich selbstbewegend", also tätig. Eine Psychologie aber, die darauf verzichtet, die immanenten Charaktere des Seelischen, Subjektiven und Geistigen zu entwickeln, muß Hegel zufolge eben nach der Ordnung des Seienden verfahren, und dies auch nodi in naiver Weise; sie faßt also 1. das Seelische kategorial falsch auf und kann 2. nicht zu seinen wirklichen Organisationsprinzipien, eben den aus dem Geist zu entwickelnden, vorstoßen. Die Äußerungen Hegels über die Psychologie sind also notwendig widersprüchlich: Einmal muß er aus systematischen Gründen an dieser Wissenschaft interessiert sein, weil sie unentbehrlich ist, wenn es um die Phänomenologie der Subjektivität im Dienste des Geistes geht. Ein andermal müssen die Vermögenspsychologien, die bis zu Hegels Zeit ausgebildet worden waren und die den Geist und seine „Bausteine" ontologisch nach dem Muster der Dinge der neuzeitlichen Physik auffassen, von ihm abgelehnt werden. Skepsis gegenüber der Psychologie Darüber hinaus gibt es in Hegels Denken auch Zeugnisse jener bekannten, aber durch keine exakt philosophischen Argumente zu belegenden Abweisung der Psychologie. Verschiedenartige Motive und Gründe dürften dabei im Spiel gewesen sein. Ein quietistisches Moment, die Tendenz zur Weltabkehr also, spricht sich in folgendem Satz aus: „Aus dem Überdruß an den Bewegungen der unmittelbaren Leidenschaften in der Wirklichkeit macht sich die Philosophie zur Betrachtung h e r a u s ; . . . " (SW 11, 569) Merkwürdig genug ist es dabei für eine Philosophie des Konkreten, der Vernünftigkeit als Wirklichkeit, daß sie sich
§ 1 Hegel über die Psychologie
3
nicht zu einer Analyse der verwirrenden Emotionen aufmacht, sondern sich mit anderem beschäftigen soll: „ . . . ihr Interesse ist, den Entwickelungsgang der sich verwirklichenden Idee zu erkennen, und zwar der Idee der Freiheit, welche nur ist als Bewußtsein der Freiheit." (SW 11, 569) In moderner Fassung hieße das, nicht die bedrängenden Einzelprobleme zu verfolgen, sondern Grundlagenforschung zu treiben. Theoretisch mag das sein, konkret ist es eben nicht. Eine Rolle spielt auch das Motiv der „Gefahr durch psychologische Relativierung", und zwar in verschiedenen Regionen. Für die Logik fürchtet Hegel ζ. B., daß sie durch „psychologische und anthropologische Zutaten" (L 1, 39) an der Entfaltung des spekulativen Denkens gehindert werden könnte. In axiologischer Hinsicht wird ebenfalls vor der Gefahr psychologischer Auflösung gewarnt: In Wirklichkeit seien die Vorstellungen über die Macht von „den Reizen und der Stärke sinnlicher Triebfedern gegen die Vernunft, von psychologischem Zwang und Einwirkung auf die Vorstellung" (SW 7, 154) ohne Gewicht. Eine motivanalytische Betrachtung würde ferner den Rang der weltgeschichtlichen Individuen tangieren, die Hegel zufolge mit Recht als große bezeichnet werden, „eben weil sie ein Großes, und zwar nicht ein Eingebildetes, Vermeintes, sondern ein Riditiges und Notwendiges gewollt und vollbracht haben. Diese Betrachtungsweise schließt auch die sogenannte psychologische Betrachtung aus, welche . . . alle Handlungen ins Herz hinein so zu erklären und in die subjektive Gestalt zu bringen weiß, daß ihre Urheber alles aus irgend einer kleinen oder großen Leidenschaft, aus einer Sucht getan haben, und, um dieser Leidenschaften und Suchten willen, keine moralischen Menschen gewesen seien." (SW 11, 61 f.) 1 In der Auffassung, daß große Handlungen, sowie Taten überhaupt, nicht durch Motivanalyse in ihrem historischen Ergebnis bzw. ihrer sittlichen Relevanz beschädigt werden dürften, können vermutlich zwei Begründungsanteile namhaft gemacht werden: Einmal ist es die Furcht vor der „Verunreinigung" durch Psychologie, vor der Zerstörung des Sittlichen durch Natur, dann aber, und systematisch ungleich strenger, die Ablehnung der Besonderheit: Die Besonderheit ist Hegel zufolge die Einzelheit ohne Verbindung mit der Allgemeinheit. Das nur Besondere ist un-vernünftig und gedanklich nicht behandelbar. Die völlige Reduktion der menschlichen Taten auf Motive würde sie zu in diesem Sinne „besonderen" machen. Und „besondere" können sie nach Hegel eben nicht sein, weil sie im lebendigen Zusammenhang mit dem Geiste stehen. 1
Auf die gesdiichtsphilosophisdien Konsequenzen der Hegelsdien Theorie der weltgeschichtlichen Individuen soll hier nicht eingegangen werden. Angesichts der Identifizierung von großer Tat und richtigem Vorwissen um sie bleibt offensichtlich nur die Alternative zwischen welthistorischem Redit durch erfolgreich praktizierte Gewalt und der Prästabilierung von menschlicher Absicht und geschichtlichem Verlauf. Eben diese Alternative vermeidet Hegel mit der vielgeschmähten Konstruktion einer „List der Vernunft", dies aber um den Preis, daß die Lehre vom Weltgeist zu den am frühesten bestrittenen Systempartien gehörte und audi von Erneuerern Hegels nachdrücklich gestrichen wurde, (vgl. Litt 1953)
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A Hegel und die Psychologie
Wegen der engen Verbindung der Empfindung, sowohl der ästhetischen als audi der ästhesiologischen, mit der Besonderheit steht Hegel auch jeder Empfindungstheorie skeptisch gegenüber: „Denn die Reflexion auf die Empfindung begnügt sich mit der Beobachtung der subjektiven Affektion und deren Besonderheit, statt sich in die S a c h e . . . zu versenken und zu vertiefen und darüber die bloße Subjektivität und deren Zustände fahren zu lassen. Bei der Empfindung jedodi ist gerade diese inhaltlose Subjektivität nicht nur erhalten, sondern die Hauptsache, und darum fühlen die Menschen so gern. Deshalb wird aber auch solche Betraditung ihrer Unbestimmtheit und Leerheit wegen langweilig und durch die Aufmerksamkeit auf die kleinen subjektiven Besonderheiten widrig." (SW 12, 60) Der Beginn mit der Empfindung ist Hegel sowohl in psychologischer als auch in gegenstandstheoretischer Absicht unfruchtbar, da sie immer nur als isolierte, als besondere bzw. besonderte zur gedanklichen Verfügung steht, da sie als jeweils beliebig einsetzbare gegenüber den Konstruktionsprinzipien des Subjekts, des Objekts und des Subjekt-Objekts ontologisdi minderwertig ist.
Ablehnung der Ideenassoziation Hegel verwirft audi die sogenannten Gesetze der Ideen-Assoziation. Das Mißtrauen gegenüber der Psydiologie allgemein kennzeichnet zunächst die These, diese Gesetze hätten „besonders in der mit dem Verfall der Philosophie gleichzeitigen Blüte der empirischen Psychologie ein großes Interesse gehabt." (SW 10, 335) Gegen sie bringt Hegel vor, daß nach ihnen in Wirklichkeit keine Ideen, sondern Bilder und Vorstellungen verknüpft würden. Dieser Einwand verfängt aber nicht, weil er anachronistisch ist. Die psychologischen Theoretiker vor Hegel, die sich mit der Assoziation beschäftigt hatten, kannten den engeren Begriff der Hegeischen Idee als des schlechthin mit sich identischen Denkens, der Substanz, die Subjekt geworden ist, noch nicht und konnten ihn deshalb auch noch nicht behandeln. Andererseits ist dagegen einzusehen, daß ein Denken, das völlig mit sich identisch wäre, keiner assoziativen Vermittlung mehr bedürfte. Auch der zweite Einwand, den Hegel gegen die Assoziationstheorie vorbringt, kann nicht anerkannt werden: es seien keine Gesetze, „weil so viele Gesetze über dieselbe Sache sind". (SW 10, 335) Daraus schließt Hegel, in diesem Bereich würden Willkür und Zufälligkeit herrschen, und dies sei das Gegenteil eines Gesetzes. Das MißVerständnis besteht bei dieser Argumentation darin, daß die Assoziationsgesetze nicht am Anspruch der Kausalgesetze gemessen werden dürfen, sondern an den Möglichkeiten der Wahrscheinlichkeitsgesetze. Sie sind nicht Vorschriften für alle Fälle, sondern für viele Fälle, aber von Chaos und Durcheinander weit entfernt. Den Grund seiner Abweisung der Assoziationsmechanismen verrät Hegel nicht in seiner schwachen Argumentation gegen sie, sondern in ihrer Charakterisierung: „Das Fortgehen an Bildern und Vorstellungen nach der assoziierenden Einbildung ist überhaupt das Spiel eines gedankenlosen Vor-
§ 1 Hegel über die Psydiologie
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stellens... Das Sein, das Sidi-bestimmt-Finden der Intelligenz klebt der Vorstellung nodi an." (SW 10, 336) Getadelt wird also zweierlei: 1. die Gedankenlosigkeit des Verfahrens, wobei Gedanke im engen Hegelsdien Sinne als absolutes Mittel des Hervorbringens verstanden werden muß (vgl. Enz 37) und 2. die Rolle der Vorstellung, des hauptsächlichen Mediums der Assoziation; denn sie hat sich nidit selbst produziert, ist nicht das Ergebnis reiner Aktivität, sondern sie ist passiv, gemacht, und insofern minderwertig. Die assoziierende Vorstellung ist also nicht wirklichkeitsgerecht, nicht realitäts- oder vernunftkonform, wie Hegel ohne weiteres zuzugeben ist. Gerade dieser mindere Grad der Realitätsangepaßtheit macht jedoch ihr Auftreten und ihre Verwendung in bewußtseinslogisch regressiven Phasen, z. B. Dämmerzuständen oder psychotherapeutischen Assoziationen, überhaupt erst möglich. Es ist aber nicht ersichtlich und audi von Hegel nidit nachgewiesen worden, wie aus dem minderen Grad der Vernünftigkeit und Realitätsgerechtigkeit der Vorstellungen ihre völlige A-Logizität gefolgert werden könnte. 2
Ablehnung der Physiognomik Zu den Bestandteilen der theoretischen Psydiologie, die Hegel verwirft, gehört ferner besonders die Physiognomik. Man denke u. a. an die entsprechenden Ausführungen in der „Phänomenologie des Geistes" im Absdinitt „Vernunft", (vgl. Phän 227 ff.) Hegel fordert von der Physiognomik, daß sie eine nicht zufällige, sondern notwendige Beziehung eines Innern und Äußern liefern solle, „des Charakters als bewußten Wesens und ebendesselben als seiender Gestalt." (Phän 230) Nun läßt sich feststellen, daß diese Forderung von allen Ausdruckswissenschaftlern erhoben wird; erst über ihre Konsequenzen entstand Streit, der inzwischen jedoch abgeklungen ist. Denn die Physiognomik ist inzwischen in der Psychologie, soweit sie vermittelnde Ergebniswissenschaft ist, weitgehend zurückgetreten, und zwar wegen ihres bisher geringen objektiv zu sichernden Ertrages. (vgl. Kirdihoff 1965) Der Kern der Hegeischen Argumente gegen sie ist dagegen durchaus der ihrer geistigen Insuffizienz und Würdelosigkeit. Es hat allerdings den Anschein, als ob eben dieser Kern seiner Argumentation weder im Ganzen noch in den Einzelheiten haltbar ist. Er lautet: „Wenn nun die äußere Gestalt nur, insofern sie nicht Organ oder nicht Tun, hiemit als ruhendes Ganzes ist, die innre Individualität ausdrücken könnte, so verhielte sie sich also als ein bestehendes Ding, welches das Innre als ein Fremdes in sein passives Dasein ruhig empfinge und hiedurdi das Zeichen desselben würde; - ein äußerer, zufälliger Ausdrude, dessen wirkliche Seite für sich bedeutungslos, - eine Sprache, deren Töne und Tonverbindungen nicht die Sache selbst, sondern durch die freie Willkür mit ihr verknüpft und zufällig f ü r sie sind." (Phän 230) In dieser Argumentation ist jedoch die Eingangsalternative zu eng gefaßt: Wenn der 2
Zum Problem der Gesetze der Assoziation vgl. § 8 Gesetze der Psydiologie.
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A Hegel und die Psychologie
Körper seine Energie nicht in die Tätigkeit eines Organs konzentriert und audi insgesamt nicht tätig ist, braucht er darum keineswegs „ruhendes Ganzes" zu sein. In vielen Zuständen beispielsweise des Sitzens, des Gähnens, des SichWohlfühlens usw. ist der Körper sicher nicht vermittels eines Organs wirkend tätig und auch nicht zu einer Totalhandlung bewegt; aber ruhendes Ganzes ist er ebenfalls nicht, sondern unterschiedlich von Wachheit durchzogen und teilweise gespannt oder bewegt. Es gibt ganz offensichtlich Körperinnervationen und -bewegungen von untrennbar aktiv-passiver Mischung, die Hegel merkwürdigerweise leugnet 8 . Für Hegel ist also der Körper, der nicht „Tun" ist, der „ruhendes Ganzes" sein müßte, sogar ein „Ding", „welches das Innre als ein Fremdes in sein passives Dasein ruhig empfinge". Damit wird aber der Körper resp. der Leib nach Art einer materiellen Matrize aufgefaßt, die ausschließlich die Funktion des Zeichenträgers hat („hiedurch das Zeichen desselben würde") und für die die Zeichen, die sie trägt, nur „ein äußerer, zufälliger Ausdruck" sind und die mit beliebigen Zeichen beschrieben werden kann („durch die freie Willkür mit ihr verknüpft und zufällig für sie"). Mit seiner zu engen Alternative, nach der der Leib entweder nur als in speziellen Organen, besonders dem „absoluten· Werkzeug, der Hand", konzentriert tätig bzw. insgesamt als rein Tätiger oder aber nur als Ding verstanden werden kann, hat sich Hegel durchaus den Zugang zum Ausdrucksproblem verstellt, dessen Aufgabe gerade die ist, die erscheinende Beziehung zwischen Geist, Seele einerseits und der Lebendigkeit des Körpers andererseits herauszufinden. Wenn der Körper resp. der Leib nur als Tun oder nur als Ding verstanden wird, kann er eben nicht als Selbstbeweger, Tätiger, der aber ebenso ruhen kann, passiv sein kann, aufgefaßt werden. Mit der Alternative nur des Tuns oder des Dinges ist der Zugang zu der untrennbaren Mischung der Aktivität u n d Passivität des Leibes, die beide gleichermaßen aber Leben sind, versperrt. Für die Physiognomik würde das bedeuten: Ist der Leib, wie es die Seele für Hegel ist (vgl. § 20. Begriff und Seele), nur Tun, dann entfällt das Problem einer Ausdruckswissenschaft, denn zwischen gleichem Tun, und zwar der Seele und des Leibes, braucht es keine Vermittlung zu geben. Ist der Leib aber als ausdrucktragendes Ganzes nichts als ein Ding, dann entfällt die Vermittlung der Physiognomik ebenfalls und müßte durch einseitig gerichtete Matrizierung ersetzt werden. Das Doppelproblem der Physiognomik - wie Seele sich im Leib zur Erscheinung bringen kann, wie der Leib die Seele erkennbar darstellen kann - entsteht erst dann, wenn die beiden Relationsträger als mindestens annähernd äquipotent aufgefaßt werden. Geschieht dies nicht, so muß Physiognomik verworfen werden. (Die heutige weitgehende Ablehnung der Physiognomik hat nicht diesen ontologischen Grund, sondern stützt sich auf die Unsicherheit der empirischen Relationen.)
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Nicht mehr „merkwürdig" wird dies genannt werden müssen, wenn in § 24 - „Der Zwang des Wirkens" - die These von der Notwendigkeit der absoluten Aktivität alles Vernunftwilligen entwickelt sein wird.
§ 1 Hegel über die Psychologie
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Offensichtlich aber faßt Hegel den Leib als etwas Nachgeordnetes auf: In der Logik tadelt er, daß „man den Menschen überhaupt aus Seele und Leib bestehen läßt, deren jedes als ein Selbständiges für sich gilt" (L 2, 121); eine Selbständigkeit des Leibes wird also verworfen. In der Enzyklopädie spricht Hegel seine technokratisch-technomorphe Leibkonzeption deutlich aus: „Das Lebendige hat einen Körper, die Seele bemächtigt sich desselben und hat sich darin unmittelbar objektiviert... Der Mensch muß seinen Körper gleichsam erst in Besitz nehmen, damit er das Instrument seiner Seele sei." (SW 8, 419 f.) In dieser Argumentation ist zweierlei deutlich zu sehen: Das Verhältnis der Seele zum Leib wird erstens als das einer Macht- oder Gewaltausübung verstanden, in dem der Leib nur Instrument oder Apparat zu sein hat. Zweitens aber erinnert die Inbesitznahme durch primäre Ergreifung an eine Konstitutionsform des unterworfenen Eigentums, (vgl. SW 7, 107 ff.) Anscheinend ist der Leib in ontologischer Hinsicht demnach nur ein letztlich eigenwertloser Katalysator: „Die Philosophie aber hat zu erkennen, wie der Geist nur dadurch für sich selber ist, daß er sidi das Materielle, - teils als seine eigene Leiblichkeit, teils als eine Außenwelt überhaupt, — entgegensetzt, und dies so Unterschiedene zu der durch den Gegensatz und durch Aufhebung desselben vermittelten Einheit mit sidi zurückführt." (SW 10, 242) Leib und Welt werden also als Mittel benötigt, wenn der Geist zu sich selbst kommen will; Eigenwert erlangen sie nicht und haben sie nicht. Zwar konzediert Hegel Unterschiede, die sich als Folge des Verwandtschaftsgrades ergeben: „Zwischen dem Geiste und dessen eigenem Leibe findet natürlicherweise eine noch innigere Verbindung statt, als zwischen der sonstigen Außenwelt und dem Geiste." (SW 10, 242) Diese engere Beziehung zwischen Geist und Leib erhält aber sofort wieder die Aufgabe zugewiesen, das Subjekt nicht in Abhängigkeit von seinem Körper geraten zu lassen, ihn nicht zu etwas „Feindseligem" gegen den Geist zu machen. Und auch trotz dieser engeren Beziehung darf die Seele keineswegs in der nur unmittelbaren, nur natürlichen Einheit mit dem Leibe verharren. Es widerspräche der Aufgabe der Seele, sich als Idealität auf sich selber zu beziehen, wenn sie in unverarbeiteter Harmonie mit dem Leibe verbliebe. Die Seele muß „ihre Identität mit ihrem Leibe zu einer durch den Geist gesetzten oder vermittelten machen, ihren Leib in Besitz nehmen, ihn zum gefügigen und geschickten Werkzeug ihrer Tätigkeit bilden." (SW 10, 243) Was der Leib also an sich sein kann, ist nicht bedenkenswert, da er im Dienste des Geistes „Werkzeug" zu sein hat; deshalb erfährt der Leib nur eine technisch-operationale Definition: Er ist Mittel, dasjenige, was von der Seele bestimmt und eingesetzt wird. Es ist deshalb nicht zutreffend, wenn die Leib-Seele-Beziehung bei Hegel als ein echtes Gegenseitigkeitsverhältnis interpretiert wird. (vgl. van der Meulen 1963, 253 ff.) Diese Ausführungen über das Leib-Seele-Verhältnis wurden hier vorgezogen, um zu belegen, daß Hegel von seinem Standpunkt aus eine Physiognomik als Teil der theoretischen Psychologie verwerfen mußte 4 . 4
Zum Problem der Gesetze des Ausdrucks vgl. § 8. Gesetze der Psychologie.
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A Hegel und die Psychologie
Ablehnung der Mnemotechnik Unter den Bestandteilen der praktischen Psychologie lehnt Hegel die Mnemonik oder Mnemotechnik in besonders nachdrücklicher Weise ab. Schon in seinem Bamberger J a h r verwirft er sie in einem der ersten von ihm stammenden Artikel der „Bamberger Zeitung" (19. März 1807) und meint, daß sie als ein Zeichen von Verrücktheit angesehen werden könnte, wenn der Geist sie in seinem natürlichen Gang ausüben würde. In der Enzyklopädie hält er ihr vor, daß sie Namen in Bilder verwandele (vgl. S W 10, 354) und dadurch das Gedächtnis wieder zur Einbildungskraft herabsetze. Wahrscheinlich bezieht sich Hegel auf ein bestimmtes mnemotechnisches Verfahren, in dem durch Verknüpfung von Wörtern mit konkreten Raumstellen (oder auch Zahlen) eine gesicherte Reproduktionsfähigkeit erreicht werden soll. Warum opponiert Hegel gegen ein solches Verfahren? Seine Erfolge sind nicht so umfassend, daß es allein deswegen bekämpft werden müßte. Außer Frage steht jedoch, daß es den Individuen, die es beherrschen, zu manchmal unvorstellbar hohen Gedächtnisleistungen verhelfen kann. Dabei geschieht aber etwas, das sich Hegels Grundgedanken zufolge nicht ereignen darf : Nach ihm „hat das Gedächtnis nicht mehr mit dem Bilde zu tun, welches aus dem unmittelbaren, ungeistigen Bestimmtsein der Intelligenz, aus der Anschauung, hergenommen ist." ( S W 10, 354) „Das mnemonisch Eingegeprägte wird nicht, wie das im Gedächtnis Behaltene, auswendig, d. h. eigentlich von Innen heraus, aus dem tiefen Schachte des Ich hervorgebracht und so hergesagt, sondern es wird von dem Tableau der Einbildungskraft, so zu sagen, abgelesen." ( S W 10, 354) Die Mnemonik verfehlt sich also darin - mag sie erfolgreich sein oder nicht - , daß sie ein im Hegeischen System ontologisch unzulässiges Verfahren anwendet: sie verwandelt Wörter zurück in Bilder, Vorstellungen zurück in Anschauungen, d. h. sie praktiziert ontologische Regression. Dies aber ist ein Operationsmodus, den es in Hegels absolut teleoklinem System keinesfalls geben kann. Die Ablehnung der Mnemonik setzt also nicht Gründe der Praktikabilität an, sondern einer der Grundgedanken des Systems, die alleinige Wirklichkeit der Progression, ist dafür verantwortlich. Der unter rein praktischen Gesichtspunkten eher skurrile Kampf gegen die Mnemotechnik erhält also erst in ontologischer Perspektive Relevanz: Hegel hat wohl richtig erkannt, daß die Mnemotechnik mit seinem System unvereinbar ist, auch wenn sie nur wie ein winziges Steindien dagegen steht 5 .
Zurückweisung aller autonomen Psydiologie In den Fällen der Physiognomik und der Mnemotechnik lehnt Hegel Themenbereiche der Psychologie ab, weil sie der Grundtendenz seines Systems widersprechen. Es läßt sich aber darüber hinaus feststellen, daß Hegel alle Psycholo5
Vgl. die Invektiven gegen die ebenfalls teleologisch nicht aufzulösenden „Zwitterformen", „Amphibien" usw. in Enz 305, SW 9, 677 ff., SW 11, 103 f., SW 12, 507 f.
§ 1 Hegel über die Psydiologie
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gie zurückweist, die versucht, autonom zu sein, die sich also nicht unter Voraussetzung der Prinzipien des Geistes im engeren Sinne konstruieren lassen •will. Deshalb kann und muß Hegel auch die Haupttypen der neuzeitlichen Psychologie verwerfen, nämlich die beschreibende und die erklärende Richtung, wie schon Dessoir angab. Wenn es sich um die beobachtende oder beschreibende Psychologie handelt, trifft sie nach ihm folgendes Verdikt Hegels: „Sofern sie das eigentlich Individuelle als Charakterologie . . . nachzuerzählen strebe, sei sie sinnloser als der trockenste Rechenschaftsbericht über die verschiedenen Arten von Insekten und Moosen, denn diese, weil dem Elemente der zufälligen Vereinzelung angehörig, erlauben der Beobachtung, sie begriffslos zu nehmen, während die bewußte Individualität mit ihrem Wesen zum Allgemeinen des Geistes gehört." (Dessoir 1911, 167) Dessoir verwendet z. T. Hegels eigene Worte: Der Mangel der beschreibenden Psychologie ist es demnach, daß sie ihre Objekte in detaillierter Einzelarbeit faßt, sie aber nicht ständig unter dem ganzheitlichen Primat des Geistes sieht. Ein derart im engeren Sinne begriffsloses Verfahren kann dagegen nur — in begrenztem Rahmen - in deskriptiven Naturwissenschaften seinen Platz haben. Die beschreibende Psychologie verfehlt für solche Argumentation das Einzelne in seinem Bezug zum Allgemeinen, weil sie nur an das Besondere denkt. Aus der Geschichte der Psychologie heraus kann Hegels Einwand kaum anerkannt werden: Nachdrückliche Erfolge erzielte die beschreibende Psychologie gerade dann nicht, wenn sie sich einem bestimmten Begriff objektiven oder subjektiven Geistes verpflichtet fühlte, sondern wenn sie das Instrument des Beschreibens ohne systematischen Vorbegriff einsetzte. Die erklärende empirische Psychologie sieht Dessoir in folgender Weise durch Hegel verworfen: „ . . . auch die dem Allgemeinen zustrebende empirische Psydiologie, die das Gegebene rein erfahrungsmäßig auffaßt und zergliedert, verkennt den tieferen Begriff der Vernunft. Sie findet eine Masse gegeneinander gleichgültiger Tatsachen... Die Sinnlichkeit ist Ausgangspunkt, aber nicht Prinzip des Seelenlebens.-Noch ein anderer Tadel trifft die sensualistisdie Entwicklungslehre. Wenn man ihr glauben will, so tritt immer nur positiv etwas zur stofflichen Grundlage hinzu. Es wird gänzlich das Negative der Tätigkeit des Geistes} übersehen, wodurch jener Stoff vergeistigt und als Sinnliches aufgehoben wird." (Dessoir 1911, 167) Diese empirische Psychologie treffen also die Vorwürfe 1. der fehlenden Ganzheitlichkeit unter dem Primat des Geistes (obschon ihr zugestanden wird, daß sie sich auf dem Wege hin zur Vernunft befindet), 2. ihrer nur affirmativen Annahmen: Entwicklung und Veränderung kommt nach ihr nur durch quantitative Addition zustande. Die Negativität als der Motor des Geistes hat in ihr kein Recht. Zu dieser Argumentation kann man bemerken: Obschon bis heute noch durchaus ungeklärt ist, wie weit und ob überhaupt das Modell der Negativität im Sinne Hegels für die Darstellung geistiger Prozesse unentbehrlich ist, muß diesem letzteren Einwand gegen die empirische Psychologie Recht mindestens in Erprobungshinsicht gegeben werden: es ist eine der
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A Hegel und die Psychologie
härtesten Kritiken, die man gegen die empirische Psychologie erheben kann, daß sie bis heute, trotz Hegel, trotz negativer Realdialektik, trotz des Mechanismus der Verneinung in der Fassung Anna Freuds, dialektische Negativität als Entwicklungsprinzip nie thematisiert hat. So ist denn auch Hegels letzter Vorwurf an die Adresse der empirischen Psychologie bis heute unerledigt geblieben: der „Standpunkt, der überhaupt unserer Zeit eigentümlich ist, verfährt nadi empirischer Psychologie, nimmt dasjenige auf, was und wie es sich im gewöhnlichen Bewußtsein findet, beobachtet die Erscheinung und setzt außerhalb derselben, was das Unendliche darin ist." (SW 15, 183) Die Psychologie verhindert ihre wissenschaftliche Erfüllung Hegel zufolge also dadurch, daß sie das Ziel der Vermittlung zwischen Endlichem und Unendlichem nicht ansteuert, sondern sich nur mit der endlichen Erscheinung abgibt, das Unendliche aber für unbehandelbar erklärt. Die im Hegeischen Sinne konsequentere Haltung wäre es da schon, das Unendliche ganz zu streichen, wie es in Reflexologie und strengem Behaviorismus geschah. Der Gegensatz zwischen Zustand und Aufgabe der Psychologie Alle seine Einwände hindern Hegel aber nicht, Psychologie und psychologische Anthropologie für notwendige oder notwendig herzustellende Wissenschaften zu halten: „Sterne, Tiere, Pflanzen wissen und erfahren ihr Gesetz nicht; der Mensch aber existiert erst dem Gesetze seines Daseins gemäß, wenn er weiß, was er selbst und was um ihn her ist; er muß die Mächte kennen, die ihn treiben und lenken." (SW 14, 238) Die Substanz will Subjekt werden; deshalb muß das an sich bestehende Gesetz des Menschen auch für ihn werden; insoweit dies Gesetz anthropologisch oder psychologisch ist, liegt es in der Teleologik des Geistes, daß der Mensch für sich werden soll. Psychologie als Aufgabe ist also nicht nur psychologisch: die Bedingungen der Möglichkeit des Menschen sollen für ihn wirklich, d. h. vernünftig werden. Psychologie hat also auch ontologischen Auftrag und ist eine philosophische Wissenschaft. Deshalb bedauert es Hegel, daß sich „nicht leicht eine philosophische Wissenschaft in so vernachlässigtem und schlechtem Zustande befindet, als die Lehre vom Geiste, die man gewöhnlich Psychologie nennt." (SW 7, 53) Dabei denkt Hegel nicht an eine Psychologie, wie sie sich später bei Fechner, Wundt, James und Pawlow entwickelt hat, sondern an eine solche, die ihren Ort im Gesamtgebäude der philosophischen Wissenschaften, in einer „philosophischen Enzyklopädie" unter der Autorität des Geistes hat. So gilt sein Lob zunächst der Psychologie des Aristoteles: „Das Beste bis auf die neuesten Zeiten, was wir über Psychologie haben, ist das, was wir von Aristoteles haben." (SW 18, 393) Der Grund dieses Lobes wird in der Enzyklopädie offen genannt: „Die Bücher des Aristoteles über die Seele mit seinen Abhandlungen über besondere Seiten und Zustände derselben sind . . . noch immer das vorzüglichste oder einzige Werk von spekulativem Interesse über diesen Gegenstand. Der wesentliche Zweck
§ 1 Hegel über die Psychologie
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einer Philosophie des Geistes kann nur der sein, den Begriff in die Erkenntnis des Geistes wieder einzuführen, damit auch den Sinn jener aristotelischen Bücher wieder aufzuschließen." (SW 10, 12) Aristoteles' Verdienst besteht also nach Hegel besonders darin, eine Psychologie „begrifflicher" Art entwickelt zu haben 6 . Für Hegel jedenfalls hat nur eine Psydiologie Relevanz, die ihren Inhalt aus Begriffen schöpft und die Entwicklung des Geistes begrifflich erarbeitet. Deswegen kann nach ihm - nodi einmal sei es gesagt - Psychologie nicht auf Beobachtung des sich Zeigenden beruhen, was bloß eine theorielose θεωρία der bezugslosen Besonderheiten ergäbe, sondern nur auf der wirklichen Arbeit des Begriffes selbst. Diese Leistung hat die auf Aristoteles folgende Psychologie für Hegel nicht erbracht: „Die empirische Psychologie hat den konkreten Geist zu ihrem Gegenstande, und wurde, seitdem nach dem Wiederaufleben der Wissenschaften die Beobachtung und Erfahrung zur vornehmlichen Grundlage der Erkenntnis des Konkreten geworden, auf dieselbe Weise getrieben, so daß teils jenes Metaphysische außerhalb dieser empirischen Wissenschaft gehalten wurde und zu keiner konkreten Bestimmung und Gehalt in sich kam, teils die empirische Wissenschaft sich an die gewöhnliche Verstandesmetaphysik von Kräften, verschiedenen Tätigkeiten u. s. f. hielt und die spekulative Betrachtung daraus verbannte." (SW 10, 11 f.) Die beabsichtigte oder unbeabsichtigte Vermeidung der metaphysischen resp. ontologischen Problematik ist das Versäumnis der Psychologie, der Wissenschaft, deren Zustand getadelt, deren Aufgabe hoch eingeschätzt wird. Die Vermögensmetaphysik der voraufgegangenen und der zeitgenössischen Psydiologie wird von Hegel also nicht wegen Zweifeln an den Klassifikationen angegriffen, sondern weil diese Einteilungen nicht aus dem „Geist" abgeleitet worden sind. In der Vergleichung der Wissenschaften hält Hegel die Psychologie für schwerer als die Logik (seiner Ontologik) : „Das Logische und Psychologische . . . miteinander verglichen, so ist das Logische im Ganzen für das Leichtere anzusehen, weil es einfachere, abstrakte Bestimmungen zu seinem Inhalt hat, das Psychologische dagegen ein Konkretes, und zwar sogar den Geist." (SW 3, 305) Die These, daß das Logische leichter sei als das Psychologische, ist vom Hegelsdien Standpunkt aus und von jedem konstruktivistischen Ansatz aus zutreffend: Wenn die Elemente der Wissenschaft begrifflich bzw. operational aufgestellt werden müssen, dann gibt es in der Logik weitaus weniger definienda als in der Psychologie. Die Konstruktion einer Logik setzt nichts voraus als die „Gleichzeitigkeit" der Logiker oder die synchrone Parallelität des Vernunftstandpunktes (vgl. Fulda 1965), inhaltlich aber gar nichts. Die nur aus ihrer eigenen Entwicklung die Inhalte entnehmende Logik ist gegenüber dem „sinnlichen" Bewußtsein von armem, d. h. abstraktem Charakter; gerade deswegen ist die konstruierende Arbeit an ihr leichter. Die Psychologie dagegen ist für 6
Über die gewalttätige Deutung Aristoteles' durdi Hegel vgl. die Aristotelesdiskussion in § 24. Der Zwang des Wirkens, b) Die Aristotelesdeutung.
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A Hegel und die Psychologie
diesen Ansatz logisch Kategorialität in einer bestimmten Region nach-logischer Art, insofern „konkret" im Hegeischen Sinne und deshalb schwer. Nur der Verstand, der glaubt, es sich leisten zu können, seine Einteilungen, u. z. solche sowohl der Metaphysik als auch des Alltags, zum Maßstab der Vernunft nehmen zu können, kann Psychologie leichter als Logik finden.
§ 2 Hegels P l a n einer Psychologie Die Werklage In den beiden letzten Jahrzehnten seines Lebens hat Hegel mehrfach geäußert, daß er noch eine Psychologie schreiben -wolle. Im Jahre 1811, in seiner Nürnberger Zeit, „zwischen Phänomenologie und Logik", mitten in der Arbeit an der Großen Logik, schrieb er an Niethammer: „Meine Arbeit über die Logik hoffe ich nächste Ostern ans Licht treten lassen zu können; späterhin wird dann meine Psychologie folgen." (Br 1, 389) In § 367 der Heidelberger Enzyklopädie und in gekürzter Weise in § 444 der Berliner Enzyklopädie wird auf das angebliche Elend der Psychologie hingewiesen: „Die Psychologie gehört, wie die Logik, zu denjenigen Wissenschaften, die in neuern Zeiten von der allgemeinern Bildung des Geistes und dem tiefern Begriffe der Vernunft noch am wenigsten Nutzen gezogen haben, und befindet sich noch immer in einem höchst schlechten Zustande." (SW 10, 304 f.) Die entsprechenden Ausführungen aus der Rechtsphilosophie wurden schon im vorigen Paragraphen gebracht. Vorangestellt ist ihnen die abermalige Ankündigung Hegels, daß er hoffe, sich mit diesen Problemen in Zukunft beschäftigen und eine „weitere Ausführung dereinst geben zu können." (loc. cit.) Tatsächlich hat Hegel aber trotz dieser Ankündigungen eine Psychologie in der Zeit von 1811 bis 1831 nicht ausgearbeitet. Hinsichtlich dieser Lücke kann zur individuellen Schaffensweise Hegels festgestellt werden, daß er in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten, insbesondere nach dem Abschluß der „Wissenschaft der Logik", schneller, eleganter und subjektiv leichter schrieb als zuvor. Persönliche Arbeitshemmungen als Hindernisgrund scheiden nach 1816 völlig aus. (vgl. § 14. Zur Pathographie Hegels) Ein Werk oder auch nur ein Manuskript Hegels mit dem Inhalt einer Psychologie gibt es jedoch nicht, sondern nur ein additives Fragment von etwa 40 Folioseiten, das in die Jahre 1822 bis 1825 zu datieren ist. (vgl. H S t 1, 9 ff.)
Die Stellung der „Phänomenologie des Geistes" Außerdem hielt Hegel seit 1817 eine Vorlesung über die Philosophie des subjektiven Geistes. Diese Vorlesung wurde aber nicht als über „Anthropologie, Phänomenologie, Psychologie" handelnd angekündigt, wie es der Folge der „Enzyklopädie" entsprochen hätte, sondern sie trug den Titel ¡Anthropologie und Psychologie.
§ 2 Hegels Plan einer Psydiologie
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Die „Phänomenologie" wurde in ihm also nidit genannt. Man darf dazu vielleicht einmal bemerken, daß für diese Weglassung wohl nicht der Zufall verantwortlich gemacht werden kann. Eher lassen sich daran Vermutungen anknüpfen über die Abnahme des Stellenwertes der „Phänomenologie" in Hegels Denkweg überhaupt: Zuerst besitzt sie den autonomen Rang von 1806, dann wird sie (wobei die vorwiegend didaktisch begründete Verwendung in der Nürnberger Propädeutik in systematischer Hinsicht ausgeklammert werden muß) zu einem beschnittenen Systemteil in den Enzyklopädien, um schließlich in den enzyklopädischen Vorlesungen nicht mehr angekündigt zu werden. Vielleicht geht die Annahme nicht fehl, die vermutet, daß die „Phänomenologie des Geistes" als Selbsterschließungs- und Selbstvergewisserungsmethode des absoluten Wissens im Hegeischen Denken unersetzbar war, daß sie aber in der enzyklopädischen Fassung des subjektiven Geistes zurücktreten kann : Die Seele, die am Ende der Anthropologie sich sich entgegengesetzt, sidi aufgehoben und sich bestimmt hat, ist als freie Allgemeinheit Ich, ist nicht mehr unfreie Unmittelbarkeit. Dieser Weg war nur in Antizipationen erfaßbar. Das Idi aber ist die unendliche Vermittlung des Geistes mit sich selber, als Bewußtsein zwar noch Widerspruch, den es aber nunmehr nach dem ersten Passieren in der „Phänomenologie des Geistes", wo er den Weg zur Vernunft aufschloß, in der Philosophie des subjektiven Geistes nicht mehr zu leben gilt. Anders gesagt: Die Substanz will Subjekt werden: In der Anthropologie ist der Geist noch „Substanz"; er muß aus teleologischer Bestimmung weg von diesem Zustand, aber er vermag aus subjektivem Begehren in ihm zu bleiben; dort ist er „sich behaglich". In der Psydiologie (im engeren Sinne) ist er schließlich „Subjekt" oder wahre Totalität und hat sein Ziel erreicht. In der Phänomenologie, in der Mitte seines Weges also, ist er nidit mehr „Substanz", nodi nidit „Subjekt", vielmehr „selbständiger Widerspruch beider Seiten und ihrer Identität", die Zerrissenheit, die bei sich selbst nidit zu bleiben vermag, die schleunigst verlassen werden muß, da sie weder behaglich noch unendlich ist. Ganz offen soll also einmal gefragt werden, ob die „Phänomenologie" in dem von Hegel nidit mehr erbrachten Werk einer „Philosophie des subjektiven Geistes" oder einer „Psydiologie" vielleidit nur noch über einen recht untergeordneten Platz verfügt hätte. (Schon in der Boumannschen Fassung der Enzyklopädie von 1845 hat die Anthropologie 97 Seiten, die Psydiologie [im engeren Sinne] 88 Seiten, die Phänomenologie dagegen nur 39 Seiten!) Die Stellung der „Phänomenologie des Geistes" in einer ontologischen Methodologie (1806) und in einer kursorischen Darstellung der philosophischen Wissenschaften in den Enzyklopädien wäre jedenfalls eine völlig andere als in einer deskriptiven Regionalontologie, wie sie die von Hegel nicht erarbeitete Psychologie hätte beinhalten müssen: In ihr hätte es unausweichlich gehen müssen um die ontologisdie Deduktion der seelischen Funktionen und des konkreten Zentrums dieser Funktionen, der Person. Das lebendige Subjekt als Person aber wäre vorwiegend ein Gegenstand anthropologischer Analyse geworden;
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A Hegel und die Psychologie
die Funktionen selbst dagegen hätten hauptsächlich in einer (im Hegeischen engeren Sinne verstandenen) Psychologie abgehandelt werden müssen. Für eine Phänomenologie wäre demnach in einer Psydiologie im weiteren Sinne (verstanden als Lehre vom konkreten Subjekt und den psychischen Funktionen) von den Bearbeitungsfeldern her kaum Platz gewesen. Die allgemeine Wertschätzung, die die „Phänomenologie des Geistes" als „Abenteuer einer innerlichen Weltreise" oftmals abverlangt hat, darf nidit darüber hinwegtäuschen, daß sie psychologisch-regionalontologisch nur zu kleinen Teilen (als Bewußtsein - Selbstbewußtsein - Vernunft) und auch in ihnen nur in Funktions- und Personanalysen Aussagen enthält. Vermutungen über den Inhalt von Hegels Plan Insgesamt scheint darüber hinaus die Annahme nicht gerechtfertigt, daß Hegel mit seinem Plan einer Psydiologie nur die detaillierte Ausfüllung der Philosophie des subjektiven Geistes gemeint habe. (vgl. HSt 1, 9 ff.) Dagegen spricht zunächst Hegels Wortwahl: Nie sagt Hegel, daß er noch eine „Philosophie des subjektiven Geistes" zu liefern gedenke, sondern bei der Erwähnung dieses Plans verwendet er immer den Terminus „Psychologie". Angesidits der Dreiteilung des subjektiven Geistes in den Enzyklopädien in Anthropologie, Phänomenologie und Psychologie ist in dieser Wortwahl eine beabsichtigte Wortfehlwahl ausgeschlossen, eine unbeabsichtigte äußerst unwahrscheinlich. In § 4 der Rechtsphilosophie (SW 7, 53) parallelisiert Hegel in Verbindung mit seinen Plänen die „Lehre vom Geiste", nicht die „Lehre vom subjektiven Geiste", und die „Psydiologie". Würde man nur von der Interpretation dieser einen Stelle ausgehen, bedeutete dies, daß das Werk, das er nicht verfaßt hat, nur den dritten Teil des subjektiven Geistes, den Geist im engeren Sinne, als Psydiologie thematisiert hätte, nicht aber den gesamten subjektiven Geist. In dem Fragment von 1822 bis 1825 zeigt Hegel aber nidit nur Ansätze zu einer Bearbeitung dieses Geistes im engeren Sinne, sondern auch der Anthropologie, ζ. B. der Lebensalter und der Rassendifferenzen. Der 6. Paragraph im vierten Brudistück ζ. B. beginnt: „Der Prozeß der Entwicklung des Individuums hat näher zu seinem Ziele, daß einerseits dasselbe zu dem Gegensatze seiner Selbständigkeit gegen das Allgemeine, als die an und für sich seiende, fertige und bestehende Sache komme, und andererseits derselbe so in ihm versöhnt sei, daß es in ihr seine wesentliche Tätigkeit und seine eigene Befriedigung allein zu finden, das Bewußtsein habe." (HSt 1, 34) Damit bedenkt Hegel Entwicklungsprobleme des realen Individuums, also spezielle regionalontologische Fragen, nidit Entwicklungsprobleme des Geistes auf dem Wege zur wissenden Wahrheit, also allgemein-ontologisdhe Fragen. Eine Analyse soldier konkreten Probleme würde in der „Durchführungsontologie" des Geistes im engeren Sinne keinen Platz haben können. Hegel denkt außerdem die Entwicklung des Individuums in diesem Fragment unter den Auspizien des tiefst eingreifenden Modells, das die Psy-
§ 2 Hegels Plan einer Psychologie
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chologie überhaupt kennt, nämlich des konflikt-logisdien; u. z. im besonderen als Dissoziation zwischen Subjektivität und Allgemeinheit sowie deren Versöhnung. Der entsprechende Passus in der Berliner Enzyklopädie ist dagegen viel „harmonischer": „An der Seele als Individuum bestimmt, sind die Unterschiede als Veränderungen an ihm, dem in ihnen beharrenden einen Subjekte, und als Entwicklungsmomente desselben." (SW 10, 93) In der Enzyklopädie ist die thematisierte Entwicklung also nodi nicht im Konfliktmodell gedacht, sondern als Variation im selbst unverändert bleibenden Subjekt, als „Veränderung" am „Beharrenden". Solche Unterschiede sind nicht unwesentlich: in der neueren Entwicklungspsychologie liegt zwischen ihnen der gesamte Vorstellungsspielraum von den substanzverändernden Konfliktmodellen (Freud) bis zu den lerntheoretischen Additionsmodellen (Thorndike, Pawlow, Hull, Skinner). Es hat also den Anschein, als ob Hegel in dem Fragment einen anderen personalen Entwicklungsbegriff als in der Enzyklopädie im Auge hat, was auf eine Veränderung der zugehörigen Denkergebnisse hinweisen würde. In dem Fragment selbst trennt Hegel die „endlichen Betrachtungsweisen des Geistes" (HSt 1,18) von der „Philosophie des Geistes", (loc. cit.) Als „endliche Betrachtungsweisen" nennt er ,,a) Menschenkenntnis und Selbsterkenntnis" (HSt 1, 18), „b) Psychologie" (darüber steht im Manuskript: „empirische Anthropologie", was nur als Gleichsetzung von „Psychologie" und „empirischer Anthropologie" verstanden werden kann) (HSt 1,19) und „c) rationelle Psychologie, Pneumatologie" (HSt 1, 21). Anschließend unterscheidet Hegel noch einmal „Philosophie" und „empirische Erkenntnisse . . . des Bewußtseins" (HSt 1, 21) und erklärt „zum Gegenstand der Wissenschaft vom Geiste nur den lebendigen Geist, und zur Form des Erkennens nur dessen eigenen Begriff und nach der Notwendigkeit seiner immanenten Entwicklung." (loc. cit.) Erst im Nachfolgenden (vgl. H S t 1, 25 ff.) beginnt er mit dem „Begriff des Geistes", den er dann aber nicht mehr Psychologie nennt. In der Verwendung der Termini „Psychologie" und „Geist" ergibt sich in diesem späten Fragment also eine deutliche Trennung. Geistphilosophie und endliche Betrachtungsweise des Geistes treten damit einander gegenüber. Ob nicht ihre werkmäßige Zusammenfassung am ehesten den Intentionen der geplanten Psychologie entsprochen haben könnte? Daß Hegel mit seinem Vorhaben einer Psychologie an die Auffüllung des Paragraphengerüstes der „Philosophie des subjektiven Geistes" gedacht habe, wird von ihm selbst nie gesagt und ist unwahrscheinlich: Wenn Hegel tatsächlich daran ging, einzelne Stücke der Enzyklopädie monographisch aufzufüllen, wurde daraus jeweils 1. mehr und 2. anderes. Dafür zeugen z.B. die Rechtsphilosophie, die Religionsphilosophie, die Ästhetik. Es spricht nichts dafür, daß Hegel mit dem Plan einer „Psychologie" nur Marginalien zum Ganzen oder zu Abschnitten der Philosophie des subjektiven Geistes zu liefern sich vorgenommen hatte. Hegel hat ausgerechnet die Psychologie, die er durchführen wollte, als „schwer" bezeichnet. Dies sagte ein Mann, der die „Phänomenologie des Geistes" niedergeschrieben hatte und die Logik „leicht" nannte. Er wußte, daß er in einer Psy-
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A Hegel und die Psydiologie
diologie seiner Vorstellung in ihrem geistphilosophischen Teil - nicht in ihrer endlichen Betrachtungsweise - sowohl die seelisdien Funktionen als auch das konkrete Subjekt als Individuelles aus dem lebendigen Geist hätte begrifflich herausleiten müssen. Für diese beiden Aufgaben enthält die Philosophie des subjektiven Geistes nur Ansätze, ebenso wie fast alle anderen Werke Hegels. Was aber ist zu tun, wenn man sich heute fragt, was Hegel unter Psychologie, unter den psychischen Funktionen einerseits, dem konkreten Subjekt, der Person andererseits, verstanden hat? Es bleibt nichts anderes übrig, als daß man, da er die mehrfach versprochene Psychologie nicht geliefert hat, auf alle seine ausgeführten Werke eingeht. Die Berücksichtigung nur der Philosophie des subjektiven Geistes wäre ähnlich einem Verfahren, das bei psychologischen Untersuchungen zu Aristoteles etwa nur „De anima" heranziehen würde. Vielleicht ist es ein für den Hegeischen Ansatz nachdenklich stimmendes Phänomen, daß er die versprochene Psychologie nicht geliefert hat. Ob es Hegel vielleicht vor sich selber nicht geglückt ist, eine Psychologie als absolut idealistische durchzuführen? Die Differenz zwischen Sinnlichkeit und Geistigkeit in den psychischen Funktionen, zwischen Allgemeinheit und Existenz im konkreten Subjekt hätte immerhin ontologisch begründet werden müssen.
§ 3 Uber Hegel als Psychologen Große Psychologen über Hegel: Wundt, Freud, Jung, Bühler Die Geschichte der Psydiologie ist ein Gebiet, dessen sich diese Wissenschaft bisher nur wenig angenommen hat, wie es von einer in vielfältiger Evolution begriffenen Disziplin auch nidit anders erwartet werden kann; die erfolgreiche Rückwendung auf die eigene Geschichte setzt immer das Erreichen eines relativen Entwicklungsabschlusses voraus. Einige Abschnitte der Psydiologie können zwar als zureichend erforsdit gelten, so die der Antike und älteren Neuzeit, andere dagegen müssen als praktisch unbehandelt angesehen werden. Dazu zählt vornehmlich die Psychologie zwisdien Vermögenstheorie und Aktualismus, in Namen gefaßt: die Psydiologie zwischen Tetens und Wundt (von Einzelabhandlungen zur Kantischen Psychologie abgesehen, vgl. u.a.: Satura 1971). Darunter fällt also audi und an erster Stelle die Psydiologie des Idealismus, die in allen Darstellungen der Geschichte der Psychologie ausnahmslos auf ganz wenigen Seiten abgewickelt wird, in denen ebenso ausnahmslos die einmal durch Wundt fixierte Auffassung wiederholt wird. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, daß es eine irgendwie zureidiende, auch psychologisch zureichende, Untersuchung zu Hegels Psychologie noch nicht gibt, daß nicht einmal die Auffassungen großer Psychologen über ihn analysiert wurden. Wenn man sich einige der bedeutenden Psychologen, sofern sie überhaupt etwas zu Hegel festgestellt haben, vornimmt und auf ihre Äußerungen zu Hegel hin
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untersucht, ergibt sich offensichtlich, daß sie sich nicht sehr mit ihm beschäftigt haben. Die Mauer der verständnislosen Schnellurteile wird - wie schon gesagt durch Wundt errichtet. Seine These ist es, daß die Psychologie nur Erfahrungswissenschaft sein und daß eine rationale Psychologie keinen wissenschaftlichen Fortschritt erbringen kann. (vgl. Wundt 1902, I, 8) Hegel wirft er vor, daß er, indem er die Welt der Realität, der Dinge an sich, abschaffe und in der Ersdieinungswelt die logisch produzierte und verstehbare Welt des Absoluten erblicke, „die wahre durch eine phantastische Wirklichkeit" ersetze. (Wundt 1902, III, 759) Indessen ist es von Wundt nicht unternommen worden, die evtl. Berechtigung seines Vorwurfs darzustellen. Dieser Vorwurf der Phantastik wird ergänzt durch den der Fruchtlosigkeit; in bezug auf die Psychologie des Hegeischen Idealismus gilt nach Wundt: „In dieser bestand die Leistung der neuen Philosophie lediglich in einer Einordnung der alten Vermögensbegriffe in die Schablone einer dreigliedrigen, gekünstelten Dialektik. Eigentlich glänzte also hier die Psychologie durch ihre Abwesenheit. Die Vermögenspsychologie hatte doch wenigstens bei den einzelnen .Vermögen' Beschreibungen einiger komplexer Erscheinungen zu geben versucht." (Wundt 1902, III, 759) Nun wäre es durchaus möglich, daß eine Psychologie allein durch einen der beiden Vorwürfe der Phantastik oder der Fruchtlosigkeit diskreditiert würde; eine Analyse auch nur einer dieser beiden Seiten gibt Wundt jedoch nicht. Deshalb wird es aus seiner Darstellung heraus auch nicht klar, ob sie beide selbständig sind oder sich evtl. gegenseitig bedingen. Die Thesenbildung Wundts, daß Hegel in psychologischer Hinsicht ein fruchtloser Phantast gewesen sei, wurde jedoch bis heute in der Psychologie fast ungebrochen hingenommen. Bedenklich daran ist nicht der Tenor der These, sondern die zu geringe Ausgestaltung ihrer Durchführung gegenüber Hegels Verfahren: einem gewaltigen Vermittlungsversuch steht nur ein isolierter Satz gegenüber. Freud äußert sich in seinem Gesamtwerk nur zweimal zu Hegel. Erstaunlich ist dabei wiederum die überaus ehrliche und selbstkritische Art, in der Freud zugibt, daß er Hegel nur aus zweiter Hand kennt, ein Geständnis, das quer durch die Geistesgesdiichte sonst fast regelmäßig vergessen wird. (vgl. Freud GW 2/3, 58) An der anderen Stelle nennt Freud Hegels Philosophie „dunkel". (Freud GW 15, 191) Diese Feststellung ist verständlich, seit Viktor Kraft Freuds Studiengang rekonstruiert hat. Daraus geht hervor, daß Freud im Jahre 1874 — kurz nach der Abschaffung des Pflichtphilosophikums für Mediziner in Wien - begann, bei Brentano Philosophie zu hören. Nach Jones soll er dadurch von dem krassen Materialismus seiner ersten Studienjahre abgekommen sein. 1875 hörte er u.a. bei Brentano „Aristotelische Logik". (Vgl. zu diesen Angaben: Jones 1960, I, 57f., 424) Brentanos Abneigung gegen die „dunklen Dichterphilosophen" Fichte, Schelling, Hegel aber ist bekannt. Einer nachhaltigeren Wirkung Hegels auf Freud wären sicherlich auch bei genauerer Kenntnis enge Grenzen gezogen gewesen, u. z. nicht wegen der „Dialektik" bei Hegel, denn auch in Freuds Theorie spielt die Negation eine bedeutende, wenn auch anders genannte
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Rolle, sondern wegen der völlig differenten Entwicklungsbegriffe, die bei Hegel ein zu harmonisierendes Ziel kennen, bei Freud dagegen nicht. C. G. Jung scheint sich etwas mit Hegel befaßt zu haben. Auch er kommt allerdings zur Ablehnung. Leitend ist für ihn sicherlich seine Ansicht von der prinzipiellen Unmöglidikeit jeder Über-Verstandes-Philosophie, jeder VernunftPhilosophie. Aber im einzelnen nimmt seine psychologisch gehaltene Kritik genaue Präzision an: „Der Sieg Hegels über Kant bedeutete für die Vernunft . . . eine schwerste Bedrohung, umso gefährlicher als Hegel ein verkappter Psycholog war und große Wahrheiten aus dem Bereich des Subjektes in einen selbstgeschaffenen Kosmos hinausprojizierte." (Jung 1947, 399) Der also schon bekannte Vorwurf der Phantastik, der Diditungsphilosophie, erhält durdi Jung eine neue Bestimmtheit: nicht um in unklarer oder zufälliger oder scheinstreng-dialektischer Manier erfundene Inhalte, die in Korrelation mit der Realität als falsch oder belanglos anzusehen seien, handle es sich bei Hegels Philosophie, sondern um - in Hinsicht auf die in Jungscher Auffassung zu verstehende Subjektivität gesehen Wahrheiten, deren Illegitimität erst in ihrer Projektion nach außen bestehe. Damit erst begründet Jung den Vorwurf, den schon Wundt erhebt; denn erst systematische Projektion bringt Ordnung und Verstehbarkeit in die „Phantastik". Das Prinzip der „schöpferischen Synthese" (Wundt) bedarf zur Funktion durchaus gegebener Inhalte; aus der Tätigkeit schöpferisdier Subjektivität an realistischen Inhalten aber könnte kaum eine absolute Phantastik realdifferenter Art von dazu unbestreitbar hoher Ordnung erwachsen. Jungs radikale These geht, und darin besteht wiederum ihre Einseitigkeit, von nur-psychologischen Kategorien aus: Hegels System wird als die Projektion nur-subjektiver Ordnungsbemühungen verstanden, als ein Weltbemächtigungswahn also. Karl Bühler sei als letzter der bedeutenden Psychologen angeführt: Er ist bereit, von Hegel die Gliederung in Anthropologie, Phänomenologie und Psychologie im engeren Sinne in modifizierter Fassung zu übernehmen (vgl. Bühler 1929, 26); weiterhin den Gedanken, „daß sich die sinntragenden Erlebnisse als solche zu einem System, zu einem theoretisch vollendbaren und aus sich begreifbaren Ganzen zusammenschließen." (loc. cit.) Auch den Gedanken des objektiven Geistes will er in spezieller Bearbeitung der Relation Zeidien/Bedeutung wieder aufgreifen, (vgl. Bühler 1929,137)
Die psychologische Bewertung der Phänomenologie und der Philosophie des subjektiven Geistes Schon diese knappe Übersicht macht deutlich, daß eine tatsächlich anregende Wirkung auf bedeutende Psychologen von Hegel nicht ausgegangen ist. Demgemäß sind auch ihre Urteile über ihn eilig, komplex und ohne Relevanz, weil ihnen weitgehende Unkenntnis zugrunde liegt. Diese Unkenntnis wiederum hat einerseits sicher ihren Grund in der Schwierigkeit der Hegeischen Philosophie, andererseits aber sicher auch in einem systemtechnischen Problem: Es bestand und
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besteht nämlich kaum Einigkeit darüber, welche Werke Hegels als psychologische und wieweit sie als psychologische aufzufassen sind. Dieser Streit begann mit der These Hayms, derzufolge die „Phänomenologie . . . eine durdi die Geschichte in Verwirrung und Unordnung gebrachte Psychologie und eine durch die Psychologie in Zerrüttung gebrachte Geschichte" (Haym 1857, 243) ist. Diese Behauptung hat die Hegelianer sehr gereizt: die Reise des Geistes zum Absoluten schien profaniert. Und doch ist unbestreitbar, daß die Phänomenologie nur von ihrem Resultat bzw. ihrer Absicht her die „Phänomenologie des Geistes" ist. Von ihrer beginnenden Durchführung her ist sie Psychologie, Geschichte und Erkenntnistheorie, und wenn man ihren Weg zum sog. Vernunftstandpunkt hin nicht mitmadien kann, dann b l e i b t sie dies auch. Der von Fulda (vgl. Fulda 1965) gründlich behandelte Streit über das Verhältnis zwischen Phänomenologie und Logik und sein eigenes Ergebnis, daß die Phänomenologie keine Einleitung, sondern ein „Nebenher" zur Logik sei, ist eine annehmbare Sache erst für den schon Vernunftgläubigen. So ist es ein unlösbares Problem, je nachdem, ob man auf dem Identitätsstandpunkt steht oder nicht, ob die „Phänomenologie des Geistes" keine Psychologie sei oder ob sie neben anderem auch Psychologie enthalte. Diese Grunddifferenz der Ansichten über Hegels berühmtestes Werk hat seiner Rezeption bei großen Psychologen sicher geschadet. Hinzu treten die ebenfalls unterschiedlichen Ansichten über sein in systematischer Hinsicht „psychologischstes" Werk, den dritten Teil der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse", die „Philosophie des Geistes", insbesondere des subjektiven Geistes. Vorab ist dabei auf Folgendes hinzuweisen: Bekanntlich ist von Hegel nur das Paragraphengerüst der Enzyklopädie niedergeschrieben worden; alle ausführenden „Zusätze" sind Mitschriften der Schüler oder aus anderen Werken oder Fragmenten Hegels in meist bearbeiteter Weise entnommen. Die Ausgabe seiner Werke durch die erste Nachfolgegeneration war von Anfang an philologisch arg in Mißkredit geraten. Deshalb ist das Lob, das Rosenkranz der Redaktion der „Philosophie des subjektiven Geistes" zollt, besonders erfreulich; es ist damit zu erwarten, daß die endgültige Gesamtausgabe der Werke Hegels bei diesem Werkteil nicht sehr große Neuigkeiten zutage fördern wird oder muß 7 . Die Urteile inhaltlicher oder wertender Art über die „Philosophie des subjektiven Geistes" gehen dagegen auseinander: Hohes Lob erfährt sie von Rosenkranz: „Hier hat sich Hegel auf alle schwierigen Punkte seiner Systematik sehr verständlich eingelassen; er hat gezeigt, in wie ausgedehntem Umfange ihm das empirische Material geläufig war; er hat im Ausdruck der psychischen Phänomene sich als einen geistvollen Seelenmaler bewährt, dem auch die zartesten Schattierungen seines Objekts nicht entgehen, wie dies ganz besonders seine Schilderungen der Seelenkrankheiten, des Somnambulismus, der Gewohnheit, des Tem7
» . . . übernahm Dr. Boumann zu den kurzen Paragraphen der Enzyklopädie über die betreffende Lehre aus Hegels Vorlesungen einen Kommentar zu geben, der von ihm ganz vortrefflich redigiert worden ist." (Rosenkranz 1870, 179)
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peraments u. a. beweisen." (Rosenkranz 1870, 179) Von Rosenkranz wird also besonders die regionale Idiographie des Psychischen für lobenswert gehalten. Nicolin setzt in diesem Jahrhundert - bei grundsätzlicher Anerkennung dieses Systemteils - seine Lobakzente anders: „In der ersten Abteilung der Geistesphilosophie ging es für Hegel nicht um die Erschließung von Neuland, sondern darum, das überkommene, in der Schultradition des 18. Jahrhunderts gefestigte Gedankengut der Anthropologie und Seelenkunde aufzuschließen und in das Ganze seiner Philosophie einzubegreifen. D a ß ihm dies - trotz mancher formeller Gewaltsamkeiten zugunsten der triadischen Gliederung seiner Systemdarstellung - gelungen ist, kann nidit bestritten werden." (Nicolin 1960, 357) Indessen scheint damit überhaupt nichts gewonnen, denn es könnte sich j a durchaus so verhalten, daß es Hegel nur gelungen ist, eine inzwischen völlig hinfällig gewordene Psychologie, die Vermögenspsychologie, einem evtl. ebenso unglaubwürdigen System, seinem eigenen nämlich, zu integrieren. Nicolin sieht nun die besondere Leistung Hegels in Folgendem: „Voraussetzungen, Verfahren und Ergebnisse der .empirischen' und rationellen' Psychologie seiner Zeit hat Hegel von seinem Begriff des Geistes her kritisiert und grundsätzlich überwunden, damit aber zugleich mancherlei Fehlansätze und Irrtümer der späteren Seelenwissenschaft (bis heute hin) vorwegnehmend widerlegt bzw. richtiggestellt." (Nicolin 1960, 357) Ob solches Lob, das sich auf den „Geist" beruft, bestehen kann, wird im weiteren noch an Einzelnem geprüft werden. Hegel selbst hat sicherlich nicht an dem Gedanken gezweifelt, daß psychische Phänomene durch rein denkerische Behandlung zureichend bearbeitet werden können. Von heute aus gesehen ist die Berufung auf den „Geist" in diesem Unternehmen aber zunächst nichts als ein äußerlicher Titel, ein Anspruch, keine Leistung. Das Verfahren Hegels scheint sogar vorerst durchaus dasselbe zu sein wie das der Vermögenspsychologie des 18. Jahrhunderts: nämlich psychische Inhalte nur durch Denken zu entwickeln und darzustellen. Mit Nachdruck wird dieses Verfahren als das allein wissenschaftliche noch in der Einleitung der Berliner Enzyklopädie verteidigt. In Hegels Werk wird sicherlich anderes gedacht als bei den Psychologen des 18. Jahrhunderts, aber - es wird nur konstruierend gedacht. Die Verfahren sind identisch. (Von Hegels Anspruch her sind sie ebenso sicher nicht identisch.) U n d was das Lob anbetrifft, daß Hegel Voraussetzungen und Ergebnisse der ihm vorausgehenden Psychologien „grundsätzlich überwunden" habe, so bleibt zu fragen, warum sich bis auf den heutigen Tag keine Psychologie und kein Psychologe dieser angeblich so bedeutenden Errungenschaften bedient hat, warum sie vielmehr folgenlos geblieben sind. Eine Berufung auf den „Geist" als angeblich höherrangigen Prinzipienbegriff ist auch hierbei nicht möglich: Wissenschaftliche Ergebnisse müssen konvertibel sein. Geheime Wahrheit ist wissenschaftlich ein Unding. Und wo hätte Hegel „Fehlansätze und Irrtümer der späteren Seelenwissenschaft . . . vorwegnehmend widerlegt bzw. richtiggestellt"? 8 8
Von „späterer Seelenwissensdiaft" läßt sich psychologiegesdiiditlidi nur im Hinblick auf Klages und die ganzheitspsydiologisdie Schule Kruegers sprechen. Wie Hegel
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Die wissenschaftliche Literatur berichtet nirgends, daß ein wissenschaftliches psychologisches Ergebnis durch einen Bezug auf einen Gedanken Hegels berichtigt worden wäre. Zwar stellt Nicolin weiterhin fest, daß sidi die Philosophie des subjektiven Geistes nicht in „Einzelansichten" erschöpfe. „Ihre eigentliche Bedeutung liegt vielmehr darin, daß in ihr die geist-seelisdie Innerlichkeit des Menschen mit all ihren verschiedenen und verschiedenwertigen Leistungen einem durchgreifenden Telos untergeordnet wird: der Selbstverwirklichung des Geistes." (Nicolin 1960, 358) Nach dieser Feststellung wäre also die These über Hegel als Korrektor wohl so zu verstehen, daß psychologische Einzelergebnisse der Forschung an seiner angeblich zutreffenden Gesamtinterpretation gemessen werden müßten. Dazu paßt allerdings nicht die andere Feststellung von Nicolin (und Pöggeler): „Uns Heutigen ist dieses System ((Hegels)) in vielem endgültig fraglich geworden. Vielleicht liegt es uns daher näher, die Enzyklopädie dort ins Auge zu fassen, wo sie uns konkrete Ausarbeitungen, Einsiditen und Problemhinweise gibt, die wir audi gelöst vom Systemganzen aufnehmen können, - wie beispielsweise in der Philosophie des subjektiven Geistes." (Nicolin und Pöggeler in: Enz X L I I I ) Nadi diesen Worten wäre die Berufung auf den Geist als oberste Instanz nun gerade nicht mehr möglich, sondern die Einzelergebnisse stellten die spezifische Leistung Hegels dar. Dann aber könnte eine evtl. Berichtigung psychologischer Ergebnisse beliebiger Art und Zeit auch wiederum nur durch Berufung auf Einzelergebnisse Hegels möglich sein. Es wird also bei Nicolin nicht deutlich, wer oder was in Hegels System das Korrektiv ist. Und abgesehen von ein paar Anspielungen bei psychologisch-wissenschaftlich nicht ausgewiesenen Autoren ist von einer Korrektur psychologischer Resultate durch Hegel in der psychologischen Literatur nichts bekannt: weder durch den Begriff des Geistes im ganzen noch durch Idiographie im einzelnen. Wenn Gedanken Hegels für die psychologische Forschung fruchtbar gemacht werden sollen, dann ist dies nicht zu erwarten, wenn man sich nur auf die „Philosophie des subjektiven Geistes" beschränkt, gegen die nun doch von der ersten Nachfolgegeneration bis heute audi erheblidie Einwände erhoben wurden, wofür nur zwei Stimmen angeführt werden sollen: „Unbestritten sind die Naturphilosophie und die Lehre vom subjektiven Geiste die mindest originellen, die mindest einflußreidien Teile des Systems" (Haym 1857, 337), heißt es schon in der ersten Generation nach dem Tode Hegels. „Es ist kein Zufall, daß seine Naturphilosophie, Anthropologie und P s y c h o l o g i e . . . wenig Wirkung erzielten, während seine Rechts-, Geschidits- und Religionsphilosophie noch die Nachwelt in Atem halten konnten. Er war von Hause aus der Philosoph des Geistes, und auch innerhalb des geistigen Seins vorwiegend dem zugewandt, was er unter dem Titel des ,objektiven Geistes' zusammenfaßte." (Hartmann 1929, 282 f.) So lautet eine Stimme aus diesem Jahrhundert. gerade sie vorwegnehmend korrigiert haben sollte, ist völlig unerfindlich. Vermutlich meint Nicolin mit „Seelenwissenschaft" diejenigen Psychologien, die gerade keine Seelenwissenschaft mehr sind und sein wollen.
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A Hegel und die Psychologie
Im Ansdiluß an diese Feststellungen ergibt sich die Frage, wodurch diese Inhomogenität in Hegels Werk bedingt wird. Wenn man von arbeitstechnischen und biographischen Radizierungen absieht, ergeben sich hauptsächlich zwei Deutungsmöglichkeiten: Entweder lag ein bestimmter Stoff Hegel nicht (zu dieser Annahme neigen H a y m und Hartmann), oder dieser bestimmte Stoff fügte sich der Hegeischen Systematik nicht. Wie allgemein bekannt ist, lobt man in Hegel nicht nur den Systemtechniker, sondern ebenso den Idiographen. Man denkt dabei besonders an die Religionsphilosophie, die Geschichtsphilosophie, vor allem aber an die Ästhetik. Und, wie in der ganzen folgenden Untersuchung gezeigt werden soll, hat Hegel in Fülle über das Individuum, die Person, mitgedacht. Allerdings ist der bevorzugte Ort der Niederschrift dieses Wissens nicht „der subjektive Geist" in der „Philosophie des Geistes", sondern er rangiert dabei nur neben den anderen, besonders den gerade angeführten Werken. Diese Tatsache ist nicht verwunderlich, wenn man sich klar macht, daß die „Philosophie des subjektiven Geistes" weder eine Lehre von den psychischen Funktionen, noch eine Lehre von der menschlichen Person ist, sondern ein Abschnitt in der Darstellung der Theorie über die Entwicklung des allgemeinen Geistes, für den psychische Funktionen und Individuen nur unselbständige Momente sind, die aber - und dies darf nicht übersehen werden - im subjektiven Geist als produziert werdende und in der Philosophie des Rechts, der Religion, der Geschichte, der Kunst als produziert habende auftreten und deshalb zwar unselbständige, aber unerläßlidie Vorkommnisse in der Gesamttheorie sind. Wenn - was niemand bestreitet - Hegels Theorie eine des Subjekts/Objekts ist, wenn sie — was ebenso niemand bestreitet - konkrete Philosophie ist, dann muß das Individuum, der Mensch, die Person in ihr vorkommen, u. z. in der gesamten Philosophie, nicht nur in der des subjektiven Geistes. Die Philosophie des subjektiven Geistes ist der Ort der Darstellung der Entwicklung des subjektiven Geistes als allgemeinen; die produzierende Person wird dagegen nicht im subjektiven Geist, sondern u. a. in der Philosophie des Rechts, der Geschichte, der Kunst behandelt. Und im Folgenden wird dargestellt werden, daß Hegel über explizite Ansichten zur Person verfügt und sie zur Theorie mit einer Hauptthese ausbildet, daß er über exaktes - oft zutreffendes, oft unrichtiges - Wissen über die Parameter der Person, ihre Bedingungen, ihre Entwicklung, ihre Gliederung, ihre Sozialität, verfügt (Parameter, wie sie auch heute die Persönlichkeitstheorien noch gliedern). Für dieses Wissen und die Theorie ist aber die Philosophie des subjektiven Geistes nur ein Darstellungsort unter anderen, u. z. weil die Philosophie des subjektiven Geistes eben nicht Theorie des Individuums ist.
Lob Wenn man die Urteile über Hegel als Psychologen insgesamt und losgelöst von den Systemfragen betrachtet, fällt eines besonders auf: Die ablehnenden Urteile sind früh gefällt worden, und sie verfahren mit Argumenten. Die zustimmenden
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Urteile stammen meist aus diesem Jahrhundert, und sie loben an Hegel nidit Theoretisches oder die Universalität des Wissens - gleidi ob es heute anerkannt oder verworfen wird - , sondern sie unterschieben Hegel eine große Treffsicherheit der Ahnungen. Danach hätte Hegel also oft die Wahrheit geschaut, sie aber anscheinend nicht entwickeln können. Ob man ihm mit dieser Art von Lob gerecht wird? Es ist eine Anerkennung eines Denkers, wenn man über ihn feststellt, daß er die Wahrheit oft verfehlt hat, obschon er über sowohl präzises als auch umfassendes Wissen verfügte und in seiner Entfaltung wirklich gedacht hat; die Unterstellung von Ahnungen, ob richtigen, ob falschen, ist für einen Denker eher Tadel. Feuerbach beginnt mit dieser Art von „Lob": „Übrigens müssen wir noch schließlich der Gerechtigkeit gemäß nicht verschweigen, daß in Hegels Anmerkungen zu seiner Psychologie, da wo er seinen Geist nicht in die Unnatur seiner Systematik und Dialektik einzwängt, manche aus der Tiefe gesunder Anschauung und Beobachtung hervorgeholte Perlen sich finden." (Feuerbach 1866,1, 209) Feuerbach hätte, um das Maß seiner Ab-Wertung zu verdeutlichen, noch sagen können, daß Perlen meist im Schlamm gefunden werden. Jedenfalls hält er von Hegel als psychologischem Denker nichts, sondern schätzt ihn eher als Intuitionisten. In anderen Worten wiederholt N . Hartmann diesen Tenor: „Ein großer Reichtum von Einsichten entfaltet sich in der Lehre vom subjektiven Geist; tiefe Menschen- und Seelenkenntnis geht Hand in Hand mit groß angelegter Aufrollung der Probleme. Aber das Bedeutsame liegt überall im Detail. Die von Wolff und Kant her wohlbekannten Kategorien des seelischen Lebens bleiben durchaus in Gültigkeit. Das Seelische steht von vornherein unter dem Aspekt der Aufgaben des Geistes..." (Hartmann 1929, 295) Zwar steht bei Wolff und Kant das Seelische nicht unter der Vormundschaft eines Geistes im spezifischen Sinne Hegels. Insofern scheint Hegel dodi über eine neue psychologische Theorie verfügen zu müssen. Aber anscheinend bedeutet sie Hartmann wenig. Die psychologischen Leistungen Hegels liegen nach Hartmann „im Detail". Selbst Glockner will in Hegel keinen psychologischen Theoretiker sehen, sondern eher einen feinsinnigen Betrachter des Menschen, einen anthropographischen Potpourristen also. Zwar sei Hegel nicht vom Menschen ausgegangen, sondern vom Geiste: „Nicht Goethe, sondern Kant hatte ihn gelehrt: jenen ,mittleren Standpunkt' zwischen Objekt und Subjekt grundsätzlich einzunehmen. Was er Goethe verdankte, war die Verbreiterung dieser Mitte im Sinne einer Transzendental-Anthropologie." (Glockner in: SW 21, 346) Auch das Lob aus den letzten Jahrzehnten über Hegel als Psychologen bleibt diesem genannten Modus treu; man erwähnt seine „wesentlichen Einsichten", seine „richtigen Grundüberzeugungen", seine „Ahnungen": „Wesentliche Einsichten bietet Hegels Theorie des subjektiven Geistes in ihren Details." (Nicolin 1960, 357) Einsichten beruhen aber auf nicht vorführbaren Akten, auf Einfallen: Einsichten sind kontingent, nicht logisch entwickelbar. Auch Litt vertritt die Auffassung, daß Hegel über die richtigen Grundüberzeugungen verfügt habe,
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die es ihm ermöglicht hätten, weitverbreitete Irrtümer der späteren Seelenlehren schon vor ihrem Aufkommen zu falsifizieren, (vgl. Litt 1953, 167f.) Beyer faßt diese Vorstellungen über das Denken Hegels zusammen und verallgemeinert sie: „Wir kennen gerade bei .Hegel' die Fälle zur Genüge, in denen Hegel Richtiges, Zutreffendes .erahnte', ,erriet', in denen ihm ein großer Wurf gelang, den voll auszuschöpfen und auszudeuten erst die Zukunft vermochte, weil sie von einem anderen Ausgang her an dieses Denkergebnis herankam." (Beyer 1964, 30) Diese Problematik, in der bezüglich der psychologischen Ergebnisse Hegels Denken gegen Ahnung steht, ist nicht dieselbe wie die, in der Hegel als Panlogiker gegen Hegel als Irrationalisten vorgeführt wird. Damit meint man ihn als philosophischen Typ und die Grundfragen und -antworten seiner Philosophie. Sogar wenn man ihn in dieser Hauptperspektive als Irrationalisten auffassen wollte, wäre man keineswegs veranlaßt, ihn in seiner Psychologie nicht als einen Denkenden, sondern als einen Schauenden anzusehen und ihn für seine regional-psychologischen Ergebnisse mit „Lob" zu überschütten, obwohl er anscheinend in dieser Region nicht denken konnte, sondern nur ein erfolgreicher „Angler im tiefen Weisheitsbrunnen" war. Die Art des Lobes und der Vergleich mit dem Tadel an Hegel als Psychologen führen deutlich vor, daß er durch letzteren zutreffender erfaßt wurde.
Kritik (insbesondere Exners Kritik) Die Kritik an der Hegeischen Psychologie benutzt hauptsächlich zwei Argumentationen, eine speziell-inhaltliche und eine allgemein-philosophische. Die speziellinhaltliche wurde von Feuerbach zum erstenmal vorgetragen; sie wird von allen naturalistischen Positionen bis heute wiederholt und wirft Hegel psychologischen Spiritualismus vor. „Überall nimmt Hegel nur für die Seele Partei; nirgends, wenigstens nirgends, wo es sich darum handelt, die Wahrheit des Leibes nicht nur in zweideutigen ,Zeichen', sondern in deutlichen Worten auszusprechen, läßt er den Leib zu Wort und Recht kommen . . . So bringt denn Hegel selbst da, wo er auf die Empfindung zu sprechen kommt, über seine Lippen . . . nicht das . . . Wort: Leib, sondern definiert, ja deduziert selbst, absehend vom Leibe, die Empfindung aus ganz abstrakten, allgemeinen, nichts bestimmenden Formeln, während doch selbst vom Standpunkte des Spiritualismus, selbst schon nach Plato nur der Körper es ist, wodurch die Seele zur Empfindung kommt." (Feuerbach 1866,1, 202 f.) Nun ist es keineswegs Hegels Absicht, den Spiritualismus zu verteidigen; es geht ihm vielmehr um eine denkerische Bewältigung der Probleme, in deren Durchführung er aber nicht willkürlich kategorial Verschiedenes einführen kann. Wenn also etwa die „Empfindung" behandelt werden soll und der „Leib" denkerisch noch nicht oder nicht mehr zur Verfügung steht, dann ist eine Verbindung nicht möglich. Feuerbach fordert dagegen von Hegel, daß er sich auch als Philosoph wie ein Analytiker von lebensweltlich nah verwandten Variablen verhalten solle; dies ist aber ein für Hegels Denkmethode unmögliches
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Ansinnen. In inhaltlicher Hinsicht hat die Interpretation des Seelischen unter dem Telos des Geistes Hegel außerdem keineswegs gehindert, Leibphänomene ausführlich zu behandeln. Er konnte sie allerdings nicht nur-sinnlidi, nur-natural auflösen. Der Vorwurf Feuerbachs und seiner Nachfolger ist vielmehr von ihm selbst aus ein durchaus positionaler, weltanschaulicher. Die andere, die allgemein-philosophische Kritik an Hegels Psychologie wurde schon in den frühen vierziger Jahren erhoben, u. z. von Franz Exner, einem Anhänger Herbarts, in seiner Schrift „Die Psychologie der Hegeischen Schule". (Exner 1842/44) In diesemBuch wird gegen die Psychologie Hegels und seiner orthodoxen Anhänger vorgegangen. Die Hegeische (rechte) Schule hatte allerdings in ihren enzyklopädischen Darstellungen die Hegeische Psychologie weder erweitert noch verändert, (vgl. § 5. Wirkungen Hegels auf die Psychologie) Somit lassen sich alle Argumente Exners als praktisch gegen Hegel direkt gerichtet ansehen. Diese Exnersche Kritik ist nach 1845 ziemlich unbeachtet geblieben. Einmal erlosch das Interesse an Hegel in diesen Jahren überhaupt; einer späteren Rezeption der Exnerschen Kritik aber stand im Wege, daß sie - was ihre Beachtung bei den Hegelianern verhinderte - nicht vom Vernunft-, sondern vom Verstandesstandpunkt aus geschrieben war, daß sie - was ihrer Beachtung bei den Psychologen abträglich war - sich mit Hegel beschäftigte. Die Exnersche Kritik läßt sich in zwei Punkten zusammenfassen: l.DieHegelsche Psychologie sei unfruchtbar. 2. Die Dialektik sei eine für die Psychologie unanwendbare Methode. Zum ersten Punkt wird gesagt: „Die Psychologie hat in der Hegeischen Schule einen großen Rückschritt getan." (Exner 1842, 110) Schon durch Wolff sei sie zwar zu der toten Einteilung der Seelenvermögen gelangt, und Kant und seine Schule seien dabei stehengeblieben. „Aber man suchte dodi unverdrossen nach besseren Definitionen und Einteilungen derselben, und erkannte damit die Aufgabe an, das in der Erfahrung Gegebene richtig aufzufassen. Auch nach Gesetzen forschte man, nicht bloß bei den Reproduktionen, sondern indem man das bald freundliche, bald feindliche Zusammenwirken der Vermögen untersuchte. Die Hegeische Schule, im Übermute ihrer Methode, höhnt die Erfahrung und leugnet die Gesetze : damit hat sie die Fundamente ihrer Wissenschaft umgestürzt." (Exner 1842, 110) Diese These Exners gegen Hegel besagt, daß die „Seelenvermögen", wenn es sie überhaupt gibt, nach Gesetzen ihrer Art funktionieren, nach Gesetzen, die für ihre Region zutreffen und nicht transponierbar sind: Diese Gesetze findet man, wenn überhaupt, durch Erfahrungswissenschaft, nicht konstruierend. Der Gegensatz zwischen realitätsauflösendem Vernunftstandpunkt und realitätsrespektierendem Verstandesstandpunkt begründet also diesen Kritikpunkt. Von ihm aus folgerichtig wirft Exner der Hegeischen Psychologie vor, daß sie keiner der beiden Hauptforderungen nachkommen könne, die man an jede Psychologie zu richten habe: „Sie sagt nicht genau, w a s die Seelenzustände sind, noch w i e und w o r a u s sie entstehen." (Exner 1844, 107) Von der Exnerschen Position aus kann selbstverständlich eine Analyse der ontologischen Genesis die der realen Genesis nicht ersetzen; das wissen-
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schaftlich Wichtige aber wäre die reale Genesis, nicht wie bei Hegel die ontologisdie. Die Hauptschuld am Versagen der Hegeischen Psychologie gibt Exner jedoch nicht ihrer idealistischen Position, sondern der dialektischen Methode. Zu diesem zweiten Punkt seiner Kritik läßt sich anführen: Exner geht davon aus, daß Hegel die Existenz der Seelenvermögen nicht in ihrem Eigenrecht anerkenne, sondern sie dialektisch erst produziere, dann aber wieder aufhebe. In Wirklichkeit sei diese angebliche dialektische Produktion jedodi von der Erfahrung erschlichen: Die dialektische Methode gewinne Begriff und Inhalt der Seelen- und Geistesmomente nicht aus sich, sondern „ 1 ) . . . durch fortwährendes Aufnehmen von Außen, durch verstohlenes Einschieben der Erfahrung. 2) Damit das durch die Erfahrung Gegebene in den dialektischen Zusammenhang passe, verfährt man mit völliger Willkür im Gebrauche der vorherbestimmten Methode, und verunstaltet 3) die Erfahrungsbegriffe häufig bis zur Unkenntlichkeit..., so daß nur die Namen noch erkennen lassen, wovon man spretile." (Exner 1844, 107) Mit dieser Argumentation wird audi gegen Hegels Psychologie das vorgebracht, was oft seiner Philosophie insgesamt vorgeworfen wird, daß sie nämlich von Annahmen ausgehe, diese aber kunstvoll verstecke. Das Ineinander von Annahmen, Erfahrungen und dialektischer Methode führe dann audi in der Durchführung der Psychologie zu Willkür und Verfälschung. Exner versucht zu zeigen, daß die Dialektik nicht produktiv sein könne, trotz der schönen Worte „negare, conservare, elevare". Die dialektische Methode mache Β nur aus A und Non-A usw. in infinitum. Ihr angebliches Weiterschreiten bestehe nur im Aufnehmen nicht selbst erzeugter Begriffe, die als eigene Produkte ausgegeben würden. Exner ist der Ansicht, daß nach Hegels Ansprudi auch die Inhalte in seiner Philosophie ausnahmslos nur verfahrenstechnisches Ergebnis sein dürften. Ihr stehen andere Hegel-Deutungen gegenüber, die davon ausgehen, daß mit dieser Philosophie denkerisch nicht erzeugend, sondern nur nach-greifend verfahren werden könne: Da die Wirklichkeit ja als Begriff auf Vernunft hin organisiert sei, müsse sie nur nodi für die Ordnung des Bewußtseins auf dessen Begreifen gebracht werden. Wenn man von dieser Grundsdiwierigkeit des Hegelverständnisses einmal absieht, bleibt der Exnersche Vorwurf gegenüber der Psychologie Hegels jedodi immer noch relevant, u. z. weil er konkretisiert, nicht nur methodisdh abstrakt vorgetragen wird. Exner zeigt nämlich auf, daß die Hegelsdien Begriffsbildungen in psychologischer Hinsicht merkwürdig gespalten sind. In der Anthropologie, in ethnographischen und physiologischen Partien leben sie fast nur von der Aufnahme externer Stoffe. „In den andern Teilen, namentlich vom theoretischen und praktischen Geiste, müssen sie sidi begnügen, einen Rudel stereotyp gewordener Seelenvermögen anzuführen und allenfalls nebenbei Spinoza zu plündern." (Exner 1842, 107) Dieser Exnersche Einwand besagt also, daß die Begriffsbildung in der Theorie des subjektiven Geistes nidit homogen ist. Sicherlich braucht die Art der Begriffsbildung nun nicht im gesamten Werk Hegels dieselbe zu sein: mehr idiographisdien Partien stehen mehr an Prinzipien
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gebundene gegenüber, der regionalen Interpretation folgt die logische Konstruktion (und umgekehrt). Die Philosophie des subjektiven Geistes ist ihrem Anspruch nach aber nicht in dieser Weise typengemisdit, sondern sie ist ein auf eine Thematik bezogener Bestandteil der konstruierenden Systemdurchführung. Demgemäß müßte die Begriffsbildung in ihr gleichbleiben. Diese Bedingung erfüllt sie aber nicht: in der Anthropologie verfährt sie offen rezeptiv, in der Phänomenologie und Psychologie wird reine Selbsterzeugung angestrebt. Der Exnersche Vorwurf der ungleichartigen Begriffsbildung besteht also anscheinend zu Recht. Die Kritik, die besagt, daß Hegel in der Begriffsbildung rezeptives und autonomes Verfahren vermische, ist später nodi oft erhoben (und nie wirklich zureichend widerlegt) worden. Exner war einer der ersten Kritiker, die audi Hegels Technik in diesem Verfahren aufdecken wollten: Für seine Durchführung scheint es notwendig zu sein, aus der Erfahrung aufgenommene Begriffe für produzierte auszugeben und in den dialektischen Vorgang möglichst unbemerkt vielleicht guten Willens - einzuschleusen. „Dies wird bewerkstelligt durch zwei Mittel. Das erste ist, daß man es mit der Dialektik, ihren Negationen, Einheiten und Trichotomien nicht genau nimmt. Dies erlaubt viele V a r i a t i o n e n . . . Das andere M i t t e l . . . besteht darin, daß man diese Begriffe selbst nach Belieben verunstaltet. Die Namen b l e i b e n . . . oft allein noch zurück, und lassen erraten, wovon die Verfasser sprechen, während die Begriffe bis zur Lächerlichkeit entstellt sind. Wo die Erfahrung den Trichotomien nicht zusagt, da wird abgeholfen; die fünf Sinne, die vier Temperamente werden mit Leichtigkeit in drei umgewandelt." (Exner 1842, 107 f.) Damit wird also kritisiert, daß dialektisches Denken, um überhaupt Fortschritte zu erzielen, es weder mit seinem Verfahren noch mit den ihm unterworfenen Inhalten genau nehmen darf; ein schwerer Vorwurf gewiß, aber Hegel madit beispielsweise tatsächlich aus den sog. fünf Sinnen nur drei wirklidie. (vgl. SW 10, 129) Zwar gibt es nadi ihm äußerlich fünf Sinne (darin übernimmt er die erfahrungsweltlidie Einteilung). Wenn sie aber als Darstellungen der Begriffsmomente gefaßt werden sollen, müssen sie auf nur drei reduziert werden. „ . . . die Fünfzahl der Sinne reduziert sich ganz natürlich auf drei Klassen von Sinnen. Die erste wird von den Sinnen der physischen Idealität, - die zweite von denen der realen Differenz gebildet; in die dritte fällt der Sinn der irdischen Totalität." (SW 10, 129) Hegel ist einmal entgegenzuhalten, daß die fünf Sinne sich keineswegs irgendwie „natürlich" auf drei reduzieren lassen; ferner ist zu fragen, was in denkerischer Hinsicht damit gewonnen sein soll, wenn real differente Organe, die Sinne nämlich, abstrakt zu Klassen addiert werden, die dem dialektischen Modell entsprechen. Dieses Verfahren scheint nicht nur gewalttätig zu sein, sondern auch wissenschaftlich in jeder Hinsicht, sowohl sinnesphysiologisch als auch philosophisch, ertraglos. Dahinter steht, audi wenn es schon oft gesagt worden ist, der Anspruch einer wissenden Totalität, der die Welt nach seinem Ansatz gliedert und ordnet, Abweichungen von ihm nicht dulden kann und nötigenfalls in seiner Perspektive fünf „in Wirklichkeit" gleich drei sein läßt.
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A Hegel und die Psychologie
Deshalb ist eine verfolgbare und nachvollziehbare Auseinandersetzung zwischen der angeblich alles ergreifenden Dialektik, ihrem ganzheitlichen Besserwissen, und der einzelnes erklärenden Wissenschaft überhaupt nicht möglich: das Ganze, das sich vor den Teilen versteht, einerseits, die Teile, die nidit einmal sicher sind, ob es ein Ganzes überhaupt gibt, andererseits, sind keine wissenschaftlichen Kontrahenten: Entwurf steht gegen Untersuchung. Ob also bestimmte einzelne Thesen oder Ergebnisse Hegels richtig oder unrichtig sind, kann sinnvoll kaum noch gefragt werden, nadidem die entwerfenden Ganzheitsmodelle der Philosophie als unbeweisbare und unwiderlegbare Systeme, die aus dem menschlichen Bedürfnis nach umfassender Begründung erwachsen, erkannt worden sind. Eine Entwurfsganzheit bestimmt mindestens partiell die ihr nachgeordneten Teile, die notgedrungen mindestens ebenso partiell falsch vorverstanden sein müssen, weil kein Entwurf dasjenige Abweichen der Teile von der Ganzheit, das die Realität immer noch in der Hinterhand hat, in seinen Kalkül aufnehmen kann. Zu fragen bleibt aber immer, zu welchen Konsequenzen ein ganzheitlicher Kalkül nötigt; das bedeutet, im vorliegenden Falle n i c h t zu untersuchen, ob bestimmte Ergebnisse Hegels falsch sind, sondern, wie sie aus seinem Entwurf, in dem der Geist vermittels des Mechanismus der Dialektik sich entwickelt, folgen. Mit der Exnerschen Skepsis verbunden hieße das zu fragen: ob tatsächlich in der Hegelschen Theorie konsequent Ergebnisse über das Seelische entwickelt werden, nicht aber, ob diese Ergebnisse mit denen moderner Erhebungen kongruent sind. Inhaltsgleich können sie vielmehr nur zu bestimmten Teilen sein, weil schon die zu untersuchenden und darzustellenden Menschen nicht dieselben sind: der Mensch der gegenwärtigen Erforschungslage einerseits, der Mensch der idealistischen Philosophie, der der Aufgabe der Selbstbestimmung seiner Freiheit lebt, die er unmittelbar nur im Eigentum gewinnen kann (vgl. SW 7, 92), andererseits, haben kaum noch einen gemeinsamen Begriff über sich. Der Mensch, der Entwurf der idealistischen Philosophie ist, hätte auch schon deswegen nie Gegenstand der empirischen Psychologie werden können, weil er eines theoretisch nicht vermocht hätte: s i c h z u v e r h a l t e n , statt zu handeln. Die reine Spontaneität und das sich nicht selbst bestimmende Verhalten schließen sich aus. Zum zweiten Punkt der Invektive Exners, seiner Ablehnung der Dialektik als einer für die Psychologie unbrauchbaren Methode, ist noch folgende Überlegung zu bringen: Exner geht davon aus, daß die wirkliche Entwicklung der Natur und des Geistes nicht dialektisch verläuft, daß eine zu denkende Differenz zwischen der nach dem Muster der Dialektik gedachten Entwicklung und der wirklichen Entwicklung der nicht-negierenden Progression aber nicht möglich oder sinnvoll ist; die Entwicklung sei eine und dieselbe, gleich ob sie sich vollziehe oder gedacht werde; und sie sei so in jeder Weise nicht dialektisch. Hegel nun denke manchmal eine Differenz zwischen der linearen Entwicklung in der Wirklichkeit und der Dialektik im Begriff, manchmal aber nicht: „Man erinnert s i c h . . . , daß Hegel und seine Schule in der Philosophie der Geschichte und in der Geschichte der Philosophie die wirklich statt gehabten Entwicklungen als dia-
§ 3 Über Hegel als Psychologen
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lektisdie Prozesse darstellen, und somit die Genesis zur Dialektik machen." (Exner 1842, 60) Also werde von Hegel die reale Entwicklung zumindest manchmal als dialektische aufgefaßt. Gerade realdialektisch dürfe seiner Theorie zufolge die wirkliche Entwicklung aber wiederum nicht verlaufen, weil dadurch die Autonomie der dialektischen Selbstbewegung im Begriff vorprogrammiert würde: „Diese Dialektik ist voraussetzungslos und legitimationslos, denn sie muß jede Begründung, Rechtfertigung oder Voraussetzung als falsch verschmähen, die auf der von ihr für falsch erklärten Verstandeslogik b e r u h t . . . Sie behauptet, alles aus sidi rein zu entwickeln, gibt aber zu, daß diese Entwicklung aus sich zugleich bei jedem Schritte ein Aufnehmen des Inhalts der Erfahrungswissenschaften sei, welchen sie auf ihre Art korrumpiert, über den sie aber nirgends hinauskommt." (E. v. Hartmann 1910, 122) Diese Vorwürfe Exners und Ε. v. Hartmanns besagen also, daß Hegel die Entwicklung manchmal zugleich im Gedanken und in der Realität als dialektisch denke, manchmal aber nicht. Wenn Hegel als Psychologe zur Debatte steht, dann fragt es sich endlich noch einmal, wie er denn nun kritisiert werden kann. Einmal ist es sicher nötig, einen Denker, der nur d e n k e n will, auf die Konsequenz seiner Gedankenführung hin zu prüfen; deshalb ist mehr zu fragen, ob er, wenn ihm nicht zugestimmt werden kann, in Konsequenz geirrt hat, als, ob hier und da isolierte Irrtümer oder fehlerhafte Nebensächlichkeiten eruierbar sind. Ferner ist zu untersuchen, ob er sich zu Konsequenzen genötigt sah, die er von seinem Ansatz her nicht hätte ziehen müssen; damit stellt sich das Problem der gewollten oder ungewollten Überkonsequenz. Ein anderes dagegen scheint der Kritik nicht möglich zu sein: der einem ganzheitlichen System vorgesetzte Prinzipienbegriff ist „einzelheitlich" nicht angehbar; wenn also der Geist der Prinzipienbegriff des Systems ist, kann dieser Prinzipienbegriff weder im unmittelbaren Zugriff noch vom Detail her kritisiert werden. Aber eine derartige Kritik scheint nicht einmal nötig zu sein, denn mit der Annahme des ganzheitlichen Prinzipienstandpunktes liegt alle Beweislast für die Richtigkeit des Systemansatzes beim Entwurfsdenker; daß er diese Arbeit nicht liefern kann, haben die Kritiken der holistischen Ansätze generell gezeigt. Um welchen Ansatz im einzelnen es sich dabei handelt, bleibt gleich: Ein ganzheitlicher Ansatz ist in seinem speziellen Einfall einfach nicht kritisierbar. Details des Systems ohne ihre Einbettung in seine Organisation zu kritisieren, ist also „Geist"-los; den Geist als Prinzip zu kritisieren, zwecklos. Einzig um die Durchführung des Systems kann die Kritik sich also drehen, und sie kann und soll dabei zu erfahren suchen, wie der Geist, der sich selbst nur aus sich selbst bestimmen will, sich irren und verirren kann, zumal wenn es um Psychologie geht.
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A Hegel und die Psychologie
§ 4 Hegels Q u e l l e n Dichter, Pädagogen und Philosophen Von Hegel weiß man, daß er unter seinen Zeitgenossen als einer ihrer gebildetsten galt; bis heute hat sich für ihn die Formel gehalten: er war der Letzte, der das gesamte Wissen seiner Zeit noch zu überblicken vermochte. Wenn man nach den psychologischen Quellen fragt, die Hegel gekannt hat, ist von Folgendem auszugehen: Wissenschaftliche psychologische Werke gab es zu seiner Zeit noch nicht; die Psychologie war noch ausschließlich Sache der Dichter, Philosophen und Pädagogen. Dichtung und Philosophie der Jahrtausende aber kannte Hegel in hervorragendem Überblick und entsprechender Genauigkeit 9 . Man kann also durchaus davon ausgehen, daß Hegel in psychologischer Hinsicht praktisch alle Quellen seiner Zeit zur Verfügung standen: die theoretischen der Philosophen, die aphoristischen der Dichter, die moralisierenden der Pädagogen. Auch die wissenschaftliche oder sich wissenschaftlich gebende psychologische Tagesliteratur seiner Zeit eignete Hegel sich an. Schon in Tübingen studierte er die empirischpsychologischen Schriften Christian Garves ( 1 7 4 2 - 1 7 9 8 ) und die pädagogischen Werke Joachim Heinrich Campes ( 1 7 4 6 - 1 8 1 8 ) . In der Berner Zeit kam es dann zu einer extensiven Beschäftigung mit psychologischen Fragen. Nach Haering hat sich Hegel damals über das in der Psychologie Gültige informiert und E x zerpte „fast ohne eigene Zutaten" hergestellt. In seinen Niederschriften finden sich Niederschläge von Kant, Tetens, Reinhold, Platner, Rousseau, Johnson, Haller, Swedenborg und Abel. „Woher . . . auch die Materialien der Berner E x cerpte stammen mögen . . . , erstaunlich ist vor allem, wie stark sie auch mit den psychologischen Darlegungen des damaligen (wie auch noch des späteren) Hegel materiell noch übereinstimmen." (Haering 1938, I I , 442) Haering eruierte, daß diese Manuskripte noch für die Geistesphilosophie in Jena und die Philosophische Propädeutik verwandt wurden. Von Hoffmeister wurden diese Exzerpte 1931 „Hegels erster Entwurf einer Philosophie des subjektiven Geistes" genannt, später, als Hoffmeister wohl ihre völlige Unselbständigkeit eingesehen hatte, „Materialien zu einer Philosophie des subjektiven Geistes". Nach Nicolin werden in ihnen über die von Haering erwähnten Autoren hinaus noch folgende genannt „oder konnten als Quelle nachgewiesen werden" : Bonnet, Feder, Meiners, Eberhard, J a k o b und Schmid. (Nicolin I 9 6 0 , 360) Die Entstehungsweise und den -anlaß der Exzerpte hält Nicolin für unklar.
• Anläßlidi poetischer Lektüre machte sich Hegel nicht nur ästhetische, sondern auch psychologische Gedanken. Vgl. z. B. die Auffassung des Don Quixote bei Cervantes als ein „in der Verrücktheit seiner selbst und seiner Sache vollkommen sicheres Gemüt, oder vielmehr ist nur dies die Verrücktheit, daß er seiner und seiner Sache so sicher ist und bleibt" (SW 13, 215) - womit Quixote exakt als „milder" Paranoiker gefaßt ist.
§ 4 Hegels Quellen
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Die philosophischen Klassiker Für den sich offen äußernden Hegel gibt es in psychologischer Hinsicht nur einen überragenden Autor: Aristoteles. „Das Beste bis auf die neuesten Zeiten, was wir über Psychologie haben, ist das, was wir von Aristoteles h a b e n , . . . Man muß sich nur die Mühe geben, es kennen zu lernen, und es in unsere Weise der Sprache, des Vorstellens, des Denkens zu übersetzen; - was freilich schwer ist." (SW 18, 393) Dementsprechend ist der angebliche Einfluß Aristoteles' auf Hegel durchweg hoch angesetzt worden: daß die Nikomachisdie Ethik und De anima stärker auf Hegel gewirkt hätten als seine Zeitgenossen, „würde eine nähere Untersuchung... wohl ergeben können - : nirgends freilich als .Autoritäten', sondern überall nur als Anreger und Bestätiger; als lebensnahe Beobachtungen und Gedanken, die sich Hegels Grundintention weithin mühelos . . . eingliedern ließen." (Haering 1938, II, 446) Wenn man nun von Hegel selbst hört, daß er bei aller Anerkennung Aristoteles' an ihm kritisiert, daß er nicht streng genug denke, sondern dazu neige, einzelne Bestimmungen empirisch aufzunehmen und aneinanderzureihen, ohne die innere Notwendigkeit des Fortganges aufzuzeigen (vgl. SW 18, 298 und 412 ff.), dann kann man sofort vermuten, daß Hegel diesen Tadel in seinem Verständnis des aristotelischen Werkes wirksam sein lassen wird; und tatsächlich deutet er entscheidende Partien ebenso entscheidend nach eigenen Intentionen um, wie im weiteren am Aktivitätsproblem dargestellt werden wird. (vgl. § 24. Der Zwang des Wirkens, b) Die Aristotelesdeutung) Kant steht Hegel in psychologischer Hinsicht mit Lob und Tadel zugleich gegenüber. Die Zerstörung des substantiellen Seelenbegriffes wird gerühmt: „Immer ist es für einen guten Erfolg der Kantischen Kritik zu achten, daß das Philosophieren über den Geist von dem Seelendinge, von den Kategorien und damit von den Fragen über die Einfachheit oder Zusammengesetztheit, Materialität usf. der Seele, befreit worden ist." (Enz 72) Mit dieser Destruktion des ontologischen An-sich der Seele war für Hegel die Voraussetzung geschaffen, sie der logischen Traktierung unterwerfen zu können, die Kant nicht angestrebt hatte, wofür er gerügt wird: „Kant geht von dem V e r s t ä n d e . . . psychologisch zur Vernunft fort; sie wird eben auch angetroffen. Es wird im Seelensack herumgesucht, was darin für Vermögen sich befinden; es findet sich zufälliger Weise noch Vernunft." (SW 19, 574) Das „Finden" der Vernunft (im Sinne eines „evenire"), ihre Nicht-Deduktion, mußte für Hegel ein schwerer Fehler sein. Neben diesen für Hegels Psychologie bekannten und oft genannten Quellen darf ein weiterer wichtiger Denker nicht vergessen werden: In der Absetzung von Fichte hat sich Hegel denkerisch entscheidend dargestellt und seiner selbst vergewissert. Fkhtes Triebbegriff ist dabei von großem Einfluß gewesen und geblieben.
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A Hegel und die Psydiologie
§ 5 Wirkungen Hegels auf die Psydiologie Die Beschäftigung mit Hegels Philosophie nach 1831 Während Hegel im letzten Jahrzehnt vor seinem Tode der einflußreichste Philosoph der Welt war, fiel sein Ansehen in den zwei Jahrzehnten nach 1831 außerordentlich steil ab. Zwischen 1850 und 1900 wurden im deutschen Sprachbereich nur 10 Dissertationen, einschließlich der lateinisch geschriebenen, verfaßt, die sich mit Hegel, dabei ζ. T . nur in Nebenbereichen, beschäftigten. Zwischen 1852 und 1873, also mehr als 20 Jahre lang, erschien überhaupt keine Hegel-Dissertation. (vgl. H S t 2, 425) Über Habilitationsschriften zu Hegel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts enthalten die Nachschlagewerke gar nichts. M. a. W. besagen diese Angaben: Hegel war damals kein Gegenstand universitärer Forschung mehr 10 . In den Philosophiegeschichten hat sich für diesen Vorgang die Metapher „Zusammenbruch des Systems" gehalten, was einfacher ausgedrückt bedeutet, daß dieses System für unglaubwürdig erklärt wurde. U m 1900 begann eine neue Beschäftigung mit Hegel. Sie bestand allerdings nicht in einem Wiederaufgreifen des gesamten Systems und seiner Grundannahmen. Kein Erneuerer Hegels in diesem Jahrhundert glaubte mehr an den Anspruch der Geistlogik, Begriff und Realität in der Idee vereinigen zu können. Alle neue Beschäftigung mit Hegel erfolgte vielmehr unter auswählenden Aspekten, die dieses Zentrum ausklammerten: Die Zuwendung verfuhr referierend (ζ. B . Fischer 1901), sichtend (ζ. B. Croce 1909), biographisch (z. B. Dilthey 1905, Haering 1 9 2 9 - 1 9 3 8 , Lukács 1948), nadi-erlebend (z. B. Iljin 1946), zielsuchend (Von . . . bis . . . , Kroner 1 9 2 1 - 1 9 2 4 ) , bei grundsätzlicher Ablehnung mit Einfühlung interpretierend (z. B. Glockner 1929-1940), reduktionistisch (etwa durch Streichung der Theorie des Weltgeistes, z. B. Litt 1953), prinzipien„entdeckend" (durch Inflation nur eines Begriffes oder Themas, z. B. Marcuse 1932) oder kategorial eklektizistisch (indem bestimmte Abschnitte der Welt, besonders der sozialen Welt, mit Mitteln des Hegeischen Denkens „geordnet" werden, z. B. in der Frankfurter soziologischen Schule). Eine umfassende Ubersicht dieser Perspektivierungen in der Hegeldeutung findet man bei Beyer, (vgl. Beyer 1964) Die Frage der allgemeinen geschichtlichen und der speziellen philosophischen Wirkung Hegels ist also komplex. Es lassen sich Folgen nennen, die von der philosophischen Überlieferung bis zum historischen Effekt reichen. Immer hat es im letzten Jahrhundert aber auch leidenschaftliche Hegel-Ablehnung gegeben. Hier steht nur ein kleiner Ausschnitt der Gesamtthematik zur Debatte: die Wirkung Hegels auf die Psychologie. Darin sind verschiedene Stadien zu betrachten, besonders die Zeit vor der wissenschaftlichen Emanzipation der Psychologie, die Zeit vor Wundt also, und die Zeit danach. 10
Eine der wenigen Ausnahmen bildete Berlin: Dort erschien zwischen 1860 und 1884 die philosophische Zeitschrift „Der Gedanke", in der von alten, z. T. sehr alten Schülern und Hörern hin und wieder auf Hegel zurückgegriffen wurde.
§ 5 Wirkungen Hegels auf die Psychologie
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Die Psychologie der Hegeischen rechten Schule Von 1827 an erschien eine Reihe von Psychologien auf Hegelschem Standpunkt: 1827 von Mussmann: „Lehrbuch der Seelenwissenschaft oder rationalen und empirischen Psychologie", 1837 von Rosenkranz: „Psychologie oder die Wissenschaft vom subjektiven Geist", 1840 von Michelet: „Anthropologie und Psychologie oder die Philosophie des subjektiven Geistes", im selben Jahr von Erdmann: „Grundriß der Psychologie". Die Kritik Exners erhielt zwei ausführliche Erwiderungen von Seiten der Hegeischen Schule. Als erster antwortete Rosenkranz 1843 in einem Anhang der zweiten Auflage seiner „Psychologie . . Erdmann äußerte sich dagegen nur ganz kurz in der Vorrede zur zweiten Auflage seines „Grundrisses der Logik und Metaphysik", ebenfalls 1843. Diese beiden Erwiderungen führten zu Exners großer Replik des Jahres 1844. Eine zweite eingehende Verteidigung der Ansichten der Hegeischen Schule erschien erst 1844, so daß Exner sie nicht mehr berücksichtigen konnte: sie stammte von Weiße: „Die Hegeische Psychologie und die Exnersche Kritik". Interessant ist ferner, daß zwei orthodoxe Hegelianer, genau wie Hegel selbst, Psychologien ankündigten, die nie erschienen. Die entsprechenden Schwierigkeiten setzten sich also gerade bei den „Gläubigen" fort: Gabler plante als dritten Abschnitt seiner „Kritik des Bewußtseins" (Gabler 1827), die im ersten Abschnitt das Bewußtsein überhaupt und sein Verhältnis zum Gegenstand und zum Wahren, im zweiten Abschnitt das erscheinende oder phänomenologische Bewußtsein behandelt, einen psychologischen Abschnitt (dem sich noch ein enzyklopädischer anschließen sollte). Hinrichs wollte als zweiten Teil seiner „Genesis des Wissens" (Hinrichs 1835) eine „Naturgeschichte des Geistes" erscheinen lassen. Beide Bücher wurden nie geschrieben. Insbesondere Hinrichs' Gedankengänge in der „Genesis des Wissens" sind bemerkenswert, wenn man sich um Erklärungen f ü r diese Tatsache bemüht: In fast über-hegelscher Manier hält Hinrichs Hegel vor, daß er die Entstehung des Wissens nur phänomenologisch und logisch, letztlich also äußerlich, vorführe, aber nicht in der Form der eigenen Bestimmungen des Geistes selbst entwickle. Die Phänomenologie sähe den Geist nur in Beziehung zu ihm Fremdem, die Logik nur als Gedanken, nicht als Subjektivität. In der „Genesis des Wissens" stellt Hinrichs dagegen den Geist als bei sich seiend und als Subjektivität dar. Diese Behandlung erscheint für die Aufgabe der Entstehung des Wissens noch als durchführbar. Wie aber soll der Geist, wenn es um die Psychologie geht, „in der Form seiner eigenen Bestimmungen" sein und sich gleichzeitig als auch aus der Natur herkommend vorfinden? Als anthropologisch und psychologisch anfangender ist der Geist nun einmal in der N a t u r oder kommt gerade aus ihr her. Diesen Weg zeichnet die Philosophie des subjektiven Geistes unabweisbar vor. Es ergibt sich für eine solche geplante absolute Immanenzpsychologie die unlösbare Aufgabe einer vollständigen Deduktion der Subjektivität in ihrer Eigenbestimmung als zugleich
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A Hegel und die Psydiologie
aus der Natur erwachende, die Aporetik ihrer totalen Selbstsetzung unter den Umständen der konkreten Zufälligkeit des hic et nunc. Das psychologische Verstummen von Hinridis und wohl audi von Gabler kann also durchaus als Konsequenz gedeutet werden: dasjenige, was gesagt werden sollte, ließ sich nicht ableiten: eine deduktionistisdie Psychologie nur aus der Logizität des Idi oder des Gedankens heraus ist nicht erstellbar, wenn sie zugleich subjektive Psychologie sein soll. Jede Analyse der konkreten Subjektivität stößt auf nicht aufhebbare Anteile an allgemeiner Logizität und an eigener subjektiver Faktizität; deren gegenseitige Vollableitung ist nicht möglich. Deswegen war noch nie eine naturalistische Deduktion der Logizität des Subjekts erfolgreich, ebensowenig wie entsprechend eine egologische Deduktion der Faktizität. Diese Aporie dürfte audi der letzte Grund dafür sein, daß Hegel und ausgerechnet seine beiden sorgfältigsten Schülerinterpreten (man denke nur an Gablers Phänomenologieinterpretation in der „Kritik des Bewußtseins") die gewünschte und versprochene Psydiologie nicht denken und schreiben konnten. So ist die erste Wirkung Hegels auf die Psychologie die, daß seine Lehre hier nicht wirken konnte, weil sie an ihrem eigenen Anspruch scheiterte. Die Psychologien auf Hegelschem Standpunkt, die dann (vgl. die Angaben oben) tatsächlich erschienen, sind samt und sonders nichts anderes als erweiterte Wiederholungen der Philosophie des subjektiven Geistes. Weitergehende Ansprüche stellten die genannten Autoren nicht. (Nur Mussmann benutzte schon zu Lebzeiten Hegels eine andere Einteilung.) Typisch ist die Auslassung Rosenkranz': „Meine Arbeit will eigentlich nur ein Kommentar des Entwurfs sein, den Hegel in der Enzyklopädie gegeben hat. Sie macht in Ansehung der Grundanschauung und der allgemeinen Organisation des Stoffs nicht auf die geringste Neuheit Anspruch." (Rosenkranz 1843, VIII) Von Exner werden Erdmann, Michelet und Rosenkranz deshalb einheitlich beurteilt: „Klassifizierungen und Schematisierungen aller Art, von wissenschaftlicher Einsicht in die Natur der psychisdien Erscheinungen - Nichts." (Exner 1842, 46) Zwar geht Exner von einem anderen Standpunkt aus, wenn er die Aufgabe der Psychologie definiert: „Wie die sogenannte Naturlehre die Veränderungen der Außenwelt, so soll sie uns jene innern Veränderungen kennen lehren, welche man Seelenzustände nennt." (Exner 1842, 3) Aber seinem vernichtenden Urteil über die Originalität der Psydiologie der Hegeischen Schule selbst kann zugestimmt werden: In ihr werden die Einteilungen Hegels beibehalten, Fundamentalkritik wird nidit geübt, neue Bearbeitungsfelder werden nicht erschlossen. Der betrachtete Stoff wird von Erdmann und Michelet nur wenig, von Rosenkranz gar nidit ausgedehnt. Die Psydiologie der Hegeischen Schule war also überhaupt nicht produktiv; deshalb fand sie auch keine Fortsetzung. Die Sterilität der Hegelsdiule suchte schon Dessoir mit einer historischen Parallele zu erklären: „Der große König empfahl noch lange nach Wolffs Tode dessen Logik angelegentlichst, obgleich er für den Fehler der Umständlichkeit in vielen Wolffischen Schriften keineswegs blind war. Wenn nun eine Lehre eine solche Macht aus-
§ 5 Wirkungen Hegels auf die Psychologie
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übt - wir werden es später an Hegel wieder bestätigt finden - , so können die unmittelbaren Nachfolger des Begründers unmöglich eigene Gedanken zur Geltung bringen." (Dessoir 1902, 82) Wenn man diese für sich wohl zutreffende Überlegung anerkennt, bleibt jedodi merkwürdig, daß Hegel in den Gebieten, in denen ihm eine Ausarbeitung geglückt war, ζ. B. in der Rechtsphilosophie, vielfältige Anregung gab (und gerade mit der Rechtsphilosophie die großen Konfrontationen bei den Flügeln seiner Schulen hervorrief), während in der Psychologie doch gerade die Bearbeitung der gestellten, aber nicht durchgeführten Aufgabe hätte reizen müssen, da einmal von Hegel selbst nur Ansätze vorlagen, ein andermal die Psychologie als Wissenschaft sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts allgemeine Aufmerksamkeit zu verschaffen wußte. Der Beginn der naturwissenschaftlichen Psychologie Anerkennung als selbständige Wissenschaft erreichte die Psychologie nicht als gedanklich-philosophisches Unternehmen, sondern durch empirische, zumeist naturwissenschaftliche Forschungsarbeit. Noch zu Hegels Lebzeiten stellte Johannes Müller das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien auf (Müller 1826), begann Johannes Purkinje mit der physiologischen Psychologie des Sehens (Purkinje 1825). Zur Zeit der Hegeischen Schule arbeitete Ernst Heinrich Weber über die Parallelität zwischen Reiz und Empfindung (Weber 1834 und 1846) und formulierte das nach ihm benannte Gesetz. Helmholtz untersuchte die Psychophysiologie der Farbwahrnehmung (Helmholtz 1856 ff.). Die Hegeische Schule ging aber in ihren Bearbeitungen weder über Hegels psychologische Anregungen hinaus, noch nahm sie das Erstarken der neuen naturwissenschaftlichen Psychologie zur Kenntnis: Die Kluft zwischen „Verstehen" und „Erklären" begann für die Psychologie zwischen 1830 und 1850, als die Vertreter der beiden Richtungen, der verstehend idealistischen in ihrem Spätstadium, der erklärend naturwissenschaftlichen in ihrem Beginn, sich nicht füreinander interessierten. Diese beziehungslose Parallelität erfuhr 1860 eine Unterbrechung: In diesem Jahr wurde von der Berliner Philosophischen Gesellschaft, in der die Hegelianer noch eine Mehrheit hatten, die Zeitschrift „Der Gedanke" begründet. „Der Gedanke" stand anfangs noch zu den positiven Entwicklungen, die die Philosophie angeblich durch die Hegeische Schule auf einzelnen Gebieten gemacht hatte; besonders galt das der Zeitschrift für die Logik, die Rechtsphilosophie, die Ästhetik und seltsamerweise auch für die Naturphilosophie. Die Psychologie aber wurde von dieser Betrachtung ausgenommen: „In der Psychologie werden die älteren Bearbeitungen von Erdmann, Michelet und Rosenkranz nur genannt, dagegen wird . . . hier auf materialistisch und atomistisch gefärbte Theorien hingewiesen, die das Denken als eine Tätigkeit des Gehirns begreifen, obgleich ihnen gegenüber betont wird, daß man an dem Unterschied von Materie und Denken festhalten müsse." (Moog 1930, 481) Selbst in der Hegelnachfolge wurde also von 1860 an das Versagen des absoluten Idealismus in der psydiolo-
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A Hegel und die Psydiologie
gischen Forschung - besonders unter Bezug auf die Hegelsdie Schule - anerkannt. In der Psychologie hatte sich inzwischen der nicht mehr hinfällig zu machende Erfolg der Experimente und empirischen Analysen fortgesetzt. Mit der Auseinandersetzung zwischen Dilthey und Ebbinghaus (von 1894 an) begann ein neuer Abschnitt in den Beziehungen der verstehenden und der erklärenden Ansätze: er w a r dadurch gekennzeichnet, daß das Verstehen nicht mehr mit einem universalen Geistbegriff beschwert wurde. In der Folgezeit kam es neben der sich still und kontinuierlich entwickelnden naturwissenschaftlich orientierten Richtung auch zur Herausbildung einer, vorwiegend auf den deutschen Sprachraum beschränkten, verstehenden oder geisteswissenschaftlichen Psychologie. Fetscher konstatiert eine gewisse Gemeinsamkeit zwischen der Hegeischen und dieser geisteswissenschaftlichen Psydiologie: „Eine gewisse Verwandtschaft mit Hegels Gedankengängen zeigt heute ((?)) nur die geisteswissenschaftliche Psychologie, die auch von .Sinnerfassen' und ,Strukturverstehen' spricht. Aber wir dürfen nie außer acht lassen, daß es bei Hegel nicht um das Verstehen einzelner Typen und Charaktere, sondern letztlich immer nur um das Sinnverstehen des Menschen überhaupt geht." (Fetscher 1970, 18) Diesen Ausführungen kann nicht zugestimmt werden: Der Psychologie, auch der der verstehenden Richtung, ging es bei der Analyse des menschlichen Verhaltens nicht um vom Begriff oder Konstrukt „Mensch" Abgelöstes, sondern um den im spezifizierten Verhalten erscheinenden Menschen. Die großen Forschungsrichtungen der Psychologie, der Strukturalismus, der Funktionalismus, die Gestalttheorie, der Behaviorismus, die Phänomenologie, die Psychoanalyse und die geisteswissenschaftliche Psychologie, verstanden sich immer humanbezogen. Gerade deshalb konnten beispielsweise Tierexperimente anthropologisch so provokativ wirken. Es ist nichts als eine Unterstellung, der Psychologie das wissenschaftliche Interesse am Menschen abzusprechen, nur weil sie keinen entsprechend benannten ganzheitlichen Entwurf ständig vor sich her trägt. Was Hegel von der Psychologie, auch der geisteswissenschaftlichen Psychologie, unterscheidet, ist nicht schon das Suchen oder Verstehen des Sinnes des Menschen, sondern eine bestimmte inhaltliche Auffüllung des Begriffs des Menschen: Hegel kennt aus systematischen Gründen überhaupt nur progressive Entwicklung - die Psychologie weiß auch um Regressionen im Fundament des Menschen, d. h. die Psychologie anerkennt die Negation in ihrer Realität (als Destruens in Neurosen, Psychosen, organischen Traumen, Senilität usw.). Bei Hegel ist die Negation ein Wort, ein Begriff, eine Kategorie; sie tritt in seinem Denken nur in logisch-kategorialer Idealität auf. U m sie als solche oder als Moment im Geist wiederum hat sich die Psychologie bisher kaum gekümmert. So stehen sich von Anfang an und heute noch die reale, lineare Negation in der Psychologie und die ideale, dialektische Negation in der Hegeischen Philosophie ohne Verständnis gegenüber. Die Verwandlung der Psychologie aus einer philosophischen in eine einzelheitlich forschende Richtung in den Jahren um 1830/40 stellt einen der groß-
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ten Brüche dar, die eine wissenschaftliche Disziplin jemals erfahren hat. Wer •wollte leugnen, daß diese Mutation ihr außerordentlich genützt hat? Auch der philosophierende Geist hätte daraus zu lernen vermocht, daß das Zeitalter, in dem er in Hinsicht auf sich als Seele, Bewußtsein und Geist das Erschaute konstruierend in Gedanken verwandeln konnte, vergangen war, daß er sich zuviel vorgenommen hatte, indem er sich denkend nachschaffen wollte. Aber nicht die Tatsache, daß selbst ein Hegel Unmögliches nicht leisten konnte, sondern der Erfolg einzelheitlicher Forschung destruierte den Anspruch des Ganzheitswissens und verwies die Philosophie auf den Bereich der nicht abschließbaren reflexiven Prüfung, der Frage statt der Antwort. Und in mancher Hinsicht war die Psychologie selbst im Beginn in der Frage genauer als ihre Mutter: Der Unterschied zwischen psychischer Funktion und subjektivem Zentrum wurde in ihr fast immer beachtet: Weber begründete die naturwissenschaftliche Erforschung der Funktionen und Brentano entsprechend die analytische (Brentano 1874), Stern (in systematischer Hinsicht) die Erforschung der Person (Stern 1906-1924), und diese Trennungen wurden in der Folge beachtet. Die Philosophie dagegen versuchte auch nach 1830 meist, willentlich oder auch unbeabsichtigt, beides im Blick zu haben. Die vermischte Betrachtung des subjektiven Zentrums und der Funktionen zeigte noch Heideggers „Sein und Zeit". (Heidegger 1927) Untersuchungen zur Geschichte der Psychologie und zur philosophischen Psychologie aber müssen heute vom Forschungsstand der Psychologie als Wissenschaft ausgehen. Sie müssen also nach dem Zentrum oder den Funktionen jeweils getrennt fragen, ganz gleich, ob die großen Denker ebenso trennten oder in ihren Überlegungen beides zusammen verfolgten.
Der Gegenstand der Untersuchung Bei Hegel nun scheint es erfolgreicher, zunächst das subjektive Zentrum, die Person, zu untersuchen, nicht die Funktionen, also Denken, Fühlen, Anschauen usw. Der Grund dieser Annahme ist einfach: Bei Hegel sind die psychischen Funktionen bis heute ungeklärt, vielleicht nie klärbar, in den Einleitungs- und Begründungsprozeß seiner philosophischen Theorie verwickelt: Der Streit um die systematische Stellung der Phänomenologie zeigt das in aller Deutlichkeit. In den sich rechtfertigenden Entwicklungsgang der Phänomenologie sind Anschauen, Ausdrücken, Empfinden, Fürchten, Fühlen, Sich-vergewissern, Sehnen, Verstehen, Wahrnehmen usw. unabhebbar verflochten. Wenn und solange der Streit um die f u n d i e r e n d e Rolle der psychisdien Funktionen für die Theorie dieser Philosophie aber nicht ausgefoditen ist, kann nadi ihrer regional f u n g i e r e n d e n Rolle mit Ertrag nicht gefragt werden: Jede Analyse der Funktionsrolle setzt eine bestimmte Position in den Annahmen zur Fundierungsrolle voraus. Damit wäre die Untersuchung auf einen der historischen Plätze der Phänomenologieinterpretation gedrängt und setzte wiederum Interpretation von einem bestimmten Ort der Hegelianer oder Antihegelianer voraus. Fragt
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Λ Hegel und die Psychologie
man in der Untersuchung über Hegel als Psychologen dagegen nadi dem fungierenden Zentrum, so ist man dieser Schwierigkeiten weitgehend enthoben, ohne auf die Betrachtung der psydiisdien Funktionen ganz verzichten zu müssen, da eine Person eben immer in Funktion ist. Und die Interpretation dieses Fungierens in seiner Konkretion, nicht in seiner Abstraktion, vom subjektiven Pol aus ist des betreifenden Denkers Persönlichkeitstheorie.
Β Der Gedanke einer begrifflichen Psychologie
§ 6 Psychologie u n d Wissenschaft Der Begriff und die Realität Der Begriff der Wissenschaft war im Idealismus ein anderer als in den heutigen Reflexionen über wissenschaftliche Forschung. Die Betrachtung der Inhalte und Verfahren eines wissenschaftlichen Gebietes, das auf idealistischem Boden erschlossen wurde, legt somit die Vergegenwärtigung seiner wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen nahe. Die Analyse eines bestimmten Wissenschaftsbegriffes aber setzt wiederum die Analyse des zugrunde liegenden Realitäts- oder Gegenstandsbegriffes voraus. Hegels Theorie verfügt nun über einen ganz präzisen Realitätsbegriff, der von der Unterordnung der Realität unter den Begriff ausgeht. Wir sind „überhaupt nicht von den einzelnen Erscheinungen her bei dem allgemeinen Begriff der Sache angelangt, sondern haben umgekehrt aus dem Begriffe die Realität desselben zu entwickeln gesucht". (SW 14, 236) Diese Unterordnung ist sowohl logisch als auch genetisch zu verstehen: Der Begriff, und zwar der philosophisch-idealistisch zu verstehende Begriff, der sich mit der Realität zur Idee zusammenschließen will, nicht der abstrahierende Verstandesbegriff, ist es, der allein real ist: „Die Philosophie hat es mit Ideen, und darum nicht mit dem, was man bloße Begriffe zu heißen pflegt, zu tun, sie zeigt vielmehr deren Einseitigkeit und Unwahrheit auf, so wie daß der Begriff, (nicht das, was man oft so nennen hört, aber nur eine abstrakte Verstandesbestimmung ist) allein es ist, was Wirklichkeit hat und zwar so, daß er sich diese selbst gibt." (SW 7, 38) Wenn der Begriff nun über Wirklichkeit verfügt und sie sich selbst erzeugt, dann gehen nach Hegel alle die Erkenntnisbemühungen fehl, die die Wahrheit außerhalb dieses Begriffs suchen. Erkenntnis ist nichts anderes, als einen Gegenstand nach seinem im Begriff bestimmten Inhalte zu erkennen. Dabei dürfen Vorstellung und Denken nicht gleichgesetzt werden. Die Vermengung der Vorstellung und des Denkens, die im Leben statthat und darauf beruht, daß auch die Tätigkeit der Einbildungskraft Denken genannt wird, ist in der Wissenschaft nicht am Platze. Denn in der Vorstellung werden Dinge nach ihrem nur äußerlichen unwesentlichen Dasein betrachtet. „Im Denken hingegen sondern wir von der Sache das Äußerliche, bloß Unwesentliche ab und heben die Sache nur in ihrem Wesen hervor. Das Denken dringt durch die äußerliche Erscheinung durch zur innern Natur der Sache und macht sie zu seinem Gegenstand. Es läßt das
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Zufällige einer Sache weg." (SW 3, 36) Die Aufforderung zur Vernachlässigung des sog. Zufälligen und Unwesentlichen legt eine abstraktionstheoretische Interpretation des begrifflichen Verfahrens nahe. Wie soll jedenfalls eine abstraktionstheoretische Begrifisbildung von der angeblich wirklichen Erkenntnis getrennt werden? Aber gerade das abstrahierende Denken wird von Hegel als das nur-endliche Verfahren bezeichnet, das die Wahrheit der Konkretion des unendlichen Gegenstandes nie erreichen kann. (vgl. SW 16, 226) Zwar ist der Gedanke ein allgemeiner, sein Inhalt ist abstrakt. Aber nur solange der Gedanke bloß als Nur-Gedanke, also als Form, verstanden wird, bleibt er abstrakt; als Zusammenschluß mit der Realität wird er als Identität der Form und des Inhaltes wieder konkret. Diesen absoluten Zusammenschluß will die Hegeische Theorie jedenfalls liefern. Für die phänomengetreue Erfassung der Gegenstände scheint das Anstreben dieses Ziels von vornherein zum Nachteil auszusdilagen. Was das Zufällige an einem Gegenstand ist, bestimmt sich in diesem Verfahren nicht nach Methoden, in denen der Gegenstand sein Recht zu auch unerwarteter Selbstdarstellung behaupten kann, sondern nach vorgeordneten Folgerungen aus dem Geistbegriff, die es ζ. B. unmöglich machen, daß alles, was Aberration und Defizienz an einem Gegenstand betrifft, als für ihn konstitutiv angesehen werden kann. Nach dem Hegeischen Entwicklungsbegriff sind Aberrationen, Defizienzen, Regressionen, Degenerationen und Zwitterformen nichts „Wirkliches", sondern nur Besonderheit und Willkür. Deshalb sind auf Hegelschem Boden Ausnahme, Abweichung und variierende Mutation nur zufällig und unwesentlich, während sie in der biologischen Forschung als die gerade wirklichen Sprünge der Entwicklung angesehen werden. Das Denken der Hegeischen Philosophie, das das Wesentliche vom Unwesentlichen durch Verallgemeinerung scheiden will, bleibt zwar im Begriff rein, ist aber nicht „am" Gegenstand: Nach Hegel unterscheiden sich Denken und Anschauen dadurch, daß die Anschauung einzelne Gegenstände sieht, das Denken aber zu Beziehung, Vergleich und Feststellung des Gemeinsamen fähig ist. Es läßt „dasjenige, wodurch sie voneinander sich unterscheiden, weg und erhält dadurch allgemeine Vorstellungen". (SW 3, 36) Hegel konzediert durchaus die geringere Bestimmtheit des Allgemeinen, sieht diesen Mangel aber durch den größeren Umfang wettgemacht. Indessen führt die Bestimmung des sog. Wesentlichen auf der Grundlage des größeren Umfangs nur zu einer Gewinnung dieses Wesentlichen auf der Basis hoher zu subsumierender Prozentränge, so ungern Hegel dies auch hören würde, denn statistisch gefundene Wesentlichkeit würde er bestimmt nicht als begrifflich ausreichend ansehen. Aber wenn von ähnlichen Anschauungen oder Gegenständen merkmalsgleiche als für den zu suchenden Typ wesentlich, abweichende als unwesentlich bezeichnet werden, handelt es sich um ein zwar denktechnisch sauberes Verfahren, gegen das jedoch von der Problemstellung her eingewandt werden kann, daß erstens in ihm nie mehr erfahren werden kann, als zum voraus gewußt ist, weil der zu suchende Typ schon bekannt ist, daß zweitens abweichende Gegenstände von
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sich aus über die Gründe und Berechtigungen ihrer Abweichungen nicht „sprechen" dürfen und daß drittens die so gefundene Wesentlichkeit nichts anderes ist als eine Allgemeinheit, die nur zufällig die erste war. Der Glaube an die Allmacht der Gedanken immunisierte Hegel gegen Anfeindungen solcher Art. Allerdings kann ihm in seinem Begriffsoptimismus der Stand der Naturwissenschaften seiner Zeit zugute gehalten werden. Die Funktion der Ausnahme, der Abweichung und des Zufalls für die Entwicklung war noch nicht entdeckt: Es gab nodi keine Molekularbiologie, sondern die Biologie erzielte ihre ersten großen Erfolge gerade durch Klassifikationen nach Art der Begriffspyramide. Ihr Verfahren wurde von Hegel anerkannt und für philosophisch relevant gehalten. „Die empirischen Wissenschaften bleiben . . . nicht bei dem Wahrnehmen der Einzelnheiten der Erscheinung stehen, sondern denkend haben sie der Philosophie den Stoff entgegen gearbeitet, indem sie die allgemeinen Bestimmungen, Gattungen und Gesetze finden; sie vorbereiten so jenen Inhalt des Besondern dazu, in die Philosophie aufgenommen werden zu können. Andererseits enthalten sie damit die Nötigung für das Denken, selbst zu diesen konkreten Bestimmungen fortzugehen." (Enz 46) Ausdrücklich wird von Hegel festgestellt, daß die Philosophie „so ihre Entwicklung den empirischen Wissenschaften verdankt". (Enz 46) Die Philosophie soll die Ergebnisse der empirischen Wissenschaften also beachten und sie dann - was zum Zwecke der Übernahme in die Begrifisbearbeitung nötig ist - von gefundenen zu gedachten madien, also ihre Unmittelbarkeit und ihr Gegebensein aufheben. Die Begriffsarbeit hat dann die Aufgabe, die aufgenommenen Ergebnisse noch einmal zu entwickeln, u. z. im Denken, wobei die vorerst unlösbare Schwierigkeit entsteht, entweder das Aufgenommene nicht anzuerkennen als das, was es selbst ist, um es durch Bearbeitung erst seinem „wirklichen" Charakter zuzuführen, oder eine Begriffsarbeit nur zu fingieren, weil das Aufgenommene alles Wirkliche an ihm selbst hat. Hegel will diese Schwierigkeit selbstverständlich nicht überspielen, sondern durch dialektisches Aufheben lösen. Es würde bedingen, daß die vorgefundenen Inhalte im Erweis der im Denken gezeigten Notwendigkeit von gefundenen zu allgemeingültigen würden. Damit träte andererseits wieder ein „erhöhender" Rang des Denkens zutage, und es würde auf dessen „vollkommen selbständige Tätigkeit" aufmerksam gemacht, so daß die aufgenommenen Inhalte wieder nur in die Rolle dienender Zuträger fielen. Sie wären dann die Beobachteten und Bearbeiteten, die sich verändern müssen: das Denken selbst bliebe sich gleidi. Entwicklung gäbe es nur für das Denken; im Denken selbst aber keine wesentliche Entwicklung: „Die eigne aber in sich reflektierte, daher in sich vermittelte Unmittelbarkeit des Denkens (das Apriorische) ist die Allgemeinheit, sein Bei-sich-sein überhaupt; in ihr ist es befriedigt in sich, und insofern ist ihm die Gleichgültigkeit gegen die Besonderung, damit aber gegen seine Entwicklung, angestammt." (Enz 46) Der Gedanke wird auch als das Allgemeine bezeichnet, als „die Gattung, die nicht stirbt, die sich selbst gleichbleibt". (SW 11,118)
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Dieser philosophische Gedanke darf allerdings nicht mit den in zeitlichen Umständen auftretenden jeweiligen Gestalten des Denkens gleichgesetzt werden: Sie sind das Zeitlose des Gedankens und das Zeitliche seiner Manifestationen in einem. Die Erscheinungsgestalten des Gedankens können demnach nichts Natürliches in der Zeit sein und darin natürlich vergehen, sondern ihr Sein und Ende ist im Geiste dessen Tätigkeit und ihr Aufgehobenwerden. „Weil dies Aufheben Tätigkeit des Gedankens ist, ist es zugleich Erhalten und Verklären." (SW 11, 118) Das Ende von Etwas ist so in jedem Fall seine Erhöhung; die Superiorität des Begriffs erlaubt keinen anderen Entwicklungsbegriff als den der stetig fortschreitenden Vervollkommnung. Dem im Aufheben verklärten Gegenstand geht der stets gewinnende Geist parallel: „Indem somit der Geist einerseits die Realität, das Bestehen dessen, was er ist, aufhebt, gewinnt er zugleich das Wesen, den Gedanken, das Allgemeine dessen, was er nur war. Sein Prinzip ist nicht mehr dieser unmittelbare Inhalt und Zweck, wie er war, sondern das Wesen desselben." (SW 11, 118) Das Aufheben macht den Geist also aus einem zweck- und inhaltgebundenen wieder zum allgemeinen, bringt seine Tätigkeit in das Befriedigtsein des Gedankens zurück, wo der aufgehobene Inhalt erst seine wahrhafte Existenz hat. Hinsichtlich der psychischen Funktionen ergibt sich bei diesem Übersetzungsverhältnis folgende Sachlage: Wenn der sog. wahrhafte Inhalt erst dann zutage tritt, wenn er in den Gedanken oder den Begriff transponiert ist, dann müssen auch die Gliederungen der psychischen Funktionsweisen entsprechend behandelt werden, denn erst durch Denken werden sie dann wahrhaft zugänglich. Wenn es zutrifft, „daß der wahrhafte Inhalt unseres Bewußtseins in dem Übersetzen desselben in die Form des Gedankens und Begriffs e r h a l t e n . . . wird, kann an ein anderes altes Vorurteil erinnert werden, daß nämlich, um zu erfahren, was an den Gegenständen und Begebenheiten, auch Gefühlen, Anschauungen, Meinungen, Vorstellungen usf. Wahres sei, Nachdenken erforderlich sei. Nachdenken aber tut wenigstens dies auf allen Fall, die Gefühle, Vorstellungen usf. in Gedanken zu verwandeln." (Enz 37) Solange die psydiischen Funktionen nicht als Denken gefaßt sind, müssen sie nach der Hegeischen Theorie also mit zwei Nachteilen ausgestattet sein: 1. Sie wissen nichts über sich als Form, weil sie nodi unmittelbar fungieren. Dieses fehlende Wissen kann in sog. „bloß psychologischer" Analyse nicht erarbeitet werden: „Wissen, Glauben, Denken, Anschauen sind die . . . Kategorien, die, indem sie als bekannt vorausgesetzt werden, nur zu häufig nach bloßen psychologischen Vorstellungen und Unterscheidungen willkürlich gebraucht werden; was ihre Natur und Begriff ist, dies, worauf es allein ankäme, wird nicht untersucht." (Enz 87) Nicht die empirische oder beschreibende oder auch rationale Betrachtung der psychischen Funktionen enthüllt deren Charakter und Leistung, sondern erst ihre Übersetzung in das Medium des Gedankens. Diese These ist auf Hegelschem Boden konsequent. Ob sie zu verwertbaren Ergebnissen führt, ist eine andere Frage. Wenn man sie aber von psychologischer Seite aus
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ohne Begründung ablehnte, offenbarte das allerdings auch kein wissenschaftliches Verständnis. Genau so schwierig wie dieses Problem ist ein anderes, das Hegel nicht eigens bedacht hat: Die Übersetzung des Inhalts der psychischen Funktionen in Gedanken ist ohne die Zwischenschaltung der Selbstbeobachtung nicht möglich. Diese aber muß, audi auf Hegelsdiem Boden, beginnend als nur-psychisdie, als noch nicht gedankliche, vollzogen werden. Damit ist das berühmte Verfälschungsproblem der Selbstbeobachtung audi aus dem Hegeischen Verfahren nicht auszuschalten: Es ist durchaus unklar, was und wieviel die beginnende Arbeit der Selbstreflexion am Inhalt der psychischen Funktionen verändert, noch ehe sie Gedanken geworden sind. Audi aus der Hegeischen Fundierungsproblematik ist dieses Problem nicht zu eliminieren. 2. Sie wissen nichts Wirkliches über ihre Inhalte, weil sie deren Zufälligkeit, Allgemeinheit und Notwendigkeit nodi nicht unterscheiden können. Zwar können Inhalte des Fühlens, Anschauens, Vorstellens und Denkens äußerlich als dieselben auftreten, aber sowohl diese Inhalte selbst als audi die psydiischen Funktionen müssen von eben dieser Äußerlichkeit befreit werden: Das Anschauen ist gegenüber dem Vorstellen noch mit der Äußerlichkeit der tatsächlichen Ansicht behaftet; erst die Vorstellung macht aus dem faktischen ein allgemeines Objekt. Das Vorstellen wiederum ist gegenüber dem Denken noch mit der Äußerlichkeit eines Objekts behaftet; erst das Denken erzeugt die Identität des Subjekt/Objekts und damit die Notwendigkeit. Erst der Gedanke verfügt also - theoretisch konsequent - über Allgemeinheit und Notwendigkeit der Bearbeitung. Aber der Gedanke verfügt nicht mehr über den „Fall", sondern über einen von ihm selbst hergestellten „Typ"; und die Hegeische Annahme, daß erst der Gedanke über die Kategorie der Notwendigkeit verfüge, gilt eben nur bei der gleichzeitigen Annahme, daß Kategorien und Gesetze erst an „Typen", nicht an „Fällen" entdeckt werden können. Die Herstellung der Gemeinsamkeit der psychischen Funktionen erfolgt also erst im Begriff; für sich sind sie unterschiedlich, obsdion ihre Ähnlichkeit darüber täuschen kann. „Nichts ist in der gewöhnlichen Psychologie und Logik häufiger, als die Konfusion von Anschauung, Vorstellung und Gedanke, weil sie nämlich in der Tat auf das engste zusammenhängen. Es bleibt ein unsterbliches Verdienst Hegels, ihren Unterschied nach der Grundlage, welche Kant dazu in seiner Vernunftkritik gab, auseinandergesetzt zu haben." (Rosenkranz 1870, 178 f.) Solange Logik und Psychologie jedoch nicht als identisch, sondern als ein Nebeneinander angesehen werden, ist dieser Vorwurf aber unberechtigt, da Logik und Psychologie jeweils andere Aufgaben haben: Die Logik kann sich nicht mit der Differenzierung psychischer Funktionen beschäftigen, weil sie nicht ihr Gegenstand sein können; und die Psychologie hat nidit die Untersuchung der erkenntnistheoretischen oder ontologisdien Relevanz der psychischen Funktionen vorzunehmen, sondern sich um ihre Bedeutung in der menschlichen Verhaltensdeskription zu kümmern. Diese Aufgaben sind durchaus unterschiedlich. Audi vom Hegeischen Standpunkt aus besteht diese Differenz: Die Psychologie
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allgemein wäre zunächst nur endlidie Verstandeswissensdiaft mit regionalen Aufgaben, nicht Vernunftwissenschaft. Für den entsprechenden Unterschied gibt Hegel an: „Das Denken nur endliche Bestimmungen hervorbringend und in solchen sich bewegend, heißt Verstand (im genauem Sinne des Wortes). Näher ist die Endlidikeit der Denkbestimmungen auf die gedoppelte Weise aufzufassen, die eine, daß sie nur subjektiv sind und den bleibenden Gegensatz am Objektiven haben, die andere, daß sie als beschränkten Inhaltes überhaupt sowohl gegeneinander als nodi mehr gegen das Absolute im Gegensatze verharren." (Enz 58) Dagegen ist die „Vernunft, das Vermögen des Unbedingten" und der „Vernunftgegenstand, . . . das Unbedingte oder Unendliche, ist nidits anderes als das Sidi-selbst-Gleidie". (Enz 70) Erfahrungs-Erkenntnisse können unbearbeitet nicht Gegenstand der Vernunfttätigkeit sein, weil Erfahrung das Moment der Bestimmtheit und damit der Endlichkeit nicht ablegen kann. Für die psychischen Funktionen bedeutet dies, daß ihre regional reflexive Bestimmung, die psychologische, immer endlidie bleibt und für Vernunft keinen offenbaren Übersetzungsmodus bietet, daß aber ihre vollzogene Vernunftbestimmung sie als nicht-mehr-endlidie betrachtet. Auf dem Wege zur Idee erfährt der Begriff, daß er das Gesetztsein seiner Bestimmungen in seinem Fürsidisein enthalten muß. Auf dieses Fürsidisein ist als Stadium nidit zu verzichten. Die ontisdie Fassung des Fürsichseins hinsichtlich der psychischen Funktionen ist aber die Selbstbeobachtung. Das wissenschaftliche Gelingen ihrer Durchführung aber steht vor mehr Schwierigkeiten, als Hegel schon wußte. Der Begriff und die Wissenschaft Der Weg zur Notwendigkeit des Denkens enthält für Hegels System eine weitere Konsequenz: Eine notwendige Analyse oder Einteilung duldet keine andere neben sich. Das notwendige Denken tritt also nur als System, u. z. als einziges System, auf. Uber den Begriff der Notwendigkeit leitet die Betrachtung des Begriffs und der Realität also auf den des Begriffs und der Wissenschaft über. In den wissenschaftlichen Verfahren aber sind Notwendigkeit und Erfahrung inkompatibel. Philosophische Wissenschaft als Wissenschaft aus dem Gedanken kann von daher nicht aus der Erfahrung, sondern nur aus dem Begriff gezeugt sein. Sie muß oder müßte also abstrakt anfangen und zu Konkretem fortschreiten. Im Ideal hätte philosophische Wissenschaft darum einen abstrakten Anfang: „Die immanente Entwickelung einer Wissenschaft, die Ableitung ihres ganzen Inhalts aus dem einfachen Begriffe ( - sonst verdient eine Wissenschaft wenigstens nicht den Namen einer philosophischen Wissenschaft) zeigt das Eigentümliche, daß der eine und derselbe Begriff . . . der anfangs, weil es der Anfang ist, abstrakt ist, sidi erhält, aber seine Bestimmungen und zwar ebenso nur durch sich selbst verdichtet und auf diese Weise einen konkreten Inhalt gewinnt." (SW 7, 381) Diese Vorstellung über die Entfaltung philosophischer Wissenschaft sucht ein
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Modell, das seinen Grund in sich selbst hätte und bei dem die Notwendigkeit durch diese Immanenz des Grundes gegeben wäre. Aber Hegel scheint der Durchführbarkeit einer solchen philosophischen Wissenschaft selbst skeptisch gegenübergestanden zu haben, denn er unterscheidet zwischen dieser „reinen" und der „besonderen" philosophischen Wissenschaft. „Reine" und „besondere" philosophische Wissenschaft können dieselbe Region der Welt betreffen. Die „besondere" philosophische Wissenschaft unterscheidet sich nicht durch ihren Inhalt, sondern durch ihr Verfahren von der „reinen". Die reine philosophische Wissenschaft soll die Wissensform des Gedankens sein, der seine Herleitung und seine Aufhebung abgeschlossen hat. Die besondere philosophische Wissenschaft geht regionale Probleme an und versucht ihre Aufhebung, ohne sie von „rückwärts" abzuleiten. So sind Kunst, Gesellschaft, Seele jeweils Gegenstände besonderer philosophischer Wissenschaften, die regional arbeiten; ihre wirkliche Begründung sollen die Inhalte aber erst in der enzyklopädischen Durchführung der reinen, konkreten Philosophie erfahren. Diese Begründungsabsicht fordert letztlich, daß, wenn in der philosophischen Arbeit das Bedürfnis entsteht, die Notwendigkeit des speziellen Inhaltes einer Wissenschaft zu zeigen, er aus ihm begrifflich vorangehendem Inhalt abgeleitet werden könnte. Ein solches Begründungsverfahren ist in der einzelwissenschaftlichen, philosophischen Durchführung jedoch nicht einmal der Absicht nach möglich. Der Anfang ohne Begründung ist somit ein Strukturmoment der philosophischen Einzelwissenschaften: „Indem wir nun aber von der Kunst ((oder der Seele)) anfangen, ihren Begriff und dessen Realität, nicht aber das ihrem eigenen Begriff zufolge ihr Vorangehende in seinem Wesen abhandeln wollen, so hat die Kunst ((die Seele)) für uns als besonderer wissenschaftlicher Gegenstand eine Voraussetzung, die außerhalb unserer Betrachtung liegt . . . Es bleibt deshalb nichts übrig, als den Begriff der Kunst ((der Seele)) sozusagen lemmatisdi aufzunehmen, was bei allen besonderen philosophischen Wissenschaften, wenn sie vereinzelt betrachtet werden sollen, der Fall ist." (SW 12, 49) Ob der lemmatische Beginn der philosophischen Einzelwissenschaften in der Beziehung auf das umfassende reine Philosophieren schließlich ausgeschaltet werden kann, ist jedoch fraglich. Auch die absolute Freiheit des Gedankens setzt irgendwo an und irgendwie ein, und noch die verstehend aufholende Negation dieses Einsetzens hat den Charakter einer Position. Die Verlagerung der Begründung verschiebt das Problem der Begründung der regionalen Philosophie zunächst nur, ohne es zu lösen: Auch noch die „Wissenschaft der Logik" „beginnt", und sie beginnt lemmatisch. Sein, Nidits, Werden, Vergehen ergäben sich für den, der nicht über sie schon verfügte, eben nicht absolut explikativ. Insofern würde selbst die von Hegel immer beabsichtigte enzyklopädische Deduktion der philosophischen Einzelwissenschaften das lemmatische Problem nicht beseitigen. In diesem Zusammenhang ist es weiter bedenkenswert, daß Hegel die Deduktion, obschon er sie immer fordert, letztlich als nicht ausreichend ansieht, sondern sie wieder in Ganzheit und Totalität fundiert sehen will.
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„Denn erst die gesamte Philosophie ist die Erkenntnis des Universums als in sich eine organische Totalität, die sich aus ihrem eigenen Begriffe entwickelt und, in ihrer sich zu sidi selbst verhaltenden Notwendigkeit zum Ganzen in sidi zurückgehend, sidi mit sidi als eine Welt der Wahrheit zusammenschließt. In der Krone dieser wissenschaftlichen Notwendigkeit ist jeder einzelne Teil ebensosehr einerseits ein in sich zurückkehrender Kreis, als er andererseits zugleich einen notwendigen Zusammenhang mit anderen Gebieten hat, - ein Rückwärts, aus dem er sidi herleitet, wie ein Vorwärts, zu dem er selbst in sidi sidi weitertreibt, insofern er fruchtbar anderes wieder aus sich erzeugt und für die wissenschaftliche Erkenntnis hervorgehen läßt." (SW 12, 49) Klarer hat Hegel sidi selten zur Technik seines philosophisch-wissensdiaftlichen Verfahrens geäußert: Nicht allein in wissenschaftlicher Begründung ist philosophisch zureichende Wahrheit zu suchen und zu erstellen, sondern die hermeneutisdi-circuläre Ganzheit der dialektischen Identität muß hinzutreten. Damit gerät selbst der technische Abschluß dieser philosophischen Theorie wieder in eine Begründungsproblematik, denn zumindest die Ganzheit des richtigen Zusammenschlusses bleibt ein „Ansatz". Und noch ein weiteres Problem belastet die gesuchte Ganzheit: Man muß es Hegel vom wissenschaftlichen Stand seiner Zeit aus zwar zugute halten, daß er die Gefahr der anthropomorphen Projektion noch nicht voll durchschauen konnte; trotzdem ist die Vorstellung vom Ganzen der Philosophie als einer ausgerechnet „organischen Totalität" gerade von seinem Standpunkt der Geistphilosophie aus nidit-geistig. Und mit dem heutigen Wissen muß gegen sie der Vorwurf einer biomorphen Projektion erhoben werden. Die Totalitätsvorstellung, die Hegel in seinem Absdilußbegriff der Philosophie leitet, ist eine Abstraktion des biotischen Individuums: Ein Tier ist eine organische Ganzheit, die sich nach ihrem chromosomalen Plan, ihrem „Begriff", entwickelt; als bestehende ist diese Ganzheit in Teile („Organe") gegliedert; diese Organe sind einerseits jeweils in sich tätig, kehren somit in sidi selbst zurück, andererseits erhalten sie sich nur durch ihre Beziehung zum Gesamtorganismus, haben einen notwendigen Zusammenhang mit ihm und können gegenseitig nur über den Organismus aufeinander einwirken. Die Organe werden durch den Organismus zusammengehalten, und der Organismus lebt nur in den Organen. Erklärt ist mit dieser zum philosophischen Ganzheitsmodell abgewandelten Organismusvorstellung aber nichts. Das Bedürfnis der Philosophie ist es, dem Denken Befriedigung zu verschaffen, (vgl. Enz 44) Dies soll so geschehen, daß das Denken Natürlichkeit, Sinnlichkeit und Kausalität hinter sich läßt und daß es „sich erhebt, in das un vermischte Element seiner selbst, und sidi so zunächst ein sich entfernendes, negatives Verhältnis zu jenem Anfange gibt". (Enz 45) Wenn nun etwas sich über etwas anderes erhebt, dann kann es damit zweierlei intendieren: es kann geleitet sein vom Wunsch der Herrschaft über das Andere unten oder vom Wunsch des reinen Alleinseins in seiner Höhe für sich. Nach Hegels eigenen Worten wäre vom Denken zu erwarten, daß es den zweiten Wunsdi hat, den nach begrifflicher
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Askese, zumal der Erfolg der Lustsättigung auch dann nicht ausbleibt: „Es ((das Denken)) findet so in sich, in der Idee des allgemeinen Wesens dieser Erscheinungen, zunächst seine Befriedigung; diese Idee (das Absolute, Gott) kann mehr oder weniger abstrakt sein." (Enz 45) Das sich zu sich erhebende Denken könnte in dieser Bewegung also sowohl Behagen als auch Erfüllung finden, wenn nicht ausgerechnet die Erfahrungswissenschaften es so reizen würden, daß es sie bekämpfen und besiegen muß, um dadurch - gegen seinen Willen eigentlich? - für Ordnung in der Welt der Wissenschaften zu sorgen: „Umgekehrt bringen die Erfahrungswissenschaften den Reiz mit sich, die Form zu besiegen, in welcher der Reichtum ihres Inhalts als ein nur Unmittelbares und Gefundenes, nebeneinander gestelltes Vielfaches, daher überhaupt Zufälliges geboten wird, und diesen Inhalt zur Notwendigkeit zu erheben, - dieser Reiz reißt das Denken aus jener Allgemeinheit und der nur an sidi gewährten Befriedigung heraus und treibt es zur Entwicklung von sich aus." (Enz 45) Nun hat Hegel sich in dieser Gedankenführung mit Worten wie „Befriedigung", „Bedürfnis", „Reiz", „besiegen" eine metaphorische Kategorialität bestimmter Prägung erstellt, die eine eigene Aufmerksamkeit verdient: Die Argumentation, die Hegel gebraucht, verfährt offensichtlich wie die eines weltgeschichtlichen Aggressors nach seinen Erfolgen: Die erhabene, große Macht - sei es die „pax" Romana oder philosophica — will anfänglich wohl ruhig in sich verbleiben, aber die Insuffizienzen der kleinen Nachbarn zwingen sie, sie zu ordnen, sie aus ihrem unmittelbaren Nebeneinander einer Hierarchie zu unterwerfen, die nur der großen Macht schon bekannt ist. Erst nach ihrer Aufrichtung herrscht Ordnung, die dann notwendig genannt wird. So begründeten die Großreiche ihre Ausdehnungen; so verfährt nun auch Philosophie: Die vor diesem Vorgang der Bemächtigung der Einzelwissenschaften vollzogene Erhebung des Denkens in sich wird nur „an sich" genannt, womit die weitere „Entwicklung" im System logisch einwandfrei geschieht. Wenn aber das Ganze der Philosophie eine organische Totalität sein soll, dann darf auch noch daran erinnert werden, daß der Erfolg im Organischen nach dem heutigen Stand der Forschung mikrobiologisch auf Zufall und makrobiologisch auf dem Überlebenskampf beruht, und daß das „Recht der erscheinenden Wahrheit" des Lebens und Überlebens somit auf Kontingenz und Brutalität beruht. Hegel freilich wußte dies in Einzelheit noch nicht, so daß er noch eine harmonistische Vorstellung der organischen Totalität hegen konnte. Für ihn war noch, was sich wirklich entwickelt, audi wirklich vernünftig, sowohl im Organismischen als auch im Denken. Das philosophische Denken, das so die einzelwissenschaftlichen Inhalte aufnimmt, negiert dementsprechend friedlich-harmonistisch nur ihre Faktizität, bewahrt aber ihre Ergebnisse und erhöht sie in seiner Durchführung dazu, im Denken neuen Ursprung zu haben und ihre Notwendigkeit zu erfahren. Wissenschaftliche Philosophie soll das bloß zeitlich Wahre zum immer Wahren erheben. Der Inhalt, der an sich vernünftig ist, bleibt in diesem Vorgang derselbe; in der philosophischen Betrachtung wird
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er jedoch zusätzlich nach seiner „eigenen, ihm immanenten Notwendigkeit", die nichts anderes ist als die Selbstbestimmung des Begriffs, betrachtet. Diese Selbstbestimmung des Begriffs aber verfügt über nicht mehr als zwei Mechanismen: sie kennt nur die Verallgemeinerung, die „Typenbildung", und die dialektische Negation. Offensichtlich sind diese Mechanismen schon von sich aus zur Detail-, oder gar Kleindetailanalyse untauglich. Nach Hegel sollen sie ihre Erfolge ja auch nur durch Ganzbehandlung des jeweils in Frage stehenden „Gegenstandes" erzielen. Zu quantifizierender Addition und Subtraktion, zu gedanklicher Serialität usw. sind sie ex definitione nicht in der Lage. Aber die gedanklichen Mechanismen sollen ja die „wirkliche" Arbeit des Begriffs leisten; die nur „besondere" Arbeit der Analyse, der Synthese und Kombination der empirischen Wissenschaften ist nicht ihre Aufgabe. Der Begriff und die Psychologie Aus der Betrachtung der Verhältnisse des Begriffs und der Realität sowie des Begriffs und der Wissenschaft ergibt sich auch die Stellung der Psychologie in einem begreifenden System. Ohne den im nächsten Paragraphen folgenden Ausführungen vorzugreifen, läßt sich dazu allgemein feststellen: Wenn die Ergebnisse der empirischen Psychologie im Geistsystem Hegels betrachtet werden sollen, bereitet es Schwierigkeiten, daß der „Ort" der psychischen Vorkommnisse nicht endlich ist, sondern als Geist eben unendlich. Der Geist ist bei Hegel aber nicht ohne sein Zutun absolut, sondern in der Bestimmtheit durch seinen Inhalt zunächst an sich, sich selbst nur „gegeben". Die Betrachtung des Ganges, der die Selbstbefreiung des Geistes von der Bestimmtheit weg darstellt und die N a t u r seiner Wahrheit allmählich entdeckt und ihn somit als absoluten entdeckt, ist die „Phänomenologie des Geistes". Dieser Gang ist nicht identisch mit der begrifflichen Erstellung der Psychologie. Das Geschäft der Phänomenologie ist die Emanzipation des Geistes: es nützt der Subjektivität und ist insofern praktisdi. Die philosophische Psychologie ist dagegen enzyklopädisch-konstruieren'der Natur, insofern theoretisch. „Die Phänomenologie des Geistes" kann in der Psychologie nur als er-innerte auftreten. Der Geist fungiert in der „Phänomenologie des Geistes" als Subjektivität, in der Psychologie dagegen, wie in allen philosophischen Wissenschaften, als Begriff. Die Uberführung der empirischen Psychologie in die philosophische Psychologie ist eine Arbeit des Gedankens, nicht eine der veränderten Darstellung. Es wäre also verfehlt, faktischen Ergebnissen nur philosophischen Anschein geben zu wollen. Als Beispiel führt Hegel an, daß es nicht genüge, empirische Aussagen über den Menschen, ζ. B. daß er einen bestimmten Trieb habe, nur in eine scheinbar philosophische Sprache zu übersetzen und dann zu sagen, der Mensch finde diesen Trieb als „Tatsache seines Bewußtseins" in sich. (vgl. SW 7, 71) Mit solcher Berufung allein würde die erforderliche gedankliche Traktierung nicht erreicht. Andererseits soll die philosophische Spekulation die Inhalte der
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empirischen Wissenschaften gerade nicht verändern: „Das Verhältnis der spekulativen Wissenschaft zu den andern Wissenschaften ist . . . nur dieses, daß jene den empirischen Inhalt der letztern nicht etwa auf der Seite läßt, sondern ihn anerkennt und gebraucht, daß sie ebenso das Allgemeine dieser Wissenschaften, die Gesetze, die Gattungen usf. anerkennt und zu ihrem eigenen Inhalte verwendet, daß sie aber auch ferner in diese Kategorien andere einführt und geltend macht. Der Unterschied bezieht sich insofern allein auf diese Veränderung der Kategorien." (Enz 42) Die philosophische Bearbeitung der Psychologie müßte also das Recht der Erfahrung, das diese sich in ihren wissenschaftlichen Beständen erarbeitet hat, anerkennen und dürfte weder die Inhalte noch die Gesetze verändern. Damit würde dokumentiert, daß die spekulative Philosophie einerseits nicht empirie-feindlich wäre, andererseits von dem Standpunkt aus, der Fortschritt nur in der positiven Ergebnisaddition sähe, überflüssig wäre. Hegel selbst hat dieses Verhältnis für die Logik formuliert: „Die spekulative Logik enthält die vorige Logik und Metaphysik, konserviert dieselben Gedankenformen, Gesetze und Gegenstände, aber sie zugleich mit weitern Kategorien weiterbildend und umformend." (Enz 42) Von Rosenkranz ist in diesem Zusammenhang die Psychologie ausdrücklich genannt worden. Für ihn ist „. . . i n der spekulativen Psychologie die empirische eben so als Moment enthalten . . . wie in der spekulativen Logik die formale". (Rosenkranz in: SW 3,11) Von der Hegeischen Position aus wird also einerseits konzediert, daß der Bestand der empirischen Psychologie selbst nicht philosophisdi majorisiert werden soll; andererseits wird aber verlangt, daß in der philosophischen Bearbeitung in die empirisch erarbeiteten Kategorien andere, nämlich spekulativ-philosophische, eingeführt werden sollen. Von Hegels Standpunkt aus ist dieser Anspruch legitim: Die gedankliche Entwicklung muß sich letztlich der unmittelbaren Kenntnisgewinnung nicht nur vorordnen, sondern sie muß sich auch mit ihr im Begriff zusammenschließen. Damit ist das Verhältnis zwischen Philosophie und Empirie wieder komplex: Der gedankliche Führungsanspruch des Denkens bleibt erhalten; die Empirie kann nidit absolut sein; das Recht eines begrenztlegitimen Anfangs muß ihr aber schon aus philosophischer Konsequenz heraus zugestanden werden: denn Empirie und Philosophie erkennen beide, was ist; beide wollen nicht erkennen, was nur sein soll und gerade deswegen nicht ist. (vgl. SW 8, 118) Die Empirie hat ihren für ihren Anfang zureichenden Grund in dem philosophisdien Verlangen nach einem konkreten Inhalt „gegen die abstrakten Theorien des Verstandes". (Enz 64) Insofern kann man sagen, daß empirisches Fragen einen philosophischen Auftrag hat, der in der Durchführung aber nicht philosophisch bleiben kann, weil die Anfangsrationalität im „Felde der Veränderlichkeit und Zufälligkeit" fortgeführt werden muß. Indem das Allgemeine in der empirischen Wirklichkeit untertaucht, kann es nicht mehr nach Begriffen, sondern nur nodi nach Gründen befragt werden. Das Untersuchen des Grundes aber erlaubt nur noch endliche Antworten. „Mit dieser Endlichkeit der Form . . . hängt . . . die des Erkenntnisgrundes zusammen . . .
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Auch die Philosophie, welche sich auf Anthropologie, Tatsachen des Bewußtseins, innere Anschauung oder äußere Erfahrung gründen will, gehört hieher." (Enz 49) Es wäre eine Philosophie, die auf nur-gedankliche Deduktion und Konstruktion verzichtet hätte. Es bleibt die Frage, ob eine in Hegels Konzeption durchgeführte gedankliche Psychologie den Anliegen der empirischen Psychologie gerecht werden kann. Erich Heintel meint, daß Hegel den neuzeitlichen Empirismus respektiert habe: „Von den Jugendschriften an hat sich Hegel zeitlebens zum kritisdien .europäischen Verstand' . . . bekannt und mit ihm zugleich zum (insbesondere neuzeitlichen) Empirismus: in ihrer Einheit ist der Vorrang der europäischen Wissenschaft begründet, sie werden auch in der eigentlichen Wissenschaft, der Philosophie, keineswegs außer Kraft gesetzt, sondern lediglich in ihrer besonderen Bedingtheit .vernünftig' durchschaut und damit erkannt." (Heintel 1961, 206 f.) Fraglich ist allerdings, ob das vernünftige Durchschauen nur als ein höhergradiger Anerkennungsvorgang deutbar ist, ob damit nicht doch in die innere Durchführung der empirischen Wissenschaften eingegrifien wird. Bedingt die philosophisch notwendige Einführung neuer Kategorien (vgl. Enz 42) nicht doch eine Änderung des Inhaltsbestandes der empirischen Wissenschaften? Sicherlich liegt in der empirischen Realität das Fundament der vernünftigen Wirklichkeit, das als erschienenes wahr sein muß; aber nicht nur, daß sie wahr ist, sondern auch, wie sie wahr ist, das sagt der Empirie angeblich erst die spekulative Philosophie. Und an diesem Wie scheiden sich die Auffassungen: Während der spekulative Standpunkt seine Ergebnisse über die empirischen Wissenschaften lediglich als eine Anerkennung auffassen will, sieht die Empirie darin eine anmaßende Bearbeitung: Nach ihr haben es die empirischen Wissenschaften nicht nötig, selbst noch philosophischen Prozeduren unterworfen zu werden. Dagegen müßte die Philosophie sich bemühen, wirklich wissenschaftlich zu verfahren. In dieser Absicht hätte sie die empirischen Wissenschaften nicht für sie, sondern für sich anzuerkennen: „In Wahrheit ist die Psychologie ebenso gut eine Erfahrungswissenschaft wie die Physik oder Chemie; die Aufgabe der Philosophie aber kann es niemals sein, an die Stelle der Einzelwissenschaften zu treten, sondern sie hat überall erst die gesicherten Ergebnisse der letzteren zu ihrer Grundlage zu nehmen. So verhalten sich denn auch die Bearbeitungen der rationalen Psychologie zu dem wirklichen Fortschritt unserer Wissenschaft ungefähr ebenso wie die Naturphilosophie eines Schelling oder Hegel zur Entwicklung der neueren Naturwissenschaft.'' (Wundt 1902,1, 8) Dem empiristischen Standpunkt zufolge vollzieht sich der gegenseitige wissenschaftliche Anerkennungsprozeß der Empirie und des Gedankens ohne Auftrag und ohne Sendung, vielmehr durch Addition geprüfter Erkenntnisse in reflexiver Sicherung. Der spekulative Standpunkt dagegen geht davon aus, daß - auch wissenschaftlich - die Substanz Subjekt werden will, daß Theorie nur für den lebendigen Geist ist, der sich sein absolutes Recht erarbeiten, d. h. seine Vernunft in die Wirklichkeit eindrücken soll, indem er sie an ihr abliest, was in
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spekulativer Hinsicht nur zwei Seiten an einer Sadie sind: „Das Empirische in seiner Synthesis aufgefaßt, ist der spekulative Begriff." (SW 18, 341) Aber eben dieses Auffassen kann sich nur spekulativ ausdrücken: das ist gegenüber der Empirie der Zwang der totalen Verstehensnötigung.
§ 7 Psychologie im Dienste des „Geistes" u n d der „Idee" Die Psychologie in den Stadien der Philosophie des subjektiven Geistes Im § 2 „Hegels Plan einer Psychologie" wurde dargestellt, daß Hegel lange die Absicht verfolgt hat, eine eigene Psychologie zu schreiben. Wie weit diese dann nicht geschriebene Psychologie Systematik und Inhalt der bis zur Berliner Enzyklopädie unter dem Titel „Psychologie" bearbeiteten Teile des Hegeischen Denkens verändert hätte, muß aus den dargelegten Gründen unklar bleiben. Man kann sich heute nur an die von Hegel tatsächlich gelieferten Klassifikationen halten, bei denen von vornherein zu beachten ist, daß Hegel über Psychologie in zwei Weisen spricht: er nennt sowohl die gesamte Philosophie des subjektiven Geistes Psychologie als auch nur ihren dritten Teil. Diese Doppelgleisigkeit bleibt von Nürnberg bis Berlin bestehen. Schon in der Nürnberger Propädeutik heißt es: „Die Philosophie des Geistes enthält drei Abschnitte. Sie betrachtet: 1) den Geist in seinem Begriff, Psychologie überhaupt; 2) die Realisierung des Geistes; 3) die Vollendung des Geistes in Kunst, Religion und Wissenschaft." (SW 3, 200) Der Geist in seinem Begriff, seinem Begreifen, wird also „Psychologie überhaupt" genannt; er ist identisch mit dem subjektiven Geist. Der Geist in seinem Begriff bzw. Psychologie überhaupt bzw. der subjektive Geist gliedert sich in drei Abteilungen, deren dritte die Psychologie im engeren Sinne ist. Die erste beschäftigt sich mit dem Geist in natürlicher Fassung, mit den Zuständen des Körpers und des Leibes und wird Anthropologie genannt. Die zweite befaßt sich mit dem erscheinenden Geist, der sich auf Objekte und Subjekte bezieht; sie wird Phänomenologie genannt. Die dritte betrachtet die Funktionsweisen des Geistes, der sich von rationaler Verflechtung einerseits, intersubjektiven Konflikten und objektiver Arbeit andererseits abgelöst hat und das Feld seiner Beschäftigung noch in sich findet, ohne schon über seine Subjektivität hinaus zu sein; sie ist die Psychologie im engeren Sinne. Anthropologie, Phänomenologie und Psychologie im engeren Sinne sind also die drei Bestandteile der Philosophie des subjektiven Geistes oder der Psychologie im weiteren Sinne. In einer Gliederung Hegels, die sich in dem im Jahre 1812 angefertigten Gutachten „Über den Vortrag der philosophischen Vorbereitungswissenschaften' auf Gymnasien" befindet, wird der „Vortrag der Psychologie in zwei Teile", in nur zwei Teile, wie zu bemerken ist, nämlich „a. des erscheinenden, ß. des an und für sich seienden Geistes" gehälftet. (SW 3, 305) Diese Einteilung der Psy-
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citologie überhaupt enthält also nur die Phänomenologie und Teile der Psychologie im engeren Sinne. Sie war jedoch nicht systematisch bedingt, sondern hatte ausschließlich didaktische Gründe, die nach Hegels Meinung für den Vortrag auf der „Mittel-Klasse" des Gymnasiums geltend gemacht werden mußten. Die Gliederung dieses Schulgutachtens braucht demnach in einer grundsätzlichen Betrachtung nicht verfolgt zu werden. Die Einteilung der Philosophie des subjektiven Geistes in ihre drei Abteilungen ist weder zufällig noch erkünstelt, sondern einfacher Ausdruck der umfassenderen Annahme, die davon ausgeht, daß diese Einteilung einer Entwicklung entspricht, die das Prinzip aller Entwicklung realisiert, die damit eben den Begriff realisiert und zur Idee wird, d. h. ihre Bestimmung setzt und dann für sich hat. Diese Entwicklung geschieht für den subjektiven Geist innerhalb seiner selbst; die Entwicklung des subjektiven Geistes ist also, „daß er . . . in der Form der Beziehung auf sich selbst ist, innerhalb seiner ihm die ideelle Totalität der Idee, d. i. das, was sein Begriff ist, für ihn wird, und ihm sein Sein dies ist, bei sich, d. i. frei zu sein, - subjektiver Geist". (SW 10, 39) D i e Realisierung des Begriffs ist Subjektivierung der Substanz und Bestimmung zur Freiheit. Dies bedingt hinsichtlich der Subjektivierung die Linie: Leiblichkeit (Anthropologie), Bewußtsein (Phänomenologie), Geist selbst (Psychologie im engeren Sinne) und hinsichtlich der Selbstbestimmung die Linie: Allgemeinheit der Unmittelbarkeit in leiblicher Erstreckung des Seelischen (Anthropologie), Besonderung zum Für-sich-sein und Gegen-anderes-sein in Bewußtsein und Selbstbewußtsein (Phänomenologie), Einzelheit als Negation der besonderten Allgemeinheit oder An-und-für-sich-sein als Negation des Nur-für-sich-seins des An-sich-seins in der sich endlich in sich bestimmenden Geistigkeit (Psychologie). In deskriptiver Fassung besagt die Logizität dieser Entwicklung: Auf der Stufe der Anthropologie tritt die Subjektivität als menschliche Natürlichkeit auf. Sie lebt in jahreszeitlichen Rhythmen, in Rassengliederung, hat individuelles Temperament, bestimmtes Lebensalter, ist Mann oder Frau, schläft oder wacht. Sie ist „natürliche" Subjektivität, die sich zu „fühlen" lernt und schließlich auf sich als „wirklich" stößt. Auf der Stufe der Phänomenologie hat die Subjektivität im Leib ein Bewußtsein gewonnen, das immer auf etwas, u. z. nur auf etwas gerichtet ist (somit „besonderes" ist). Passiv ist dieses Bewußtsein sinnliches, das betroffen wird; aktiv Begierde, die haben will. Es entsteht der unausweichliche Konflikt mit Dingen und Menschen und der Kampf um die Anerkennung; schließlich bildet sich durch Negation der Begierde das allgemeine Selbstbewußtsein. Durch das Zusammenfallen der letzten noch bestehenden Unterschiede arbeitet sich die Vernunft heraus. Auf der Stufe der Psychologie schließlich ist die Subjektivität die Einzelheit, d. i. Individualität, die sich selbst voll weiß und die theoretisch als Intelligenz, praktisch als Wille produziert und frei ist. Die Selbstbestimmung des subjektiven Geistes ist vollendet, nachdem er auf allen drei Stufen jeweils das Verhältnis theoretisch-praktisch-frei durchlaufen h a t : In der Anthropologie ist die Seele a) als seiende, natürliche, das, was nur ist,
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nichts tut, somit an-sich-theoretisch, b) als fühlende im „Verhältnis" zur Unmittelbarkeit, somit unmittelbar praktisch, c) als wirkliche in ihren Leib eingegangen, das Allgemeine in seiner Belebung, und dadurch frei. In der Phänomenologie ist das Bewußtsein in erster Linie zwar immer reflexiv oder im Verhältnis und damit grundsätzlich praktisch, a) als Bewußtsein als solches (als sinnliches Bewußtsein der einfachen, unvermittelten Gewißheit des Gegenstands, als wahrnehmendes Bewußtsein der wissenschaftlichen Positivität, als verständiges Bewußtsein in der Konfrontation mit den Gesetzen der Erscheinung, ihrem ruhigen allgemeinen Abbild) aber im einzelnen theoretisch, b) als Selbstbewußtsein in Begierde, Furcht und Anerkennung praktisch, c) als Vernunft als Identität der Subjektivität des Begriffes und seiner Objektivität frei. In der Psychologie ist der Geist a) theoretisch als Anschauung, Vorstellung und Denken — er verhält sich intelligent, b) praktisch als praktisches Gefühl, Trieb und Willkür und als die Glückseligkeit, die die nur vorgestellte, abstrakte Allgemeinheit des Inhalts ist, welche nur sein soll - er verhält sich willentlich, c) frei als selbstbestimmter in gesetzter unmittelbarer Einzelheit, die der Allgemeinheit fähig ist; so ist er der nur einzelne Geist, der sich als die Bestimmung weiß, die seinen Inhalt und seinen Zweck ausmacht. Dieser Durchgang durch die drei Stadien des subjektiven Geistes ist ein Ausschnitt des Weges des Geistes überhaupt, u. z. genau der Ausschnitt, auf dem er seine Subjektivität so frei für sich gewinnt, daß er sie damit endlich überwinden kann, um objektiv und absolut zu werden. Auf diesem Weg werden Zustände der Funktionen eines Konstrukts beschrieben, das Hegel Geist nennt und das zu mannigfachen Interpretationen auffordert (vom Absoluten bis zum logisdien Begriff), das aber nicht „Mensch" genannt werden kann. Es ist nicht möglich, die Philosophie des subjektiven Geistes als „Darstellung des Menschen selbst", auch nicht als „Wesen des Menschen selbst in seiner Sinnhaftigkeit" bzw. als „Werden des konkreten Menschen" zu bezeichnen, wie diesFetscher tut. (vgl. Fetscher 1970, 28) Über diese Verhältnisse hat Hegel sich eindeutig geäußert: In der Anthropologie ist der Geist als die Wahrheit der Natur zunächst nur natürliche Seele; sie wird dann als fühlende Seele individuell durch den Bezug auf unmittelbares Sein, und sie wird als leibliche Seele wirklich. Das Telos ihrer Wirklichkeit ist aber nicht der homo ineffabilis, sondern das Bewußtsein der Phänomenologie, das das kategoriale Ich darstellt, das sich aus der Objektivität in sein Für-sich zurückgezogen hat und das sich erst dadurch wieder, daß es Begriff und nicht Realität ist, auf die Objektivität als sein Anderes beziehen kann. „Indem der Geist hier nicht mehr als Seele ist, sondern in der Gewißheit seiner selbst die Unmittelbarkeit des Seins vielmehr die Bedeutung eines Negativen für ihn hat, so ist die Identität, in der er im Gegenständlichen mit sich selbst ist, zugleich nur noch ein Scheinen, indem das Gegenständliche auch nodi die Form eines Ansidiseienden hat." (L 2, 436 f.) Das Bewußtsein der Phänomenologie steht zwischen Naturgeist und freiem Geist; seine Schwierigkeiten, die seine Entwicklung vorantreiben, entstehen dadurch, daß es für sich ist und sich zugleich auf anderes
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bzw. sein anderes beziehen soll und dadurch insgesamt praktisch sein muß. Die Psychologie im engeren Sinne schließlich betrachtet nicht einen in der Phänomenologie mündig gewordenen homo faber, sondern den Geist, der sich in seinem Gegenstand jetzt nicht auf sein anderes, sondern in ihm „sich nur auf sich selber bezieht, darin nur mit seinen eigenen Bestimmungen zu tun hat, seinen eigenen Begriff erfaßt. So kommt der Geist zur Wahrheit; denn nun ist die in der bloßen Seele noch unmittelbare, noch abstrakte Einheit des Subjektiven und Objektiven durch Aufhebung des im Bewußtsein entstehenden Gegensatzes dieser Bestimmungen als eine vermittelte wieder h e r g e s t e l l t . . . In dieser Gestalt ist der Geist die f ü r sich selbst seiende Vernunft." (SW 10, 51) Die Psychologie im engeren Sinne analysiert also die Funktionsweisen des Geistes, gefaßt als Tätigkeiten, ohne die Form, die in der Anthropologie die Naturbestimmung, in der Phänomenologie die Gegenstandsverfloditenheit bedingt, und ohne den Inhalt, der der Erscheinung nadi sich im empirischen Vorstellen, im Denken, in der Begierde und im Willen findet. Auch die Funktionsweisen, die die Psychologie im engeren Sinne analysiert, sind nicht solche des Menschen oder am Menschen, sondern solche eines Konstrukts, eben des Hegeischen Geistes.
Die Beziehung zwischen der triadischen Spekulation und den empirischen Ergebnissen An dieser Stelle muß noch einmal auf das im vorangegangenen Paragraphen betrachtete Verhältnis zwischen der empirischen und der spekulativen Psychologie zurückgegriffen werden. Denn dieses Problem erhält in der Durchführung der Philosophie des subjektiven Geistes einen neuen, inhaltlich psychologischen Akzent. Von Hegel war - wie erinnerlich - versprochen worden, daß die Spekulation die Empirie achten würde, daß sie in diese nur neue Kategorien einführen und in ihr zur Geltung bringen müßte. Dies würde bedeuten, daß in der spekulativen Durchdringung des Faktenwissens kein empirischer Inhalt überfremdet oder beseitigt würde. Dieses Versprechen gerät aber offensichtlich mit einer Eigenschaft des dialektischen Verfahrens in Konflikt. In ihm ist es nämlich nicht möglich, daß Inhalte, die an einer bestimmten Stelle des Systems dem Aufhebungsprozeß unterzogen wurden, danach in ihm noch einmal kategorial behandelt werden können. Solche Inhalte können bei späterer Gelegenheit höchstens als Darstellungsmaterial zur Verfügung stehen. Es wäre also beispielsweise durchaus konsequent, wenn in der Psychologie im engeren Sinne die psychischen Funktionsweisen ohne die Inhalte und Formen untersucht werden, die ihnen systematisch früher, nämlich in der Anthropologie und der Phänomenologie, noch zukommen. Nicht die Systemkonsequenz ist also in Frage gestellt, wenn erwogen wird, ob das Recht der Empirie nicht durch die Spekulation verletzt wird: Die Spekulationstechnik des Geistsystems kann und muß den kategorialen Fortschritt höher achten als das Recht der Inhalte. Diesem Anspruch steht aber entgegen, daß positive wissenschaftliche Ergebnisse grundsätzlich jederzeit verknüpfbar
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und korrelierbar sind; in die dialektische philosophische Spekulation sind sie dagegen nur an jeweils einer Stelle einführbar, die einseitig durch die enzyklopädische Systematik vorbestimmt ist. Eine Majorisierung der psychologischen Empirie durch die Philosophie des Geistes läßt sich also nicht abstreiten. Dabei scheint Hegel die Konsequenz der Systematik nicht einmal selbst durchgehalten zu haben, denn er arbeitet in der Anthropologie ζ. T. mit Antizipationen, die in diesem Systemteil oft kategorial noch gar nicht zur Verfügung stehen dürften, sondern der Phänomenologie angehören; und in der Psychologie benutzt er vielfach immer noch kein anderes Material, (vgl. Fetscher 1970, 12 ff.) Die Phänomenologie handelt - wenn man an einige der Begriffe erinnert, die Hegel selbst herausgehoben hat - von Trieb, Begierde, Kampf, Gefahr, anerkennendem Selbstbewußtsein. Die Anthropologie sieht aber schon wie eine Vorwegnahme dessen aus: Sie beginnt nur harmonisch mit der Einbettung der natürlichen Seele in das planetarische Leben; die Entwicklung wird jedoch bald höchst unfriedlich: Bestimmungen der Leiblichkeit werden annektiert - „innerlich gemacht", der Leib wird „durchdrungen", die Seele ist „ausschließend", das Subjekt ist im „Widerspruch", die Seele hat „Besitz" usw. Nicht daß die Entwicklung der Seele in einem Konfliktmodell gedacht wird, ist an dieser Behandlung von vornherein zu bemängeln, sondern daß die Seele auftritt, als ob sie schon Bewußtsein wäre, als ob sie schon den Gegenstand als ihr anderes bearbeiten könnte. Erst diese dem System widersprüchliche Antizipation macht es möglich, daß die Seele in der Anthropologie „arbeiten" und Objekte haben kann. Damit ist die Logik des Systems verletzt, und die Phänomene werden kategorial stellenfalsch behandelt. Fetscher glaubt, dies entschuldigen zu können: „Die Benutzung der an der Analyse des Bewußtseins gewonnenen Einsichten für die Analyse der Seele und ihrer allmählichen Emanzipation von der „Natur" ist freilich unvermeidlich und notwendig, soll überhaupt in jene Bereiche „Licht" gebracht werden." (Fetscher 1970, 12) In solcher Perspektive wird allerdings aus einem Bedürfnis ein Garant; der Einwand, daß aus unzulässiger Beschreibung kaum die zutreffende Kategorialität erwachsen kann, bleibt bestehen. Die Anwendung von Bewußtseinsmomenten auf die Seele der Anthropologie kann doch selbst in Hegels Denken und in Anwendung hermeneutischer Repetition ihr Ziel nur erreichen, wenn das Aufgehen der Seele im Bewußtsein garantiert wäre, noch ehe es eben denkerisch gesichert ist. Da die Erwartung aber kein Denkinstrument ist, kann so nur ein unmögliches Begründungsverfahren aussehen. Erwartet werden kann ja auch, daß eine kategoriale Traktierung der Seele unter Benutzung der Bewußtseinsmodi nichts bringt und nicht zulässig ist, wie der Standpunkt des psychologischen Operationalismus lautet. — Entsprechend gilt für die Psychologie im engeren Sinne, daß Intelligenz und Wille, denen die Gegenstände nicht mehr als „ihr anderes" gegenüberstehen, die Konfliktkategorialität der Phänomenologie vollständig hinter sich gelassen haben müßten und nur noch von den Produktionen ihrer „eigenen Innerlichkeit" lebten. Diese Forderung mag deskriptiv unerfüllbar klingen, kategorial muß sie gestellt werden.
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Die Stellung der Psychologie im System, so wie sie Hegel enzyklopädisch fixiert hat, ist von den Hegelianern, wie schon gesagt, selten verändert worden. Allenfalls Worte werden ausgetauscht: So wird die Psychologie im engeren Sinne manchmal Pneumatologie genannt. Hegel reserviert „Pneumatologie" dagegen für die Psychologie des Rationalismus vor ihm. (vgl. SW 10, 11 f.) Michelet gliedert die Philosophie des subjektiven Geistes ähnlich wie Hegel, gebraucht aber die Begriffe: Seelenlehre statt Anthropologie, Erkenntnislehre statt Phänomenologie, Wille statt Psychologie. Bei seiner Darstellung ist es eines Hinweises wert, daß er die Rolle der Intelligenz reduziert, aber von den Momenten der Individualität zwei im subjektiven Geist behandelt. Erstens untersucht er den „Charakter" im 1. Kapitel und faßt ihn unter den natürlichen Qualitäten der Seele als Naturqualität des Individuums, sieht ihn also als angeboren an (1. Kapitel: Die Seelenlehre, A Die natürlichen Qualitäten der Seele, 3 Die Naturqualitäten des Individuums, c Der Charakter; vgl. Michelet, 1876, III). Zweitens wird die „Person" im 3. Kapitel behandelt (3. Kapitel: Wille, C Der freie Wille, 1 Die Person). Die Person als Wille wird bei Michelet also noch im subjektiven Geist behandelt, nicht erst im objektiven Geist, wie bei Hegel selbst, (vgl. Enz 391 ff.) Auch an der Großordnung des subjektiven, objektiven und absoluten Geistes hielt die Schule grundsätzlich fest.
Psychologische Kritik der Triade Das Verhältnis der drei Regionen der Philosophie des Geistes zueinander ist eine Analogie der drei Regionen Logik, Natur, Geist; diese drei sind das einzige Arbeitsfeld der absoluten Idee und ihrer Durchgänge: Das Logische muß, weil es abstrakt gegen die Natur ist, in ihr aufgehoben werden; die Natur erleidet die nämliche Erhöhung im Geist. Das Arbeitsfeld des Geistes besteht entsprechend aus den Regionen seiner Subjektivität — des Durchganges von seiner Natürlichkeit zu seiner Befreiung in sich - , seiner Objektivität - des Durchganges durdi Recht, Moralität, Sittlichkeit unter der Idee des Guten - , seiner Absolutheit - des Durchganges durch Kunst, Religion, philosophische Wissenschaft als Anschauung, Glaube, Gedanke. Im absoluten Geist sind alle anderen Regionen aufgehobene Momente geworden, die Spekulation hat sich an ihr Ende gebracht. Diese gesamte Ordnung wird von Hegel in ununterbrochener dialektischer Progression entwickelt; sie ist das Bekannteste seiner Philosophie geworden und hat ihm den Anspruch des Allbegreifenden, des Schöpfers des größten Systems der Philosophiegeschichte, eingetragen. Und doch ist in einer psychologischen Untersuchung skeptisch zu fragen, ob diese anscheinend gewaltige Ordnung nicht die Uberdehnung eines schlichten triadischen Mechanismus ist, der das Denkbedürfnis so sehr zufriedenstellt, weil es ihm gelingt, die großen Fragen nach Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft in seine eigene Prozedur aufzunehmen: In ihr wird die entzweiungslose Ganzheit der „stets besseren" Fülle der Vergangenheit zur These herabgesetzt und damit hereinholend „bezwungen", mit
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der Punktualität der nichts-sagenden Leere der Gegenwart antithetisch verglichen, und beide zusammen werden in die unendliche Erwartung der synthetischen Zukunft hinein verneint, bewahrt, verklärt. Für die Fähigkeiten des triadischen Mechanismus zu beruhigen, zufriedenzustellen, überhaupt Antworten zu wissen, sei zunächst an seine religionspsychologische Vergangenheits-Gegenwarts-Zukunfts-Deutung bei Fetscher erinnert. Gerade an der Triade des subjektiven Geistes versuchte Fetscher eine entsprechende Reduktion: „Wenn man will, könnte man . . . in der Dreiteilung . . . einen religiösen Zug sehen: der erste Teil schildert (cum grano salis) den paradiesischen Zustand der vollkommenen, ungetrennten Einheit des Menschen mit dem Leben der Natur; am Anfang des zweiten Teiles (der Phänomenologie) stünde der Sündenfall, das Erwachen des Bewußtseins, ,der Blitz des Bewußtseins', wie Hegel sagt; und der letzte Teil würde die ,Versöhnung* und ,Erlösung' der Menschheit bringen, ihre freie Rückkehr zu Gott und in die Einheit alles Seins." (Fetscher 1970, 230) Wahrscheinlich braucht man aber nicht so weit wie Fetscher zu gehen und die Religion in diesem Zusammenhang namhaft zu machen. Für den rechtshegelianischen Standpunkt brächte diese Interpretation übrigens den Gewinn, daß das Verfahren des Systems den Heilsvorgang kopierte, für den linkshegelianischen den anderen Gewinn seiner Entlarvung als säkularisierter Religionsvorstellung. Der triadische Mechanismus erlaubt nämlich eine viel einfachere biographische Interpretation: Die als glückvoll verklärte Kindheit - die „Substanz", die „die absolute Grundlage aller Besonderung und Vereinzelung" ist (vgl. Enz 318 [„Die Seele"]) - wird mit der Entzweiung des bewußten Jetzt - „Ich als diese absolute Negativität", „der Widerspruch" (vgl. Enz 344 [„Das Bewußtsein"]) - verglichen, dies aber in der Erwartung, daß beides in einer besseren Zukunft aufgehoben werde, ohne den Druck der Wirklichkeit sei - „der Geist", der in seinem Wissen nicht mehr „beschränkt" ist (vgl. Enz 355 [„Der Geist"]). So enthält der triadische Medianismus die Vorstellungen der ungebrochenen Unmittelbarkeit der Vergangenheit, des bewußten Kampfes der Gegenwart und der Hoffnung auf eine versöhnte Zukunft in einem : der Anfang wird als das Bergende und die Vergangenheit als natürlich gedacht, die Aktualität als im Gegensatz und die Gegenwart als durdi Arbeit betroffen, das Ende als die Versöhnung und die Zukunft als das Bessere schlechthin. Rütteln an diesen eingefleischten biographischen Mustern kann nur schreckliche Hoffnungslosigkeit oder die „zersetzende" Tätigkeit der positiven Wissenschaft mit ihrer Destruktion der Berechtigung der Anfangsverklärung und der Endesversöhnung. Sonst beherrscht dieser Mechanismus den sich nach Natürlichkeit, Behaglichkeit, Versöhnung sehnenden menschlichen Geist 1 . 1
Dies gilt audi für die Stunden der Not: so prägte beispielsweise die Vidiy-Regierung schon auf ihre ersten Münzen „famille" (das Bergende), „travail" (das Entgegensetzende), „patrie" (das Versöhnende); ebenso gilt es noch für die Augenblicke der zwanghaften Äußerlichkeit: so folgt das Schema der sog. Wiener Operette ausnahmslos, das der Boulevardkomödie fast ausnahmslos, der Triade, und beide Typen be-
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Der Vorwurf der inflationären Projektion „des ekstatisdi-kathartischen Motivs der Weltüberlegenheit" des „wahren" Geistes (vgl. Topitsch 1967) kann somit gegenüber der dialektischen Spekulation weiter bestehenbleiben: „Eine solche Kombination ist vor allem Hegels Grundauffassung des Weltlaufes als eines Heilsgeschehens, in welchem der ursprünglich noch ungegliederte ichhafte Weltgrund sich zur Vielfalt der Dinge und der empirischen Iche differenziert, entzweit und verendlicht, auf dem Wege über diese notwendige negative Phase das in ihm keimhaft angelegte Telos einer harmonisch gegliederten „Normgestalt" realisiert und sich zugleich dieses ganzen Prozesses als der Verwirklichung seines eigenen Wesens bewußt wird, wobei die Einzeliche, in denen diese Bewußtwerdung geschieht, dadurch die Wiedervereinigung mit dem nun zur objektiven Weltordnung entfalteten Weltgrund vollziehen." (Topitsch 1967, 51) Ñadí Topitsch sind die Hegeischen Triaden nidit Ergebnisse eines immanenten Fortschreitens des Denkens, sondern ihm importiert, u. z. mit Hilfe kosmogonischer Vorstellungen, die auf psychologische Projektionen zurückgeführt werden können. Der Rang des Hegeischen Denkens wird durch solche Erwägungen nicht tangiert; die Bedeutung eines Denkens bestimmt sich - allgemein und von Hegel einmal abgesehen - nicht durch den Anteil der Bedingtheit seiner Motive, sondern durch das darüber hinausgehende Wagnis seiner Einfälle. Vielleicht ist Hegel weiterhin sogar ein Denker, dessen Bedeutung durch die Annahmen, die man über seine Voraussetzungen gewinnt, sehr wenig berührt wird, und zwar, weil in seiner Philosophie - ihrem eigenen Anspruch nach - nichts auf der Unmittelbarkeit des Gedankens beruht, sondern alles nur auf seine Durchführung ankommt: Die Arbeit des Begriffes ist danach der Ort seiner Prüfung, nicht seine Entstehung. Gerade der Idealismus der Traktabilität schützt den Begriff vor der Invektive des Psychologismus: Die Psychologie selbst wird so von der Arbeit des Systems „verschlungen" und erhält ihren „Platz" in ihm angewiesen. Sogar radikal psychologistische Thesen würden systemtechnisch mit der „Zweiten Stellung des Gedankens zur Objektivität" in seiner ersten Abteilung „Empirismus" eingefangen. Die Beweisführungen des Psychologismus außerhalb des Anspruchsbereiches des Hegeischen Systems werden freilich davon künden gerade in der Unmöglichkeit unschematischer Konfliktfähigkeit ihre Leere, während das Schauspiel und die klassische Tragödie, die beide eine wirkliche Spannung auszutragen oder auszuhalten haben, ihre Kraft aus der Ungewißheit der Entwicklung ihrer Personen und ihrer Schicksale beziehen. Auch dem seltenen Typ der lächelnd wissenden Komödie fehlt es durchaus nicht an der Entwicklung tragischer Differenz neben „dem jungen Glück"; die Erhebung des realen Schmerzes des Verzichts in das Bewußtsein des befriedeten Zusehens läßt durchaus die Kraft der Einsicht spüren, die nicht alles „aufheben" will, sondern die versöhnte, aber eben nicht „vermittelte" Parallelität erträgt. (Man denke an Hans Sachs' Verzicht zugunsten Walthers und Evas, an der Marschallin Verzicht zugunsten Octavians und Sophies.) Dieser Typ fällt freilich der Sache nach eher unter die Gattung des Schauspiels als unter die des „komischen" Lustspiels, also der Komödie im engeren Sinne.
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nidit betroffen. So stehen sich dialektische Hermeneutik und thetisdier Psychologismus letztlich unversöhnlich gegenüber. Hegels Kritik an Rationalismus und Empirismus Auch bei diesem Problem ist der „Geist" abermals der Bezugspunkt: Dem Psychologismus zufolge war seine hauptsächlidie Geschichte bisher Verfallenheit an seine eigenen Einbildungen und Projektionen; für die Hegeische Geistphilosophie ist seine gesamte Entwicklung ausschließlich sein Sidiselbsterheben zu seiner Wahrheit. Deshalb haben in Hegels Theorie die Seelenkräfte ihren Sinn nicht in sich, sondern als Aufgabe vor sich: sie sollen dienende Stufen in dieser Erhebung sein. „Durch diese Selbstunterscheidung, durch dies Sichumgestalten und durch die Zurückführung seiner Unterschiede zur Einheit seines Begriffs ist der Geist, wie ein Wahres, so ein Lebendiges, Organisches, Systematisches, und nur durch das Erkennen dieser seiner Natur ist die Wissenschaft vom Geiste gleichfalls wahr, lebendig, organisch, systematisch; - Prädikate, die weder der rationellen noch der empirischen Psychologie erteilt werden können, da jene den Geist zu einem von seiner Verwirklichung abgeschiedenen, toten Wesen macht, diese aber den lebendigen Geist dadurch abtötet, daß sie denselben in eine vom Begriff nicht hervorgebrachte und zusammengehaltene Mannigfaltigkeit selbstständiger Kräfte auseinanderreißt." (SW 10, 17) Damit werden die beiden Haupttypen psychologisdier Theoriebildung außerhalb des eigenen Denkens von Hegel kritisiert: Der Rationalismus verkenne den Subjektivitätscharakter des Geistes, indem er ihn als Substanz fasse. In § 20 „Begriff und Seele" wird allerdings gefragt werden, ob die von Hegel gewählte Formulierung auch seine wirklichen Absichten wiedergibt, ob er nicht dem Rationalismus weniger einen Substantiierungsvorwurf macht als den der Passivität des Subjekts, weil in ihm Seele und Geist nicht als nur-aktiv gedacht werden. Im Vorgriff darauf sei nur der Tenor bezeichnet: Die rationalistische Psychologie bestimmte Seele und Geist nach Kategorien des Verstandes, indem sie die Fragen der Einfachheit, der Substanzialität, der Immaterialität behandelte. Ohne Zweifel wurde die Seele damit analog einem Gegenstand der Physik der Neuzeit betrachtet: „Denn jene Kategorien wurden dabei, nach der allgemeinen Weise des Verstandes, als ruhende, feste angesehen; so sind sie unfähig, die Natur des Geistes auszudrücken; der Geist ist nicht ein Ruhendes, sondern vielmehr das absolut Unruhige, die reine Tätigkeit." (SW 10, 12 f.) Der Vorwurf der dinganalogen Solidität schließt den der Ermangelung der Tätigkeit ein, so viel ist im voraus schon klar. (vgl. § 20. Begriff und Seele) Der Empirismus (und auch der Psychologismus) aber fasse den Geist nicht als in seinen Einzelheiten vom Begriff hervorgebracht. Recht besehen warnt Hegel übrigens nicht vor jedem Psychologismus; er fordert vielmehr zu ontologischem Psychologismus auf, wenn ihm vorschwebt, daß der Begriff als Subjektivität
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den Geist im Entwurf seiner eigenen Mannigfaltigkeit produzieren soll. Wenn der Begriff selbst aber produzieren, hervorbringen, gestalten, zur Einheit zurückführen soll, so handelt es sich um absolut-idealistische, metaphysische Vorstellungen. Eine nur transzendental-logisdie Interpretation dieses Hervorbringens im Sinne neukantischer oder phänomenologischer Konstitution oder Leistung scheint sich somit auszuschließen; dies audi deswegen, weil Hegel dem Begriff nicht nur seine logische Genesis als Aufgabe überträgt, sondern audi seine Wirklichkeit in der Zeit; dies kann nur als realer Vorgang, nidit nach Art einer transzendental-logischen, nicht in Realität zu übersetzenden Voraussetzung gedacht werden. „. . . es wird gehandelt, weil das Tun an und für sich selbst das Wesen der Wirklichkeit ist." (Phän 293) Das Tun als Wesen der Wirklichkeit erhebt Anspruch auf die metaphysische Produktion der Realität aus dem Begriff, nicht nur auf die transzendentale Klärung der Bedingung ihrer Möglichkeit. I m Grunde wirft Hegel dem Rationalismus und der Empirie dasselbe vor, daß sie nämlich von einem vor seinem Auftreten fertigen Geist ausgingen: Der Rationalismus setze dabei ein fertiges Ganzes voraus (Geistseele als Substanz), der Empirismus fertige Teile (Vermögen und Kräfte ohne ontologisdien Zusammenhang, aber gedacht als reale Dispositionen). Für Hegel dagegen ist der Geist „nur durch die bestimmten Formen seines notwendigen Sichoffenbarens in Wahrheit wirklich." (SW 10, 13) Dies ist ein Geistbegriff, in dem nur das wahr genannt werden kann und in dem sich überhaupt nur von dem sprechen läßt, was als Prozeßprodukt erscheint. Die Konsequenzen eines solchen Modells sind heute deutlicher geworden, als sie es zu Hegels Zeiten schon waren: Denkt man aus ihm die Teleologie fort, die „notwendig" genannt wird, dann ist der Geist zwar nicht mehr Geist in Hegels kategorialer Entwidslungslogizität, aber ihn trennt in psydiologisdier Hinsicht immer nodi fast alles von rationalistischen oder empirischen Vorstellungen dispositioneller Art, dagegen fast nichts mehr von streng behavioristischen Ansätzen. Strukturvorstellungen des substantiellen Seelischen, mögen sie rational oder empirisch gewonnen worden sein, fassen ihren Gegenstand transphänomenal auf; der Behaviorismus und Hegels Theorie verfahren streng phänomenalistisch (bei allen anderen Unterschieden). Der Behaviorismus korreliert das Auftreten der Reaktionen mit der Kontingenz der Stimuli: der Ausweis des organismischen Reaktionsprodukts als psydiophysikalisdier E r s c h e i n u n g ist das einzige Verifikationsfeld der Äußerungen der lebenden Individuen; Hegel prästabiliert die Prozessualität des „Geistes" mit der Notwendigkeit des E r s c h e i n e n s des Geistes als Begriffs. (Insofern hat die „Phänomenologie des Geistes" demonstrativen Charakter, auf den jede Psychologie verzichten kann, was ebenfalls die Bedeutung der „Phänomenologie des Geistes" für sie mindert.) Die Konvergenz der Notwendigkeit und des Erscheinens ist die strenge Entwicklung des Begriffs durch die Stadien des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen. „Jede dieser Bestimmungen für sich genommen wäre eine bloße ein-
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seitige Abstraktion. In dieser Einseitigkeit jedoch sind sie nicht im Begriffe vorhanden, da er ihre ideelle Einheit ausmacht. Der Begriff ist deshalb das Allgemeine, das sich einerseits durch sich selbst zur Bestimmtheit und Besondrung negiert, andererseits aber diese Besonderheit, als Negation des Allgemeinen, ebensosehr wieder aufhebt. Denn das Allgemeine kommt in dem Besonderen, welches nur die besonderen Seiten des Allgemeinen selber ist, zu keinem absolut Anderen und stellt deshalb im Besonderen seine Einheit mit sich als Allgemeinem wieder her. In dieser Rückkehr zu sich ist der Begriff unendliche Negation; Negation nicht gegen Anderes, sondern Selbstbestimmung, in weldier er sich nur auf sich beziehende affirmative Einheit bleibt. So ist er die wahrhafte Einzelheit als die in ihren Besonderheiten sich nur mit sich selber zusammenschließende Allgemeinheit." (SW 12, 157) Die Wahrheit, die der Geist erarbeitet, u. z. an und für sich selbst, soll er somit auch in sich selbst finden; die empirischen Erfahrungsdaten können nicht ernsthaft mit diesem Ergebnis verglichen werden; gefaßt werden können sie nur aus der Idee. (vgl. L 2, 435) Alles, was einzelheitlich existiert, hat endlich Wahrheit nur aus der Idee: „Denn die Idee ist das allein wahrhaft Wirkliche." (SW 12, 159) Die Wirklichkeit aller Individuen wird wahr erst, indem sie sich mit ihrem Begriff konform zeigt. Wenn diese Identität sich nicht auftut, sind die Individuen nicht die Erscheinungen ihrer wirklichen Existenz, sondern Nur-Erscheinungen, die entweder nidits oder nur Perspektiven eines Begriffs enthalten. „So ist denn nur die dem Begriff gemäße Realität eine wahre Realität, und zwar wahr, weil sich in ihr die Idee selber zur Existenz bringt." (SW 12, 160) Durch die begriffliche Arbeit von jeder einzelnen Realität aus kann deshalb der Zugang zur Wahrheit und zur ganzen Wahrheit gefunden werden, oder, was dasselbe ist, jedes Individuum verweist auf den ganzen Geist. So nur ist es auch erst es selbst. Das gleiche gilt für die Funktionsweisen des Geistes als Subjektivität, die psychischen Funktionen: „Jedes Moment der Psychologie: Empfindung, krankes Selbstgefühl, Phantasie, Sprache, Denken usw. ist einer umfassenden Darstellung fähig, denn jedes ist relativ der ganze Geist und breitet sich in sich selbst zu einer Unendlichkeit aus." (Rosenkranz 1843, XV)
§ 8 Gesetze der Psychologie Das Problem der gesetzmäßigen Erfassung des Seelischen Zwischen einem Gesetz und den unter ihm zu ordnenden Fällen muß ein Verhältnis bestehen. Mit der Untersuchung und Fassung dieses Verhältnisses beschäftigt sich die Wissenschaftstheorie, ein Gebiet, das zu Hegels Zeiten in den ersten Anfängen steckte. Hegel geht dieses Problem denn auch nicht in der analytischen Weise der Wissenschaftstheorie an, sondern konstruktiv-philosophisch. Die in seinem ganzen Werk immer wiederkehrende Grundformel zur
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Definition des Problems besagt, daß das Gesetz der beständige Ausdruck der unbeständigen Ersdieinung sei. (vgl. Phän 114ff.; SW 3, 105; L 2, 126ff.) Das Corpus der Gesetze, „Reich der Gesetze", wird auch „übersinnliche Welt" (Phän 115) genannt. („Übersinnlich" meint bei Hegel selbstverständlich nur nicht-sinnlich-erfahrbar, nicht aber irgendwie über-sinnlich-sdiaubar o. ä.) „Die übersinnliche Welt ist . . . ein ruhiges Reich von Gesetzen, zwar jenseits der wahrgenommenen Welt, denn diese stellt das Gesetz nur durch beständige Veränderung dar, aber in ihr eben so gegenwärtig, und ihr unmittelbares stilles Abbild." (Phän 115) Das Verhältnis zwischen Gesetz und Fall wird von Hegel weiteren Klärungen unterworfen: Einmal versucht er nachzuweisen, daß zwischen Gesetz und Fall eine Differenz bestehenbleibt - was niemand bestreiten würde - , daß diese Differenz aber für die Auffassung des Gesetzes ebenso wichtig sei wie für die des Falles: Daß das Gesetz den Fall bzw. die Erscheinung nicht ausfüllen könne, sei ein Mangel an ihm selbst. Verständlich sei er dadurch, daß das Gesetz nur als einzelnes sei, nicht als allgemeines Gesetz; als einzelnes trage es in seiner Bestimmtheit den Mangel mit sich, daß es unbestimmt viele einzelne Gesetze gebe. Dieser Nachteil könne nur dadurch beseitigt werden, daß alle Gesetze zusammengelegt würden; damit aber verlören sie ihre Bestimmtheit. „Die Vereinigung aller Gesetze in der allgemeinen Attraktion drückt keinen Inhalt weiter aus als eben den bloßen Begriff des Gesetzes selbst, der darin als seiend gesetzt ist. Die allgemeine Attraktion sagt nur dies, daß alles einen beständigen Unterschied zu anderem hat. Der Verstand meint dabei, ein allgemeines Gesetz gefunden zu haben, welches die allgemeine Wirklichkeit als solche ausdrücke; aber er hat in der Tat nur den Begriff des Gesetzes selbst gefunden; jedoch so, daß er zugleich dies damit aussagt: alle Wirklichkeit ist an ihr selbst gesetzmäßig." (Phän 115 f.) Diese Konsequenz besagt: alles ist Gesetz, Vernunft, logisch, oder: τό πάν εστι λογιστικόν. Man erfährt statt eines allgemeinen Gesetzes also schließlich eine These, die Begriff des Gesetzes genannt wird und die besagt, daß nichts außerhalb eines Gesetzes gedacht werden könne. Wie werden nun die besonderen seelischen Phänomene und die Gesetze in Hegels Theorie in ein Verhältnis treten können? Zunächst könnte man erwarten, daß Hegel das Seelenleben ebenso wie die Natur als gesetzmäßig ordnungsfähig ansieht, daß er Gesetze der Psychologie anerkennt. Diese Erwartung täuscht aber weitgehend, wie eine Betrachtung der Gliederung der psychischen Phänomene in der Hegeischen Auffassung ergibt. Hegel unterscheidet zumindest methodisch zwei Grundklassen psychischer Phänomene (die von psychologischen Gesetzen erfaßt werden müßten). Erstens sind es solche, in denen der Geist sich passiv verhält: er empfängt die Wirklichkeit in sich und wird den vorgefundenen Eindrücken, Gewohnheiten, Sitten, Denkstilen usw. gemäß. Heute würde man hierbei von Lernverhalten sprechen. Der Unterschied läge nur darin, daß für die Lerntheorien die objektive Wirklichkeit gegenüber den subjektiven Lernzentren etwas „anderes" ist, während sie bei Hegel für den Geist „sein
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anderes" ist. - Zweitens nimmt Hegel eine weitere Grundklasse psychischer Phänomene an, in denen der Geist sich nicht aufnehmend, lernend verhält, sondern sich gegen die Wirklichkeit „selbsttätig" weiß. (vgl. Phän 223 ff.) Eine derartige Annahme direkt „selbsttätiger" Phänomene ist für einen Philosophen des Geistes naheliegend. Ob sie für Hegels Theorie, für die der subjektive Geist stets noch erst auf dem Wege zur vollendeten Freiheit ist, unumgänglich war, kann bezweifelt werden. Daß eine Philosophie, die eine solche Klasse von Selbsttätigkeitsphänomenen ansetzt, sich eine schwer zu beweisende Annahme aufbürdet, ist fraglos: Ihre These besagt nämlich mindestens dies, daß es eine Grundklasse psychischer Phänomene gibt, die nicht dem S-O-R-Verhältnis unterliegen, sondern die nur aus Aktion bestehen sollen. Philosophisch unterstellt sie weiterhin, daß es Spontaneität ontisch demonstrierbar geben soll, nicht nur als Desiderat oder Postulat: Selbsttätigkeit muß nämlich, wenn von ihr ernsthaft die Rede sein soll, ohne Konnex, anfangslos, gedacht werden. Irgendwie mit Stimuli verflochtene, bedingte Selbsttätigkeit kann es nicht geben. Es ist schwer einzusehen, warum Hegel, dessen Philosophie in Hinsicht auf das Subjekt doch als Theorie der Selbstbestimmungsgewinnung aufgefaßt werden kann, die Annahme einer solchen psychologischen Grundklasse von Selbsttätigkeitsphänomenen macht: der Geist, der schon selbsttätig ist, braucht und kann sich nicht mehr befreien. Auf der Basis dieser Einteilung gelangt Hegel dann allerdings bald zu einer Ablehnung psychologischer Gesetze: Denn während die erste Klasse der Rezeptionsphänomene auch bei Hegel lerntheoretisch faßbar bliebe und auf die Form von Gesetzen gebracht werden könnte, schließt sich diese Möglichkeit bei der zweiten Klasse aus: In diesen Weisen der Geistfunktion greift das Individuum spontan, nur verhüllt in Neigung und Leidenschaft, Besonderes aus der ihm begegnenden Wirklichkeit heraus. Spontaneität und psychologisches Gesetz schließen sich aus. Die Klasse der Selbsttätigkeitsphänomene benötigt konkretes Seelisches nur als Manifestationsmaterial, ohne durch die Verbindung mit ihm unfrei zu werden. Die Verhaltens- bzw. Rezeptionsphänomene der anderen Klasse aber werden nicht durch ihren möglichen Wunsch nach Freiheit zu wirklich spontanen, sondern als Reaktionen bleiben sie bedingt. Die Erscheinungen der beiden angegebenen Grundklassen im Bewußtsein ergeben also kein Kriterium auf ihren wirklichen Charakter hin: Man kann sich in etwas frei fühlen und doch gerade darin bedingt sein; ebenso ist das Umgekehrte möglich. Die Einteilung in Selbsttätigkeit und Reaktion ist eine ontologische; als psychologische ist sie nicht verifizierbar und deshalb in dieser Hinsicht wertlos. In der Durchführung seiner eigenen Theorie bemüht sich Hegel allerdings nachzuweisen, daß überhaupt nur in äußerlicher und vorläufiger Weise von NichtAktivität der Subjektivität gesprochen werden kann. Insofern ist die in der Phänomenologie des Geistes gegebene Disjunktion der psychischen Phänomene in die beiden Klassen der Aktivität und Rezeptivität nur „auf dem Wege". Das Merkwürdige der Einteilung in der Phänomenologie ist also in der methodischen Ein-
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führung der Klasse der Rezeptivitätsphänomene zu sehen, die in der Folge von Hegel nur dazu benutzt werden, ihre Unmöglichkeit nachzuweisen. Es läßt sich nicht bestreiten, daß die Stimuli des Verhaltens nicht nur äußere Reize sein können, sondern ebenso audi als innere, nämlich in der Form von Trieben, Motivationen, Bedürfnissen usw. auftreten können. Eine psychologische Schwierigkeit in der Behandlung dieses Unterschiedes entsteht erst dann, wenn man aus den Phänomenen, die auf keine äußerlich nachweisbaren Stimuli zurückzuführen sind - mag für sie Freiheit der letzte Grund sein oder audi nicht - , eine zweite Hauptklasse seelischer Phänomene macht, als deren Charakter man Selbsttätigkeit nennt, womit nur Spontaneität gemeint sein kann. Wenn man diese Annahme aber einmal madit, ist es nicht mehr schwer, die generelle Möglichkeit psychologischer Gesetze zu bestreiten, wenn man dazu als zweites unterstellt, daß die psychologischen Gesetze auch die Selbsttätigkeit und ihren Bezug auf die erscheinende Welt gesetzmäßig erfassen wollten. Dieses unmögliche Unterfangen ist in der Geschichte der empirischen Psychologie aber nie angestellt worden; selbst der frühe Behaviorismus zwischen 1913 und 1930 unternahm keinen derartigen Versuch; er war vielmehr konsequent genug, den Gedanken an Spontaneität überhaupt f ü r unsinnig zu erklären. Indem Hegel also unterstellt, die Psychologie wolle nicht nur das reaktive Verhalten gesetzmäßig erfassen, sondern auch das freie Handeln, nämlich als Selbsttätigkeit, Selbstbestimmung usw., erfindet er einen Gegner, den es nicht gibt. Die Psychologie wäre auch gar nicht in der Lage, Freiheit in Kausalität umzudeuten; als Wissenschaft muß sie zu diesem Metaphysikproblem schweigen. Dem Gedanken psychologischer Gesetze steht Hegel also ablehnend gegenüber. Solche psychologischen Gesetze müßten Psyche und Physis verbinden. Für die Natur und den Geist, jeweils nur für sich besehen, bestreitet Hegel die Möglichkeit der Gesetzlichkeit nicht, er verteidigt sie vielmehr nachdrücklich: „Die Natur bleibe, gibt man . . . als ihren Vorzug an, bei aller Zufälligkeit ihrer Existenzen ewigen Gesetzen treu; aber doch wohl auch das Reich des Selbstbewußtseins!" (Enz 201 f.) Es ist also auch nach Hegel möglich zu sagen, daß es im Geist Gesetze gibt; aber sie betreffen nur seine Verhältnisse in ihm selbst. Wogegen Hegel sich wendet, sind vielmehr Gesetze, die Geistiges und Natürliches zusammenbinden und in einem ausdrücken wollen. Vom dialektischen Denken her ist diese Tendenz konsequent: Was in der Philosophie der Natur behandelt worden ist, steht in der Philosophie des Geistes kategorial nicht mehr zur Verfügung. Eine Verbindung der Natur und des Geistes kann im Hegeischen System nicht in gleichrangigen Kategorien ausgedrückt werden; damit fehlt jede Voraussetzung, entsprechende Gesetze entdecken zu können; sie können nicht möglich sein. Der kategoriale Niveauunterschied zwischen N a t u r und Geist ist für Hegel unaufhebbar. Selbst Defizienzen des Geistes sind für Hegel ontologisch nodi höherrangig als die Normalität der Natur; er ist sogar so konsequent zu sagen: unendlich höher. „Wenn aber die geistige Zufälligkeit, die Willkür, bis zum Bösen fortgeht, so ist dies selbst noch ein unendlidi
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Höheres als das gesetzmäßige Wandeln der Gestirne oder als die Unschuld der Pflanze; denn was sich so verirrt, ist noch Geist." (Enz 202) Zwischen „unendlich" Verschiedenem können gesetzmäßige Beziehungen von gegenseitig verpflichtender Art nicht bestehen. Bei genauem Hinsehen unterscheidet Hegel vier Bereiche, in denen versucht wurde, psychologische Gesetze aufzustellen, nämlich 1. Gesetze der Assoziation, 2. Gesetze des Ausdrucks, 3. Gesetze der Funktionen, 4. Gesetze der Person bzw. des Charakters. Gesetze der Assoziation und des Ausdrucks Die Ausführungen zu den beiden ersten Bereichen sind bei Hegel redit umfangreich. In der Psydiologie seiner Zeit fanden diese Themen viel Aufmerksamkeit. Die Assoziationspsychologie hatte vorher schon in Locke und Hartley ihren ersten, freilich noch nicht experimentellen Höhepunkt gefunden. Die Ausdruckspsychologie kam in der romantischen Schule zu Hegels Lebzeiten zu großartigen, wenngleich gewagten Theorien. Carus, Gall, Lavater hat Hegel studiert; die Theorien des naturwissenschaftlich orientierten Ch. Bell werden in seinen Werken dagegen nicht erwähnt. — Gegen die Assoziationsgesetze wendet Hegel ein, es würden in ihnen keine Ideen assoziiert; außerdem seien diese Beziehungsweisen keine Gesetze, „eben darum schon, weil so viele Gesetze über dieselbe Sache sind". (SW 10, 335) „Die Bestimmung der Verknüpfung kann ein mehr oder weniger oberflächlicher oder gründlicher Zusammenhang sein: bloße Gleichzeitigkeit oder gleicher Ort zweier Vorstellungen; oder irgendeine Ähnlichkeit, audi Kontrast derselben; Verhältnis als Ganzes und Teile, Ursach und Wirkung, Grund und Folge u.s.w., überhaupt jede Art sinnlicher oder geistiger Beziehung." (SW 3, 205) Hegel ist zuzugeben, daß tatsächlich Ideen seines Sinnes überhaupt nicht assoziiert werden können und daß die sogenannten Assoziationsgesetze selbst auf der reinen assoziationstheoretischen Basis von G. E. Müller oder Th. Ziehen keine strengen Gesetze sind, weil sie in der Wirklichkeit keine eindeutigen Voraussagen f ü r bestimmte Fälle erlauben. Es ist bei gleichrangiger Faktorenwirkung nämlich nicht vorauszusagen, welcher Faktor in einem bestimmten Fall das Material ordnen oder gliedern wird, ob also etwa N ä h e (Kontiguität) oder Ähnlichkeit sich durchsetzen wird, ob Bedeutung oder Häufigkeit des Materials wirken wird. Die Assoziationsgesetze sind nicht strenge Kausalgesetze, sondern eher ökonomische Gliederungsprinzipien; sie stellen statistische Regelmäßigkeiten dar. Ihre Bedeutung für das Lernen des Verhaltens wird heute kaum mehr bestritten (auch Gestalt- und Verstärkungstheoretiker können nicht ganz auf sie verzichten) ; dagegen scheinen stark zentralgesteuerte Akte ihnen nur zum einen Teil zu entsprechen, zum anderen Teil aber im Gegensatz zu ihnen zu verlaufen. In der therapeutischen Technik beruht die Einsatzmöglichkeit der Assoziationen gerade auf ihrem die umgangsweltliche Realität übersteigenden Verweisungscharakter. - Bei der
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Vorstellung von Gesetzen des Denkens muß nadi Hegel generell beachtet werden, daß solche Gesetze einerseits als auf das Denken bezogen außerhalb der objektiven Realität und deshalb ohne Wahrheit wären, andererseits aber Allgemeines und Wissen sein müßten und damit Sein und Realität enthielten, freilich nicht sinnliches Sein, sondern Sein als Form (des Denkens nämlich). Die Polemik Hegels gegen den Ausdruck beruht großenteils auf Zeitfehden. Ein Teil der von Hegel angegriffenen Ausdruckslehre ist inzwischen wissenschaftlich zu den Akten gelegt worden. Besonders kann man hier an die Gallsche Kraniologie denken (die mehr unter dem ihr von Spurzheim gegebenen Namen Phrenologie bekannt wurde). - Die Ausdruckspsychologen seiner Zeit wurden von Hegel mit harten Urteilen bedacht: „Was ich von Carus' Manier kenne, ist so langweilig, unerbaulich, leblos, geistlos, daß es gar nicht auszuhalten ist." (SW 3, 305) „ . . . Physiognomik . . . wo Lavater mit derselben Spuk trieb." (SW 10, 252) Galls Kraniologie ist „schlechtes Zeug" (SW 9, 434); er macht den „Geist zu einer bloßen Schädelstätte". (SW 13, 373) In seiner eigenen Stellungnahme zur Ausdruckspsychologie verlangt Hegel nun einerseits von den Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen anscheinend zuviel, wenn er annimmt, daß zu dem äußeren Ganzen eines Individuums nicht nur der natürliche, angeborene Leib gehöre, „sondern ebenso die Formation desselben, die der Tätigkeit des Innern angehört; er ist Einheit des ungebildeten und des gebildeten Seins und die von dem Fürsichsein durchdrungne Wirklichkeit des Individuums." (Phän 228) Hegel steht hier also auf dem Standpunkt, daß das Äußere des Individuums auch direktes Produkt seiner inneren Arbeit sei. Dies würden schon viele der älteren Ausdruckspsychologen bestreiten, da sie das Äußere gerade in seiner Wesentlichkeit nicht als modo recto Fabriziertes auffassen, sondern als oblique passive Sedimentation. Auch die Klagessche Ausdruckspsychologie beruhte z.B. auf der Ausarbeitung dieses Unterschiedes („bewußt gearbeitet" contra „seelisch geronnen"). Andererseits verficht aber gerade Hegel die These, daß das Äußere nicht unmittelbarer passiver Ausdruck des Innern sein könne. Damit wendet er sich gegen alle Sedimentationstheorien des Ausdrucks. Die Begründung dafür beginnt er noch in der Beobachtung des Organischen zu entdecken: Sensibilität, Irritabilität usw. eines Organismus sind seine Äußerungsweisen. Sie sind aber so wenig Ausdruck seines Inneren, wie die primären oder sekundären Eigenschaften der physischen Dinge einen solchen ofienlegen. In Wirklichkeit stellen die Äußerungsweisen untereinander nur quantitative Korrelationen her. „. . . eines nimmt nur mit dem andern ab und nimmt nur mit ihm zu, denn eines hat schlechthin nur Bedeutung, insoweit das andere vorhanden ist." (Phän 203) Noch wichtiger ist aber, daß die Äußerungsweisen eines Organismus ebenso wie die primären und sekundären Eigenschaften der Dinge einer gesetzmäßigen Beziehung widerstreiten: „Denn die Bestimmtheit ihres sinnlichen Seins besteht eben darin, vollkommen gleichgültig gegeneinander zu existieren, und die des Begriffs entbundne Freiheit der Natur vielmehr darzustellen als die Einheit einer Beziehung, vielmehr ihr unvernünftiges
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Hin- und Herspielen auf der Leiter der zufälligen Größe zwischen den Momenten des Begriffs als diese selbst." (Phän 205) Diese Hegeische Argumentation ist konsequent, aber zwingend nur unter der Grundannahme, daß quantitativ variierbare Sinnlichkeit nicht Ergebnis eines begrifflichen Bezuges sein kann. Dies müßte sie aber sein, wenn eine Abhängigkeit der beiden Reihen der Äußerungsweisen und der inneren Eigenschaften gedacht werden soll. „Wahres" Äußeres ist bei Hegel nur als Ergebnis eines eindeutigen, absichtsvollen Gestaltungsprozesses möglich. Der „Ausdruck" an Organismen sei aber nur ein Gleiten „flüssiger Eigenschaften" und deshalb ohne „ausgeschiedenen realen Ausdruck", den sich Hegel nur als feste Gestalt denken kann. Gestalt ist aber wiederum nicht Leben. „In den Systemen der Gestalt als solcher ist der Organismus nach der abstrakten Seite der toten Existenz aufgefaßt; seine Momente, so aufgenommen, gehören der Anatomie und dem Kadaver, nicht der Erkenntnis und dem lebendigen Organismus an." (Phän 206) Am biotischen Organismus gibt es also keinen Ausdruck, weil an ihm nichts vernünftig ausgedrückt wird. Im Menschen dagegen soll Vernunft am Werke sein; so fragt es sich, warum bei ihm die Mimik und Physiognomik nicht Ausdruck des Innern sein kann. In dem Abschnitt „Physiognomik und Schädellehre" der „Phänomenologie des Geistes" gibt Hegel dazu eine ausführliche Argumentation (die in der Originalausgabe 43 Seiten umfaßt). Es ist aber durchaus möglich, sie auf zwei knappe Gründe zurückzuführen: Hegel sieht das Wesen des Geistes in seiner Tätigkeit. Wenn der Ausdruck etwas irgendwie Wichtiges sein soll, muß er diesem Wesen gehorchen: er müßte also Arbeit ausdrücken und an den Organen auftreten, die wirklich arbeiten. Hände und selbst Füße sind in unbegrenzt höherem Maße Werkzeuge der Tätigkeit als „die nichts vollbringende Bewegung und Form des Gesichts und der Gestaltung überhaupt. Diese Züge und ihre Bewegung sind nach diesem Begriffe das zurückgehaltne an dem Individuum bleibende Tun, und nach seiner Beziehung auf das wirkliche Tun das eigene Beaufsichtigen und Beobachten desselben, Äußerung als Reflexion über die wirkliche Äußerung." (Phän 232) Der wirkliche, vernünftige Ausdruck des Individuums ist also sein Tun; der am Gesicht zurückgehaltene ist unwesentlich. Aus der Bestimmung des Auftrags des Menschen heraus kann also der „passive" Ausdruck nicht der „wirkliche" sein. Dies ist der eine Grund. Der passive Ausdruck ist nicht der tätige und gegenüber dem tätigen geringwertig. Es „ist dieses, was Ausdruck des Innern sein soll, zugleich seiender Ausdruck, und fällt hiemit selbst in die Bestimmung des Seins herunter, das absolut zufällig für das selbstbewußte Wesen ist". (Phän 233) Der passive Ausdruck ist nur Sein gegenüber dem Tätigsein des Selbstbewußtseins. Diese kategoriale Differenz ist nicht überbrückbar. Damit ist der zweite Grund bezeichnet: Der Gegenstand, der in der physiognomischen Praxis beurteilt werden soll, ist kategorial etwas anderes als das Urteilsmaterial; es ist sinnliches Sein, der Gegenstand ist Geist, aber nicht actu, sondern als Potenz: „Es ist nicht der Mörder, der Dieb, welcher erkannt werden soll, sondern die Fähigkeit, es zu sein." (Phän 235) Für
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eine Verbindung der beiden Beziehungspole des physiognomischen Urteilens besteht also keine ontologisdie Basis. Statt des notwendigen Urteilens, Sagens, ist nur Meinen möglich : „Die Gesetze, welche diese Wissenschaft zu finden ausgeht, sind Beziehungen dieser beiden gemeinten Seiten, und können daher selbst nichts als ein leeres Meinen sein." (Phän 2 3 5 ) Soviel sei zu den Ausdrucksanalysen der „Phänomenologie des Geistes" bemerkt 2 . Die wissenschaftliche Ausdruckslehre verwirft heute Annahmen über „wesentlichen" Ausdruck weitgehend; darin geht sie mit Hegel einig. Aber sie hat zugleich die Hoffnung, auf dem mühsamen induktiven Weg manches an Vermutungen über Ausdruckserscheinungen zu falsifizieren, manches aber zu bestätigen. Ihre Hoffnung bezieht sie gerade auf den induktiven Vergleich, den Hegel noch verwarf, weil sein Vertrauen auf den Begriff noch nicht enttäuscht war. Ausführliche Behandlung erfährt bei Hegel auch die Phrenologie. Der Kern seiner Argumentation gegen sie besagt: Der Schädel ist ein Ding; das Subjekt ist wesentlich tätige Negation und kann somit alles leichter sein als ein Ding oder Parallelität eines Dinges. Dieser ontologisdie Einwand wird ergänzt durch Ausführungen, in denen Hegel davon ausgeht, daß der Geist im Subjekt als Anlage noch fast nichts ist, daß vielmehr alles auf die Selbstgestaltung ankomme, daß die Proportionen des Schädels aber durch die Entwicklung des Individuums hindurch fest seien: „Diese . . . Nichtwirklichkeit des aufgestellten Gesetzes und hiemit ihm widersprechende Beobachtungen müssen eben dadurch hereinkommen, daß die Freiheit des Individuums und die entwickelnden Umstände gleichgültig gegen das Sein überhaupt sind, sowohl gegen es als ursprüngliches inneres wie als äuße2
Daß Wissenschaft aber eben dodi in völlig anderer Weise möglich ist, als Hegel glaubte, zeigt ein im Ansdiluß an diese Ausdrudesdiskussion von ihm ausgeteilter Hieb, dessen Urteilsqualität er noch nicht kannte: „Dem Inhalte nach aber können diese Beobachtungen ((über Ausdrucksbeziehungen)) nicht von denen abweichen: „Es regnet allemal, wenn wir Jahrmarkt haben," sagt der Krämer; „und audi allemal, wenn idi Wäsche trockne," sagt die Hausfrau." (Phän 236) (Für das Verständnis dieses Beispiels ist volkskundlich wichtig zu wissen, daß im alemannischen Raum vor dem Aufkommen der Kernseife und aller Pulver oft mit Budienholzasche gewaschen wurde. Dies geschah in Haushalten mit guter Aussteuer meist nur zweimal, teilweise sogar nur einmal im Jahr. In Hegels Beispiel kann also von einer 1:2oder l:l-Relation ausgegangen werden. In seiner Vorstellung standen also nicht nur einem Jahrmarkt zweiundfünfzig Wasdivorgänge gegenüber.) Es war nun ohne weiteres möglich, daß Jahrmarkt und Jahrwäsche aus symbolisdi-kultureller Deutung des Jahresablaufs (Pfarrpatron, Ortspatron usw.) auf Termine fixiert wurden, denen im klimatologisdien Jahresverlauf mit Wahrscheinlichkeit Tiefdruckgebiete entsprachen. Dann ergäbe sich eine positive Korrelation zwischen begrifflich voneinander unabhängigen kulturellen Ereignissen (Kirmes, Waschtag) und natürlichen Vorkommnissen (Regen). Sie erlaubte die Feststellung einer Gesetzlichkeit unter Benutzung der mathematischen Wahrscheinlichkeitslehre, die Hegel explizit noch nicht kannte, was ihm den Spott nodi erlaubte. Die Verbindung der beiden jahreszeitlichen Ereignisreihen unter einem Häufigkeitsmerkmal wäre also gerade kein Unsinn, sondern berechtigt. Freilich handelte es sich nicht um eine Berechtigung durch Begriffsarbeit, sondern um eine induktiv gewonnene.
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res knöchernes, und daß das Individuum audi etwas anderes sein kann, als es innerlich ursprünglich und noch mehr als ein Knochen ist." (Phän 248) Gesetze der Funktionen Die dritte von Hegel behandelte Klasse psychologischer Gesetze betrifft die der seelischen Funktionen. Im Unterschied zu den Gesetzen der Assoziation befassen sie sich nicht mit der Verknüpfung von Elementen untereinander, sondern mit den Formen, in denen Psychisches überhaupt existiert und im Bewußtsein auftritt. Hegel benutzt die Besprechung der psychischen Funktionen, um sein Mißtrauen in die Psychologie abermals auszusprechen. In dem schon erwähnten Gutachten von 1812 untersucht er u. a., welche Teile der Psychologie in der Schule behandelt werden sollen. Bei dieser Gelegenheit stellt er fest, daß bestimmte psychologische Gesetze (die er hier nur auf den praktischen Geist bezieht) ohne besondere Bedeutung seien. Gerade die von Hegel benannten wären in heutiger Sprache die Gesetze der seelischen Funktionen. „ . . . die bloß psychologische Seite der letztern ((der Psychologie des praktischen Geistes)) - nämlich Gefühle, Begierden, Triebe, Neigungen, - sind nur ein Formelles, das seinem wahren Inhalte nach, - ζ. B. der Trieb nach Erwerb oder nach Wissen, die Neigung der Eltern zu den Kindern u.s.f., - in der Rechts- oder Pflichtenlehre als notwendiges Verhältnis, als Pflicht des Erwerbs . . ., als Pflicht, sich zu bilden, als Pflichten der Eltern und Kinder u.s.f. bereits abgehandelt ist." (SW 3, 308) Diese Auslassung ist eindeutig psychologiefeindlich: Die psychischen Funktionen werden von Hegel zuerst einmal zu „bloß" genannten herabgesetzt, dann wird die gesetzmäßige Betrachtung des „bloß" psychologisch Genannten zum Formellen degradiert und seine ethische Würdigung als die wichtigere ausgegeben. Aber Hegel macht es sich zu leicht: Wenn nämlich die Hauptansicht eines Gegenstandes oder eines Phänomens - hier die psychologische der psychischen Funktionen - als perspektivische Verzerrung von der Ranglosigkeit des „bloß" ausgegeben wird, ist es ebenso konsequent wie verfälschend, der absichtlich herbeigeführten Verzerrung schließlich falsche Abbildung vorzuwerfen. Wenn also nur die axiologische Betrachtung der psychischen Funktionen ihre wahre Bedeutung aufschließen soll, wie Hegel meint, kann die psychologische Analyse selbstredend nicht mehr konkret und von Wichtigkeit sein. Der axiologisch gefärbte Ansatz der Abwertung des „Nur-Psychologischen" ist uralt. Er wird regelmäßig im ganzheitlichen, positional abgesicherten Vorgriff ausgesprochen; auf ihn wird besonders gern zurückgegriffen, wenn immer sog. nur-psychologische Forschung ein Stüde überlieferter Weltinterpretation wankend gemacht hat. Zwecks Abwendung der möglichen Gefahr des „Psychologischen" greift also auch Hegel zur Einschränkung des „bloß". Allerdings ist er nicht bei diesem Vorurteil Stehengeblieben, sondern hat an anderer Stelle audi ein Hauptproblem der wissenschaftlichen Analyse psychischer Funktionen benannt: Wenn eine beliebige psychische Funktion - z.B. ein Ge-
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fühl - einer experimentellen Untersuchung unterzogen werden soll, dann stellt sich zuerst immer das Problem der Quantifizierung (Zu- und Abnahme, Stärkerund Schwächerwerden des Gefühls usw.), u. z. hinsichtlich seiner Durchführung und seiner Möglichkeit. Die Durchführung ist eine Aufgabe der experimentellen Psychologie; sie hat der physiologischen Psychologie von Fediner an erheblich zu schaffen gemacht, aber seitdem auch zu einem Corpus differenzierter Ergebnisse geführt. In der Frage der Möglichkeit aber kommt die Philosophie zu Wort. Sie betrachtet die Differenz zwischen der Qualität der Funktionsinhalte und dem Versuch ihrer quantitativen Untersuchung, und sie stellt in der Fassung der Hegeischen Logik fest, daß die Region des Maßes nur die der Mechanik ist: „Die vollständige, abstrakte Gleichgültigkeit des entwickelten Maßes, d. i. der Gesetze desselben kann nur in der Sphäre des Mechanismus statthaben, als in welchem das konkrete Körperliche nur die selbst abstrakte Materie ist; die qualitativen Unterschiede derselben haben wesentlich das Quantitative zu ihrer Bestimmtheit." (L1,341) Im Ansatz schon im Physikalischen, eindeutig dann im Organischen tritt aber ein Konflikt der Qualitäten auf, und das reine Maß wird zum nur noch nachgeordneten Verhältnis. Im Geistigen und Seelischen ist das Maß überhaupt kein Gliederungsprinzip mehr; es kann hier nur noch völlig unbestimmt und hilfsweise benutzt werden: „Im Geistigen als solchem kommen Unterschiede von Intensität des Charakters, Stärke der Einbildungskraft, der Empfindungen, der Vorstellungen usf. vor; aber über dies Unbestimmte der Stärke oder Schwäche geht die Bestimmung nicht hinaus. Wie matt und völlig leer die sogenannten Gesetze ausfallen, die über das Verhältnis von Stärke und Schwäche der Empfindungen, Vorstellungen usf. aufgestellt werden, wird man inne, wenn man die Psychologien nachsieht, welche sich mit dergleichen bemühen." (L 1, 342) Es ist bedauerlich, daß Hegel mit der im letzten Satz eingeführten Wertung das ontologische Problem der Quantifizierbarkeit der psychischen Funktionen wieder verläßt. Die Erforschung der psychischen Funktionen ist in jedem Fall analytische Detailwissenschaft. Sie kann von ihrer Absicht und ihrem Sinn her nicht zu „interessanten" Ergebnissen führen. Das Sinnhafte der Inhalte ist ihr ex definitione völlig gleich; sie muß notwendig „matt und leer" sein, wie entsprechend alle kleinräumlich orientierte naturwissenschaftliche Forschung. Die philosophische Frage ist also nicht, ob die experimentelle Untersuchung der psychischen Funktionen zu für sich bemerkenswerten Ergebnissen führt, sondern ob sie überhaupt möglich ist. Diese Frage wird von Hegel mit einer negativen These beantwortet. Sie fällt aber gerade nicht philosophisch aus, sondern versucht, mit der angeblichen Ergebnislosigkeit der psychologischen Forschung zu operieren; sie versteift sich auf die „Unbestimmtheit" ihrer Ergebnisse. Diese These ist unzulässig, weil über den Ertrag der empirisch erzielten und zu erzielenden Effektivität philosophisch nicht geurteilt werden kann. Sie wurde außerdem gerade hinsichtlich der Effektivität inzwischen eindeutig widerlegt, denn die Psydiophysik und die physiologische Psychologie kümmerten sich nicht um das Hegelsche Dictum. Ihre Erfolge verdanken diese Wissenschaften gerade dieser Außer-
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aditlassung: Die Frage der grundsätzlichen theoretischen Möglichkeit der Quantifizierung psychischer Funktionen wurde in ihnen durdi Wahrscheinlichkeitsanalysen und Näherungsmechanismen ersetzt. Die -wissenschaftliche Forschung ging damit zu ihrem eigenen Vorteil über ein philosophisches Problem hinaus, freilich ohne es selbst damit zu erledigen. Gesetze der Person An vierter Stelle sind die Gesetze bzw. die Logik der Person und des Charakters zu nennen. Hegel wirft im Zusammenhang ihrer Betrachtung der Psychologie vor, daß sie die personalen Eigenschaften, Vermögen usw. wie ein zufälliges Nebeneinander auffasse, eine evtl. notwendige, aus dem Begriff folgende Verknüpfung dieser Bestandsstücke, Dispositionen, Fähigkeiten usw. aber nie bedacht habe (wie es sein universaler Geistbegriff nahelegt). Es fallen die bösen Worte, daß eine Psychologie, die sich um die logische Ordnung dieser Bereiche nicht kümmere, die Eigenschaften der Individuen durcheinander wie in einem „Sacke" (vgl. Phän 224) finde und daß ihr a-logisches Verfahren noch uninteressanter sei als deskriptive Reihung in den Naturwissenschaften. Es ist nach Hegel ein Grundfehler psychologischer Analyse, das Individuum nach Art eines aus verschiedenen Bestandteilen willkürlich gefügten Seienden „fester" Art aufzufassen: „Die bewußte Individualität. . . geistlos als einzelne seiende Erscheinung zu nehmen, hat das Widersprechende, daß ihr Wesen das Allgemeine des Geistes ist. Indem aber das Auffassen sie zugleich in die Form der Allgemeinheit eintreten läßt, findet es ihr Gesetz und scheint jetzt einen vernünftigen Zweck zu haben und ein notwendiges Geschäft zu treiben." (Phän 225) Die Individualität bzw. die Person darf also nach Hegel in keiner Perspektive als additiv konstruiert gedacht werden, also als zusammengesetzt aus in sich selbst selbständigen Elementen, Zügen, Verhaltenskonstanten usw. Mit dieser ontologischen Kritik trifft Hegel eine Schwäche mancher empirischen Persönlichkeitstheorien besonders des angelsächsischen Raumes. Auch und gerade in auf Hegel folgenden Zeiten sind Persönlichkeitstheorien in dieser Technik additiver Konstruktion verfahren und in Schwierigkeiten geraten. Ihre Crux besteht darin, daß sie das Zentrum der Person als aus Attributen hervorgehend denken müssen. (Z von X besteht aus „Empfindlichkeit", „gutem Gedächtnis", „Zähigkeit" usw.) Schon bei objektiven Dingen führt dieser Konstruktionsversuch zu Sinnlosigkeiten (ein Granat „selbst" beispielsweise „besteht" nicht aus den Attributen Röte, Glanz, spezifischem Gewicht usw.) ; bei subjektiven Zentren tritt als weitere Schwierigkeit hinzu, daß mit dem an ihnen Objektivierten das Objektivierende als Eins, als e i n e Person, begründet werden müßte. Die Schwierigkeiten des additiven Personmodells nötigen allerdings nicht gleich zur Übernahme der Hegeischen Position. Die Person muß nämlidi nicht ohne weiteres das Allgemeine des Geistes als ihr Wesen finden und anerkennen. Sie könnte auch in der a-logischen Punktualität einer nicht ableitbaren oder konstruierbaren Existenz grün-
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den. Mit dieser Gegenüberstellung wird in den Grundthesen die Differenz zwischen Hegel und Kierkegaard bezeichnet. Allerdings bleibt man bei diesen Überlegungen in ontologischen Bahnen; vom Psychologischen her gesehen ist der Gegensatz zwischen der Fassung der Person als subjektiv werdende Substanz einerseits, als Existenz andererseits, ohne Bedeutung: In psychologischer Betrachtung, seinem Erscheinen in der Welt nach - als Verhalten - , ist das Individuum immer bestimmt durch die Differenzen gegenüber einem als Realität oder Konstrukt angenommenen Allgemeinen. Der Unterschied zwischen der Logizität der Substanz, die subjektiv werden will, und der Existenz, dem begründungslos einzelnen Bewußtsein, der Unterschied also zwischen Hegel und Kierkegaard, ist an der erscheinenden Person nicht darstellbar; was in der Welt erscheint, ist Erscheinung nach Gesetzen dieser Welt — wenigstens, soweit es erscheint. Was aber nicht erscheint, kann nicht Gegenstand einer Wissenschaft sein. Die Gesetze, die über die Individuen in der Welt aufgestellt werden können, grenzt Hegel in zweierlei Weise ein: „Die Momente, die den Inhalt des Gesetzes ((über die Individualität)) ausmachen, sind einerseits die Individualität selbst, anderseits ihre allgemeine unorganische Natur, nämlich die vorgefundenen Umstände, Lage, Gewohnheiten, Sitte, Religion usw.; aus diesen ist die bestimmte Individualität zu begreifen." (Phän 225) Der systematische Umfang dieser Formel würde durchaus noch heutigen Anforderungen einer umfassenden Persönlichkeitstheorie entsprechen, denn sie sieht ihr Ziel darin, sowohl die Vererbungsais auch die Sozialisations- und Individuationskomponente, sowohl Angeborenes als Erlerntes, in Gleichberechtigung einzubinden. Aber Hegel muß diese vorläufige Formel von seinem Geistbegriff aus wieder relativieren: in ihr tritt das Individuum nicht als nur-aktives, sondern als auch rezeptives auf. Das Recht der universalen Spontaneität, die Welt nach ihrer Bestimmung sowohl anzuerkennen als zu verwerfen, würde berührt, wenn man von der Welt, den Umständen auch „lernen" müßte: „Was auf die Individualität Einfluß und welchen Einfluß es haben soll, - was eigentlich gleichbedeutend ist, - hängt darum nur von der Individualität selbst ab." (Phän 225) Die Ausgewogenheit zwischen Selbst- und Fremdbestimmung in der erstgenannten Formel erweist sich in dieser zweiten als wieder aufgehoben. Hegel geht es inhaltlich abermals darum, das Uberrecht der Subjektivität zu erweisen. Die absolut die Welt und sich selbst bestimmende Spontaneität ist in Hegels Theorie nicht als An-Sich oder als Postulat gedacht, sondern sie ist - wie es die zweite Formel wiederum deutlich sagt - zum wirkenden ontischen Faktor bestellt. Um die ungeheure Diskrepanz zwischen dem Geringen des einzelnen Individuums und der Macht, die es als universale Spontaneität haben müßte, zu überbrücken, werden die Sozialisations- und Individuationsmittel („Umstände, Denkungsart, Sitten, Weltzustand") als die allgemeine Weltsubstanz der jeweiligen Welt eines Individuums bezeichnet, so daß es selbst als Individuum, also als unendliche Subjektivität in der endlichsten Form des beschränkten Menschen, nur mit sich selbst spricht, wenn es seine es beeinflussenden Faktoren, also seine objektive Subjektivität, kennenlernt: „ . . . die Welt des In-
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dividuums, hat unmittelbar die zweideutige Bedeutung, an und für sich seiende Welt und Lage, und Welt des Individuums entweder insofern zu sein, als dieses mit ihr nur zusammengeflossen wäre, sie so, wie sie ist, in sich hineingehen lassen und gegen sie sich nur als formelles Bewußtsein verhalten hätte, — oder aber Welt des Individuums so zu sein, wie das Vorhandene von ihm verkehrt worden ist. - Da um dieser Freiheit willen die Wirklichkeit dieser gedoppelten Bedeutung fähig ist, so ist die Welt des Individuums nur aus diesem selbst zu begreifen; und der Einfluß der Wirklichkeit, welche als an und für sich seiend vorgestellt wird, auf das Individuum erhält durch dieses absolut den entgegengesetzten Sinn, daß es entweder den Strom der einfließenden Wirklichkeit an ihm gewähren läßt, oder daß es ihn abbricht und verkehrt." (Phän 226) Damit ist der Gedanke der universalen Spontaneität gerettet, allerdings um den Preis einer inflationären Abstraktion. Die Lerntheorien haben nun gezeigt, wie weit und wie sehr weit Individuen von ihrer Umwelt her bestimmt werden können. Sie sind jedoch psychologischen, ontischen Charakters und würden in Hegels ontologischer Theorie wohl folgendermaßen umgedeutet werden: Wenn sie nachweisen, daß und wieviel ein Individuum von der Welt lernt und lernen muß, so wird es dadurch letztlich nicht fremdbestimmt, sondern was das Individuum lernt, was in es in der Begegnung mit der Welt eingeht, ist in Wahrheit nichts anderes als es selbst, nur ist es dies noch als Substanz. Sie aber will nidits anderes, als Subjekt werden. Die Auffassung Hegels vom allgemeinen Weltzustand als Vorproduktion des Geistes, dem dieser in den Individuen wieder selbst begegnet, gerät somit in keinen Gegensatz zu den Lerntheorien. Hegel liefert eine ontologisdie, die Lerntheorien bringen eine experimentelle Perspektive einer und derselben Ansicht, die besagt bzw. sich wünscht, daß der individuelle Organismus nicht durch seine ererbte Natur, sein Anderes, bestimmt wird, sondern in seinem gesamten Wissen und Selbstwissen in seiner „tätigen" bzw. „operanten" Wachheit fundiert ist: Das Individuum ist Produkt einer Begegnung mit der Welt, die von Hegel als seine Substanz, von den Lerntheorien als Universum der Stimuli gedeutet wird. Für beide ist das Individuum nicht durch seine natale Ausstattung determiniert, wie dies reine Vererbungstheorie, Konstitutionstypologie usw. weitgehend annehmen: „Die Individualität ist, was ihre Welt als die ihrige ist; sie selbst ist der Kreis ihres Tuns, worin sie sich als Wirklichkeit dargestellt hat, und schlechthin nur Einheit des vorhandenen und des gemachten Seins." (Phän 227) Die Einheit des Vorhandenen und des Gemachten hat notwendig nicht den Charakter einer passiven Genesis, sondern den eines Produkts, eines Fabrizierten. In der Produkttheorie des Individuums sind die Lerntheorien und Hegel einig.
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Β Der Gedanke einer begrifflichen Psychologie
Verfahren der Psychologie Hegel hat genau angegeben, wie er sich die Verfahrensweisen der Psychologie geordnet denkt: „In der Mitte zwischen der auf die zufällige Einzelnheit des Geistes gerichteten Beobachtung und der sich nur mit dem erscheinungslosen Wesen desselben befassenden Pneumatologie steht die auf das Beobachten und Beschreiben der besonderen Geistesvermögen ausgehende empirische Psychologie." (SW 10, 13) An dieser Gliederung ist zunächst zweierlei bemerkenswert: Einmal entspricht sie den meisten Einteilungen der psychologischen Verfahren, in denen die lockere Beobachtung von der systematischen Beobachtung und dem systematischen Experiment getrennt wird, während die beiden letzteren wiederum von der philosophischen Reflexion über das psychologische Tun überhaupt geschieden werden. Dann aber zeigt sie, daß in Hegels eigener Gliederung die wissenschaftlichen Verfahren der Psychologie dem Aufbau der Philosophie des subjektiven Geistes in der Enzyklopädie nur zum geringen Teil entsprechen. Das unsystematische Beobachten (1. Stufe) zeigt keine Parallelität zur Anthropologie, und die empirische Psychologie (2. Stufe) verbindet nichts mit der Phänomenologie. Das Verfahren der Pneumatologie aber war das der alten rationalen Psychologie, nicht das der Psychologie des subjektiven Geistes im engeren Sinne. Auch aus diesem Parallelitätsmangel ergibt sich, daß die Psychologie in der Vorstellung Hegels nicht mit der Philosophie des subjektiven Geistes gleichgesetzt werden kann. Die systemtheoretische Fassung einer zu untersuchenden Weltregion ist nicht dasselbe wie die Ordnung der auf sie anzuwendenden Verfahren. Fassung und Verfahren zusammen ergeben aber noch nicht die Untersuchungen der Psychologie und die Darstellung ihres Forschungsinhalts und ihrer Ergebnisse. Während die enzyklopädische Darstellung der Wissenschaften von Hegel durchgeführt worden ist, beschränken sich die Ausführungen über die Verfahren der Wissenschaften auf Bemerkungen. Dies gilt auch für die Verfahren der Psychologie, soweit Ordnungsvorstellungen überstiegen werden. An der ersten Stufe, dem unsystematischen Beobachten, wird zwar auch - wie allgemein üblich - kritisiert, daß es ohne Regeln verfährt. Der besondere Vorwurf Hegels gegen es zielt aber auf die ihm unterstellte Absicht, aus zufälligen Verhaltenseigentümlichkeiten auf das An-sich des Menschen zu schließen. Hegel hält dagegen, daß die Addition solcher Einzelheiten unabschließbar und Menschenkenntnis auf der Basis der Beobachtung daher etwas. „End- und Bodenloses" sei. (Phän 235) Gelegentlich tritt Spott hinzu: „ . . . Seelenfähigkeit, Leidenschaft . . . Schattierungen von Charakteren, von welchen die feinere Psychologie und Menschenkenntnis zu sprechen p f l e g t . . . " (Phän 246) Die Kritik am Verfahren der zweiten Stufe, der empirisch arbeitenden Psychologie, beschäftigt sich nicht mit Fragen der Durchführbarkeit oder mit den Forschungsmethoden selbst, sondern sie ist philosophisch abstrakt. Der empirischen Psychologie wird vorgehalten, daß sie als endliche noch unwahr sein müsse: „ . . . diese bringt es nicht zur wahrhaften Vereinigung des Einzelnen und Allgemeinen, zur Erkenntnis der konkret allgemei-
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nen Natur oder des Begriffs des Geistes, und hat daher gleichfalls keinen Anspruch auf den Namen echtspekulativer Philosophie. Wie den Geist überhaupt, so nimmt die empirische Psydiologie audi die besonderen Vermögen, in welche sie denselben zerlegt, als gegebene aus der Vorstellung auf, ohne durch Ableitung dieser Besonderheiten aus dem Begriff des Geistes den Beweis der Notwendigkeit zu liefern, daß im Geiste gerade diese und keine anderen Vermögen sind." (SW 10, 13) Diese Kritik geht also nidit auf die empirischen Forschungsmethoden ein und ist somit in erster Instanz gegenstandslos; soweit sie aber die Aufgabe der empirischen Psychologie angreift, ist sie unzulässig, denn die Empirie kann nicht über die Kategorien verfügen, die die philosophische Betrachtung erst herstellt. Die psychologische Empirie muß gerade von ihrem Ansatz her Eigenschaften, Kräfte, Vermögen, traits usw. als different auffassen. Deren Wiedervereinigung in der Subjektivität des Geistes, der sidi anschickt, sich als Leib und Seele in seine eigene Wahrheit zu erheben und nur noch mit sich zu verkehren, ist ihr einerseits noch nicht bekannt, kann ihr aus den für sie nodi nicht vollzogenen Bewegungen der Entwicklung des Geistes überhaupt noch nicht bekannt sein, wie es ihr andererseits an Wissen über die Herkunft der Eigenschaften, Kräfte, Vermögen, traits usw. aus dem anderen des Geistes, der Natur mangelt. Sowohl in der Naturphilosophie als in der Geistphilosophie ist es in Hegels Theorie die zu lösende Aufgabe, an die Stelle der endlichen Verstandeskategorien der empirischen Forschung die begrifflichen Verhältnisse des spekulativen Gedankens einzuführen. Dieser Auftrag kann jedoch nicht von positiven Einzelwissenschaften übernommen werden; auch in Hegels System oder mit dem Wissen dieses Systems ist diese Delegation nicht möglich. Für die empirische Forschung an sich ergäbe sich darüber hinaus aus der Einbettung in Spekulation kein Gewinn. Es ist für sie durchaus gleich, ob sie mit philosophischem Hintergrundwissen oder ohne es verfährt; die philosophische Reflexion kann und darf auch bei der empirischen Psychologie nicht dazu führen, daß sie ihre positiven Ergebnisse für etwas anderes ausgibt, als sie von sich aus sind. Auch eine auf der Basis des Hegeischen Denkens betriebene empirische Psychologie würde sich von jeder anderen nicht unterscheiden können 3 . Freilich darf die philosophisch nicht beeinflußbare Technik der empirischen Psychologie auch nicht dazu führen, daß sie ihre Ergebnisse pseudoontologisiert, wie es immer geschah, wenn aus nur positiven Ergebnissen heraus psychologische Systeme imaginiert wurden. Wenn es Hegel also bedauert, daß „mit diesem Mangel der Form . . . die Entgeistigung des Inhalts" zusammenhängt, dann muß ihm entgegengehalten werden, daß es für die Empirie den Geist in ontologischer Hinsicht überhaupt nicht geben kann, genausowenig wie ontologische Natur. Geist und Natur als ontologische Regionen und positive Wissenschaften haben keine gegenseitige unmittelbare Berührung. 8
Physiologische Psydiologie und Erlebnisanalyse beispielsweise des Phi-Phänomens sind vor jedem philosophischen Hintergrund völlig gleich.
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Β Der Gedanke einer begrifflichen Psychologie
Der Hegeische Rigorismus wurde später von Michelet weiter vertreten; auch für ihn war die empirische Psychologie „noch eine endliche, unwahre Betrachtungsweise des Geistes". (Midielet 1840, 17) Wahr wird sie erst, indem sie dem Vervollkommnungsverfahren des Geistes auf dem Wege zu sich selbst einverleibt wird: „Begreifen fügt endlich die spekulative Psychologie hinzu; sie bedarf der empirischen, mit der wir sie verbinden müssen, und gebraucht das ganze Material, was jene herbeischleppt. Aber sie geht weiter, sie entwickelt die Natur des Geistes; sie zeigt, was sein Verhältnis zum Leibe ist, wie seine Tätigkeit selber seine Substanz ausmacht, also die vielen Vermögen nicht Prädikate eines ruhenden Subjektes, sondern nur die verschiedenen Weisen der einen Tätigkeit sind, welche eben dies Wesen des Geistes konstituiert." (Michelet 1840, 17 f.) Die Spekulation fügt also dem empirischen Erklären das Begreifen hinzu; das Erklären soll dadurch „besser" werden. Die Hegeische Philosophie will, was die Einzelwissenschaften an der besonderen Realität erforschen, wirklich denken, d. i. in den Begriff versetzen und dieses Gesetztsein im Begriff für-sich machen und damit den Begriff wieder realisieren.
C Prolegomena der Persönlichkeitstheorie § 9 Zur Geschichte des Begriffs Person Der Personbegriff im Altertum Person und Individuum sind Zentralbegriffe mancher Philosophien. In der abendländisch-christlichen Tradition sind sie zu einer besonders intensiven Entfaltung und Deutung gekommen. Entsprechend umfangreich ist hier ihre Geschichte. Nur einiges, das für die Betrachtung der Hegeischen Theorie von Belang ist, sei daraus herausgegriffen: Die Differenz zwischen Wesen und Erscheinung im Begriff der Person wurde schon in der Antike bedacht. Rein sprachlich besteht zwischen persona und πρόσωπον etymologisch völlige Verschiedenheit, der Bedeutung nach aber Ähnlichkeit; doch bezeichnet persona nie das Gesicht, πρόσωπον erst spät die Rechtspersönlichkeit. Persona wurde lange Zeit von per-sonare oder auch von περί σώμα abgeleitet; seit einigen Jahrzehnten neigt man zur Annahme der Herkunft aus dem etruskisdien „phersu", das als Beschriftung einer Darstellung eines Zuges Maskierter gefunden wurde, (vgl. Altheim 1929, 35 ff.) Der letztgenannten Ableitung zufolge wäre die Differenz zwischen dem Zentrum und seiner Erscheinung schon von Anfang an im Begriff der Person erfaßt worden: Maske, Rolle, Erscheinung stünden auf der einen Seite, Wesen, Grund, Zentrum auf der anderen. „Die gleichen Bedeutungen vereinigen sich in beiden Worten: Maske, dramatische und grammatische Person, die gemeine Person und die hervorragende oder Persönlichkeit, es fehlt aber im Lateinischen die Bedeutung von Gesicht, und umgekehrt ist ins Griechische viel später erst ,die Rechtspersönlichkeit' eingetreten." (Hirzel 1914, 47f.) Bei Hesiod und Homer bezeichnete sogar σώμα allein noch etwas Personähnliches (vgl. Hirzel 1914, 7 ff.); da Tiere ohne Zweifel audi ein σώμα haben, fragt es sidi, wie weit im „epischen Zeitalter" eine mögliche Personeindeutung bei ihnen reicht. „ . . . nun denke man auch, wie nahe Homer die Tiere menschlichem Empfinden rückt, an den treuen Hund Argos und das für Augenblicke sogar der Rede mächtige Roß X a n t h o s . . . und man wird nidit unbillig finden, wenn sie auch mit einem gewissen Schein der Persönlichkeit umkleidet wurden. Freilich konnte nie verkannt werden, daß schon Homer gelegentlich auf eine andere Auffassung der Persönlichkeit deutet, die tiefer greift und sie nicht im Körper, sondern in der Seele sucht. Aber das sind nur Andeutungen, und nirgends wird das Selbst des Menschen ausdrücklich in die Seele gesetzt so wie zu Anfang der Ilias in den Körper." (Hirzel 1914, 7 f.) In der Zeit der großen Dramatiker wurde mit σώμα der Leib von Menschen und Tieren bezeichnet, die Person oder das Indivi-
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C Prolegomena der Persönlichkeitstheorie
duum aber nur, „wenn vorzugsweise an die materielle Substanz gedacht wird", wie Menge in seinem Handwörterbuch ausführt. Als Belege nennt er: σώματα ελεύθερα, αιχμάλωτα, δοϋλα. Wenn die Dramatiker das Wort οώμα auf einen Menschen anwendeten, dachten sie dabei hauptsächlich an seinen Leib, nicht an seine Innenwelt. Von daher fällt ein besonderes Licht auf die psychologischen Probleme, die sich mit den Namen ödipus' und Elektras verbinden. So beschuldigt ζ. B. ödipus Kreon, daß er sich an ihm, u. z. an seiner leiblichen Existenz, vergehen wollte: δρώντα γάρ νιν, ώ γύναι, κακώς ειληφα τοϋμόν σώμα συν τέχνχ) κακχί (ödipus rex 642). Denn ich faßte ihn, Frau, wie er mit schlechter List meinem Leib etwas Schlechtes antat, ödipus wirft Kreon also eine Verletzung seiner körperlichen Unversehrtheit vor, nicht eine Beeinträchtigung seiner Persönlichkeit, was immer man darunter verstehen könnte. - Und in Elektra redet die Titelheldin in der Wiedererkennensszene ihren Bruder Orest voll Emphase an: ίώ γοναί, γοναί σωμάτων εμοί φιλτάτων... (Elektra 1233) Oh Sproß, Sproß aus dem für midi geliebtesten aller Leiber (damit ist Agamemnon gemeint). Elektra sagt über ihren Vater also nicht, daß er für sie ein Objekt der Sehnsucht, der Verehrung war, womit ein ziemlich entkörperlichter Vorgang beschrieben würde, sondern sie sagt, daß der Vater ihr der liebste Leib gewesen sei, bzw. die liebste Person, wenn dabei - um noch einmal Menge zu zitieren - „an die materielle ((körperliche, leibliche)) Substanz gedacht wird". Die Jahrhunderte nun, die hier hineinlasen: er war mir der liebste Mensch (oder: die liebste Person) und dies nicht real körperlich verstanden, nahmen eine Psychisierung um den Preis einer Konfliktverharmlosung vor. Freud, der den Begriff „Elektrakomplex" übrigens immer abgelehnt hat (vgl. Freud GW 12, 281; GW 14, 521; GW 17, 121), nennt die seine Wahl des Begriffs „Ödipuskomplex" stützende Gleichsetzung von σώμα und Person bei Sophokles nicht. (Gestützt wird durch die Gleichsetzung nur die Wortwahl, nicht die These.) Πρόσωπον in der Bedeutung des natürlichen Gesichts kommt schon bei Homer vor. „Zu der ersten Bedeutung des Gesichts, wie es von Natur einem Wesen eigen ist, gesellte sich eine andere, wonach es das künstliche Gesicht bezeichnet, das der Mensch durch Aufsetzen einer Maske sich selber verleiht. Das Aufkommen dieser Bedeutung müssen wir in die Anfänge des kunstmäßig entwickelten Dramas setzen . . . Erst nadi Aristoteles erhält es die Bedeutung von Rolle, Charakter." (Hirzel 1914, 40 f.) In Rom kam es zu einer zusätzlichen Erweiterung dieser Inhalte beim Parallelwort persona: „personam agere" ist nicht mehr nur „eine Rolle im Theater spielen". Das Spiel ist vielmehr in nüchterne Zweckmäßigkeit überführt worden: „Bei den Römern ging das dem griechischen πρόσωπον entsprechende Wort persona aus der Theater- in die Gerichtssprache über: der Advokat sprach im Namen seines Klienten, er spielte dessen Rolle (personam agere). So erschien persona schließlich als .Trägerin von Reditsbeziehungen', und in dieser Bedeutung wirkte das Wort auf den griechischen Sprachgebrauch zurück." (Topitsch 1966, 207) Aber auch das Spektrum der sozialen und psychophysischen Persondeutung ist in der klassischen Latinität sehr groß:
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Cicero kennt eine Vielzahl von Modi, von denen einige angeführt seien: Persona ist bei ihm zunächst die Larve des Schauspielers, so bezeichnet er das kurzfristige und durchschaubare Übernehmen einer Rolle: in persona lenonis imitari aliquem; weiter die Person bzw. die Rolle, die der Mensch langzeitlich in der Welt spielt: personam sibi accomodare oder suscipere (in übernehmender Hinsicht) - personam imponere alicui (in eindeutender Hinsidit); die Identifikation mit einer großen Aufgabe: personam civitatis gerere (den Staat repräsentieren); die Verteidigung dieser Identifikation: personam in re publica tueri principis (seine Stellung im Staate, als einer der ersten Männer desselben, bewahren); die Stellung oder der Rang, den die Verhältnisse gewähren: persona regis (der König als solcher) ; die Bedeutung oder der Rang, die durch ausgezeichnete Tätigkeit erworben werden können: ex persona poetae (unter der Person des Dichters), (vgl. Merguet 1887/1894, III, 62f., Georges 1875, I, 1853) Die Bedeutungsspezifizierung von persona bei Cicero umfaßt also nicht nur die vier Richtungen, die Allport angab, (vgl. Allport 1949, 28) Wie schon angegeben, wurde in der Antike audi die Differenz zwischen der Auffassung der realen, psychophysisdi oder sozial gedeuteten Person und der der juristischen Person begründet. (Die Sklaven als Individuen galten als απρόσωποι = rechtlose, (vgl. Hirzel 1914, 20)) Die Denkleistung in der Ausbildung dieser Differenz besteht in der Konstruktion der nicht mehr realen juristischen Person; so hat sich der Terminus Person „immer deutlicher als Bezeichnung für die Rechtsfähigkeit von denjenigen für das psycho-physische Individuum abgehoben: es gibt menschliche Individuen (vor allem die Sklaven), welche nicht Personen sind, und es gibt Personen (die sog. juristischen Personen), denen kein Individuum entspricht". (Topitsdi 1966, 207) Neben die reale und die juristische Definition der Person tritt schließlich als dritte die theologische; dabei ist es nicht unbedeutsam, daß Tertullian, ein christlicher Jurist, den Personbegriff in die Trinitätslehre einführt, (vgl. Harnack 1886, 1, 576) Der Trinitätsbegriff wird als der einer geordneten Beziehung von Personen entwickelt, und noch in der Entstehung des Schismas zwischen der römischen und der morgenländischen Kirche spielt die Dogmatisierung der „Einflußsphäre" der göttlichen Personen eine Rolle: In der morgenländischen Kirche stammt der Geist nur a patre, die römische Kirche lehrt über den spiritus sanctus, qui ex patre filio q u e procedit. Auf dem 1. Konzil in Konstantinopel (Mai bis Juli 381), auf dem die Gottheit des Geistes dogmatisiert wurde (unter maßgeblicher Mitwirkung Gregors von Nazianz) herrschte über diesen Punkt zwischen West- und Ostkirche noch keine Unstimmigkeit. Im Symbolum Nicaeno-Constantinopolitanum heißt es über den spiritus, den Lebendigmacher, daß er vom Vater ausgeht, daß er aber mit dem Vater und dem Sohne zugleich angebetet wird. Die Meinungsverschiedenheit entstand erst später: „Die Griedien verstanden nämlidi die Formel, ,der vom Vater ausgeht' als Ausgang ,vom Vater durch den Sohn', die Abendländer hingegen ,vom Vater und dem Sohn'." (Jedin 1961, 22) Die Ausgestaltung dieses Unterschiedes über die Macht und das Recht der göttlichen Personen gegenein-
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ander setzte schließlich die strenge Gleidiheitsauffassung der „juristischen" Westkirche von der paternalistisdien der Ostkirche ab. Mit diesem Ergebnis war die psychophysische, die juristische und die theologische Deutungsgebung des Begriffs Person zum ersten Abschluß gekommen. „Person" bei deutschen Theologen, Dichtern und Philosophen Im Mittelhochdeutschen taucht „persóne" im 13. Jahrhundert auf. Die Theaterfunktion wird sofort durch die Lehnwörter Maske und Rolle gedeckt; Person wird für Wesen, Kern, Gestalt des Individuums reserviert. Es bleibt zunächst ein Wort der Wissenschaft und wird nicht in der Umgangssprache verwendet, (vgl. Kluge 1963, 538) Persönlichkeit taucht erst im 14. Jahrhundert auf, u. z. bei den Mystikern; es ist eine Übersetzung von personalitas. (vgl. Rheinfelder 1928) - Die auf das „Wesentliche" reduzierte Bedeutung behält der Begriff Person auch bei Luther; der juristische und der Theateraspekt fehlen bei ihm. Person als Begriff des psychophysischen Individuums nimmt bei Luther mindestens drei Deutungsrichtungen an. Auf zwei von ihnen wies schon Trendelenburg hin: „Bei der Erzählung eines Verrats übersetzt Luther 2. Makkab. 12,4: sie ersäuften sie alle in die zweihundert Person; und in Luk. 19,3 bei der Erzählung von Zachäus, der Jesum zu sehen begehrt und auf einen Maulbeerbaum stieg: ,denn er war klein von Person'. In erster Stelle haben der griechische Text und die Vulgata nur das Zahlwort; und Luther wählt, scheint es, Personen, um Männer und Weiber zusammenzufassen. In der zweiten Stelle heißt Zachäus im Griechischen ήλικία μικρός, im Lateinischen steht quia statura pusillus erat. In dem Gebrauch: ,er war klein von Person', ist das Aussehen, wie in der Maske, eine wesentliche Vorstellung, aber es wird dabei an das Aussehen des ganzen Leibes gedacht." (Trendelenburg 1908, 5) Vor kurzem ist außerdem versucht worden, den Nachweis zu führen, daß Luther über einen weiteren, einen theologisch-philosophischen Personbegriff verfügt habe. (vgl. Joest 1967) Dieser Personbegriff unterscheide sich von den vor Luther entstandenen dadurch, daß er erstens die analogia entis nicht mehr anerkenne, zweitens aber nicht den Menschen selbst, sondern nur die Beziehung Gottes und des Menschen betrachte. Das Wichtige an ihm wäre, daß Luther für den geistlichen Bereich des Menschen die substanziale Personvorstellung aufgebe. „Wenn Luther für den Bereich der geistlichen Qualifikation das Träger-sein der Person wirklich verneint und sie umgekehrt als die Angeeignete und Getragene versteht, so muß logisch daraus folgen, daß alles, was diese geistliche Qualifikation ausmacht und aus ihr hervorgeht - was der Mensch also in ihr ,ist' und ,tut' -, nicht eigentlich mehr von ihm als sein Sein und Tun prädiziert werden kann, sondern von derjenigen Macht, durch die er angeeignet und getragen ist, als ihr Sein und Tun in ihm prädiziert werden muß." Joest 1967, 258 f.) Aus den vielen Belegen, die Joest für diese Lutherinterpretation bringt, seien nur zwei hier angeführt: „Nos non sumus, qui regimus, qui judicamus, qui loquimur . . . ipse loquitur, ipse judicat, ipse facit in nobis omnia."
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(Luther W W 5, 232) „Christianus non vivit, non loquitur, non operatur, non patitur, sed Christus in eo, omnia opera eius sunt opera Christi . . . Igitur qui credit in Christum, evacuatur a seipso, fit otiosus ab operibus suis, ut vivat et operetur in eo Christus." (Luther W W 2, 564) Dieser Auffassung zufolge wäre der spiritus rector des Mensdien also nicht er selbst; vielmehr wäre der Mensch aus sich heraus unfähig zur verantwortlichen Selbstlenkung und -beurteilung. Offensichtlich verfügt Luther also über eine Personvorstellung, in der der geistliche Mensch nicht als Herr seiner selbst, sondern als excentrisch bewegt, gehalten und gesteuert gedacht wird. D a ß Luther diese Personversion theologisch einschränkt, ist geistesgeschichtlich unerheblich. Philosophisch-psychologisch ist an der Konzeption des Reformators nämlich bemerkenswert, daß, nachdem das Altertum und die mittelalterliche Philosophie in der Frage der Anteile der Selbstund Fremdbestimmung der Person eine faktoriell ausgewogene Auffassung erarbeitet hatten, in der weder die Selbstbestimmung in einer radikalen Spontaneitätsthese noch die Fremdbestimmung in einer ebenso radikalen Behaviorthese zugespitzt worden war, Luther eine eindeutige Akzentuierung zu Gunsten der Fremdbestimmung vornimmt. „Luther denkt einen Lebens- und Verhaltensakt des Menschen, in dem das menschliche Selbst nicht auctor, sondern getragen und mitgenommen ist. Sein Personverständnis ist — als Verständnis der Person des Glaubenden im Verhältnis zu Gott - durch und durch exzentrisch . . . Dem entspricht seine Haltung in der Frage der Prädizierung, in der er gerade bezüglich dessen, was im Menschsein wirklich geschieht, an der alleinigen Prädizierung auf Gott festhält." (Joest 1967, 269) Es bedarf nun nur noch eines einzigen Schritts, den man als ungeheuerlich oder von anderem Standpunkt aus als Konsequenz geringer Art auffassen kann, nämlich der völligen Eliminierung des theologischen Moments, um die radikale Behaviorismusposition zu erreichen, die besagt, daß das Verhalten völlig fremdgesteuert ist. Die Aufforderung zu solchem Denken ist von Luther unfreiwillig mitgedacht worden, denn gerade in der theologisch ausgewiesenen Zweiteilung des Menschen in einen auf Gott ausgerichteten „geistlichen" Menschen und einen weltverhafteten ungeistlichen ist eine Wertung eingeführt, in der das Ungeistliche als inferior gelten muß, so daß es, wenn sein es tragendes Fundament unglaubwürdig wird, selbst auch schnell verworfen werden kann. Die nur weltliche „innere" Person ist bei Luther theologisch „un-wahr", so wie später die nur noch auf sich gestellte „innere" Person insgesamt für die Verhaltenslehre ein „unwahres" Konstruktionsfossil sein wird. In beiden Denkhaltungen ist „wahr" nur der in den Prämissen des eigenen Systems außengesteuerte Mensch, also einmal der homo theologicus, ein andermal das Reaktionsprodukt. - Der Begriff Person erhält bei Luther also insgesamt mindestens drei Verwertungen: erstens die Realität des zählbaren psychophysischen Individuums, zweitens das An-sehen oder Aus-sehen der Individuen, drittens denkt Luther in seiner Auffassung über die menschliche Person diese in ihrem von ihm für wichtig gehaltenen spirituellen Anteil („geistlich") als fremdgesteuert.
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Die Übersetzung der Fremdsteuerungsauffassung aus der theologischen in die psychologische Denkweise geschah mit Effekt erst in diesem Jahrhundert, u. z. durch Reflexologie und Behaviorismus. Während der dazwischen liegenden Jahrhunderte erlebte die nicht theologische, nicht psychologische, sondern idealistischphilosophische und humanistische Selbststeuerungsauffassung ihre Hochblüte: Nach Goethes bekanntem Wort ist Persönlichkeit das „höchste Glück der Erdenkinder"; die Selbstgestaltung erzeugt dieses Glück. Kant denkt die Person als das Subjekt der sittlichen Selbststeuerung, als das Wesen, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. Personen unterscheiden sich von Sachen nicht dadurch, daß Lebendes gegen Totes steht, sondern in der Weise, wie sie Zweck sein können: „Die Wesen, deren Dasein zwar nicht auf unserm Willen, sondern der Natur beruht, haben dennoch, wenn sie vernunftlose Wesen sind, nur einen relativen Wert, als Mittel, und heißen daher Sachen, dagegen vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin so fern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist)." (Kant GS 4, 428) Die Natur, insoweit sie vernünftig ist, „existiert als Zweck an sidi selbst". (Kant GS 4, 429) Die Person darf also nicht ein Mittel der Verwendung für die nur subjektiven Zwecke beliebiger anderer Willensträger sein; die Achtung des Zweckes in jeder Person ist der praktische Imperativ; alles, was nicht Person ist, kann dagegen audi als Mittel angesehen und verwendet werden. Die Person ist Zweck, Selbstzweck, vernünftiger Selbstzweck und Bestimmung dieses vernünftigen Selbstzwecks; so ist sie frei. Das Wesen der Person ist die Gewinnung des Selbstzwecks in Freiheit. Der Mensch ist gerade seiner Persönlichkeit nach betrachtet ein „mit innerer Freiheit begabtes Wesen". (Kant GS 6, 418) Der Selbstzweck darf nicht zum Mittel werden, auch nicht für den Zweckträger; audi er muß das Gesetz über die Willkür stellen. Damit schafft er die Möglichkeit seiner Anerkennung. „Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz (der Rechtschaffenheit etc.), wovon jene uns das Beispiel gibt." (Kant GS 4, 401) In moralischer Hinsicht erfährt der Begriff der Person bei Kant also eine klare Akzentuierung; in ontologisdi-psychologischer Hinsicht bleibt er leer; der dritte Paralogism der transzendentalen Dialektik gibt zwar an: „Was sich der numerischen Identität seiner selbst in verschiedenen Zeiten bewußt ist, ist so fern eine Person." (Kant GS 4, 227) Aber aus der numerischen Identität des Bewußtseins kann nicht auf die tatsächliche Identität einer konsistenten Person im Sinne einer Seelensubstanz geschlossen werden. Person kann nur als Einheit des unbekannt bleibenden Subjekts gedeutet werden: „Indessen kann so wie der Begriff der Substanz und des Einfachen, eben so auch der Begriff der Persönlichkeit (so fern er bloß transzendental ist, d. i. Einheit des Subjects, das uns übrigens unbekannt ist, in dessen Bestimmungen aber eine durchgängige Verknüpfung durch Apperception ist) bleiben, und so fern ist dieser Begriff auch zum praktischen Gebrauche nötig und hinreichend; aber auf ihn als Erweiterung unserer Selbsterkenntnis durch reine Vernunft, welche uns eine un-
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unterbrochene Fortdauer des Subjects aus dem bloßen Begriffe des identischen Selbst vorspiegelt, können wir nimmermehr Staat machen, da dieser Begriff sich immer um sich selbst herumdreht und uns in Ansehung keiner einzigen Frage, welche auf synthetische Erkenntnis angelegt ist, weiter bringt." (Kant GS 4, 230) Die ontologisdie Analyse der Person führt nicht auf inhaltliche Substanz, sondern auf ein Verhältnis: „Bewußtsein ist das Anschauen seiner s e l b s t . . . Es ist die logische Persönlichkeit, nicht die praktische . . ." (Kant GS 18, Refi 5049) Durch das Anschauen seiner selbst wird die Synthese der Ichvorstellung im Menschen möglich. Einerseits erhebt dieser Vollzug den Menschen über alles andere auf der Welt, andererseits erfährt er daraus nur, daß er sich in verschiedenen Zuständen als ein und derselbe bewußt werden kann. In ontologischer, erkenntnistheoretischer und psychologischer Hinsicht hat der Begriff der Person in der Kantischen Philosophie also nur formal-feststellenden Charakter; seine Auszeichnung erhält er in der Ethik; die Person hat die Aufgabe, zu wirken und sich zu bestimmen - aber unter dem Gesetz. Die Erhabenheit der Person liegt darin, daß sie achten kann und Achtung verlangen kann, nicht darin, daß sie tätig sein soll. Die Idee der Persönlichkeit erweckt Achtung, (vgl. Kant GS 5, 87) „Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen (die psychologische aber bloß das Vermögen, sich der Identität seiner selbst in den verschiedenen Zuständen seines Daseins bewußt zu werden), woraus dann folgt, daß eine Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst gibt, unterworfen ist." (Kant GS 6, 223) Für die Geschichte des Begriffs der Person liegt die Bedeutung der Kantischen Auffassung augenscheinlich darin, daß die Person bei ihm in ihrem Inhalt ganz leer wird: sie überdauert entweder nur noch als nicht-empirisches Reflexionsverhältnis - die logische Persönlichkeit ist das Anschauen ihrer selbst - oder sie wird zum Subjekt, das die Bestimmung seines Wesens in der Beachtung von Gesetzen sehen muß, die es nicht in Willkür erfindet, sondern sich aus seinem Zweck heraus gibt. Reflexionsverhältnis und Achtung für das Gesetz sind ontologisch weder substanziierbar nodi psychologisch befragbar. Gerade durch die Strenge Kants wurde der Begriff der Person in ontologischer und psychologischer Verwendung herrenlos. Aber noch zu Lebzeiten Kants begannen die ersten Versuche einer Restauration der Personontologie. Schon 1799 manifestierte sich der erste Ansatz dieser Art in Schleiermachers Reden „Uber die Religion" (vgl. Schleiermacher 1799), u. z. in sprachlicher und denkerischer Hinsicht. Einmal erfand Schleiermacher das Wort „Personalismus".1 In gedanklicher Hinsicht unterscheidet Schleiermacher drei Stufen der Religion: 1. die Welt wird als Chaos aufge1
Dieses Wort wird in den Handbüchern von Grimm (vgl. Grimm 1889, Bd. 7) und Kluge (vgl. Kluge 1963) nidit geführt: die philosophischen Handbücher nennen u. a. Lotze, Teichmüller, Stern, Sdieler als Personalisten, sie weisen aber nicht auf Schleiermacher als Präger und ersten Verwender hin. (vgl. Eislers Handwörterbuch 1922)
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faßt, 2. die Welt ist eine bestimmte Vielheit heterogener Kräfte, 3. das Sein stellt sich als Totalität bzw. als System dar. Jeder dieser drei Stufen entsprechen zwei mögliche Gottesbilder: Auf der ersten Stufe stehen sich Gott als Fetisch und als Fatum gegenüber, auf der zweiten als Polytheismus und Notwendigkeit der Natur, auf der dritten als Monotheismus und direkter Pantheismus. Die Haltungen, die zu dieser Konfrontation führen, nennt Schleiermacher „Personalismus" und „pantheistische Vorstellungsart", (vgl. Schleiermacher 1799, 256 f.) Personalismus ist also eine innerseelische Tätigkeit, die sich den höchsten Gott bzw. den Grund der Welt als Person bzw. personanalog denkt. Auch in ethischer Hinsicht versucht Schleiermacher, statt von einer formalen, von einer inhaltlichen, personalen Begründung auszugehen: Sittlich ist es, sich als persönliches Individuum zu entwickeln, denn das Individuum ist als Spiegel des Universums angelegt. Erkenntnistheoretisch bedeutet die Eigentümlichkeit des Individuums freilich eine definite Grenze der möglichen allgemeinen Gültigkeit seines Denkens und Wissens: Der Anspruch der Vernunft wird durch die Individualität eingeschränkt. Es unterscheidet den Denker Schleiermadier freilich von den philosophischen und psychologischen Personkonstruktionen dieses Jahrhunderts, daß die vom „Personalismus" imaginierte Gottesperson nur als Variationsmodell gedacht wird. Schleiermadier ist also nicht naiver Persontheoretiker. Der Begriff der Person, der schon im Etruskischen die Spannung zwischen Verborgenem und Erscheinendem bezeichnete, hat diesen Januscharakter nie verloren. Aporetik und Äquivokationsgefahr gehören zu seinem Wesen; insofern ist er unaufhebbar ein philosophischer Begriff. Der Substanziierungsversuch, an dem Jahrhunderte gearbeitet hatten, wurde von Kant beendet. Von ihm an konnte die Person, wenn man sie inhaltlich auffüllen wollte, nur nodi als reine Aktualität (von innen) oder als passive Sedimentation (von außen) gesehen werden, bzw. es mußten Überbrückungen dieser Extreme angestrebt werden.
§ 10 Persönlichkeitstheorie als philosophisch-methodisches Problem u n d als Wissenschaft Die Abhängigkeit der Persönlichkeitstheorien vom philosophischen Denken In die Geschichte des Begriffs Person sind manche philosophische Probleme mitverfloditen. Sie haben die Geschichte der Person- und Persönlichkeitstheorien bestimmt und tauchen noch in den heutigen Forschungsansätzen auf, auch in solchen, die gegenüber der Philosophie abstinent geworden sind oder sie offen ablehnen. Diese Tatsache wird auch von empirischen Persönlidikeitstheoretikern nicht bestritten, (vgl. Herrmann 1969, 26 £f.) Für die beiden Hauptrichtungen der neueren Persönlichkeitstheorien, die eine, die die Person als reaktiv, lernend, verhaltensgeprägt auffaßt, und die andere, die die Person als aktiv, spontan,
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sich selbststeuernd deutet, werden Philosophen der Neuzeit als direkte Ahnherren benannt: In Lockes Theorie des mind als tabula rasa („no innate principles in the mind") wird das erste Modell der späteren empiristischen Personlichkeitstheorien gesehen, (vgl. Locke 1690, book I, chapter II) Die Autonomietheorien aber gehen auf Leibniz und Kant zurück. Leibniz wird sicher mit noch größerem Recht genannt, denn die Substanz der Monaden, ihre tätige Kraft, zerfällt bei ihm nodi nicht in Intelligibilität und Sinnlichkeit. Zwei Grundannahmen aus Leibnizens Denken sind von den meisten Autonomietheorien übernommen worden: Sie besagen, daß 1. die Person bzw. die Monaden wirklich aus sich heraus selbständig sind und 2. die Seele nicht als Summation leiblicher Erfahrungen aufgefaßt werden kann. Die Auffassung der Abhängigkeit zumindest der herkömmlichen Persönlichkeitstheorien vom philosophischen Denken, wie Allport sie beschreibt, wird aber nicht nur in der anglo-amerikanischen Psychologie zugegeben, sondern auch in der russischen: „Die Problemstellung und -lösung des Persönlichkeitsproblems in der Psychologie hängt wesentlich von den allgemeinen theoretischen Einstellungen ab, von denen man dabei ausgeht. Andererseits bestimmt die jeweilige Lösung des Persönlichkeitsproblems auch wesentlich die allgemeine theoretische Konzeption der Psychologie." (Rubinstein 1963, 97 f.) Nach Rubinstein werden die Persönlichkeitsbegriffe der psychologischen Theorien also hauptsächlich auf Grund unterschobener Gesamtentwürfe denkerischer Art konzipiert; sie selbst bleiben wiederum nicht folgenlos, sondern wirken auf die Theoriebildungen der Psychologie weiter ein. In theoriekonstitutiver Hinsicht wäre der jeweilige Begriff der Person für die Psychologie also ein Schlüsselbegriff hermeneutischer Natur. Der mit ihm verbundene Zirkel soll ohne Nachteile für die Theorie in Kauf genommen werden, wenn der vorausgesetzte Grund der Theorie sich im Theorieaufbau rechtfertigen kann. Bei Rubinstein wird diese Leistung durch einen Faktor der Person, ihre Tätigkeit, ihre Arbeit erbracht: „In der Wechselwirkung mit der Welt, in der von ihm vollzogenen Tätigkeit äußert sich der Mensch nicht nur, sondern formt er sich auch. Daher hat auch die Tätigkeit des Menschen so fundamentale Bedeutung für die Psychologie. Die menschliche Persönlichkeit, d. h. jene objektive Realität, die man mit dem Begriff der Persönlichkeit bezeichnet, ist letzten Endes ein reales Individuum, ein lebender und handelnder Mensch." (Rubinstein 1963, 102) Die Rückübersetzung dieser Auffassung aus der materialistischen in die idealistische Konzeption entspricht genau der Hegeischen Ansicht. Materielle Wechselwirkung wäre zu lesen als das Wirken der Sustanz, die subjektiv werden will, gegen ihre naturalen Fundamente, und die materielle Tätigkeit des Menschen aufzufassen als die idealistische Arbeit des Begriffs. Die These Rubinsteins ist aber nur scheinbar empirisch; dadurch, daß sie annimmt, daß zwischen Mensch und Welt eine reelle Wechselwirkung statthaben und daß der Mensch sich selbst formen kann, behauptet sie etwas, das sich in Metaphysikenthaltung nicht sagen läßt. Die unausgewiesene Ansetzung des anscheinend Selbstverständlichen als Realität
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enthält keine geringeren metaphysischen Schwierigkeiten als der so schwer verständliche Vorgriff auf die Macht des Geistes. Nur - bei Rubinstein wird die metaphysische Position abgestritten, bei Hegel wird sie programmatisch akzeptiert: „. . . vom Geiste und dem Geistigen ist eigentlich auch nicht ein Wort zu sagen, als ein spekulatives; denn er ist die Einheit im Anderssein mit sich; - sonst spricht man, wenn man auch die Worte Seele, Geist, Gott braucht, doch nur von Steinen und Kohlen." (SW 3, 316) Nun ist das Reden über Steine sicher nicht so aufsehenerregend wie das Reden über Seele, Geist, Gott; es erhöht den Sprechenden für sein Gefühl nicht; seine Gegenstände liegen dafür aber auch nicht jenseits der Erfahrbarkeit. Der allgemeine Begriff und die besondere Realität Hegel geht davon aus, daß dann, wenn der Geist sich als sich selbst wissende wirkliche Idee begreift, er sich über die »nur" endliche Erkennensweise der Erfahrung erheben könne, die er von Wolff bis Fichte in der Psychologie am Werk sieht: der erste bleibt nach Hegel bei vereinzelten Vermögen hängen, der zweite geht über vereinzelte Tatsachen des Bewußtseins nicht hinaus. Erst der Geist, der sich als vernünftig lebenden denkt, verläßt die Abstraktionen der in verstandesmäßiger Gliederung isolierten Vermögen und „Sätze" und setzt sie zu Momenten des Begriffs herunter, wodurch es wiederum erst möglich wird, den Inhalt des Geistes mit Notwendigkeit zu entwickeln, was dann in Konsequenz als die allein wissenschaftliche Methode angesehen werden muß. „. . .die Philosophie hat einen Gegenstand nach der Notwendigkeit zu betrachten, und zwar nicht nur nach der subjektiven Notwendigkeit oder äußern Ordnung, Klassifikation u.s.f., sondern sie hat den Gegenstand nach der Notwendigkeit seiner eigenen innern Natur zu entfalten und zu beweisen. Erst diese Explikation macht überhaupt das Wissenschaftliche einer Betrachtung aus." (SW 12, 33) Diese Explikation ist in der Durchführung nichts anderes als das offene Setzen alles dessen, was in einem Begriff implizit schon enthalten ist. Die Begriffsarbeit ist also weder interessant noch leicht; die viel gelästerte Schwierigkeit Hegels ist ein Ergebnis dieser Art von Arbeit. Bei der Begriffsarbeit ist weiter zu beachten, daß Hegel die Begriffe sich nicht nur in der Logik, sondern audi in der Realität entwickeln lassen will. Die Entwicklung der Begriffe ist auch dabei selbstverständlich nicht reale Genese, sondern Entwicklung der Logizität, also nidit Genese einzelner Erscheinungen, sondern der Idee der Erscheinungen oder des Inwendigen eines Äußerlichen: „Die philosophische Betrachtung hat es nur mit dem Inwendigen von allem diesem, dem gedachten Begriffe zu tun." (SW 7, 330) Der Unterschied zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften ist also u. a. der, daß die Philosophie ihre sämtlichen Begriffe nur aus ihnen selber in ihrer absoluten Notwendigkeit darstellen muß, während die empirischen Wissenschaften ihre Bestände nach ihnen vorausgehenden Regeln und Gesetzen ordnen,
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so daß diese Bestände unter sich Zusammenhang nur nach außen aufweisen. Der Vorzug der philosophischen Arbeit im Hegeischen Sinne aber soll es gerade sein, daß sie nidit nur die Regeln ihrer Arbeit selbst erstellt, sondern audi inneren Zusammenhang der Inhalte -wirklich macht: „Dies geschieht, indem jeder besondere Begriff aus dem sich selbst hervorbringenden und verwirklichenden allgemeinen Begriff oder der logischen Idee abgeleitet wird. Die Philosophie muß daher den Geist als eine notwendige Entwicklung der ewigen Idee begreifen, und dasjenige, was die besonderen Teile der Wissenschaft vom Geiste ausmacht, rein aus dem Begriffe desselben sich entfalten lassen." (SW 10, 15) Aus dieser These ergibt sidi ohne weiteres, daß auch dann, wenn man nicht in enzyklopädischer Absicht bestimmte Regionen des Geistes durchgeht, sondern sein Wirken als subjektive Konzentration begreifen will, u. z. als konkrete, nicht als abstrakte, was eben den Begriff der Person von dem der Subjektivität trennt, man die Inhalte nur aus der logisdien Idee schöpfen darf. Wenn man sich nicht an diese Maxime halten, aber trotzdem versuchen würde, konkret zu bleiben, bezahlte man mit dem Preis der Logizität, denn man verführe sdion empirisch; versuchte man aber, transzendental zu bleiben, entrichtete man den Preis der Konkretion, denn man verbliebe auf dem Fichteschen Boden des abstrakten Bewußtseins. Also nicht nur die systemorientierte, sondern auch die punktuelle oder regionale Analyse muß, wenn sie philosophisdi verfahren will, vom Vorbegriff der Geisthaftigkeit des zu Entwickelnden ausgehen: „Erst wenn wir diesen Begriff ((einer Region)) festgestellt haben, können wir die Einteilung und damit den Plan des Ganzen der Wissenschaft darlegen; denn eine Einteilung, wenn sie nicht, wie es bei unphilosophisdier Betrachtung geschieht, auf eine nur äußerlidie Weise vorgenommen werden soll, muß ihr Prinzip in dem Begriff des Gegenstandes selbst finden." (SW 12, 47) Die Entwicklung aus der Immanenz der Idee heraus wird freilich bloß für die philosophische Analyse beansprucht; nur die Regionalität der Welt, soweit sie Widerspiegelung der logisdien Idee ist, läßt sidi also aus der Idee begreifen. Darunter fallen etwa die großen Kreise der Natur und der Naturgesetze, des Subjekts und der Subjektsgesetze. Hegel selbst sieht die Begreifensmacht des Begriffs demnach als dahingehend eingeschränkt an, daß sich nur die „großen Kreise" als solche begreifen lassen. In der Auffüllung ihres empirischen, sinnlichen Daseins aber besteht ein solcher „Reichtum der Mannigfaltigkeit", „daß teils die vielfachste Weise sidi dazu zu verhalten möglidi wird, teils der philosophische Begriff, wenn wir den Maßstab seiner einfachen Unterschiede anwenden wollen, nidit auszureichen und das begreifende Denken vor dieser Fülle nicht zu Atem kommen zu können scheint. Begnügen wir uns aber mit bloßer Beschreibung und äußerlichen Reflexionen, so stimmt dies wiederum mit unserem Zwecke einer wissenschaftlich-systematischen Entwicklung nicht zusammen." (SW 13, 262) Einerseits fordert Hegel also, daß alle wahre Erkenntnis nur aus dem Begriff gewonnen werden soll, andererseits sieht er für die Verästelungen der Wirklichkeit ein, daß der Begriff die Menge der Details nicht zu erforschen
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vermag. Mit dieser Gegenüberstellung ergeben sich außerordentliche Schwierigkeiten, die besonders die Legitimität des aus dem Begriff Entworfenen betreffen: Die „großen Kreise", die der Begriff klären soll, werden gewonnen in hinnehmender Erfahrung und ordnendem Entwurf. Was aber gibt einem Denker neben seinem ihm eigenen Evidenzerlebnis audi das Recht anzunehmen, daß seine „Kreiseinteilung", seine harmonía mundi, diejenige ist, in der Subjekt und Objekt im Begriff Frieden schließen? Mußten nicht der Naturbegriff von den Pythagoräern bis zu Einstein, der Subjektsbegriff von Aristoteles bis zu Husserl, der Personbegriff von Boethius bis zu Stern (und jeweils nodi weiter) in der großen Sicht, in der „Kreiseinteilung", gerade deswegen immer wieder erneuert werden, weil die früheren Entwurfsbegriffe mehr zu wissen wähnten, als ihre Erfahrungsbasis schon hergegeben hatte? Stammen nicht fast alle wesentlichen und wichtigen Fortschritte des Wissens überhaupt ebenso wie die Revisionen der Entwürfe aus der Erfahrung, die unscheinbare Abweichungen von Typen oder Mittelwerten beachtet, kleine Planeten-„fehler" wichtig nimmt? 2 2
In diesen Erörterungen wissenschaftsmethodischer Art ist Hegels Stellung in einer bestimmten naturwissenschaftlichen Frage nicht ohne systematisches Interesse: In seiner Habilitationsschrift „Dissertatio philosophica de orbitis planetarum" (vgl. SW 1, 1-29) kam Hegel auch auf das Problem der Erklärung der Planetenabstände zu sprechen. Von Johann Daniel Titius (1729-1796) und Johann Bode (1747-1826) war eine Reihe für die Planetenabstände formuliert worden, die von einer arithmetischen Progression ausgeht. (3, 6, 12, 24, 48 usw.) Hegel, der die „identitatem rationis et naturae" (SW 1, 28) suchte, verwarf diesen Versuch, weil damit keine Entwicklung des Sonnensystems aus einem sich selbst setzenden Fortschritt heraus denkbar werde: „Quae progressio quum arithmetica sit, et ne numerorum quidem ex se ipsis procreationem i. e. potentias, sequatur, ad philosophiam nullomodo pertinet." (SW 1, 28) Die Bode-Titiussdie Reihe enthält den Faktor 2 in Hegels Vorstellung nicht aus sich selbst, aus eigener Setzung oder Zeugung („procreatio"), sondern aus ihr externen Bedingungen. Sie kann also nicht nur aus ihr selbst entwickelt werden, während dies bei einer Potenzenreihe von Hegel für möglich gehalten wird. Deshalb zog Hegel die Zahlenreihe vor, die Plato imTimaios bringt; allerdings modifizierte er sie. Den Hauptdienst erwies sie ihm schon mit ihren ersten fünf unveränderten Zahlen: 1, 2, 3, 2 2 , 3 2 : erstens handelte es sich um eine Potenzenreihe, und zweitens hatte sie zwischen 4 und 9 eine größere Leerstelle, die das „Loch" zwischen Mars und Jupiter „erklärte". „Quae series si verior naturae ordo sit, quam illa arithmetica progressio, inter quartum et quintum locum magnum esse spatium, ñeque ibi planetam desiderari apparet." (SW 1, 28) Noch bevor Hegel seine Habilitationsschrift am 27. August 1801 verteidigt hatte, war allerdings am 1. Januar 1801 die Ceres, der erste der Planetoiden, zwischen Mars und Jupiter entdeckt worden (wie es die Zahl 24 der Bode-Titiussdien Reihe vermuten ließ). Die Denkweise der Habilitationsschrift hat Hegels Philosophie insbesondere bei Naturwissenschaftlern in Mißkredit gebracht. Zwar ist von Verteidigern Hegels bestritten worden, daß die platonische Reihe von Hegel verteidigt werde; es handelt sich nach ihrer Deutung bloß um ein hypothetisches Zitat („si. . . . sit"), (vgl. Fischer 1911, I, 235; Müller 1959, 177) Diese „gutwillige" Auffassung wird allerdings von Hegel selbst widerlegt, da er in späteren Jahren noch behauptet, daß seine früheren Angaben für ihn nicht spielerische Konstrukte, sondern „Gedanken" gewesen seien: „Was die Reihe der Planeten betrifft, so hat die Astronomie über die nächste Bestimmtheit derselben, die Entfernung,
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Der wirkliche Fortschritt der Wissenschaften basiert dagegen darauf, daß die Entwürfe empirisch überprüft werden können: Die Konstitutionslehre beispielsweise betrachtet den „großen Kreis" des charakterplastischen Zusammenseins des Körpers und des Psychischen; sie wurde nicht aus dem Begriff des Leibes, sondern in sorgsamen Messungen entwickelt. Die Neurosentheorien betrachten den „großen Kreis" des krankhaften Zusammenseins des Körpers und des Psychischen; sie wurden nicht aus dem Begriff der seelischen Erkrankung, sondern in der Beobachtung massiver oder auch kaum merklidier Verhaltensabweichungen entwickelt. Die Lerntheorien betrachten den „großen Kreis" des Zusammenseins des aufnehmenden Geistes und der ihm begegnenden W e l t ; sie wurden nicht aus dem Begriff des Lernens, sondern in Tierexperimenten entwickelt usw. Die empirische Forschung führt auch bei diesen Entwürfen - wie immer - dazu, daß sie entweder in der Realität bestätigt werden oder nichts mehr bedeuten. Z. Zt. scheint ζ. B. der konstitutionstypologische Entwurf mehr gefährdet als gesichert. nodi kein wirkliches Gesetz, vielweniger etwas Vernünftiges entdeckt. - Was idi in einer frühern Dissertation hierüber versucht habe, kann idi nicht mehr für befriedigend ansehen." (SW 6, 179) Diese unbestimmte Mißbilligung seiner Habilitationsschrift brachte Hegel aber nicht von seiner Wertschätzung des Begriffs ab; er differenziert hier abermals die Stufen der Erkenntnis in seiner gewohnten Weise: (einfaches Wissen) - wirkliches Gesetz - Vernunft. Die Bode-Titiusschen Angaben sind ihm nur einfaches Wissen („In gewisser Rücksicht sind wir weiter, als Pythagoras." (SW 17, 283)), nodi nicht Gesetze, „viel weniger Vernunft". „Die empirischen Zahlen kennt man genau; aber alles hat den Schein der Zufälligkeit, nicht der Notwendigkeit. Man kennt eine ungefähre Regelmäßigkeit der Abstände, und hat so zwischen Mars und Jupiter mit Glück ((!)) noch Planeten da geahnt, wo man später die Ceres, Vesta, Pallas u. s. w. entdeckt hat; aber eine konsequente Reihe, worin Vernunft, Verstand ist, hat die Astronomie noch nicht darin gefunden. Sie sieht vielmehr mit Verachtung auf die regelmäßige Darstellung dieser Reihe; für sich ist es aber ein höchst wichtiger Punkt, der nicht aufzugeben ist." (SW 17, 283 f.) „Die Astronomen verachten im Ganzen ein solches Gesetz, und wollen nichts damit zu tun haben; es ist aber eine notwendige Frage." (SW 9, 149) Hegel versteht allerdings unter einer „konsequenten Reihe" bzw. einem „Gesetz", woran die Naturwissenschaftler angeblich nicht interessiert sind, etwas Eigenes: „Der Gedanke ist, daß sie ((die Bewegungen und Abstände der Planeten)) in notwendigen Verhältnissen stehen und diese harmonisch sind, - als vernünftig; es ist aber bis auf den heutigen Tag nichts weiter geschehen . . . das Harmonische, wodurch sich die Abstände bestimmen, dafür hat alle Mathematik nodi keinen Grund (das Gesetz des Fortgangs) angeben können." (SW 17,283) Hegel wünschte also auch noch in Heidelberg und in Berlin ein notwendiges und mathematisches Gesetz, das die Planetenabstände harmonisch vorschreibt; in dieser wichtigen theoretischen Frage hatte er keinen gegenüber Jena veränderten Standpunkt eingenommen. Die harmonischen Verhältnisse einer notwendigen und mathematischen Reihe könnten vernünftig begründet werden, wie Hegel glaubt; ihre Erzeugung könnte die Vernunft als begrifflich begründet ansetzen und damit die Gesetze des Sonnensystems aus ihrem Ansidi heraus, dem Begriff, ableiten. „Vernünftig" wäre eine solche Reihe aus zwei Gründen: als notwendige verbürgte sie, daß es neben ihr keine anderen geben könnte; als mathematische wäre sie im „freien
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Die Einzelheit der Person und ihre Freiheit Man kann heute wohl feststellen, daß es kategoriale oder inhaltliche Ergebnisse einer Begriffsarbeit über den Menschen, die unwidersprochen geblieben wären, nicht gibt. Einen Verlust für die Möglichkeiten des Denkens kann man darin nur dann sehen, wenn man aus dem Denken verwertbare Resultate erzielen will. Es ist die Frage, ob solche Solidität und Nützlichkeit die Aufgabe der Philosophie ist. Wenn man aber Philosophie und Wissenschaft zusammenbinden will und für ihre Methode die Begriffsarbeit hält, dann kann man heute nicht mehr dem Ergebnis ausweichen, daß es mit dem Erfolg der Begriffsarbeit in gelingender, nicht nur in versprechender Weise, nicht zum Besten bestellt ist; u. z. gilt das auch dann, wenn man die „großen Kreise" des Zusammenseins des Leibes und der Seele und des Geistes - oder wie man die Regionen nennen mag - in der menschlichen Person betrachtet. Schon Exner übte eine entsprechende Kritik an Hegels Einteilung der Wissenschaften: „Die meisten hier besprochenen Gegenstände gehören wirklich jener bisher für sehr dunkel erachteten Region an, wo Geist und Körper miteinander verkehren. Viele Denker haben sie geradezu für unerkennbar erklärt. Noch mehre mochten . . . der Meinung sein, . . . daß Zustände, welche als Produkte zweier Faktoren sich ankünden, nicht wohl begriffen werden können vor ihren Faktoren, daß also erst Anatomie, organische Chemie, Physiologie u.s.w. den Leib, die Psychologie aber den Geist gehörig ins Licht setzen müssen, bevor man mit einiger Hoffnung des Gelingens sich an jene Zustände wagen dürfe." (Exner 1842, 5 f.) Es sind sicherlich die altbekannten Einwürfe, die besagen, daß Begriffe ohne Anschauungen bzw. Erfahrungen leer sind, daß gedankliche Konstruktion ohne sachliches Fundament unsicher ist usw., die damit vorgetragen werden. EntReidi der Maße" (vgl. SW 9, 150) die denkerisch innerlichste. Die kosmogonisdie Mechanik eines physikalischen Gesetzes stellte dagegen das Auseinander der Natur und des Geistes dar; deswegen ist ein mechanisch-physikalisches Gesetz für Hegel keine vernünftige Begründung. „Die Philosophie hat vom Begriffe auszugehen . . . Männer vom Fach ((die Astronomen)) reflektieren nicht darauf. Aber es wird eine Zeit kommen, wo man für diese Wissenschaft ((die Himmelsmechanik)) nach dem Vernunftbegriffe verlangen wird!" (SW 9, 150) Diese Zeit ist nicht gekommen, und sie wird nicht mehr kommen, nachdem es gelungen ist, eine der Bode-Titiussdien analoge Regel physikalisch, nicht mathematisch, zu begründen, (vgl. Kuiper 1955) Der Wunsch, die Planetenabstände „vernünftig", also mathematisch und notwendig, begründet zu sehen, ist damit irreal geworden und hat sich als harmoniesüchtiges Projektionsbedürfnis erwiesen. - In welcher geradezu erschütternd naiven Weise in den astronomischen Überlegungen bei Hegel noch undurchschaute Projektionsmedianismen am Werk waren, zeigt ζ. B. seine Feststellung über den „Vorrang" der Erde unter den vier ersten Planeten: „Die Erde allein von ihnen hat einen Trabanten, ist daher der vollkommenste Planet." (SW 9, 149) Hier wird eine zeitbedingte Bewertung irdischer Dienstabhängigkeiten ohne Modifikation in den Kosmos hinaus verlegt. Außerdem entdeckte Hall 1877 die Marsmonde Phobos und Deimos. Wäre Mars nun „ideell" doppelt so vollkommen wie die Erde?
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kräftet werden sie jedoch nicht durch Programme, sondern durch resistente Ergebnisse. Als gerechtfertigt galten die Resultate der Hegeischen Begriffsarbeit aber nur den Rechtshegelianern. Schon die Linkshegelianer strichen entweder die kategorial-dialektische Tedinik oder den Geistbegriff selbst. Und kein späteres Interesse an Hegel versuchte sich an einer Anerkennung der idealistischen Dialektik als einer wissenschaftlichen Beweismethode, der es gelänge, Geltung und Genese der Ergebnisse in eins zu binden und überprüfbar zu sein. Die Philosophen jedoch, die Hegel ohne Einschränkung anerkennen wollten, produzierten in ihren Nachfolgebemühungen die sterilste philosophische Schule der Geschichte, die rechtshegelianische. In diesem Zusammenhange ist es interessant, darauf hinzuweisen, daß auch versucht worden ist, das Mißlingen des orthodoxen Hegelianismus mit der angeblichen Mißachtung des Personbegriffs in ihm in Verbindung zu bringen. Diese Folgerung ergibt sidi jedenfalls dann, wenn man die Positionsbeschreibung des nachfolgenden Antihegelianismus betrachtet : „Einspruch gegen Hegels Behauptung der Einheit von Gedanke und Sache oder von Denken und Sein, damit Sieg der formalen Logik über die spekulative; dies ist der Kern und die Hauptsache. Aufgabe der Metaphysik ist es daher, das vom Denken getrennte Sein zu erreichen. Es wird in schroffem Gegensatz zur Allgemeinheit des Begriffs als einzelnes verstanden; gerade als solches ist es denkfremd. Angewandt auf den einzelnen Menschen ergibt dies die Idee der Persönlichkeit; sie ist in der Freiheit begründet und entzieht sich durch sie der Notwendigkeit begrifflicher Allgemeinheit." (Max Wundt 1961, 248 f.) Die Skepsis gegenüber Hegel ging demnach vom Bestreiten der in der Idee angeblich erreichbaren Identität des Denkens und des Seins aus. Die von M. Wundt skizzierte Denkhaltung ist radikal gegen den Begriff eingestellt; in ihr wird von einer totalen Differenz zwischen Denken und Sein ausgegangen. So weit braucht eine Kritik an Hegel nicht zu gehen; das einzelne Seiende muß nicht als „Nur-Einzelnes" aufgefaßt werden: Die Hegeische Ansicht über den Geist als Prinzip alles Seienden kann als die des idea-ante-rem-Standpunktes bezeichnet werden. Neben ihm läßt sidi aber nicht nur die Α-Rationalität des Seienden denken, sondern audi die Mannigfaltigkeit der idea-in-re- oder der idea-post-rem-Auffassungen begründen. In durchaus verstehbarer Weise war ein Pendant zu Hegels Panlogismus aber zunächst eine a-logische, a-rationale Denkbewegung bzw. die Flucht in den Positivismus; Beweiskraft gewinnen diese beiden Ansätze jedoch durch ihre Einstellung allein noch nicht. Die Modi der Rationalität können außerdem viele sein; für die Irrationalität gilt das nicht: sie vermag sich nur festzustellen und dann nur noch zu schweigen. Der Positivismus erfüllt in philosophischer Hinsicht dieses Gebot meist, der Irrationalismus fast nie. Ebenso voreilig wie die völlige Ablehnung der Macht des Begriffs ist die weitere Annahme, die M. Wundt skizziert hat, daß, wenn die Person in Freiheit begründet sei, sie nur aus unfaßbarer Freiheit bestehe und nichts an ihr begriffen werden könne. Selbst wenn die Freiheit Grund und Wesen der Person wäre,
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könnte sie demnach nie nachgewiesen werden, sondern wäre ihr immer nur als Ziel aufgegeben. Ein Ziel, das der Existenz oder dem Leben überantwortet ist, stellt sich aber auch dem lebendigen Denken. Audi die Annahme einer radikal freien Person entbindet nicht von der Aufgabe, ontologisch ihre begrifflidie Allgemeinheit, ontisch ihre Struktur, empirisch ihre Erscheinung zu untersuchen. Im übrigen gehörte Freiheit gerade dann, wenn sie das Wesen oder der Grund der Person wäre, einerseits zu ihrem ontisdien Bestand, könnte damit nicht a-kausale, extra-mundane Freiheit sein, was sie aber wiederum sein müßte, um ihrem Begriff gerecht zu werden; andererseits wäre sie als ontische sogar überprüfbares Strukturelement der Person und der empirischen Untersuchung fähig. Die Ansetzung einer zwar nicht begriffsfähigen, aber doch weltlichen Freiheit dieses Lieblingsstück der irrationalen Personontologie - führt durchaus in unlösbare Schwierigkeiten. Freiheit ist eben nicht als weltliche denkbar, audi nicht als zwar weltliche, aber „existentielle" oder „ungreifbare", sondern nur als intelligible; sie entzieht sich der weltlichen Kategorialität. Personen aber sind, ganz abgesehen davon, ob sie audi frei sind oder nicht, ob sie also auch außer-weltlidi sind oder nicht, vor allem Bestandsstücke innerhalb der erscheinungsmäßigen Welt und entsprechend Untersuchungsaufgabe. In der rationalen Auseinandersetzung kann es nur darum gehen zu klären, welche Methoden für diese Untersuchung taugen; im besonderen heißt das: kann die Person nur durch Begriffsanalyse oder nur durch empirische Forschung oder durch eine Kombination beider Verfahren erforscht werden? Die Beantwortung dieser Fragen aber ist sicher abhängig von dem, was man an der Person erforschen will, ob es um das Allgemeine der Person und aller Personen oder um das Besondere besonderer Personen gehen soll, ob also zur Bearbeitung das ansteht, was den Menschen zur Person macht oder das, was bestimmte Menschen zu bestimmten Personen macht. Unmittelbar hilft aber diese Dichotomie auch nicht weiter; denn es ist nur ein Kompromiß ohne Begründung, wenn man annimmt, daß das Allgemeine der Person durch Denkarbeit, das Besondere der Personen durch empirische Forschung aufgehellt werden könnte.
Die Person als Begriff und als Konstrukt Audi in der Psydiologie dieses Jahrhunderts waren bzw. sind die Ansichten über dieses Problem geteilt: Einer Auffassung, die in der Person als Forschungsgegenstand ein theoretisches Konstrukt sieht, steht eine andere gegenüber, die sie als Realität auffaßt. Für die konstrukttheoretisdie Auffassung ist die Person an sich als unendliche Konjunktion keine empirisch untersuchungsfähige Aufgabe. Für die ontologisdie Personpsychologie dagegen ist die Person Realität in der Welt; damit nimmt diese Richtung auch an, daß die Person allgemein empirisch untersuchbar ist, denn was real ist, muß erfahrungswissenschaftlidi
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angehbar sein3. Die Konstrukttheorie dagegen faßt ihr Personallgemeines nicht als reale Bedingung, sondern als Interpretationslimit des Verhaltens auf. Die Hegeische Theorie und die Konstrukttheorie zeigen Gemeinsamkeit darin, daß Geistperson bzw. Personkonstrukt nicht als seiende Realität zu verstehen sind. In der Gewinnung und besonders in der Verwertung des Personallgemeinen bestehen zwischen den beiden Theorien allerdings die größten Unterschiede : In der Hegeischen Theorie wird das Allgemeine in der Arbeit des Begriffs gewonnen; in der Konstrukttheorie wird das Allgemeine aus den Interferenzen der Ergebnisse der empirischen Forschung erschlossen. Es ist in ihr „. . . Persönlichkeit nur gewissermaßen das ,letzte' . . . deskriptive und explikative Konstrukt der Persönlichkeitsforschung . . . Dennoch sollte man nicht den - wahrscheinlich nicht tatsächlich erreichbaren - Zielpunkt aus dem Auge verlieren, den strukturellen Zusammenhang . . . aller einzelnen Beschreibungsmerkmale aufzuklären und damit am Aufbau eines deskriptiven ,Gesamtsystems' der Persönlichkeit zu arbeiten." (Herrmann 1969, 282) Vielleicht ließe sich über den Weg, der zu den Theoremen - dem Begriff oder dem Konstrukt der Person - führen soll, zwischen der Hegeischen und der gegenwärtigen Auffassung jedoch vermitteln: Der Unterschied der Methoden besteht darin, daß die psychologische Theorie das für die Konstruktbildung verwertete Material nur als empirisch geprüftes gelten lassen will - warum sollte es als dieses nicht auch für die begriffliche Behandlung tauglich sein? - , daß aber Hegel die Begriffsentwicklung nur im Denken vornehmen will - warum sollte dabei eigentlich die Reduktion auf wissenschaftlich geprüftes Material nicht ebenfalls eine einzuhaltende Maxime sein? Die in der erfahrungswissenschaftlich vorgenommenen Prüfung sich ergebende Einschränkung des begrifflich bearbeitbaren Materials würde durch seine empirische Ausgewiesenheit wettgemacht. Die empirische Psychologie will durch ihre Verfahren eine evtl. nachfolgende Denkarbeit ja nicht ausschließen; sie will nur das zu bedenkende Material von den subjektiven Täuschungen und Projektionen befreien, die es schon in seiner Ergreifung befallen können. Gerade wenn man die These der Vernünftigkeit der Wirklichkeit anerkennt, müßte man davon ausgehen können, daß die Eliminierung der subjektiven Willkür, die „schlechtes Besonderes" ist, nicht befreites Allgemeines oder bestimmtes Einzelnes, ebenfalls vernünftig ist. Gewiß kann der Geist selbst in seiner Tätigkeit Hegel zufolge nicht irren; aber der anfängliche Ort seiner Wirksamkeit sind besondere, damit fehlbare Subjekte. Die Unterschiede in der beginnenden Durchführung scheinen demnach theoretisch nicht unüberbrückbar: Die empirische Psychologie konzipiert aus ihren Ergebnissen heraus das Konstrukt der Person, „den strukturellen Zusammenhang . . . aller einzelnen Beschreibungsmerkmale". Dieses Konstrukt, aufgefaßt als Gedanke, könnte begrifflich bearbeitet werden. Es ist aus der Hegeischen Theorie 8
Dies war die Ansicht der Vertreter der ganzheitlichen Seelenontologie, wie ζ. B. Krueger, Wellek, Sander. Ihre Schule - und damit audi die ontologische Personpsydiologie - ist in den letzten beiden Jahrzehnten stark zurückgegangen.
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heraus einfach nicht abzuleiten, daß ihre Arbeit über die Person, den subjektiven Geist usw., nur mit der Introspektion beginnen muß und nicht von psydiisdiem Material ausgehen kann, das mit Hilfe exakter Methoden schon von Irrtum und Täuschung befreit wäre. Gravierend müßten aber wohl die Unterschiede in den Auffassungen über den Charakter des Allgemeinen der Person bleiben: Für die Konstrukttheorie wäre es passives Moment, Zielpunkt, theoretisch, - für die Geisttheorie aktives Moment, Ausgangspunkt, praktisch; als Konstrukt g i l t die Person - als Geist l e b t die Person. Die Konstrukttheorie besagt: „Persönlichkeit ist ein theoretisdies Konstruktum zur Interpretation des Verhaltens." (Herrmann 1969, 59) Die Geisttheorie nimmt an: Die Person ist der tätige Geist selbst in seinen Unternehmungen. Die Konstrukttheorie geht also von einer Differenz zwischen dem erscheinenden Verhalten und dem hypostasierten Verhaltenskorrelat des Personkonstrukts aus; die Geisttheorie läßt den Geist als Person im Menschen sein Verhalten selbst bestimmen - so h a η d e 11 er - , und die Person ist das erscheinende Bestimmen selbst, (vgl. § 22. Die Erscheinung der Person) Die Konstrukttheorie hat also als Erfahrungswissenschaft den Vorteil der prinzipiellen Überholbarkeit ihrer Annahmen, aber sie trägt am Nachteil der Differenz zwischen Theorie und Realität: Der explikative Pol des Verhaltens kann in ihr nicht als real gelten, sondern er hat die Funktion eines spieltheoretischen Hypokeimenon; er ist nur als Interpretationsleitfaden unterschoben, wirkt selbst nicht, ist selbst nicht lebendig. Das Zentrum des Konstrukts Person ist weder Subjektivität noch Praxis, sondern das Gelten eines Limits. Damit zeichnen sich die subjektlogischen und prattologischen Schwierigkeiten der „nur-theoretisdi" eleganten Konstrukttheorie ab. Die Geisttheorie überwindet dagegen die Differenz zwischen Theorie und Realität; der Geist selbst erscheint als Person, u. z. mehr noch als im Wort in der Hand, dem absoluten Werkzeug: die Person und ihre Aktivitäten sind eines und dasselbe4. Der Nachteil der Geisttheorie ist ihre Revisionsunfähigkeit: Promotor ihrer Genese und Garant ihrer Geltung ist ein- und derselbe, nämlich der Geist selbst in seinem Begriff. In wissenschaftstheoretischer Hinsicht ist die Hegeische Theorie weder verifizierbar noch falsifizierbar: Wo Genese und Geltung ihr Prinzip und Kriterium im selben haben, entschwindet die Überprüfbarkeit. Aber dieser hohe Preis wird nicht willkürlich gezahlt, sondern entspringt einer Notwendigkeit: Verifizierbar und falsifizierbar ist nur objektiv Darstellbares. Subjektivität selbst ist aber ihrem Wesen nach so nicht darstellbar. Auch im Gesetztsein ihrer Bestimmungen als Idee ist Subjektivität in Hegels Theorie lebendiges Subjekt/Objekt, sie ist „sich wissende Vernunft", „Sidi-Urteilen". (vgl. Enz 463) Als objektiv dargestellte wäre Subjektivität schon Objektivität, nicht mehr Subjektivität. Eine Theorie, die Subjektivität und Personalität also als Ineins des Erzeugens und des Erzeugten begreifen will, muß um solche Schwierigkeiten vermehrt sein ; eine philosophische Theorie des Subjekts/Objekts muß sich von einer 4
Zur Interpretation der menschlichen Hand vgl. § 22. Die Erscheinung der Person Der Ausdruck als Selbstbeobachtung der Person.
§10 Persönlichkeitstheorie als philosophisch-methodisches Problem
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objektiv-psychologischen entsprechend unterscheiden. Eine objektiv psychologische Theorie ist überprüfbar; sie handelt aber nicht in und aus Subjekten, sondern über objektivierte Subjektivität; sie ist nicht das Licht des selbst lebendigen Lebens, sondern sein meßbarer Schatten. Der Versuch von Hegels Geisttheorie besteht dagegen darin, das Wirken des subjektiven Lebens selbst zu zeigen und dabei zu erweisen, daß dies Leben nichts anderes ist als reine Tätigkeit des Begriffs. Der Anspruch, die Subjektivität in ihrem Wirken selbst zeigen zu können — Hegels These - , steht gegen die heutige Reduktion, nach allen Enttäuschungen des Denkens wenigstens merkmalsstabile Subjektsverhalte zu entdecken, die auf ein konstruiertes Hypokeimenon bezogen werden können. Bei den objektiv-psychologischen Theorien der Person sind hinsichtlich der Theoriefähigkeit zu zwei bestimmten Typen noch einige Bemerkungen angebracht. Der behavioristische Typ erstellt keine wirkliche Theorie der Person: „Die allgemeine Struktur oder der Aufbau der Persönlichkeit, die Fähigkeiten und Temperamentseigenschaften und Dispositionen einerseits, das Individuelle oder die interindividuellen Unterschiede . . . andererseits sind . . . keine zentralen, vom Ansatz der Theorie her geforderten Probleme. Persönlichkeit ist für die S-R-Theoretiker eher ein vorwissenschaftlicher Beschreibungsbegriff, dessen empirische Grundlagen in der Einheit des Organismus und seiner Geschichte zu sehen seien, der aber keine anderen Erklärungsprinzipien fordere als organismisches Verhalten überhaupt." (Bergius 1960, 533) Die im engeren Sinne theoretische Ertraglosigkeit dieses Ansatzes der Persönlichkeitsforschung wird gerade dann deutlich, wenn man ihm methodisch konzediert, daß Person ein nichtwissenschaftlicher Begriff sei, der durch Analyse der Organismusveränderungen ersetzt werden müsse: In biologisch betriebener Forschung führt die Organismusanalyse nämlich zur Entdeckung gestufter Ordnungen allgemeiner und spezieller Gesetze, wobei die allgemeinen besonders von der physiologischen Chemie, die speziellen von der Verhaltensforschung erarbeitet wurden. Die Biologie verfügt heute über ein wohlgeordnetes und weiter ausbaufähiges Wissenssystem über die Organismen. In psychologischer Hinsicht aber entdeckt man durch Organismusanalyse nach dem S-R-Prinzip nur eine lineare Kette von Gesetzen. Die Menge der S-R-Gesetze, deren jedes für sich höchst exakt sein kann, erlaubt von ihrem Ansatz her keine Fremdgliederung durch heterologe Prinzipien. Die Theoriefähigkeit wird damit deutlich eingeschränkt: Sämtliche psychologischen Leistungen eines Organismus müßten verstanden werden als reaktiver „Grenznutzen" an der Austauschstelle zwischen Reiz und Organismus. Mit der theoretischen Ertraglosigkeit ist nicht sachliche gemeint. Die Ertragsmenge der behavioristisch betriebenen Forschung ist beeindruckend. Um so mehr fällt ihre Theoriearmut auf, die die argumentative Auseinandersetzung zwischen ihr und anderen psychologischen Forschungsrichtungen so beeinträchtigt. Die faktoriellen Persönlichkeitslehren haben ebenfalls ihre speziellen Theorieschwierigkeiten, die auch noch bestehen würden, wenn alle Durchführungsprobleme faktorenanalytischer Untersuchungen gelöst wären. Diese Durchführungs-
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probleme betreffen besonders die Frage, wie die jeweilig verwandte Technik zur wirklidi nur-katalysatorisdien erhoben werden kann. „Dahinter" erst beginnt die theoretische Problematik, die auf die „Armut" der Faktorentheorien hinausläuft: „Es gibt keine selbständige Faktorentheorie der Persönlichkeit, sondern nur Nachprüfungen von Typologien durch quantitative Aufbereitung und Klassifikation von Verhaltensbeobachtungen. Die Faktorenanalyse kann nicht dazu dienen, neue Persönlichkeitstheorien zu entwickeln, sondern höchstens Ableitungen aus guten Theorien zu prüfen und diese Theorien mit hohem Wahrscheinlichkeitsgrad zu falsifizieren, mit geringerem zu verifizieren." (Bergius I960, 533) Damit ist behauptet, daß den faktoriellen Persönlichkeitstheorien das Moment des entwickelnden Entwurfs abgehe: ihnen „fällt nichts ein", sie sind bloße Kontrollinstrumente. „Die faktoriellen Persönlichkeitslehren sind . . . in strengem Sinn keine Theorien, weil sie keine Ableitungen und weiterführenden Sätze enthalten. Dafür ist aber für sie die Beschreibung des je Individuellen oder doch das typisch Unterscheidende in der Organisation der Persönlichkeitszüge zentral." (Bergius 1960, 534) So greifen zwei Schwierigkeiten unaufhebbar ineinander: Jede denkerische Persontheorie ist in der Gefahr, mehr wissen zu wollen, als in der Realität Bestand hat - keine empirische Persontheorie ist in der Lage, einen Ersatz für das entwerfende Denken zu gewinnen.
§ 11 Historische Voraussetzungen der Hegeischen Persönlichkeits theorie Die Seele als Feld der Introjektion Die systematische Absicht und das selbst erarbeitete Wissen brachten Hegel dazu, das gesamte Denken der philosophisch-psychologischen Vorgänger zusammenfassen zu müssen und zu können. Der Niederschlag der Überlieferung bei ihm läßt sich deutlich feststellen; aber nicht immer läßt sich eindeutig klären, ob die Resultate offen übernommen wurden oder als Erzeugnisse ähnlichen Denkens neu entstanden. Piaton hat z.B. in der „Politeia" und im „Timaios" den Aufbau einer Seelenhierarchie entwickelt, der von Topitsch als Introjektion eines „sozialen Modells der Seele" bezeichnet wurde. Die Vernunft (λογιστικόν), das Mutartige (θυμοειδές) und das Begehrende (έπιθυμητικόν) bilden Topitsch zufolge Piatons soziale Umgebung und seine Vorstellungen darüber ab. Im „inneren" Menschen schlägt sich ihre Rangskala durch Lokalisation nieder: Die Vernunft sitzt „oben" im Kopf, der Mut „in der Mitte", in der Brust, die gemeinen Begierden „unten" im Bauch. Dieser Skalierung entspricht die Verfügungsgewalt: die Vernunft herrscht mit Hilfe des Mutes über die Begierden. „. . . wird diese Ordnung gewahrt, so bedeutet dies die Gerechtigkeit. Dagegen ist der Aufstand der ,niedrigen Seelenkräfte', der Bürgerkrieg (στάσις) in der Seele, das Unrecht
§11 Historische Voraussetzungen der Hegeischen Persönlidikeitstheorie
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schlechthin." (Topitsch 1966, 205) Piatons Gliederung der Seele ist nach Topitsch nichts anderes als die Internalisierung der vorgefundenen Ordnung der sozialen Verhältnisse, in denen die Mächtigen, die sich für klug halten, mit Hilfe einsatzwilliger Abhängiger die Mehrheit ihren Zwecken dienbar machen. Eine entsprechende Sequenz läßt sich auch bei Hegel finden. Er sieht die Gesellschaft in drei Ständen gegliedert, die er aus dem Begriff entwickeln will: Der unmittelbare Stand ist der des Landmannes, der „im gläubigen Zutrauen" (SW 7, 282), also unmündig, lebt. Er wird auch der „substantielle Stand" genannt, (vgl. SW 7, 280) Der formelle Stand ist der des Gewerbes; er ist zur Gewinnung der Freiheit geneigt (vgl. SW 7, 283) und auf die „Reflexion" angewiesen, weil er vom Verhältnis der „Vermittelung" lebt. (vgl. SW 7, 282) Der allgemeine Stand ist über die anderen erhoben und deren Wahrheit, denn er hat die „allgemeinen Interessen des gesellschaftlichen Zustandes zu seinem Geschäfte". (SW 7, 283) Die Fassung der Subjektivität in der Entwicklung des subjektiven Geistes zeigt nun eine auffallende Parallelität mit dieser ständischen Gliederung: Die Seele ist in der Anthropologie „einfaches ideelles Leben . . . Substanz". (Enz 318) Das Bewußtsein ist in der Phänomenologie „Stufe der Reflexion oder des Verhältnisses". (Enz 344) Der Geist ist in der Psychologie im engeren Sinne „die Wahrheit" der beiden anderen Stufen, ohne im wesentlichen auf sie angewiesen zu sein: „Der Geist f ä n g t . . . nur von seinem eigenen Sein an und verhält sich nur zu seinen eigenen Bestimmungen." (Enz 355) - Im Fall dieser triadischen Gliederung ist schwer zu entscheiden, ob Hegel von Pia ton abhängt: Zwar sehen beide Denker Gesellschaft und Subjektivität fast in gleicher Weise gegliedert. Aber was bei Piaton das Ergebnis der Verarbeitung unmittelbarer Erfahrung ist, stellt sich bei Hegel als Produkt des dialektischen Dreischritts dar. Hegel hätte also bei einiger Konsequenz zu seinen Ergebnissen kommen müssen, auch wenn er Piaton nicht gekannt hätte.
Die neuzeitlichen Wendungen gegen die Metaphysik der Seele In den Denkergebnissen der Aufklärung und insbesondere Kants stellten sich Resultate vor, die wiederum bedeutenden Aufgabencharakter hatten, wenn es um die gedankliche Bewältigung des konkreten subjektiven Individuums ging, das zugleich unbedingte Subjektivität sein sollte. Die Aufklärung hatte - in vereinfachter Sicht - die These aufgestellt, daß die Menschen nach ihrem Allgemeinen, der Vernunft, betrachtet, identisch seien, während ihre Differenzen nur in ihrem zufälligen Besonderen, den Charaktereigentümlichkeiten, bestehen sollten. Vor diesem Denkhintergrund ist eine real bedeutsame Differenz der Individuen nur schwerlich auszuweisen: Individualität würde in Nur-„Eigentümlichkeit", in „Sonderlichkeit" wurzeln. Freilich würde von dieser Konsequenz der aufklärerischen Personanalyse nur eine Individualität betroffen, die als weltlich erscheinende gedacht wird, nicht aber eine substantielle, nicht-phänomenale, individuelle Seele, die als der sich tragende und durchhaltende Ursprung aller ihrer
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Akte vorgestellt wird: Auf der Grundlage der von Thomas von York und Johannes Duns Scotus begründeten Lehre von der Individuation durch die Form konnte sich eine Metaphysik einer substantiellen, gleichwohl immateriellen Seele entwickeln, die bis zu Wolff hin eine Leitlinie abgab. Gegen sie wandte sich die Kantisdie Kritik und versuchte zu beweisen, daß die angenommene Substantialität und Unität des nicht-phänomenalen Individuums, der Seele, das Produkt eines Paralogismus sei. Die Aufklärung hatte sich vorher, sofern dies überhaupt ihr Anliegen war, nur programmatiseli gegen die „unsterbliche Seele" gekehrt; sie erreichte diese Seele in ihrer emphatischen Argumentation aber nidit; eine philosophisdi zureichende Kritik der substantiellen Seelenontologie erbrachte erst die „Kritik der reinen Vernunft". Von Kant an stellte sich die Aufgabe des Begreifens des individuellen Geistes ganz anders: Der Versuch, ihn durch Verstandesbestimmungen zu erkennen, wenn auch nur in seinem An-sidi, war stark erschüttert worden; das Ende der rationalen Metaphysik schien gekommen. Der andere Versuch, ihn durch empirische Verstandesforschung zu erkennen, u. z. in der Ausprägung seiner Charakterbestimmungen, konnte nur auf den Geist der Zufälligkeiten der Äußerlichkeit führen; Zufälligkeit aber fundiert nur Besonderheit, nicht Individualität. Deshalb konnte die spätere empirische Psychologie nidit mehr Wissenschaft des Individuums, sondern nur noch seines Verhaltens sein. Diese Restriktion ist also nicht „positivistischer" Mutwille, sondern philosophisch berechtigte Konsequenz. Der nächste Schritt zu einer philosophischen Subjektstheorie, die sowohl auf Begründung in der Äußerlichkeit als auch in einer substantiierten Innerlichkeit verzichtete, wurde nodi von Kant selbst getan, indem er das „Ich denke" als Kern der ihrer selbst bewußten Individualität beschrieb. Daß das Subjekt auf der Basis des „Ich denke" sich etwas als Phänomen zu Bewußtsein bringen kann, wurzelt in seiner Spontaneität: Die Mannigfaltigkeit des Angeschauten hat eine notwendige Beziehung auf das „Ich denke", die reine Apperzeption, die allen Vorstellungen zu Grunde liegt. Kant sagt aber nicht, daß die reine Apperzeption nach Art eines Produktionsprozesses funktioniere, der insgesamt durchsichtig gemacht bzw. in den Begriff erhoben werden könne. Diese Umdeutung der verborgenen Spontaneität in einen offenen Fabrikationsmedianismus des Denkens als Herstellens und des Herstellens als Denkens nahmen erst die Nachfolger vor: Bei Fichte und Hegel wurde die unerklärbare Spontaneität zur erklärbaren und erklärten Tätigkeit. „Diese Tätigkeit der Seele ist allerdings ihr wahres Wesen. Kants Kritik h a t . . . dieses Resultat einer späteren Spekulation selber vorbereitet. Das populäre Resultat der Kantischen Philosophie ist aber freilich gewesen, daß, indem die Natur des Geistes unerkennbar sei, wieder zur empirischen Psychologie zurückgekehrt wurde: so jedoch, daß man nicht, wie Locke, die Mannigfaltigkeit der Seelenvermögen aus der Beobachtung finden wollte, sondern die subjektive Einheit des Selbstbewußtseins zu Grunde legte, aus der es dann aber schwer wurde, die Mannigfaltigkeit der Seelenzustände genügend zu entwickeln." (Michelet 1840, 47)
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Das von Michelet nur populär geheißene Verständnis war allerdings von mehr Gerechtigkeit gegenüber Kant getragen als die idealistische Umdeutung. Die Spontaneität des Kantischen Denkens kann nämlich durchaus nicht zum Zentrum der umfassenden Tätigkeit der Subjektivität im Hegeischen System ausgeweitet werden: Der Spontaneität ruhen alle Begriffe auf; aus der Spontaneität treten die Kategorien zutage; und die Spontaneität der Begriffe ist das Vermögen, die aufgenommenen Vorstellungen zu Mitteln der Erkenntnis der Gegenstände werden zu lassen. Die reine Spontaneität ist das Subjekt der Apperzeption als das logische Ich, als seine unerklärbare, aber unbezweifelbare Quelle, die selbst nicht Erscheinung wird und werden kann. Bei Hegel ist das Tun aller Grade selbst das Wesen der Wirklichkeit und die handelnde Subjektivität des Begriffs bedingungslos erkennbar. Die „Spontaneität", das „An-sich" der Subjektivität in Hegels Deutung, handelt, ist tätig und arbeitet; die Spontaneität Kants ist ein Vermögen der Begründung der Begriffe. Man kann von ihr aber nicht sagen, daß sie arbeitet, handelt oder als Produktionsform erklärt werden kann; sie ist nach Kant eben unerklärbar. Indem die Kantische Philosophie das Zentrum der Subjektivität für unableitbar erklärte, die Zustände des Geistes in seiner Endlichkeit aber für untersuchbar hielt, stellte sie tatsächlich die Weichen für eine neue psychologische Forschungsrichtung, nämlich die von der Seelenmetaphysik entlastete autonome empirische Psychologie. Damit sind schon die Schwierigkeiten der Psychologie von Herbart bis Wundt vorgegeben, die in der Kant-Nachfolge einerseits an der Dominanz des Bewußtseins festhalten mußte, andererseits das Seelenleben aus kleinsten Bausteinen (Elementen der Vorstellungen oder Empfindungen) heraus aufgebaut wissen wollte (wobei wahrscheinlich die mit großem Erfolg zellanalytisch, noch nicht verhaltensanalytisch verfahrende Biologie ihr Vorbild war). Die außerordentliche Wirkung Kants auf die Psychologie ergab sich dabei nicht aus seiner Anthropologie, die eine geistreiche Sammlung von Lebensweisheiten ist, mehr Psychohygiene als Psychologie, sondern aus der „Kritik der reinen Vernunft", in der dem Gedanken der Kategoriendeduktion zum erstenmal eine Durchführung verschafft wurde, die von den Nachfolgern wie selbstverständlich sowohl auf die Außenwelt als auch auf die subjektive Innenwelt bezogen wurde. Fichte nahm die entscheidende Umformulierung der Spontaneität zur offenen Tätigkeit vor, indem er aus der transzendentalen Apperzeption die produktive, also produzierende Einbildungskraft werden ließ. Die Identifizierung der Formalität des ursprünglichen, identischen Selbstbewußtseins (Kant) mit einem egologischen Produktionsmechanismus wird durch die Begründung alles Bewußtseins in einem Satz, der eine Tathandlung ausdrückt, ausgesprochen. Bei Fichte „besteht" das Ich nicht mehr: es tut und handelt ausschließlich und kann nicht mehr nur sein. Die höchste Tätigkeit dieses Ich ist die entdeckende Setzung seiner eigenen Grundsätze, aus denen die gesamte Erfahrung abgeleitet werden soll. Fichte ließ konsequent keine Psychologie außerhalb der Wissenschaftslehre mehr zu; aber selbst die Wissenschaftslehre beschäftigte sich nicht mehr ernsthaft mit etwas so
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„Primitivem" wie Psychologie: „Die Wissenschaftslehre ist nicht Psychologie, welche letztere selbst nichts ist." (Fichte SW 2, 365) Bei Schelling war eine Psychologie jenseits des transzendentalen Idealismus ebenfalls nicht denkbar. In seinen Berliner Vorlesungen nannte Schlegel die empirische Psychologie eine „fast verschollene Wissenschaft". (Dessoir 1911, 161) Erst bei Herbart wurde wieder eine autonome Psychologie möglich, weil bei ihm das Subjekt sich vermittels seiner Vorstellungen erhält, sie nicht nur in einseitiger Abhängigkeit von sich weiß. D a f ü r war seine Psychologie mit einer Schwierigkeit belastet, an der noch viele nachfolgende Theorien tragen sollten: Indem er die Vorstellungen analog zu Quanta auffaßte, wandte er Seinslogik auf sie an; seine Vorstellungsmechanik zielte direkt darauf ab. Aber die ontologisdie Berechtigung, Seinslogik auf Subjektivität anzuwenden, konnte auch er nicht erweisen. Mit dem Bedürfnis, das die großen Nachfolger Kants (mit gewisser Ausnahme Schellings) leitete, hatte er schon gebrochen: Ihre Absicht w a r es, die Vernunft in allem Seienden als wirkende zu begreifen, u. z. spekulativ und aus ihr selbst. Entsprechend mußte auch die Subjektivität tätigkeitsanalog gedacht werden; die erste konsequente Durchführung dieser Denkweise versuchte Fichte: er „wollte vom freien Bewußtsein sprechen, einem letzten Ausläufer des übersinnlichen Seelenwesens". (Dessoir 1911,161)
Das Verständnis des Psychischen bei Hegels Zeitgenossen Die Interpretation des Subjekts als Tätigkeit und nur als Tätigkeit begann bei Fichte; Hegel führte diese Denkweise ihrem Abschluß zu. (vgl. § 21. Begriff und Person) In den meisten der diesen Denkern nachfolgenden Psychologien wurden Kants metaphysikkritische Resultate beibehalten: Erloschen blieb also die Fassung der Individualität im Begriff oder Bild der substantiellen Seele. Aber erhalten blieb meistens aus den Theorien Fichtes und Hegels ein allerdings entmetaphysiziertes bzw. entideologisiertes Denkergebnis: gestrichen wurde zwar die Metaphysik bzw. Ideologie der Individualität als Tun; nicht mehr verzichtet wurde aber auf ihre Deutung als Aktualität. Von dieser Aktualität wird von Wundt bis heute jedoch nicht mehr angenommen, daß sie sich als „das handelnde Wesen der Wirklichkeit" zu zeigen versucht, daß sie die Wirklichkeit im unablässigen „Handeln" sich unterwerfen will, daß sie überhaupt nur reines, schaffendes „Handeln" erzeugen möchte. Man hat inzwischen keine Herabsetzung der Würde der Individualität darin gesehen, sie auch als originär-passiv, also lernend, erlebend, geschehen-lassend zu denken. Obwohl die idealistischen Philosophen — Fichte vor allem - sich im Urteil Wundts und der meisten seiner Nachfolger nicht im expliziten Sinne als wissenschaftliche Psychologen bewährt haben, bleibt ihnen das Verdienst, aus der Kantischen Destruktion der Seelensubstanz Folgerungen gezogen zu haben, die der Ausbildung der Psychologie als Wissenschaft vorhergehen mußten: Die idealistische Philosophie hat „auch für die Psychologie das erlösende Wort gespro-
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clien, indem sie für Alle, die hören wollten, laut und eindringlich verkündete, daß alles geistige Werden, und so auch das seelische Geschehen, Aktualität, unmittelbar erlebte Wirklichkeit, und daß Wesen und Erscheinung des Geistes eins und dasselbe seien, nur insoweit Verschiedenes bedeuten, als wir unter dem Wesen den richtig erkannten Zusammenhang der Erscheinungen selbst verstehen. So haben die vorangegangenen Entwicklungen der Philosophie die heutige Auffassung der psychologischen Aufgabe vorbereitet." (Wundt 1902, III, 759) Hinsichtlich des Gedankens des Individuums haben die idealistische Philosophie und die an Wundt sich anschließende Forschung noch ein Weiteres gemeinsam; für beide ist Individualität nur schwer legitimierbar: Für die experimentelle Psychologie ist Individualität zunächst nur auffaßbar als Fehlervarianz in den Versuchsreihen der in ihrer Aktualität bzw. in ihrem Verhalten untersuchten subjektiven Zentren, für die idealistische Philosophie nur als unselbständiges Funktionszentrum der wirkenden Vernunft, die immer nur eine einzige sein kann. Die absolute Rationalität des Vernunftanspruchs in seiner Vermittlung und die Idee des autonomen Individuums scheinen sich auszuschließen. Während also der Idealismus der Vorstellung einer nicht abgeleiteten Individualität nicht gewogen war, schienen sich in der Verteidigung des „unmittelbaren" Individuums eine Reihe anderer Denker zu begegnen: Herder griff auf Vico und seinen Gedanken einer vergleichenden Entwicklungsgeschichte aller Völker zurück und stellte die Hypothese des Volksgeistes und seines unbewußten Schaffens auf. Goethes Persönlichkeitsideal war eine ein Jahrhundert prägende These. Humboldts Zutrauen in die sittlichen Möglichkeiten des Menschen ließ ihn die „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen" verfassen : um die Entfaltung der ausgewogenen Persönlichkeit zu befördern, wurde die autoritäre Wohlfahrtspolitik des aufgeklärten Absolutismus abgelehnt. Zeitlebens hielt Humboldt die Idee der „zur Totalität herausgebildeten Individualität" hoch und erstrebte die Vereinigung des Sittlichen und Ästhetischen. Für Schleiermacher war die Person „Mittelpunkt einer eigenen Sphäre" : die Vereinigung der Idealität der Vernunft und der Besonderheit des Daseins in einem einzelnen lebendigen Punkt. Der Historismus schließlich versuchte die Zusammenfassung der Entwicklungsverläufe in Perioden, verwarf aber die Suche nach allgemeinen Gesetzen, weil entsprechend seiner Annahme über die Einmaligkeit alles Lebens nur eine Darstellung des Individuellen möglich war. Alle diese Denker bzw. Denkrichtungen, die sich in der Verteidigung des unabgeleiteten Individuellen, entweder des Volkes oder des Einzelmenschen, einig waren, hat Hegel (mindestens aus ihren Anfängen) ebenso gekannt wie die Linien der Aufklärung und des Kritizismus und Idealismus, die Absicht der einen, das Einmalige zu verteidigen, ebenso wie die Tendenz der anderen, das Allgemeine in sein Recht zu setzen. Damit befand er sich in einem schweren Ausgangskonflikt, denn er wollte weder die Abstraktion eines Nur-Allgemeinen verteidigen, noch die Willkürlichkeit eines Nur-Einmaligen aufbauschen, sondern die Konkretion des Einzelnen denken, was bei ihm bedeutet: es zum Gedanken
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zu machen. Eben dies war Hegels Absidit: Das Einzelne zu denken, es also nidit unabgeleitet gelten zu lassen oder unmittelbar zu schauen, sondern nur als Traktiertes zu begreifen. Es wird sich die Frage stellen, ob das Einzelne solcher Vorstellungen nicht doch wesentlich Allgemeines bleiben muß. - Eine weitere Schwierigkeit bei Hegel läßt sich dadurch absehen, daß er die universale These, der zufolge der Geist nur wirkt, nie eingeschränkt hat. Damit wurde es ihm zwar möglich, einem Bedürfnis eines uneingeschränkt arbeitenden Begreifens Recht zu verschaffen, weil alles in der Welt als Produziertes, „Vermitteltes" aufgefaßt werden konnte; aber damit mußten auch die Formen und Zustände des subjektiven Geistes in sich selbst ihrer Wahrheit nach als Produkte aufgefaßt werden, die also „gemacht", nicht „geworden" sind. Freilich versuchte Hegel, diese Produktreihe genesis-konform zu denken, in der u. a. auch die „Entwicklung" von der noch schlafenden, ahnenden Seele zur aggressiven Wachheit des Selbstbewußtseins sich ausformt, (vgl. § 16. Begriff und Leben) Wenn die Individualität nicht in der Leere der Vernunftallgemeinheit verbleiben oder in den Willkürlichkeiten der „romantischen" Besonderheiten untergehen sollte, dann mußte Hegel sie, seinem Programm getreu, als konkrete einzelne denken, als solche, die ihre Existenz aus der Vermittlung gewinnt, ohne ihr Wesen, wirkliche Individualität zu sein, in der Vermittlung zu verlieren. Von einer Individualität, einer Person, die vermittelt ist, muß dann aber notwendig weiterhin gedacht werden, 1. daß es der Geist, also sie selbst, ist, der bzw. die sich vermittelt, daß nichts an ihr ist, was nicht vermittelt ist, und daß nichts an ihr ist, was nicht Vermittlung ist: so ist sie notwendig nur-aktiv, immer-tätig, nie Passivität, 2. daß, wenn innerhalb der Person der Vermittlungsprozeß universal ist, d. h. außer ihm nichts ist, es in der Person keine Verborgenheit, sondern nur Erscheinung und Erscheinendes gibt. Die Person als in restloser Unverborgenheit nur-aktive, - dies ist der Vorgriff auf Hegels Persönlichkeitstheorie, in der sich audi ihre größten Schwierigkeiten finden.
§ 12 D i e Person und das Recht in H e g e l s T h e o r i e Die abstrakte Wirklichkeit des Redits In drei Disziplinen ist im europäischen Denken eine Bearbeitung des Personbegriffs vorgenommen worden: in der Rechtswissenschaft, in der Theologie und in der Philosophie/Psychologie. (In der letztgenannten Doppeldisziplin reicht die Behandlungsbreite von der abstrakt-ethischen Person der Pflicht über die Versuche der Fassung der konkreten, zugleich geistigen und natürlichen Person bis zur wieder abstrakten Person der quantifizierenden Psychophysiologic.) In den einzelnen Gebieten ist es zur Ausbildung teils mehr erfahrungswissenschaftlicher, teils mehr spekulativer Bearbeitungsrichtungen gekommen, besonders in der juristischen und der philosophisch-psychologischen Problemstellung, wäh-
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rend die theologische nur-gedanklich verfährt. Da Hegel auch die Rechtswissenschaft und die Theologie enzyklopädisch verarbeitete, griff er über die philosophisch-psychologische Thematisierung des Personbegriffs auf die in den beiden anderen Disziplinen ausgebildeten Vorstellungen zurück. Allerdings ist es in Wirklichkeit zu eng gefaßt, wenn man sagt, daß er nur aus enzyklopädischem Interesse so verfuhr, denn zumindest die Rechtsphilosophie hatte für sein Denken nicht auffüllenden, sondern fundierenden Charakter. Eine ähnliche Bedeutung oder Wirkung läßt sich seiner Philosophie der Religion dagegen nicht zusprechen. In der Rechtsphilosophie ist der Begriff der Person von besonderer Bedeutung im ersten Teil, der Philosophie des abstrakten Rechts, und im dritten Teil, der Philosophie der Sittlichkeit. Im ersten Teil wird expositional über die Person gehandelt; im dritten Teil werden konkrete Folgerungen gezogen, zum größten Teil in der Verbindung einiger rechtsphilosophischer mit vielen psychologischanthropologischen Gedanken. In der Theorie der Person im abstrakten Recht lehnt Hegel sich stark an Entwicklungen und Konstruktionen des römischen Rechts an. In Rom ist bekanntlich der Begriff der Person durch seine juristischprozessuale Behandlung profiliert worden, (vgl. § 9. Zur Geschichte des Begriffs Person - Der Personbegriff im Altertum) Wenn ein Mentor im Namen eines anderen sprach, hieß das: personam agere: „So konnte in Rom persona in der Gerichtssprache geläufig werden und von daher in die Rechtssprache übergehen. Persona erscheint als Trägerin von Rechtsbeziehungen und konnte als solche um so leichter auch in die Volkssprache kommen, je mehr das Leben eines Volkes von Rechtsbeziehungen durchzogen wird." (Hirzel 1914, 51) Die allgemeine Verbreitung der Bedeutung der Rechtsbeziehungen aber geschieht viel leichter über den Zivilprozeß als über den Strafprozeß : Im letzteren geht es um das Gefürchtete, das in der Vorstellung möglichst abgedrängt wird - die Strafe - , im ersteren um das Begehrte, das die Sinne des Menschen auszufüllen vermag - Gold, Geld, Besitz, Eigentum - . Vielleicht kann man von einer vorstellungs- und sittenprägenden Kraft des Zivilprozesses in Rom sprechen: schließlich wurden dort diejenigen Menschen Personen genannt, die Eigentum besaßen. Weil Hegel der Überzeugung ist, daß die Person, um als Idee sein zu können, sich eine äußere Sphäre ihrer Freiheit geben muß, übernimmt er diese hohe Einschätzung des Eigentums. Es ist nach ihm das Vernünftige des Eigentums, daß sich die bloße Subjektivität der Person darin aufhebt, (vgl. SW 7, 94 f.) Hegel versucht jedoch, sich von den in Rom entwickelten Vorstellungen in bestimmtem Umfange abzusetzen. Denn nach den römischen Begriffen sind die Menschen nur dann, wenn sie über Eigentum verfügen, Personen, und dasjenige, was sie als Personen definiert, bestimmt sich ausschließlich aus dem Eigentum heraus. Auch die abstrakte Rechtspotentialität existiert nur durch und für den Bezug zum Eigentum. Es ist also kein Wesensmerkmal des einzelnen Menschen, ob er Person ist, und das Person-sein-können überhaupt ist kein Wesensmerkmal, sondern kontingent : „Was aber das im römischen Rechte sogenannte Personenrecht betrifft, so soll der Mensch erst, mit einem gewissen status betrachtet, eine Person sein; . . . im rö-
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mischen Redite ist hiermit sogar die Persönlichkeit selbst, als gegenüber der Sklaverei, nur ein Stand, Zustand." (SW 7, 93) Das sog. Personenredit Roms ist nach Hegel gar kein Recht der Person als soldier, sondern nur das Recht besonderer, d.h. zufälliger Personen: Es wird durdi die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand abstrakt definiert und real ausgemacht, ob jemand Person ist oder nur Mensch. Im Gefolge der Aufklärung versucht Hegel, diesen Standpunkt der Zufälligkeit zu verlassen und von der Rechtspotentialität aller Menschen auszugehen, dabei aber die Rolle des Eigentums zu berücksichtigen. Zunächst betont Hegel nachdrücklich, daß die Rechtsfähigkeit nur eine Ersatzbildung, freilich eine konsequente, zum Ausgleich des Verlustes des Besseren, darstellt: Die Person im Rechtszustand kann erst dann Thema werden, wenn die „sittliche Substanz" verlassen ist. (vgl. Phän 342 ff.) Gegenüber der allgemeinen Geborgenheit in ihr stellt die rechtliche Person immer einen intersubjektiven Anspruch dar, der sich in der wirklich geltenden Selbständigkeit des Bewußtseins manifestiert. Die Selbständigkeit, die gelten will, die wirklich gelten will, ist dreifach gegliedertes Begehren des Respekts: als Selbständigkeit das des Fürsichseinwollens, als geltendes das des Anerkanntseinwollens, als wirklich geltendes das des bewiesenen und erfahrenen Anerkanntseinwollens. Die rechtliche Person ist somit zunächst das Fürsichsein, das von anderen bewiesen haben will, daß es anerkannt wird. Insofern wäre die Person — in dieser abstrakten Rechtsfassung — in stabilen Verhältnissen der genießende Herr, in instabilen der Tyrann. Zwecks Erreichung wirklich rechtlicher Verhältnisse wird es also sehr darauf ankommen, die Selbständigkeit mit ihren ungeregelten Ansprüchen zu domestizieren, u. z. sowohl im Interesse der rechtlich geltenden Person selber als audi der Gesellschaft, von der sie Anerkennung begehrt. Von der Rechtsperson aus gesehen wäre es eine Flucht aus der Wirklichkeit der Zeit und der Gesellschaft, wenn sie nur den Gedanken der Selbständigkeit hegte, sich selbst also in einem nicht-realen, nur-psydiischen Anerkanntsein genießen wollte: Was absolut für sich ist, ist ebenso absolut nur für sich, mit keinem Dasein verknüpft. „Auf dieselbe Weise ist das Recht der Person weder an ein reicheres oder mächtigeres Dasein des Individuums als eines solchen, noch audi an einen allgemeinen lebendigen Geist geknüpft, sondern vielmehr an das reine Eins seiner abstrakten Wirklichkeit oder an es als Selbstbewußtsein überhaupt." (Phän 343 f.) Als dieser Selbststand ist das Selbstbewußtsein aber nichts anderes als das leere oder entleerte, das reine oder abstrakte Eins einer Person, die als diese numerisch austauschbar ist. „Dies leere Eins der Person ist daher in seiner Realität ein zufälliges Dasein und wesenloses Bewegen und Tun, welches zu keinem Bestand kommt. Wie der Skeptizismus ist der Formalismus des Rechts also durch seinen Begriff ohne eigentümlichen Inhalt, findet ein mannigfaltiges Bestehen, den Besitz, vor und drückt ihm dieselbe abstrakte Allgemeinheit, wodurch er Eigentum heißt, auf wie jener." (Phän 344)
§12 Die Person und das Redit in Hegels Theorie
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Die Rechtsperson Im Unterschied zum nur negativen Wert des Skeptizismus ist aber die abstrakte Wirklidikeit des Redits positiv, denn auch der rohe Ausgang des Redits, die wirklich geltende Selbständigkeit, enthält den Besitz als schon im Denken aufgehobenen oder, wie Hegel sagt, das Mein in der Bedeutung der Kategorie. Die Bestimmtheit des Besitzes ist allerdings in der noch leeren kategorialen Form nicht enthalten („es sei nun eines äußerlichen Besitzes, oder audi des innern Reichtums oder Armut des Geistes und Charakters" (Phän 344f.)); sie bedarf einer anderen Region als der des formal Allgemeinen, „die der Zufall und die Willkür ist. — Das Bewußtsein des Rechts erfährt darum in seinem wirklichen Gelten selbst vielmehr den Verlust seiner Realität und seine vollkommne Unwesentlichkeit, und ein Individuum als eine Person bezeichnen ist der Ausdruck der Verachtung." (Phän 345) Wenn die Wirklidikeit der rechtlichen Person nur darin besteht, daß sie gelten will, für etwas gelten möchte, so ist sie nicht nur arm in ihrem Geiste, sondern audi zu verachten: Im Narzißmus des Begehrens der Akklamation spridit sie den Verlust ihres Wesens aus, ohne daß sie diesen erfahren müßte; so veräußert sie sich in das hohle Gewinnstreben ihrer Bewunderungssüditigkeit. Und wenn im System Hegels die Regression gedadit werden könnte, ließe sich sagen, daß in der Sehnsucht nach dem Genuß der Anerkennung der inhaltslose Geltenswunsdi des Selbstbewußtseins sich in die rosafarbene Welt des „Wahnsinns des Eigendünkels", der seine Herzkammern in Purpur und Scharlach kleidet, zurückdenkt. Der Wille, „welcher frei ist" (SW 7, 50), muß vom bloßen Geltensanspruch befreit werden und sein Recht selbst darstellen können; aus der abstrakten Form des Begehrens muß er in die konkrete des Daseins treten, eines Daseins, das für andere Willen nidit fordernden, sondern unmittelbar verstehbaren Charakter hat. Deswegen muß sich die Person in den Sachen ein Dasein geben und Eigentum besitzen. So hat sie die erste Weise ihrer Freiheit gewonnen. „Der an und für sich freie Wille, wie er in seinem abstrakten Begriffe ist, ist in der Bestimmtheit der Unmittelbarkeit. Nach dieser ist er seine gegen die Realität negative, nur sich abstrakt auf sich beziehende Wirklichkeit, in sich einzelner Wille eines Subjekts." (SW 7, 88) Unmittelbarkeit aber ist nodi allgemeine Anonymität. Das im Eigentum erscheinende Personmoment ist als allgemeines austauschbar. Die auf dieser Basis erscheinende abstrakte Rechtsperson ist also zwar von der nur fordernden zur verstehbaren geworden, als individuelle Person aber nicht mehr vorhanden. Ihre Einmaligkeit hat sich zur unmittelbaren Einigkeit mit der Allgemeinheit verwandelt, u. z. der rechtlichen Allgemeinheit, oder, was dasselbe ist: im abstrakten Redit gibt es nur abstrakte Personen, nidit konkrete Individuen. Durch das Redit werden die Beziehungen abstrakter Personen geregelt. Die Mißachtung dieser abstrakten Personen macht das Wesen rechtswidriger Akte aus. Rechtlich als gut zu beurteilende Taten sind inhaltlich leer; sie bestehen in passiver Anerkennung. Rechtlich als schlecht zu beurteilende Taten da-
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C Prolegomena der Persönlichkeitstheorie
gegen haben einen Inhalt; durch sie wird in die Sphäre der Freiheit eingegriffen. Dabei ergibt sich eine Progression, angefangen von Verletzungen des Eigentums über Beschädigungen des Leibes bis zur Bedrohung des Lebens. Die jeweilige Herabsetzung durch rechtswidrige Taten erleidet physisch zwar eine bestimmte Person, rechtlich aber die allgemeine, abstrakte Rechtsperson. Dadurch nur wird der physische Eingriff zur Rechtsverletzung, und dadurch nur wird im Ausgleich der Ersatz der Rache durch Strafe möglich. Auch in neutralen Rechtsvollzugsakten, ζ. B. in Zivilverträgen, Käufen, Übereignungen usw., tritt rechtlich nicht die besondere Physis der Vertragspartner ein, sondern ihre allgemeine Reditsperson. Gegenstand der abstrakten Rechtsphilosophie ist die Person also in ihrer Allgemeinheit bzw. in ihrer Eigenschaft, Eigentum zu haben, Verträge zu schließen und Unrecht zu erleiden oder aufzuheben. Die daraus resultierende Austauschbarkeit der psychophysischen Individuen ist der Preis dafür, daß Personen als Rechtssubjekte kontrahieren können. Wer sich als Mensch im Eigentum vorzeigbares Dasein gibt, kann und muß als Person anerkannt werden. Der Eintritt in diesen Anerkennungsprozeß aber ist nicht in ein Belieben gestellt, sondern er ist als Pflicht aufgegeben: „Es ist Pflicht, Sachen als Eigentum zu besitzen, d. i. als Person zu sein . . (SW 10, 383) Entgegen dieser abstrakten Maxime läßt sich aber fragen, ob alle Menschen dieser Pflicht nachkommen können - aber zu diesem Problem hatte Hegel noch keinen Zugang. Aus der geforderten Gleichheit der Menschen resultierte für ihn audi ihre Gleichheit in ihren Möglichkeiten; insofern stand Hegel auf Kantischem Boden: Aus der Pflicht folgt das Können. Die Frage, ob nicht unter den Bedingungen des frühen 19. Jahrhunderts verborgen, aber sachlich ebenso zwingend — nun wörtlich genommen - „derselbe Zustand herrschte wie im alten Rom", nämlich Schiditspezifität des Eigentums und der Eigentumsfähigkeit, hat Hegel sich in idealistischem Vertrauen auf die Sittlichkeit des erreichten Weltzustandes nicht gestellt. In Rom war, wie Hegel selbst sagt, Person ein Zustand und gebunden an einen Stand; daß die Idee der abstrakten Gleichheit der sog. rechtsfähigen Menschen audi in der Neuzeit nicht aus sich den Zugang zum konkreten Dasein der Freiheit beinhaltet, ist in Hegels Begriff des abstrakten Rechts noch nicht „begriffen" worden. Außer diesem Problem der Gleichsetzung der Aufgabe und der Möglichkeit, rechtliche Person zu werden, enthält die Hegeische Theorie der abstrakten Rechtsperson mindestens noch eine weitere Schwierigkeit: Hegel stellt zwar überzeugend dar, daß der Wille, um konkret frei zu sein, erscheinen muß, daß er sich aus dem fordernden Anspruch in ein demonstrierbares, verstehbares Recht wandeln muß, was eben durch das Eigentum bewerkstelligt wird. Eigentum wird aber in praxi nicht erworben über die Benutzung der Idee der Freiheit, sondern mittels partikulärer, materieller Interessen : Die erste objektive Inszenierung der abstrakten Rechtsperson vollzieht sich also über Begierden und Gelüste. Besitz und Eigentum stillen Unsicherheit und Unlust; sie führen aus sich aber nur zur Lust des Genusses. Besitz und Eigentum vollenden sich im Erscheinen ihres rechtlichen Personfundamentes. Zusammenschließen kann man sich nur mit ihrer pas-
§13 Gott als Person in Hegels Theorie
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siven Unselbständigkeit; faßt man sie als erst noch zu Formierendes auf, sind sie schon in einer höheren Bedeutung erfaßt, nämlich als Aufgabe und Gestaltungsauftrag. Besitz und Eigentum selbst werden nur als Mittel begehrt, nicht um einer Idee Dasein zu geben. Sie gewähren Befriedigung: die private des Genusses, die öffentliche, Herr über etwas und gegen andere zu sein. Der genießende Herr in seiner Eigentumsreputation aber wäre wieder unfrei; er wäre phänomenologisch eine aufzuhebende Stelle in der Entwicklung des Geistes, da er seine Bedeutung nur in den abgesteckten Pfählen seines ihn umgebenden Landes hätte, das ein Ort der Anerkennung erst durch auf ihm vollzogenes Schaffen, nicht durch besitzendes Genießen wird. Im formierenden Schaffen aber befreit sich gerade der Knecht („Herr und Knecht", vgl. Phän 146 ff.) auf dem Grund und Boden des Herrn. So kommt der Knecht - in der wörtlichen Bedeutung - zu seinem Recht, indem er die Subsistenz der Rechtsperson seines Herrn für sich benutzt. § 13 G o t t als Person in Hegels Theorie Das geistige Begreifen Gottes In Hegels System ist die Philosophie der Religion überlegen, weil die Idee ihr auch als gedachte, nicht nur als vorgestellte zukommt. Entsprechend muß der philosophische Gottesbegriff dem theologischen überlegen sein; und von den Voraussetzungen seiner Theorie her kann Hegel nicht eine bestimmte religiöse Gottesvorstellung unbearbeitet übernehmen. Diese Forderung stellte Hegel gedanklich auch an das Christentum; seine Gottesvorstellung muß ebenfalls ins Denken erhoben werden, wenn Hegel auch in seinen Worten nicht bezweifelt, daß die christliche Vorstellung über Gott die zutreffende ist. Ihr Mangel besteht nur darin, daß sie erst Vorstellung, noch nicht Gedanke ist. „ . . . im Christentume ist Gott in seiner Wahrheit und deshalb als in sich durchaus konkret, als Person, als Subjekt und in näherer Bestimmtheit als Geist vorgestellt. Was er als Geist ist, expliziert sich für die religiöse Auffassung als Dreiheit der Personen, die für sich zugleich als Eine ist. Hier ist Wesenheit, Allgemeinheit und Besondrung so wie deren versöhnte Einheit, und solche Einheit erst ist das Konkrete." (SW 12, 108) Die anschaulichen Gestalten, unter denen Gott im Christentum vorgestellt wird, insbesondere die trinitarische Personalität, werden damit als ihm auch begrifflich immanente bezeichnet; die christliche Anschauung Gottes entspricht so der gedanklichen Entwicklung. Wenn seit der Synode von Alexandrien Gott als Dreifaltigkeit vorgestellt wurde und deren Glieder Personen genannt wurden, so wirkte nach Hegel in den Synodenvätern ihr eigenes Bedürfnis, das so formulierte. Diese Feststellung klingt anthropomorphistisch, und sie ist es auch; aber auf Hegelschem Boden ist Anthropomorphismus letztlich kein Vorwurf, denn der Geist kennt nur seine Entwicklung zur Wahrheit und ist in der Wahl seiner Mittel nicht beschränkt. In jeder Denkstufe ist mehr an Wahrheit enthalten als in der ihr vorangehenden; die Weise der Genese ist letztlich uner-
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heblich. Ohne Abstriche an der jeweils erreichten Wirklichkeit des Wahrheitsgehaltes vorzunehmen, kann Hegel deshalb sagen: es ist „. . . die Phantasie von Völkern . . ., die sich ihrem Bedürfnis gemäß ihre Götter . . . selbst geschaffen hatten". (Theol 60) Jede spätere Vorstellung ist dann näher an der Erfassung Gottes, soweit Vorstellungen dem Inbegriff des tätigen Begriffs - Gott überhaupt gerecht werden können. Die philosophischen Auffassungen Gottes als Sein oder als die eine Substanz sind Hegel zufolge dagegen eindeutig inadäquat, obschon sie gegenüber den religiösen Vorstellungen reiner sind. Die Darstellung Gottes als Sein macht ihn zu einer absoluten Sache, die Darstellung als Substanz zu absoluter Notwendigkeit. Nur so weit gelangt Spinoza, (vgl. SW 8, 339) Da Hegel der Überzeugung ist: „Denn der Geist erforschet alle Dinge, audi die Tiefen der Gottheit" (SW 20, 311), kann er sich mit dieser Distanz einer andersartigen Unmittelbarkeit nidit begnügen. Gott muß vielmehr vermittelt gedacht werden, dies aber so, daß trotz der Identität des Denkenden und des zu Denkenden ein unendlicher Unterschied verbleibt. Die Erfüllung dieser Forderung wird möglich durch die Herausstellung des Unterschiedes zwischen Gott und allem Endlichen: Nur Gott ist die wahrhafte und wirkliche Kongruenz des Begriffes und der Realität. Die Menschen dagegen verfügen, insofern sie endliche sind, nur über eine Existenz, die gegenüber ihrem Begriff abfällt. Darin besteht ihre Unwahrheit. Gleich sind die Menschen und Gott also in der Notwendigkeit, daß Begriff und Existenz übereinstimmen sollen. Ungleich sind sie darin, daß, was in Gott zur Ubereinstimmung zwischen Begriff und Realität geworden ist, im Menschen noch Aufgabe bleibt, (vgl. SW 8, 90) Gott wird also unter den Bedingungen des Geistes gedacht: Er hat Begriff und Realität in sich zusammengeschlossen und damit das geleistet, was das Wesen des Geistes ist. Man könnte nach Hegel durchaus sagen: Gott leistet unendliche Geistesarbeit aus dem Nichts heraus. In der christlichen Vorstellung erhält dieses Problem die Fassung, daß Gott als Schöpfer der Natur und des konkreten Geistes erscheint und gegenüber der Natur frei ist, indem er sich aus der Rückkehr seiner selbst in sich zum wirklich absoluten geistigen Fürsichsein gemacht hat. (vgl. SW 13, 37) Dem Menschen steht die entsprechende Vollendung noch bevor. Er muß theoretisch die Natur in Gedanken fassen und praktisch das Gute und die Natur versöhnen. Die Vermittlung, die der Mensch mit sich ausführen soll, hat also den Charakter, daß sie nur durch Arbeit zu lösen ist. Diese Arbeit kann einerseits, da sie eine unendliche Aufgabe ist, vom Menschen, solange er selbst auch Natur ist, nicht durchgeführt werden, obschon sie andererseits prinzipiell ausführbar sein muß, da ihre Aufgabenstellung aus dem Geist stammt. So sind Mensch und Gott eins, weil sie eins sein müssen: als Arbeit. „Diese unendliche Tätigkeit nun ist Gott, insofern ihm die Herrschaft über die Natur zukommt und er als diese unendliche Tätigkeit und deren Wissen und Wollen für sich selbst ist." (SW 13, 38) Dies ist kein Gott der Vergeltung, kein Gott der Liebe, sondern ein selbst-bewußter Meister
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seines Werks. Nodi einmal aber ist festzustellen, daß diese Ineinssetzung unter dem Prinzip des Geistes erfolgt, nach dem es die absolute Aufgabe bleibt, daß Begriff und Realität sich zusammenschließen - ausnahmslos. Logisch werden Gott und Mensch also durdi das vorausgesetzte Prinzip geeint; historisch mag die Entwicklung anders zu sehen sein: „Wenn man die Frage nach der Herkunft des Hegeischen Geistbegriffs geschichtlich faßt, führt sie zunächst auf seine Verwurzelung in der Geschichte der europäischen Metaphysik - auf die Umdeutung des griechischen Seinsbegriffs der δύναμις zur Sdiöpferkraft Gottes in der Spätantike und im Christentum. Um das Sein des Seienden als das Geschaffensein aus Nidits vorstellen zu können, werden Sein und Tätigkeit zusammengedacht. Das Zusammendenken von Sein, Tätigkeit und Nichts läßt sich an Hegeischen Umsdireibungen des Geistbegriffs zeigen." (Riedel 1965, 51 f.) So lautet eine Interpretation der Gedanken, die Hegel selbst folgendermaßen ausdrückt: „Der Geist aber ist eben dies, weil er lebendig überhaupt ist, nur an sich oder in seinem Begriff zuerst zu sein, dann in die Existenz zu treten, sich zu entfalten, hervorzubringen, reif zu werden, den Begriff seiner selbst hervorzubringen, was er an sich ist, so, daß das, was an sich ist, sein Begriff für sich selbst sei . . . Indem der Geist wesentlich diese Tätigkeit des Sichhervorbringens ist, so ergeben sich daraus Stufen seines Bewußtseins, aber er ist sich immer nur bewußt gemäß dieser Stationen." (SW 15, 91) „Der Geist ist nur das, wozu er sich macht. Dies Hervorbringen dessen, was an sich ist, ist das Setzen des Begriffs in die Existenz." (SW 15, 284) Der Geist wird also bei Hegel nach cheirurgischen, prattologischen Vorstellungen gedacht. Er bringt sich selbst hervor; er ist nicht etwas, das unter Bedingungen wirkt oder mitwirkt oder auch einfach nur sein kann, sondern sein Modus ist die radikal autonome Produktion und autokratische, „geschlossene" Selbstproduktion. Die Betrachtung der historischen Herkunft des Geistbegriffs führt also mindestens darauf, daß er durchaus als säkularisierte Gottesvorstellung des schaffenden Vatergottes verstanden werden kann.
Die Projektion als Instrument des vorstellenden Geistes Die Frage der Herleitung und der Entstehung der Hegeischen Gedanken ist eine andere als die ihrer Durchführung im systematischen Denken. Im System ist der Geist der allem übergeordnete Begriff. Damit ergibt sich eine wichtige Perspektive zum Problem der Gottesfrage bei Hegel einerseits, Feuerbach andererseits. Über die partielle Identität Gottes und des Menschen im Geist kann der Mensch bei Hegel als eine Modifikation Gottes aufgefaßt werden. Dementsprechend wollte Löwith feststellen, daß zwischen Hegel und Feuerbach ein wesentlicher Unterschied nicht bestehe: Die These, daß nur eine Modifikation Gottes ihn erkennen könne, sei von Feuerbachs anthropologischer Reduktion der Religion kaum zu unterscheiden, (vgl. Löwith 1966, 64) Diese Überlegung ist bestritten worden: „Hegels Fragestellung unterscheidet sich von der Feuer-
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C Prolegomena der Persönlidikeitstheorie
bachs dadurdi, daß Hegel vom Göttlichen ausgeht und fragt, wie eine Erkenntnis des Göttlichen möglich ist. Feuerbach geht demgegenüber von dem Resultat aus, daß Gott als solcher nicht ist, und fragt danach, wie der Mensch zur Aufstellung der Gott-Hypostase kommt. Um das zu verstehen, mußte Feuerbach unendliche Gattungseigenschaften des Menschen annehmen. Gerade die unendlichen Eigenschaften des Menschen sollen aber nadi Hegel daher stammen, daß der Mensch eine „Modifikation" des Göttlichen ist." (Wagner 1971, 147) Den Überlegungen Wagners kann nicht zugestimmt werden, denn Hegel geht gedanklich gerade nidit von einem Göttlichen aus, dem analog der Mensch gestaltet ist, sondern vom Begriff des Geistes, dem sowohl Gott als auch Mensch als Konstruktionen nachfolgen. Der Unterschied zwischen Hegel und Feuerbach besteht nicht in ihren Annahmen über die Existenz oder Nicht-Existenz Gottes, sondern in ihrem Geistbegriff : Aus der nur-naturalistischen Geistfassung bei Feuerbach folgt die Illegitimität der Gottesprojektion; für einen Geist Hegelscher Fassung, also den absoluten Geist, der sich zu sich entwickelt, ist eine Projektion keine Täuschung, sondern Ahnung der richtigen Vorstellung. N u r in der Interpretation der Projektion besteht zwischen Feuerbadi und Hegel ein Unterschied; bei Feuerbach muß sie entlarvt werden, bei Hegel ist sie ein Instrument des Geistes. Als Vorgang war die Projektion Hegel genau so bekannt wie Feuerbach, Nietzsche und Freud, wie er in seiner Darstellung des Überganges vom Polytheismus zum Monotheismus beim biblisdien Abraham zeigt; aber er denkt nicht an die Möglichkeit ihrer Destruktion, sondern sieht in Abraham einen Funktionär der Entwicklung des Geistes auf dem Wege zur Wahrheit im Stadium der mythologischen Vorstellung: „. . . er war ein Fremdling auf Erden; wie hätte er sich da Götter sdiaffen sollen, wie sich mit der einzelnen Natur vereinigen, und Götter sich machen. Ein unabhängiger Mann und außer Verbindung mit einem Staate, oder einem andern Zwecke, war ihm seine Existenz das Höchste, . . . er . . . mußte auch einen Gott für sich haben, der ihn führte und leitete - Keinen griechischen Gott, ein Spiel mit der Natur, dem er für einzelnes dankt, sondern einen Gott, der ihm Sicherheit seines ungewissen Daseins gegen dieselbe gewährt, der ihn schützt, der Herr seines ganzen Lebens ist. Dies Hinausblicken über das Gegenwärtige, diese Reflexion auf ein Ganzes des Daseins, zu welchem Ganzen auch die Nachkommenschaft gehörte, charakterisiert das Leben Abrahams, und das Bild desselben im Spiegel ist seine Gottheit . . . Der Boden, auf dem Abraham herumwanderte, war eine unermeßliche Ebene, der Himmel über ihm ein unendliches Gewölbe, sein Aufnehmen derselben, seine Reaktion gegen dieselbe mußte ebenfalls groß und unendlich sein." (Theol 368 f.) Zum großen Teil sind es also Insuffizienzen seiner eigenen Person, die Abraham ins Gegenteil wendet - „negiert" - und in Gott „hinaussieht": Ein irrender Fremdling wendet sich nicht an eine Mehrzahl heiterer Götter, sondern er will Hilfe von einem einzigen „Gott"; Schutz und Stütze verspricht er sich in seiner Asozialität von einem großen „Führergott"; in
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der Ungewißheit seiner Existenz sucht er den hohen Versicherungsschutz und personalisiert ihn; er denkt in seiner Unsicherheit seine eigene Unabhängigkeit als Überblicken des Ganzen des Daseins: die so gewähnte Größe, im Spiegel seiner selbst geschaut, nennt er Jahwe. Hegel läßt Abraham Gott also nach seinem Bild als sein ihn überragendes Ebenbild schaffen. Als Person muß Gott in jedem Falle gedacht werden: Wenn er dasjenige ist, das sich sich selbst entgegensetzt, auch wenn er in dieser Entgegensetzung nur sich selbst anschaut - und das muß er nach den Bedingungen des Geistes - , dann ist er der Schaffend-Sidi-Selbst-Gleichbleibende und als solcher die vollendete Person. Er überragt aber als absolut mit sich vermitteltes in einem alle unvollendeten Personen, denn er ist Subjekt und nur nodi Subjekt, nicht mehr Substanz, die erst noch Subjekt werden will. Als dieses nur-aktuale Konkrete ist er nicht mehr Wesen oder gar Sein. In der Form des Wesens oder Seins wird Gott nicht rein, sondern leer gedacht; unter diesen Bedingungen verfügt er nicht über den Charakter der tätigen Erfüllung. - Aus Gottes Tun aber folgt wiederum seine Personalität: Wenn er „freie, sich auf sich selbst beziehende, bei sich bleibende Tätigkeit" (SW 16, 380) ist, dann ist er notwendig „absolut wirkliche Persönlichkeit". (SW 8, 335) Der Gedanke der Person Gottes ist insofern der höchste mit den Mitteln des Denkens zu erschließende. Seine Garantie liegt im Geist als Prinzip: Als Instrument des Geistes darf der Mensch den Gott aus sidi herausdenken; auch in diesem Tun ist er als Substanz, die Subjekt werden will, auf dem Wege zur Wahrheit. Was aus dem Menschen spricht, ist nicht Natur; denn es spricht „nur der Geist". Die Kritik am Hegeischen Gottesbegriff muß also auch bei seinem Geistbegriff einsetzen: seine angeblichen Garantien sind zu prüfen.
D Psychopathologische Prolegomena § 1 4 Z u r P a t h o g r a p h i e Hegels a) Psychopathologische Vermutungen über Hegel Theorien und ihre psychologischen Momente Zu den Voraussetzungen einer Theorie gehören nicht nur ihre objektiven Grundlagen, sondern auch ihre psychologischen Entstehensbedingungen. Diese Bedingungen dürfen nidit unbemerkt in die Theorien einfließen. Zumindest wäre in einem entsprechenden Verdachtsfall zu zeigen, daß der betreffenden Theorie keine subjektiv-zufälligen Bedingungen anhaften. Die Notwendigkeit der Ausschaltung dieser Gefahr ist bei Theorien, die nur Objektives, ζ. B. Natur oder Naturgesetze, betreffen, weit geringer als bei Theorien, die sich auf Subjektives und Audi-Subjektives beziehen. Die Spannweite der Möglichkeit der Psychologisierung von Theorien kann bei der letztgenannten Gruppe von der „reinsten" Transzendentalphilosophie über die Psychologie und die Soziologie bis zur Anthropologie reichen. Theorien über reine und konkrete Subjektivität werden von Subjekten entworfen, die als endliche Menschen immer in der Gefahr sind, ihre jeweils mindestens partiell bedingte Subjektivität für Bedingung der Subjektivität überhaupt zu halten. Theorien über Subjektivität sind also prinzipiell projektionsverdächtig. Wird ein Fall einer Subjektstheorie, ζ. B. eine Persönlichkeitstheorie, Gegenstand der Analyse, ist es demnach vom immer anzuwendenden wissenschaftlichen Zweifel her angebracht, audi die psydiologischen Bedingungen ihrer Entstehung zu prüfen. Die Gefahr der gefürchteten Auflösung der geistigen Gehalte bzw. der Theoriemomente im Nur-Psydiischen kann dabei so lange nicht gegeben sein, als man nicht die Logizität einer Theorie mit ihrer inhaltlichen Erfüllung, Ausgestaltung usw. gleichsetzt. Bei einer Theorie allerdings, die nicht nur in Detailgestaltungen, sondern audi in ihrem Aufbau durch psydiologische Radizierung ernsthaft und dauerhaft in Gefahr geriete, wäre wirklich zu vermuten, daß sie strukturell und systematisch aus Projektionen, nicht aus gerechter Erfassung der Wirklichkeit entstanden ist. Die psychologische Analyse kann aber immer nur das Projizierte an einer Theorie aufweisen und damit relativieren; mehr vermag sie nicht. Angst vor der Psychologie beweist also nicht Vertrauen zum Gedanken selbst - wenn er, wie von den Gegnern der psychologischen Analyse angenommen, etwas anderes als Projektionspro-
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D Psydiopathologische Prolegomena
dukt sein soll. Befaßt sich der Gedanke mit der Theorie der Persönlichkeit, kann er dieser Annahme zufolge selbst durch psychologische Behandlung nur insoweit in Gefahr kommen, als er eben nicht Gedanke ist. Eine psychologische Prüfung ist an die Konstruktionen des Gedankens bzw. der Theorie aber offensichtlich dann anzulegen, wenn ein spezifischer Verdacht berechtigt scheint. Ob diese Prüfung angemessen ist, kann u. a. davon abhängig gemacht werden, ob 1. sich ein Verdacht auf eine „besondere" Subjektivität des Theorieschöpfers ergibt und 2. die Mittel ausreichen, um eine eventuelle Verdachtserhebung nachzuprüfen. Beide Bedingungen können bzw. müssen bei Hegel als erfüllt angesehen werden. Die Behauptungen über seine geistige oder seelische Anomalität sind mehrfach vorgebracht und vor kurzem durch den schwerstwiegenden Verdacht, der überhaupt erhoben werden kann, akzentuiert worden; danach hat Hegel an einer Geisteskrankheit vom T y p der Schizophrenie gelitten. (Die psychopathologischen Verdachtsanwürfe werden im folgenden in etwa in Berücksichtigung ihrer Stärke ansteigend vorgetragen.)
Ansichten Ortegas, Weins, Jungs, Künzlis Eine unspezifizierte Anomalität, die Hegel aber doch deutlich außerhalb der Reihe anderer bedeutender Denker stellt, wurde von Ortega angenommen: „In Hegel haben wir den seltenen Fall eines Erz-Intellektuellen, der gleichwohl mit den seelischen Eigenschaften eines Staatsmannes begabt ist . . . In der seelischen Veranlagung hat er weder mit Piaton noch mit Descartes, weder mit Spinoza noch mit Kant das Geringste gemein. Dem Charakterformat nach gehört er vielmehr in die Reihe: Cäsar, Diokletian, Tschingis-Khan, Barbarossa. Und zu diesen Persönlichkeiten zählt er nicht trotz, sondern gerade wegen seines Denkertums. Seine Philosophie ist imperatorisch, cäsarisch, tschingis-khanisch." (Ortega 1930, 376) Eine Diagnose oder verwertbare Analyse liefert Ortega zwar nicht; doch wird die Behauptung einer ungeheuren Gewalttätigkeit des Denkens bei Hegel erhoben. In der seelischen Konstitution wird Hegel den Imperatoren und Tyrannen gleichgesetzt und von den großen Denkern abgesetzt. Es wäre verständlich, wenn eine auf solchen Voraussetzungen entstehende Philosophie ebenfalls weitgehend anspruchsvoll-brutal aussähe. Eben diese Vermutung ist auch der Inhalt der These Ortegas, derzufolge Hegel rücksichtslos und kompromißunfähig die Macht des Geistes verherrlicht. Das exakte Gegenteil dieser Annahme wird von Wein vermutet; nach ihm war Hegel kein autokratischer Denker, sondern ein friedensuchender Harmonist: „Es spricht viel dafür, daß es Hegel in seinem gesamten Philosophieren letztlich nicht um metaphysische Doktrin, sondern praktisch um Harmonisierung aller Einseitigkeiten, um allsinnige Entfaltung und Erfüllung ging, um praktische Entfaltung und Erfüllung des Subjektiven und des Übersubjektiven." (Wein 1970, 104) Dieser These zufolge wäre Hegel ein Denker eines praktischen und zugleich kreatürlichen Ideals, ein Verherrlicher einer ausgeglichenen Entwicklung,
§14 Zur Pathographie Hegels
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ein Rechtfertiger einer symmetrisch-progredienten Klassizität, in den Ergebnissen strukturell vergleichbar seinen Zeitgenossen Thorwaldsen oder Mendelssohn. Er wäre also gerade nicht - wie es die Vorstellung Ortegas empfahl ein Neuerer aus herrscherlicher Gewalttätigkeit, sondern ein Verwalter aus angstvoller Liebenswürdigkeit. In psydiopathologischer Hinsicht ist mit derartigen Vermutungen wenig anzufangen; die bloße Vermutung einer exzentrischen Psyche, sei sie brutal oder harmlos, gibt nichts her. C. G. Jung wird allerdings deutlicher; und gegenüber Ortega und Wein ist er vom Fach. Wenn er auch der Schöpfer einer selbst wiederum sehr umstrittenen psychologischen Theorie ist, so sind seine Fähigkeiten als Diagnostiker unbestritten, und die Psychiatrie in der strengen klinischen Fassung wurde von ihm völlig beherrscht. Bezüglich Hegels hat er zwei Thesen, von denen die erste, philosophiebezogene, in diesem Zusammenhang nicht interessiert. (Er glaubt, daß Hegels Philosophie den Bereich der Vernunft verlasse.) In die zweite, psychiatrische These wird ein schwerer Verdacht eingefloditen, aber nicht exakt ausgesprochen: „Eine Philosophie wie die Hegeische ist eine Selbstofienbarung psychischer Hintergründe und philosophisch eine Anmaßung. Sie bedeutet psychologisch soviel wie einen Einbruch des Unbewußten. Mit dieser Auffassung trifft die sonderbare, überspitzte Hegelsche Sprache zusammen. Sie erinnert bereits an die schizophrene ,Machtsprache', welche sich kräftiger Bannwörter bedient, um Transzendentes einer subjektiven Form gefügig zu machen, dem Banalen den Charme der Neuheit zu verschaffen, oder das Unbedeutende als grüblerische Weisheit erscheinen zu lassen." (Jung 1947, 401) Jung sieht Hegels Denken also einer Inflation des sogenannten Unbewußten ausgesetzt, die zu a-logischen Einbrüchen führe. In Hegels Sprache hört er den Typ schizophrener Bannwörter anklingen, ohne sich allerdings näher zu äußern. Die Jungsche These, die vereinfacht besagt, daß Hegels Philosophie eine Darstellung von „Eingebrochenem", psychisch Unverarbeitetem sei, ist aber mindestens insofern nicht neurosen-psychologistisch, als sie das Werk nicht als Verarbeitung von Schwierigkeiten auffaßt, sondern direkt als unvermittelten, irrationalen Durchbruch einer bestimmten Wirklichkeit, der des Unbewußten nämlich. Als dessen Niederschlag wäre das Werk in einem eingegrenzten Sinne realitätskonform, u. z. als Analogon einer psychischen Realität, die nicht durch Domestikation modifiziert ist. Hegel wäre damit nicht Schöpfer, sondern gänzlich unfreiwilliges Werkzeug eines bestimmten Denkens. Durchaus neurosen-psychologistisch ist demgegenüber die Auffassung Künzlis, der in Hegels Werk die Verarbeitung seelischer Schwierigkeiten sieht. Künzli bezeichnet Hegels Denken als schizoid, worunter er die Ausarbeitung eines widerspruchsbetonenden Denkens versteht. „Man begegnet dieser Gespaltenheit im Werke Hegels beinahe überall, so vor allem in seinem Begriff von Freiheit. Hegel selbst lebte, auf eine allerdings von ihm nicht intendierte Weise, den Widerspruch, dem er in seiner Dialektik zu metaphysischen Ehren verhalf. Aber
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D Psychopathologisdie Prolegomena
durch eine soldie Feststellung wird die nun eigentlich psychographisdie Frage provoziert, ob diese Hegeische Dialektik nicht bereits in Hegels Psydie angelegt war." (Kiinzli 1970, 45) Unter Berufung auf Heiß nennt Künzli Hegel einen „ Janus bifrons". Es ist ihm „deutlich . . ., daß Hegel ungelöste psychische Konflikte mit sich herumtrug". (Künzli 1970, 55) Besonders wird hervorgehoben woran nach Hegels eigenem Eingeständnis (vgl.Br 1, 314) nicht zu zweifeln ist - , daß Hegel an Hypochondrie gelitten habe. Die Rolle der Hypochondrie Die Hypochondrie wird von Hegel auch in der Philosophie des subjektiven Geistes behandelt. Hegel geht in diesem Zusammenhang davon aus, daß am Ende des sogenannten Jünglingsalters das entworfene Ideal gegenüber der Beschäftigung mit Einzelheiten zurücktreten müsse. Die Einsicht in die Unmöglichkeit der Idealrealisierung mache den jungen Mann hypochondrisch. „Dieser Hypochondrie, - wie unscheinbar sie auch bei Vielen sein mag, - entgeht nicht leicht Jemand. Je später der Mensch von ihr befallen wird, um desto bedenklicher sind ihre Symptome. Bei schwachen Naturen kann sich dieselbe durch das ganze Leben hindurchziehen. In dieser krankhaften Stimmung will der Mensch seine Subjektivität nicht aufgeben, vermag den Widerwillen gegen die Wirklichkeit nicht zu überwinden, und befindet sich eben dadurch in dem Zustande relativer Unfähigkeit, die leicht zu einer wirklichen Unfähigkeit wird." (SW 10, 105) Es sei hier zusätzlich darauf hingewiesen, daß Hegel in dem „Fragment zur Philosophie des Geistes" diesen Ausführungen weitergehende Präzisierung gegeben hat; damit könnten an die Hypochondrie anknüpfende biographische Spekulationen nodi gefördert werden. Einmal kommt eine zahlenmäßige Festlegung hinzu: „Diese Hypochondrie fällt meist etwa um das 27ste Jahr des Lebensalters oder zwischen dasselbe und das sedisunddreißigste . . ." (HSt 1, 35) Auf Grund dieser Altersangabe wird es bei Neigung zur Eindeutung möglich, Hegel in Frankfurt (1797) oder in der Zeit zwischen Frankfurt und dem Erscheinen der „Phänomenologie des Geistes" als alteriert anzusehen. Der bei Hegel folgende Satzteil: „. . . sie mag oft unscheinbarer sein, aber es entgeht ihr nicht leicht ein Individuum . . . " enthält im Manuskript zwischen „ein" und „Individuum" das gestrichene Wort „männliches". Dieses Detail ist bemerkenswert: Zunächst spricht Hegel theoriekonsequent die Hypochondrie nur männlichen Personen zu, denn nur bei ihnen kann es nach ihm zur Kollision des Ideals und der Realität kommen. Das Ideal des Mädchens wird in Hegels Vorstellung im Regelfall dagegen auch seine Realität: Es wird liebende Frau und Mutter. Die phasenspezifische Hypochondrie gehört also nicht zum Leben des Mädchens. Ausgerechnet Hegels Schwester Christiane trug aber nun — um es hier noch vorsiditig, aber für diesen Zweck zureichend auszudrücken - sehr schwer am Leben. (Sie war auch unverheiratet.) Möglicherweise dieser Erfahrung wegen löschte Hegel die Beschränkung der lebensaltersspezifischen Hypochondrie auf die Männlichkeit.
§ 1 4 Zur Pathographie Hegels
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Man braucht Hegel darum nidit theorieinkonform zu finden; man kann ihn, sicherlich in seinem Sinne, ergänzen: Wenn für das Mädchen die Zeit kommt, daß es sein Ideal nicht erfüllt sieht, daß es dahinwelkt, ohne Frau, ohne Mutter geworden zu sein, dann kann sich diese Flachheit seiner Entwicklung, die sich nidit auf den Rückgang des Lebens in sich selbst und seine Ausstoßung als Einzelheit eines neuen Individuums konzentriert hat, nur in die unvertreibbare Trauer über den Verlust seiner Bestimmung wenden. D a diese Trauer nicht die des Verlustes ist, hat sie nicht die tiefe Form der Depression, sondern die schale der Hypochondrie. — Soweit kann man Hegel stimmig und konsequent ergänzen. Jedenfalls erhalten die Analysen zur Hypochondrie aus § 396 der „Enzyklopädie" (Zusatz) in den entsprechenden Sätzen des „Fragmentes zur Philosophie des Geistes" zwei interessante Akzente. In der „Enzyklopädie" f a ß t Hegel die Hypochondrie also durchaus als eine Lebensaltersphase auf, die alle jungen Männer - wenigstens aus der „ideal"bildenden Schicht seiner Zeit - durchzumachen haben. O b man an ein derart für generell gehaltenes Phänomen individualpsychologische Vermutungen knüpfen kann? Andererseits könnte gerade die Annahme der Generalisierung dieses Phänomens einem Wunschdenken entsprechen. Zu Hegels Zeiten war es aber möglicherweise weit verbreitet. Der lehrende Hegel stand der durchaus enttäuschten Jugend der Befreiungskriege gegenüber. D e r Übergang vom Ideal zur Wirklichkeit ist immer eine als schmerzlich erfahrene Prozedur. Hegel wird sie bei sich und in seiner Generation erfahren und bei seinen Studenten in Heidelberg und Berlin beobachtet haben. Gerade unter ihnen waren bekanntermaßen viele, die sich an die Versprechungen der französischen Revolution erinnerten, die aus den Freiheitskriegen mit begeisterten Hoffnungen zurückgekehrt waren und deren einzige Möglichkeit es dann dodi war, sich in die bürgerlichen Verhältnisse des Biedermeier einzupassen, wenn sie ihr Auskommen haben wollten. Hegel konnte die möglichen oder wahrscheinlichen Erfahrungen seiner Jugend also durchaus in der nächsten Generation wiederfinden und daraus eine verallgemeinernde Behauptung ableiten. Selbst heute nodi führt die Differenz zwischen dem ganzheitlidien E n t w u r f vieler Studierender und der nachfolgenden Erkenntnis der Unmöglichkeit seiner U b e r setzung in Realität zu Verzweiflung, Angst, Aufbegehren, Resignation, H y pochondrie oder eben - Anpassung an die Verhältnisse. Audi das Letztere ist ein durchaus allgemeiner Vorgang, gleich ob man ihn bedauert oder heiligt. Wenn Hegel im Anschluß an die vorhin zitierten Sätze aus § 396 (Zusatz) f o r t f ä h r t : „Will daher der Mensch nidit untergehen, so muß er die Welt als eine selbstständige, im Wesentlichen fertige anerkennen, — die von derselben ihm gestellten Bedingungen annehmen, und ihrer Sprödigkeit Dasjenige abringen, was er für sich selber haben will." ( S W 10, 105 f.), so besdireibt er damit einen Lebensverhalt, der nidit singular oder selten war und ist, sondern der vielen idealbildenden Heranwachsenden, insbesondere vielen Studierenden vieler Generationen bekannt ist.
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Es bleibt deshalb durchaus unverständlich, wie Künzli aus der ersten Hälfte („Will - anerkennen" loc. cit.) seine These ableiten will: „In diesem Satz liegt der Schlüssel zu Hegels Philosophie." (Künzli 1970, 57) Hegel hätte demnadi, um aus einer sog. krankhaften Unfähigkeit herauskommen zu können, die Welt als eine fertige anerkennen müssen. Dagegen ist allgemein zu bemerken: Wenn eine bestimmte Erfahrung von vielen Menschen gemacht wird, läßt sich die spezifische Lebensleistung eines einzelnen damit in einer irgendwie relevanten Weise nicht begründen. Biographisch-psychologisch ist es eine Binsenwahrheit, daß das Jünglingsideal der nicht handarbeitenden Schicht der Wirklichkeit gegenüber different ist - wie man früher sagte —, daß die Lebensplanentwürfe gerade hochleistungsmotivierter Studierender oft irreal sind - wie man heute sagt - , daß deshalb die theoretischen und praktischen Lebensvorhaben der überhaupt möglichen Lebensdurchführung untergeordnet werden müssen. Gedanklich aber ist es eine der wenigen möglichen Grundeinstellungen überhaupt, daß man von der Basis „res semper major" ausgeht, daß man der konkreten Realität den Primat über das Denken und das Subjekt zuspricht: „Realismus" - gleich in welcher Fassung, ist keine Außenseiterposition. Wie die außerordentliche Spezifität des Hegeischen Werkes mit einer biographischen Allgemeinheit einerseits, einer denkerischen Allgemeinheit andererseits in genetischer Hinsicht verstehbar korreliert werden soll, ist deshalb keineswegs einsichtig. Darüber hinaus ist selbstverständlich die Interpretation Hegels als eines Affirmators der Realität und der Umstände nur naheliegend, wenn man von einer bestimmten Interpretation seiner Rechtsphilosophie ausgeht, dabei verbleibt und außer acht läßt, daß auch in ihr mindestens der Theorie nach die Wirklichkeit vom Gedanken geformt wird. In der gesamten Hegeischen Philosophie aber gibt es keine Partie, in der dem unmittelbaren Anerkennen der Wirklichkeit Recht verschafft wird; als begriffen gilt ausschließlich die aus dem Gedanken erst hergestellte: Die Wirklichkeit in Hegels Philosophie ist keine der Resignation der stillen Unterwerfung des Subjekts, sondern eine der gedanklichen Arbeit.
Die Hypothese der Psychoseabwehr Die These der Entstehung der Philosophie Hegels als einer „Anerkennung" wird weiterhin mit einer durchaus waghalsigen Vermutung verbunden: „ . . . die H e gelsche Dialektik ((ist)) . . . ein verzweifelter Versuch, mit Hilfe einer Philosophie, deren Quell die Zerrissenheit und ,Hypochondrie' ist, diese zu überwinden, und damit letztlich . . . eine individual-ideologische Schutzmaßnahme im Dienste eines psychischen, existentiellen Interesses, nicht dem Wahnsinn zu verfallen." (Künzli 1970, 65) Über tiefgreifende Erlebnisse der Zerrissenheit und ihre denkerische Bewältigung bei Hegel läßt sich argumentieren. Auf eine Analyse dieses Teils seiner Behauptungen legt Künzli aber keinen Nachdruck; ihm geht es praktisch nur um die Deutung des Hegeischen Denkens als Psychoseabwehr. „Dann erschiene aber vor allem auch Hegels Metaphysik, in der er Gott auf den Begriff
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Geist brachte und umgekehrt die Philosophie zum Gottesdienst erhob, mit ihrem unbedingten Anspruch, über die absolute Wahrheit zu verfügen, als ein aus der Verzweiflung der erlebten hypochondrischen' Zerrissenheit und aus der unbewußten Angst vor dem Wahnsinn geborener verzweifelter Versuch, sich durch diese geistige Verankerung im Absoluten vor dem Höllensturz ins Nichts des immerwährenden Todes, der Psychose, zu bewahren." (Künzli 1970, 63) Die Hegeische Philosophie mit ihren Schwierigkeiten, ihren nidit-geheuerlichen Denkbewegungen, wird von Künzli also als Abwehr einer Psychose verstanden, womit wohl nur eine endogene Psychose gemeint sein kann. Und die Wortwahl Künzlis in diesem Zusammenhang mit der Akzentuierung von angenommenen Phänomenen wie „Hypochondrie", „Zerreißung", „Wahnsinn", „Gespaltenheit" erlaubt es, die Überlegungen zu Künzlis Ausführungen noch weiter auf endogene Psychosen der schizophrenen Typen einzuschränken. Die genannten Phänomene gehören vorwiegend zu ihrem Umkreis. Künzli behauptet nicht, daß Hegel schizophren war 1 . Das Wichtige an Künzlis Annahme ist vielmehr, daß die Abwehrarbeit als eine gelingende aufgefaßt wird. Der Erfolg soll also darin bestehen, daß ein gefährdeter Mensch - Hegel - nicht „verrückt" wird, zum Ausgleich aber eine verrückte Lehre produzieren muß. Diese These Künzlis ist durchaus sensationell und sie wirkt „verständlich". Mit der wissenschaftlichen Psychopathologie ist sie allerdings gänzlich unvereinbar: In der klinischen Forschung zu den endogenen Psychosen von Kraepelin an hat es nicht einmal die Arbeitshypothese der Schizophreniesuppression durch Ich-Arbeit gegeben. Eine Möglichkeit der Unterdrückung von derartigen Psychoseanlagen oder -dispositionen durch individuell geistige Arbeit ist der Psychiatrie und Psychologie nicht bekannt. Deshalb müssen im Falle Hegels trotz aller „Verstehbarkeit" die entsprechenden Vermutungen ebenfalls zu den erledigten Akten gegeben werden 2 . Auch in seinem Begabungsbegriff hängt Künzli durchaus stornierten Auffassungen an: „Hegel war mit einer geistigen Potenz begabt, die gültig zu charakterisieren einem die Adjektive fehlen . . . Daß eine solche, im eigentlichen Sinne des Wortes unfaßbare Potenz des Intellekts an sich schon infolge der durch sie verursachten einseitigen Verlagerung der Gewichte innerhalb der psychischen oder vielleicht sogar psycho-biologischen Struktur der Gesamtperson eine schwere, kaum ertragbare Belastung, und das heißt eine schwere Gefährdung der psychi1 2
Einen Sdiub in der Jenaer Zeit hält er jedoch für möglich, (vgl. Künzli 1970, 62) Von Ronald D. Laing und anderen wurde der Versuch einer sozialpsychatrischen Entschlüsselung der Schizophrenie unternommen. Bisher muß man ihn zu den medizinischen Außenseiterpositionen rechnen. Laing faßt die Schizophrenie als Rettungsversuch gegen unerträglich gewordene Anpassung auf. Er trennt nicht mehr sdiarf zwischen Diagnose und Therapie. Sein Ziel ist die in Kommunen durchzuführende Besserung oder Heilung. Dieser gruppentherapeutisdie Ansatz ist der Kern in Laings Vorstellungen. Nidit einmal von dieser Außenseiterposition aus wird aber eine erfolgreiche Selbsttherapie einer einzelnen nur auf sich gestellten Person für möglich gehalten, (vgl. Laing 1972)
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sdien Integrität darstellt, erscheint als evident." (Kiinzli 1970, 62) Diese A n nahme von der Last des „Genies" ist so populär wie scheinevident, trotzdem aber unrichtig. D i e Intelligenzforschung h a t oft genug nachgewiesen, daß hohe und höchste Intelligenz nicht häufiger mit instabilem oder anomalem Verhalten vergesellschaftet ist, als dies bei den mittleren Prozenträngen der Fall ist 3 . Alles andere an Annahmen gehört zur Pseudomythologie von Genie und R u h m . I m übrigen ist es zusätzlich unhegelisch, die Begabungen der Extremfälle für nicht e x a k t beschreibbar zu halten: Die Naturtatsache der Begabung kann sich als im Geist aufgefaßt und dargestellt wiederfinden. Unmittelbarer Geniekult ist schlechte Unendlichkeit. In der These der gelingenden Psydioseabwehr bei Hegel läßt Künzli es - wie oben angegeben - außerdem offen, ob es sich um die Unterdrückung einer latenten oder kurzzeitig manifest gewordenen Erkrankung handelte. In seinen Erörterungen bleibt also unentschieden, ob Hegel einen Schub bzw. eine Phase oder nichts erlitten hat. Bezüglich der Psydiodiagnostik Hegels ist diese Unentschiedenheit aber ohne Belang: Bis heute muß die Heilung manifest gewordener Schizophrenien leider immer noch als Spontanheilung aufgefaßt werden; es kann also nicht von kausal bewirkter Heilung ausgegangen werden, soweit man wirklich Heilung und nicht Besserung meint, die in verschiedenen Therapien angestrebt wird und die oft erreicht werden kann. Ein schizophrener Schub kann leider eben nicht medikamentös oder durch Elektroschock im Sinne einer wirklichen Heilung abgeschlossen werden; daß aber ein Schub durch eine auf sich gestellte ichliche Abwehrarbeit eines Individuums beendet werden könnte, gehört ins Reich der Fabel; selbst die Besserung günstigster paranoischer bzw. paranoider Fälle mittels psychoanalytischer Techniken dauert nie weniger als drei J a h r e . Diese Ausführungen gelten für den Fall, daß man Hegels W e r k als „erfolgreiche" Abwehr einer ausgebrochenen Schizophrenie auffassen wollte. Für den anderen Fall, demzufolge man unterstellen würde, Hegels W e r k als Unterdrükkung einer nicht manifest gewordenen Schizophrenie anzusehen, wurde oben schon das Nötige gesagt. Die Annahmen, daß der Ausbruch von Psychosen durch Arbeiten vom T y p des Denkens verhindert werden kann oder daß manifeste Psychosen dadurch geheilt werden können, sind ebenso abwegig wie die vor Kraepelin oft vorgetragene Meinung, daß Psychosen durch geistige Überarbeitung entstehen oder ausbrechen könnten. Solche Inventionen können aufkommen, wenn man mit den Möglichkeiten des common sense davon ausgeht, schizophrenes Verhalten analog normalem Verhalten verstehen zu wollen und es überhaupt verstehen zu wollen. Diese Absicht ist gut gemeint und begreiflich, aber angesichts der großen Differenzen zwischen psychotischem und normalem Verhalten eine unzulässige Hypothese. Es liest sich so „einleuchtend", so „verstehbar", daß Hegel auf dem Grunde seiner Existenz die Selbstzerstörung durch schizophrene Psydiose erblickt und sich durch Ausbildung eines monistischen, absoluten Idea3
Viele Belege findet man im Kapitel „Hochbegabung und schöpferisches Denken", S. 227ff., in: Hofstätter 1971.
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lismus gegen diese Gefahr der „Selbstzerreißung" gewehrt, u. z. mit Erfolg, gewehrt habe. Gerade weil das Moment des Psychotischen in einer solchen Annahme angeblich so voll verstanden wird, ist sie aber unhaltbar. Man vergleiche die gesamte Schizophrenieforschung: Gerade die Unverstehbarkeit der psychotischen Ganzheiten und ihrer Elemente ist ein Tenor, der nur - und dort ebenfalls nur in begrenztem Umfang - in der antipsychiatrischen Haltung und in der psydioanalytisdien und daseinsanalytisdien Theorie aufgegeben wird. Mit solchen Problemen brauchte hier jedoch nicht weiter gereditet zu werden, wenn neben all den dunklen Andeutungen über den regelwidrigen, abnormen Hegel nidit auch eine bestimmte Diagnose vermutet und sogar explizit gestellt worden wäre, die besagt bzw. sagt: Hegel war wirklich schizophren!
Die Schizophreniethese Einen ausführlichen Diagnoseversuch bejahender Art zu dieser These hat Treher 1969 in Form einer Monographie vorgelegt. (W. Treher 1969) Vorausgegangen waren - neben Künzli — mehrere andere Diagnoseversuche : Regnard stellte zwar schon 1899 Vermutungen über Geisteskrankheiten bei Hegel in Abrede, (vgl. Regnard 1899, 362) Durch Rosenkranz' „G. W. F. Hegels Leben" war einer breiteren Öffentlichkeit seit 1844 bekannt, daß Hegels Schwester Christiane an einer Geisteskrankheit gelitten haben sollte. An diese Veröffentlichung sich anschließende Überlegungen der Art, daß auch Hegel selbst evtl. geisteskrank gewesen sein könnte, wurden von Regnard abgewehrt: Wenn bei Hegel selbst keine Verdachtsmomente festgestellt werden könnten, sei eine Geisteskrankheit der Schwester ohne diagnostische Relevanz. Mittlerweile weiß man, daß die Erkrankungswahrscheinlidikeit unter Gesdiwistern für Schizophrenie 10%, für zirkuläre Psychosen 13°/o beträgt, (vgl. Weitbredit 1968, 341 ; Bleuler 1949, 316 und 338) Ausgerechnet Lange-Eichbaum, der pathologisches Material über hunderte weltgeschichtlich bedeutsamer Personen zusammentrug und der in seinen psychopathologischen Verdachtsannahmen nicht kleinlich war, zählt Hegel zu den nur 21 gesunden Hochtalenten, die er finden konnte: „Ihnen fehlt der pathoide Reiz . . . des Bionegativen." (Lange-Eidibaum 1967, 272) Diese eindeutige Aussage wird später von ihm etwas unklar gemacht, ohne daß für den Widerspruch eine Erklärung gegeben wird: „Andere scheinbar Gesunde, trotzdem aber LatentLabile, die immer in Psychose-Nähe standen, waren z.B. audi Hauff, Justinus Kerner, Ridielieu, Hegel. In ihrer nächsten Verwandtschaft finden sich gehäuft Psychopathien und Psychosen." (Lange-Eichbaum 1967, 281) Der Gegensatz zwischen den beiden Angaben wird nur begreiflich, wenn man die angebliche Psychosenähe nicht aus dem Verhalten oder dem Werk Hegels eruieren will, sondern wenn man von der vermuteten erbbiologischen Belastung ausgeht. Die Zählung Hegels bei den wenigen völlig Normalen wird von Lange-Eichbaum jedenfalls nicht revidiert, und eine Psychose- oder Psydiopathiediagnose wird nicht gebracht.
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Müller stellte 1959 die Frage, ob Hegel geistesgestört gewesen sei. (Müller 1959, 169 ff.) Er gab an (Müller 1959, 134), Lange-Eichbaum habe in der Auflage seines Buches von 1942 Hegel als „schizoid-depressiv" bezeichnet. Was schizoid-depressiv" bedeuten soll, wird nicht gesagt. Lange-Eichbaum hat aber weder 1942 nodi später Hegel mit diesem Prädikat belegt. Im Anschluß an Herzberg (Herzberg 1926, 165 ff.) gibt Lange-Eichbaum nur wieder, daß Hegel gehemmt gewesen sei und mit 19 Jahren schon Altes und Langsames in seinem Wesen gezeigt habe (vgl. Lange-Eidibaum 1967, 379); damit wird etwas über die Berichte der Tübinger Stiftsgenossen Hinausgehendes nidit behauptet. Es ist eine Erfindung Müllers, daß Lange-Eichbaum Hegel als Psychopathen nach Kretschmer aufgeführt habe; wenn man überhaupt den Versuch unternehmen will, die Angabe „schizoid-depressiv" wissenschaftlich zu verstehen als schizoide Psychopathie (mit cykloider Grundierung) sensu Kretschmer. (Die depressive Psychopathie Kurt Schneiders ist ja weder in der aufgeschlossenen nodi in der mißmutigen Variante von einem Schizoid begleitet.) Auch die Vermutung, daß Hegel sich durch Arbeit gerettet habe, bringt Müller vor. Allerdings spezifiziert er die Abwehr nidit wie Künzli auf die Niederringung einer schizophrenen Psychose, sondern bringt einen psydiopathologisch nicht näher bezeichneten „Abgrund" ins Spiel: „Nur durch seine mit keinem andern zu vergleichende Arbeitsleistung hat er sich vor dem Absturz in den Abgrund gehütet, an dem er beständig entlangturnte." (Müller 1959, 134) Auf den wissenschaftlich nicht bewährten Charakter der psychohygienischen Vorstellungen solcher Vermutungen wurde oben sdion hingewiesen; im übrigen war die Arbeitsleistung Hegels in Extensität und Intensität hoch, aber nicht verdächtig hoch. Es gibt Philosophen, die weitaus mehr gearbeitet haben (Thomas, Wundt), und solche, die überhaupt nichts anderes als Arbeit kannten (Husserl). Hegel ging täglich spazieren, er liebte Zersteuung und widmete seiner Familie viel Zeit. Von einer „Flucht in die Arbeit", die es zwar als Psychosenimmunisierung nicht gibt, die aber als Korrelat bestimmter Neurosen angetroffen werden kann, kann bei Hegel also keine Rede sein. In den §§ 21 und 24, „Begriff und Person", „Der Zwang des Wirkens", wird ausführlich darauf eingegangen, welch hohen Rang die Begriffe „arbeiten, handeln, tun" in Hegels Theorie verliehen bekommen. Hegel zufolge ist das Wesen der Wirklichkeit das Tun, und nichts außer dem Tun ist wirklich. Diese These wird aber philosophisch-begrifflich verstanden. Sie ist keine ethische oder psychologische Verhaltensmaxime : Weil der Mensch seinem Wesen nadi Denken ist, das Denken aber Tun, kann der Mensch nur als tätiger verstanden werden. Er braucht zu Zwecken seiner Wesenserfüllung nicht „eigens" zu arbeiten. - Für seine eigene Person verfügte Hegel jedenfalls über eine sehr gute Arbeitsökonomie mit viel eingestreuter und eingeplanter Erholung. Hegel war auch in überlegter, dosierter Weise genußfähig und -willig; er schätzte kulinarische Genüsse vom Wein bis zur italienischen Oper, wie aus den Biographien und aus Briefen vielfach hervorgeht.
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Müller berührt in seinem Buch mehrere diagnostische Möglichkeiten, ohne eine bestimmte mit Nachdruck zu vertreten oder gar zu belegen. Die Vermutung einer Psychose wird von ihm nur als Frage formuliert, u. z. im Zusammenhang mit den ersten Jenenser Schriften, (vgl. Müller 1959,170) Zutreffend stellt Müller fest, daß Hegel nie flott und elegant schrieb, daß er aber vor der Jenenser Zeit (einschließlich der Differenzschrift) und von der Phänomenologie an wieder zwar schwer, aber prinzipiell verstehbar schrieb. Für die Jenenser ontologischen Schriften wird die Verstehbarkeit bestritten. Sie sind in der Tat sehr dunkel; das Ringen um Sinn und Ausdruck spricht fast aus jedem Satz. Es kommt aber nie - und dies wäre psychopathologisdi verdächtig - zu Paragrammatismen, Stilabnormitäten, Manierismen, überflüssigen "Wiederholungen, Detailverschrobenheiten. Vom Formalen der Sprache her besteht kein Anlaß, an einen Zusammenhang zwischen einer geistigen Erkrankung und den Jenenser Schriften zu denken. In inhaltlicher Hinsicht werden - im großen Überblick ebenso wie im psychopathologisch ergiebigeren Detail - keine abstrusen Ideen vertreten, es wird nichts Unsinniges zusammengedadit, kein Thema wird monoman verfolgt usw. Ohne Zweifel sind diese Schriften dunkel, roh und unfertig im Ausdruck. Diese Fassung kann aber angesichts des Hegeischen Vorhabens eher als normal denn als verdächtig gewertet werden: In der Differenzschrift hatte Hegel an Fichtes System u. a. gerügt, daß es die Natur spekulativ nicht erreiche. Bei Schelling hatte er die Durchführung einer Naturphilosophie in einer für ihn unzureichenden Weise kennengelernt. Nun machte er sich daran, die Natur spekulativ zu denken, ihre Heimholung in den Geist begrifflich zu betreiben, dies aber von ihr aus, so daß die Natur selbst als Subjekt auftritt, um für sich zu dem zu werden, was sie an sich schon ist. Ein derartig schwieriges Vorhaben wurde damit zum erstenmal in Angriff genommen. Es handelte sidi also um ein konzeptionell und gestalterisch völlig neues Unternehmen. Infolgedessen war es nicht anomal, sondern entsprach den erfahrungswissenschaftlich belegten Prinzipien, die von verschiedenen psychologischen Theorien, besonders prägnant von der aktualgenetischen Konzeption her, ausgebildet wurden, daß dem ahnenden Plan des Ganzen beim darauffolgenden Beginn der Entwurfsausarbeitung eine dem Vorhaben angemessene Phase der - nicht diagnostisch, sondern gestalterisch relevanten - Verwirrung folgte. Die Jenenser Entwürfe betreffen offensichtlich dieses Stadium. Sie sind ringende Skizzen, nicht das ausgearbeitete Werk selber. Von den bizarren Über-Ausgestaltungen schizophrener Produktion unterscheidet sie gerade ihre suchende, dunkle Unfertigkeit. Doch ehe in die entsprechende Beweisführung eingetreten wird, muß zunächst einmal festgestellt werden, daß die Behauptung, Hegel sei schizophren gewesen, etwas Erfrischendes hergibt. Mit ihr wird nicht über die Dunkelheit der Werke hergezogen und ihnen dann doch dumpfe Verehrung entgegengebracht, sondern es werden auf einen Nenner gebracht die Widersprüche gegen die Logik und die erfahrene Wirklichkeit, die sowohl beim schizophren Erkrankten anzutreffen sind als sich auch in Hegels Denken finden. Für den wissenschaftlichen Verstand
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ist es ein Widerspruch, die Dialektik als Logik anzuerkennen oder die Wirklichkeit vernünftig und die Vernunft wirklich zu linden usw. Mit dem Nachweis, daß Hegel schizophren gewesen sei, kann man hoffen, diesen Skandal der Lächerlichkeit preiszugeben. Wenn man aber im Gegensatz dazu der Ansicht ist, daß ein entsprechender diagnostischer Aufweis für die Aussagekraft der Hegeischen Theorie ohne abträgliche Wirkung wäre, brauchte er von Seiten der Anhänger Hegels nicht gefürchtet zu werden. Die Ansicht der Unerheblichkeit der psychischen Entstehungsmitwirkung kann man ja vertreten, wenn man von einer Differenz zwischen Geltung und Genese bei Theorien ausgeht. Die Ergebnisse über eine evtl. Geisteskrankheit Hegels würden beweiskräftig erst, wenn man bei seinen Denkergebnissen von einer Identität zwischen Geltung und Genese ausgeht. Mit einem Nachweis eines personalen Defektes wäre eine Destruktion des Hegeischen Denkens also nur dann zu erreichen, wenn man als sicher ansetzen könnte, daß in seinem System Geltung und Genese nicht zu trennen sind. Ein Nachweis einer psychisdien Exzentrizität allein würde das System also noch nicht gefährden, aber immerhin so schwere Verdachtsmomente ergeben, daß die Frage der Geltung und Genese mit diesen Ergebnissen neu betraditet werden müßte. Dann würde man an erster Stelle nach dem Wahrheitskriterium fragen, mit Hilfe dessen die Theorie unabhängig von ihrer Entstehung einem Wahrheitstest unterworfen werden könnte. Ausgerechnet dieses Kriterium aber kann das Hegeische Denken insgesamt wohl weniger erbringen oder zulassen als jede andere wissenschaftliche oder philosophische Theorie: Sein oberster Entwicklungsbegriff ist der Geist, den es als wirklichen außerhalb seiner eigenen lebendigen Tätigkeit nicht gibt. Die Vernunft kann nicht dem außerhalb ihrer selbst nachprüfenden Verstand unterworfen werden. Hegels System kann mit einem unabhängigen Wahrheitskriterium also nicht überprüft werden. Wenn man nicht von der unmöglichen Annahme der persönlichen Unfehlbarkeit Hegels ausgehen will, muß man deshalb zugeben, daß ein Defekt seines Denkens dessen Ergebnisse sehr gefährdet, mehr jedenfalls als die Resultate aller Verstandes-Denker. Oft genug sind Hegels Gedanken als widersinnig, bizarr, lächerlich bezeichnet worden: D a ist es der wissenschaftliche Mut der einfachen Wendungen, diese Prädikate einmal nicht mehr auf die produzierten Gedanken, sondern auf das produzierende Denken und sein Subjekt zu beziehen. Deshalb ist die Schizophreniethese zu Hegel so erfrisdiend. Widersinnige, bizarre, lächerliche Resultate des Denkens sind - neben anderem - nach E. Bleuler kennzeichnend für schizophrene Defektzustände. Man muß die Gedanken Hegels also befragen, ob sie so widersinnig, bizarr, lächerlich sind, daß an eine Gemeinsamkeit mit dem schizophrenen Denken gedacht werden kann, oder ob es sich nur um eine vordergründig scheinende, in Wirklichkeit nicht bestehende Gemeinsamkeit handelt. Neben dieser einen Auffälligkeit kann nodi eine andere genannt werden: Hegel glaubt, daß das Denken die Wirklichkeit erfassen, aufheben und in Gedanken verwandeln könne. Das Denken ist - wenn auch in der Theorie kategorial restringiert — der Wirklidikeitsveränderung universal fähig, also „all-
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mächtig". In gedanklicher Weise erfüllt Hegels System den Traum der magischen Omnipotenz. Seine kategoriale Universalität ist Allmachtsdenken; das Kleinkind hat Allmachtsphantasien; manche Schizophrene produzieren Allmachtsvorstellungen. Der kategoriale Gedanke läßt das übergreifende Subjekt/Objekt entstehen; der expansive paranoisch-schizophrene Wahn läßt die Ich-Umweltgrenzen verschwimmen. Der absolute Idealismus denkt die Allmacht der Gedanken; der paranoisch Schizophrene glaubt unverrückbar an sie. Ein „metaphysisches" Bedürfnis, das freilich im Ergebnis kategorial different ist, erfüllen beide Einstellungen. Deshalb ist es angebracht zu fragen, ob auch die Wurzel beider evtl. dieselbe ist oder ob dies eben nicht der Fall ist. Philosophie als Sophia kann keine schutzwürdigen Denkmäler nur wegen ihres Ansehens verteidigen. Daneben darf akzessorisch bemerkt werden, daß Hegel einer Reihe psychischer Grenzphänomene selbst erhebliche Beachtung geschenkt hat: Traum, Somnambulismus, Mesmerismus werden - auf dem Wissensstande der Zeit - eingehenden und umfangreichen Untersuchungen unterworfen. Die zugehörigen Ergebnisse sind heute überholt. Hegel versucht sich aber audi an einer Beschreibung und Deutung psychopathologisdier Phänomene, (vgl. SW 10,149 ff., 208 if., 219 ff.)
b) Problemspezifische Resultate der klinischen Psychopathologie Typen der Schizophrenie Wenn man der Klärung der Frage nähertreten will, ob Hegel schizophren geisteskrank war, müssen zunächst einige Bemerkungen zum wissenschaftlichen Begriff der Geisteskrankheiten - insbesondere der Schizophrenie - gegeben und Möglichkeit und Schwierigkeit der postumen Diagnose betrachtet werden. Wenn man auf diesen Fragenkreis reflektiert, muß festgehalten werden, daß es d i e Schizophrenie nicht gibt, sondern nur bestimmte Typen oder Erscheinungsfelder dieser Krankheit. In seinem Sammelreferat über die Schizophrenieforschungen seit 1941 stellte M. Bleuler fest: „Die Schizophrenie wird nicht mehr von der Mehrheit der Forscher als Krankheitseinheit... anerkannt." (M. Bleuler 1960, 11, in: Benedetti, G.; Bleuler, M.; Kind, H . ; Mielke, F., 1960) Zum Beweis oder Ausschluß einer Schizophrenievermutung gehört also nicht die Subsumtion bestimmter Phänomene unter ein allgemeines Krankheitsbild, das es nicht gibt, sondern man muß die Erscheinungen an bestimmten Typen messen. Diese Genauigkeit im Detail, so umfangreich sie auch sein mag, ist aus wissenschaftlichen Seriösitätsgründen unerläßlich. Mittlerweile ist es leider nötig geworden, Derartiges festzustellen, denn manche Darstellungen zu Schizophrenieproblemen, die sich als philosophische oder soziologische verstehen, sind in den letzten Jahren in einer „verstehenden" Weise mit Schizophrenie und Wahn verfahren, die ihnen beim Publikum die Aufmerksamkeit des Tages sicherte, indem es sie gleichzeitig um psydiopathologische Verläßlichkeit und Genauigkeit betrog. Mit Sicherheit lassen sich innerhalb des Schizophreniekomplexes unterscheiden
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1. die passim zum defekten Endzustand sich hinbewegende Schizophrenia simplex, in der Einfall, Affektivität und Realitätsanpassung langsam versickern oder schwächer werden, 2. die Hebephrenie, deren Prognose sehr ungünstig ist, bei der in den ersten manifesten Monaten oft das Schauerlichste produziert wird, was die Geisteskrankheiten überhaupt an Phänomenen zutage fördern, bei der der defekte Endzustand entweder völlig autistisch-versponnen oder läppischdümmlidi oder überheblich verstiegen ist oder zur Verwahrlosungsvaganz führt, 3. die paranoischen Formen, die bei oftmalig sehr abgeflachten Schüben immer von Wahnbildung (Abwehr-, Größen-, Beeinflussungswahn) begleitet sind, 4. die coenästhetische Form mit abnormen Körperempfindungen von teils hypochondrischem, teils halluzinatorischem Charakter, der die deutlich-großen Phänomene der übrigen Typen abgehen (mit Lebensknick und körperlichen Mißempfindungen, erfahrungsmäßig ohne völlige Restitutionen), 5. die fast immer ohne längere Vorgeschichte mit massivem Schub einsetzende Katatonie, die in den einzelnen Schüben unter allen Typen am stürmischsten verläuft, oft einen Symptomverband von Sinnestäuschungen und Wahnbildungen produziert, zu Neologismen, Glossolalie und Verbigeration führen kann und sehr oft von Katalepsien begleitet ist, die sich in den Extremitäten gern auch in die Remissionen hinein verschleppen. Kombinationen zwischen diesen Typen kommen vor: Katatonien sind in den Schüben fast immer paranoisch getönt, die paranoischen Formen zeigen manchmal auch katatone Symptomatik usw. Fast immer aber ist es möglich, einen Erkrankten einem der genannten Typen direkt zuzuordnen. Sie sind also klinische Krankheitseinheiten. Mit Ausnahme der coenästhetischen Unterform wurden sie auch von der „American Psychiatric Association" übernommen und anerkannt. (Manche Forschungsrichtungen haben noch weitere Unterformen aufgestellt, denen aber jeweils nur geringe Prozentzahlen der Gesamtmorbidität zugerechnet werden.) In den letzten Jahren hat es zwar nicht an Versuchen gefehlt, diese T y peneinteilungen zu verbessern oder auch völlig neu zu ordnen. Die klinisch orientierte Psychopathologie hat aber die Vorstellung einer Einheitspsychose durchgängig verworfen und trotz mancher Wandlungen der Krankheitsbilder die Aufteilung in kodifizierbare Gruppen beibehalten, (vgl. zu dieser Gesamtproblematik: Benedetti, G. usw., Forschungen zur Schizophrenielehre 1 9 5 6 - 1 9 6 5 , 1969, 210 ff.) Im übrigen mag dahingestellt sein, wie die Forschungen zur nosologischen Typologie der Schizophrenie fortschreiten werden; ihr Ergebnis kann heute nicht erahnt werden. Für mitteleuropäische Verhältnisse des 19. und des bisherigen 20. Jahrhunderts aber kann nur von den Krankheitsbildern ausgegangen werden, die die Psychiatrie hier an den Kranken entdeckt und beschrieben hat. Jedenfalls genügt es bisher diagnostisch nicht, von einer Person zu sagen, sie sei allgemein „schizophren" gewesen; die Diagnose muß zu einer Einordnung in einen der genannten Typen gelangen, wobei sich Fragezeichen nicht immer vermeiden lassen. Diese Diagnose darf sich ferner nicht auf den Aufweis nur eines schizophrenieaffinen Symptoms stützen, sondern sie muß zunächst immer eine organisch
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begründbare Psychose ausschalten und dann eine spezifische Symptomserie durchprüfen. Bei einem postumen Diagnoseversuch muß allerdings auf die Untersuchung körperlicher Symptome (kataleptischer Art z.B.) überhaupt und auf die geistiger Symptome als unmittelbarer verzichtet werden; aber bei zureichendem biographischen Material kann das Auftreten psychopathologisch verdächtiger Phänomene auf Grund der Analyse des schriftlichen Nachlasses (Werke, Briefe, Selbstbetrachtungen) und der Mitteilungen und Beobachtungen von Freunden und Zeitgenossen angenommen oder verneint werden. (Beschreibungen über Hegels Verhalten gibt es in großem Umfang und von vielen Seiten.) Sdiizophreniesymptome lassen sich unter den angegebenen Bedingungen am schriftlichen Material ebenso nachprüfen wie im klinischen Gespräch. Ihr Auftritt ist nicht auf den mündlichen Ausdruck beschränkt. Die Schizophrenien befallen nicht nur einzelne seelische Funktionen, sondern das geistige und seelische Leben wird insgesamt alteriert, wenn auch nicht in allen Funktionen in gleicher Weise und Stärke. Die am wenigsten gestörten Funktionen sind meist die physiologische Empfindungsfähigkeit, das Gedächtnis, die Raum- und Zeitorientierung und die Motilität. Schizophrenien, die sich etwa nur im gesprochenen Wort manifestierten, nicht aber im geschriebenen (oder umgekehrt), sind bisher nicht beschrieben worden.
Symptome der Schizophrenie Es gibt mehrere systematische Versuche, die psychopathologischen Symptome der Schizophrenien zu ordnen. Für den vorliegenden Zweck wird der Rekurs auf Bleuler, Schneider und Gruhle als ausreichend angesehen. (Die Begründung folgt weiter unten.) Bleuler geht in seinem Schizophreniemodell von der fundierenden Rolle der elementaren Störungen aus; ihre postume Diagnose ist nicht leicht. Sie betreffen Störungen des Gedankenganges, der Affektivität (sowohl Verödung als auch Ambivalenz), der Aufmerksamkeit, des Willens, des Handelns und der Aktivität, sowie den Realitätsverlust (Autismus), (vgl. Bleuler 1949, 278 ff.) Diese elementaren Erscheinungen ergeben die drei Grundstörungen der Zerfahrenheit des Denkens, der Parathymie der Affektivität und der Depersonalisation der konkreten Subjektivität, die es erlauben, eine Person als in bestimmter Weise schizophreniegestört aufzufassen. Den Grundstörungen nachgeordnet ist die Reihe der sog. akzessorischen Störungen, die, wie das Wort sagt, beiläufig bzw. vorübergehend, aber massiv auftreten und deren auch postume Feststellung in der Regel nicht schwerfällt. (Nachprüfbar etwa bei Swedenborg, Panizza usw.) Solche akzessorischen Symptome Bleulers wären etwa Sinnestäuschungen, Wahnideen (nicht zu verwechseln mit fixen Ideen), Paramnesien, Sprachstörungen, Negativismen, Befehlsautomatismen, Impulsstörungen sowie die eigentlich katatonen Symptome der Katalepsie, des Stupors, der Hyperkinese, der Stereotypien, der Haltungsmanierismen, (vgl. Bleuler 1949, 289 ff.) Im Bleulerschen Schizophreniemodell können diese akzessorischen Symptome auf die schizophrenen Grundstörungen zurückgeführt werden. Damit werden sie genetisch (nicht
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inhaltlidi!) verstanden und erlauben unter bestimmten Bedingungen die Diagnose einer Schizophrenie. Mit Bleulers Grundstörungen dürfen die Symptome ersten Ranges im Beschreibungssystem Schneiders nicht verwechselt werden. Sie sind weniger auf die systematische Krankheitserfassung als auf die Beweisführung im Verdachtsfall hin angelegt und deshalb von hoher Relevanz für die Gesamtdiagnose. Symptome ersten Ranges sind: „Gedankenlautwerden, Hören von Stimmen in der Form von Rede und Gegenrede, Hören von Stimmen, die das eigene Tun mit Bemerkungen begleiten, leibliche Beeinflussungserlebnisse, Gedankenentzug und andere Gedankenbeeinflussungen, Gedankenausbreitung, Wahnwahrnehmung, sowie alles von andern Gemachte und Beeinflußte auf dem Gebiet des Fühlens, Strebens (der Triebe) und des Wollens." (Schneider 1971, 135) Mehrere oder sogar schon ein deutlich ausgeprägtes dieser Symptome haben hohen Beweiswert. Selbstverständlich müssen organische Psychosen ausgeschlossen werden. Wenn man nur schriftliches Material hat, kann man diese Exklusion immer dann vornehmen, wenn sidi das Dargestellte als bei klarem Bewußtsein produziert ausweist und wenn die Arbeitsweise sich über lange Jahre oder Jahrzehnte nicht verändert, da organische Psychosen nicht in Schüben, sondern linear-progredient verlaufen. Sind organische Psychosen aber ausgeschlossen, haben Symptome ersten Ranges mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Beweiswert für die Gesamtdiagnose einer Schizophrenie, die im jeweiligen Fall dann noch einem Typ zugeordnet werden muß. Fehlt jedes Symptom ersten Ranges, ist die Diagnose zunächst nicht unmöglich, aber doch eher unwahrscheinlich. Die Untersuchung kann dann nur noch über den körperlichen Ausdruck (isolierte kataleptiforme Phänomene), den seelisch-geistigen Ausdruck (Manierismen) oder über Symptome zweiten Ranges, die vorwiegend das Verhalten betreffen (u. a. Handelnsunfähigkeit, Verstimmungen, Gefühlsverarmung), geführt werden. Verfügt man nur über derartige Ausdrucksabweichungen oder Symptome zweiten Ranges, wird es sich in der weitaus überwiegenden Fallzahl nicht um eine Psychose, sondern um einen reaktiven Zustand handeln. An eine Schizophrenie darf man dann nur denken, wenn eine solche Reaktivität ausgeschlossen werden kann, wenn die Ausdrucksabweichungen nicht nur ein wenig skurril, sondern von prägnanter Bizarrerie, uneinfühlbarer Kälte, nicht nur kataleptiform, sondern regelrecht kataleptisch usw. sind und wenn die Symptome zweiten Ranges biographisch stabil sind und sich — um ein Muster aus der Intelligenzdiagnose zu übertragen - keine Verhaltenskonformität bzw. -homogenität - gleich auf welcher Grundstimmung! - ergibt, sondern ein in sich verzerrtes und stark terassiertes Verhaltensprofil. Gruhle analysierte Primärsymptome der Schizophrenie, die wiederum nicht mit Bleulers Grundstörungen oder Schneiders Symptomen ersten Ranges gleichgesetzt werden dürfen. Trotz der Beschreibungsähnlichkeit zwischen Schneider und Gruhle ist festzuhalten, daß Schneider auf beweisende Erscheinungsmerkmale, Gruhle auf Faktoren des Krankheitsprozesses selbst abzielte. Die Primär-
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symptôme erscheinen im Verhalten der Kranken entweder direkt oder in verarbeiteter Form. Sie können nicht abgeleitet werden, sondern der schizophrene Prozeß setzt sie unmittelbar, (vgl. Gruhle 1929, 79) Deshalb sind sie inhaltlich auch nicht verstehbar. Es handelt sich um fünf Gruppen : die Sinnestäuschungen, die schizophrene Grundstimmung oder Ichstörung (ihre völlige Nichtverarbeitung kann zu Suicid im Schubbeginn ((!)) führen, verarbeitet führt sie zu Unfreiheit, stereotypen Grübeleien, Leistungsende usw.), die Impulsabnormität, die pathognostisdi hochbedeutsame Denkstörung (Typen: Zerfall der Denkkette; Unmöglichkeit, auf das Bezugssystem zu kommen; Verlust der Möglichkeit des Evidenzerlebnisses; nicht aber: Demenz) und den Wahn (meist vom Typ eines unlustbetonten Wahns). Die Gruhlesche Darstellung der unableitbaren Primärsymptome war deshalb so wichtig, weil damit explizit auf die Annahme einer schizophrenen Grundstörung verzichtet wurde. „Sinnestäuschungen, schizophrene Grundstimmung, Impulsstörungen . . ., Denkstörung und Wahn können . . . nicht durch irgendeine Theorie auf eine gemeinsame Grundlage gestellt werden." (Gruhle 1929, 139)4 Die Schizophrenieforschung war zuvor lange Zeit von dem immer verständlichen Wunsch ausgegangen, die e i n e Grundstörung zu finden. Insbesondere in Frankreich war diese Tendenz verbreitet. Aber auch noch Kleist (Paralogische Aktivierungsstörungen als Sonderfall allgemeiner Koordinationsstörungen, vgl. Kleist 1913) und sogar Berze (Insuffizienz der psychischen Aktivität, vgl. Berze 1914) nahmen eine einheitlidie Grundstörung an. Die Hypothese Gruhles über die Nichtvorhandenheit einer fundierenden psychischen Letztgrundlage setzte sich aber durch und wurde von der ganz überwiegenden Mehrheit der Forscher, insbesondere nach dem zweiten Weltkrieg, übernommen. „Der Glaube an irgendwelche von altersher behauptete Grundvorstellungen über die Schizophrenie, die nicht genau bewiesen sind, ist der Mehrzahl der Forscher verloren gegangen." (M. Bleuler 1960, 11, in: Benedetti, G.; Bleuler, M.; Kind, H.; Mielke, F., 1960) Zu den seit nunmehr 30 Jahren gründlich aufgegebenen Ansätzen der Schizophrenieforschung gehört also die sog. eine Grundstörung: „Es ist unmöglich, das Wesen der Schizophrenie auf einen kurzen, prägnanten psychologischen Begriff zu bringen. Auch ist zu vieles an untereinander überaus verschiedenartigen Krankheitssymptomen vorhanden, als daß man sie alle auf eine
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Die akzessorischen Symptome Bleulers sind prägnant, aber sie sind nidit in jedem Erkrankungsfall vorhanden; Schneiders Symptome ersten Ranges sind sehr beweiskräftig. Gruhles Primärsymptome sind demgegenüber im klinischen Gebrauch nicht von solcher praktischen Bedeutung; dafür erfüllen sie wahrscheinlich den Anspruch der faktorenanalytischen Trennbarkeit: Sinnestäuschungen, Ichstörungen, Impulsabnormität, Denkstörung und Wahn sind idiographisdi und genetisch different. - In der Klinik diagnostizierte Gruhle außerdem nie Schizophrenie, solange er nicht mindestens zwei Primärsymptome oder ihre Verarbeitung aufgedeckt hatte. Selbst die im langzeitlichen Verlauf oft symptomarme Hebephrenic wollte er mindestens durch den Nachweis einer Ichstörung und einer Impulsstörung (meist vom Typ der Inaktivität) gesichert sehen. Er verlangte dies, obwohl nach seinen Annahmen schon ein Primärsymptom zureichenden Beweiswert gehabt hätte.
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psydiopathologisch überzeugend faßbare Grundstörung zurückführen könnte." (Weitbrecht 1968, 334) Bei den Annahmen über die jeweils e i n e Grundstörung handelte es sich um „Verabsolutierungen einer einzelnen, für einen bestimmten Ausschnitt eines Problems tragfähigen und ihm entsprechenden Idee zu einer umfassenden Theorie, die das Ganze dann eben nicht mehr zureichend bewältigt". (Weitbrecht 1968, 335) Weiter kann für den Zweck dieser Untersuchung noch darauf hingewiesen werden, daß das Erfahrungsgut der Heidelberger Schule und des Burghölzli weitgehend dem alemannischen Raum entstammt und daß speziell im badenwürttembergischen Raum der grüblerisch-hochintelligente Krankheitsfall prozentual gesteigert vorkommt. Schließlich haben Bleuler, Schneider, Gruhle und auch Jaspers ihre Diagnosesymptomatik vorwiegend an nicht-intensivtherapierten Kranken gewonnen, also vor Beginn der Dauerschlaf-, Insulin-, Elektroschock- und chemotherapeutischen Behandlungsweise, durch die in die Krankheitsbilder entscheidend eingegrifFen werden kann. Oder für den vorliegenden Fall noch deutlicher ausgedrückt: Gerade Jaspers, Gruhle und Schneider hatten in der Entwicklung ihrer beschreibenden, klinischen und theoretischen Modelle zur Genüge hochintelligente, aber noch unbehandelte schizophrene Schwaben vor Augen. Man kann also vermuten, daß sie Kranken dieser ethnischen Gruppe und dieses Intelligenzpotentials besonders gerecht wurden. Ihre - und Bleulers strengen Diagnoseschemata sind aber über die Schulen hinweg anerkannt worden. Daran muß auch eine zu Hegel gestellte Diagnose gemessen werden. Krankheitsverläufe Zu den Krankheitsverläufen der endogenen Psychosen müssen ebenfalls einige Bemerkungen gemacht werden 5 : E. Bleuler bezweifelte, ob es nach schizophrenen Schüben jemals wirklidie Heilung gäbe. Er anerkannte an sich nur „fast vollständige" und „soziale Heilung", die sich in der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit und dem Verschwinden grober Symptome ausdrückt. Gegenüber 75% endgültiger Defektzustände nahm er bei 25°/o der Erkrankten Gesundschrumpfungen der Persönlichkeit im Sinne einer Fastheilung an. Drei psydiopathologische Merkmale unterscheiden die fast gesundeten Schizophrenen nach ihm aber immer noch von Gesunden: 1. ihre Krankheitseinsicht ist nicht vollständig, 2. gewisse wahnhafte und wirklichkeitsfremde Einstellungen, die aus den Schuberlebnissen stammen, werden beibehalten, 3. eine genaue Untersuchung deckt auch in den besten Fällen eine gewisse Änderung des Charakters in schizoidem Sinne auf. (vgl. Bleuler 1949, 311) Als Charakterveränderungen bei äußerlicher oder sozialer Heilung nennt Bleuler drei einer schizoiden Wesensveränderung nachzuordnende Momente, die für die Betrachtung zu Hegel von besonderer Bedeutung sind: „ . . . besonders charakteristisch sind Wesensverschiebungen im Sinne 5
Aus den überaus umfangreichen Ergebnissen der Psydiosenforschung wird hier nur das gebracht, was für die Beweisführung bei Hegel und seiner Schwester benötigt wird.
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einer schizoiden Psychopathie; (mit ((1.)) sonderlingshaftem Wesen, ((2.)) Mangel an Wärme und Aktivität in den Beziehungen zu andern, ((3.)) Einschränkung der früheren Interessensphäre usw.)." (Bleuler 1949, 311 f.) In den neueren Darstellungen zu diesem Problem wird betont, daß das Charakteristische der Zustände nach dem Ende aller floriden Symptome im Atmosphärischen liegt, das einen Menschen umgibt, jedenfalls darin mehr zu suchen ist als in einer Art dynamischer Entleerung, (vgl. Weitbrecht 1968, 376) Nach dem zweiten Weltkrieg hat der Gedanke, daß Schizophrenien günstig auslaufen können, an Boden gewonnen: Mittlerweile kann von 25-35°/o endgültig heilbarer Fälle ausgegangen werden. (vgl. M . Bleuler 1960, 37, in: loc. cit.) In dieser Angabe wird allerdings von M. Bleuler zwischen sozial, fast und völlig Geheilten nicht unterschieden; es wird ferner von M. Bleuler in seinen Sammelreferaten nirgends behauptet, daß die „endgültig" Geheilten nicht Charakteralterationen behielten, wie sie E. Bleuler beschrieben hat. Unter den heutigen Bedingungen der Lebensgestaltung setzt man aus Gründen des Individuumsschutzes bei aus der Klinik Entlassenen Arbeitsfähigkeit mit Heilung tunlichst gleich, um einen sozialen Abstieg dieser Personen zu verhindern : In der Arbeitsgesellschaft sollte man aus humaner Absicht gar nicht mehr zwischen nur Arbeitsfähigen und auch charakterologisdi voll Restituierten unterscheiden. Außerdem ist zu hoffen, daß die Intensivtherapien dazu beitragen, wirklich und endgültig Stabilisierte aus den Kliniken entlassen zu können*. Für die hier anstehende Aufgabe sind dagegen die Ansicht und die Statistik der älteren Psychiater aus der Zeit vor den Intensivtherapien von Bedeutung; sie gehen davon aus, daß selbst in den besten Fällen solche Strukturveränderungen einschränkender Art in der Person verbleiben, wie sie E. Bleuler beschrieben hat. Zu einer vollständigen Heilung, gleich ob man sie als unter den neueren Therapiemöglichkeiten bewirkt oder als Spontanheilung zustandegekommen denkt, würde unter allen Umständen auch eine vollständige Krankheitseinsicht gehören, eine Distanz gegenüber den schizophrenen Erlebnissen und eine Verwerfung der im akuten Stadium produzierten Inhalte. Ein voll Geheilter würde seine Krankheitserlebnisse im späteren Leben also nicht ausbauen. Über den lebenszeitlichen Krankheitsbeginn bestehen bei den Forschern weitgehend dieselben Auffassungen: Kindliche Schizophrenien sind sehr selten; die meisten Formen manifestieren sich zwischen der Pubertät und dem fünfundzwanzigsten J a h r ; danach fällt die Erkrankungskurve der Primärschübe überaus steil ab. Die Grenze des Gefährdungsalters wird von Bleuler in das vierzigste J a h r gesetzt. (vgl. Bleuler 1949, 316) Nur paranoisdie Formen brechen noch - bei Frauen vermehrt, aber nicht ausschließlich bei ihnen - zwischen dem 4 5 . - 5 5 . Lebensjahr aus. Man nennt sie Involutionsparanoien. Bei den manisch-depressiven Psychosen verläuft die Erkrankungskurve dagegen gestreckter: „Etwa aller β
In einer neuen Darstellung hat van den Berg gegenüber allem Optimismus allerdings wieder festgestellt, daß es bei Schizophrenien eine wirkliche Heilung nidit gäbe. (vgl. van den Berg 1973, 36)
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Ersterkrankungen zeigen sich zwischen dem 20. und 50. Lebensjahr, je etwa Ve vorher und später." (Weitbredit 1968, 331) Die Dauer der einzelnen Phasen bei den manisch-depressiven Psychosen ist prinzipiell zwar ungemein different; trotzdem gilt: „Der weitaus größte Teil aller cyklothymen Phasen heilt in durchschnittlich 8 - 1 2 Monaten ab . . . Wie die Phasendauer, so zeigt auch die Dauer der freien Intervalle die unberechenbarsten Unterschiede." (Weitbrecht 1 9 6 8 , 3 3 1 ) Viele endogene Psychotiker enden durch Selbstmord. Einmal gilt bezüglich der Ursachen der Suizide, daß Depressionen verschiedener Genese an erster Stelle stehen und bei einem Drittel bis zur Hälfte sämtlicher Selbstmordhandlungen als ursächlich anzunehmen sind. (vgl. Pöldinger 1968, 101) Die Suizidtendenz ist bei den endogenen Depressionen - wie auch bei anderen Depressionen - geradezu symptomatisch. Aber auch bei den schizophrenen Psychosen besteht massive Suizidgefahr. Die Verteilung auf die Verläufe zeigt jedoch gravierende Unterschiede bei den einzelnen Psychosen: Bei den Depressionen erfolgt der Suizid oft nicht in den ersten Phasen, sondern erst in mittlerem oder höherem Lebensalter, während sich der schizophrene Suizid überwiegend in jüngeren J a h ren, oft bei der Manifestation des ersten Schubes und häufig schon in dessen Beginn, ereignet. Der Gipfel der Suizide bei Depressionen liegt zwischen 55 und 75 Jahren, der der Schizophrenien weit vor dem 50. Lebensjahr. Suizide im dritten oder vierten Schub einer Schizophrenie sind sehr selten. Paranoisch Schizophrene dissimulieren vor dem Selbstmord oder vor Selbstmordversuchen nicht, und sie wählen nicht die stille Todesart der einsamen Selbstertränkung. Dagegen sterben auf diese Art und mit diesem Vorspiel häufig Depressive. Sie dissimulieren die Selbsttötungsabsicht oft mit schrecklichem Erfolg, (vgl.: Wetzel 1932, Gruhle 1940, Zeh 1959, Weitbrecht 1965, Osmond u. Hoffer 1967, Pöldinger 1968, Lungershausen 1969) Dieses Wissen über den Suizid bei Psychosen, insbesondere bei Schizophrenien, wurde in neueren statistischen Untersuchungen bestätigt. Osmond und Hoffer fanden für die Schizophrenien bestätigt, daß „die Reaktion des Selbstmordes ge-
wöhnlich während der früheren Stadien des Konflikts erfolgt", (vgl. Osmond und Hoffer 1967, 54) Sie vermuten weiter, daß Selbstmorde bei Gelegenheit einer gerade ausbrechenden Schizophrenie einen Großteil der Selbsttötungen in der J u gend und im frühen Erwachsenenalter ausmachen, (ebenda 62) Aber sie stießen ferner darauf, daß Selbstmorde bei Schizophrenien nach dem 44. Lebensjahr sprunghaft zurückgehen, während sich fast alle depressiven Suizide jenseits des 50. Lebensjahres ereignen, (ebenda 56) Schließlich fanden sie noch einen hochsignifikanten geschlechtsspezifischen Unterschied: „Norris (1959) discussed schizophrenic patients with a mean of 3Va years in hospital. In 714 males, there were 5 suicides and in 766 women only 1 suicide . . . " (ebenda 5 6 f . ) Nach dieser umfangreichen Untersuchung liegt die Selbstmordrate bei schizophrenen Frauen dann, wenn die kontinuierliche Krankenhausbehandlung mehrere Jahre andauert, in der Nähe eines Milliprozents. Diese psychiatrischen Angaben über die
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endogenen Psycliosen mögen als Verwertungs- und Beweismaterial im Falle Hegels und seiner Schwester genügen. Postume Diagnosen Da es sich bei Hegel um eine Analyse nur aus biographischen Daten heraus handelt, müssen zu diesem Problem audi noch einige Feststellungen getroffen werden: Eine biographische Diagnose kann sich nie auf unmittelbar gesehene oder gehörte Phänomene beziehen, sondern nur auf durch Träger vermittelte. Deswegen braucht sie nicht weniger sicher als eine klinische Diagnose zu sein, wenn sie sich an eine Grundregel hält, die besagt, daß Beweiswert in psychopathologischer Hinsicht nie die Inhalte, sondern nur die Vollzüge haben. Jeder geistige Inhalt kann in mannigfachen Gegebenheitsweisen auftauchen: Ob er Produkt freier Wahl, distanzierter Betrachtung oder schizophrener „Gemachtheit" ist, kann von ihm selbst her nicht entschieden werden. Eine Entscheidung über die psychopathologische Relevanz der seelischen Phänomene erlauben nur die Vollzugsweisen; sie müssen also analysiert werden. Angeblich auffällige Inhalte, ζ. B. „Sinnlosigkeiten", sind psychopathologisch selbst nicht bedenklich, sondern bedenklich ist erst eine spezifisch abweichende Weise der Gegebenheit der Inhalte, seien sie in normalpsychologischer Perspektive nun auffällig oder nicht auffällig. „Denn zum Nachweis der Krankheit ((Schizophrenie)) genügt nie ein typischer Inhalt, den man einfach krank nennen könnte, sondern dazu gehört das Auftreten einer Reihe erfahrungsgemäß zusammengehörender Symptome. Diese müssen dann aber so klar psychologisch berichtet sein, daß an ihrem Dasein nicht zu zweifeln ist. Dann kann wohl einmal ein einziges Symptom zum Nachweis genügen." (Jaspers 1968, 19 f.) Ein biographisches oder werkanalytisches psychopathologisches Gutachten kann also nicht auf die Darstellung sinnhafter oder sinnloser Zusammenhänge oder auf nicht-verstehbare Inhalte aufbauen, sondern es muß nachweisen „ein Zugleichsein von Phänomenen . . . , die nidit sinnhaft, sondern als Symptome einer durch Erfahrung gekannten typischen Erkrankung zusammengehören". (Jaspers 1968, 13 f.) Erst die Verarbeitungsweise eines Inhalts macht ihn zum Symptom oder symptomverdächtig. Eine weitere Grundregel der biographischen Analyse schreibt vor, daß man beim Verdacht einer Schizophrenie immer nach dem Verlauf fragen, also vom Längsschnitt eines größeren Lebensabschnittes ausgehen muß: „Bei einem schizophrenen Prozeß fragt man nach dem Beginn und nach der chronologisch feststellbaren Reihe der Phasen bis zum Endzustand." (Jaspers 1968, 18) Man muß also klären, ob die Auffälligkeiten nur eine Phase betreffen oder ob es sich um mehrere Sdiübe gehandelt hat, ferner, ob und wie die Äußerungsweisen des Untersuchten sidi darin verändert haben usw. Zum Vergleich sei hier darauf hingewiesen, daß Jaspers aus dem von Ezechiel stammenden Material eruieren konnte, daß der Prophet 1. Visionen in abnormen Zuständen hatte (zurückführbar auf das Primärsymptom der Sinnestäuschungen), 2. an kataplektisdien Anfällen von Bewegungslosigkeit und Stummheit litt
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(Primärsymptom: Impulsabnormität), 3. skurrile sinnbildliche Handlungen ausführte (Primärsymptom: schizophrene Ichstörung), 4. zu pedantischen, kleinlichen Durchführungen im Wechsel mit Monotonie und Sprunghaftigkeit neigte (Primärsymptom evtl.: Denkstörung) und 5. das Schamgefühl verloren hatte (Ausmalung des Sexuellen mit einer selbst f ü r die Antike ungewöhnlichen Breite und Direktheit, zurückführbar auf: Charaktervariation als Sdiubfolge). Und trotz des Aufweises dieser fünf Radikale ist Jaspers in der Erstellung einer endgültigen Diagnose vorsichtig: „Mit einem so geringen Material sind keine zwingend gewissen Antworten möglich." (Jaspers 1968, 19) Bei Personen der Denkgeschichte aus neuerer Zeit, bei denen reiches und unverdorbenes Material vorliegt, müßte das Symptomatische also wirklich beweissicher hervortreten, um eine Diagnose zu ermöglichen. In der Studie über Ezechiel weist Jaspers noch einmal auf die retrospektive Wertfreiheit der Psychopathologie hin: „Es bedarf keiner neuen Auseinandersetzung über die Selbstverständlichkeit, daß psychopathologische Analyse nichts über den sachlichen und geschichtlichen Wert der geistigen Gehalte aussagt." (Jaspers 1968, 20) Diese verneinende Feststellung bedeutet in positiver Wendung: Der Geist lebt immer in schwierigen Umständen in der Welt; dem Druck der Triebe, der Mitmenschen, der Realität ist er unablässig ausgesetzt. Entweder es gelingt ihm, seine Inhalte erscheinen zu lassen, oder dieses Vorhaben mißlingt ihm. Wenn die Inhalte aber überhaupt erscheinen, gehören sie dem Geist an, sei er nun in psychologischer oder psychiatrischer Perspektive gesund oder krank zu nennen. Der Geist ist, der er ist; die Begriffe gesund oder krank sind für ihn sinnlos. In Psychosen erscheinen wirklich neue geistige Inhalte allerdings selten: Psychosen sind nicht das Feld der freien geistigen Manifestation und Mitteilung; sie sind (wie die Drogenräusche) also auch nicht der Auftrittsort großer und bedeutender Inventionen: Die Innovationsbilanz der Psychosen für das freie Denken, für die Künste, die wissenschaftlichen Erfindungen liegt gegenüber dem Normalen bei Null. Man vergleiche durchaus bei Lange-Eichbaum (vgl. LangeEichbaum 1967 e ) die Salden der Normalität (definiert durch Psychosenfreiheit) und der Psychosen für die Geschichte des anschauenden und denkenden Geistes! Aber selbst wenn neue Inhalte in gewissen Fällen erstmalig in Psychosen aufgetreten wären, bliebe dies für ihre Bedeutung unerheblich, denn der Inhalt und seine Gestaltung sind zu unterscheiden: Es ist nur „die Frage möglich, ob dieser neue Gehalt sich in dem individuellen, vielleicht psychopathologisch zu charakterisierenden Material eines Menschen mitteilt, der dadurch der geistigen Erscheinung eine Farbe und Stimmung gibt, die ihm ohne die Schizophrenie nicht gekommen wäre. Diese wäre dann mit dem Gehalt nicht notwendig verknüpft, könnte ihn sogar verschleiern und in ihm an fremde Irrwege führen". (Jaspers 1968, 20) Den erfahrungswissenschaftlich abgesicherten Ergebnissen der Psychopathologie zufolge führt ein schizophrener Prozeß aber bei einem produktionsfähigen Menschen nicht zu neuen, auf den Prozeß zurückführbaren Inhalten, sondern nur zur Variation von bei ihm schon vorhandener Thematik.
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c) Zur psydiopathologischen Diagnose Christiane Hegels Bruder und Schwester: Ideal und Wirklichkeit Wendet man sich der pathographischen Analyse Hegels zu, stößt man bald auf eine Angabe, die alle Biographen für wichtig halten; sie betrifft Hegels „verrückte" Schwester Christiane. Hoffmeister faßt verbreitete Vorstellungen zusammen: „Das ganze Verhältnis zwischen Christiane Hegel und ihrem Bruder deutet auf einen sehr starken Geschwisterkomplex ihrerseits hin, der die Eifersucht auf Marie Hegel und schließlich auch ihren Freitod kurz nach dem Tode des Bruders erklärt." (Hoffmeister in Br 2, 374) Diese Ausführungen erklären jedoch nichts: 1. Einen Geschwisterkomplex gibt es nicht; 2. die Abhängigkeit bestand nicht nur bei Christiane, Hegel hing umgekehrt auch sehr an seiner Schwester (Belege vgl. im Folgenden); 3. auch starke Abhängigkeit würde keinen Suizid e r k l ä r e n . - Ubereinstimmend wird berichtet, daß Hegel und Christiane sich sehr ähnlich sahen; es wird aber nicht angegeben, ob damit eine Ähnlichkeit nur der Gesichtszüge oder der gesamten Konstitution gemeint ist. Im Fühlen und Vorstellen bestanden manche Parallelen, wie einige Vergleiche zeigen: 1. Hegel sah das Verlangen nach dem Unendlichen am ehesten dadurch als erfüllbar an, daß man sich in einer Wasserfülle begrübe (vgl. Theol 319); der Modus des Suizids Christianes war tatsächlich der durch Stelbstertränkung herbeigeführte. 2. Hegel pries den Bruder in der „Phänomenologie des Geistes" als der Schwester unersetzlich (vgl. Phän 327) - nach seinem Tode beging sie Selbstmord (womit noch nicht gesagt ist, daß dieser tatsächlich reaktiv war). Das Verhältnis zwischen Bruder und Schwester allgemein beschreibt Hegel so: „Der Bruder aber ist der Schwester das ruhige gleiche Wesen überhaupt, ihre Anerkennung in ihm rein und un vermischt mit natürlicher Beziehung; die Gleichgültigkeit der Einzelheit und die sittliche Zufälligkeit derselben ist daher in diesem Verhältnisse nicht vorhanden; sondern das Moment des anerkennenden und anerkannten einzelnen Selbsts darf hier sein Recht behaupten, weil es mit dem Gleichgewichte des Blutes und begierdeloser Beziehung verknüpft ist." (Phän 326 f.) Man kann diese Worte poetisch und herrlich finden; sie preisen ein Ideal einer biedermeierlichen Iphigenie. Wirklichkeitskonform sind sie nicht; Entwicklungspsychologie und Familienforschung haben ihren schein-friedlichen Harmonismus längst aufgedeckt; sie beschreiben nicht den Regelfall, sondern die Ausnahme: Die andersgeschlechtlichen Geschwister sind nicht freier gegeneinander als die gleichgeschlechtlichen. Ihre sich gegenseitig respektierende Selbständigkeit wird oft nur mühsam gewahrt; bei Belastung und bei Entlastung brechen die Konflikte als Aggressionen durch. Bei Hegel und seiner Schwester war es im großen wie im kleinen nicht anders: Auf die Übersendung einer Medaille Hegels antwortete Christiane beispielsweise: „Ich bin nur froh, daß, da wie mein Bruder selbst sagt, er nicht nur gehauen und gestochen, sondern nun auch geprägt sei, er nicht verwundet noch gequetscht ist." (Ber 427) Hinter „Witz" und Ver-
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neinung werden aggressive Spitz-findigkeiten also nur mühsam verborgen. Ein Bruder als „anerkanntes einzelnes Selbst" könnte nicht mit solcher „stechenden" Phantasie verziert werden. Und Hegel betrieb gegenüber seiner Schwester eine Fürsorge, die - nicht wegen der aufgewendeten Mittel, sondern wegen der Stilisierung - nicht ganz geheuer ist. In der ersten Erkrankungsphase Christianes 1814 schreibt er nodi mit angemessenen Worten: „Ich sehe mit inniger Befriedigung dem Zeitpunkte entgegen, wo ich Dir für das viele, was Du mir von jeher getan hast, etwas vergelten kann." (Br 2, 20) In der zweiten Phase 1820 aber verliert er sich unangemessen bis ins Blasphemische hinein (Brief an den die Schwester betreuenden Vetter Göriz): „Ich bitte Dich also hier, in meinem Namen wie ein Bruder zu handeln; die größte Beruhigung ist es mir, Dich in dieser - heiligen - Angelegenheit an meiner Stelle sehen zu können." (Br 2, 228 f.) Der hinter Wortspielen versteckte aggressive Zug bei Christiane, das ins Sakrale gesteigerte Empfinden der Fürsorge bei Hegel sind nicht der Ausdruck freier Selbständigkeit gegeneinander. Insofern stellen die Worte über die freien Selbste des Bruders und der Schwester in der „Phänomenologie des Geistes" eine Rationalisierung dar, die der Familienrealität der Geschwister Hegel widerspricht. Für die Annahme einer besonders gearteten Entwicklung Hegels gibt diese nicht als unnormal zu bezeichnende Verfilzung der geschwisterlichen Rollen allerdings keinen Hinweis.
Christianes Leben und ihre Erkrankungen Zunächst soll auf die allgemein unterstellte „Verrücktheit" Christianes genauer eingegangen werden: Christiane Hegel lebte von 1773 bis 1832; sie war also drei Jahre jünger als ihr berühmter Bruder. Uber ihren Lebenslauf bis zum Jahre 1814, also bis in ihr zweiundvierzigstes Lebensjahr, ist aus den bekanntgewordenen Dokumenten heraus nichts Auffälliges zu entnehmen. In den Jahren vor 1814 war sie Erzieherin bei einem Graf Berlichingen; sie erhielt für ihre Tätigkeit Lob. (vgl. Br 2, 377f.) 1814 erkrankte sie seelisch und wurde pensioniert. Krankheitsbeschreibungen von Ärzten o. ä. über diese Zeit sind nicht greifbar. Christiane teilte sich ihrem Bruder mit. (vgl. Br 2, 18) Hegel antwortete ihr mit praktischen Ratschlägen. Aus dieser Antwort geht hervor, daß Hegel seine Schwester nicht für verwirrt hielt. Er schrieb ihr nämlich u. a.: „Beruhige vornehmlich Dein Gemüt." (Br 2, 19) Nach einigen Monaten besserte sich ihr Zustand. (vgl. Br. 2, 225) Vom 4. August 1818 - 4 Jahre später - gibt es einen Brief von Hegels Schwiegermutter an ihre Tochter Marie Hegel, geb. Tucher, in dem sie ihr über einen Besuch bei Christiane berichtet: „Ich habe sie sehr heiter, gesund und zufrieden mit ihrer Lage gefunden." (Br 2, 429) Die zugleich lebenstüchtige und feinfühlige alte Frau Tucher schreibt: „sehr heiter"; da Frau Tucher immer zu genauen Beschreibungen neigte, wird man daraus einen Hinweis auf ein hypomanisdies Verhalten Christianes entnehmen dürfen; läppisches Benehmen oder Albernheit hätte Frau Tucher entweder verschwiegen oder beim
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Namen genannt. Diese „heiteren" Stimmungen scheinen mit entgegengesetzten gewechselt zu haben oder von ihnen begleitet gewesen zu sein. Hegel schreibt darüber am 19. März 1820: „Von dem frühern Anfall, der sie befiel, wie sie noch bei Herrn von Berlidiingen war, ist sie doch wieder in kurzer Zeit genesen; aber sie hatte freilidi eine unglückliche, gereizte Stimmung davon behalten." (Br 2, 225) Im Frühjahr 1820 - sechs Jahre nach der ersten Phase — kam es zu einer neuen Aktivierung des Krankheitszustandes. Hegel schreibt an Gönz: „Für die traurige Benachrichtigung, die Du mir über den unglücklichen Zustand von dieser ((Christiane)) gibst, bin ich Dir . . . Dank schuldig." (Br 2, 225) Im Folgenden reflektiert Hegel über eine mögliche Parallelität zwischen Klimakterium und der neuen Phase: „Sollte dieser Rückfall vielleicht mit ihrem gegenwärtigen Lebensalter zusammen-[hängen] und die jetzt erst eintretende Veränderung in der weiblichen Konstitution - was der Regel nadi aber wohl schon vor etlichen Jahren bei ihr hätte der Fall sein können - eine solche Wirkung gehabt haben? Auch jetzt bezeichnest Du den Hauptzustand als hysterisch, wie er damals war." (Br 2, 225) Aus dem Besdireibungsmerkmal „hysterisch" wird man entnehmen dürfen, daß 1814 und 1820 bei Christiane Aufregungszustände manifest geworden sind, vor allem aber, daß Christiane eine laute, keine leise Kranke war. Um so bemerkenswerter ist es, daß über Verwirrtheit oder Paralogismus ihres Geistes nichts berichtet wird, obschon derartige Phänomene bei lauten Kranken deutlich hervortreten - wenn sie vorhanden sind. Wichtig ist ebenfalls, daß Christiane auch in der zweiten Phase ihrem Bruder einen Brief geschrieben hat und daß nach Hegels Brief vom 13. Mai 1820 an Göriz angenommen werden muß, daß Christianes Brief klar und keinesfalls verworren oder bizarr war. („Sie ist zwar in Neustadt, und zwar, wie sie mir selbst schreibt, sehr gut untergebracht, aber fand doch schon in dieser Lage Umstände, wegen der sie Veränderungen derselben wünscht." (Br 2, 227)) Hegel beurteilte ihren Zustand aber doch so ernst, daß er sie unter persönliche und pekuniäre Kuratel stellte. Die Geldsorgen Christianes fielen allgemein auf. Mehrfach wurde ihr die Inadäquatheit ihrer Befürchtungen vorgehalten. Von Göriz („Geiz" (Br 2, 486)) bis Hoffmeister („Genauigkeit in Gelddingen" (Br 2, 451)) wurden die Geldsorgen Christianes im übrigen immer nach Vorstellungen der Vulgärpsychologie gedeutet; daß dabei auch der reguläre Verarmungswahn einer endogenen Depression im Spiele und am Werke gewesen sein könnte, wurde bisher von keinem Kommentator in Erwägung gezogen. Am 17. Juni 1820 trug Hegel Göriz die Vormundschaft über Christiane mit folgender Begründung an: „ . . . da meine Schwester, Christiane Hegel, allen Nachrichten zufolge sich in einem Zustande von Gemütskrankheit befindet." (Br 2, 453) Diesen urkundfähigen Akt unterzeichnete Hegel mit seinem vollen Titel. („Prof. p. o. der Philosophie an hiesiger Kön. Universität", vgl. Br. 2, 454) Man sollte unterstellen dürfen, daß Hegel damit keine falschen Angaben wider bessere Annahme unterschrieb. Weiter muß man wissen, daß Hegel der Unterschied
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zwischen Gemüt und Geist in vieler Beziehung vertraut war. Wenn er auch noch nicht über die Kraepelinsdien Abgrenzungen der Formenkreise der Dementia praecox und des manisch-depressiven Irreseins verfügte, so unterschied er doch präzise Krankheiten des Gemüts und des Geistes. Einmal faßte er nämlich Krankheiten der fühlenden Seele in ihrer Unmittelbarkeit zusammen, (vgl. SW 10, 149 und 156) Für diese Gruppe verwandte er direkt den Begriff „Seelenkrankheit". (SW 10, 175) Als Zuordnungskriterien benutzte er leibliche Zustände, denen bestimmte psychische Phänomene entsprechen. Genannt werden u. a. das Schlafwandeln, die Entwicklungsjahre des Mädchens, die Schwangerschaft, der Magnetismus, (vgl. SW 10, 176) Von dieser Gruppe unterschied Hegel als zweite die der Krankheiten des Selbstgefühls, die als „Verrücktheit" zusammengefaßt werden, (vgl. SW 10, 205) Zu dieser Gruppe der Verrücktheiten im engeren Sinne zählte er u. a.: Zerstreutheit, Faselei, Narrheit, Tollheit, Wahnsinn. (vgl. SW 10, 220-228) Wenn Hegel seine Schwester offiziell als gemütskrank bezeichnete, darf man vermuten, daß er sie als „seelenkrank" aufgefaßt hat, nicht als „verrückt". Hätte er von Phänomenen der Zerstreutheit, Faselei, Narrheit, Tollheit oder des Wahnsinns bei ihr Kenntnis gehabt, hätte er sie nicht mehr als „gemütskrank" bezeichnen dürfen, sondern hätte sie „verrückt" nennen müssen. Um diese Feststellung kommt man nur herum, wenn man es für möglich hält, daß Hegel in einem urkundfähigen Papier aus Gefälligkeit eine Feststellung wider besseres Wissen traf. In der zweiten Erkrankung wurde Christiane anstaltsmäßig in Zwiefalten behandelt, u. z. bis zur Jahresmitte 1821 (vgl. Br 2, 486), so daß man die zweite Phase - ähnlich lang wie die erste - auf 12 bis 15 Monate ansetzen kann. Nach ihrer erneuten Wiederherstellung meldete Christiane ihrem Bruder die zweite Gesundung. Er antwortete ihr unter dem 12. August 1821: „Es hat mich herzlich gefreut, aus Deinem Briefe vom Juni die glückliche Wiederherstellung Deiner Gesundheit und die Erstarkung und Wiederbemächtigung Deines Gemüts zu vernehmen." (Br 2, 283) Christiane zog danach nach Stuttgart. Dort wurde sie zu Weihnachten 1821 von der Frau des in Stuttgart lebenden Obersten und Kriegsrats v. Haller, einer Schwägerin von Hegels Schwiegermutter, besucht. Frau v. Haller fand Christiane sehr nett eingerichtet, „vollkommen hergestellt und heiter und in voller Tätigkeit". (Br 2, 487) Die Remission dürfte also sehr gut gewesen sein. Auffällig ist die Betonung der Heiterkeit auch durch diese neue Zeugin. Abermals könnte man an ein hypomanisches Zustandsbild denken. Von 1821 an wurde Christiane von Medizinalrat Schelling, einem Bruder des Philosophen, ärztlich betreut. Er übernahm ihre gesamte medizinische Versorgung, wie aus Zeugnissen Christianes hervorgeht. („Gerade war ich angekleidet, um zu Schelling zu gehen, diesem allerlei Beschwerden zu klagen, als . . u s w . , Christiane Hegel in: Ber, 427) In der Zeit zwischen 1821 und 1831/32 scheint Christiane keine Phase durchgemacht zu haben; ob im Jahre 1826 eine Phase, die den Sechsjahresrhythmus (1814 - 1820 - (1826) - 1831/32) vervollständigt hätte, überhaupt nicht eintrat
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oder sehr sdiwach ausfiel, ist aus den Dokumenten heraus nidit klärbar. Gegen Ende 1831 - aber vor dem Eintreffen der Nachricht von Hegels Tod - kam es aber zu einer weiteren Phase. Seit Mitte November 1831 befand Christiane sich in einem Zustand der „Geistesabwesenheit" (Frau v. Haller in: Ber, 489), so daß man Sorge trug, ihr den Tod ihres Bruders bekanntzugeben. In der Durchführung dieser Aufgabe verfuhr man deshalb versiert: „Zuerst sagte ihr Göriz . . . daß ihr teurer Bruder sehr krank sei. Als sie dies ziemlidi gleichgültig aufnahm ((d. h. ohne erkennbar zu reagieren)), so eröffnete er ihr den anderen Morgen seine traurige Mission. Nun wurde sie ganz still, und erst am Nachmittag brach sie in heftiges Weinen aus." (Frau v. Haller in: Ber 489) Christiane reagierte auf die Todesnachricht also nicht parathym, sondern retardierend, was es differentialdiagnostisch zu beachten gilt 7 . Rosenkranz berichtete 1844 über Christianes Lebensende und gab dabei Einzelheiten über ihr Verhalten bekannt. Seine Angaben sind es, die ihr den Ruf der „verrückten Schwester" nachhaltig angehängt haben. „ . . . Christiane wurde durch diese Nachricht vom Tode des treuen Bruders Wilhelm . . . schwer getroffen. Sie hatte sich nie verheiratet. Einen ihrer wärmsten Bewerber, Gotthold, hatte sie aus vielleicht zu peinlichen Rücksichten ((die nicht genannt werden)) ablehnen zu müssen geglaubt. Er war, ohne seine Liebe zu ihr je aufgegeben zu haben, fern von ihr unverheiratet gestorben. Seit dieser Zeit nagte ein tiefer Schmerz an ihrem Leben, der sich bald in manchen Aufgeregtheiten, Wunderlichkeiten kundgab und zuerst in Nürnberg 1815 ((in Wirklichkeit: 1814)) entschiedener ausbrach... Ihr Gemüt war tief. Sie machte viel Auszüge aus Büchern, schrieb sich Predigten auf, hatte eine lebendige Teilnahme für die Württemberger Kammerverhandlungen, verfertigte viel Gedichte, teils Rätsel, teils Gelegenheitsverse; einige derselben . . . sind wahrhaft schön . . . Die letzten acht Jahre lebte sie für sich allein und hatte eine Dienerin. Ein Bruder des Philosophen Schelling, der Medizinalrat Schelling, bemühte sich auf das Redlichste Jahre lang, ihren Zustand zu lindern, zu heilen, versuchte auch mehre Badekuren. Im November 1831, noch bevor die Nachricht von dem Tode ihres Bruders ankam, verfiel sie in die fixe Idee, alle Ärzte hätten Magnete und Elektrisiermaschinen gegen sie gerichtet. Sie kleidete sich nun phantastisch, so dem Einfluß dieser vermeinten Attentate zu begegnen. Mehrmals versuchte sie, sich zu töten, aus dem Fenster zu springen, sich eine Ader zu öffnen. Den Tod ihres Bruders vernahm sie erst ganz still, scheinbar fast teilnahmlos, aber einige Stunden darauf brach sie in ein heftiges und langes Weinen aus. Dann wurde sie wochenlang äußerlich ganz vernünftig und ruhig; aber sie wollte mit diesem Betragen nur die Aufmerksamkeit ihrer Umgebung täuschen. Am 2. Februar 1832 7
Parathyme Reaktionen sehen ganz anders aus. Zwecks Markierung des Unterschieds sei wenigstens ein Beispiel gebracht: Parathym ist es, wenn ein Schizophrener, der vom Tode eines geliebten Menschen hört, daraufhin albern kichert und sagt: „Geschieht ihr ((ihm)) recht, sie ((er)) hat nie auf ihre ((seine)) Schuhe geachtet." (Stafford-Clark 1967,129)
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kam sie von einem Spaziergang nidit wieder zurück. Sie hatte sidi in die Fluten der Nagold gestürzt, ward bald aufgefunden und . . . begraben. Niemand wird dies edle, tief religiöse Wesen ohne innige Wehmut sidi vorstellen können. Die einzige Schwester . . . stirbt in gemütlicher Zerrüttung, aus gebrochenem Herzen, den einsamen Selbsttod." (Rosenkranz 1844, 424 ff.) Differentialdiagnostische Analyse Die Person Christianes und ihre Krankheit haben verschiedenartige Deutungen erhalten. Eine besänftigende Interpretation lautet (nach Hoffmeister) : „Karl Schümm definiert die Krankheit Christianes als ein sich zur Angst steigerndes Einsamkeitsgefühl, Furcht vor Unversorgtheit und Abhängigkeit im Alter, also als eine Art hypochondrischer Melancholie mit gelegentlichen Ausbrüchen von Hysterie, die sich bis zu geistiger Umnachtung steigerten." (Br 2, 374) Diese Feststellungen sind praktisch wertlos, 1. weil man Krankheiten anläßlich eines Falles nidit definieren, sondern nur diagnostizieren kann, 2. weil in ihnen aber weder definiert noch diagnostiziert, sondern in einem beschrieben und konstruiert wird und 3. weil eine angeführte Angabe zum Krankheitsprozeß nicht stimmen kann, denn Hysterie, die zu „geistiger Umnaditung" führt, gibt es nidit. - Die ernsteste Diagnose wird demgegenüber von Treher gestellt: „Hegels Schwester Christiane war schizophren geisteskrank." (Treher 1969, 193) Aus dem Bericht Rosenkranz' lasse sich entnehmen, daß ihr Leiden „streckenweise die Gestalt eines sogenannten physikalischen Beeinflussungswahns hatte, dessen Vorliegen im Zusammenhang mit dem langen Verlauf einen Zweifel an der Diagnose .Schizophrenie' ausschließt". (Treher 1969,193 f.) Auf den ersten Blick scheint Christianes dritte Phase von 1831 in der Tat anders verlaufen zu sein als die beiden voraufgehenden: 1831 wird zum ersten Mal, u. z. durch Frau v. Haller der Begriff „Geistesabwesenheit" für sie verwendet, und es hat nach Rosenkranz' Bericht den Anschein, als ob wahnmäßige bzw. wahnanaloge Erlebnisse vom Typ des Verfolgungs- bzw. Beeinflussungswahns aufgetreten seien - sicher ist es nicht. Man muß nämlich wissen, daß gerade zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Behandlung der Gemüts- und Geisteskranken z . T . sehr quälend war 8 . Damals wurden geistig oder gemütsmäßig Kranke oft phantasievoll, schmerzhaft und dodi erfolglos behandelt, u. a. mit Elektrizität. Auch der Arzt Christianes konnte nur die Mittel seiner Zeit anwenden. Einerseits war Schelling für Christiane also langjähriger Arzt des Vertrauens, andererseits darf man unterstellen, daß die Behandlung oft sehr unangenehm war. Außerdem braucht man in Gedanken nicht völlig zu vernadilässigen, daß Medizi8
Neuerlidi belegt wird diese Feststellung durch die Ausstellung „Psychiatrie z. Zt. Hölderlins", die anläßlich der 12. Tagung der Hölderlin-Gesellsdiaft im Juni 1972 in Tübingen zu sehen war. Klaus Podak faßte die dort zu gewinnenden Eindrücke in der Süddeutsdien Zeitung vom 15. Juni 1972 treffend zusammen: „Man sah da als Behandlungsmittel getarnte Folterinstrumente, die von selber Wahnsinnigen ausgedacht zu sein schienen." (a. a. O.)
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nalrat Schelling einen Bruder hatte, der einerseits ob seines Erfolges bewundertes Vorbild sein konnte, andererseits das Ausprobieren von Verschiedenem - in Gedanken - mit Leidenschaft betrieb. Es hat vor diesem zeitgeschichtlichen und persönlichen Hintergrund manche Wahrscheinlichkeit für sich, daß Christiane bei Schelling mit einer intensiven und einfallsreichen Behandlungsserie traktiert wurde. Es spricht jedenfalls nicht viel dafür, daß die „Elektrisiermaschinen und Magnete" der völlig freien Erfindungsgabe Christianes entstammen. Aber auch wenn man diese Unwägbarkeiten völlig beiseite läßt, bleibt folgende Erfahrungstatsache bestehen: Es ist ein bekanntes Phänomen, daß gerade Ärzte des Vertrauens von ihren Patienten gleichzeitig dämonisiert werden können; ihnen werden dann die vorzüglichsten Kenntnisse, aber auch der beste und zugleich der böseste Wille zugedacht. Solche Patienten sind durchaus nicht regelmäßig geisteskrank. Auch heute noch kommt es vor, daß von solchen nicht-geisteskranken Personen Ärzte z. B. nur unter Amulettschutz aufgesucht werden usw. Die entsprechenden Techniken und Erlebnisse sind der Klasse der infantilen Residualmagien, nicht dem schizophrenen Wahn zuzuordnen. Was Christiane angeht, darf man auf Grund des Rosenkranzschen Berichtes originäre Wahnerlebnisse also nicht als gesichert annehmen; mit gleicher Wahrscheinlichkeit können die beschriebenen Phänomene auch auf einen reaktiven magischen Mechanismus bezogen werden. Andere Krankheitserlebnisse als die des „Wahns", die sich in Richtung auf ein Primärsymptom bzw. eine Grundstörung auflösen ließen, sind aber in dem Material über Christiane nicht zu finden. Ihr „Wahn" steht unverbunden in der Krankheitsgeschichte. Die Wahrscheinlichkeit, daß es sich bei ihm um ein psychotisches oder um ein nicht-psychotisches Symptom handelt, ist also jeweils dieselbe. Freilich sollte man in solchem Zusammenhang auch an andere Psychosen als nur an die Schizophrenien denken. Dem biographischen Material zufolge war Christiane bis zu ihrem zweiundvierzigsten Jahr gesund und lebenstüchtig; dann erst geriet sie in eine erste Phase. Das Gefährdungsalter der Schizophrenien mit Ausnahme der paranoischen Formen hatte sie also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überschritten 9 . An eine paranoische Form könnte gedacht werden, wenn an Christianes Ende nicht der einsame Suizid stünde, dem keine Demonstration, sondern, wie aus Rosenkranz' Bericht eindeutig zu entnehmen ist, Dissimulation vorausging. Dissimulation und Suizid in aller Heimlichkeit sprechen sehr gegen einen dritten oder vierten paranoischen Sdiub, lassen aber an Depression denken. Eine Schizophrenie bei Christiane kann also als unwahrscheinlich gelten; sie soll aber noch nicht als endgültig verneint angesehen werden. Andere Erkrankungsfelder als Schizophrenien und Depressionen endogenen Typs können dagegen praktisch ausgeschlossen werden. Gegen eine körperlich begründbare Psychose bei Leidensbeginn und in der Leidensmitte spricht absolut die Periodizität mit den gesicherten Manifestationen 1814, 1820, 1831/32. (Über den möglichen 9
Man vergleiche hier und im Folgenden die vorhin unter „Krankheitsverläufe" vorgelegten klinischen Angaben.
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Übergang in körperlich begründbare Erkrankung am Lebensende folgt unten Näheres.) An der Periodizität mit intercurrenten Vollremissionen ist nach den oben angeführten Dokumenten nidit zu zweifeln. Diese klare Periodizität macht auch die Ansetzung einer Kernneurose oder einer Psychopathie und auch eine reaktive Erlebnisform vom Typ der „alternden Jungfrau in der Involution" unglaubwürdig. Nimmt man nun einmal hypothetisch an, Christiane sei an einer Schizophrenie erkrankt gewesen, dann hätte sie 1814 und 1820 zwei Sdiübe gehabt. Nach zwei Schüben ohne klinische Behandlung wären jedoch in den folgenden Besserungen bestimmte charakterliche und intellektuelle Veränderungen erhalten geblieben. Dabei hätte es sich zwar nicht um Demenz oder Affektvergröberung wie in defekten Endzuständen handeln müssen, sondern die Störungen hätten vom Typ der schon von Bleuler für die besser verlaufenden Fälle angegebenen Art sein können, nämlich Mangel an Wärme in den sozialen Beziehungen, Reduktion des Mitfühlens im affektiven Bereich, Unklarheit und Ziellosigkeit, Verfolgen von Nebenwegen, Einmengung von Bizarrerien, abrupten Ubergängen usw. im Denken 1 0 . Nichts davon ist jedoch bei Christiane zu entdecken: ihre Briefe sind voll warmer Anteilnahme, sprachlich schön; es findet sich kein gestelztes Wort, kein merkwürdiges Bild, kein harter Übergang. Rosenkranz berichtet, daß sie Gedichte geschrieben habe: „Einige derselben . . . sind wahrhaft schön." (Rosenkranz 1844, 425) In die Gedichte Schizophrener schleichen sich aber auch in den Remissionszeiten immer irgendwelche formalen oder inhaltlichen Absonderlichkeiten, evtl. von der Art feinster „Sprünge", ein. Gerade die so auf Klassizität erpichten Jahrzehnte zwischen 1810 und 1830 (im postumen Beurteilen bis 1870) hätten solche Gedichte mit Sicherheit nicht als „schön" bezeichnet 11 . Noch im Beginn ihrer letzten Phase, kurze Zeit nach dem Erhalt von Hegels Todesnachricht, schrieb Christiane, datiert am 7. Januar 1832, einen Bericht über Hegels Jugend (vgl. Ber 3 f., 15 f., ohne die in Ber erfolgten Aufteilungen i n D o k 3 9 2 f . ) . Dieser Text ist klar, übersichtlich, ohne die geringste Abweichung von der Norm in der Wahl der Stilmittel und der Syntax. Hätte Christiane an einer Schizophrenie gelitten, wäre sie 1831/32 mindestens in den dritten Schub gekommen. Mitten in einem dritten Schub hätte sie den ausgezeichneten Bericht über Hegels Jugend nicht mehr verfassen können. Schizophrene, die in einem dritten Schub ein gegliedertes, genaues, sprachlich schönes und einfaches Referat vorlegen, das keinerlei stilistischen Manierismus aufweist, wohl aber in jeder Zeile ungebrochene Wärme und Anteilnahme zeigt, gibt es nicht. An dieser Feststellung kann nicht gerüttelt werden, solange von psychopathologischer E r fahrung ausgegangen wird. Selbstverständlich ist das gelingende Aufzeigen beweisender Symptome im angeführten klinischen Sinne für eine Schizophrenie nicht in allen Erkrankungs10
11
In arbeitssoziologischer Hinsicht wird man viele dieser leichter verlaufenden Fälle heute als geheilt bezeichnen. Die Kunst Strindbergs und van Goghs, die Sammlung Prinzhorn sind, mit klassizistischen Maßstäben bewertet, ausgesucht häßlidi.
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fällen möglich; und die Diagnose als Urteil über einen lebenden Patienten hat von anderen Sicherheitskriterien auszugehen als die Diagnose als geistesgesdiichtliches Dokument über einen Toten. Bei einem Lebenden besagt eine nicht beweisbare Vermutung gar nichts; bei einem Toten ist sie immerhin interessant. Aber audi die Vermutung muß als solche wenigstens glaubwürdig sein können. In der Verteidigung der Schizophreniethese könnte schließlich noch angegeben werden, daß die Differentialdiagnose zwischen Schizophrenia simplex und endogener Depression erwiesenermaßen schwierig sein kann; deswegen sei es möglich, daß Christiane genau so gut an der einen wie an der anderen Krankheit gelitten habe, wenn man schon vermute, daß sie an einer circularen Psychose erkrankt gewesen sei. Immerhin können sich phasenhaft-flachwellige endogene Depressionen mit hypochondrischen Auffälligkeiten und Schizophreniae simplices mit hypochondrischer Symptomatik zum Verwechseln ähnlich sehen. Diese Einlassung wäre hinzunehmen bis auf die Konsequenz, daß sich im Verlauf der beiden Krankheiten ein großer Unterschied ergibt: Bei einer Schizophrenia simplex würde ein 17-jähriger Verlauf mit Sicherheit zu einer Reprimierung der Geistesfunktionen führen. Schizophreniae simplices haben immer eine sehr ungünstige Prognose, sie verlaufen schleichend zum endgültigen Defekt: Bei Kranken dieses Typs versickert die Energie, ohne jemals wiederzukehren. Diese Folge gerade ist aber bei Christiane nicht eingetreten : Sie war periodisch und überaus starkwellig im Verlauf von 18 Jahren krank, hat aber ihre Geisteskräfte ohne die geringste Brechung und Veränderung bewahrt. Diese Überlegung schließt auch Schizophrenia simplex aus. Der Suizid wurde schon behandelt: er ist häufig bei beginnender Schizophrenie, im Ansatz des ersten Schubes. Bei Katatonien ist Selbstmord bisweilen mit Mord gekoppelt (Bleuler 1949, 300); die Vollzugsart ist dabei oft mit Aufwand verbunden; es kann zur Auslöschung ganzer Familien kommen. Bei den Paranoien treten die Selbstbeschädigungen ganz zurück, Morde nach Plan überwiegen; sich selbst bringen Paranoiker erst um, wenn sie in die Enge getrieben sind; meist geschieht dies theatralisch (mit erheblichem Mittelaufwand oder „vor der Geschichte"). - Christiane unternahm an der Jahreswende 1831/32 mehrere Selbstmordversuche, die mißlangen; danach wurde sie „wochenlang äußerlich ganz vernünftig und ruhig; aber sie wollte mit diesem Betragen nur die Aufmerksamkeit ihrer Umgebung täuschen", (vgl. Rosenkranz 1844, 425) Damit praktizierte Christiane die typische Dissimulation der depressiven Psychosen, die bei den Schizophrenien nicht vorkommt. Zum pathographisdi hochsignifikanten Modus (Suizid durch „ins Wasser gehen") tritt die ebenso hochsignifikante Vorbereitung (Dissimulation) ! — Beweiswert gegen Schizophrenie hat audi, daß Christiane nie parathym reagierte: ihre Briefe zeugen ununterbrochen davon, aber auch noch die Beschreibung des Empfangs der Todesnachricht ihres Bruders zeigt retardiertes, nicht parathymes Verhalten. Göriz teilte ihr die Botschaft - wie oben angegeben - morgens mit. Wie sehr viele Depressive war sie morgens bei allgemein herabgesetzten Körperfunktionen auch der Tränensekretion nicht
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mächtig. Bei zunächst ausschließlich innerlicher Trauerarbeit wurde die erste Affektstellungnahme um Stunden - wahrscheinlich bis zum frühen Abend - hinausgezögert. Dies ist ein für depressives Erleben außerordentlich typischer Verlauf. Noch einmal sei audi darauf hingewiesen, daß Christiane in den gesunden Zeiten zwischen den Phasen ausschließlich als „heiter" beschrieben wird - nie als albern, läppisch, verzerrt, sdirullig usw. In den Remissionszeiten scheint das Verhalten also hypomanisch getönt gewesen zu sein. Im Verlauf der Phasen selbst hat ein betriebsames Element nicht gefehlt. Rosenkranz spricht von „Aufgeregtheiten, Wunderlichkeiten". (Rosenkranz 1844, 425) Hegel schreibt am 19. März 1820 an Göriz: „Auch jetzt bezeichnest Du den Hauptzustand als hysterisch, wie er damals war." (Br 2, 225) Göriz selbst äußert, daß Christiane tagelang jammernd und schreiend auf dem Sofa gelegen habe. (vgl. Br 2, 486) Mit „Aufgeregtheiten, Wunderlichkeiten" könnte evtl. eine manische Betriebsamkeit bezeichnet werden. „Hysterisch" gibt in einer Krankheitsbeschreibung des frühen 19. Jahrhunderts nicht mehr her, als „laut und aufgeregt krank sein". Aus den Worten von Göriz wird man entnehmen dürfen, daß der „Jammeranteil" gut ausgebildet war. Man könnte also unter Beachtung der Worte Rosenkranz' und Hegels an die Beimischung einer manischen Komponente denken; aber die Ausführungen des Augen- und Ohrenzeugen verweisen mehr auf eine Melancholia agitata, in der an die Stelle der vollständigen Hemmung die partielle Erregung motorischer oder gedanklicher Art tritt. Solche Agitatae bilden sich vorwiegend jenseits des 40. Lebensjahres aus: Christiane aber war bei Beginn der ersten Phase 41 Jahre alt. „Eine solche Melancholia agitata ist ängstlich erregt, verzweifelt: sie jammert - oft sehr eintönig dieselben Worte wiederholend . . . - unaufhörlich . . . Oft wandelt sie ruhelos umher." (Gruhle 1948 15 ,114) Besonders beachten muß man auch die finanziellen Befürchtungen Christianes, die offensichtlich sachlich nicht berechtigt waren. Göriz konfrontierte sie mit der Unsinnigkeit ihrer Ernährungssorgen. Er rechnete ihr vor, daß sie von ihren Kapitaleinkünften erträglich leben könnte. Sie blieb in dieser Richtung aber völlig unbelehrbar. Gerade weil Christiane in diesem Punkte so stabil uneinsichtig blieb, darf man einen für endogene Depression hochsymptomatischen Verarmungswahn ansetzen, (vgl. Br 2, 487) Auch zur Depression gehört ja der psychotische Wahn, u. z. der Ruin-Wahn der eigenen Person (als Wahn des finanziellen, leiblichen oder seelischen Ruins). Man nennt diese Wahnformen je nach Inhalt Verarmungswahn, Krankheitswahn, Versündigungswahn und Nihilismus. Der Wahn der Depression ist der einer Selbstbeschuldigung, der Wahn der paranoischen Schizophrenie der einer Fremdbeschuldigung; es stehen sich insofern gegenüber die Ideen der „verdienten" Bestrafung und der „ungerechten" Verfolgung. Allerdings trug Christiane in ihrer dritten Phase 1831/32 (oder schon kurz vorher) auch einen Fremdbeschuldigungs-„wahn" mit sich herum, bei dem es oben unentschieden gelassen wurde, ihn entweder als nicht-wahnhafte Residualmagie aufzufassen oder als paranoiformen Wahn. Es ist zu fragen,
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ob das Symptom dieses „Wahns" oder Wahns die Diagnose einer endogen depressiven Psydiose nicht tangiert. In der Tat sdiafft dieses Symptom dies nicht: Nimmt man nämlich an, es habe sidi dabei um ein neurotisches Symptom gehandelt, steht es als solches jeder Psydiose different gegenüber. Jedes neurotische Symptom kann mit jeder Psydiose prinzipiell zusammengehen. Wie aber, wenn es sich um ein paranoiformes Phänomen gehandelt hätte? Müßte dann nidit an der Diagnose der endogenen Depression gezweifelt werden? Offensichtlidi ist dies nicht der Fall, wenn man die Nosographie einer Variation der agitierten Depression genau nimmt: „Dieser Typ findet sich mit besonderer Vorliebe bei Patienten des höheren Lebensalters, vor allem in den sog. Rückbildungsjahren. Der Affekt der Angst steht hier gegenüber demjenigen der Traurigkeit nicht selten im Vordergrund. Audi sog. ,paranoide' Züge sind oft dabei. Die Kranken befürchten etwa, von der Polizei,abgeholt' und eingesperrt oder umgebracht zu werden, und nicht ganz selten beginnt alsdann der ,Zeiger der Schuld' (W. Scheid)... auf die Umwelt zu weisen..." (Weitbrecht 1968, 315) „Kinkelin in Basel fand bei 15°/o aller manisch-depressiven Patienten im späteren Verlauf schizophrene Symptome." (Weitbrecht 1968, 332) Manche Kliniker sind sogar der Ansicht, daß manisch-depressive Psychotiker mit mehreren oder vielen Phasen sehr oft Symptome produzieren, die nidit zur reinen Phänomenographie der circulären Erkrankungen gehören, wie ζ. B. Fremdbeschuldigungswahn oder Halluzinationen. In diesem Zusammenhang ist ätiologisch möglicherweise von Bedeutung, daß manisch-depressive Psychotiker im Verlauf häufig an Arteriosklerose erkranken, wodurch zu manisch-depressiven cerebral bedingte Symptome hinzutreten können. Bei einer Präseniumsdepression wäre ein Fremdbesdiuldigungswahn unter diesen Umständen also keineswegs diagnosestörend. Die Krankheit Christianes kann deshalb eine endogene (manisch-)depressive Psychose genannt werden, die bei der 41jährigen als eine solche präinvolutiv ausbrach, in der 3. Phase (bei der 58jährigen) aber in eine Präseniumsdepression überging. Insofern handelt es sich bei Christiane um eine (manisdi-)depressive endogene Psydiotikerin, die allmählich oder sprunghaft - die entsprechende Klärung dürfte postum sehr schwer sein - mit einer konformen Rückbildungsdepression belastet wurde. Bei Christiane Hegel sind folgende Phänomene gegeben, die die Diagnose einer primären endogenen Depression erlauben: 1. sechsjährige (bzw. zwölfjährige) Periodizität der Phasen, 2. im Verlauf der dritten Phase heimlicher Suizid durch Ertränken mit voraufgehender Dissimulation, 3. während der gesamten Krankheitsdauer trotz mehrerer Phasen keinerlei intellektuelle Einbuße, 4. Verarmungswahn, 5. keine Hinweise auf schizoforme Charaktervariationen in den phasenfreien Zeiten (keine Angaben über Sonderlingszüge, Herabsetzung der sozialen Aktivität, Interesseneinschränkung). — Der Besdireibung der depressiven Rückbildungspsydiosen, die Weitbrecht gegeben hat, paßt sich Christianes psychopathologische Symptomatik im Verlauf geradezu idealtypisch ein: „Die depressiven Psychosen zeigen in den Rückbildungsjahren als Wahnthema häufiger
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als die endogenen Depressionen der jüngeren und mittleren Lebensjahre die Verarmung . . . [Christianes Angst vor Verhungern und Verarmung] An Stelle der Hemmung tritt oft die ängstliche agitierte Ratlosigkeit. [Christianes ,Hysterie' und ihre Unfähigkeit, in den Phasen irgend etwas zu tun; ihre tiefe Unzufriedenheit mit allem; ihr Jammern und Schreien', während sie untätig auf dem Sofa (Göriz) lag] . . . in der Rückbildungszeit... häufige paranoide Färbung der Symptome . . . [die Magnete und Elektrisiermaschinen] Man begegnet oft einem verschwommenen ängstlichen Mißtrauen ohne ausgebaute Wahnideen. [Christiane« Mißtrauen gegen ihre Arbeitgeber, den Grafen und die Gräfin Berlichingen, gegen Göriz usw.] Zwischen der Sorge, vernadilässigt, betrogen, bestohlen und belogen zu werden, und der festen Behauptung, es werde dauernd nachspioniert, man dringe in die Wohnung ein, durchstöbere Schubladen . . . sind die Grenzen oft sehr fließend. [ , . . . bleiben ihre Handlungen in ihrer Willkür, so kann ich in keiner Rücksicht, wenn ich auch das Geld übriger hätte, als idi es habe, gesonnen sein, es zur Unterstützung ihrer ((Christianes)) Extravaganzen - darunter gehört wohl auch noch die verlangte Überwachung ihres ganzen Hausrats — und der dadurch gemachten Kosten aufzuwenden.' (Br 2, 234)] Thematisch handelt es sich zumeist um den kleinen, kleinlichen Haus- oder Bürostreit; ,größere', vor allem überpersönliche Themen werden verhältnismäßig selten entwickelt. Das . . . Schwägerinnen-Mißverhältnis b i l d e t . . . nicht selten einen Kristallisationskern. [Göriz berichtet, daß Christiane krank zu ihm gebracht worden sei, voll ,tiefen Hasses' gegen ihre Schwägerin, vgl. Br 2, 486.]" (Weitbrecht 1968, 274 f.) Differentialdiagnostisch kann schließlich gegen eine paranoische Schizophrenie und für Depression noch angeführt werden, daß der Wahn Christianes von ihr keine sinnespsychologische Begründung bzw. Ausschmückung erfuhr, sondern daß die Inhalte - das Gerichtetsein der Elektrisiermaschinen - imaginiert wurden. Angesichts des biographischen Materials, das heute vorliegt, ist die These einer Schizophrenie Christiane Hegels nicht mehr aufrechtzuerhalten 12 . Es handelte sich vielmehr um eine endogene Depression; die rhythmische Periodisierung der Phasen läßt eine reaktive Erkrankungsbegründung überaus unwahrscheinlich werden. Das postklimakterische Erkrankungsbild zeigt die r e i n e Manifestation einer depressiven Präseniumspsychose. Deshalb ist auch der Suizid nicht reaktiv begründbar. Den Quellen zufolge scheint das Leiden Christianes schon kurz vor dem Eintreffen der Nachricht von Hegels Tod heftiger gewesen zu sein als in den Phasen zuvor; Mutmaßungen über die weitere Entwicklung werden durch den Suizid unmöglich. 12
Ob sich diese Quellenlage noch wesentlich ändern wird, muß z. Zt. als unsicher oder unwahrscheinlich gelten. Aus den vorhandenen Briefen heraus hat Nicolin rekonstruiert, daß sieben Briefe von Christiane an Hegel verschwunden sein müssen. Umgekehrt sind zwölf Briefe Hegels an seine Schwester nicht mehr greifbar. Aus dem Briefwechsel Hegels und seiner Frau fehlen 24 Briefe: 20 von Marie Hegel was überaus bedauerlich ist - , vier von Hegel, (vgl. Nicolin, G., in: HSt 3, 91) Die Hegelautographen der Preußischen Staatsbibliothek sind seit Kriegsende verschollen.
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Christiane Hegel war als depressive Psychotikerin nur zu Zeiten gemütskrank; sie war nicht „verrückt"; sie ist kein Indiz dafür, daß in der Familie der Hegel genetisch oder sozialisationsmäßig abnorme Fundierungen oder Ausgangslagen für die Entwicklung einer Sdiizophrenie bestanden hätten. Die bisher tradierte Auffassung von einer „folie" Christiane Hegels als einer „Narrheit" oder eines Wahnsinns gilt es also zu streichen. d) Zur psydiopathologischen Diagnose Hegels Der Schizophrenieverdacht Was aber war mit Hegel selbst? Seine Philosophie ist oft genug als Narrheit, Torheit oder Wahnsinn ausgegeben worden. War Hegel deshalb selbst schizophren, wie Treher es behauptet und zu beweisen sucht? Treher geht zunächst von einer durch nichts zu beweisenden Annahme aus, die besagt, daß die Gründer und Begründer politischer und geistiger Kollektive sämtlich schizophrenieverdächtig seien. „Es scheint, daß man nur geduldig genug suchen muß, um für jedes Kollektiv irgendwo eine schizophrene Wurzel zu finden, so als ob nach einem Naturgesetz die Menschen dem Prophetentum verfallen müssen." (Treher 1969, 16) Diese Vermutung hat höchste Unwahrscheinlichkeit für sich; die Forschung zur kollektiven Mythenbildung verweist entweder auf freie Imagination oder auf neurosenpsychologische Fundierungen, nicht aber auf schizophren-psychotische13. Die Schizophrenieforschung hat darüber hinaus immer wieder ergeben, daß Schizophrenien fast nie zu inhaltlicher Invention führen, sondern nur zur Variation schon vorhandener Inhalte. Schließlich bliebe unverständlich, warum die Mehrzahl der Gesunden, wenn sie tatsächlich einmal von schizophrenen Innovationen (wenn es sie gäbe) kollektiv überwältigt würde, nicht zu einer nachfolgenden Transformation in die mehrheitliche Verstehenslage schritt. Audi in Hegel sieht Treher den Begründer eines geistigen Kollektivs, besonders infolge seiner Rezeption durch Marx; er hat deshalb in Ubereinstimmung mit seiner These ein gewisses systematisches Interesse daran, Hegel schizophren zu finden, audi bei Hegel nachzuweisen, daß er ein schizophrener Prophet war, dem die Welt in „Zwei Hälften" zerrissen wurde und dessen auf solchen Erlebnissen fußende Weltdeutung von seinen Mitmenschen als Weltanschauung aufgenommen wurde. Eine solche Verwendungsabsicht einer zu erbringenden Diagnose ist sicher kein neutraler Abwägenshintergrund; die von Treher gelieferten Beweisansätze sollen trotzdem neutral beachtet werden. Das wichtigste Symptom in Trehers Argumentation bildet die Heautoskopie, das Verdopplungs- bzw. Doppelgängererlebnis. Treher gibt an, daß Heauto13
Die imaginative Entstehung der Mythen untersuchten z. B. Cassirer (Cassirer 19231929) und Kerényi und Jung (Kerényi/Jung 1951 4 ); für die neurosenpsydiologisdie Begründung denke man an Freud (besonders Freud SW 9) und Topitsch (Topitsdi 1969 u. 1966 2 ).
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skopie im schizophrenen Psydiosenbeginn als „eigenartiger, subjektiver Zustand des Außersichseins" auftritt 14 . In der Tat gibt es diese schizophrene Heautoskopie im Beginn der Erkrankung. Sie ist ein Symptom, nicht die Erkrankung selbst. Die Schizophrenie selbst „schlägt nidit ein", wie es in Beschreibungen des epileptischen Anfalls oft heißt. Jedem ersten Sdiub einer Katatonie geht ein, evtl. kurzer, präpsychotischer Prozeß mit Verhaltensänderungen voraus. Und Hebephrenien sowie die paranoischen Formen beginnen immer mehr oder weniger schleichend. Treher dagegen spricht entgegen allen anamnestischen Erfahrungen von „blitzartig einschlagenden" Schizophrenien, (vgl. Treher 1969, 114) Ferner hat die Heautoskopie, konkret als Doppelgängererlebnis oder mehr formal als Außer-sich-sein gefaßt, nur einen bestimmten, keinen absoluten Beweiswert für die Annahme eines schizophrenen Prozesses. Dieses Phänomen kann audi bei Übermüdeten, Bewußtseinsgetrübten und besonders bei Hirntumorpatienten auftreten. In die Richtung einer Schizophrenie weist es nur, wenn ein bestimmtes Merkmal dabei ganz deutlich auftritt, von dem bisher nocii nicht die Rede war, nämlich bei hellem Bewußtsein der Erlebnischarakter des physischen Gemachtseins ohne eigene Zutat 15 . „Dieses ,Gemachte', die Störung der ,Meinhaftigkeit' (K. Schneider), ist das weitaus wichtigste Symptom unter den Erscheinungen der Icherlebensstörungen." (Weitbrecht 1968, 44) Die Heautoskopie, die „Spaltung" der Person, ihre „Verdopplung" ist das Erlebnis der Störung der Einheit des Individuums. In ihr werden subjektiv immanente Vorgänge als außerhalb des eigenen Leibes „wahr-genommen". Es kann hier schon darauf verwiesen werden, daß zwischen diesen Erlebnisweisen und dem Hegeischen Verfahren unter psychologisch-phänomenographischem Gesichtspunkt ein strenger Gegensatz besteht. Die Wahrheitsfrage muß hierbei ganz außer Betracht bleiben, um in methodischer Absicht eine Reduktion auf die Produktionsweisen der Subjekte vornehmen zu können. Es ist durchaus zu beachten, daß Wahrheitsbeweise und egographische Experimente zweierlei sind. - Dem Bewußtsein in der schizophrenen Heautoskopie stellen sidi bewußt14
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Dieses Außersidisein wäre bei Gruhle eine Manifestation des Primärsymptoms der Idistörung. Treher bringt aus seinem Material zwei Fälle, die über dieses Merkmal verfügen: a) eine Person hat das Gefühl, aus dem Körper herauszutreten, nicht wie im Traum, sondern bei klarstem Bewußtsein; b) ein Student glaubt, sich mit seinem Idi an einem bestimmten Punkt der Zimmerdecke zu befinden und auf seinen eigenen Körper herunterzusehen, (vgl. Treher 1969, 114 f.) In beiden Fällen ist die Gemach theit klar zu erkennen. U m mit letzter Deutlichkeit zu erweisen, wie die luzid erlebte Gemachtheit aussieht, zitiere idi aus einem Dokument einer Schizophrenen: „Idi erwachte, nahm diese unheimliche Stille wahr, und wurde nun am Kopf von einer Energie getroffen. Ich zuckte zusammen und mein Mund formte, ohne meinen Willen, die Worte: ,Geld abschaffen'." (Diesem Erlebnis gingen viele soziale Auffälligkeiten voraus. Der Prozeß begann nicht blitzartig.) Es tritt in diesem Beispiel als eine „frei wirkende Energie" auf, und „der Mund spricht", ohne daß es angeblich gewollt wird. Die „Gemachtheit" solcher Erlebnisse ist evident, und die Kranken dissimulieren sie audi gar nicht.
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seinsinterne, intersubjektiv nicht verifizierbare Ereignisse als ihm selbst transzendent dar: Immanent seelische Vorgänge werden als ichextern erzeugt aufgefaßt. Die entsprechend reduzierte Hegeische Philosophie verfährt entgegengesetzt: Die Objektivität wird durch „Belegung mit Vernunft" gedeutet. („Vernunft" muß in dieser Reduktion als nur-subjektiv verstanden werden.) Das besagt aber (in dieser Reduktion): Bei Hegel werden bewußtseinstranszendente, sog. objektive Daten und Ereignisse mit Mustern der Subjektivität belegt. Oder - immer nodi in dieser Reduktion gesprochen - : Der Schizophrene in der Heautoskopie glaubt, das Innere, sein Inneres, werde von außen erzeugt; der Hegelsdie Standpunkt nimmt an, das Äußere werde von innen gesteuert. Während die Heautoskopie psycho-logisch auf das Primärsymptom der Ichstörung bezogen werden muß, hat das Hegeische Verfahren psycho-logisch damit nichts zu tun. Eher könnte man es für projektionsverdächtig halten. Welche Beweise liefert Treher nun für die Ansetzung einer schizophrenen Heautoskopie bei Hegel? Sie sind überaus spärlich und beschränken sich für den angeblichen Ausbruch der Krankheit auf die Vorführung einiger Sätze aus der Berner Zeit, z.B. des folgenden: „In dem, woran er ((der Geist)) glaubt, findet er seine eigene Natur wieder, wenn er auch nicht das Bewußtsein hat, daß dies Gefundene seine eigene Natur wäre. In jedem Menschen selbst ist das Licht und das Leben. Er wird von einem Licht nicht erleuchtet, wie ein dunkler Körper, der nur fremden Glanz trägt, sondern sein eigener Feuerstoff gerät in Brand und ist eine eigne Flamme." (Hegel in: Rosenkranz 1844, 58) Diese Sätze sind aber mit Sicherheit nicht Produkte einer Heautoskopie; sie sind nämlich vollauf metaphorisch gedacht und auch so zu verstehen; das Merkmal der Gemachtheit weisen sie gerade nicht auf; die Meinhaftigkeit ist nicht verletzt. Die genannten Sätze sind eine paraphrasierende Verarbeitung biblischer Sentenzen und antiker Mythologeme, u. a. des Äthers als Personifikation der Himmelsluft. Sie bieten darüber hinaus inhaltlich nichts Verwunderliches oder Neues. Selbstverständlich kann sich ein Heautoskopieerlebnis auch in literarischen und unauffälligen Inhalten ausdrücken; das Merkmal der Gemachtheit aber darf nicht fehlen. Wenn man bei den genannten Sätzen die historischen Bedingungen einmal außer acht läßt, schildern sie eine immer noch völlig verstehbare Meditation: Sie beschreiben die erleuchtende Kraft des glühenden, brennenden, aber sich nicht verzehrenden Geistes - eine kathartische Regelvorstellung. Die Vermutung, daß die genannten Sätze eine Heautoskopie eines schizophrenen Prozesses beweisen könnten, ist mit jeder Sicherheit auszuschließen: Einerseits sind ihre Inhalte unauffällig; es sind Meditationen über biblische und antike Themen. Andererseits könnte sich sogar der „irreste" Inhalt einfinden oder gedacht bzw. imaginiert werden; solange er nicht als subjektiv-evidente Gewißheit einer nicht-subjektiven Gemachtheit auftritt, hat er mit der Heautoskopie der Schizophrenien nichts zu tun. Heautoskopein bedeutet „Selbstbetrachten": die Psychopathologie meint damit das eindeutige Erlebnis (!) des gegenseitigen Einwirkens zweier getrennter Kräfte, Substanzen, Energien, Personen; sie meint
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nicht Reflexion und Selbstbeobachtung. Im Erlebnis des Unterschiedes der zweikörperlichen von der ein-körperlichen Manifestation liegt das entscheidende Kriterium, das Treher nicht beachtet hat und das ihn Negativität und Fürsichsein nicht als gedachte Kategorien, sondern als heautoskopische Erlebnisprodukte verstehen läßt. „ . . . das ,Fürsichsein'.. ., jene aus der Heautoskopie hervorgegangene stereotype Leerformel, die Hegel auf jeden möglichen oder auch unmöglichen Sachverhalt anwendet, übrigens von der Morgenfrühe seiner Psychose an bis in seine späten Jahre." (Treher 1969, 203) Es gibt aber keinen Hinweis darauf, daß das Fürsichsein die eingestellte Formel einer voraufgegangenen Heautoskopie wäre. Auch Treher liefert dafür keinen Beweis. Psychopathogenetisch ist eine solche Annahme sehr unwahrscheinlich, da remittierende Schizophrene nach dem Abklingen eines Schubes mindestens partielle Krankheitseinsicht gewinnen und Distanz gegenüber den Schuberlebnissen aufbringen, somit auch das heautoskopische Erlebnis entweder als solches ganz einsehen, oder, wenn sie es rudimentär beibehalten würden, in manirierter Form handhaben müßten, nicht aber eine universale Kategorie daraus erschaffen können, wie Hegel mit dem Fürsichsein verfährt. Ohne Zweifel ist Hegels Philosophie im Ansatz ein sehr abstraktes Unternehmen. Deshalb benötigt sie abstrakte Durchführungsmittel (ontologisch: Kategorien); diese wirken ihrem abstrakten Charakter zufolge zunächst ungewohnt (z.B. Fürsichsein, Aufheben, Negation, Dialektik). Abstrakt-Neues berührt oft fremdartig; das gilt sowohl für die Einsichten in die persönlichen Erlebnisse der Geisteskranken als auch für Stilmittel und Prinzipien der wissenschaftlichen Entwicklung. Über die externe Assoziation des „Abstrakt-Fremdartigen" können schizophrene Erfahrungen und wissenschaftliche Neuheiten also unter ein Genus gebracht werden. Dieses Genus ist aber ohne weitere Bedeutung, denn schizophrene Erfahrungen sind ausnahmslos bizarr-skurril-abstrakt, nie zu intersubjektiv explizierbaren Kategorien aufstockbar; wissenschaftliche Erfahrungen sind generell-abstrakt und kategoriabel. In der Nichtbeachtung dieses Unterschiedes begeht Treher einen entscheidenden Fehler, der sich zu zwei wissenschaftspraktisdien Fehlern verdoppelt: Die abstraktesten Begriffe der Hegeischen Philosophie, ζ. B. Fürsichsein, Aufhebung, Trias werden von ihm aufgefaßt als Generalisationen schizophrener Erlebnisse: das Fürsichsein als die der Heautoskopie, die Aufhebung als die der Lévitation (Elevation), die Trias als die Verarbeitung der Grundstörung. Dieses Verfahren ist nicht zulässig: 1. wissenschaftlich und philosophisch nicht, weil Abstrakta und Generalisationen auf sie begründende Konkreta nur bezogen werden dürfen, wenn letztere wirklich gegeben sind, 2. psychopathologisdi nicht, weil eine Schizophrenie nur auf der Basis von Phänomenen, die schizophrene Symptome direkt anzeigen, diagnostiziert werden kann. Wenn psychische Phänomene erst einmal verarbeitet sind, etwa zu charakterlichen Techniken oder geistigen „Formeln", können sie jede seelische Ausgangslage - also keine mehr - anzeigen. Hegel hat Heautoskopie, Elevation oder ein
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Ichstörungserlebnis unmittelbar nie beschrieben. Die von Treher angeführten Belegstellen sind abstrakte Versuche Hegels, das Subjekt-Objekt wirklich, d.h. als Idee, zu denken. Diese Abstraktion der Idee - denktechnisch muß sie als Abstraktion gesehen werden - ist gegenüber schizophrenen Erlebnissen oder schizophrenem Denken nicht nur kategorial, sondern eben audi psychologisch und psychopathologisch völlig different. Ein Beispiel für eine solche unzulässige Deutung sei noch angeführt: Treher greift aus der Auseinandersetzung Hegels mit Schelling eine bestimmte Formel heraus: die der Selbstoffenbarung der Philosophie als „Erkennen des Anschauens". Diese Formel steht für Treher am Anfang der pathologischen Entwicklung Hegels. In Wirklichkeit ist das „Erkennen des Anschauens" denktechnisch eine Abstraktion, nichts weiter. Evtl. sdiizophrenieverdächtig wäre die Formel erst als „Anschauen des Erkennens", als erlebte, gesehene Verdopplung des Subjekts. Hegels Formel ist gerade psydiopathologisch unverdächtig. Es kann also festgehalten werden, 1. daß Treher keine Textstellen Hegels vorlegt, denen zufolge man sicher annehmen oder auch nur vermuten kann, daß Hegel solche Erlebnisse gehabt hat, die die Ansetzung schizophrener Symptomatik erwägbar scheinen ließen, 2. daß die von Treher versuchten Belege aus dem Denken Hegels aus logischen und psychopathologischen Erwägungen unzulässig sind. Möglicherweise würde Treher sich dadurch in seiner Argumentation aber nicht tangiert finden, weil er über ein von der heutigen Forschung abweichendes Schizophreniemodell verfügt: Für ihn gibt es nämlich noch eine Grundstörung der Schizophrenie. Sie besteht ihm zufolge darin, daß die Kranken als Individuen unter Bildung einer Privatzeit auseinandergerissen werden, wobei es zur Gegenüberstellung eines Ichs und eines hypostasierten Gegenichs kommt. Die allgemeine Gegenwart werde den Kranken dabei undurchdringlich. „An ihr als Widerstand splittert die Seele auf und zerfasert sich, dabei immer fortwadisend und die Zahl der Trümmer vermehrend . . . Die Seele ohne Weltanschluß, der die Gegenwart zum undurchdringlichen Hindernis erstarrt ist, verfällt der autoaggressiven Auflösung mit bilateral symmetrischer Verteilung der Spaltprodukte. . . Gemäß ihrer Verteilung auf zwei widersetzliche Hälften halbiert sich aus der Sicht des Kranken auch die Masse der Projektionsobjekte, womit die schizophrene Weltanschauung, die Hälftung der Mitmenschen in gute und böse, entstanden ist." (Treher 1969, 123 f.) Der Defekt der Grundstörung wird unter Bezug auf die angebliche Verarbeitung bei Hegel folgendermaßen beschrieben: „Die am Anfang der schizophrenen Psychose stehende Seelenzerreißung hinterläßt zwei im Verhältnis gegenseitiger Verneinung befindliche, miteinander unverträgliche, ,feindliche' Seelenhälften, mit denen sich das Ich des Kranken im Pendelschwung abwechselnd vereint. Der Pendelschwung blendet das Ich ab gegen die Tatsache der ständigen Gegenwart und Simultaneität der Autoaggression auf beiden Seiten der gespaltenen Seele und erlaubt ihm die Interpretation dieser Auseinandersetzung, wenn sie als ,Denken' empfunden wird, als zeitliche Folge logischer Widersprüche." (Treher 1969, 232)
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Wie schon im Abschnitt „ Problemspezifische Resultate der klinischen Psychopathologie" dieses Paragraphen dargelegt wurde, hat die wissenschaftliche Schizophrenieforsdiung seit dem zweiten Weltkrieg den Gedanken an eine einheitliche Grundstörung aufgegeben. Was Treher als soldie ausgibt, kann den gestellten Anspruch audi nicht erfüllen. In der Phänomenalität war die „Seelenzerreißung" Bleuler und Jaspers übrigens zur Genüge bekannt; sie wurde von ihnen sowie von Gruhle und Sdmeider aber keineswegs als begründende Störung aller Schizophrenien angesetzt. Trehers „Grundstörung" füllt nicht einmal den Bereich eines Primärsymptoms oder eines Symptoms ersten Ranges aus, ist nicht einmal phänomenal typisch schizophren: Ein zerrissenes Individuum, das den Zeitkontakt (Synchronizität) mit den Mitmenschen verliert, dann - um mit Goethe zu sprechen - „heimlich seinen eigenen Wert aufzehrt", dann die Menschen in gute und böse einteilt und von sich sehr gut denkt usw., enthält noch keine speziell schizophrene Symptomatik, sondern könnte ohne weiteres als asthenischer Psychopath sensu Kurt Schneider mit misanthropischer Einstellung aufgefaßt werden. Es ist u. a. deswegen abwegig, in Hegels Philosophie eine Verarbeitung der Grundstörung der Schizophrenie zu sehen, weil es diese Grundstörung nicht gibt. Deswegen kann auch die Bewegung These-Antithese-Synthese nicht deren Bearbeitung sein, während Treher sie sich folgendermaßen vorstellt: „Die Entdeckung der Trias als eines angeblichen Grundgesetzes der Natur, aller lebendigen und zumal der weltgeschichtlichen Entwicklung wird als Hegels ,geniale' Leistung gepriesen. Es handelt sich dabei aber bloß um die zu einem philosophischen' System ausgebaute schizophrene Grundstörung, nach welcher so lange vergeblich gefahndet wurde. Hegels Beschreibung folgend, fassen wir die Grundstörung als eine Dreiecksfigur auf, die das Ich durchläuft, wenn es, zwischen den Hälften seiner geborstenen Seele pendelnd, zugleich über ihnen mittelständig in die Höhe steigt." (Treher 1969, 214) Die Fixierung und Benennung der akuten Seelenzerreißung wäre die These und die Antithese, die der Lévitation ergäbe die Aufhebung bzw. die Synthese, die sich über das ihr Vorausgehende „erhebt". Auch deskriptiv-psychologisch und psychologiegeschichtlich ist diese Interpretation ganz abwegig. Der Versuch, polare Typologien aufzustellen, ist uralt und entspringt dem verständlichen Bedürfnis, nach dem Prinzip des Konträren zu ordnen. Es handelt sich dabei um einfache, verstehbare Techniken, die mit Schizophrenie nichts verbindet. Die Bearbeitung der Polarität mittels eines dritten Moments - bei Hegel der Synthese - ist ebenfalls psychologisch unauffällig: Einmal gibt es dafür in der Geschichte des Abendlandes die überragende Vorstellung der göttlichen Trinität; ferner kann sie auch rein formal als Fixierung zwischen den Polen oder als Abweichung von der Polgeraden verstanden werden. Aus der Geschichte der Psychologie sei für dieses letztgenannte Verfahren nur ein Beispiel angeführt: Von dem Ganzheitspsychologen Friedrich Sander wurde - ohne Bezug auf Hegel, aber unter direkter Berufung auf Goethe - eine Morpho-
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typologie der Persönlichkeit entworfen, die drei Typen kennt, den ganzheitlichen und den seiner Negation, den einzelheitlichen, sowie einen dritten Typ, in dem die beiden ersten aufgehoben sind. Dieser dritte Typ ist in Sanders Schema im sog. „erhöhten Mittenbereich'" zwischen den beiden anderen angesiedelt; er erlebt und schafft Gestalt, verbindet Ganze und „Teilganze" in plastischer Durchdringung usw. (vgl. Sander 1932, 1952 und 1955) Sander nannte seine drei Typen G, E und GE. Im Rahmen der Möglichkeiten der Typologien kann man seinem Ansatz sicher nicht den Vorwurf der Bizarrerie oder Verstiegenheit machen, eher den blasser Formalität. Einfache Schemata, wie es die der Polarität oder der Trias sind, gehören zum Verlauf und zum Bedürfnis des allgemein menschlichen Denkens und Erlebens. Eine besondere Beziehung zu einer Störung in den Schizophrenien haben sie nicht. Nachdem Treher also 1. keine Textstellen aus Hegels Werk beibringt, die direkten Bezug zu einem schizophrenen Prozeß aufweisen, 2. angebliche Belege aus dem Denken Hegels gibt, die aus logischen und psychopathologischen Gründen zurückgewiesen werden müssen, ist 3. auch die Zuhilfenahme einer schizophrenen Grundstörung nicht zulässig, weil a) die Forschung eine einheitliche Grundstörung nicht oder nicht mehr anerkennt (und Trehers „Grundstörung" beispielsweise auch auf Psychopathien bezogen werden könnte) und b) das angebliche Ergebnis der angeblichen Grundstörung bei Hegel Ausdruck allgemein bekannter Denkbewegungen und Denkbedürfnisse ist. Es sind 4. noch einige weitere Einzelheiten zu betrachten: In der Jenenser Naturphilosophie entwickelt Hegel eine logische Kosmogonie, in der die Erde als „lebendiges Individuum" auftritt. Diese Betrachtung findet Treher auffällig wegen der personifizierten Erdevorstellung. Solche Erdemythologie ist aber keineswegs besonders verdächtig; sie findet sich in den Inhalten Schizophrener nicht häufiger als in ursprünglichem, d. i. erstmalig bearbeitendem, und in neurotischem Denken. Einerseits gehört zu allen großen Mythologien auch eine Erdemythologie, andererseits gibt es im neurotischen Denken eine häufige Symbolisierung der Mutter als Erde (vgl. Freud GS 8, 290; GS 11, 165; GS 12, 305); und noch das zivilisierte Denken begreift den unmittelbaren Zusammenhang zwischen „der" Erde und „dem" Tod. Personifikation der Erde und nachfolgende gedankliche Bearbeitung sind psychopathologisch durchaus unspezifisch. Die triadische kategoriale Progression versteht Treher als Bearbeitung eines Levitationserlebnisses, das Hegel gehabt haben soll: „Das kreisende Ich steigt höher. Dieses Levitationserlebnis wird häufig lustvoll erlebt. Kranke, die es nicht mehr missen wollen, weichen den Widerstandserlebnissen, die das Ich-Kreisen und damit die Lévitation provozieren, nicht mehr aus, sondern suchen sie auf. Vom Zenit ihres Himmelsgewölbes aus genießen sie das Gefühl der Erhabenheit über alles Irdische." (Treher 1969, 132) Die Bearbeitung dieses Erlebnisses sei bei Hegel die triadische Progression: „Hegels Levitationserlebnis steckt . . . im Begriff des Aufgehobenwerdens." (Treher 1969, 223) Ein Bezug zwischen der Kategorie der Aufhebung in Hegels System und schizophrenen Denkprozessen ist
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jedodi nicht herstellbar; vielleicht konnte Treher ihn nur deswegen annehmen, weil ihm ein Mißverständnis des Begriffs der philosophischen Aufhebung unterlief. Er unterstellt dem Aufhebungsprozeß nämlich, daß er überhaupt nicht aufhöre, weil das Aufgehobenwerden immer neue Bewußtseinsstufen erschließe (vgl. Treher 1969, 223), und dies entspreche der Lévitation. Auf der Stufe des absoluten Geistes kommt die Aufhebungstektonik indessen dodi zum Abschluß; dieses „vernünftige" Ende des Prozesses ist mit schizophrenem Erleben unvereinbar. Es trifft zu, daß Hegel den Möglichkeiten der Sinnlichkeit, der Anschauung usw. skeptisch gegenübersteht. Dazu ist er in seiner Theorie wegen deren Unvermitteltheit für das Denken gezwungen. Hegel betreibt insofern eine gnoseologische Restriktion der Möglichkeiten der Sinnlichkeit, nicht eine ethische oder moralische. Nur die letzteren könnten aber psychologisch Verdacht erregen. Ontologisches Denken, das die Sinnlichkeit herabsetzt, ist seit Piaton in der Philosophiegeschichte bekannt. Ein Haupttyp des Denkens ist bei seinem Wiederauftreten in einem individuellen Fall psychologisch völlig unspezifisch. Hegels Stil wird des öfteren nicht nur dunkel, kondensiert, schwer, sondern auch verworren genannt. De Wette bezeichnete Hegel als den verwirrtesten Kopf, den er kenne, (vgl. Ber 117) Savigny schrieb von schiefem, verkehrtem, verworrenem Benehmen und Reden in allen nichtwissenschaftlichen Dingen, (vgl. Ber 240) Prinzipiell ist der Vorwurf der Verworrenheit psychopathologisch eher verdächtig als die Schimpfkanonaden, wie sie von Schopenhauer stammen. Schopenhauer greift die angebliche philosophische Sinnlosigkeit des Werkes an; Verworrenheit bezeichnet dagegen einen Geisteszustand oder eine Produktionsweise. Indessen ist Verworrenheit nicht eine einheitliche Erscheinung; man muß mindestens zwischen zwei Typen der Verworrenheit unterscheiden: Einmal gibt es die ringende Unklarheit, das unabgeschlossene Entwurfsdenken, das sich noch nicht verständlich machen kann, also das Denken in statu nascendi, ein andermal die manirierte Gespreiztheit, die Oberverarbeitung von Fragmenten in übersichtsloser Isolation, das ins Durcheinander und Skurrile verstiegene Denken, das sich nicht mehr verständlich machen will und kann, Denken in statu evanescendi. Nur der zweite Typ ist psychopathologisch interessant; der erste Typ gehört unter der Voraussetzung, daß alles Denken, das sich verständlich machen will, erst einmal Gestalt annehmen muß, in die Ausarbeitungsphase als Regelbedingung hinein, (vgl. Sander 1934) Im Denkgeschehen des Alltags mag diese Phase unbemerkt verlaufen; große Veränderungen in Denkgewohnheiten und -strukturen erfordern dagegen entsprechend auffällige Vorentwürfe. Sie können lebenslang begleitend auftreten oder in einer Lebensphase besonders dominant sein. Letzteres ist bei Hegel der Fall, der in Jena in und wegen der Zusammenarbeit mit Schelling in einen fruchtbaren Aufbruch des eigenen Denkens geriet: „Die Krisensituation betraf also nicht ein mehr oder weniger voll entwickeltes System, sondern ergab sich im Prozeß seiner Ausarbeitung." (Kimmerle in: HSt Beiheft 4, 1969, 47) Die Unklarheiten und Roheiten dieses status nascendi spiegeln die Jenenser Schriften. Audi in der „Phänomenologie des Geistes" befinden
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sich nodi vereinzelte Passagen, die man undurchsichtig nennen kann. Danach aber wird Hegel völlig verstehbar. Die „Wissenschaft der Logik" enthält keine unauflösbaren Stellen mehr; sie ist auf Grund ihrer Abstraktionshöhe nur nodi schwer. Die nach ihr erschienenen Werke - von Hegel selbst herausgegebene und Vorlesungsnachschriften - sind auch deutlich leichter: Sie sind strukturell plastischer als die genialischen, d. h. un-reifen Jenenser Werke und die geniale „Phänomenologie des Geistes" ; in den späten Werken hat der Begriff des Hegelsdien Philosophierens eine seiner Idee angemessene Wirklichkeit gefunden. Unklarheit und Verworrenheit im Denken Hegels sind also passager und als Vorgestalt der Bedeutung des Entwurfs und der Endgestalt angemessen; sie sind unter Gestaltungsgesetzmäßigkeiten normalpsychologisch aufzulösen. Auch die unter 4. betrachteten Einzelheiten ergeben somit keinerlei Verdachtsmomente für die Annahme schizophrener Störungen bei Hegel. Der Typ des nicht linearen, sondern dialektischen Denkens tritt im übrigen wohl häufiger auf, als seine Verächter wünschen. Seine Ausgestaltung durch Hegel ist insofern nur ein besonderer Fall seiner Geschichte. Selbst im Schizophreniemodell Trehers taucht er völlig unerwartet wieder auf: „Der schizophrene Seelenzerfall hat nidit nur den Charakter der Autoaggression, sondern auch den der Autogamie." (Treher 1969, 145) Dieser Satz hat nur Sinn, wenn in ihm die Identität der Selbstvernichtung und der Selbstverliebtheit gedacht wird, wenn er also dialektisch verstanden wird. So schleicht sich noch in eine Darstellung, die dialektisches Denken auf pathogene Prozesse zurückführen will, eine Beschreibung einer dialektischen Struktur ein. Dem Versuch Trehers, bei Hegel eine Schizophrenie auszumachen, kann in keiner Hinsicht Tragfähigkeit zugesprochen werden. Aus dem gesamten zur Person Hegels psychopathologisch befragbaren Material ergibt sich darüber hinaus kein Hinweis darauf, daß, unabhängig von diesem Versuch, nach den Regeln der klinischen Psychopathologie ein, wenn auch nur minimaler, Psychoseverdacht bestehen bleiben könnte: Im Werk Hegels und in allen Berichten der Personen, die ihn erlebt haben, finden sich weder Passagen, nodi Angaben, die ihre Auflösung auch nur in einem akzessorischen Symptom Bleulers oder einem Symptom zweiten Ranges Schneiders gestatteten. Ein phänomenographisch absicherungsfähiger Schizophrenieverdacht kann gegenüber Hegel also nicht aufrechterhalten werden. Die Annahme einer hereditären Belastung scheidet unter Bezug auf das heute bekannte Material ebenfalls aus. Biographische Analyse Die Sachlage verhält sidi aber nidit nur so, daß z. Z. keine Verdachtsmomente auf eine Schizophrenie bestehen, aber mit Hilfe noch unbekannten biographischen Materials evtl. neue Verdachtsgründe sich ergeben könnten; sondern es läßt sich auf Grund der heute bekannten Quellen darlegen, daß Hegel nidit schizophren gewesen ist. Man erinnere sich, daß es als Ausgang nach schizophrenen Perioden
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prinzipiell drei Möglichkeiten gibt: 1. den Übergang in den Defektzustand mit schwerwiegenden Veränderungen der Intelligenz und der Persönlichkeit, 2. die vollständige Spontanheilung, 3. die weitgehende Remission, deren Wahrscheinlichkeit u. a. mit der Zahl der aufgetretenen Schübe abnimmt. Zum ersten Ausgang bedarf es bei Hegel keiner Ausführungen. Zum zweiten Ausgang kann Folgendes festgestellt werden: Eine psychotische Periode ist schon für Fast-Remittierende ex post eine klar und deutlich als Krankheit erlebte Einheit. Für Spontangeheilte gilt das ausnahmslos. Sie verfügen über völlige Krankheitseinsicht, d.h. sie haben Distanz gegenüber ihren psychotischen Erlebnissen. Bei Spontangeheilten gibt es keine passive, unbewußte Nachwirkung psychotischer Erlebnisse, mit deren aufholender Verarbeitung sie weiter beschäftigt wären. Eine Heilung einer Psychose ist, wie bei jeder Krankheit, deren Ende. Werke, die nach einer Spontanheilung einer Schizophrenie geschaffen würden, hätten nichts Schizophrenes, audi nichts kryptisch Schizophrenes, mehr an sich. Sie würden sich von den Produktionen, die aus einer schizophrenen Periode stammen, auffällig unterscheiden. Einen entsprechend interpretierbaren Interpretationsbruch gibt es bei Hegel nicht. Eine schizophrene Periode aber, in der nichts produziert wurde und die mit einer Vollremission endete, wäre biographisch nicht mehr auszumachen. Man könnte sie hinsichtlich der Erfahrungswirkung auf den davon Betroffenen wie andere sehr schwere Erkrankungen auffassen, die in volle Heilung übergehen: Lebenslang das Denken undurchschaut verdrehende Einstellungen und Techniken der Welt- und Selbsterfassung hinterlassen sie nicht, höchstens die objektivierte Betrachtung in einmal einem Werk (z.B. Strauss' „Tod und Verklärung"). Heilung ist Heilung. Dabei bleibt immer noch offen, ob es nach Erkrankung an einer Schizophrenie, im besonderen an einer unbehandelten Schizophrenie, derartige Vollheilung ohne jeden Rest mindestens charakterlicher Alteration überhaupt gibt. Bleuler mit seinem Erfahrungsreichtum auch an unbehandelten Erkrankungen war skeptisch. Es „deckt eine genaue Untersuchung sogar in den besten Fällen doch eine gewisse Änderung des Charakters in schizoidem Sinne nach durchgemachter Krankheit auf." (Bleuler 1949, 311) Der dritte Ausgang betrifft die nur weitgehende Remission ohne Wiederkehr von Schüben. Dabei nimmt die Höhe und die Einsatzfähigkeit der Intelligenz keinen Schaden. Eine gewisse Bezugsschwäche zum Konkreten - auch Realitätsverlust genannt — bleibt jedoch. Und es erhalten sich, um Bleulers Worte zu wiederholen, „sonderlingshaftes Wesen, Mangel an Wärme und Aktivität in den Beziehungen, Interesseneinschränkung". Keine dieser Merkmalsgruppen ist jedoch bei Hegel nach 1806 anzutreffen. Sie sind vielmehr eindeutig zu verneinen. Hegel war kontaktfreudig und kontaktfähig; in den Beziehungen erschien er nicht eckig, sperrig, eigensinnig, „feinsinnig", aggressiv oder wie immer die Reduktion der Soziabilität aussehen mag. Er wird als ein Typ des genauen Gegenteils beschrieben: „Denn er war eine gesellige Natur und ließ seine Philosophie gern beiseite, wo er nur Erholung von der Anstrengung des Denkens suchte." (Karl
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Hegel in: Ber 452) Hegel war also gesellschaftsfreudig und zur ökonomischen Rhythmisierung seiner Arbeit in der Lage. „Immer zum Plaudern aufgelegt, suchte er wissenschaftlichen Gesprächen, obschon er sich ihnen nicht direkt entzog, lieber auszuweichen, als sie anzuknüpfen; Tagesgeschichten dagegen und Stadtgesdiwätz waren ihm oft willkommen, die politischen Neuigkeiten ließ er nicht unbesprodien, die Kunst des Augenblicks beschäftigte ihn in ununterbrochener Folge." (Hotho in: Ber 254) Bei Hegel gab es also die bei Schizoiden oft anzutreffende Verhaltenseigentümlichkeit nicht, daß sie ihre Themen zäh weiterverfolgen, auch wenn es der Situation des Augenblicks aus sozialen Rücksichten heraus unangemessen ist. Er war kein abstrahierender Debattierer. Seine Aufnahmefähigkeit und -Willigkeit für Konkreta, Nebensächlichkeiten, Belanglosigkeiten blieb ungebrochen. Er blieb „natürlich", interessiert und neugierig. Er hatte „die seltene, liebenswürdige Eigenschaft..., daß er sich zu jeder Eigentümlichkeit seiner Umgebung herab- und heranzustimmen verstand, ohne es je im Geringsten fühlbar zu machen. Keine Spur von Pedanterei mischte sich in die Unterhaltung, wenn er mit dem Künstler über die höheren Zwecke der Kunst sprach, dem Finanzmann eine edlere Tendenz seines Faches vorführte, als an die jener irgend gedacht hatte usw. Mit der zärtlichen Mutter wußte er sich gemütlich über Erziehung zu ergehen, der eleganten Dame etwas Angenehmes über die Wahl der Toilette zu sagen, auf die er - beiläufig - sich so besonders gut verstand, daß nicht leicht eine neue gewählte Parüre seiner Aufmerksamkeit entging, und er die gelegentlichen Toilettengeschenke für seine Frau immer selbst mit Sorgfalt zu wählen pflegte . . . " (Eine unbekannte Berlinerin in: Ber 447ff.) Hegel war also keiner der Besserwisser, die ihr Reich von den Thronen fiktiver Prinzipien aus errichten; ohne regulierende Pedanterie vermochte er sich auf seine Gesprächspartner einzustellen und ihnen mit Interesse zuzuhören. Es gab praktisch nichts, dem er seine Aufmerksamkeit nicht schenkte: „Er ging in Berlin täglidi spazieren . . . er ließ sich mit dem größten Anteil das Alltägliche, die Neuigkeiten erzählen, blieb stehen, lachte, verwunderte sich, widersprach. Dabei und bei allen Lustpartien, die er später eifrig besuchte, war ihm das leichte Gespräch das erwünschtere, das stete Debattieren und Suchen in Ernst und Eifer war nicht seine Sache. Auch im Theater war er sehr munter und sehr leicht befriedigt; in Geschäften langsam und peinlich, für alles Leichte war er am schwerfälligsten, weil er sich durchweg für das Schwere mit Leiditigkeit eingerichtet hatte." (Laube in: Ber 547) Abstraktes Reden um des Redens willen, eifernder Fanatismus waren also nicht Hegels Absicht. Seine Interessen waren umfangreich und intensiv; seine Aufmerksamkeit war auch der schweifenden Lockerheit fähig. Wenn er nicht philosophisch dachte, suchte er Erholung, Zersteuung. Darin war er anspruchslos; eine anspruchsvolle Rekreation wäre widersinnig und „abstrakt" - so war er auch darin im Sinne seines Denkens wirklichkeitsgerecht und vernünftig. Wie eine Konstante zieht sich dann durch mehrere Berichte die Feststellung der Heiterkeit Hegels: „Ein gleich erfreulicher Gefährte war er in Konzerten und Theatern; h e i t e r , zum Beifall geneigt, immer laut und behaglich, scherz-
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haft, und wenn es galt, selbst mit dem Mittelmäßigen der guten Gesellschaft wegen gern zufrieden." (Hotho in: Ber 254) „ . . . wir sprachen h e i t e r über sehr viele Gegenstände." (Raumer über ein Gespräch mit Hegel in: Ber 465) „Hegel ist wohl und h e i t e r , er macht wie ein anderer Lebemann gerne alles m i t . . . Diese H e i t e r k e i t , die auch auf mich beglückend übergeht, macht mich unaussprechlich glücklich." (Marie Hegel in: Ber 396) „Wir waren sehr vergnügt in seiner h e i t e r e n Gesellschaft. Er ist allerdings sehr lieb; ich habe ihn nie anders gekannt; aber auch sehr h e i t e r und unterhaltend." (Susanne v. Tucher in: Ber 402)1β Diese Berichte beweisen, daß Hegel über eine wärmende und ansprechende Heiterkeit verfügte; er war in der sozialen Relation nicht läppisch, albern, „feinsinnig", verstiegen, bizarr, kauzig, grob oder eruptiv, sondern verfügte über die Kontinuität einer gehobenen Grundstimmung 17 . Aus allen diesen Zeugnissen ergibt sich mit Sicherheit, daß Hegel nicht die leisesten Züge von Autismus, Menschenflucht, Verschrobenheit, Interessenreduktion, Arbeitsunfähigkeit usw. aufwies. Diagnostische Kontrasymptome gegen schizoide Interessenverengung ergeben sich u. a. noch daraus, daß Hegel sich auch einige Gebiete der Kunst erschloß, die von Schizoiden gerade wegen ihrer konkreten Sinnlichkeit oft abfällig beurteilt werden. Man denke an seine Liebe zur italienischen Renaissancemalerei, insbesondere Raffaels (vgl. SW 14, 114 ff.), zur holländischen Malerei („es ist der Sonntag des Lebens, der alles gleichmacht, und alle Schlechtigkeit entfernt" (SW 14, 123)), zur italienischen Gesangskunst (vgl. SW 14, 106 und 194). Diese Beispiele werden hier in psychologischer Absicht herausgegriffen. Regional sind sie verstreut gelagert. Aber gerade weil sie in keiner begrifflichen Linie stehen, sind sie psychologisch bedeutsam. Über welch gute Auffassungskraft Hegel verfügte und welcher liebevollen Plastizität in der schildernden Durchdringung er fähig war, davon gibt seine gesamte Ästhetik beweisende Zeugnisse. Hegels geistige und seelische Einfühlungsfähigkeit war sowohl gründlich als auch präzis entwickelt. Ein Individuum mit der Prägnanz solcher detaildurchdringenden, strukturenerfassenden Sachlichkeit im Verein mit emotionaler Auflockerung und gemüthafter Grundierung ist unvereinbar mit den charakterverändernden Resten der Erkrankung, die audi bei weitgehend remittierenden Schizophrenen leider ausnahmslos zu finden sind. Die Zeugnisse über Hegel nach 1805 zeigen einen Charakter, der weder originär schizoid, noch schizoid wesensverschoben ist. Hegel hat also nicht nur mit Sicherheit nicht an Schizophrenie gelitten; er hat auch charakterologisch mit dem gesamten schizoiden bzw. schizothymen Formenkreis nichts zu tun. Die Psychologie kennt jedenfalls keine habituell „heitern", „lieben", „herzensguten", „gemütvollen", „kontaktfreudigen", „-fähigen" Subsumtionen unter diesen Typ. Auch Treher sieht ein, daß der spätere Hegel nicht mehr unter „Seelenzerreißung" litt, sondern zum „genießenden Insichsein" zurückgefunden hatte (vgl. " Die Sperrungen in diesen Zitaten erfolgen zusätzlich. 17 Das Phänomen einer habitualisierten Heiterkeit wurde also bei Hegel und seiner Schwester beobachtet und beschrieben.
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Treher 1969, 211); er interpretiert dieses „Insichsein" aber als einen Genuß schizophrener Art, dessen Opfer die „autoaggressiv sich selbst verzehrende Seele" sei. Diese Konstruktion ist abwegig, denn die Schizophrenieforschung unterscheidet die prozessualen schizophrenen Schübe von den nosogenetisch nicht-prozessualen Zwischen- oder Defektzuständen. In den letzteren schreitet die Krankheit zumindest psychisch nicht fort. Im Lebenslauf Hegels gibt es aber, wie die Argumentation gezeigt hat, keine schizophrenen Schübe mit Folgewirkungen; dies wäre jedoch Voraussetzung dieser Treherschen Interpretation. Außerdem besteht eben ein unermeßlicher Unterschied zwischen dem autistischen Insichsein eines Spätzustandes und dem offenen, weltbegegnenden Insichsein eines stabil-vernünftigen Menschen. Wenige Tage nach Hegels Tod berichtet seine Frau über den „schönen heiteren Abend seines Lebens; alles von innen und außen im schönsten Einklang, glücklich befriedigt in seinem gesegneten Wirken, geliebt, verehrt und anerkannt, hat er ein herrliches Erntefest hienieden noch gefeiert." (Marie Hegel in: Ber 480) In ihrer Trauer noch beschreibt sie ihn als solide Harmonie, als befriedigten Charakter, als Einklang mit seiner Welt. Dies sind die Kontraphänomene aller Schizoformierung. Freilich sagen Marie Hegels Worte nichts darüber, ob Hegel den heiteren Frieden einfach fand, in sich und außer sich, oder ob ein Bedürfnis ihn nötigte, sich die glückliche Harmonie mühsam zu erarbeiten.
Der Niederschlag psychischer Störungen im Werk Der Versuch, die Schwierigkeiten und den Tenor des Hegeischen Werkes auf eine psychotische, im engeren Sinne: schizophrene, Geistesverfassung seines Autors zurückzuführen, kann also als widerlegt gelten. Dieser Beweis ist für Hegels Philosophie nicht so unwichtig. Zwar analysiert psydiopathologisdies Verfahren ein Individuum, nicht sein Werk; aber die Diagnose einer Schizophrenie setzt außer Verantwortung, strafrechtlich den Täter, geistesgeschichtlich den Autor. Die Kategorien der Sittlichkeit und der Zurechnungsfähigkeit entfallen mit ihrer Erhebung. Das bedeutet: der geistige Inhalt des Werkes Schizophrener bleibt zwar das, als was er sich darstellt. Ein Kunstwerk eines Schizophrenen z. B. bleibt ein Kunstwerk; es ist von sich aus nichts, das sich zu verantworten hat. Die Verantwortung des Kunstwerkes ist nicht der primäre an es zu legende Maßstab. Andere Kriterien gelten für das „Denkwerk". Rein formales Denken (Mathematik, Analytik) hat sich zwar auch nicht zu verantworten. Es hat nur richtig, nicht falsifizierbar, wiederholbar zu sein. Nicht so das philosophische Denken: Es zeugt Folgen in anderem menschlichem Denken und kann sich in seiner Begründung auf keine außermenschlich-vernünftige Autorität berufen. Deshalb treten die Forderungen der Wahrheit und der Verantwortlichkeit ihm gegenüber gleichzeitig und mit gleichem Anspruch auf. Schizophrener Geist ist aber Denken außer der Verantwortung. Mit der Diagnose Schizophrenie über einen Philosophen würde auch sein Werk - gerade soweit es Philosophie ist, d. h. eben nicht
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objektiv, also außerreflexiv, nadipriifbare Analytik ist - außer der Verantwortung gegenüber der Vernunft gesetzt. Philosophie kann sich, so wie sie sich nicht auf konsequent voll darstellbare Formalität zurückziehen kann, zu Zwecken ihrer Selbstrettung auch nicht auf Subjektivität außer der menschlichen Vernunft berufen. Der Prophet Ezechiel dagegen (vgl. die Analyse Jaspers') darf schizophren gewesen sein, ohne daß seine Botschaft darunter litte: Aus ihm redet gerade seinem Anspruch zufolge nidit Vernunft, sondern die Forderung Jahwes, der auch das zerbrochenste Gefäß des Geistes zu seinem Mund im auserwählten Volk machen kann. Würde über einen Philosophen dagegen die Gewißheit aufkommen, daß er schizophren war, wäre sein philosophischer Anspruch zumindest vorläufig außer Kraft gesetzt; dies würde jedenfalls so lange gelten, bis überholende Reflexion die in vernünftig-normalem Denken ausweisbaren Teile oder Gedanken seines Opus wiederhergestellt hätte - wenn dies möglich wäre. Wenn gegenüber einem Philosophen der Verdacht einer Schizophrenie formuliert wurde, ist seine Untersuchung also keine Esoterik: Hier hat sie das Ergebnis, daß Hegels Philosophie weiter als verantwortlich vor der Vernunft bestehen bleibt. Was hat es aber mit den schwächeren Vorwürfen auf sich, die gegen Hegel erhoben wurden: der angeblichen Gewalttätigkeit seines Denkens (Ortega), den ungelösten Konflikten (Künzli), der Harmonisierungstendenz (Wein), der Macht des Unbewußten (Jung)? Vor der Prüfung ihrer diagnostischen Zuverlässigkeit und Aussagekraft ist festzustellen, daß sie, selbst wenn sie zutreffen sollten, keinen grundsätzlichen Einwand erbringen: Denken über die Welt und die Vernunft entsteht nicht aus der friedlichen Ruhe einer sich genügenden Erfahrung heraus, sondern aus dem Sich-Wundern über Disparitäten im Verhältnis des Subjekts zum Objekt, dessen Transformation in das Erleben Konflikte und seelisdie Schwierigkeiten sind. Diese Beschreibung ist selbstredend nur roh; es genügt hier, wenn man davon ausgeht, daß philosophisches Denken nicht aus abgeschlossener Zufriedenheit heraus entsteht, sondern aus gesehener, erlebter, gefühlter Entzweiung und Differenz. Dann ist es eine verstehbare Korrespondenz, daß weit-ergreifendes Denken gewalttätig, differenzen-erblickendes harmoniesüchtig, schmerz-erlebendes konfliktverarbeitend sein kann, daß der Unüberschaubarkeit der äußeren Realität eine ebensolche der inneren Imagination (evtl. gedeutet als Einbruch eines sog. Unbewußten) entspricht. Die Bedenken von Ortega bis Jung sind also zunächst mit dem Schizophrenieverdacht überhaupt nicht zu vergleichen. In der Schizophrenie, wie in allen Psychosen, ist die exoterische Vernunft gestört oder mindestens vorübergehend funktionsuntüchtig; in Neurosen und Psychopathien ist dies eben nicht der Fall. Man kann sogar vermuten - Genaues weiß man heute noch nicht - , daß eine gewisse Adaptation seelischer Schwierigkeiten für die Produktion eines überragend Neuen günstig ist (wie es andererseits bekannt ist, daß manche Neurosen der Produktion auch hinderlich sind, Zwangsneurosen den Abschluß von Werken ζ. B. oft verhindern). Aus Befriedigung und Lust, aus seelischer Sattheit heraus wird jedenfalls kein
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"Werk gesdiafFen. Dazu sind bestimmter Druck und qualifizierte Unlust erforderlich. Von nichts anderem können zunächst die angeführten Autoren ausgehen. In der Spezifikation aber sind ihre Bedenken merkwürdig blaß. Sie legen sich nicht auf bestimmte psychische Erkrankungen (mit Namensnennung) fest. Eine Diagnosestellung oder -Vermutung wäre aber Voraussetzung für eine Erklärung, daß auf der Basis dieser oder jener Neurose oder Psychopathie eine isolierbare Perspektive in Hegels Werk eine übermäßige Bedeutung gewonnen hätte. Zu mehr als gewissen Verzerrungen im Werk führen Neurosen nicht; Neurosen Verarbeitungen erbringen keine radikal verdrehten Weltdeutungen, sondern erzwingen gegebenenfalls eine Akzentuierung, die durch Triebabwehr, Konfliktverarbeitung, Perversionsunterdrückung usw. ihre Richtungsvariation erfahren kann — wenn man den psychoanalytischen Angaben folgen will. Die oben genannten Autoren legen aber keine biographische Analyse vor, um damit zur Ansetzung einer bestimmten Krankheit zu kommen, deren entsprechend charakteristische Züge im Werk dann wiedergefunden werden könnten. Künzli verfährt sogar umgekehrt: Aus der Feststellung heraus, daß Hegel Dualismus und Skeptizismus verwerfe, „schließt" er, dies sei eine „psychisch bedingte Schutzmaßnahme zur Erhaltung seiner geistig-psychischen Integrität." (vgl. Künzli 1970, 63) In dieser Manier kann man alles und nichts verstehen, z. B. auch, daß Hegel den preußischen Staat verteidigt und gelobt habe, um seine eigenen Beamteneinkünfte zu sichern usw. usw. Zur beweisenden Eruierung einer Neurose, einer Psychopathie usw. benötigt man punktuell auffälliges biographisches Material über die Krankheitsvorgänge selbst; ein Werk ist immer vielfach bedingte Verarbeitung; von jedem komplizierten Werk aus gibt es Ahnungen in viele Richtungen, denn vieles ist in es eingegangen. So kann festgehalten werden: eine mit biographischen Belegen versehene Analyse einer nichtpsychotisdien seelischen Erkrankung Hegels, die mit Namen genannt wird und die mit bestimmten Zügen seines Werkes in Beziehung gesetzt werden könnte, ist nidit vorgelegt worden.
Die Ablehnung der objektiven Größe Auf einen bestimmten Zug in Hegels Weltbegegnung soll hier jedoch kurz eingegangen werden: Bekanntlich lehnte Hegel die lineare Progression für das Denken als „schlechte Unendlichkeit" ab. Neben logischen Argumenten gab er dafür auch eine subjektive Begründung: „Die schlechte Unendlichkeit pflegt vornehmlich in der Form des Progresses des Quantitativen ins Unendliche, — dies fortgehende Uberfliegen der Grenze, das die Ohnmacht ist, sie aufzuheben, und der perennierende Rückfall in dieselbe, - für etwas Erhabenes und für eine Art von Gottesdienst gehalten zu werden . . . In der T a t aber macht diese . . . E r habenheit nicht den Gegenstand groß, welcher vielmehr entflieht, sondern nur das Subjekt, das so große Quantitäten in sich verschlingt." (L 1, 225 f.) Aus Respekt vor den begrenzten Fähigkeiten des Subjekts, die in Hegels Theorie aber gerade seine „wirklichen" Möglichkeiten sind, muß also dieser Sicht zufolge auf
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die Anerkennung der objektiven, quantitativen Unendlichkeit verzichtet werden. Diese Begründung ist durchaus fadenscheinig, und sie geht audi mit Hegels sonstigem Denken nicht konform. (Die progressiv-lineare Unendlichkeit ist ihm grundsätzlich deswegen „schlecht", weil sie selbst nicht positiv werden kann, sondern notwendig sich selbst äußerlich verbleibt.) O b die angeführte merkwürdige Begründung Hegels etwas andeutet? Biographisch gibt es mindestens zwei ihr korrespondierende Hinweise für die subjektive Abwehr und Ablehnung äußerer Größe bzw. des Eindrucks des Unendlichen. In dem Tagebuch, das Hegel während der Alpenreise im Sommer 1796 führte, findet sich folgende Passage: „Mit der Jungfrau hangen zugleich die zwei Aiger zusammen, die kahle, oben mit Schnee bedeckte Felsmassen bilden. So nahe wir uns diesen Gebirgen befanden und ungeachtet wir sie von ihrem Fuße bis zu ihrer Spitze übersahen, so machten sie doch schlechterdings nicht den Eindruck, so erregten sie nicht das Gefühl von Größe und Erhabenheit, wie wir erwartet hatten. Nur dann schwindelt man beim Anblick einer Höhe, wenn man sich ganz am Fuße einer senkrechten Wand b e f i n d e t . . . und jetzt den Blick in die H ö h e richtet; sonst, wenn das Auge sie messen kann und sich in einiger Entfernung befindet, nicht; oder zu nah sieht es nur einen geringen Teil der Höhe." (Hegels Tagebuch der Reise in die Berner Oberalpen, in: Rosenkranz 1844, 4 7 4 f . ) Die Hegeische Argumentation hört sich nicht überzeugend an: Warum sollte das „Gefühl" der Größe und der Erhabenheit des Gebirges an die Empfindung eines Schwindels gebunden sein? In der Würdigung der Größe und Erhabenheit in den Gestaltungen der symbolischen Kunst braucht einem ja auch nicht zu schwindeln, (vgl. S W 12, 482 f.) Es ist weiterhin nicht die Regelempfindung eines Bergsteigers, daß ihn ausgerechnet am Fuße einer Wand Schwindel ankommt, vielmehr ängstigt er sich in dieser Situation vor dem Steinschlag. Bodenschwindel ist eine Ausnahmesensation. Andererseits vermittelt das Hochgebirge nicht jedem einen speziell erhabenen Eindruck. Aber dann treten andere psychische Empfindungen mächtiger Art auf. Verdächtig ist, daß Hegel nichts empfinden will, weder Schwindel, noch Erhabenheit, noch sonst etwas. Seine Tendenz ist es vielmehr, „Abstand" zu halten und mit dem Auge zu „messen" und so Distanz gegenüber den Eindrücken zu gewinnen. Diese Technik ist allerdings der seelische Regelmechanismus zur Unterdrückung und Verarbeitung äußerst starker, nicht aber schwacher Eindrücke. 18 Und überaus verdächtig ist, daß Hegel seine Deskription ausgerechnet auf den Eiger bezieht, der sonst ohne Ausnahme als „kalt", „abweisend", „erschlagend" empfunden wurde. Hegel betrachtet in seiner merkwürdigen Beschreibung einen der in der Regel furchterregendsten Orte Europas. In dieser Charakterisierung waren sich zumindest alle Reiseer18
Zusätzlich ist zu beachten, daß die visuellen und wahrscheinlich audi die klimatischen Gegebenheiten in den Zentralalpen zur Zeit von Hegels Reise gegenüber den heutigen stark differierten: damals befanden sidi die Gletscher und ihre Zungen in mächtiger Expansion. Die Moränen des Standes des rezenten Vorstoßes von 1820 zeugen davon. Hinzu trat das Phänomen der Öde und Unerschlossenheit.
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fahrungen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts einig. DenBedrohungseindrükken dieses Massivs konnte man sich anscheinend nicht entziehen. Es sei denn, die Wirkung wurde personimmanent dissimuliert und als Tedinik der Angstabwehr wurde negierende Verbalisation eingesetzt. Dann konnte es zur Angstabfuhr mittels des Medianismus der Verleugnung kommen. Wenn ein derartiger Antrieb leitend ist, können Natur, das Objektive, zumal das „unendlich" Große, überhaupt alles, was dem Menschen als gewaltig und in sich fest gegenübertreten kann, in ihrer Bedeutung herabgesetzt werden, um das geängstigte Subjekt wieder zu stabilisieren. Eine andere Szene, in der von Hegel objektive Größe verkleinert wird, findet sidi bei Heine, wobei allerdings die Phantasie dieses Autors in Rechnung gestellt werden muß: „Ich sprach mit Schwärmerei von den Sternen, und nannte sie den Aufenthalt der Seligen. Der Meister aber brümmelte vor sich hin: ,Die Sterne . . . sind nur ein leuchtender Aussatz am Himmel.'" (Heine in: Ber 234) Auch dies ist eine Verkehrung eines Regeleindrucks in sein Gegenteil : Die Empfindung der Erhabenheit wird in eine der Ekligkeit transformiert; der Eindruck der Unendlichkeit wird in Widerlichkeit konvertiert: Aussatz ist fest assoziiert mit: zu beseitigender „Schmutz" (medizinisch und sozial („Aussatz der Menschheit, Mob")). Ohne die Annahme starker Angst, zu deren Abwehr durch Verleugnung des majestätisdi Drohenden und des gewaltig Erhabenen diesen objektiven Phänomenen gegenüber Distanz erzeugt wird - wobei in den Ekelvorstellungen der Schauder des Subjekts dennoch klar erscheint - , sind Herabsetzungen wie die von Hegel vorgenommenen kaum zu verstehen. Die Vorstellung der objektiven Unendlidikeit, die unheimliche Steilheit des Eiger, die Unzählbarkeit der Sterne sind beunruhigende oder erhabene Phänomene. Wenn der Mensch derartige Erscheinungen nicht verträgt, dann kann er sie mit der Technik seiner Wörter versuchsweise sich gegenüber herabsetzen; so nennt er sie schlecht oder klein oder er leugnet sie einfach, spricht ihnen jede selbständige Bedeutung ab, spricht sie sich selbst zu: „Das Subjektive muß als das in sidi selbst Unendliche und Anundfürsichseiende aufgefaßt werden, das, wenn es audi die endliche Wirklichkeit nicht als das Wahre bestehn läßt, sich doch nicht im bloßen Gegensatze gegen dieselbe negativ verhält, sondern ebensosehr zur Versöhnung f o r t g e h t . . . " (SW 13, 119) Zu diesem Anspruch paßt vortrefïlidi die von Lassalle überlieferte Variante der Heineschen Sternerzählung. Ihr zufolge hat Hegel die Worte gesprochen: „Die Sterne sind's nicht; dodi was der Mensch hineinlegt, das eben ist's." (vgl. Lassalle in: Ber 236) Seine „wahren" Sterne trägt der Mensch so in sich.
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Das Bedürfnis der Heimholung Das Subjekt kann diese Versöhnungsleistung allerdings nur vollbringen, wenn die natürliche Wirklichkeit als prinzipiell in die Subjektivität heimführbar aufgefaßt wird; deswegen darf die Natur nicht außer der Idee sein, sondern sie muß das Außersichsein der Idee selbst bedeuten. Als solche kann sie vom Geist bearbeitet werden, weil sie ihm prinzipiell unterlegen ist: „Als die unterscheidende Bestimmtheit des Begriffs des Geistes muß die Idealität, das heißt, das Aufheben des Andersseins der Idee, das aus ihrem Anderen in sich Zurückkehren und Zurückgekehrtsein derselben bezeichnet werden." (SW 10, 20 f.) Die Aufgabe des Geistes ist also das Tun, das Geschehenmachen der Idealität. Dieses Tun kann von sich aus nicht aus Kompromissen bestehen oder pragmatisch verfahren. Das Nicht-mehr-Ideelle und das Noch-nicht-Ideelle der Welt müssen radikal aus der Äußerlichkeit ihres Daseins erlöst werden. „Dies geschieht erst im Geiste, der eben durch diese in ihm zu Stande kommende Uberwindung sidi selber von der Natur unterscheidet... Diese zum Begriff des Geistes gehörende Aufhebung der Äußerlichkeit ist das, was wir die Idealität desselben genannt haben. Alle Tätigkeiten des Geistes sind nichts als verschiedene Weisen der Zurückführung des Äußerlichen zu der Innerlichkeit, welche der Geist selbst ist, und nur durch diese Zurückführung, durch diese Idealisierung oder Assimilation des Äußerlichen wird und ist er Geist." (SW 10, 24) Die Tätigkeit des Geistes nützt in diesem Entwurf der Natur und ihm selbst: Jene wird heimgeholt; er selbst aber gewinnt Einsicht in seinen Unterschied von der Natur, indem er diesen Unterschied in sich selbst herstellt. Während er dies für sich bewirkt, setzt er das Nur-Äußerliche der Natur herab oder negiert es, gewinnt dadurch freie Verfügung über das, was er von ihr für sich bewahrt, das er schließlich zu sich aufhebt. So wird der Geist frei von der Natur: indem er sie ideell setzt - spricht der kategoriale Gedanke; indem er sie aus dem Äußerlichen ins Innerliche zurückführt - spricht die idealistische Durchführung; indem er seine Angst als Natur durchschaut - spricht der Geist, der von seiner Gefährdung durch die Natur weiß. Angst und Furcht sind Anerkennung der Superiorität der Natur. Will der Geist ungefährdet und ungeängstigt leben, dlarf er diese Superiorität nicht bestehen lassen; er muß sie vielmehr abarbeiten. Dem Geist angemessen ist keine Symptomtherapie, nur Kausaltherapie, diese aber nicht in der Form der Natur, als kausale, sondern in der des Geistes, als finale. Geistige Therapie der Angst wäre einzig ihre Verneinung, ihre Auflösung in die Finalität des Geistes selbst, nicht ihre Lavierung in der Hoffnung auf ihr zufälliges Untergehen. Der Geist, der sich radikal als „Zurückführung des Äußerlichen zu der Innerlichkeit" verstehen will, kann sich nur noch als Nur-Tätigen auffassen, das πράττειν ist sein λόγος. Die ontologische Fassung dieser Nur-Tätigkeit müßte aber eine andere als die ihrer anthropologischen Gewöhnlichkeit sein: Die ruhelose Tätigkeit des Individuums ist immer in der höchsten Gefahr, nichts als
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blinde Betriebsamkeit zu sein, und dies in selbst-loser Veräußerlidiung. Die Tätigkeit des Geistes soll gerade nur Zurückführung und Versöhnung sein. „Das wahrhaft Substantielle, das zur Wirklichkeit zu gelangen hat, ist aber nicht der Kampf der Besonderheiten, wie sehr derselbe audi im Begriffe der weltlichen Realität und des menschlichen Handelns seinen wesentlichen Grund findet, sondern die Versöhnung, in welcher sich die bestimmten Zwecke und Individuen ohne Verletzung und Gegensatz einklangsvoll betätigen." (SW 14, 530) Die Rückkehr der Idee aus ihrer Äußerlichkeit zu sich ist Versöhnung mit der Äußerlichkeit in deren Vernichtung im Geist. Dieser Vision zufolge erreicht der Geist es auch, die äußerliche Unendlichkeit aufzuheben; damit erledigt sich die Gefahr der perennierenden Bedrohung durch „schlechte" unendliche Objektivität für ihn. „Der Geist fängt von dem Äußeren nur an, bestimmt dies und verhält sich fernerhin nur zu sich selbst und zu seinen eigenen Bestimmungen." (SW 3, 200) Der Geist schafft sich durch seine Tätigkeit in sich schließlich ein nicht mehr bedrohbares Refugium; er spricht nur noch mit seinesgleichen; Äußerlichkeit und Natur sind dann kategorial fest gezähmt und unterworfen. Seine alles versammelnde Beruhigung in sich hat ihm sein absolutes Wissen verschafft. Auch die Philosophie ist dann an ihr Ende gekommen. Ihren Anfang hatte sie in der Unruhe der Zerrissenheit, dem Aufkommen von gegeneinander fest gewordenen Gegensätzen, in entstandener Dualität: „Wenn die Madit der Vereinigung aus dem Leben der Mensdien verschwindet, und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben, und Selbstständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie." (SW 1, 46) Hegel selbst gibt also eine psychologische Begründung des Bedürfnisses der Philosophie, u. z. mit Hilfe einer Zerfallsmythologie, in der urtümliche Ganzheit sich in beziehungslose Elementarität verliert; Hegel geht somit nicht von einer ontologischen Begründung des philosophischen Fragens aus. „Entzweiung ist der Quell des Bedürfnisses der Philosophie." (SW 1, 44) Merkwürdig ist dabei, warum und wie gerade die Entzweiung die Initiierung der Philosophie zustande bringen soll. Entzweiung ist schließlich ein psychologisches Faktum, keine ontologisdie Kategorie. Zweiheit wäre - verstanden als Diskontiguität - dagegen eine ontologisdie Kategorie. Müßte man Entzweiung, wenn man sie ernstlich denken wollte, nicht in Zweiheit fundiert denken? Ohne Zweifel wäre dies notwendig, wenn es - gewünscht würde, wenn es nicht den Entwurf stören würde. Ihm zufolge soll Entzweiung ja gerade nicht als selbständiges, evtl. irreversibles Moment gedacht werden. Sie hat nur den Rang eines Anlasses, nämlich u. a. den der Initiierung der Philosophie. Nachdem Entzweiung bei diesem Werk behilflich und nützlich war, muß sie selbst auch aufgehoben werden. Keinesfalls darf sie in unvermittelter, autonomer Zweiheit fundiert dann nodi für sich weiter bestehen. Philosophie wird so psychologisch veranlaßt ans Werk gehen, zuletzt als zerrissenes Bewußtsein der Neuzeit. „Wenn die moderne Philosophie sidi personifizierte, sie müßte Hegels Gestalt und Physiognomie annehmen, seine äußer-
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lidi scharf ausgeprägt gewesene sehnsüchtige, wehmütige, ewig strebende Vernunftseligkeit, die nodi nicht zur Auflösung in die Glaubensseligkeit gekommen ist." (Jacoby in: Ber 439) Die historische Bedingung der Philosophie ist so das gewordene Außersidisein des Geistes; die psychologische Inszene der Philosophie ist kein Tadel, kein Makel, sondern selbst wiederum ontologisches Erfordernis. (Ein Makel ist sie in Hegels Sicht n u r für solche Philosophien, die ihren Anfang nicht in ihrem Ziel rechtfertigen können. D a f ü r gebührt ihnen - von einem kritischen, systemfreien Standpunkt aus gesehen - die Anerkennung f ü r ihren Verzicht auf ein „Ziel" und auf „Rechtfertigung" eines ganzheitlichen Entwurfs.) Ist die Aufgabe der Philosophie aber die Erlösung und Befreiung von der Äußerlichkeit („Alle Tätigkeiten des Geistes sind nidits als verschiedene Weisen der Zurückführung des Äußerlichen zu der Innerlichkeit"!!), kann und muß ihr Beginn ein geringwertiger sein, den es zu überwinden gilt, z. B. Entzweiung. In der Entzweiung ist die Feststellung der Macht des Andern die Angst, ist die Sehnsucht nach Beseitigung des Entzweienden und Wiedererrichtung des Früheren als Schöneren und Besseren die Nostalgie. 19 Angst und N o stalgie sind psychisch Phänomene einfacher Anerkennung. Ihnen selbst wohnt keine Negativität inne. (Noch das Nichts in Heideggers Entwurf wird in der Angst anerkannt, nicht negiert.) Ihre anthropologische Faktizität widerspricht der Finalität der Hegeischen Systematik. In Hegels Leben gibt es auch mehrere deutliche Hinweise auf nostalgische Phänomene. Als Belege seien einige Stellen aus Briefen an seine Frau von der Reise zum Rhein und in die Niederlande vorgelegt. Aus Magdeburg am 15. 9. 1822: „Mit diesem frohen Gedanken, Euch Lieben bald wieder zu sehen, bin ich dann eingesdilafen . . . (Wenn es stimmt, was manche Therapeuten annehmen, daß nämlich die Traumreste des Einschlaf Vorganges die „eigentlichsten" und „besonderen" Bedürfnisse eines Individuums bezeichnen, dann sei hier darauf verwiesen, daß Hegel in dieser Situation 1. „Liebes" 2. „Wiedersehen" wollte.) . . . ich bin in der Tat mit größerem Widerwillen, als ich sagen durfte, auf die Reise gegangen, und wenn ich das Geld nicht schon erhalten •hätte, schwer darauf zu bringen gewesen . . . " (Br 2, 340) Aus Kassel am 18. 9.1822: „ . . . ganz außer Sorgen aber kann ich nicht sein, und auch sonst habe ich mich mit großem Widerwillen auf den Weg gemacht und reise eigentlich nur fort, weil ich einmal auf der Reise bin und sein soll." (Br 2, 344) Aus Köln am 28. 9 . 1 8 2 2 : „ . . . wenn es nur nicht so weit nach Hause zu Euch gewesen wäre, vollends wenn idi midi nicht vor den Postwagen gefürchtet hätte, wäre ich flugs bei Euch angekommen. Ich reise dodi im Ganzen nur aus Pflicht und Schuldigkeit und hätte hundertmal mehr Befriedigung und Genuß, wenn ich meine Zeit zwischen meinen Studien und Euch teilen könnte. . . . Insoweit bisher gotdob alles gut; . . . wenn ich nur nicht so weit von Euch und den lie19
Dieser Begriff wird hier in seiner psydiopathologisdien Bedeutung gebraucht. Es ist ein bekanntes Phänomen, daß psydiopathologisdie Begriffe manchmal vom Zeitgeist bis zur Sinnlosigkeit verallgemeinert werden.
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ben Jungen wäre." (Br 2, 352 ff.) Aus Brüssel am 3.10.1822: „So siehst Du nun, meine Liebe, daß ich am Ziele meiner Reise, d. i. ungefähr am entferntesten Punkte derselben bin, - ungefähr, denn es wird wohl noch eine kleine Exkursion in die Nachbarschaft geben, aber meine Hauptrichtung wird nun nach Haus, nach Euch zu sein." (Br 2, 354) Aus Amsterdam am 12. 10.1822: „Jetzt denke idi an den Rückzug, - Tag und Nacht werde ich nach Hamburg eilen." (Br 2, 363) Auf dieser ganzen Reise mußte Hegel anscheinend immer an „zu Hause" denken, an Rückkehr, an Aufhebung des Entzweiten. - Auf der nächsten Ferienreise nach Wien fühlte er sich wohler; Wien zeigt ja auch nichts Schreckenerregendes oder Gewalttätiges. Hegel gefielen die gemütlichen Gassen des I. Bezirks, die liebliche Umgegend, die heiteren Volksgärten; dazu genoß er den sinnlichen Wohlklang der italienischen Oper. In der Tat, bei Rossini und Bellini hat noch niemand Gefühle der Entzweiung gespürt. Die Reise nadi Paris im Jahre 1827 scheint dagegen seelisch wieder verunglückt gewesen zu sein. Hegel „litt" in der „ungeheuren" Stadt, ihre „kolossalen" Entfernungen bedrückten ihn, durch die „gewaltigen" Eindrücke fühlte er sich erschlagen. Er bekam eine Magenstörung, für die er das Seinewasser verantwortlich machte. Schon Kuno Fischer fand für das Reiseverhalten Hegels die klare Formel, daß Hegel „beständig auf der Rückreise begriffen war". (Fischer 1911, I, 166) Der Inhalt der o. a. Zitate ist auch durchaus auffällig: Ein Mann von gut 50 Jahren macht nach vieljähriger Ungetrenntheit von seiner Familie einige Reisen ohne seine Angehörigen; er genießt sie nicht als eine erholsame Unterbrechung, sondern jammert bei jeder Gelegenheit, d. i. in fast jedem Brief, über die Trennung; er leidet also heftig unter Heimweh. Akute Anlässe dafür gab es aber nicht. Hegels Reisestimmungen zeigen kein starkes Ich, sondern eines, das Anlehnung wünscht, Unzertrenntheit ersehnt, des Friedens des Wohlseins bedarf. ( „ . . . ich bin einesteils ein ängstlicher Mensch, andernteils liebe ich die Ruhe . . ." (Br 2, 272) Die Trennungsangst scheint bei Hegel sehr stark gewesen zu sein.20 In der Theorie ist die dem Geiste angemessene Abarbeitung der Trennungsangst die Aufhebung der Entzweiung durch gedankliche Heimholung desjenigen, was substantiell gegen ihn zu sein scheint. Als subjektiv-individueller ist der Geist dieser Aufgabenerfüllung aber nicht immer fähig, da seine naturale Inkorporation ihren Tribut verlangt. So ist er in der Gefahr, sich entgegen seiner Bestimmung auch selbst untreu werden zu können, seine Aufgabe hin und wieder zu vergessen. Er kann sich z. B. in eine nur momentane Befriedigung flüdi20
Reaktiv kann Nostalgie bei Männern vornehmlich in Lebenskrisen auftreten. Zwingmann gibt als spezifische Lebenskrisen besonders das Sdrwinden der Einkünfte und das Verebben der geistigen Produktion an. (vgl. Zwingmann 1962, 322) Beides war bei Hegel in den Jahren 1822-1827 erwiesenermaßen nicht der Fall. Es waren die Jahre seines größten Erfolges. Die nostalgischen Phänomene können deshalb bei ihm nicht als situativ reaktiv angesehen werden, sondern müssen als habitualisiert gelten.
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ten, indem er Differenzen und Konflikte einfach beiseite schieben will. Das gelingt ihm aktuell im Lustspiel (wobei man bedenken darf, daß das gesungene Lustspiel, insbesondere die Opera buffa, noch über das zusätzliche Quietiv des Wohllauts verfügt): „Was dies Selbstbewußtsein ((des Lustspiels, d. i. der Komödie im engeren Sinne)) anschaut, ist, daß in ihm, was die Form von Wesenheit gegen es annimmt, in seinem Denken, Dasein und Tun sich vielmehr auflöst und preisgegeben ist, es ist die Rückkehr alles Allgemeinen in die Gewißheit seiner selbst, die hiedurch diese vollkommene Furcht- und Wesenlosigkeit alles Fremden, und ein Wohlsein und Sidi-wohlsein-lassen des Bewußtseins ist, wie sidi außer dieser Komödie keins mehr findet." (Phän 520) In der Komödie besteht nicht die Gefahr, daß Zerrissenheit substantiell würde; nur die ScheinForm der Wesentlichkeit wird durchgespielt; so labt sich das Bewußtsein in ihr an gespielter Differenz, die weder ernst ist, noch Neues bringt: In nicht beeinträchtigter Heiterkeit geriert sich ein triadischer Scheinkonflikt: die These der Ausgangslage (1. Akt) gerät in eine radikale Schein-Gefahr (2. Akt), so daß nichts anderes übrig bleibt, als die Ausgangslage wiederherzustellen und dabei eine Überhöhung vorzunehmen (3. Akt). Während dieses Ablaufes sieht sich das Bewußtsein nie gefährdet: Es weiß, daß während der komödiantischen Handlung nichts Wesentliches geschieht, daß nichts sich verändert. Das Lustspiel ist einer der wenigen Vorgänge in der Welt, in denen das Bewußtsein keine Angst vor gefährdend Neuem haben muß. Das Wohlsein der Komödie schließt aber zwei Nachteile ein: es ist ein nur-momentanes, und es ist nur gespielt. Darin gleicht es dem Wohlsein des Plauderns: auch in ihm wird das Auftreten jedes wichtigen Konflikts nach den Regeln der Konversation unterdrückt. Im Plaudern fühlt man sich „behaglich", übertönt Sorgen mit „lauter Alltäglichkeit", die aus „Tagesgeschichten" und „Stadtgeschwätz" zusammengesetzt ist; das „leichte Gespräch ist dann das erwünschtere". (Vgl. die oben angeführten Dokumente.) Auch das Plaudern enthebt der Gefahr des möglicherweise hereinbrechenden Neuen in seiner Beschränkung auf die Wiedervorführung bekannter Wirklichkeit; auf Dauer aber vermag es nicht zu beruhigen. Das Bewußtsein, das den perennierenden Frieden will, kann weder in der Komödie noch im Plaudern befreit werden - zeitlich nicht und bestimmungsmäßig erst recht nicht. Von seinem Auftrag her müßte es sich zu diesem Zweck nur auf die Abarbeitung des ihm Entgegenstehenden stürzen. Im Gegensatz zu diesem Auftrag kann aber sogar der Fall eintreten, daß das Bewußtsein die Abarbeitung aufgibt, seinen Auftrag wegwirft, nicht die Äußerlichkeit heimholt, sondern sich an die Äußerlichkeit hingibt. Dies kann in vielfachen Variationen geschehen. (Hier kommt es nur auf biographisch belegbare an.) Der subjektive Geist kann sich z. B. das Vergessen seiner Aufgaben lustvoll ausmalen, er kann darüber sinnieren, wie er die Entzweiung durch Hingabe seiner selbst an die Natur aufheben könnte: „Sich einzunisten, einzugraben, ist natürlicher als auszugraben, das Material erst zu suchen, zusammenzutürmen und zu gestalten. Man kann in dieser Rücksicht die Höhle sich als
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früher entstehend vorstellen als die Hütte." (SW 13, 289) „Natürlicher" ist dies, obschon auch dabei noch oder sdion gestaltende Tätigkeit am Werk ist. Noch „natürlicher" ist es deshalb, die gestaltlos-verfließende Hingabe selbst zu denken: „Es gibt kein Gefühl, das dem Verlangen nach dem Unendlidien, dem Sehnen, in das Unendlidie überzufließen, so homogen wäre, als das Verlangen, sich in einer Wasserfülle zu begraben; der Hineinstürzende hat ein Fremdes vor sich, das ihn sogleich ganz umfließt, an jedem Punkte seines Körpers sich zu fühlen gibt; er ist der Welt genommen, sie ihm; er ist nur gefühltes Wasser, das ihn berührt, wo er ist, und er ist nur, wo er es fühlt; es ist in der Wasserfülle keine Lücke, keine Beschränkung, keine Mannigfaltigkeit oder Bestimmung; das Gefühl derselben ist das unzerstreuteste, einfachste . . . Im Untergetauchten ist nur Ein Gefühl, und die Vergessenheit der Welt, eine Einsamkeit, die alles von sich geworfen, allem sich entwunden hat." (Theol 319) Dies ist Hegels Deskription der untergangssüchtigen Vorstellung des Typs „Unbewußt - höchste Lust". Die Plastizität der Schilderung erweist die Bekanntheit solchen Gefühls: die Lösung aller Probleme wäre für es die Auf-Lösung im bedingungslos Mäditigeren der flüssigen Natur. 2 1 Die Heimwehdokumente und die „Apotheose" des Untertauchens stellen verstreute Angaben dar. Sie stehen in keinem inneren Zusammenhang, und sie wären nicht so auffällig, wenn sie dem offiziellen Tenor des Hegeischen Werkes, demzufolge die Substanz Subjekt werden soll, nicht radikal widersprächen: ihnen zufolge will das Subjekt wieder Substanz werden. In systematischer Hinsidit sind sie Fehl-Leistungen, geboren in Momenten der Ich-Schwäche. Dies sich nicht wehrende, nicht negierende Subjekt ist einerseits die vorgefundene Seite seines Charakters - seine Natur, andererseits die nicht arbeitende Innerlichkeit - der Geist in Ruhe, das tiefe, stille Gemüt: „ . . . ein tiefes, stilles Gemüt nun aber, das die Energie des Geistes wie den Funken im Kiesel verschlossen hält, sich nicht ausgestaltet, sein Dasein und seine Reflexion über dasselbe nicht ausbildet, hat sich denn auch nicht d u r c h . . . Bildung befreit. Es bleibt dem grausamen Widerspruch ausgesetzt, wenn der Mißton des Unglücks in sein Leben hereinklingt, keine Geschicklichkeit, keine Brücke zu haben, sein Herz und die Wirklichkeit zu vermitteln und ebenso die äußeren Verhältnisse von sidi abzuwehren, gehalten dagegen zu sein und an sich zu halten. Gerät es in Kollision, so weiß es sich deshalb nicht zu helfen, geht rasch, besinnungslos zur Tätigkeit heraus oder läßt sidi passiv verwickeln." (SW 13, 204) Auch dieses Verhalten ist wider die Geistlogik: Besinnungslose Tätigkeit und passive Verwicklung verfügen beide nicht über ein Ziel. Nur ihr beider Gegensatz ist dem Geiste angemessen: Handeln aus besonnenem Entschluß. Nur solches Handeln ist vernünftige Tätigkeit. Nur für solches Handeln gilt: „Die Tätig21
In der endogenen Depression, die so mächtig durch den Untergang entgegenstehender Objekte gekennzeichnet ist, fordert die suizidale Hingabe in der Selbstertränkung dann nicht mehr die Koketterie mit der Untergangssehnsucht, sondern den wirklichen Tribut.
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D Psydiopathologische Prolegomena
keit ist die Mitte des Schlusses, dessen eines Extrem das Allgemeine, die Idee ist, die im inneren Schacht des Geistes ruht, das Andere ist die Äußerlichkeit überhaupt, die gegenständliche Materie. Die Tätigkeit ist die Mitte, welche das Allgemeine und Innere übersetzt in die Objektivität." (SW 11, 56) Diese unter den Auspizien der Vernunft ausgeübte Tätigkeit kennt weder die Hingabe in Passivität an die äußerliche Natur noch die Flucht in die Wesenlosigkeit des Wohlseins oder einer konfliktfreien Sozialität. Vor ihr steht nur eine Aufgabe: vernünftig zu wirken, d. i. das Äußerliche innerlich zu machen. Diese Zurückführung ist nur als Tätigkeit möglich. Da der Geist keine andere Aufgabe hat, darf er nur diesen einen Zustand kennen : tätig zu sein. Die eruierten Feststellungen zur Biographie und zu Meinungen und Ansichten Hegels vergleiche man einmal mit dem Ansatz seiner Theorie: Die Grundüberzeugung ist die, daß die Wirklichkeit nicht pluralistisch ist. Die Welt besteht nicht in Zweiheit, Dreiheit, Vielheit, aus Natur, Gesetzen, Geist, Gott, sondern die Welt besteht an sich in Einheit. Zweiheit kommt in ihr nur als Destruktivum vor, als Entzweiung. Immerhin vermag die Erfahrung der Selbständigkeit der Gegensätze in der Welt das Bedürfnis der Philosophie zu wekken. Aus dieser schmerzlichen Empfindung lenken mit Ergebnis weder heraus die Nostalgie, die nur untätige Passivität, nur „schlechte Sehnsucht" ist, noch die Flucht vor der Aufgabe (beispielsweise in der Form der Äußerlidikeit im gehörten Plaudern des Lustspiels oder im betriebenen Plaudern des Stadtgeschwätzes). Und die Hingabe des Geistes an die Natur (ζ. B. im Wassersuizid) beendet die Entzweiung nur regressiv und somit „unwirklich", löst aber nicht die der Entzweiung gestellte Aufgabe. Sie kann nur darin bestehen, die äußere Wirklichkeit in den Geist heimzuholen; so ist sie nur als wirklich unendliche Tätigkeit denkbar: Der Geist kann und darf nur eines: handelnd heimholen, ego-zentrierend tätig-sein. So erkennt er die Unendlichkeit der Natur als eine nur scheinbare; in Wirklichkeit ist er des Alls mächtig: im Aufheben des Andersseins läßt er Idealität sich ereignen. Diese Versöhnung in ihm durdi ihn ist das wahrhaft Substantielle in der Welt: sein Leben als Idee, damit er sich nur noch zu seinen eigenen Bestimmungen verhält. Ist nun das Denken Hegels psydiogenetisch aufzulösen? Die Antwort kann von Hegel selbst gegeben werden. Sie lautet: Wenn Philosophie aus Entzweiung heraus entsteht, hat sie einen äußeren Anlaß, den abzuarbeiten gerade ihre Aufgabe ist. Philosophie darf also konfliktpsychologisch beginnen. Ihre Lösung und Begründung erfährt sie erst in ihrem Ziel. Die Wahrheitsfrage ist vom Ziel her an die Durchführung zu stellen, nicht an den zufälligen Anlaß. Prüfungskriterium kann somit nur die Durchführung sein. Auf Hegel gewendet stellt sich die Frage: An welcher seelischen Erkrankung hat er gelitten? Die Antwort lautet: Er hat offensichtlich keine definierte Erkrankung gehabt; aus den Zeugnissen von ihm und über ihn ergeben sich keine Hinweise auf Symptome, die zu einem klinischen Syndrom zu vereinigen wären. Eher wird man an vielfältig verarbeitete Charakterschwierigkeiten denken
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können; jedenfalls setzt die Auffälligkeit gerade der Phänomene „Entzweiung" und „Nostalgie" die Reife einer vollständig geglückten psychischen Objektkonstitution voraus. Mehrere depressive Momente sensu depressive Psychopathie K. Schneiders (nicht sensu depressive Psychose!) können angesetzt werden: Ängstlichkeit; habitualisierte Flucht in die Heiterkeit, weil das Leben sdiwer ertragen wird; Erarbeitung eines beaditlidi großen Wissens vermittels des depressiven Identifikationsmechanismus; völlige Illusionslosigkeit; gute Arbeitsfähigkeit mit extensiv und intensiv beachtlichem Ertrag; verstehende Güte als Antwort auf die Lebenserschwernis, (vgl. Weitbrecht 1968, 83) Auf die Inhalte der Hegeischen Philosophie fällt von daher kein Licht und damit auch kein Dunkel, sondern abermals wird man auf die Durchführung verwiesen: Indem „Entzweiung der Quell des Bedürfnisses der Philosophie" ist und ihre Beendigung das Ziel ist, war es nötig, daß das Ich dem sich entfernenden Objekt der Sehnsucht einerseits, des „Geistes" andererseits, die Rache der Einverleibung zuschwor. So machte es sich an die nur als Arbeit mögliche aggressive Zurückführung und beauftragte sich unter dem Titel des Geistes, an der Welt den zermalmenden Versuch zu unternehmen, sie in gedanklicher Traktierung heimholend zu vernichten. Dies Geschäft soll die einzige, die wirkliche Aufgabe des Geistes sein, und wirklich ist er sich nur in dieser Aufgabe. So wird er sich wirklich nur sein, wenn er sich als tätigen weiß.
E Der Begriff und die Person
§ 15 D i e Erfassung der Persönlichkeit Verschiedene Auffassungsriditungen der Persönlichkeit Es gibt vielerlei Weisen und Zwecke der Persönlichkeitserfassung. Diese Pluralität besteht schon in der vorwissenschaftlichen Praxis, in der der „gesunde" Menschenverstand und das Vorurteil, also Arten des nichtreflektierenden Verstehens und Erklärens, am Werke sind. Aber in der vorwissenschaftlichen Praxis beginnt auch schon die Bevorzugung bestimmter Techniken. In sprachlicher Hinsicht werden in der Persönlichkeitsbeschreibung - nicht in der Tätigkeits- oder Verhaltensbeschreibung - Substantive und besonders Adjektive den Verben vorgezogen; man sagt häufig: er ist ein Geizkerl, noch häufiger: er ist geizig, selten dagegen: er geizt. Dieser Sprachgebrauch verrät, daß die so Sprechenden sich die Menschen mit Eigenschaften ausgestattet denken, die das einzelne Verhalten überdauern; diese angenommenen Eigenschaften werden als verhaltensfundierend gedeutet. Fast immer denkt man sich den jeweils zu beurteilenden Menschen also nicht als ein Wesen, das sich in Einzelhandlungen bestimmt, sondern als eine einem bestimmten „Typ" konforme Individuation. Dieses vorwissenschaftliche Verfahren hat viel vorzeigbaren Erfahrungswert für sich, ist aber ontologisch nicht ausgewiesen: Die Tatsache, daß Menschen so häufig ein langzeitlich gleichbleibendes Verhalten zeigen, daß es aussieht, als ob sie immer wieder nur ein Muster benutzen würden, beweist noch nicht, daß sie nur re-agieren und nicht über Spontaneität verfügen. Allerdings will vorwissenschaftliches Verstehen Schlüsse dieser Relevanz wohl noch nicht ziehen. Verschiedene Richtungen der wissenschaftlichen Psychologie bemühten sich sehr um die Erfassung der Persönlichkeit. Die verstehende Psychologie versuchte z. B. im besonderen, eine „verständliche" Architektur der angenommenen Eigenschaften zu demonstrieren. In dieser Absicht benutzte sie verschiedene Verfahren. Ihre Grundthese stellte sie jedoch nicht in Frage; sie nahm ohne Einschränkung an, daß die Eigenschaften einer bestimmten Systematik entsprächen und daß diese Ordnung als Architektonik der Persönlichkeit einsichtig gemacht werden könne. Noch die verstehende Psychologie der Psychoanalyse hielt daran fest. Ihre Inhalte waren zur Zeit ihres Aufkommens revolutionär; ihr formales Persönlichkeitsmodell aber wich nicht von dem anderer verstehender Systeme ab; eine sinnvolle Beziehbarkeit der Eigenschaften und Störungen aufeinander wurde also in der gesamten verstehenden Psychologie vorausgesetzt. „Von vorn-
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E Der Begriff und die Person
herein ist die Annahme, daß der Charakter ein wirrer Haufen von einzelnen Eigenschaften sei, wenig wahrscheinlich. Die Erfahrung ergibt in der Tat, daß diese Eigenschaften eine ordnungsmäßige Beziehung zueinander haben, ein Umstand, der eine Charakterologie überhaupt erst möglich macht." (Gruhle 1948, 154) Gruhle gibt damit Möglichkeiten und Grenzen der verstehenden Charakterologie, die in diesem Zusammenhang noch mit Persönlichkeitslehre gleichgesetzt werden kann, in einem an: Nicht zu leugnen ist einerseits, daß einander begegnende Menschen sich - in Grenzen - verstehen und daß sie dieses Verstehen systematisieren können; andererseits kann nicht von vornherein ausgeschaltet werden, daß die erzeugte Systematik nur ein Produkt dieser Verstehenstediniken ist sowie möglicherweise der Absichten, die sie leiten und vielleicht verleiten. Daß im sog. Verstehen die Struktur oder die systematische Ordnung der Charaktere erscheint, ist weder beweisbar noch widerlegbar. Hegel war in dieser Hinsicht skeptisch: „Nun bleibt es aber ewig der Fall, daß jeder Mensch . . . Charaktere, Handlungen und Begebenheiten nach dem Maße seiner Einsichten und seines Gemüts auffaßt." (SW 12, 38 f.) Die Verstehensabsichten auf der Basis der intersubjektiven Erfahrung schließen zwei Gefahren ein. Die eine, deren Bedeutung in den letzten Jahrzehnten besonders herausgearbeitet wurde, ist die der symptomatischen Überdeutung. Bestimmte Phänomene werden dabei zu Leitsymptomen erhoben: Epiphänomene können so zu fundierenden umgedeutet werden, darin besteht beispielsweise ein Risiko der psychoanalytischen Interpretation; oder besonders „laute" Züge werden als konstituierende aufgefaßt, darin besteht ein Risiko der sozialpsychologischen Interpretation. Die andere Gefahr ist die der Gleichsetzung des Vorgefundenen mit einer gemachten Ordnung; sie wurde schon von Hegel kritisiert: „Die empirische Psydiologie erzählt und beschreibt diese Triebe und Neigungen und die sich darauf gründenden Bedürfnisse, wie sie dieselben in der Erfahrung vorfindet oder vorzufinden vermeint und sucht auf die gewöhnliche Weise diesen gegebenen Stoff zu klassifizieren." (SW 7, 63) Die aneinander reihende Erfahrung ist in der Persönlichkeitsdeutung also nicht von sich aus verständig oder vernünftig, sondern schon von ihren Auffassungsleistungen her gefährdet. Hegel zufolge besteht die Insuffizienz der Erfahrung, die Charakterliches erfassen will, darin, daß die Objekte ihres Verstehens, z. B. Neigungen und Begierden, als erscheinende die Form der Unmittelbarkeit haben und als solche nidit auf den Nenner der Vernunft gebracht werden können. So befindet die verstehende Psychologie sich in einem offensiditlidien Dilemma: Sie muß, um überhaupt verstehen zu können, versuchen, unverarbeitete, unmittelbare Phänomene zu erfassen. Damit aber ist sie in der Gefahr, entweder unzureichend aufzufassen, oder Ordnungen zu fingieren. Aus dieser Aporetik scheint sie nidit entlassen werden zu können. Um solchen und anderen Schwierigkeiten zu entgehen, beschloß die naturwissenschaftlich verfahrende Psydiologie schon bei Wundt, wegen der wissenschaftlichen Mängel und der Niditnadiprüfbarkeit des Einfühlens und Konstruierens im Verstehen auf diese
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Methoden zu verzichten. Als Objekt des Verstehens wurde die Persönlichkeit deshalb in dieser Forsdmngsrichtung aus den wissenschaftlichen Untersuchungen und Zielen ausgeschlossen. Gegenstand ihrer Experimente sind nicht denkende, fühlende, wollende Individuen, sondern Reaktionslagen an Organismen, deren Untersuchung zu Gesetzen führen soll, die den Rang von Naturgesetzen beanspruchen können. Dieser Auffassung der naturwissenschaftlichen Psychologie zufolge ist das „Besondere, Einzige, Eigentliche" der Versuchspersonen in naturgesetzlicher Hinsicht nur die Summe der experimentellen Abweichungen. Diese entschiedenen Folgerungen wurden allerdings nodi nicht von Wundt selbst gezogen; er drückte vielmehr den Primat des Psychischen im „Prinzip der schöpferischen Synthese" eigens aus und gab den psychophysischen Parallelismus noch nicht auf. Jedoch verstand er ihn nicht mehr metaphysisch, sondern nur noch als ein empirisches Postulat, das sowohl von der Psychologie als audi von der Physiologie benötigt wird, wenn sie darangehen, unter Zuhilfenahme des naturwissenschaftlichen Kausalbegriffes eine Beziehung zwischen physischen und psychischen Vorgängen im Organismus zu denken. Eine Verbindung des Ranges wechselseitiger Kausalität darf nach Wundt aus dem Postulat jedoch nicht erschlossen werden, sondern nur eine durchgängige korrelative Koexistenz. Eine solche hochkomplizierte philosophische Fundierung konnte von der experimentellen Psychologie jedoch nur schwerlich beibehalten werden. Deshalb wurde in ihr bald der Versuch unternommen, die Ausgangslage radikal zu vereinfachen: In psychologischer Hinsicht verfiel das Idiomatische der Person der Ablehnung, sie wurde nur noch als die schon genannte Summe der Fehlerabweidiungen aufgefaßt; in philosophischer Hinsicht wurde mit der Dualismusthese durchaus gebrochen. Diesen gedoppelten Versuch strengte der frühe Behaviorismus an; er wollte die „Fesseln" des Psychischen gänzlich abstreifen, u.zw. sowohl bezüglich des Erkenntnisgegenstandes als auch bezüglich der Erkenntnismittel. Das behavioristische Programm mußte also sowohl den Gedanken der psychischen Realität als auch den des Bewußtseins als des wichtigsten Erkenntnisapparats ablehnen, im besonderen selbstverständlich alle psychischen Phänomene, die über die Mittel der Reflexion und Introspektion gewonnen werden, wie die seelischen Funktionen „Denken, Fühlen, Wollen" usw. „Es sollten Methoden und Begriffe der psychologischen Forschung entwickelt werden, die dem materialistischen Monismus und einer mechanistischen Auffassung des lebenden Organismus im Sinne der Mechanik Newtons gemäß wären." (Bergius 1960, 475) Konsequent wurde das Denken nicht als autonom oder wenigstens als Parallelphänomen physiologischer Prozesse, sondern als gehemmte Bewegung verstanden; Denken kommt dann zustande, wenn organismisches Verhalten im Ablauf gehindert wird. Mit dieser Eliminierung des Denkens als eines originär geistigen Ereignisses wurde es möglich, menschliches und tierisches Verhalten als dasselbe oder als eine nur unwesentlich voneinander abweichende Modifikation identischer Stimulus-Reaktions-Verhältnisse aufzufassen und damit von Tierversudien auf menschliches Verhalten zu schließen. Theoretisch bedeutsamer war
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E Der Begriff und die Person
allerdings, daß mit der hohen Einschätzung des S-R-Modells ein essentieller Unterschied zwischen reflektorischen Antworten und vielfältig vermitteltem Wahl- und Entscheidungsverhalten wegfiel. - In der Absicht, den Geist als Natur aufzufassen, war diese Doktrin folgerichtig. Aber sie blieb kategorial mit den Schwierigkeiten monistischer Einstellungen behaftet; zum Zwecke des Gelingens ihrer Durchführung hätte sie die Möglichkeit der adäquaten Reduktion des gesamten menschlichen Handelns und Verhaltens auf biotisch darstellbare Lernvorgänge beweisen müssen. Die Lösung dieser Aufgabe dürfte aber auch in Zukunft unmöglich sein, weil sie erforderte, eine Ganzheit bzw. eine Totalität - menschliches Verhalten insgesamt - auf ein restriktives Modell - S-R - zu reduzieren. Der strenge Behaviorismus lehnte von seinem Ansatz her Persönlichkeitstheorie als autonome Disziplin ab. Anstrebbar war sie ihm nur als Theorie der Verhaltensprognosen einschließlich der Toleranzen. Die Durchführung der erforderlichen Arbeiten stellte er sich als Analyse des Verhaltens in Situationen vor. „Im Lernprozeß werden (erstens) angeborene Reaktionen mit neuen Reizen (Situationen) verbunden und (zweitens) neue Reaktionen durch Koordination angeborener erzeugt." (Bergius 1960, 478) Differenzen zwischen einzelnen menschlichen Verhaltensträgern sind demnach ausschließlich in unterschiedlichen Lernwerten und deren Sedimentationen begründet. — In der dem jüngeren Behaviorismus nahestehenden faktorenanalytischen Theorie wurden jedoch wieder Ansätze sichtbar, die die interindividuellen Unterschiede nicht nur als Lernprodukte auffassen wollen: Die rein operative S-R-Formel wurde durch die gemischt operativ-substantielle S-O-R-Formel ersetzt; d. h. die Reaktionen wurden nicht mehr nur als reine Situationsprodukte verstanden, sondern als etwas, woran bestimmte Organismen mitgewirkt hatten. Diese Einführung bzw. Wiedereinführung des Organismus in die Forschung kann man durchaus brükkentheoretisch verstehen, und gewiß bringt Woodworth (Woodworth 1929) mit der S-O-R-Formel und dem in ihr enthaltenen Problem der Mitwirkung des Organismus nicht mit Absicht eine ontologische Problematik in die experimentelle Arbeit ein. Aber ebenso sicher sind mit dieser Erweiterung der Programmformel die philosophischen Probleme doch wieder aufgetaucht: Der Organismus ist Körper und Geist zugleich - eine gelingende Durchführung einer Reduktion des Geistes auf nur-natural verstandene Z-N-S-Arbeit gibt es nicht; der Versuch einer solchen Restriktion muß stets unter Zuhilfenahme unterschiedlicher Metaphysiken oder Dialektiken versucht werden. Die ontologische Dualität des Materiellen und des Geistigen im Organismus ist nicht zu eliminieren; sie kann nur methodisch ausgeklammert werden (in der physiologischen Chemie der Organismen hat z. B. der Geist keinen Platz). Auch Behaviorismus und Operationalismus konnten die Dualität in der Analyse der menschlichen Person nicht mit Erfolg ausklammern.
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Ontologische Rationalität in der Persönlidikeitsdeutung Die ontologische Problematik der menschlichen Individuen kann also durch naturwissenschaftliche Arbeit weder hinfällig gemacht noch zureichend aufgeklärt werden. Solche Ansprüche mußte die Philosophie mit Redit immer zurückweisen; oft ist ein derartiger Versuch von ihr ausgesprochen übel vermerkt worden 1 . Das „philosophische" Stirnrunzeln fehlte dagegen meistens, wenn das unvermittelt zugreifende Verstehen ans Werk ging, obwohl es für die ontologische Analyse ebenfalls nichts leisten kann, da es die Naturseite des Menschen wissenschaftlich und also auch kategorial nicht beherrscht. Mit dem „verstehenden" Kult des „großen" Individuums einerseits (man denke als frühes Dokument der Geisteswissenschaften etwa an Mommsens „Charakteristik Casars", vgl. Mommsen 1854 ff.), den unabgeleiteten und in psychologischer Hinsicht irrtumsund projektionsverdächtigen „einfachen" Verstehenstechniken andererseits, •wird für die Ontologie der Person nicht mehr geleistet als mit dem Versuch der Eliminierung dieser Problematik überhaupt. Es hat den gleichen ontologisdien Rang, ob das Problem der Dualität der Natur und des Geistes in der Person f ü r ein Scheinproblem erklärt wird oder ob es als Problem nicht begriffen werden kann, weil unmittelbares Verstehen kein Begreifen ist. In der wissenschaftlichen Praxis ist das begriffslose Verstehen deshalb auf staunende Anerkennung angewiesen und produziert den Kult des „nicht aufzulösenden Individuums". Aber das rational nicht erfaßbare Individuum ist nichts, worüber sich reden ließe. Allerdings darf andererseits „rational erfaßbar" nicht gleichgesetzt werden mit „naturwissenschaftlich erfaßbar". Es kann an der Person etwas rational durchaus erfaßbar und trotzdem nicht quantifizierbar sein, ζ. B. Spontaneität im Kantischen Sinne. Auch eine sich bewährende spekulative Persönlichkeitsanalyse wäre rational, u. zw. sowohl ihrer Konstruktion als audi ihrer Darstellung nach, ohne daß sie auf den quantitativen Kalkül reduziert werden könnte. Selbst ein Gegner der Spekulation und der nur-gedanklichen Rationalität müßte einsehen, daß solche Verfahren sich gerade um das bemühen, wovor die gedankenfreie Anerkennung und Anbetung des „Individuums" versagt, nämlich um die Vernichtung des Geheimnisvollen. Genau diese Rationalität schwebt Hegel vor, wenn es ihm darum geht, den Kern der Person, die Verbindung des Bewußtseins und Selbstbewußtseins, zu erfassen: „Es ist dies der innerste, abstrakte Punkt der Persönlichkeit - die nur spekulativ als diese Einheit des Selbstbewußtseins und des Bewußtseins, oder des Wissens und seines Wesens, der unendlichen Form und des absoluten Inhalts gefaßt werden kann, welche Einheit schlechthin nur ist als das Wissen dieser Einheit in gegenständlicher Weise, als des Wesens, welches mein Wesen ist." (SW 15, 223) Dieses Erkenntnisprogramm ist von äußerster Strenge: So wie die Erkenntnis der Objektivität darin zu Ende kommt, 1
Man denke beispielsweise an die Verachtung, die die Fachphilosophie Ernst Haeckel entgegenbrachte.
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E Der Begriff und die Person
daß die Wirklichkeit sich als vernünftig zu erkennen gibt, so soll die Erkenntnis der Persönlichkeit darin gipfeln, daß ihre Vernunft sich als wirklich, als lebendige Einheit des Bewußtseins und Selbstbewußtseins begreift; es geht in diesem Prozeß um die gegenständlich gewordene Einheit des Wissens und des Wesens.
Der universale Phänomenalismus (bei Hegel und im Behaviorismus) Die Erkenntnis der innersten Persönlichkeit will diese so als vernünftig sich verhaltenden Gegenstand, also nicht abstrakt, sondern sinnlich-gegenwärtig finden. Nicht nur in den Methoden, sondern auch in den Zielen soll die Erkenntnis der Persönlichkeit dieselbe wie die der Dinge sein, aber nicht, weil - wie es der Behaviorismus sieht - Personen und Dinge die gleiche physische Natur haben, oder weil - wie es der Spiritualismus sieht - Personen und Dinge die gleiche geistige Natur haben, sondern weil sie beide der wirklichen, einen Vernunft als Erkenntnisaufgaben gestellt sind. Nur solange das Bewußtsein von der Annahme einer wirklichen Selbständigkeit des Materiellen und des Geistigen ausgeht, kann es Hegel zufolge eine isolierte Erkenntnis nur der Dinge oder nur der Persönlichkeit für möglich halten. Wenn das Bewußtsein „die Vernunft als gleiches Wesen der Dinge und seiner selbst wüßte . . . , so würde es . . . in seine eigne Tiefe steigen und sie darin suchen . . . Wenn es sie in dieser gefunden hätte, würde sie von da wieder heraus an die Wirklichkeit gewiesen werden, um in dieser ihren sinnlichen Ausdruck anzuschauen, aber ihn sogleich wesentlich als Begriff zu nehmen." (Phän 184) Die Vernunft bringt die Sinnlichkeit auf Begriffe, also auf etwas, das zugleich Verstand, Ich ist. Indem das Sein gedachtes Sein wird, macht sich aber das Denken zugleich zum seienden Denken: Es ist nur wirklich, indem es tätig ist. Die Dinge haben nur als Begriffe Wahrheit, die Persönlichkeit gewinnt nur als sich vergegenständlichende Sein; so werden beide in der Tätigkeit ihres Begriffes für sich, was sie an sich waren; so wird ihre Vernunft wirklich. Was sich vergegenständlicht, ist erschienen, ist nicht mehr geheim. Nur was nicht geheim bleibt, wirkt. N u r was vergegenständlichend wirkt und schafft, ist aber bei Hegel relevant für den Begriff der Persönlichkeit. Damit ergibt sich eine erste radikale Forderung aus den Ansätzen der Hegeischen Persönlichkeitstheorie: Es kann und darf an der Persönlichkeit nichts Verborgenes geben. Das Postulat der universalen Erfaßbarkeit ist nie extensiver formuliert worden: „Die sogenannten geheimen Triebfedern und Absichten einzelner Individuen . . . wurden in einer noch vor kurzem beliebten psychologischen Ansicht der Geschichte für das Wichtigste gehalten. Diese Ansicht ist jedoch nun außer Kredit gekommen, und die Geschichte strebt w i e d e r . . . die Charaktere der handelnden Personen aus dem, was sie tun, zu erkennen zu geben; die Überzeugung ist allgemeiner geworden, daß aus Zufälligkeiten weder die Sache, noch die Charaktere in ihrer Gediegenheit hervorgehen und zu erkennen sind." (SW 6, 350) In der These, daß nur das offen Erscheinende an der Person für ihre Erkennt-
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nis insgesamt relevant ist, unterscheidet sich Hegel vom Behaviorismus überhaupt nidit. Dort werden nur solche Persönlichkeitszüge für wichtig gehalten, die jederzeit demonstrierbar sind, deren Genese im speziellen über den Weg der Lernleistung völlig durchschaut wird. Allgemeine Eigensdiaftsbegriffe zur Fassung von Anlagen, Potentialitäten und Eigentümlichkeiten werden verworfen. In dieser radikalen Ablehnung der Eigenschaften und Strukturen, die nichterscheinendes Psychisches repräsentieren sollen, sind sich Hegel und der Behaviorismus durchaus einig. Der Akzent in dieser Parallelisierung Hegels und des Behaviorismus liegt auf der Radikalität, mit der in beiden Systemen der Gedanke eines fundierenden seelischen Seins, das selbst nicht Phänomen werden kann, verworfen wird. In abgeschwächter Form eignet diese Ablehnung selbstverständlich allen aktualistischen und psychophysiologischen Konzeptionen. Schließlich bleibt aber ein nicht aufzuhebender gravierender Unterschied zwischen den Theorien des Behaviorismus und Hegels bestehen, und er besagt, daß das Erscheinende einmal nur als ein Produkt biotischer Adäquation - der Lernleistung als Verhaltensanpassung - , zum anderen nur als ein Produkt geistiger Aktivität - der Vernunft, die sich selbst bestimmt - aufgefaßt wird. Der universalen Phänomenalisierungshypothese des Geistes entspricht Hegels Erkenntnisoptimismus insgesamt: Weil der Begriff der Kern aller Wirklichkeit ist, gibt es nichts, das dem Geiste unerkennbar bleiben könnte. Da der Geist nichts anderes ist als die sidi vermittelnde Tätigkeit, kann er sich alle seine Verflechtungen ohne weitere Hilfsmittel offenbar machen und aufschließen. Auf vorerst Unbegreifliches stößt er nur, wenn ihm Unmittelbarkeit begegnet. „Es 'ist auf zwei Wegen, daß dem Menschen das sogenannte Unbegreifliche begegnet, in der lebendigen Natur und im Geiste. Aber nur in der Natur ist es in Wahrheit, daß der Mensch das Unbegreifliche anzutreffen hat; denn der Geist ist eben dies, sich selbst offenbar zu sein, der Geist versteht und begreift den Geist." (SW 11,281) Eine merkwürdige Zwischenstellung nehmen hinsichtlich ihrer Erkennbarkeit die Tiere ein, die, wie sie sind, nicht als Dinge, als Maschinen der Natur o. ä., gesehen werden dürfen. Ihre Phänomenalität verbietet diese Mißdeutung: „ . . . wenn wir das Leben und Tun der Tiere betrachten, setzt ihr Instinkt, ihre zweckmäßige Tätigkeit, Unruhe, Beweglichkeit und Lebhaftigkeit in Verwunderung; denn sie sind höchst regsam und sehr gescheut für ihre Lebenszwecke und zugleich stumm und verschlossen." (SW 11, 280) Die Erkenntnis der Tiere ist deshalb so schwierig, weil man im einzelnen Fall nur schwer entscheiden kann, wieweit sie Natur, wieweit sie Geist sind. Diese Schwierigkeit betrifft jedoch nur ihre momentane Beurteilung. In systematischer Hinsicht haben sie wie alles in der Welt - ihren sicheren Ort.
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E Der Begriff und die Person
Der systematische Anfang der Persönlidikeitserfassung bei Hegel Die Erfassung der Persönlichkeit kann in Hegels Theorie nur systematisch vorgehen; ihre Möglichkeiten haben sich nach den Bedingungen des Systems zu richten. Deshalb ist zu fragen, wie man mit und in Hegels System arbeiten kann: Der Anfang des Systems ist ein dreifacher, je nach dem, was als Anfang fungiert. Der subjektive Beginn ist das Denken selbst, u.zw. jedes Denken. Der objektive Beginn ist das Einfachste, was im Denken bedacht werden kann, das prädikatlose Sein (Beginn der Logik). Der absolute Beginn des Systems aber kann kein anderer als sein Ziel sein, also der absolute Geist. Für ihn ist das Sein nur anfängliches Prädikat, das Denken nur anfängliches Subjekt, (vgl. Rosenkranz in: SW 3, 17) - Das Denken zu Beginn der „Phänomenologie des Geistes" ist in doppelter Weise anfangendes Subjekt, einmal als Denken überhaupt, dann als solches, das sich selbst als sich unmittelbar Gegebenes nimmt. Wegen dieses zweiten Momentes wurden die bekannten Einwürfe der Lemmatik gegen den Beginn der „Phänomenologie" erhoben. Sie können aber nicht hegelimmanent, sondern nur „von außen" vorgetragen werden, weil Hegel dieses Beginnen systematisch fundiert hat: Nur wenn man Gegebenheit unter den wissenschaftlichen Auspizien der Voraussetzungslosigkeit als absolut auffaßt, fangen „Phänomenologie" (und „Logik") mit selbständiger Unmittelbarkeit an. Von der Vision des Systems her beginnen sie mit in Wirklichkeit unselbständigen Teilen, die zu einem Ganzen gehören. Das System unterstellt von seinem Entwurf her, daß die Erkenntnis von Ganzheiten im Sinne von Totalitäten möglich sei und daß der Geist des Ganzen die Teile, die bei punktueller Ergreifung nur vorübergehend den Schein der Selbständigkeit aufweisen, trage. Dieser Schein ihrer Selbständigkeit besteht für das absolute Wissen nicht mehr; solange es aber noch nicht zu sich gekommen ist, hat der Schein an den ihm eigenen Stellen in der Welt Berechtigung und befördert Zwecke, z. B. den Prozeß der Erkenntnis allgemein und auch den der Erkenntnis des konkreten Subjekts, der menschlichen Person: „Die noch ganz abstrakte, unmittelbare Realität i s t . . . die N a türlichkeit, die Ungeistigkeit. Aus diesem Grunde ist das Kind nodi in der Natürlichkeit befangen, hat nur natürliche Triebe, ist noch nicht der Wirklichkeit, sondern nur der Möglichkeit oder dem Begriffe nach, geistiger Mensch. Die erste Realität des Begriffs des Geistes muß demnach, eben weil sie noch eine abstrakte, unmittelbare, der Natürlichkeit angehörende ist, als die dem Geiste unangemessenste bezeichnet, die wahrhafte Realität aber als die Totalität der entwickelten Momente des Begriffs bestimmt werden, welcher die Seele, die Einheit dieser Momente bleibt. Zu dieser Entwicklung seiner Realität geht der Begriff des Geistes notwendig fort; denn die Form der Unmittelbarkeit,... welche seine Realität zunächst hat, ist eine ihm widersprechende; das unmittelbar im Geist vorhanden zu sein Scheinende ist nicht ein wahrhaft Unmittelbares, sondern an sich ein Gesetztes, Vermitteltes. Durch diesen Widerspruch wird der Geist getrieben, das Unmittelbare, das Andere, als welches er sich selber voraus-
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setzt, aufzuheben. Durch diese Aufhebung kommt er erst zu sich selbst, tritt er als Geist hervor. Man kann daher nicht mit dem Geiste als solchem, - sondern muß von seiner unangemessensten Realität anfangen. Der Geist ist zwar schon im Anfange der Geist, aber er weiß nodi nicht, daß er dies ist." (SW 10, 39 f.) Der Geist ist nicht vom Anfang seines weltlichen Auftretens an wirklich, sondern als unmittelbarer vorerst Erscheinung und Zufall. In der Zufälligkeit der Erscheinung hat er einen seiner Wirklichkeit abträglichen Ort; aber gerade dann, wenn er sich erstmalig selbst erfassen will, steht er im Übergang zwischen geistloser Natur und naturlosem Geist. Unter den Prinzipien des Systems ist dieser Übergang die dem Geiste unangemessenste Fassung, mag es sich nun handeln um den Übergang von der Triebfassung zur Ichkonzentration beim Kleinkind oder um den vom willkürlichen Leben zur systematischen Erkenntnis am Anfang der Phänomenologie. Das Ziel des Geistes ist es, die Wirklichkeit selbst zu ergreifen, also die Identität der Realität und des Begriffs denkend hinter Erscheinung und Zufall zu suchen. Deshalb ist die Wirklichkeit der Persönlichkeitstheorie der Mensch, der, vom lebendigen Geist ursprünglich produziert, sich dann selbst auch bewußt produziert und den begrifflichen Frieden zwischen den Besonderheiten der Welt und seines inneren Bewußtseins herstellt, indem er jene durch Denken zu Gedanken macht und in diesen aus Vorstellungen objektive Begriffe erzeugt. Die Theorie kann sich also nicht befassen mit dem Kontingenten des Menschen; seine Seins weise ist ontologisch nicht mehr wert als Möglichkeit: Was nur zufällig ist, kann genauso gut auch nicht sein, bzw. zwischen Sein und Nichtsein oszillieren, (vgl. SW 8, 326) Gerade die Abstraktionen der Verstandeswissenschaften sind Hegel zufolge aber gezwungen, von ihrer verengten Basis her das Spielfeld der Kontingenz vermittels ihrer voneinander isolierten Parameter für das Redit der ernsten Wirklichkeit der reifen Vernunft zu halten; deshalb bleiben die Abstraktionen des Verstandes nur Ahnung der Wirklichkeit, erreichen nidit sie selbst. Diese Absicht einer vernünftigen Wirklichkeitserkenntnis ist ontologisch und erkenntnistheoretisch anspruchsvoll. Hegel konzediert zwar, daß der Anspruch des philosophischen Vernunfterkennens hinsichtlich seiner Tragfähigkeit gerechtfertigt werden muß. Aber er unterstellt, daß diese Leistung nicht als abgelöste Demonstration gegeben werden könne, weil Rechtfertigung und Beweis schon philosophisches Erkennen seien, das sich aber nicht selbst voraus sein könnte. „Eine vorläufige Explikation würde hiemit eine unphilosophische sein sollen und könnte nicht mehr sein als ein Gewebe von Voraussetzungen, Versicherungen und Räsonnements, - d. i. von zufälligen Behauptungen, denen mit demselben Rechte die entgegengesetzen gegenüber versichert werden könnten... . die Untersuchung des Erkennens kann nicht anders als erkennend geschehen; bei diesem sogenannten Werkzeuge heißt dasselbe untersuchen nichts anderes als es erkennen. Erkennen wollen aber, ehe man erkenne, ist ebenso ungereimt als der weise Vorsatz jenes Scholastikus, schwimmen zu lernen, ehe er sich ins Wasser
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wage." (Enz 43) Die witzige Pauschalität dieses „Beweises" trifft jedodi nur zum Teil zu: Es ist nämlich durchaus möglich, den Schwimmunterricht durch vorgeschickte Trockenübungen erheblich abzukürzen. Und allgemein lassen sich die Technik und die Konstruktion eines Verfahrens durchaus von seinem praktischen Vollzug ablösen. Diese Verhältnisse in den Wissenschaften genau zu klären, bemüht sich die Wissenschaftstheorie. Hegel würde ihr freilich entgegenhalten, ihre Untersuchungen über den Nachweis der Differenz zwischen Geltung und Vollzug seien als Versuche abstrakter Isolierung un-vernünftig. Die Wissenschaftstheorie aber macht gerade die Differenz zwischen Geltung einerseits, Genese und Vollzug andererseits zur Voraussetzung des zu erbringenden Wahrheitsbeweises. Die Unterschiede zwischen dem Vernunft- und Ganzheitsstandpunkt einerseits, dem Verstandes- und Kriteriumsstandpunkt andererseits scheinen also durchaus unüberbrückbar zu sein. Die Beweislast liegt allerdings nicht beim skeptischen Verstandesstandpunkt, sondern beim Vernunftstandpunkt; denn er verspricht die Erkennbarkeit des Ganzen. Die Durchführung des Auftrages: Γνώθι σεαυτόν Diese Unterschiede spielen auch direkt in die Gnoseologie der menschlichen Person hinein. Als Aufgabe kann alle Psychologie des Menschen und der Person den Auftrag des delphischen Apoll, Γνώθι σεαυτόν, anerkennen, aber sdion bei der ersten Erkenntniszielbestimmung dieses Auftrages ergeben sich erhebliche Abweichungen. Hegels Meinung unterschiebt ihm eine nur-„ vernünftige" Deutung: „In diesem Spruche ist nicht etwa die Selbsterkenntnis der Partikularitäten seiner Schwächen und Fehler gemeint: es ist nicht der partikulare Mensch, der seine Besonderheit erkennen soll, sondern der Mensch überhaupt soll sich selbst erkennen." (SW 11, 291) Zunächst können diese hochgemuten Worte auch noch von allen anderen psychologischen Richtungen übernommen werden: Daß der Mensch sich selbst erkennen soll, steht außer Frage. Was ist aber das „Selbst", das erkannt werden soll? Ist es das Allgemeine aller Menschen oder das Individuierende besonderer Menschen? Diese Spezifizierung des Auftrags hat offensichtlich ihre Schwierigkeiten, und höchstwahrscheinlich ergeben sich aus ihr Vorausentscheidungen für die Durchführungen und die Lösungen. Fraglich ist weiter aber, 1. ob der Mensch sein eigenes Wesen - in Hegels universaler Fassung - überhaupt erkennen kann und 2. ob der Griff nach diesem Wesen direkt möglich ist - wie Hegel es sich vorstellt - oder den Umweg über die Partikularitäten gehen muß. Nach dem Ende der idealistischen Bewegung stand die wissenschaftliche Forschung den Möglichkeiten der Vernunfterkenntnis skeptisch gegenüber, denn eine ein für allemal aufgewiesene Erkenntnis war ausgeblieben, obschon sie vorher von Fichte bis Schopenhauer versprochen worden war. Es muß also um der historischen und sachlichen Gerechtigkeit willen festgestellt werden, daß die nach Hegel angetretene Psychologie die Erkenntnis des Wesens des Menschen nicht aus Übermut zurückgestellt oder die Hoffnung auf ihre Gewinnung leichtfertig aufgegeben hat.
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Hegel sieht das Erkenntnisziel des delphischen Auftrags nur in der einen Vernunft, nicht in Partikularitäten: „,erkenne dich selbst', . . . ein Gebot, das sich jedoch nicht etwa auf die Schwächen und Mängel, sondern auf das Wesen des Geistes . . . und jedes wahrhafte Bewußtsein bezieht." (SW 13, 82) Vom Erkenntnisziel einmal abgesehen und nur auf die Erkenntnisdurchführung bezogen ist diese Hegeische Restriktion schon durchaus problematisch : Selbst wenn sich herausstellen sollte, daß der Geist in sidi von Insuffizienzen frei wäre, bliebe es vorerst die Aufgabe der Selbsterkenntnis endlicher Menschen, ihre Schwächen als ihnen zugehörig zu erkennen und anzuerkennen, sie bewußt und selbstbewußt zu machen, um durch sie hindurch, in ihrer Überwindung, an den Geist zu gelangen. Der Mensch ist nicht von vornherein ganz „aus" Geist; er kann sich außerdem in Hinfälligkeiten veräußerlichen, sich zum nur „besonderen" machen. Aber Hegel will dieses ganze Feld der Regressionen und Schwächen systematisch unterdrücken : „Die Selbsterkenntnis in dem gewöhnlidien trivialen Sinn einer Erforschung der eigenen Schwächen und Fehler des Individuums hat nur f ü r den Einzelnen, - nicht für die Philosophie - Interesse und Wichtigkeit, selbst aber in Bezug auf den Einzelnen um so geringeren Wert, je weniger sie sidi auf die Erkenntnis der allgemeinen intellektuellen und moralischen Natur des Menschen einläßt, und je mehr sie . . . in ein selbstgefälliges Sichherumwenden des Individuums in seinen ihm teuren Absonderlichkeiten ausartet." (SW 10, 10 f.) In diesen Worten der Herabsetzung der Versuche einer unmittelbaren Selbsterforschung und Aufklärungsbemühung spricht Hegel deutlich aus, daß das Gebot der Selbsterkenntnis sich nach seiner Doktrin nicht an autonome Menschen wendet, sondern an Funktionäre der „Idee": Die Analyse der Möglichkeiten des Menschen und seine Gewissensbildung sind danach so lange ohne Wert, als sie nicht „sub specie ideae" vorgenommen werden. Entgegen dieser Interpretation kann man aber durchaus annehmen, daß Hegel den Auftrag des Apoll gründlich mißdeutet, indem er ihn als Aufforderung der Ideenbearbeitung auffaßt. Der Auftrag geht nämlich zuerst an einzelne Menschen, an Individuen in ihrer Innerlichkeit und Äußerlichkeit: Sie sollen - wenigstens vorübergehend, also am Ort und zum Zeitpunkt ihrer jeweiligen „delphischen" Besinnung - auf Wirksamkeit verzichtend in sich gehen, sie sollen also gerade nicht tätig sein, nicht an Häusern, Erfolgen, Gedanken-,, gebäuden" bauen. Außerdem fordert das Γνώθι σεαυτόν dazu auf, nicht Antworten, und seien sie noch so gerechtfertigt, zu übernehmen, sondern Fragen in die jeweils eigene Tiefe hinein zu stellen. Dabei kann sicherlich Genuß an der Grübelei entstehen; aber es heißt das ernste Sichbefragen der Individuen mißdeuten, wenn Selbsterkenntnis ohne theoretisches Gerüst nur überflüssiger Selbstgenuß sein soll.
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Hegels Ablehnung der „Menschenkenntnis" Dieselbe Verachtung, die Hegel der unvermittelten Selbsterkenntnis entgegenbringt, erfährt auch die unvermittelte Fremderkenntnis, die sog. Menschenkenntnis: „Dasselbe gilt von der gleichfalls auf die Eigentümlichkeiten einzelner Geister gerichteten sogenannten Menschenkenntnis. Für das Leben ist diese Kenntnis allerdings nützlich und nötig... Für die Philosophie... bleibt diese Menschenkenntnis in eben dem Grade gleichgültig, wie dieselbe sich nicht von der Betrachtung zufälliger Einzelnheiten zur Auffassung großer menschlicher Charaktere zu erheben vermag, durch welche die wahrhafte Natur des Menschen in un verkümmerter Reinheit zur Anschauung gebracht wird." (SW 10, 11) An dieser Hegeischen Auffassung der Fremderkenntnis ist merkwürdig, daß in ihr unterstellt wird, daß die Analyse der alltäglichen Verstehensstruktur des Menschen für die Erfassung des Wesens des Menschen ohne Wert sei, daß dagegen die Erkenntnis der menschlichen Natur insgesamt am meisten von der Betrachtung der sog. großen, „substantiellen" Menschen erfahren könne. Die Analyse der in Nebensächlichkeiten zergliederten Äußerlichkeit ist nach Hegel keine der vernünftigen Wirklichkeit, die Betrachtung der Besonderungen führt nicht zur Einheit: » . . . Menschenkennern . . . , die für zerrissene Wesen, deren Natur eine große Mannigfaltigkeit, viele und verschiedenfarbige Einseitigkeiten ohne Einheit in sich schließt, freilich eine Wissenschaft von großem Umfang und großer Zweckmäßigkeit ist, denen aber das, was sie suchen, der Geist immer entschlüpft, und nur Bestimmtheiten sich anbieten." (Theol 290) „ . . . Menschenkenntnis, welche von andern Menschen . . . die Besonderheiten, Leidenschaften, Schwächen, diese sogenannten Falten des menschlichen Herzens zu erforschen bemüht ist, - eine Kenntnis, die teils nur unter Voraussetzung der Erkenntnis des Allgemeinen, des Menschen und damit wesentlich des Geistes Sinn hat, teils sich mit den zufälligen, unbedeutenden, unwahren Existenzen des Geistigen beschäftigt, aber zum Substantiellen, dem Geiste selbst, nicht dringt." (SW 10, 9) In seiner Frühzeit billigt Hegel der Intersubjektivitätsbefragung und -deutung also noch Ausbildbarkeit und legitime Anwendbarkeit zu, obschon sie ihm auch da schon die Substanz des Geistes nicht enthüllen kann. Vom Standpunkt der Enzyklopädie aus wird dann ihre völlige Verwerfung ausgesprochen, die aber durchaus unberechtigt ist: Inzwischen sind mehrere Ansätze und Durchführungen systematisierter Menschenkenntnis vorgelegt worden, z. B. von psychoanalytischer und lerntheoretischer Ausgangslage aus. Trotz nicht zu verschweigender theoretischer Schwierigkeiten haben sie sich als in der Praxis partiell sich bewährende gezeigt. Es ist gelungen, damit vielerlei im menschlichen Verhalten aufzuklären, oft Leiden und Nöte zu beseitigen und „Falten des Herzens" zu glätten. Zum Beweis des Zweckes und Sinnes wissenschaftlicher Veranstaltungen genügt solche gelingende Praxis. Die theoretische Erkenntnis des Menschen vom Vernunftstandpunkt aus hat dagegen noch kein Leid beseitigt. Dies war auch nicht ihre Absicht und ist auch nicht ihr Auftrag. Aber der
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Standpunkt der Theorie darf das Gelingen ihm fremder Verfahren in der Praxis audi nicht als Mißlingen oder Unsinn insgesamt bezeichnen. Für Hegel bestehen die Möglichkeiten der praktischen menschlichen Verhaltensanalyse, der Menschenkenntnis, offensichtlich nur in untätiger Seelenschnüffelei oder narzistischem Selbstgenuß; er beachtet damit nur eine sehr äußerliche Weise der menschlichen Begegnung und Selbstbegegnung. Die Bewertung der Menschenkenntnis braucht sidi darin nicht zu ersdiöpfen. Gerade das Verstehen, das helfen will, weiß, daß die „Falten des menschlichen Herzens" oft nur letzte Riegel vor der Bloßheit der schutzsuchenden Seele sind und daß das Heilen sich oft auf Gespräche mit der äußerlichen und unwahren Existenz des Geistes einlassen muß, um den Zugang zum aus Angst sich verbergenden Selbst freizulegen und damit in der Praxis eben doch Zugang zum substantiellen Geist zu finden.
Hegels Bewertungen des „gesunden Menschenverstandes" Die Distanzierung von der prinzipienfreien Selbst- und Fremderkenntnis legt es Hegel nahe, auch ein gnoseologisches Hilfsmittel, das in beiden Verstehenspraxen am Werk ist, sehr kritisch zu betrachten: den „gesunden Menschenverstand". Die „leeren Abstraktionen der Einzelheit und der ihr entgegengesetzten Allgemeinheit, so wie des Wesens, das mit einem Unwesentlichen verknüpft ist, eines Unwesentlichen, das doch zugleich notwendig ist, sind die Mächte, deren Spiel der wahrnehmende, oft sogenannte gesunde Menschenverstand ist; er, der sich, f ü r das gediegne reale Bewußtsein nimmt, ist im Wahrnehmen nur das Spiel dieser Abstraktionen; er ist überhaupt immer da am ärmsten, wo er am reichsten zu sein meint. Indem er von diesen nichtigen Wesen herumgetrieben, von dem einen dem andern in die Arme geworfen wird und durch seine Sophisterei abwedislungsweise jetzt das eine, dann das gerade Entgegengesetzte festzuhalten und zu behaupten bemüht, sich der Wahrheit widersetzt, meint er von der Philosophie, sie habe es nur mit Gedankendingen zu tun. Sie hat in der Tat auch damit zu tun, und erkennt sie für die reinen Wesen, für die absoluten Elemente und Mächte; aber damit erkennt sie dieselben zugleich in ihrer Bestimmtheit, und ist darum Meister über sie, während jener wahrnehmende Verstand sie für das Wahre nimmt, und von ihnen aus einer Irre in die andere geschickt wird". (Phän 100 f.) In dieser Argumentation verlangt Hegel dem sog. gesunden Menschenverstand Unmögliches ab. Deshalb ist zu fixieren, mit welchem Anspruch dieser Menschenverstand auftreten kann: Zunächst ist er nur das Werkzeug, mit dem die Menschen sich im Geschäft des Alltags helfende und verkürzende Verstehensbrücken schaffen. Solchen Zielsetzungen soll er meistens dienen, und diese ihm abgeforderten Leistungen vollbringt er. Dabei ist er um der E r s e t z barkeit willen oft zu rapide vereinfachenden Konstruktionen gezwungen. Aber gerade wenn der Menschenverstand „gesund" ist, weiß er, daß er ein Organ der Vernunft des Alltags ist und nicht den Rang eines Kriteriums gegenüber ihn korrigierenden Theorien hat - obschon er mißtrauisch gegen sie bleiben soll,
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ebenso wie sie ihn als allzeit verwendbares, nützlich-notwendiges Instrument der Weltbewältigung nicht überflüssig madien. Neben der Aufgabe der begreifenden Hilfe im Alltag, auch im wissenschaftlichen Alltag, hat der Menschenverstand aber auch nodi einen moralischen und stabilisierenden Auftrag: Er soll die Menschen mit der Kraft seiner einfachen Urteile, von denen die meisten in jeder Beziehung wohl Vor-urteile sind, gegen allzu sprunghafte Veränderungen, wie sie von schmeichelnden und „interessanten" Prophetien angetragen werden, immunisieren; er soll den Menschen also auch gegenüber den schnell wechselnden Tönen der abstrakten Verführungen festen Stand geben. Von außen und vom ersten Eindruck her hört und sieht man es den Äußerungen des Zeitgeistes nämlich nicht an, ob sie evtl. Gewicht haben oder nur das Geklingel leerer Worte bringen. Deshalb ist es nützlich, daß der Mensch gegen sie einen vorläufigen Riegel benutzen kann. Dabei läßt es sich nicht vermeiden, daß der Menschenverstand auch die Gedankendinge der Philosophie zunächst für Fiktionen oder Abstraktionen halten kann. Gerade in solcher Tätigkeit liegt seine Aufgabe. In der „Differenzschrift" urteilte Hegel noch nicht so scharf über den Menschenverstand wie in der „Phänomenologie des Geistes". „ . . . das Vernünftige, was der sogenannte gesunde Menschenverstand weiß, sind . . . Einzelnheiten, aus dem Absoluten ins Bewußtsein gezogen, lichte Punkte, die für sich aus der Nacht der Totalität sich erheben, mit denen der Mensch sich vernünftig durchs Leben durchhilft. Es sind ihm richtige Standpunkte, von denen er ausgeht, und zu denen er zurückkehrt." (SW 1, 55) Gegenüber der Polemik der „Phänomenologie des Geistes" wird in der „Differenzschrift" die Fähigkeit des Menschenverstandes zur Einnahme eines bedingt richtigen Standpunktes also durchaus anerkannt und ihm neben seiner praktischen sogar eine theoretische Rolle zugeschrieben: Er ist der Ort des Auftretens der scheinbar unvermittelten punktuellen Wahrheiten, die in Wirklichkeit über ein begleitendes Gefühl einer absoluten Berechtigung vermittelt werden. Da diese Vermittlung von ihm aber nicht gehandhabt wird, kann der Menschenverstand zu begriffener Wahrheit nicht vorstoßen; er muß sich an fixierte Einzelheiten halten. Es ist dann Aufgabe der Wissenschaften und der Philosophie, diese Einzelheiten in den Bezug zur Wahrheit zu stellen, die Erkenntnisse des Menschenverstandes auf eine mögliche Bedeutung jenseits der Zufälligkeit zu prüfen. Diese Überprüfung aber soll der Menschenverstand Hegel zufolge übel vermerken: „Der gesunde Menschenverstand kann es nicht fassen, wie das für ihn unmittelbar Gewisse für die Philosophie zugleich ein Nichts ist. Denn er fühlt in seinen unmittelbaren Wahrheiten nur ihre Beziehung aufs Absolute, aber trennt dies Gefühl nicht von ihrer Erscheinung, durch welche sie Beschränkungen sind, und doch auch, als solche, Bestand und absolutes Sein haben sollen, aber vor der Spekulation verschwinden." (SW 1, 56) Damit unterstellt Hegel, daß der Menschenverstand nicht belehrbar sei; offensichtlich setzt er ihn mit verhärteter Verranntheit gleich. Der Menschenverstand aber ist gerade, wenn er funktionstüchtig ist, zur schrittweisen
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Selbstkorrektur bereit, und wenn Wissenschaften und Philosophie auch für ihn ihre Möglichkeiten geltend gemacht haben, weiß er, daß er besseren Einsichten weichen muß. Es besteht ein Unterschied zwischen den möglichen Haltungen des Menschenverstandes und dem Wahnsinn bzw. der Verstocktheit des Eigendünkels. Gewiß ist „gesunder Menschenverstand" ein Widerspruch: „Gesund" unterstellt Naivität, Offenheit und Vertrauen; ein „Verstand" muß aber gerade kritisdi, prüfend und mißtrauisch sein. Von diesem Widerspruch her aber könnte sogar ein Gewinn ausgehen, wenn er nur ausgetragen würde; dann könnte die Fülle des umgangsweltlichen Wissens und Denkens des Menschenverstandes in verständiger Kritik aufgehoben werden, dann brauchte sie nicht verworfen zu werden. Der gesunde Menschenverstand ist von sich aus nicht dasselbe wie das Staunen oder Arbeiten der Philosophie, aber er ist Geist, und zwar der Geist der Umgangswelt vor der Differenz der Theorie und der Praxis; er ist die einfachste exoterische Vernunft. „Natürliche Logik heißt man den natürlichen Verstand, den der Mensch überhaupt von Natur hat und den unmittelbaren Gebrauch, den er davon macht. Die Wissenschaft der Logik aber ist das Wissen von dem Denken in seiner Wahrheit." (SW 3, 113) „Der gesunde Menschenverstand enthält die Maximen seiner Z e i t . . . Dieser ist die Denkweise einer Zeit, in der alle Vorurteile dieser Zeit enthalten sind: die Denkbestimmungen regieren ihn, ohne daß er ein Bewußtsein darüber hat." (SW 18, 36) Damit billigt Hegel in der „Geschichte der Philosophie (Gorgias)" dem Menschenverstand zu, Geist in Ausgangsstellung innerhalb der Irrungen der Zeitgeister, also Geist in der Fülle des Lebens, zu sein. Er spricht ihm sogar - obwohl er nicht Philosophie ist - anläßlich der als „bodenlose Reflexion" bezeichneten Scholastik Rechte gegen die Philosophie zu: „Gesunder Menschenverstand darf nicht gegen Spekulation, wohl aber gegen bodenlose Reflexion auftreten . . . Gesunder Menschenverstand hat ein Substrat, eine Regel für die abstrakten Verstandesbestimmungen." (SW 19, 205) Dieses Substrat besteht darin, daß der Menschenverstand, weil er am Konkreten haftet, sich nicht zu gedanklich leeren Abstraktionen versteigen kann. Zum Ausgleich zahlt er mit der Beschränkung auf das Reale; er ist durch und durch exoterisch, anders als die Philosophie. „Die Philosophie ist ihrer Natur nach etwas Esoterisches... sie ist nur dadurch Philosophie, daß sie dem Verstände, und damit noch mehr dem gesunden Menschenverstände, worunter man die lokale und temporäre Beschränktheit eines Geschlechts der Menschen versteht, gerade entgegengesetzt ist; im Verhältnis zu diesem ist an und für sich die Welt der Philosophie eine verkehrte Welt." (SW 1, 185) Insofern ist es die vom Menschenverstand vertretene, wenn auch letztlich beschränkte Ansicht, „daß die Wahrheit auf sinnlicher Realität beruhe, daß die Gedanken nur Gedanken s e i e n . . . , daß die Vernunft, insofern sie an und für sich bleibe, nur Hirngespinste erzeuge." (L 1, 26) Die sich neben den anerkennenden Bemerkungen durch das Werk Hegels hinziehenden abfälligen Äußerungen über den Menschenverstand wären nur
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dann berechtigt, wenn es erlaubt wäre, die Exoterie des anfangenden und sidi vor dem spekulativen Geschäft erst einmal praktisch einrichtenden Geistes zu tadeln. Wenn jedoch die Arbeit des anfangenden Geistes legitim gerügt werden darf, kann man andererseits keine Entwicklung des Geistes verlangen und ansetzen: Positive Entwicklung ist die Ersetzung, nicht die Verwerfung des entwicklungsmäßig Guten durch Besseres. Der Tadel am gesunden Menschenverstand von Seiten der Vernunft ist so wenig zutreffend, wie es der Tadel am aufrechten Gang des sich mühsam von der Erde abhebenden Kleinkindes wäre. Und erst wenn das aufrechte Gehen beherrscht wird, folgt der Genuß dieser Funktion und danach aus dem Überdruß am bloßen Gehen und Laufen das Recken des Kopfes und ein Blick zu den Sternen. Die Erfassung des Menschen bedarf des gesunden Menschenverstandes; er stellt die Ausgangslagen für Selbst- und Fremdbetrachtung her; freilich gelten seine Annahmen nicht von selbst und unausgewiesen. Aber er ist ein unermüdlicher, wenn auch beschränkter Vorprüfer; selbst am Anfang der Phänomenologie weiß man nur von ihm, daß „man" „jetzt" „hier" ist. Als Lieferant ist er noch vielseitiger als die Weisheit: „ . . . Weisheit ist nicht Wissenschaft — Weisheit ist eine Erhebung der Seele, die sich durch Erfahrung verbunden mit Nachdenken über Abhängigkeit von Meinungen wie von den Eindrücken der Sinnlichkeit erhoben hat." (Theol 15) Weisheit ist also ein Wissen, das sich von den Tagesverstrickungen abheben wollte, dem es aber nur gelang, sidi von der vielfältigen Realität abzulösen, ohne dafür die Garantie zu erlangen, frei von Vorurteilen geworden zu sein. Die Weisheit gebietet Respekt, weil sie ein Wissen darstellt, dem es nicht auf Durchsetzung ankommt, aber die Weisheit „weiß" nicht, wie sie zu ihrer Wahrheit kam, und sie kann sie sich nicht vermitteln. Sie ist eine Sache der Anschauungen, nicht eine des Denkens.
§ 16 Begriff u n d Leben Das Wesen des Lebens Hegels Forschungsthese lautet, daß die Wahrheit nicht durch eine prinzipienfreie Befragung des Besonderen, sondern nur durch die Analyse des Allgemeinen im Besonderen entdeckt werden könne. Die Theorie der Person muß deshalb dort einsetzen, wo ihre merkwürdige, sie bestimmende Polarität, nämlich subjektive Vernunft und objektive Realität zu sein, in einem Allgemeinen gefaßt werden kann. Als dieses bietet sich das Leben an. Es ist die unmittelbare Vereinigung des Begriffs und einer Realität, in der sich noch keine der beiden Seiten für sich ausformuliert hat. Die wirkliche Idee ist dagegen deren ausgearbeitete Einheit, u. zw. so, daß der Begriff die Realität und sich selbst artikuliert hat. In dieser Entwicklung kommt es selbstverständlich zu einer begrifflichen „Auffassung" der Realität. Sie wird dadurch möglich, daß Hegel annimmt,
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der Begriff liege der Realität audi als unentwickelter zugrunde: „Die Idee ist das objektiv Wahre oder der adäquate Begriff, in welchem das Dasein durdi seinen ihm inwohnenden Begriff bestimmt und die Existenz als selbst produzierendes Produkt in äußerer Einheit mit ihrem Zweck ist." (SW 3, 163) Die „einfädle Unendlichkeit, oder der absolute Begriff ist das einfache Wesen des Lebens, die Seele der Welt, das allgemeine Blut zu nennen, welches allgegenwärtig durch keinen Unterschied getrübt noch unterbrochen wird, das vielmehr selbst alle Untersdiiede ist, so wie ihr Auf gehobensein, also in sich pulsiert, ohne sich zu bewegen, in sich erzittert, ohne unruhig zu sein". (Phän 125) Diese Identitätsthese ist, vornehmlich in ihrem Bezug auf die Ganzheit „Dasein", bekanntlich einer der Angelpunkte der Hegelkritik. Gegen sie hat Hegel vorab immer eingewandt, daß von seinen Voraussetzungen her über die Wahrheit oder das Kriterium ihres Erscheinens oder Nichterscheinens nicht v o r der Durchführung der Denkaufgabe des Systems gesprochen werden könne. Das Leben als unmittelbare Idee kann demzufolge audi nicht im Vorgriff in Frage gestellt werden. Erst der Geist als die subjektive Formulierung der Idee kann über das Leben als objektive Formulierung der Idee urteilen. Das Leben ist zunächst nur unmittelbare, insoweit selbstferne Idee. Seine Aufgabe ist es, dies aber mit allen Konsequenzen, Körper und Seele als Leib zusammenzuschließen, so daß der Körper als Leib nur noch scheinbar ein äußerlicher ist, in seiner Wirklichkeit sich jedoch auf sidi beziehen kann und damit allgemein wird und noch in seinen Partikularitäten sein Zentrales, seine Seele, ausdrückt. Der Leib ist dabei anscheinend mehrfaches oder vielfaches Objektives; seine Beseelung aber madit es möglich, daß seine sich untereinander gleichgültigen Äußerlichkeiten auf die Subjektivität als Zentrum beziehbar sind. So können die Leibesteile sich wechselseitig sowohl Mittel als audi Zweck sein. Begrifflich bedeutet dies, daß ihre Besonderung negiert wird und eine für sich seiende Zentralität entsteht. Sie aber negiert sofort wieder ihre nur abstrakte Innerlichkeit, um sich ganz in ihre Äußerlichkeiten hineinzubegeben. Der Leib ist also die Negation der Äußerlichkeit, die diesen nur abstrakten Gewinn in die Unmittelbarkeit zurückgibt. So existiert das Leben als äußerliches und innerliches zugleich und zusammen. Und als Leib ist das Leben als einzelnes und damit endlich. Diese endliche Unmittelbarkeit der Idee bezahlt mit dem Preis der Trennbarkeit des Körpers und der Seele; die Unmittelbarkeit der lebendigen Idee bedingt also die prinzipielle Sterblichkeit des Lebendigen. Die einseitige Dominanz des Körpers ist als Zerstörung der Unmittelbarkeit der Tod. Das Ende nur der Unmittelbarkeit ohne Beschädigung des Bezuges zwischen Körper und Seele ergibt sich dagegen aus der Entwicklung auf den Geist zu, der erst die an und für sich bestehende Auffassung der Idee ist: » . . . die Wahrheit des Lebens als absolute negative Einheit ist d a h e r . . . die unmittelbare Einzelheit aufzuheben und als Identisches mit sich identisch, als Gattung sich selbst gleich zu sein. Diese Idee ist nun der Geist." (L 2, 435) Der Geist ist also die logische Vollendung der Idee des Lebens.
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Das natürliche und das ideelle Leben Auf dem Wege zwischen diesen beiden Polen befinden sich die konkreten Ausgestaltungen des Geistes als eines subjektiven, also als Seele, Bewußtsein usw. Sie verfügen nicht über den Rang, selbst Idee zu sein, weder in ihrer Unmittelbarkeit nodi in ihrer verfaßten Vollendung. Logisch gesehen hat das Vermitteln dieser Vollendung, das Erkennen, keine anderen Voraussetzungen als das Leben. Es „sind vom Erkennen, dem sich selbst Erfassen des Begriffs, nicht die andern Gestalten seiner Voraussetzung, sondern nur diejenige, welche selbst Idee ist, in der Logik abzuhandeln; aber diese ist notwendig in ihr zu betrachten. Diese Voraussetzung nun ist die unmittelbare Idee; denn indem das Erkennen der Begriff ist, insofern er für sich selbst, aber als Subjektives in Beziehung auf Objektives ist, so bezieht er sich auf die Idee als vorausgesetzte oder unmittelbare. Die unmittelbare Idee aber ist das Leben". (L 2, 414) Das Leben in der Natur muß jedoch vom Leben der Idee unterschieden werden. Das natürliche Leben hat an der Materie eine Voraussetzung; als Idee bedarf das Leben dieser externen Bedingungen nicht, sondern nur der internen der kategorialen Entwicklung der begrifflichen Logik bis hin zu ihm. „In der Natur erscheint das Leben als die höchste Stufe, welche von ihrer Äußerlichkeit dadurch erreicht wird, daß sie in sich gegangen ist und sich in der Subjektivität aufhebt. In der Logik ist es das einfache Insichsein, welches in der Idee des Lebens seine ihm wahrhaft entsprechende Äußerlichkeit erreicht hat; der Begriff, der als subjektiver früher auftritt, ist die Seele des Lebens selbst; er ist der Trieb, der sich durch die Objektivität hindurch seine Realität vermittelt." (L 2, 415) Die Natur kommt also von außen zur Idee und findet dabei ihre immaterielle Grenze. Dadurch wird ihre Aufhebung möglich. Als Idee braucht das Leben nie nur äußerliche Wirklichkeit zu sein, sondern es wird im Begriff gehalten. Dieses Getragensein kann aber nicht verhindern, daß das Leben als Natur der „Unvernunft der Äußerlichkeit hingegeben" ist, und „die individuelle Lebendigkeit ist in jedem Momente ihrer Existenz mit einer ihr andern Einzelheit befangen." (Enz 201) Das individuelle Leben erfährt in dieser Vereinzelung seine Geschichte; für die Idee des Lebens ist sie nur zufällige Variation oder etwas Überflüssiges. Sowohl das natürliche als auch das ideelle Leben sind aber einig darin, daß das ungesetzte Insichsein ein der Idee äußerlicher Zustand ist; als solcher schlägt er um in das Anderssein. Deswegen hat das Leben nur einen Trieb, nämlich als Bedürfnis, das Anderssein aufzuheben. Das Leben ist zwar durchaus Einheit, aber diese von vornherein nicht für sich, sondern erst in sich. An der Aufhebung dieser Differenz muß es ohne Unterlaß arbeiten: Sich zu verwirklichen ist sein Trieb. Im Leben herrscht also einzig sein Lebenstrieb, der das Anderssein aufheben will. Einen Trieb, der das Anderssein wirklich werden will, einen „Todestrieb", kann es im Hegeischen Denken nicht geben: Die universale Geistthese erhebt den Anspruch, daß das Leben absolut vernünftig werden will, nicht
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aber un-verniinftig. Deswegen darf das Leben audi nie als ein soldies erscheinen, das auch nur an sich un-vernünftig wäre. Es muß deshalb 1. den körperlichen Organismus als Totalität erfüllen, kann nicht nur einen Teil oder teilhaft beseelen; es kann 2. nur Prozeßform haben, nicht aber statisch sein; es kann 3. nicht von außen her bestimmt werden, sondern nur sich aus sich selbst heraus bestimmen und gestalten und seinen Zweck nur aus sidi erfassen, (vgl. SW 12,174 f.) Für die Persönlichkeitstheorie ergibt sich daraus 1. die Deutung des individuellen Lebens als Körper-Seele-Ganzheit, die 2. als geschichtliche existiert und 3. nicht als Sedimentation von Gelerntem, sondern nur als Ergebnis ihrer Selbstverwirklichung verstanden werden kann. Die Selbstverwirklichung wiederum umfaßt drei „logische Pfliditenkreise" : „Als sich realisierende Selbstbewegung ist das Leben der dreifache Prozeß: 1) die Gestaltung des Individuums in sich selbst; 2) seine Selbsterhaltung gegen seine unorganische Natur; 3) die Erhaltung der Gattung." (SW 3, 188) Alle nur denkbaren Einwände gegen die umfassende Aufgabe der Selbstbestimmung werden mit einer Generalformel erstickt: „Ich habe diese Glieder, das Leben nur, insofern ich will; das Tier kann sich nicht selbst verstümmeln oder umbringen, aber der Mensch." (SW 7, 101) Dem Inhaltlichen dieser These kann wohl auch heute noch zugestimmt werden: Zwar können domestizierte Tiere „neurotisiert" werden und Instinktveränderungen erfahren; von aktivem Gliederverzicht weiß man dagegen nichts, und der oft angeführte sog. Massenselbstmord der Lemminge basiert auf einer schweren Störung im Leberstoffwechsel. N u r der Mensch kann sein Leben bewußt und willens abgeben; solange er es behält, will er es auch behalten - folgert Hegel. Die andere Denkmöglichkeit, derzufolge das Leben den Menschen einfach trägt, setzt eine Parallelismusthese voraus, die Hegel eben eindeutig ablehnt.
Die Selbstbewegung und das Nervensystem Das Leben ist als Idee aus sich heraus selbständig und frei, sich zu bestimmen. Die einfachste Erscheinung der Selbstbestimmung ist die Selbstbewegung. Sie erbringt dem Individuum an ihm selbst den Beweis, daß es frei ist, nicht nur in seiner Innerlichkeit, sondern auch in seiner Äußerlichkeit: In der Selbstbewegung unterwirft es sich die geordnete Räumlichkeit der Materie, die für es in Unbewegtheit und der durch die Gravitation sich ergebenden Tendenz nach Herstellung der Unbewegtheit besteht. Die Selbstbestimmung beginnt so mit der Befreiung von der topischen Bindung. Indem das lebende Individuum sich bewegt, läßt es die Erde unter ihm sich gleichgültig sein, d. h. es zieht sich von ihr auf sich zurück, beginnt aber dadurch, die Erde für sich zu machen. Dieser Prozeß hat seinen Anfang im Sehen, das das theoretische Verschlingen der Welt ist, und setzt sich fort im Tätigsein jeder Art, beginnend mit dem Essen, das das praktische Verschlingen der Welt ist, wobei sie zu einem Material der Reproduktion des individuellen Lebens herabgesetzt wird. „Dies alles sind Tätig-
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keiten, in welchen der Begriff der Lebendigkeit an beseelten Individuen zur Erscheinung kommt. Diese Idealität nun ist nicht etwa nur unsere Reflexion, sondern sie ist objektiv in dem lebendigen Subjekt selbst vorhanden, dessen Dasein wir deshalb einen objektiven Idealismus nennen dürfen. Die Seele, als dieses Ideelle, macht sich scheinen, indem sie die nur äußere Realität des Leibes stets zum Scheinen herabsetzt und damit selber objektiv in der Körperlichkeit erscheint." (SW 12, 175 f.) Der Leib ist also sowohl Erscheinung als auch Scheinen: Erscheinung ist er, insofern in allen seinen Teilen und Gliedern ein einheitlich steuernder Zusammenhang hervortritt; als dieser selbst scheint die Seele durch ihn hindurch. Die Vielfalt der körperlichen Ausgliederung in den Organen verfügt so unter dem Primat der Beseelung nur noch über den Schein einer Selbständigkeit. Dafür stellt sich der Leib als ganzer als beseelt dar: Deshalb ist die Besonderung in die Vielfältigkeit nicht seine wirkliche Bestehensweise, sondern diese ergibt sich erst durch die Reflexion der Vielfältigkeit in das, was sie zur Totalität des Leibes macht. Dadurch wird die Besonderheit der sinnlichen Mannigfaltigkeit wieder in ein Ganzes zusammengebunden. Erst durch die Aufhebung der Vielfalt, der prinzipiellen Teilbarkeit, in das unsinnliche Eins ihrer Steuerung, die Beseelung nämlich, wird das Individuum möglich, das dann im spezifizierten Heraustreten der Beseelung erscheint. In diesem Prozeß wird die beziehungslose Unterschiedenheit der Zergliederung zur beseelten Übereinstimmung, die ihr ruhiges Ergossensein in zwei Weisen konzentrieren kann, die beide Träger der lebendigen Steuerung sind. Nach der Geistseite hin ist das bestimmende Element der Wille, der in die Richtungen seiner Ziele zerfallen würde, wenn er nicht wieder in den Leib reflektiert werden könnte: „Die Besonderheit der Interessen des natürlichen Willens in ihre einfache Totalität zusammengefaßt, ist das persönliche Dasein als Leben." (SW 7, 186) Nach der Körperseite hin ist es das Nervensystem, bei dem Hegel unter kategorialem Gesichtspunkt eine logische Gliederung versucht, die also keine genetische oder funktionelle, z. B. in autonomes und Zentralnervensystem, ist. Unter diesem Aspekt ist „das Nervensystem das eigentlich empfindende System: es ist das abstrakte Moment, bei sich selbst zu sein und die Identität seiner selbst darin zu haben. Die Analyse der Empfindung gibt aber nun zwei Seiten an, und teilt sich so, daß die Unterschiede als ganze Systeme erscheinen: das erste ist das abstrakte Fühlen, das Beisichbehalten, die dumpfe Bewegung in sich, die Reproduktion, das innerliche Sichnähren, Produzieren und Verdauen. Das zweite Moment ist, daß dies Beisichselbstsein das Moment der Differenz, das Nachaußengehen sich gegenüber hat. Dieses ist die Irritabilität, das Nachaußengehen der Empfindung". (SW 7, 342 f.) Der Wille und das Nervensystem sind die Pole der Steuerung des Lebendigen; zwischen ihnen setzt die Begierde ein. Sie ist die inhaltliche Auffüllung der Appetenz des Lebendigen, in ihrer reduziertesten Form die Gier des Uberlebens, in ihrer Entfaltung ein Modus der lebendigen Expansion. In allen Ausformungen ist die Begierde aber reale Negation: Sie vernichtet das dem lebendigen Eins Entgegenstehende.
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Das ursprüngliche Urteil des Lebens, der Lebensprozeß und die Gattung Das Leben besteht in Hegels Geistsystem nicht passiv dahin; es muß sich wollen; es ist „das Bestehen und die immanente Substanz seiner Objektivität, aber als subjektive Substanz Trieb, und zwar der spezifische Trieb des besondern Unterschiedes, und ebenso wesentlich der Eine und allgemeine Trieb des Spezifischen, der diese seine Besonderung in die Einheit zurückführt und darin erhält. Das Leben ist nur als diese negative Einheit seiner Objektivität und Besonderung sich auf sich beziehendes, für sich seiendes Leben, eine Seele. Es ist damit wesentlich Einzelnes, welches auf die Objektivität sich als auf ein Anderes, eine unlebendige Natur bezieht. Das ursprüngliche Urteil des Lebens besteht daher darin, daß es sich als individuelles Subjekt gegen das Objektive abscheidet... Das Leben ist daher erstlich zu betrachten als lebendiges Individuum, das für sich die subjektive T o t a l i t ä t . . . i s t . . . - Zweitens ist es der Lebensprozeß, seine Voraussetzung aufzuheben . . . und sich als ihre Macht und negative Einheit zu verwirklichen. Damit macht es sich zum Allgemeinen, das die Einheit seiner selbst und seines Andern ist. Das Leben ist daher drittens der Prozeß der Gattung, seine Vereinzelung aufzuheben und sich zu seinem objektiven Dasein als zu sich selbst zu verhalten." (L 2, 416 f.) Aus dieser Entwicklung folgert Hegel, das Leben sei einerseits als die Rückkehr in seinen Begriff die Repetition der ursprünglichen Besonderung, wodurch die Erneuerung einer Individualität möglich werde; andererseits sei aber der in sich gegangene Begriff des Lebens der Ubergang in den sich zu sich selbst verhaltenden Begriff, also in das Erkennen. Einige Vermutung spricht aber dafür, daß diese Konstruktion nicht zwingend ist: Der Untergang der Individualität als Übergang in das Erkennen wird von Hegel selbst nicht zureichend vorgeführt. Die entsprechende Übersetzbarkeit scheint auch nicht herstellbar, wenn man an folgende Gegensätze denkt: 1. Das Werden eines lebendigen neuen Individuums ist das Absehen des bisherigen Lebens von sich, der Verzicht auf sein eigenes Leben in der Hingabe des Zeugungs- und Empfängnisvorganges - das Werden der Erkenntnis als Insidigehen, als Ubergang ins Selbstbewußtsein, ist Hinsehen des Lebens auf sich, Beschäftigung mit sich. Diese Gegenüberstellung bezeichnet die gegensätzliche Richtung der beiden Bewegungen des Lebens. 2. Das neue Individuum existiert in der Einheit seines Selbstbewußtseins als Prozeß, nicht als Fixpunkt - das Werden der Erkenntnis vollzieht sich in Ergebnissen, die fest sein müssen, gerade nicht fließend sein dürfen. Diese Gegenüberstellung bezeichnet den gegensätzlichen Zustand der beiden Bewegungen des Lebens. 3. Die Weitergabe des Lebens ist äußerster Altruismus: kategorial ist die Geburt des Kindes der Tod der Eltern - der Prozeß der Erkenntnis ist der äußerste Egoismus des Lebens: kategorial ist der Anfang der Erkenntnis, das sinnliche Lernen, Assimilation bzw. „Hamstern". Diese Gegenüberstellung bezeichnet die gegensätzliche Axiologie der beiden Bewegungen des Lebens.
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E Der Begriff und die Person
Der von Hegel in der „Wissenschaft der Logik" unternommene Versuch, den Gattungsprozeß des Lebens zugleich als Beginn des Erkenntnisprozesses aufzufassen, kann somit kaum als geglückt angesehen werden; in ihren attributiven Eigenschaften widersprechen sich die beiden Prozesse vielmehr direkt. - In der „Philosophie des Geistes (Anthropologie)" verfidit Hegel selbst die Gleichrangigkeit dieser Parallele nicht mehr: Das animalische lebendige Individuum hat nicht die Macht, die Gattung zu verwirklidien; seiende Einzelheit widerspridit einfach allgemeiner Gattung. Wegen dieser Unfähigkeit, die Gattung gerecht auszudrücken, muß das einzelne Leben untergehen. Die Existenz des einzelnen Lebens und der Sieg der Gattung über es in seinem Tode sind gleicherweise abstrakt. „Wahrhaft verwirklicht sich dagegen die Gattung im Geiste, im Denken, - diesem ihr homogenen Elemente. Im Anthropologischen aber hat diese Verwirklichung, - da dieselbe am natürlichen individuellen Geiste stattfindet, noch die Weise der Natürlichkeit. Sie fällt deshalb in die Zeit." (SW 10, 95) Die Zeit wird sich somit als das Sein des natürlichen Subjekts herausstellen.
§ 17 Begriff und Ich Die Zeitlichkeit und die Aktivität des Ich Auf den ersten Blick scheint die Problematik des Ich der des Dies und Jetzt in der „sinnlichen Gewißheit" zu gleichen. Auch das Ich schließt alle anderen Iche von sich aus, aber jedes Ich will Ich sein. Diese Struktur hat es mit Dies und Jetzt gemein. Im Gegensatz zu Dies und Jetzt ist Ich aber auch eine Beziehung zu sich selbst, u. zw. als Ich eine reine Beziehung, in der von partikulärer Erfüllung abgesehen wird. Ich ist also Allgemeines, das punktuell ist, bzw. Abstraktes, das existiert, bzw. Denken, das subjektiv ist. „ . . . indem Ich zugleich in allen meinen Empfindungen, Vorstellungen, Zuständen usf. bin, ist der Gedanke allenthalben gegenwärtig und durchzieht als Kategorie alle diese Bestimmungen." (Enz 56) Die Erfüllungswelt des Ich, die aus seinen Gefühlen, Empfindungen, Gedanken, Vorstellungen besteht, ist einerseits unendlich, andererseits im Ich beschlossen; sie „bleibt ganz körperlos und immateriell und gleichsam zusammengepreßt in dieser ideellen Einheit, als das reine, vollkommen durchsichtige Scheinen des Ich in sich selbst. Dies ist die Weise, in welcher der Begriff seine unterschiedenen Bestimmungen in ideeller Einheit enthält." (SW 12, 157) Auf der einen Seite des Ich findet sich also die Fülle seiner Erlebnisse, auf der anderen das Leere, dem die Fülle begegnet, das apperzipierende Subjekt. Von ihm läßt sich zunächst nicht mehr sagen, als daß es Subjektivität ist, die durch ihre Inhalte nicht endgültig bestimmt wird, sondern die sich auch von sich aus selbständig auf ihre Inhalte richten kann. Sie faßt sich auf, als ob sie sich selbst bewegen könne, wann und wohin sie wolle und als ob sie der Urheber ihrer eigenen Bewegung sei: „in ungefesselter Freiheit nur auf sich selbst beruhend."
§17 Begriff und Idi
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(SW 14, 210) Aber trotz ihrer Freiheitsfreude verliert die Subjektivität sich in allen ihren ausgreifenden Bewegungen selbst nicht, denn ihr Prinzip ist es, für sich zu sein und bleiben zu müssen. Ihr Begriff ist die Reflexion des Außen in ihr innerliches Dasein; damit macht sie die zerstreute Äußerlichkeit der Substanz erst wirklich und gibt ihr Form. „Die Subjektivität ist selbst die absolute Form und die existierende Wirklichkeit der Substanz . . ." (SW 7, 234) Für sich selbst hat die Subjektivität bloß die Form der abstrakten Bewegung in der Zeit, und ohne die sie erfüllenden Inhalte ist die Subjektivität als Ich dem Zeitstrom kongruent. Das Idi als leeres Geschehen setzt nur seine Zeitpunkte vor sich her und erhält sich in diesem Setzen. „Näher nun gehört das wirkliche Ich selber der Zeit an, mit der es, wenn wir von dem konkreten Inhalt des Bewußtseins und Selbstbewußtseins abstrahieren, zusammenfällt, insofern es nichts ist als diese leere Bewegung, sich als ein anderes zu setzen und diese Veränderung aufzuheben, d.h. sich selbst, das Ich und nur das Idi als solches darin zu erhalten. Idi ist in der Zeit und die Zeit ist das Sein des Subjekts selber." (SW 14, 151) In der Analyse dieses Seins ergibt sich konsequent: Der Raum (und seine Erfüllung) ist das positive, beständige Nebeneinander. Die Zeit aber ist ein Auseinander, das sich in ein Jetzt negiert, also nicht Bestand hat. Sie existiert nur in der aufgehobenen Zweidimensionalität in einen Jetztpunkt, der sich wieder in einen anderen Jetztpunkt aufhebt, usw.; alles andere an ihr ist unreelle Erinnerung oder Erwartung. Diese Herstellung der ununterbrochenen Folge der Zeitpunktaufhebungen ist die reinste Tätigkeit des Ich, aber eben Tätigkeit, denn das auf die Zeit reduzierte Ich ist - wie vernommen - die Bewegung, sich als ein anderes zu „setzen" und diese Modifikation wieder „aufzuheben". Auf dieser Grundlage formiert sich der innerste Kern der Aktivitätstheorie der Person. Der aktiven Konzentration der Zeit in das Jetzt liegt dasselbe Prinzip zugrunde wie der Konzentration des Ich in das Fürsich oder das Selbst: „In dieser Sammlung liegt aber wesentlich ein Abbrechen der bloß unbestimmten Veränderung, als welche wir die Zeit zunächst vor uns hatten, indem das Entstehen und Untergehen, Verschwinden und Erneuern der Zeitpunkte nichts als ein ganz formelles Hinausgehn über jedes Itzt zu einem andern gleichartigen Itzt und dadurch nur ein ununterbrochenes Weiterbewegen war. Gegen dies leere Fortschreiten ist das Selbst das Beisidiselbstseiende, dessen Sammlung in sich die bestimmtheitslose Reihenfolge der Zeitpunkte unterbricht, in die abstrakte Kontinuität Einschnitte macht und das Ich, welches in dieser Diskretion seiner selbst sich erinnert und sich darin wiederfindet, von dem bloßen Außersidikommen und Verändern befreit." (SW 14, 159 f.) Durch die Konzentration des Idi in das Fürsich wird es zum Selbst; die Verteilung des Selbst in die zeitliche Kontinuität macht es dann zum andauernd Fürsidi-Selbstgleidien. In der linearen Diffusion des Jetzt in seine zeitliche Fortsetzung wird für diese Bewegung die Basis geschaffen. So ist die Zeit das Sein des Subjekts, nicht nur des Idi, sondern audi seines Selbsts; die Zeit liefert das Schema dafür, daß die Freiheit des Fürsidiseins einfache lineare Kontinuität bleibt. Diese Kon-
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E Der Begriff und die Person
tinuität erfährt erst dann eine Einsdiränkung, wenn das Selbst, indem es sich behaupten will, dadurch, daß es sich gegen anderes geltend macht, Besonderung und Vereinzelung ausbilden muß. Deshalb muß das Selbst als „Eines" gedacht werden. Ob das Idi bzw. das Selbst in dieser logischen Fassung als „Eines" aber auch für die Deskription besteht, ist zweifelhaft. Hegel konzediert bzw. behauptet diese Identität des logischen und des deskriptiven Ich und kritisiert erst den Übergang von ihm zu den Kategorien der Subjekts-Ontologie, die zuerst von Kant in den „Paralogismen der reinen Vernunft" angegriffen wurde. Aber so sicher scheint es nicht, daß die von Hegel gewählten deskriptiven Fassungen des Idi, die den paralogischen Schlüssen auf die Substantialität vorausgehen, zu Recht bestehen, (vgl. Enz 71 ff.) Zwar finde idi midi in meinem Bewußtsein 1. als das bestimmende Subjekt - aber eben auch als eines, das bestimmt wird, 2. als ein Singulares - aber auch als ein mit der Sozialität untrennbar Verflochtenes, 3. als ein gegenüber dem wechselnden Erlebten Identisches — aber ebenso als ein sich Wandelndes, 4. als ein als Denkendes sich von den Dingen Unterscheidendes aber audi als ein als Denkendes mit anderen denkenden Dingen, also „Mensdien", Identisches. Die vier Fassungen des Ich, die Hegel den Sdllüssen voraufgehen läßt, sind darüber hinaus durch ihre Akzentuierung auffällig. Hegel spricht dem Ich den Charakter des „Bestimmens" zu - Bestimmen aber ist immer ein „Herrschen"; den Charakter des „Singulären" - Singulares aber beansprucht, „bedeutend", „einzigartig" zu sein; den Charakter des in sich „Identischen" - in sich Identisches besteht aber „stabil und unbeeinflußbar" für sich; den Charakter des „sich Unterscheidenden" - das sich Unterscheidende „setzt sich aber mit Erfolg vom Markt des Geschehens ab". In logischer Hinsicht sind in Hegels Deskription nicht die sozialen Implikationen verdächtig - sie wären an anderer Stelle zu untersuchen - , sondern die unterstellten Verhaltenstechniken. Sie entsprechen reinsten Aktivitätsmodellen fast feudalistischen Charakters: B e s t i m m e n als S i n g u l ä r e s , S i c h - u n t e r s c h e i d e n als in sich I d e n t i s c h e s . Pathische Vorstellungen werden von Hegel für die Erfassung des Ich also nicht angesetzt, obschon sie mit gleichem Recht auf es applizierbar wären, denn die Pole einer Skala genießen von vornherein voreinander keinen Vorzug. Aber Hegel schließt sich der durch Fichte herbeigeführten Verengerung der Interpretation des Ich als eines nur aktiven an. Dies ist offensichtlich der Preis für seine transzendentale Deduktion des Ich, den Kant eben noch nicht zahlen mußte. In seinem Erleben, sofern es nicht von einem Entwurf her vorgeordnet ist, existiert das Ich jedoch offensichtlich nicht nur als ein „tätiges Eines", wie Hegel ansetzt, sondern auch anders, nämlich als eines seiner pathischen Funktionen und Horizonte, die ohne sein Zutun oder gar Tun entstehen; so ordnet sich mit entsprechender Periodik auch sein Tageslauf, sein Lebenslauf. Die Evidenz dieser Beschreibungslage ist nicht bestreitbar. Für den transzendentalen Ich-Idealismus aber ist sie nicht hinnehmbar, weil für ihn Evidenzen oder objektiv nachprüfbare Wahrheitskriterien keine Argumente darstellen, weil für ihn Wahrheit
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nur aus der transzendental tätigen Egologie ableitbar wird. Dazu ist an dieser Stelle zu sagen: Eine unvoreingenommene Einstellung wird zwar dafür halten, daß das, was beschrieben wird an einem Gegenstand oder einem Vorgang, noch nicht identisch ist mit dem, was in seiner Begriffsentwicklung entdeckt wird. Ebenso aber gilt andererseits, daß das, was in der Begriffsanalyse traktiert wird, nicht einem nur einseitig verknappten Beschreibungshorizont entnommen sein darf. - Bei Hegel dagegen dienen Beschreibungen, wenn es um Begriffsentwicklung geht, nur zur Paraphrasierung des von der Grundthese vorgezeichneten Weges der Gedankenbehandlung, die nicht akzentuierende Darstellung, sondern sich bewegende Sichselbstgleichheit ist, so daß die erste Bewegung eines Begriffs an ihm nichts und zugleich alles verändert. So auch beim Ich: Als bloßes Ich, Fürsich oder Selbst ist es in Reinheit gedacht, enthält sich aber noch nicht. Um es selbst wirklich zu sein, muß das Ich sich setzen, d. h. es muß sich aus dem Zustand seiner reinen Unbestimmtheit oder unbeschränkten Allgemeinheit zum Fixieren seiner Bestimmtheit wenden und damit seine abstrakte Negativität aufheben.
Der Trieb und das Interesse Die erforderliche Konkretisierung erreicht das Ich durch seinen Trieb. Damit wird Fichtes Triebbegriff für Hegel bedeutsam: „Was entweder idealisch gesetzt, oder gefühlt werden soll, dafür muß sich ein Trieb aufzeigen lassen. Nichts ist ohne Trieb im Ich, was in ihm ist." (Fichte SW 1, 326) Bekanntlich unterscheidet sich Hegel von Fichte u. a. jedoch darin, daß er das Ich nicht als ein positives am Anfang der sich setzenden Entwicklung stehen lassen will, weil seiner Auffassung zufolge unter dieser Voraussetzung die Negativität nur additiv hinzutreten könne. Zur Vermeidung dieses Dualismus müsse die Negativität dem Ich selbst immanent sein: Das Setzen einer Bestimmtheit sei immer Negation des Bestimmten und des Bestimmenden. Auch das Ich könne nicht positiv abstrakt Allgemeines setzen, sondern nur Etwas, womit es anderes und sich beschränke: „Gewöhnlich hält die Reflexion d a s . . . Unbestimmte, für das Absolute und Höhere, dagegen das Beschränkte für eine bloße Negation dieser Unbestimmtheit. Aber diese Unbestimmtheit ist selbst nur eine Negation gegen das Bestimmte, gegen die Endlichkeit: Ich ist diese Einsamkeit und absolute Negation." (SW 7, 58) Das Ich ist also eine Identität, die trotzdem ihren Widerspruch immer schon in sich trägt. Aus dieser Ambivalenz heraus entsteht unvermeidbar Spannung; im Lebendigen macht sie den Trieb aus. „Wo ein mit sich Identisches einen Widerspruch in sich trägt und von dem Gefühl seiner an sich seienden Identität mit sich selber ebenso wie von dem entgegengesetzten Gefühl seines inneren Widerspruchs erfüllt ist - da tritt notwendig der Trieb hervor, diesen Widersprudi aufzuheben." (SW 10, 276) Da dieser Widerspruch vom Ich aber nie beseitigt werden kann, bleibt es immer Trieb-Ich; in Hegels Gedankenkreis bedeutet dies aber nicht, daß das Ich von Trieben bedrängt wird, sich
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ihrer durch Abwehr erwehren muß. Vielmehr ist es selbst sein Trieb: Mit ihm übersetzt es seinen Widerspruch in die Objektivität. Im Ergebnis dieses Verfahrens sind Inhalt und Tätigkeit zu unterscheiden : „Daß, in sofern der Inhalt des Triebes als Sache von dieser seiner Tätigkeit unterschieden wird, die Sache, welche zu Stande gekommen ist, das Moment der subjektiven Einzelnheit und deren Tätigkeit enthält, ist das Interesse. Es kommt daher nidits ohne Interesse zu Stande." (SW 10, 376) In dieser Auffassung geht das Interesse also nicht von außen, von selbständigen Dingen aus, die im Subjekt eine teilnehmende Aufmerksamkeit erzeugen, sondern von der Übersetzung des Ich-Triebs in Objektivität; das Interesse ist somit ein rein subjektives Erzeugnis. Der Trieb und das Interesse gehen also nicht von ihrem Gegenüber aus, sondern treten aus ihnen selbst hervor. „Der Trieb i s t . . . etwas Innerliches, etwas, das eine Bewegung von sich selbst anfängt oder eine Veränderung aus sich hervorbringt . . . Durch äußere Umstände erwacht er zwar, aber dessen ungeachtet war er schon vorhanden. Er wird dadurch nicht hervorgebracht." (SW 3, 39 f.) Der Trieb hat die Aufgabe, eine psychische Spannung abzubauen, die logisch der Widerspruch zwischen Identität und Nichtidentität ist. Dieser Abbau geschieht zwangsläufig; der Trieb arbeitet ohne Einsicht, er ist blind wütende Tätigkeit: „Er befriedigt sich, die Folgen mögen sein, welche sie wollen." (SW 3, 40) Damit gerät der Trieb in die reine einsichtslose Abhängigkeit von seinem Erfüllungsschicksal und erzeugt einen naturgleichen Ablauf in sich. Er wirkt nur in Beziehung auf ihm anderes, ist damit nicht für sich, sondern wird abhängig von seinem Triebziel; so wird er unfrei und das Ich ebenfalls. Diese Veräußerlichung muß das Ich durch Reflexion wieder aufheben; mit ihrer Hilfe kann es die natürliche Beschränkung auflösen. - Im Ich bestehen also diese beiden Möglichkeiten: Der Trieb ist entweder unreflektierte Widerspruchslösung einer beschränkt natürlichen Art oder durch Reflexion erhaben geworden gegenüber der bestimmt blinden Erfüllung. „Die Reflexion vergleicht die verschiedenen Triebe und ihre Zwecke mit dem Grundzweck des Wesens. Die Zwecke der besonderen Triebe sind beschränkt, tragen aber, jeder in seiner Art, dazu bei, daß der Grundzweck erreicht wird. Diesem ist jedoch der eine näher verwandt als der andere. Die Reflexion hat also die Triebe zu vergleichen, ob sie mit dem Grundzweck verwandt sind und derselbe durch ihre Befriedigung mehr befördert wird." (SW 3, 41) Hegel unterstellt eine erreichbare Synklination der Einzeltriebe mit einem Grundzweck; er geht also von einem Grundtrieb aus. „Idi ist tätig, und diese Tätigkeit ist, sich zu objektivieren, Wirklichkeit, Dasein zu geben. In weiterer konkreterer Bestimmung ist diese Tätigkeit des Begriffs der Trieb." (SW 16, 544) Mit dieser These müssen einmal die Angaben der erfahrungswissenschaftlich arbeitenden Psychologie verglichen werden, die heute noch nicht weiß, ob sie überhaupt Triebe annehmen darf. Sind die Psychologen jedoch triebforschend orientiert, versuchen sie meist, mit polaren oder unsystematischen Ordnungen zu arbeiten. Von einem einzigen Grundtrieb spricht niemand mehr.
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Hegel unterstellt weiter, daß der eine Grundtrieb sein Ziel auch wirklich erreicht. „Ebenso ist die innere, die eigentliche Selbstbewegung, der Trieb überhaupt (Appetit oder Nisus der Monade, die Entelechie des absolut einfachen Wesens) nichts anderes, als daß etwas in sich selbst, und der Mangel, das Negative seiner selbst, in einer und derselben Rücksicht ist." (L 2, 59) Wenn mit Grundtrieb nur die Spannung zwischen Identität und Nichtidentität gemeint wird, ist diese Annahme möglidi, sie besagt dann aber inhaltlich nichts. Stillschweigend unterschoben wird von Hegel jedoch, daß über den Grundtrieb der Grundzweck erreicht wird - nur unter dieser Voraussetzung kann Trieb mit Entelechie identifiziert werden - , der in Hegels System eben nur ein Weg aufsteigender Entwicklung sein kann. Aus der Logizität des Triebvorganges geht dieses Resultat aber gerade nicht hervor. Wenn der Trieb der Ausdruck des Widerspruches zwischen Identität und Nichtidentität ist, gibt es zwei sich ausschließende Lösungen des Konflikts: Entweder es erfolgt die Abarbeitung des Widerspruchs in eine gerechtfertigte subjektive Identität - es gewinnt also der Trieb des Lebens; oder aber die Spannung des Widerspruchs zerschlägt die Identität — es gewinnt folglich die Destruktion des Todes. Wenn man den Trieb als Ersdieinung eines Identitätskonflikts nimmt und als solchen ernst nimmt, muß es auch diese beiden einander entgegengesetzten Möglichkeiten geben. Die Theorie des späten Freud verfügt darüber; ihr Problem besteht allerdings darin, daß sie gerade nicht transzendentale Theorie sein will, sondern Erfahrungstheorie, daß sie zugleich aber von konträren Triebtypen ausgeht. Hegels Behandlung des Triebkonflikts mit dem ausnahmslos obsiegenden Grundzweck des Lebens zeigt, daß er ihn im Grunde und für sich nicht als einen ernsten auffaßt, sondern vom vorentworfenen Ganzen aus harmonisdi behandelt. Die Konflikthaftigkeit des Ich ist in der Hegeischen Theorie für es selbst überhaupt keine Gefahr, sondern sie reguliert schließlich das Verhältnis zwischen Ich und Welt, zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen dem Denken des Ich und seinem Sein. So erzeugt das Ich in sich seine eigene Trennung: „ . . . als sich auf sich beziehend schließt seine ausschließende Einzelnheit sich von sich selber, also von der Einzelnheit, aus, und setzt sich dadurch als das mit ihr unmittelbar zusammengeschlossene Gegenteil ihrer selbst, als Allgemeinheit. Die dem Ich wesentliche Bestimmung der abstrakt allgemeinen Einzelnheit macht aber dessen Sein aus." (SW 10, 256) Das Ich und sein Sein sind untrennbar, aber nicht dasselbe, obschon der Unterschied kein wirklicher ist. Der Schluß von der cogitatio auf die Substanz wäre also letztendlich doch erlaubt, u.zw. gerade weil er nicht zwischen wirklich Differentem vermittelte. Das Ich kann nicht bestehen, ohne von sich als fortgesetzt identischem Cogitieren auszugehen; in diesen Vollzügen findet es dann die Gewißheit, selbst zu sein. In den unterschiedlichen Positionen Descartes' und Husserls müßte Hegel also für den ersten Partei ergreifen.
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Die Begründung der Objektivität des Gedankens im Idi Im Widerspruch zwisdien sich als seiner selbst gewissen Form und beschränktem Sein wird das Ich wieder ungleich mit sich: Es ist zugleich ein solches, das einerseits weiß, daß es in seinem beschränkten Tun nicht aufgeht, andererseits audi als allgemeines sich nur in begrenzten Tätigkeiten wiederfindet. Und es hat erfahren, daß es ist; es ist auch Sein geworden: „Einerseits muß zwar das Sein als das absolut Unmittelbare, Unbestimmte, Ununterschiedene von dem sich selbst unterscheidenden... Denken, vom Ich unterschieden werden; andererseits ist jedoch das Sein mit dem Denken identisch, weil dieses aus aller Vermittlung zur Unmittelbarkeit... zurückkehrt. Das Ich ist daher Sein, oder hat dasselbe als Moment in sich. Indem Ich dies Sein als ein gegen mich Anderes und zugleidi mit mir Identisches setze, bin idi Wissen und habe die absolute Gewißheit meines Seins." (SW 10, 256) Die Selbstgewißheit des eigenen Seins ist die Natur des Ich, sein ruhender Boden, der es immer trägt. In dieser Weise gehen sdion im Idi Subjektivität und Objektivität ineinander über. Logisch ist diese Partialidentität dadurch möglich, daß die beiden Charaktere nicht abstrakter Natur sind, sondern mindestens im Ansatz konkret. Denn Subjektivität beinhaltet eine Tendenz zur Zwecksetzung, die auch in der Willkür das Merkmal der Absicht zur Realitätsformung, der Veräußerlidiung auf das Objekt hin, nicht aufgeben kann; und Objektivität ist alles, was dem Subjekt gegenständlich wird, gleich ob dies dingliche Realität oder Gedanken sind, oder ob es es selbst ist, wenn es die Gewißheit seines Seins erfaßt. Das Idi als Denken begründet die Objektivität im Gedanken; der Motor dieser Verarbeitung ist der unbeschränkte Appetit des Ich, das alles in seinen Spiegel reflektieren und assimilieren will: „Erst im Denken bin ich bei mir, erst das Begreifen ist das Durchbohren des Gegenstandes, der nicht mehr mir gegenüber steht, und dem ich das Eigene genommen habe, das er für sich gegen mich hatte . . ." (SW 7, 51) Das heimholende Begreifen inszeniert sich so als Aggression des Gedankens: Die entgegenstehende Objektivität wird niedergemacht („Durchbohren"), damit sie, des Selbststands nunmehr unfähig, zerbrochen daniederliege („der Gegenstand steht nicht mehr gegenüber"); sie wird okkupiert, versklavt, ja weit mehr nodi: das „Eigene wird ihr genommen"; sie soll sich als sie selbst nicht mehr erheben. Aber auch das Ich als Denken ist nicht wirklich eigentümlich; als Denken ist es nicht eine konkrete Person mit bestimmter biotisdier und diarakterlicher Gesdiidite, sondern konkret nur noch dadurch, daß es wirkt, begreift, durchbohrt, um in dieser Tätigkeit letztlich nur sich zu finden. „Zur Wirklichkeit des Ich g e h ö r t . . . mehr, als die unmittelbare, natürliche Subjektivität der Seele; denn das Ich ist dies Allgemeine, dies Einfache, das in Wahrheit erst dann existiert, wenn es sich selber zum Gegenstande hat — wenn es zum Für-sidi-sein des Einfachen im Einfachen, zur Beziehung des Allgemeinen auf das Allgemeine geworden ist. Das sich auf sich beziehende Allgemeine existiert nirgends außer im Idi."
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(SW 10, 253) Um Zweifel an dem inneren ontologisdien Auftrag des Idi auszuschalten, wird betont, daß sein Denken in der äußeren Realität zwar in der kategorialen Vernichtung des einzelnen Daseins zutage tritt, daß es selbst dort aber nur zur Machtausübung gelangt, nicht zur Konversion ins Fürsichsein. Die Brutalität des die Realität allgemein machenden Ich ist universal und macht vor der eigenen Natürlichkeit nicht halt: „Auch die natürliche Seele ist zunächst nur die reale Möglichkeit dieses Für-sich-seins. Erst im Ich wird diese Möglichkeit zur Wirklichkeit... denn das Ich ist der durch die Naturseele schlagende und ihre Natürlichkeit verzehrende Blitz." (SW 10, 253 f.) Dieses Bild des verzehrenden Brandes in seiner konzentriertesten Form gibt an, daß kathartische Beweggründe am Werk sind: Die Natur als das Unreine soll durch die bearbeitende Aufnahme ins Ich geläutert werden. Damit aber wird verschleierte Axiotik zum Durchführungsmoment. Für die Dialektik des Ich ist 1. zu beachten, daß das Ich als solches über keine natürlichen Inhalte verfügt, sondern mittels seiner Tätigkeit nur über sich selbst - obsthon es in dieser Tätigkeit Natürliches vermittelt und dadurch mit ihm kommuniziert. Und 2. ist festzustellen, daß die reine Form des Ich sich zugleich ihr Inhalt ist - obschon das erst dann zutrifft, wenn der natürliche Inhalt von der Form, dem Ich, zum vermittelten moduliert wurde, (vgl. SW 3, 43) Dabei soll gelten, daß die verschlingend-aktive Tätigkeit, des Ich keine Grenzen hat; schließlich erzeugt das Ich eine Vermittlung, in der der natürliche Gegenstand sich ihm gegenüber nicht mehr behaupten kann. Die Beschreibung dieses Zerstörungsprozesses der Realität ist die „Phänomenologie des Geistes", die Geschichte der Unterdrückung der nur natürlichen Realität, die ein unendliches Urteil zum Resultat hat: „Das Ding ist Ich; in der Tat ist in diesem unendlichen Urteile das Ding aufgehoben; es ist nichts an sich; es hat nur Bedeutung im Verhältnisse, nur durch Ich und seine Beziehung auf dasselbe." (Phän 551) Mit diesem Ergebnis der Aufhebung des Dinges in das absolute Wissen ist es zugleich zerfallen: In theoretischer Hinsicht besteht es nicht mehr als natürliches, sondern nur noch als Gedanke, und in praktischer Hinsicht besteht es nur noch als Material, das nach seiner Brauchbarkeit oder Nützlichkeit zu beurteilen ist. Der ganze Vorgang der Subjektivierung der Realität wird von Hegel als ein nur volitiv-aktiver gedacht. Ihm zufolge hat sogar Kant in der Analyse dieses Prozesses die Elemente passiver Genesis nicht genügend eliminiert, u. zw. in zweierlei Hinsicht. Einmal habe Kant den Erkenntnisprozeß als einen der Anwendung von Kategorien gedacht und damit die supreme Funktion des Ich nicht zutreffend gewürdigt. „Ich bin das ganz Allgemeine, völlig Bestimmungslose, Abstrakte; insofern ich einen empirischen Inhalt in das Ich versetze, apperzipiere, so muß er in dies Einfache hinein. Damit er hineinkann in dies Eine, Einfache, muß er selbst vereinfacht werden, infiziert werden von der Einfachheit." (SW 19, 565 f.) 2 Zum anderen aber habe Kant nicht radikal genug be* Die Mehrdeutigkeit des Wortes „infizieren" dürfte Hegel wohl bewußt gewesen sein.
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tont, daß die Apperzeption Tätigkeit sei: „ . . . diese Einheit des Mannigfaltigen ist gesetzt durch meine Spontaneität; diese ist das Denken überhaupt, das Synthesieren des Mannigfaltigen. Dies ist ein großes Bewußtsein, eine wichtige Erkenntnis. Daß ich das Eine bin, und als denkend tätig, Einheit setzend, ist indessen bei Kant nicht so genau auseinandergesetzt." (SW 19, 566)
Die These der Identität des Ich und des Denkens Für Hegel ist die transzendentallogische Durchführung der Erkenntnis viel einfacher als für Kant. Bei Kant muß die Erkenntnis als das Zusammenspiel radikal differenter Momente gedacht werden, das den Spannungsbogen von der Spontaneität bis zum Chaos der Empfindungen umfaßt; insbesondere muß die Tätigkeit der Kategorien deduziert werden, d. h. bei Kant sind im Erkenntnisakt die begriffliche Gesetzlichkeit der Kategorien und die subjektive Spontaneität etwas Verschiedenes. Bei Hegel sind Ich-Subjekt und BegrifFs-Subjekt in der Aktivität des Erkenntnisprozesses dasselbe: Das logische Element des Begriffs ist zugleich das subjektive Element des wirkend-schaffenden Ich; das Formieren des Begriffs und das des Ich sind identisch. Damit gehen Begriff und Ich als Prinzipienbegriffe des von Hegel radikal prattoanalog gedachten Erkenntnisprozesses zusammen. Für Hegel entfällt demnach die Frage nach der Priorität oder Superiorität des Ich oder des Begriffs; bildlich sind für ihn „Schreiner und Hobel" in gleicher Weise primordial. Für die Kritik schwindet allerdings damit die Möglichkeit, in Hegels System Geltungsmomente von Genesemomenten zu trennen. Ihre Unterscheidung würde eine externe Überprüfbarkeit der Theorie ermöglichen. Aber dies geschähe nach Hegel um den Preis der Unfreiheit; denn ein Ich, das sich solchen Kriterien unterwürfe, wäre nicht mehr frei: „Dem Denken bewegt sich der Gegenstand . . . in Begriffen, d. h. in einem unterschiednen Ansidisein, welches unmittelbar für das Bewußtsein kein unterschiednes von ihm ist . . . Im Denken bin ich frei, weil ich nicht in einem Andern bin, sondern schlechthin bei mir selbst bleibe und der Gegenstand, der mir das Wesen ist, in ungetrennter Einheit mein Fürmichsein ist; und meine Bewegung in Begriffen ist eine Bewegung in mir selbst." (Phän 152) Vom Hegeischen Standpunkt aus ist also die Freiheit des Ich im Denken gesichert; aber kriteriell nachprüfbar ist das Ergebnis dieses Denkens nicht. Für Hegel wäre eine solche Verifikationsabsicht ein Veräußerlichungsversuch an einem unmöglichen Objekt. Denken und Ich sind ihm ja identisch: Da das Idi aber nicht objektivierbar ist, muß dies auch für das Denken gelten. Insofern bestimmt das Ich das Denken. Andererseits gilt: Wenn Idi und Denken identisch sind, dann muß das Ich auch immer - denken. Insofern beherrscht also das Denken das Ich. Mit dieser Konsequenz gerät Hegel allerdings in eine schwierige anthropologische Beweislage, denn er muß wie Descartes dafür plädieren, daß der Mensch immer, also auch im Schlaf, denkt. Eine entsprechende Annahme ohne weitere
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Voraussetzungen kann aber in der Hegelschen Theorie nicht gemacht werden, denn in ihr ist Denken durch Tätigkeit gekennzeichnet; der Schlaf aber ist eben vorwiegend Passivität. Schlaf und Denken können vorerst also nichts gemeinsam haben. Diese Schwierigkeit wird von Hegel gesehen. Um sie zu beseitigen, erfindet er einen Unterschied zwischen Denken als Tätigkeit im Sinne der Gedankenformierung und Denken als unbestimmter Grundlage und Grundform des subjektiv-geistigen Seins. Mit Hilfe dieser zweiten Art des Denkens soll auch vom schlafenden Menschen gesagt werden können, daß er ein denkender ist. „ . . . das Denken überhaupt gehört so sehr zur Natur des Menschen, daß derselbe immer, auch im Schlafe, denkt. In allen Formen des Geistes . . . bleibt das Denken die Grundlage. Dasselbe wird daher, in sofern es diese unbestimmte Grundlage ist, von dem Wechsel des Schlafens und des Wachens nicht b e r ü h r t . . . Anders verhält sich hingegen die Sache in Bezug auf das Denken, in sofern dasselbe als eine unterschiedene Form der geistigen Tätigkeit den anderen Formen des Geistes gegenübertritt. In diesem Sinne hört das Denken im Schlafe und im Traume auf. Verstand und Vernunft - die Weisen des eigentlichen Denkens - sind nur im Wachen tätig." (SW 10, 117) Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der physiologischen Schlafforschung ist diese Annahme eines kontinuierlidi andauernden Denkens im Schlafe unglaubwürdig: Schlafen und Wachen sind Ausdruck einer physiologisdien Periodik, die dem circadianen Rhythmus der Ruhe und der Aktivität aufruht. Die damit verbundenen Zustände der zerebralen Organisation unterscheiden sich nicht so sehr quantitativ als vielmehr gerade in der Qualität der neuronalen Entladungsmuster im ZNS. Schlaf und Traum stellen höchstwahrscheinlich restitutive Vorgänge des Organismus und des Gehirns dar; sie können als trophotrope Funktionslage sensu Hess aufgefaßt werden. Gerade unter Hegelschen Voraussetzungen besteht ein elementarer Gegensatz zwischen der Trophotropik von Erholung, Ernährung, Genuß einerseits, der Ergotropik von Praxis, Formierung, Trieb andererseits, (vgl. Hess 1965) Im letzten Jahrzehnt wurde ferner erforscht, daß auch das Träumen nur in bestimmten, streng abgegrenzten Schlafabschnitten erfolgt (sog. REM-Phasen). Die von Hegel gemachte Konzession ist bedeutsam: Um die Kontinuität des Ich zu sichern, des Ich, das mit Denken gleichgesetzt wird, muß eine Kontinuität des Denkens unterstellt werden. Diese Annahme zwingt jedoch dazu, voneinander verschiedene Typen des Denkens anzusetzen: Wenn es überhaupt sinnvoll ist, dem Schlaf eine denkende Subjektsstruktur zu unterschieben, dann kann sie phänomenal nur als ein Muster oder ein Schema, ontologisch nur als Potenz gedacht werden. Insoweit will Hegel nicht gegen die Phänomene verstoßen. Um ihnen wenigstens in dieser unausweichlichen Situation nicht zu widersprechen, anerkennt er deshalb zwei Typen des Denkens. Diese Konzession bedeutet aber, daß die generelle Kennzeichnung der Aktivität des Denkens nicht attributiv, sondern nur modal verstanden werden könnte. Ein Wechsel zwischen Aktivität und „Passivität" des Denkens wäre damit möglich. Damit
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ergibt sich aber folgende Aporie: Entweder das Ich denkt immer (weil das Denken Aktivität und Passivität sein kann) - dann ist Denken nichts Handlungsaffines; oder Denken ist Handeln (wie es Hegel, von der Konzession an dieser einen Stelle abgesehen, pausenlos behauptet) - dann denkt das Ich nicht immer. Das Denken als Be-greifen und als Nach-denken Von diesen Ausführungen abgesehen hält Hegel an der Vorstellung des Denkens als eines grundsätzlich Begreifenden und Formierenden fest; für ihn ist Denken als strukturierende Kraft selbst in den niederen seelischen Funktionen tätig, dort nur etwas eingeengt durch die „Äußerlichkeit". Sein Korrelat ist ausnahmslos ein Produkt, nämlich der Gedanke; und der Gedanke hat keine andere Beziehung als die auf das Denken: „Das Denken als die Tätigkeit ist somit das tätige Allgemeine, und zwar das sich betätigende, indem die Tat, das Hervorgebrachte, eben das Allgemeine ist. Das Denken als Subjekt vorgestellt ist Denkendes, und der einfache Ausdruck des existierenden Subjekts als Denkenden ist Idi." (Enz 54) Das Denken ist also geistige Tätigkeit, und als solche produziert es etwas, ähnlich wie arbeitende Maschinen oder schaffende Hände: „Indem Denken als tätig in Beziehung auf Gegenstände genommen wird, - das Nachdenken über Etwas, so enthält das Allgemeine als solches Produkt seiner Tätigkeit den Wert der Sache, das Wesentliche, das Innere, das Wahre." (Enz 56) Auf dem Boden dieser Annahme wird das Wahre an den Begebenheiten oder dem Seienden nicht unmittelbar im Bewußtsein gefunden, nicht durch Invention und Anschauung, nicht im „ersten Anschein und Einfall". Damit wird die Grundüberzeugung vom Recht der Vermittlung gegen die Unmittelbarkeit auch auf das denkende und das erdenkende Idi übertragen. Die Hegeische These will offensichtlich zweierlei als dasselbe ansetzen, nämlich die idealistische Begriffsanalyse und die psychische Produktionsweise richtiger Ergebnisse oder neuer Erkenntnisse. Hegel ist der Überzeugung, „daß, was das Wahrhafte an Gegenständen, Beschaffenheiten, Begebenheiten, das Innere, Wesentliche, die Sache sei, auf welche es ankommt, sich nicht unmittelbar im Bewußtsein einfinde..., sondern daß man erst darüber nachdenken müsse, um zur wahrhaften Beschaffenheit des Gegenstandes zu gelangen, und daß durch das Nachdenken dies erreicht werde". (Enz 56) Die Denkpsychologie bestätigt diese Auffassung nicht: Richtige Ergebnisse können genauso gut spontan oder „automatisch" einfallen wie mühsam erarbeitet sein. Das Genie wird nichts ohne Fleiß, aber er allein macht kein Genie. Als Beispiel sei nur auf die Kekulésche Entdeckung des Benzolrings verwiesen: Er wurde momentan und im Halbschlaf erschaut, und damit war seine Wahrheit entdeckt; was noch fehlte, war die denkerische und experimentelle Überprüfung und die Darstellung. Die Beweislieferung ist nur die Bestätigung für Vermutetes; das produktive Moment liegt in der vorausgreifenden Invention. Einen ingeniösen Einfall prüfen kann jeder Beauftragte; niemand kann auf An-
§ 17 Begriff und Idi
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Ordnung geniale Einfälle haben 1 . Hegel selbst betont zwar oft genug die Produktionskraft des Denkens, aber ihren Auftrittsort sieht er nicht im originären Einfall, sondern im nachfolgenden beweisenden Traktat, u. zw. nur in ihm. Wenn man Hegels Annahme folgt, kann man durchaus ansetzen, daß 1. zum Denken keine unmittelbare Erfindungsgabe gehöre, womit aus dem Denken alle naturale Kreativität und subjektive Spontaneität verbannt würde, so daß es 2. in seinem Verlauf konstruierbar sein müßte. Audi wenn man dem Nachdenken einen bestimmten oder sogar einen hohen Wert für die Wahrheitsentdeckung zuspricht, muß das für seinen Stil keineswegs bedeuten, daß es nur als konstruierendes Rechtfertigen, als sog. setzende Vermittlung, auftritt; ebenso kann es den Charakter des kreisenden Erwägens oder des lateralen Anspielens haben. Das Denken insgesamt aber kann wohl noch etwas anderes als prattoanalog verbissene Durchführung sein, die ihre Zufriedenheit nur findet, wenn sie auf „Fertigungen" blickt, die sie allesamt als ihre eigenen ausgeben kann. Das Denken ist audi als: Vision, die Entwürfe liefert also als Unmittelbarkeit ohne Absichten; Reflexion, die sich von der Welt abwendet - also als Verzicht ohne heimlichen Machtstandpunkt; Meditation, die nicht auf den Ausstoß von Ergebnissen lauert - also als reines Erwägen ohne Gewinnsucht. Die Internalisierung des „hobelnden Schreiners" ist nur ein Denktyp unter vielen.
Die Ablehnung der pathischen Charaktere des Idi Hegel wirft der romantischen Bewegung, aber audi Fichte und Kant vor, von der Subjektivität nicht absehen zu wollen, sie für an und für sich seiend zu halten und ihre innerste Bedeutung in der Praxis des Sollens und Strebens zu sehen. Dabei geht er sogar zu individualpsychologischen Angriffen über, indem er Fichtes Bevorzugung des Sehnens mit der Behaglichkeit dieses Zustandes assoziiert. (vgl. SW 19, 633 f.) Dieser Argumentation kann entgegengehalten werden, daß auch Geschäftigkeit ein angenehmer, wenn nicht sogar um des Anschauens der eigenen Betätigungen willen sogar dringend benötigter Zustand sein kann, der seine Rechtfertigung verlangt: „Die uns alle Vorstellungen, Zwecke, Interessen und Handlungen durchwirkende Tätigkeit des Denkens ist, wie gesagt, bewußtlos geschäftig (die natürliche Logik)." (L 1, 15) Mit derartigen Vorstellungen wird jedenfalls eine äußerste Steigerung eines prattoanalogen Subjektsmodells erreicht: Weil alle subjektiven Seinsweisen Denken sind, und Denken immer Tätigkeit ist, kann auch das Subjekt nur als Tätigkeit sein, u. zw. bis hinein in die Verhaltensweisen, die es idilidi nicht mehr steuert: immer, selbst noch bewußtlos, wird es von einer Tätigkeit gesetzlicher, denkender Art durchwirkt. Diese Auffassung des idilichen Subjekts als einer Identität aus Panlogizi1
Es haben z.B. sdion genug des musikalischen Handwerks Fähige versucht, Schuberts 8. Symphonie zu vollenden. Dieses „Nachdenken" ergab aber nichts von Bedeutung, weil sich nichts „unmittelbar" im Bewußtsein einfand.
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tat und Arbeitsfron im Dienste der Idee, das überdies in der Identität dieser Faktoren ohne Konflikte lebt, ist heute nicht mehr vertretbar, u.zw. weder für das Tages- noch für das Nachtleben. Die zuständigen Disziplinen, insbesondere die Verhaltensforschung der organismischen Zustände, haben kein Konstrukt gefunden, mit dessen Hilfe die Verhaltensklassen etwa des „analytischen Denkens, gierigen Wollens und des Angstschwitzens" usw. in einem einzigen übertragbaren Schema vereinigt werden könnten. Irgend etwas Derartiges müßte es aber gerade Hegel zufolge geben, wenn die Erlebnis- bzw. Verhaltensklassen in oder aus einem bestimmten Prinzip zu einigen wären, das nicht-ichlich („bewußtlos") fungierte: Was bewußtlos wirkt, aber weltlich ist, müßte in objektiver Forschung entdeckbar sein. Ein entsprechendes Substrat wurde aber nicht gefunden. Die idealistische Vorstellung der Konformität einer geschäftigen Logik und eines tätigen Subjekts ist damit durdiaus unglaubwürdig geworden. Aber sie ist wohl audi schon mit Hegeischen Mitteln nicht haltbar: Tätigkeit hat nämlich Resultate, und Resulate haben Grenzen. Tätigkeit erzeugt also audi Grenzsetzung gegen sich selbst. Und selbst wenn die Tätigkeit als Reflexion auf sich selbst sich nicht mehr auf anderes bezieht, bleibt sie doch als Beschäftigung mit sich eine endliche. Auch die völlige Abstraktion von äußerer Endlichkeit erzeugt nodi nicht innere Unendlichkeit, sondern als tätige die Grenzen der Endlichkeit, damit der Unfreiheit. Und selbst die vollständige Identifikation mit der begriffenen Realität im absoluten Wissen ist Freiheit nur als Herrschaft der Idee, nicht des ichlichen Subjekts. Das Ich, das sich als nur-tätig denkt, bleibt unfrei, Sklave des Tuns; es kann mindestens eines nicht: einfach nur „sein", ohne zu arbeiten. Denkt das Ich sich aber wenigstens einen von Tätigkeit freien Eingang in die weltlichen Verpflichtungen zu, muß es diesen Beginn logisch für θύραθεν gegeben erklären, darf es seine ursprüngliche Genesis nicht für eine eigene „Tathandlung" ausgeben, sondern muß sie als ein Sidi-finden, Sich-gesdienkt-sein begreifen. Auf dem Jenenser Stand war Hegel bereit, diesen Ansatz aufzugreifen: „Dieses, daß Idi nur ist als ein sich findendes, nicht getrennt, etwa vorher, als es sich gefunden hat, sondern daß es dies Finden seiner selbst [ist], dies ist seine absolute Unendlichkeit..." (JL 171) Und nodi auf dem Standpunkt der Enzyklopädie benutzt Hegel bei der Beschreibung der Bedingungen der Unendlichkeit des Subjekts pathisdie Charaktere: In der äußerlichen Realität tritt die Negation als Schranke auf, im Subjekt wird sie zum Mangel, der die Voraussetzung der Verbindung des Subjekts und des ihm Entgegenstehenden ist. Der Mangel ist Bedingung für das Erleben des Widerspruchs und das Ubersteigen der Grenze. „Ein solches, das den Widerspruch seiner selbst in sich zu haben und zu ertragen fähig ist, ist das Subjekt; dies macht seine Unendlichkeit aus." (Enz 296) „ H a b e n " und „Ertragen" sind eindeutig passive Modi, die nur mit einem ihnen vorausgeschickten Entwurf wieder prattoanalog interpretiert werden könnten: Dies, daß es den Widerspruch in sich haben und ertragen kann, dies
§ 17 Begriff und ΙΑ
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madit das Subjekt nicht, dies findet es vor. Der Umgang mit dem Widerspruch mag dann eine Aufgabe für Handeln und Wirken sein. Anders gefaßt besagt diese Überlegung: Daß ein subjektiv aktuell Unendliches sich als unendlich erhält, ist ebenso denkbar wie, daß es sich begrenzt. Das Setzen von Grenzen übersteigt seine Möglichkeiten nicht. Das subjektiv aktuell Unendliche kann sich prinzipiell begrenzen und verendlichen. Das Umgekehrte aber ist nicht denkbar: daß ein Endliches sich selbst zum Unendlichen macht. Das subjektiv aktuell Unendliche, das aber unter Bedingungen der Endlichkeit lebt - das Ich in der Welt - , kann sich zum Wirklich-Unendlichen, das es ist, nicht selbst gemacht haben, weil es in diesem Prozeß Momente der Endlichkeit in sich hätte aufnehmen müssen, sofern ihm die Welt überhaupt ein ebenbürtiger Konfliktpol gewesen wäre (was man bei Hegel bezweifeln muß). Wenn das Ich sich als unendlich und als frei auffassen will, dann muß es, auch wenn es die Wissensgewinnung dieses seines wirklichen Selbstseins nur in mühsamer Arbeit erreichen kann, die zureichenden Bedingungen seiner Unendlichkeit und seiner Freiheit als sich gegeben, nicht als von sich gemacht oder hergestellt auffassen. Die Aufgabe jedes in der Welt anfangenden Ichs lautet, daß es wirkliches Ich werden soll, d. h. sich zur Freiheit und Sittlichkeit bringen muß. Wenn ihm die Erfüllung gelingen kann, dann nur deswegen, weil es über die Bedingungen mindestens δυνάμει verfügt, d. h. es muß das schon sein, wozu es sich werden lassen soll.
Die Gefahr des Verfallens des Ich an die Endlichkeit Die Beziehung zwischen dem unendlichen, freien und dem endlichen, natural beschränkten Ich kann sich als eine höchst aktive, sogar kämpferisch-bewegte gestalten: „Ich . . . b i n unendliches Bewußtsein und zugleich bin ich endliches Selbstbewußtsein und zwar nach meiner ganzen empirischen Bestimmung; Beides, sowie ihre Beziehung, ist für mich. Beide Seiten suchen sich und fliehen sich. Einmal ζ. B. lege ich den Akzent auf mein empirisches, endliches Bewußtsein und stelle mich der Unendlichkeit gegenüber, das andere Mal schließe idi mich von mir aus, verdamme mich und gebe dem unendlichen Bewußtsein das Übergewicht . . . Ich bin und es ist in mir für mich dieser Widerstreit und diese Einigung; Idi bin in mir selbst als unendlich gegen mich als endlich und als endliches Bewußtsein gegen mein Denken als unendliches bestimmt . . . Ich bin also die Beziehung dieser beiden Seiten, welche nicht abstrakte Bestimmungen, wie ,endlich und unendlich', sondern jede selbst die Totalität sind. Die beiden Extreme sind jedes selbst Ich, das Beziehende, und das Zusammenhalten, Beziehen ist selbst dies in Einem sich Bekämpfende und dies im Kampf sich Einende. Oder, Ich bin der Kampf, denn der Kampf ist eben dieser Widerstreit, der nicht Gleichgültigkeit der Beiden als Verschiedener, sondern das Zusammengebundensein beider ist. Ich bin nicht Einer der im Kampf Begriffenen, sondern Idi bin beide Kämpfende und der Kampf selbst." (SW 15, 80) In dieser Darstellung beschreibt Hegel ein in sich zerrissenes Ich, eines, das
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E Der Begriff und die Person
allgemein, unendlich, frei ist, und eines, das besonderes, endlich, unfrei ist. Es ist nicht das Ich des hypothetischen erwachsenen Vernunftmenschen der gewohnten philosophischen Konstruktionen, das sich übrigens auch in der „Phänomenologie des Geistes" auf die Wegarbeit zum absoluten Wissen hin aufmacht und dabei mannigfache Gefahren in seiner geistigen Ausformung erlebt (um aber, wie der H e l d des großen Romans, aus allen Auseinandersetzungen nur desto klüger hervorzugehen), sondern es ist ein Ich, das die Gefahr des Verfallens an die Endlichkeit als Ereignis erlebt. Diese Gefahr tritt dadurch ein, daß das IchSubjekt seinen innersten Auftrag vergißt, an der Heimholung der Substanz in die Subjektivität zu arbeiten, und sich statt dessen in seine Beliebigkeiten wirft, willkürlich und sprunghaft wird und dadurch nicht mehr sich gehört, sondern seinen Umständen. „ D a s Subjekt steht damit als die bloße endliche Subjektivität der wahrhaften Geistigkeit gegenüber." (SW 13, 367) D a s endliche Ich ist nicht am Allgemeinen, sondern am Besonderen interessiert. Es verfällt in den leeren Genuß des Narzismus und, falls sich die Besonderheiten verselbständigen, „in die Häßlichkeit der Leidenschaften und des Charakters, in Lasterhaftigkeit und Sünde, in Tücke, Bosheit, Grausamkeit, Trotz, Neid, Hochmut, H o f f a r t und alle die anderen Kehrseiten der menschlichen N a t u r und deren gehaltlose Endlichkeit." (SW 13, 367) In diese partiellen Verfinsterungen kann das Subjekt geraten, wenn es Akzidentelles über das Substantielle setzt. N u n muß aber jedes Idi, um an seinem O r t in der Welt zu sich selbst zu gelangen, zunächst den Weg der Hinwendung zum Äußerlichen und dann den der Rückkehr daraus beschreiten. Woher soll das Idi im Anfang dieses Tuns wissen, ob es sich wirklichem Gehalt oder blendendem Schein anheimgibt? Dem in der Welt beginnenden Ich müssen auch der absolute und der objektive Geist in subjektiver Weise vermittelt werden; eine unmittelbare Hinwendung des Ich etwa zum objektiven Geist ist nicht vorstellbar. Weil man nicht von „ideae innatae" der richtigen Gehalte ausgehen kann, muß man annehmen, daß die Gegenstände insbesondere des objektiven Geistes f ü r das beginnende Ich als Stimuli des Lernens aufzutreten hätten. D a s entsprechende Kapitel — also etwa die Motivationspsychologie und Lerntheorie des objektiven Geistes - fehlt in Hegels System, obschon in seiner Frühzeit Ansätze dazu vorhanden waren. Bezüglich der jüdischen Mentalität setzt Hegel z . B . eine Korrelation zwischen objektivem Geist bzw. „Überich" und Subjektivität a n : „ D a s Prinzip der ganzen Gesetzgebung ((bei den Juden)) war der von den Voreltern ererbte Geist - das unendliche Objekt, der Inbegriff aller Wahrheit und aller Beziehungen, also eigentlich er das einzige unendliche Subjekt - da es nur erst Objekt genannt werden kann, insofern der Mensch mit seinem geschenkten Leben vorausgesetzt wird und das lebendige, das absolute Subjekt heißt." (Theol 250) Die Ansätze einer Sozialpsychologie des Ich sind aber später von Hegel nicht ausgebaut worden. Die Rechtsphilosophie handelt nur von der Sozialphilosophie des Ich.
§18 Begriff und Individuum
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§ 18 Begriff u n d I n d i v i d u u m Das unbestimmte und das bestimmte Individuum Wenn das Problem der Logik des Individuums bei Hegel angegangen -wird, meldet sidi gewöhnlich als erste die auf Kierkegaard bauende Kritik zu Wort. Ihr zufolge hat Hegel dem Individuum heftiges Unredit getan, indem er die Fragen nach der ethischen Existenz des Individuums mit angeblichen Antworten einer Subjekt-Objekt-Idee erschlage. Diese Identität aber bleibe selbst im Falle ihrer gelingenden Durchführung eine nur theoretische und nütze dem Einzelnen im Leidensdrudk des Daseins nichts. „Die Philosophie erklärt: Denken und Sein ist eins . . . Aber so hat man die Antwort auf das eigentlich Gefragte, das Existieren eines einzelnen Menschen ausgelassen." (Kierkegaard GW 7, 28) Kierkegaard geht davon aus, daß die Unzulänglichkeit in Hegels Verfahren nicht erst in seinem Resultat erscheint, sondern sdion darin wurzelt, daß es überhaupt Individualität, Existenz und Freiheit zu begründen versudit. Alle Begründung setze aber zumindest einen Grund bzw. ein logisches Prinzip voraus, durch die jede nachgeordnete Freiheit eingeschränkt werde. Logische Notwendigkeit und freie Handlung schlössen sich somit aus, solange man nicht begriffliches Denken und individuelles Existieren identifiziere. Diese Gleichsetzung aber sei deswegen nicht möglich, weil die Existenz nicht wie die Begriffe définit abschließbar sei, sondern sich ständig fort-setze. Die inhaltliche Interpretation dieser Auffassung führt dann bei Kierkegaard dazu, das Individuum als Wagnis seiner Existenz, als fragende Gewißheits-losigkeit zu sehen. Auch die Kierkegaardsdie Position scheint aber nicht unwiderlegbar zu sein, denn in ihr wird wiederum von einer logischen Voraussetzung ausgegangen, die die Freiheit der Existenz einschränkt, nämlich der, daß das Individuum „unabschließbar" sei, daß es sich zeitlich unablässig fort-setze. Kierkegaard gestaltet damit einen Begriff des Individuums aus, der das Zeitmoment des subjektiven Daseins besonders akzentuiert, worin ihm Kant (Kritik der reinen Vernunft, 1781/87) und Wolff (Psydiologia rationalis, 1734) vorausgegangen waren. Für diese großen Denker war wiederum die Auffassung des Empirismus von Bedeutung, das Individuum als das durch Selbstbewußtsein ausgezeichnete Seiende (Locke, Essay 1690) aufzufassen. Im Hintergrund dieser neuzeitlichen Subjektsdeutung steht generell die Absicht, ein „unbestimmtes" Individuum zu denken, das nicht durch die Universalität des Seins vorgeformt ist. Den entscheidenden Durchbruch für diese Auffassung vollzog wohl Richard von St.-Victor, indem er die Substanztheorie des Individuums abänderte. Diese hatte unter Verwendung antiker und patristischer Vorstellungen bei Boethius ihre erste Definition gefunden: „Persona est naturae rationalis individua substantia." (Boethius, Liber de persona et duabus naturis PL 64, 1343)3 Der Kern dieser These wurde bis zur Hochscholastik durchge3
Vgl. § 21. Begriff und Person - Die philosophischen Interpretationen der Person vor Hegel.
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E Der Begriff und die Person
halten: Thomas hatte noch einen Seinsbegriff, nodi keine aktualistisdie Vorstellung der Person. („Incommunicabilis subsistentia", vgl. Thomas I SENT 30, 4; Summa theol. I, q 40, a 1 ad 1.) Für Richard aber wurde sie dann „incommunicabilis existentia" und „existens per se solum iuxta singularem quemdam rationalis existentiae modum". (vgl. Richard in: PL 196, 945 f. [De trin. IV 22 u. 24]) Richard sah das Individuum zwar theologisch noch eingebettet in eine universale Ordnung des Seins, aber philosophisch war es für ihn nicht mehr durch seine beharrende Grundlage, seine Subsistenz gekennzeichnet, sondern durch die sich erzeugende Unmittelbarkeit seiner Existenz. Diese Auffassung bestimmte später in radikalisierter Form auch die Kierkegaardschen Vorstellungen. Es ist aber zu bezweifeln, ob auf dem Boden Kierkegaards und seiner existentialistischen Nachfolger eine Verwirklichung der Freiheit gedacht werden kann. Für eine philosophisch u n d wissenschaftlich zureichende Analyse dürften die Resultate der Naturwissenschaften dabei nicht ausgeklammert werden. In dieser umfassenden Sicht hat aber 1. die „Freiheit" einer unmittelbaren Existenz mit der Polarität von Freiheit und Notwendigkeit keinerlei Verbindung, sondern ist ihr gegenüber schlichtweg disjunkt. „Freiheit" einer unmittelbaren Existenz wäre für sich und nur für sich; mehr ließe sich über sie nicht sagen, auch nicht, daß sie frei von Einflüssen, Milieu usw. wäre. Freiheit in der Wirklichkeit hätte aber zunächst nicht nur Spontaneität oder Freiheit „für" und „zu" zu sein - dies wären ihre ferneren Ziele - , sondern erstlich Freiheit „von", und als solche hätte sie vor allem anderen ihre Möglichkeit zu beweisen. Der Verweis auf eine problemlose Naturunabhängigkeit des sog. „Existierens" ist heute unglaubwürdiger denn je. So sind „unmittelbare Existenz für sich" einerseits und „Freiheit von" andererseits in kein Verhältnis zu bringen. Und 2. tritt auch „unmittelbare Existenz", sofern sie sich auf einen rational verstehbaren Handlungsvollzug einläßt, unter dem B e g r i f f „unmittelbare Existenz" an, wird also ebenso als Gedanke gefaßt wie als Handlung vollzogen. Wenn man die naturwissenschaftlichen Ergebnisse über den Menschen nicht aus der philosophischen Betrachtung ausklammert und das Individuum in irgendeiner Weise begriffsfähig oder begreifbar sein läßt, kann mit Kierkegaardschen Mitteln der Begriff eines freien Individuums also nicht expliziert werden. In seiner Argumentation gegen Hegel geht Kierkegaard überdies von einem gedanklichen Fundament aus, das dem Hegel der „Enzyklopädie" nicht unterschoben werden kann: Nur wenn in Hegels Theorie das Individuum wirklich zum Gedanken gemacht werden sollte, wäre eine „unmittelbare Existenz" als sein je eigenes Wagnis unmöglich gemacht. Die Überführung der einzelnen Individuen in Gedanken wird aber in Hegels Theorie nicht angestrebt; Hegel geht es um die gedankliche Analyse des Individuums. So banal es sich anhören mag: Diese Analyse d e s Individuums hindert die Individuen genauso wenig in ihrer Existenz wie die Begriffsform der Blume die Blumen in ihrem Blühen stört oder die Begriffsform eines Gefühls die Gefühle in ihrer Kraft schwächt. Das Verwandeln in den Begriff ist ein Nachkonstruieren in einem anderen Medium, das
§18 Begriff und Individuum
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die vorgängige Seins- oder Existenzweise der Individuen nicht berührt. Dies ist jedenfalls der Standpunkt der insofern unmetaphysisdien Einleitung der „Enzyklopädie" von 1830. In der „Phänomenologie des Geistes" setzte Hegel freilich noch andere Akzente, indem er das Wesen der Individualität im Allgemeinen des Geistes sah. (vgl. Phän 224 f.) Diese unterschiedlichen Betrachtungsweisen dürfen nicht gleichgesetzt werden: Das Leben der Individuen aus dem universalen Medium des Geistes heraus („Phänomenologie des Geistes") ist etwas anderes als die begriffliche Erfassung des Individuums („Enzyklopädie"). Für das Verfahren der „Enzyklopädie" gilt: Dadurch, daß Etwas gedacht wird, sei es nun ein Ding, eine psychische Funktion oder das Individuum, wird es zwar mit einer Gedankenform belegt; aber dies Verfahren hat nicht die Wirkung, als ob dabei die dem jeweils Bedachten entsprechenden Individuen realiter audi verwandelt würden. Wenn also die Existenz radikaler Ungewißheit das Wirkliche der Individuen wäre, dann bliebe sie dies audi, wenn über sie entsprechende Gedanken konzipiert würden. Gegen Kierkegaard muß schließlich gefragt werden, was ein existierendes Individuum ist, wenn es nicht bedacht und nicht über es gedacht werden kann. Eine Existenz, die etwas „wagt", muß fragen; hinter jeder Frage aber steht ein urteilendes Subjekt mit intersubjektiven Beziehungen, das sich in diesem Tun Grenzen setzt, indem es anderem Grenzen setzt. Somit hat es sein Dasein nidit nur in sich selbst. In diesem Ansatz stimmen Hegel und Kierkegaard noch überein. Den Hinaus-gang des Individuums über sich selbst akzentuiert Kierkegaard dann aber als die besondere Eigenheit der Existenz, während die Charaktere des Besonderen und unexplizierten Eigentlichen für Hegel der Anfang der Willkür und des Bösen sind. Über die Freiheit läßt sich für Hegel erst in der Begriffslogik sprechen, denn „es ist der Begriff die Wahrheit der Substanz, und indem die bestimmte Verhältnisweise der Substanz die Notwendigkeit ist, zeigt sich die Freiheit als die Wahrheit der Notwendigkeit und als die Verhältnisweise des Begriffs." (L 2, 214) Ein nur unmittelbar seiendes Individuum wäre deshalb nach Hegel völlig unfrei: „Das Individuum ist wohl mehr als nur das nach allen Seiten beschränkte, aber dies Mehr gehört in eine andere Sphäre des Begriffs; in der Metaphysik des Seins ist es ein schlechthin Bestimmtes." (L 1, 101)
Das Individuum und die Negation der Negation Unter dem Begriff des Seins reduziert sich Individualität auf Bestimmtheit, Größe und Maß, also auf noch un-wesentliche Unterschiede. Will die Individualität sich als nur seiende Gegenstand werden, fällt sie in den Widerspruch, dem äußerlich Besonderen zu wirklicher Einzelheit verhelfen zu wollen, ohne die Allgemeinheit dabei zu berücksichtigen. „Wenn daher fälschlicherweise die Individualität in die Besonderheit der Natur und des Charakters gesetzt wird, so finden sich in der realen Welt keine Individualitäten und Charaktere, son-
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dem die Individuen haben ein gleiches Dasein füreinander; jene vermeintliche Individualität ist eben nur das gemeinte Dasein, welches in dieser Welt, worin nur das Sichselbstentäußernde und darum nur das Allgemeine Wirklichkeit erhält, kein Bleiben hat." (Phän 352) Was in der Subjektivität den Charakter des Sichentäußerns hat, stellt sich im Sein nodi einfach als Unterschied dar, d. i. als seiende Differenz oder einfache Negation. Die Feststellung des Unterschieds aber erzeugt sein Aufheben und damit die Negation der Negation. „Dies Aufgehobensein des Unterschieds ist die eigene Bestimmtheit des Daseins; so ist es Insidisein; das Dasein ist Daseiendes, Etwas. Das Etwas ist die erste Negation der Negation, als einfache seiende Beziehung auf sich. Dasein, Leben, Denken usf. bestimmt sich wesentlich zum Daseienden, Lebendigen, Denkenden (Ich) usf.. . . D a s Negative des Negativen ist als Etwas nur der Anfang des Subjekts; - das Insichsein nur erst ganz unbestimmt. Es bestimmt sich fernerhin zunächst als Fürsichseiendes und so fort, bis es erst im Begriff die konkrete Intensität des Subjekts erhält." (L 1, 102) Die fundierende Rolle in diesem Prozeß spielt die Negation der Negation. Durch sie kommt die Beziehung des Etwas auf sich selbst zustande; so ist sie präcogitative Reflexion und damit erstes Aufscheinen der wahren Unendlichkeit: Die Schranke der einfachen Negation wird in ihr aufgehoben, und das Etwas kann zu seiner Gleichheit mit sich selbst gelangen. Aber nicht schon das Etwas, sondern erst der subjektive Begriff erfährt die Gleichheit für sich. Im Begriff ist die Negation der Negation sowohl Entzweiung als auch Identität; deren wechselseitige Erfüllung aber ist die Idee. Als die Vereinigung des Begriffs und der Realität ist sie die Idee der Objektivität; ihr gegenüber steht als Komplement die freie, negative Einheit mit sich, die Idee der Subjektivität. „Dieses Subjekt ist die Idee in der Form der Einzelheit als einfache aber negative Identität mit sich, das lebendige Individuum." (L 2, 419) Der erkennende Begriff bewegt sich in der Logik also als Begriff in einem Individuum. Um erkennen zu können, muß die Substanz individuelles Subjekt werden, nidit bloß Begriff oder Gesetz. Es ist nidit zutreffend, wenn Marcuse meint, daß in der „Wissenschaft der Logik" dem Ich bzw. dem Individuum keine erkennende Rolle zukomme: „. . . in der Dimension, in der das Erkennen hier sich bewegt, steht das Ich nicht mehr gegen eine ansichseiende Welt, - die Dimension des Lebens ist schon die vorgängige Einheit von Subjektivität und Objektivität, und das Erkennen nur ein Freilegen dieser Einheit, der .Trieb', das nur noch vorausgesetzte' Anderssein aufzuheben, ,in dem Objekte die Identität mit sich selbst anzuschauen'. . . Und das eigentliche Subjekt dieses Triebes ist der Begriff selbst, das in dieser Einheit sich schon bewegende Seiende selbst: das ,Leben', nicht als die lebendige Individualität, . . . sondern das Leben als reine ,Gattung', als ,einfache Allgemeinheit'". (Marcuse 1932, 190) Gegen Marcuse stehen die oben angegebenen Worte Hegels, in denen er als Subjekt nicht eine „lebendige Allgemeinheit" oder eine „lebendige Gattung", sondern „das lebendige Individuum" benennt.
§18 Begriff und Individuum
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Der Erkenntnisprozeß wird nicht auf der allgemeinen Stufe des Lebens durchgeführt, auch nicht auf der ihm folgenden besonderen Stufe der naturalen und nur äußerlichen Individuen, sondern erst auf der wirklichen Stufe des Zusammenschlusses des Lebens und des Individuums, nämlich im „lebendigen Individuum". Die Gewinnung der Totalität der Erkenntnis erfährt ihre äußerste Steigerung nicht im Leben, in der Gattung, im Trieb, sondern - dies sei hier vorweggenommen - in der Persönlichkeit. „Jede neue Stufe des Außersichgehens, d. h. der weitern Bestimmung ist auch ein In-sich-gehen, und die größere Ausdehnung ebensosehr höhere Intensität. Das Reichste ist daher das Konkreteste und Subjektivste, und das sich in die einfachste Tiefe Zurücknehmende das Mächtigste und Übergreifendste. Die höchste zugeschärfteste Spitze ist die reine ((nicht die konkrete!)) Persönlichkeit, die allein durch die absolute Dialektik, die ihre Natur ist, ebensosehr alles in sidi befaßt und hält, weil sie sich zum Freisten macht, - zur Einfachheit, welche die erste Unmittelbarkeit und Allgemeinheit ist." (L 2, 502) In dieser analytisdien Paraphrase am Ende der „Wissenschaft der Logik", die das erschaffende Denken des Logos und das Nachdenken der Vernunft analogisieren will, verlegt Hegel den Erkenntnisprozeß nicht in eine kategoriale Institution, ζ. B. des Lebens, sondern in das Individuum, das in seinem Zentrum „reine Persönlichkeit", in seinem Beginn „lebendiges Individuum" ist.
Die Einfachheit und die Komplexität des Individuums Die erste Aufgabe des Individuums in der Welt ist aber nicht die Durchführung des Erkenntnisprozesses, sondern seine Selbstorganisation: Das Leben geht der Erkenntnis vorher. So ist das subjektive Individuum zunächst Seele in einem Leib, anfangendes Prinzip, forma corporis. Die Hauptaufgabe besteht für es darin, der Vielheit der verschiedenen Vermögen und Verhaltenseigentümlichkeiten Einheit zu geben und sie nicht in einer Reihe zufälliger Vereinzelungen zu belassen. Diese erzeugte Einheit des Individuums zeichnet auch den späteren Weg seiner Erforschung vor und soll „geistlose" Interpretationen vermeiden. „Die unterschieden wirklichen Individualitäten wieder so aufzufassen und zu erzählen, daß der eine Mensch mehr Neigung zu diesem, der andere mehr zu jenem, der eine mehr Verstand als der andere habe, hat aber etwas viel Uninteressanteres, als selbst die Arten von Insekten, Moosen usf. aufzuzählen; denn diese geben der Beobachtung das Redit, sie so einzeln und begrifflos zu nehmen, weil sie wesentlich dem Elemente der zufälligen Vereinzelung angehören. Die bewußte Individualität hingegen geistlos als einzelne seiende Erscheinung zu nehmen, hat das Widersprechende, daß ihr Wesen das Allgemeine des Geistes ist. Indem aber das Auffassen sie zugleich in die Form der Allgemeinheit eintreten läßt, findet es ihr Gesetz und scheint jetzt einen vernünftigen Zweck zu haben und ein notwendiges Geschäft zu treiben." (Phän 224 f.) Der wichtigste Auftrag für die forma corporis bzw. das Allgemeine des Geistes ist es somit zweifellos,
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die besonderen Vielheiten des Verhaltens zu einigen. Keineswegs sicher ist jedoch, daß die Erledigung dieser Aufgabe immer gelingt. Wirkliche Defizienzen, Regressionen und Desorganisationen können darüber hinaus dem Hegelsdien Entwiddungsbegriff zufolge kein Thema seiner Philosophie sein; diese Vorgänge können als Verhaltensbestandteile also später auch nicht vom Gedanken begriffen werden. Schließlich tritt das Allgemeine des Geistes nicht f ü r sich sichtbar am Individuum auf; gerade in der Hegeischen Theorie kann es eine abstrakte Erscheinung des Allgemeinen nicht geben. Das Allgemeine wird vielmehr sichtbar im konkreten Verhalten, u. zw. nur in ihm. Dieses Verhalten der Menschen ist aus der Logizität des Geistes heraus nicht konstruierbar - sonst wären alle Menschen verhaltensgleich. Es ist aber eine typisch Hegeische Unterstellung, daß die erfahrungswissenschaftliche Zuwendung zum Mensdien ihn damit zu einer nur seienden Erscheinung madie: Die wissenschaftliche Erfassung der seelischen Eigenschaften und Vermögen bzw. der Faktoren der Verhaltenssteuerungen ist nur über eine Analyse des von ihnen ausgehenden Verhaltens möglich; insofern liegt in diesem Angang keine Willkür oder Beschränkung beschlossen. Eigenschaften und Vermögen bzw. die Konstrukte, die man für die Verhaltensmodi verantwortlich macht, sind der wissenschaftlichen Behandlung nicht unmittelbar zugänglich. Insekten und Moose kann man direkt als seiende vergleichen, beim Menschen kann man in entsprechender Weise nur verfahren wollen; man erfährt in dieser Einstellung aber nichts über sein Psychisches oder sein Verhalten. N u r soweit der Mensch nur-naturales Wesen ist, kann man ihn überhaupt als seienden untersuchen; in dieser Einstellung arbeiten Anatomie, Physiologie und große Teile der Medizin. Sobald der Mensch aber als sich verhaltendes Wesen zur wissenschaftlichen Untersuchung ansteht, kann er nicht mehr als nur seiender aufgefaßt werden. In der wissenschaftlichen Psychologie ist diese kategorial bedingte Untersuchungslage in letzter Zeit durch das Verblassen der Richtungen dokumentiert worden, die zu Auffassungen des Psychischen neigten, in denen es strukturiertem Seienden analog gedeutet wurde. Wenn Hegel die Auffassung der Individualität als einer seienden Erscheinung verwirft, kann man ihm entgegenhalten, daß es hier nichts abzulehnen gibt, weil es den entsprechenden wissenschaftlichen Gelingensfall in der Forschung nicht gibt. Aber ebensowenig gibt es den Fall der Konstruktion der Individualität nur aus dem Allgemeinen heraus: Das Profil der Intelligenz eines Menschen etwa gewinnt man nicht aus einer Analyse „des" Verstandes überhaupt, sondern nur dadurch, daß ein Betroffener seinen Verstand selbst „zeigt", u.zw. beispielsweise durch Vermittlung eines Intelligenztests, unter dessen Anforderungen er seine Intelligenz als ganze besondere Aufgaben bearbeiten läßt, aus deren Resultat man evtl. ein Profil seiner wirklichen Intelligenz konstruieren kann. Wenn die Individuen auch im Fundus des allgemeinen Geistes wurzeln („Phänomenologie des Geistes"), so ergibt die Analyse dieses Geistes Relevantes doch nur f ü r den Geist, für die Individuen aber nur insofern, als sie allgemeine sind, z. B.
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generell denkende, fühlende, wollende, theoretische und praktische sind usw. Uber die Individuen erfährt man damit - nichts. Die entsprechenden Verhältnisse werden von Hegel in der „Enzyklopädie" sachlich gerechter gesehen als in der „Phänomenologie des Geistes". In der „Philosophie des Geistes (Der subjektive Geist)" neigt Hegel mehr zu einer ausgewogen polaren Beschreibung des Individuums: „Jedes Individuum ist ein unendlicher Reichtum von Empfindungsbestimmungen, Vorstellungen, Kenntnissen, Gedanken u.s.f.; aber Ich bin darum doch ein ganz einfaches, - ein bestimmungsloser Schacht, in welchem alles Dieses aufbewahrt ist, ohne zu existieren. Erst wenn Idi mich an eine Vorstellung erinnere, bringe Ich sie aus jenem Innern heraus zur Existenz vor das Bewußtsein." (SW 10, 155) Das Individuum ist danach ebenso sein einfaches Ich wie die Komplexität seines Wissens und Verhaltens; es ist sowohl einfach als auch vielfach. Die Möglichkeit dieses kategorialen Widerspruchs, dessen reale Wirklichkeit unbestreitbar ist, wird von Hegel hier deutlicher als je zuvor expliziert : Die Einfachheit des ichlichen Individuums und die Komplexität seiner Gliederungen stünden unvereinbar nebeneinander, wenn das Ich als Idealität nicht Negation wäre, in deren Einsatz die Vielfältigkeit der Verhaltensgliederungen vereint und aufbewahrt werden kann. Durch die Negation wird die Idealität der Besonderheiten am Individuum möglich; so erst kann es als Einheit sein. Aber diese Einheit gerät in der endlichen Wirklichkeit an ihre Existenz, und dadurch wird die Idealität ihrer Bestimmungen in ein Auseinander gewendet. „So ist das Lebendige z. B. Individuum, tritt aber als Subjekt ebensosehr in Gegensatz gegen eine umgebende unorganische Natur. Nun enthält der Begriff allerdings diese Seiten, doch als ausgesöhnte; die endliche Existenz aber treibt sie auseinander und ist dadurch eine dem Begriff und der Wahrheit ungemäße Realität. In dieser Weise ist der Begriff wohl überall; der Punkt jedoch, auf welchen es ankommt, besteht darin: ob der Begriff auch seiner Wahrheit nach in dieser Einheit wirklich wird, in welcher die besondern Seiten und Gegensätze in keiner realen Selbständigkeit und Festigkeit gegeneinander verharren, sondern nur noch als ideelle, zu freiem Einklang versöhnte Momente gelten." (SW 12,147)
Der Schmerz und die Erzeugung des Bedürfnisses nach Identität Hegel unterscheidet demnach zwischen der kategorialen und der realen Entwicklung des Individuums. Für die reale gilt, daß das Individuum in seiner Endlichkeit von seiner logischen Idealität abweichen kann. Nicht in der kategorialen Entwicklung, wohl aber in der Realität kennt Hegel also sehr wohl die Differenz zwischen dem Definitivum des Begriffs und der Unabgeschlossenheit der Existenz. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß Hegel diese Einsicht nur sehr selten formuliert, seine Texte meistens dagegen den Anschein haben, als ob er die kategoriale für die regionale oder individuelle Entwicklung ausgebe. Die Entwicklungslogik des Systems besagt ja, daß dem Gang von der
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Substanz zum Subjekt sich nichts entziehen kann; so empfangen audi die Individuen ihre Aufgabe aus dem Geist: „Denn den innern substantiellen Geist erfassen, dies ist der Standpunkt des Individuums; innerhalb des Ganzen sind sie wie Blinde in demselben, der innere Geist treibt sie." (SW 19, 691) Widersprüchlichkeit ist kein Vorrecht der endlichen Realität; audi in der gedanklichen Behandlung gerät das Individuum mit sich in Auseinandersetzungen: In der Negation bestimmt es sich und bezieht sich auf anderes, wodurch es sich verliert; diesen Verlust setzt es aber wieder für sich, und in diesen Wiederholungen kann es identisch bleiben; dafür zahlt es den Preis, das Andere, die Welt, immer wieder erneut sich selbst gleich setzen zu müssen. „ . . . so ist der Begriff in die absolute Ungleichheit seiner mit sich entzweit, und indem er ebenso die absolute Identität in dieser Entzweiung ist, so ist das Lebendige für sich selbst diese Entzweiung und hat das Gefühl dieses Widerspruchs, welches der Schmerz ist. Der Schmerz ist daher das Vorrecht lebendiger Naturen; weil sie der existierende Begriff sind, sind sie eine Wirklichkeit von der unendlichen Kraft, daß sie in sich die Negativität ihrer selbst sind, daß diese ihre Negativität für sie ist, daß sie sich in ihrem Anderssein erhalten." (L 2, 424) Der Schmerz des Individuums ist das Gefühl seiner kleinen oder großen, besonderen oder wirklichen Zerrissenheit. Im Schmerz empfindet das Individuum seine Subjektivität als Zerrissenheit, als Nichtidentität. „Von dem Schmerz fängt das Bedürfnis und der Trieb an, die den Übergang ausmachen, daß das Individuum, wie es als Negation seiner für sich ist, so auch als Identität für sich werde, eine Identität, welche nur als die Negation jener Negation ist." (L 2, 424) Der Schmerz tritt also als ein Konstitutionsfaktor auf; es ist der Trick der Idee, die Individuen mit seiner H i l f e auf Identität hin begierlich sein zu lassen. Deswegen ist es in Hegels System auch unmöglich, daß der Schmerz die Individuen zu etwas anderem als zu ihrer Identität bringt. Es ist aber keineswegs so selbstverständlich, daß der Schmerz nur diese einsinnige Entwicklung betreiben muß. An sich kann der Schmerz nämlich doppelsinniger Grund sein. Einerseits kann er zum Zwecke seiner eigenen Uberwindung den Trieb der Identität entstehen lassen, wie Hegel es will. Wenn der Schmerz aber wirkliches, nicht nur scheinbares Moment der Identitätsreparatur oder -herstellung sein soll, dann muß er jedoch andererseits auch die Möglichkeit haben, ernsthaft gegen das Individuum anzutreten. Gefahrlose Medizin gibt es nicht. Ist der Schmerz aber eine wirkliche Gefahr des Individuums, dann muß er es weiter dahin bringen können, sich selbst als den stärkeren Kontrahenten in diesem Konflikt zu erweisen. Dies ist der Fall, wenn die Identitätsrestitution des Individuums gründlich mißlingt, wofür etwa nichtremittierende Schizophrenien oder schwere körperliche Erkrankungen mit infausten Verläufen düstere Beispiele abgeben. Der Schmerz, der körperliche oder der seelische, nagt dann an der Identität des Individuums; sein sonst identitätsstiftender Stimulus wird für sich selbständig; die Identität des Individuums verfällt der Auflösung, wie sie die jeweiligen Krankheiten erzwingen. Diesen absoluten, verbesonderten Schmerz - ein dem Individuum
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mächtiges Gegenüber - kennt Hegel nicht; er kennt nur den Heilschmerz im Dienst der tätigen Idee, die selbst unerkannt bleibt, da das Individuum sich als ein unmittelbares erscheint, solange es nicht zum Bezug auf anderes gezwungen wird und dadurch in dessen Abhängigkeit gerät. Seine Abhängigkeit vom Geist wird dem Individuum jedenfalls nicht unvermittelt transparent. „Die Idee hat in dieser Unmittelbarkeit alle ihre Seiten vereinzelt realisiert und bleibt deshalb nur die innre Macht, welche die einzelnen Existenzen, natürliche wie geistige, aufeinander bezieht. Dieser Bezug ist ihnen selbst ein äußerlicher und erscheint audi an ihnen als eine äußerliche Notwendigkeit der vielfachsten wechselseitigen Abhängigkeiten und des Bestimmtseins durch anderes. Die Unmittelbarkeit des Daseins ist von dieser Seite her ein System notwendiger Verhältnisse zwischen scheinbar selbständigen Individuen und Mächten, in welchem jedes Einzelne in dem Dienste ihm fremder Zwecke als Mittel gebraucht wird oder des ihm Äußerlichen selbst als Mittels bedarf." (SW 12, 206) Obschon das Individuum von der Idee getragen wird, ist es somit ständig in der Gefahr, zum Mittel herabgesetzt zu werden, u. z. im Dienste anderer Individuen oder auch im Dienste der Idee. (Hegel würde allerdings nicht zugeben, daß Individuen dadurch, daß sie von der Idee benutzt werden, eine Herabsetzung erfahren können. Die Auftritte der Ideen in der Gestalt der Ideologien haben indessen inzwischen in diesem Punkte Belehrung erzwungen.) In beiden Fällen ist es nicht mehr wirkliches Individuum, sondern es wird benutzt, also zur Besonderheit herabgesetzt, zur praktischen Besonderheit durch andere Individuen, zur theoretischen durch die Idee. Das nur Besondere aber ist nicht mehr autonomer Geist, sondern bestimmte Partikel in einem Plan, nicht Faktor in einem sich ausgleichenden Entwicklungszusammenhang. Als Besonderes ist es gerade aus der zweiseitigen Gleichberechtigung entlassen. Wirkliche Individualität erzeugt dagegen die dialektische Verbindung des Allgemeinen und des Besonderen. Höchste Individualität ist etwa dem tragischen Held zuzusprechen, denn er ist eine Person, in der sich ein an sich nur begrenzter Charakter mit einem „gediegenen" Inhalt als Lebenszweck untrennbar bis zur Konsequenz des Verzichts auf natürliche Existenz vereinigt. Der tragische Held ist der Unmittelbarkeit und Äußerlichkeit entgangen. „In dieser Höhe, auf welcher die bloßen Zufälligkeiten der unmittelbaren Individualität verschwinden, sind die tragischen Helden der dramatischen Kunst, seien sie nun die lebendigen Repräsentanten substantieller Lebenssphären oder sonst schon durch freies Beruhen auf sich große und feste Individuen, gleichsam zu Skulpturwerken hervorgehoben." (SW 14, 528)
Die Besonderung, die Schuld und das Böse Die Besonderung des Individuums kann von außen her erzeugt werden; sie kann aber auch in ihm selbst begründet sein. In der letzteren Weise stellt sie sich ein, wenn das Individuum sich von aller realen Äußerlichkeit abgrenzt und nur
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für sich und aus sich sein will. Man könnte generell an den Autisten oder den Narzisten, an den Schwärmer oder den Propheten denken. Hegel bringt ein historisdies Beispiel, den Mohammedanismus. „Während die Europäer eine Menge von Verhältnissen haben und ein Convolut derselben sind, ist im Muhamedanismus das Individuum nur dieses und zwar im Superlativ, grausam, listig, tapfer, großmütig im höchsten Grade . . . Nie hat die Begeisterung als solche größere Taten vollbracht. Individuen können sich für das Hohe in vielerlei Gestalten begeistern; audi die Begeisterung eines Volkes für seine Unabhängigkeit hat noch ein bestimmtes Ziel; aber die abstrakte, darum allumfassende, durch nichts aufgehaltene und nirgend sich begrenzende, gar nichts bedürfende Begeisterung ist die des muhamedanischen Orients." (SW 11, 457) Wenn man den von Hegel beschriebenen Mohammedaner als Typ auffaßt, bedeutet das, daß er seine Zwecke nicht dem Zusammenspiel des Begriffs und der Realität entnimmt, sondern nur der Leerheit der berauschenden Begeisterung, die keines Anstoßes bedarf, sondern aus dem Bedürfnis nach Verherrlichung entsteht und damit leere Besonderung in sich bleibt. So entsteht nur der Schein einer Selbständigkeit, dessen Inhalt Zufall ist: „ . . . in dieser abstrakten Selbständigkeit würde als Inhalt nur die ganz zufällige und partikuläre Leidenschaft, die Willkür der Begierde und des Beliebens übrigbleiben und die schlechte Querköpfigkeit der Einfälle und bizarre Originalität der Empfindung ihren unbegrenzten Spielraum gewinnen." (SW 14, 434) Das ganzheitliche Fürsichsein des Individuums schlägt als Absicht so in die Konzentration eines isolierten Bedürfnisses um: Die Begeisterung erfüllt zwar das Individuum ganz, außerhalb seiner aber wirft sie sich auf sehr spezielle Themen; gerade eine gegliederte Weltbetrachtung ist ihr nicht möglich. So entsteht aus der Besonderung des Individuums schließlich seine Verranntheit in isolierte Details der Welt, die seinen Partialwünschen entsprechen. Damit wird die Entstehung des Bösen möglidi. Das Individuum kann sich in seinem Denken einerseits für die Verwirklichung des Allgemeinen entscheiden; es kann andererseits auch versuchen, die eigene Willkür, die eigene Besonderheit, zur Maxime zu erheben. Wenn es ihren Eingebungen folgt, erzeugt es Böses, u.zw. als Produkt seiner substanzlosen Besonderung. Dieses Ergebnis kann das Individuum nicht von sich abstoßen wie eine teilnahmslos beendigte Arbeit, weil es sich in die Besonderheit dieses Produzierens ganz hineingelegt hat, weil sie außerhalb seiner überhaupt nichts ist. „Das Böse ist nach der formellen Seite das Eigenste des Individuums, indem es eben seine sich schlechthin für sich eigen setzende Subjektivität ist, und damit schlechthin seine Schuld,... und nach der objektiven Seite ist der Mensch, seinem Begriffe nach als Geist, Vernünftiges überhaupt, und hat die Bestimmung der sich wissenden Allgemeinheit schlechthin in sich." (SW 7, 206) Das Individuum ist aus seiner begrifflichen Veranlagung heraus vernünftig; diese Bestimmung muß es jedoch entwickeln, um sie als Einsicht in seine Handlungsfähigkeit einsetzen zu können. Ein Verzicht auf sie ist ihm nicht möglich; das aber bedeutet: Das Indi-
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viduum ist prinzipiell schuldfähig. Tritt Böses in der Welt auf, kann und muß also nach Schuld gesucht werden. Wie aber soll sie zugemessen werden? Der konkreten Beantwortung dieser Frage entzieht sich Hegel: „Wie bestimmt oder in welchem Grade der Klarheit oder Dunkelheit das Bewußtsein jener Momente in ihrer Unterschiedenheit zu einem Erkennen entwickelt, und inwiefern eine böse Handlung mehr oder weniger mit förmlichem bösen Gewissen vollbracht sei, dies ist die gleichgültigere, mehr das Empirische betreffende Seite." (SW 7, 207) Hegel konzediert also, daß es trotz der prinzipiellen Schuldfähigkeit des Individuums auf der Grundlage beispielsweise akuter Gewissenstrübung oder auch lebenslanger Gewissen-losigkeit Fälle der Einsichtslosigkeit in das Böse einer Handlung geben kann. In solchen Umständen vollzogene Handlungen wären zwar an sich böse, nicht aber böse auch für das sie ausführende Individuum. Ein solches Individuum wäre also schuldunfähig. Daß die konkrete Entscheidung über Schuld bzw. Sdiuldgrad empirisch zu klären sei, ist in der Durchführung jedoch höchst problematisch: Läßt man sich auf eine schuldunfähig machende Motivanalyse erst einmal ein, kann hinter jedem ausgeräumten Motiv wieder ein anderes vermutet werden. Bewußtseinsbehinderung, Bewußtseinstrübung, Bewußtseinslähmung, Bewußtseinsausschaltung usw. können dann jeweils sich weiter untergrabende Fundamente der Relativierung abgeben. Deshalb ist einerseits ein unanfechtbarer empirischer Nachweis der Schuldfähigkeit einer konkreten Handlung genauso wenig zu erbringen wie andererseits eine absolute Bloßlegung der Schuldunfähigkeit. Die empirische Schuldfeststellung erlaubt keine sittliche, sondern nur eine konventionalistische „ Schuld"-zumessung. Gedanklich ist sie sogar eine Unmöglichkeit, weil Schuld eine moralische Kategorie ist, eine Kategorie der Praxis obendrein, die somit weder theoretisch noch empirisch „fest-gestellt" werden kann. - Das Strafrecht ist aber den von Hegel gewiesenen Weg gegangen; das Ergebnis ist der Schwund des Schuldbegriffes selbst. Heute sind nicht nur die Verfahren der empirischen Schuldfeststellung umstritten wie nie zuvor, sondern auch das moralische Problem der Schuldfähigkeit selbst wird in der wissenschaftlichen Diskussion teilweise für unentscheidbar oder für erledigt angesehen. Um der Sdiuldgefahr generell zu entgehen, könnte das Individuum den Einfall haben, auf das Handeln zu verzichten, also als Leben asketisch und als Person nur theoretisch sein zu wollen. Dieser Ausweg widerspräche aber seiner Bestimmung. „Die nur einzelne Individualität, die nur erst den reinen Begriff der Vernunft zu ihrem Inhalte hat, statt aus der toten Theorie in das Leben sich gestürzt zu haben, hat sich also vielmehr nur in das Bewußtsein der eignen Leblosigkeit gestürzt und wird sich nur als die leere und fremde Notwendigkeit, als die tote Wirklichkeit zuteil." (Phän 265) Hegel stellt hier als Pole der Entfaltung des Individuums Theorie und Leben gegenüber, nicht Theorie und Praxis. Zum Leben des Individuums gehört nicht nur die Praxis des Schaffens und Veränderns, sondern auch die Sinnlichkeit der Anschauung, des Fühlens und Erlebens sowie die Theorie des Verstandes und der Intelligenz. Vermittels
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der letzteren verkehrt das Individuum mit der rationalen Intersubjektivität und ist auch dann allgemein, wenn es in seinen Wünschen nur besonderes ist. „Denn die vernünftige Intelligenz gehört nidit dem einzelnen Subjekt als solchem wie die Begierde an, sondern dem Einzelnen als zugleich in sich Allgemeinem. Indem sich der Mensch dieser Allgemeinheit nach zu den Dingen verhält, ist es seine allgemeine Vernunft, die in der Natur sich selber zu finden und dadurch das innere Wesen der Dinge wiederherzustellen strebt, welches die sinnliche Existenz, obschon dasselbe ihren Grund ausmadit, nicht unmittelbar zeigen kann." (SW 12, 66) Der Weltzustand der Dinge und der Trieb des Individuums Dieser Gedanke weist erneut auf die Schwierigkeiten hin, die in Hegels Theorie zwisdien dem Recht der Erfahrung und der Forderung der Rationalität bestehen: Im Theoretisieren steht das lebendige Individuum den Dingen nicht als einzelnen gegenüber; im praktischen Begegnen verfährt es mit ihnen dagegen als einzelnen, z. B. vernichtend im Essen, formierend im Bearbeiten. Vom Theoretisieren sollen die Dinge in ihrer Allgemeinheit erfaßt werden; wenn es sich dabei um eine Allgemeinheit der Dinge und nicht um eine vom Betrachter erst hineingesehene Verallgemeinerung handeln soll, muß man annehmen, daß die Dinge dieses Charakteristikum von ihnen selbst her zeigen können. Das Theoretisieren müßte die einzelnen Dinge also selbst gewähren lassen, auch wenn es hofft, die eigene Vernunft als die der Dinge wiederzufinden. Aber mit dieser Notwendigkeit geht der Zustand des Individuums nicht konform, wenn es Bedürfnis und Trieb ist; mit ihrer Hilfe will es die Negation seiner für sich zur Identität werden lassen. „Die Identität, die im Triebe als solchem ist, ist die subjektive Gewißheit seiner selbst, nadi weldier es ((das Individuum)) sidi zu seiner äußerlichen, gleichgültig existierenden Welt als zu einer Erscheinung, einer an sich begrifflosen und unwesentlichen Wirklichkeit verhält. Sie soll den Begriff in sich erst durch das Subjekt erhalten, welches der immanente Zweck ist." (L 2, 424) Die Begrifflichkeit der Dinge muß sich in dieser Sicht also darauf reduzieren, dem Trieb des Individuums angemessen sein oder werden zu können. Ihre Logizität schrumpft so auf das Potential äußerlicher Erregungs- und Reizpole zusammen. Das lebendige Individuum ist dann mittels seines Triebes in der Lage, diese Äußerlichkeit seinen Zwecken entsprechend aufzunehmen und zu bearbeiten. Damit wendet es freilich Gewalt auf die objektiven Dinge an; es macht die Äußerlichkeit der Dinge sich entsprechend. Die Dinge werden somit im Theoretisieren dieses Stils letztlich zu aufbereiteten Benutzungsgrundlagen; sie zeigen sich für es eben nicht von ihnen selbst her. Damit entsteht für die Hegelsdie Lehre erneut die aussetzungen unverstellte Erfahrungsdaten für die gewonnen werden können. Dem Theoretisieren geht gesteuerte Auffassung und Formation der Erfahrung
Frage, ob unter ihren VorTheoriebildung überhaupt bei Hegel immer die triebvoraus, so daß das von den
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Dingen als eigenes Gezeigte ihnen vorgängig schon in Subjektsarbeit verliehen sein muß. Aber mit dieser Schwierigkeit befaßt Hegel sich nicht. Er glaubt von seinem Ansatz her, die Möglichkeit objektiver Erfahrung ansetzen zu können. Der Vorentwurf der begrifflichen Subjekt-Objekt-Identität erlaubt es ihm, Vernunft audi in den Dingen, Objektivität auch in den Subjekten zu suchen. Diesem Vorentwurf zufolge ist es für ihn keine unzulässige Annahme, daß die Dinge sich als sie selbst zeigen, obwohl sie den Begriff zu ihrem Kern haben. Das Modell, das in diesen Überlegungen benutzt wird, ist das einer Reifung, die zusätzlich gestaltet wird: Dem Weltprozeß liegt die allgemeine Substanz zugrunde, die sich entfaltet; die Individuen sind die betätigenden Funktionäre. „Der Unterschied aber und Gegensatz, in welche dadurch der zunächst in sich harmonische Weltzustand mit seinen Individuen gesetzt wird, ist - in Beziehung auf diesen Weltzustand betrachtet - das Hervortreiben des wesentlichen Gehalts, den er in sich trägt; während umgekehrt das substantielle Allgemeine, das in ihm liegt, zur Besonderheit und Einzelheit in der Weise fortgeht, daß dies Allgemeine sich zum Dasein bringt, indem es sich wohl den Schein der Zufälligkeit, Spaltung und Entzweiung gibt, diesen Schein aber eben dadurch wieder tilgt, daß es darin sich erscheinen läßt." (SW 12, 270 f.) In dieser Sicht werden die Individuen offensichtlich zu nur ausführenden Helfern der erfolgreich und riditig prozessierenden Substanz. Als Beauftragte führen die Individuen etwas aus; sie handeln nicht. Hegel betont zwar oft genug, „nur Individuen, seien sie Menschen oder Götter, können wirklich handeln" (SW 14, 360), aber es bleibt die Frage, wie diese in einen festen Entwicklungsplan eingefügten Beauftragten wirklich handeln können sollen. - Die Schwierigkeiten für das Handeln der Individuen entstehen also nicht durch die begriffliche Nachkonstruktion der Individuen, sondern durch die Emanationsvorstellungen, die die Individuen aus einem als real-allgemein gedaditen Geist hervorgehen lassen wollen. Die Gattung und der Tod des Individuums Das Individuum ist definitionsgemäß das Unteilbare, das Einzelne; es findet seinen realen Gegenpol im teilbaren Allgemeinen. Dies ist die Gattung. Als Allgemeines beherrscht sie die Individuen von der Substanz her. Gerade wenn die Einzelnen glauben, unter naturalen Voraussetzungen nur ihr Geschäft zu betreiben, ζ. B. in der Nahrungsaufnahme oder im Paarungsvorgang, betreiben sie das Geschäft der Gattung. Der wesentliche naturale Zweck des Individuums ist nicht die Erhaltung seiner selbst, sondern die Erhaltung der Gattung. Auch wenn die Individuen sich nacheinander ablösen, bleibt die Gattung dieselbe. Sie benötigt sogar den Tod der bestimmten Individuen: „Die Gattung erhält sich nur durch den Untergang der Individuen, die im Prozesse der Begattung ihre Bestimmung erfüllt, und insofern sie keine höhere haben, damit dem Tode zugehen." (Enz 306) Der Tod des Individuums ist aber nach Hegel keine konkrete Verwirklichung der Gattung, sondern etwas durdiaus Abstraktes, ver-
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gleichbar der bloßen Singularität eines nur Lebendigen. „Wahrhaft verwirklicht sich dagegen die Gattung im Geiste, im Denken, - diesem ihr homogenen Elemente." (SW 10, 95) Somit ist das Recht der Gattung auf das Individuum schließlich ein höheres als eins der bloßen Natur; das Individuum ist nämlich im Vergleich mit der Gattung unmittelbare, seiende Natürlichkeit und damit zu einer angemessenen Reproduktion des Gedankens der Gattung noch nicht fähig. Dieses Recht der Gattung ist nicht vergleichbar dem Kampf der natürlichen Einzelnen untereinander, sondern eben Recht des Allgemeinen. So entsteht der Tod des Individuums aus ihm selbst: Die Differenz des organischen Individuums und der Allgemeinheit der Gattung ist der „angeborne Keim des Todes. Das Aufheben dieser Unangemessenheit ist selbst das Vollstrecken dieses Schicksals. Das Individuum hebt sie auf, indem es der Allgemeinheit seine Einzelnheit einbildet, aber hiemit, insofern sie abstrakt und unmittelbar ist, nur eine abstrakte Objektivität erreicht, worin seine Tätigkeit sich abgestumpft [hat], verknöchert und das Leben zur prozeßlosen Gewohnheit geworden ist, so daß es sich so aus sich selbst tötet." (Enz 309) Diese Ableitung ist bedenklich. Sie besagt, daß das Individuum seinen Tod als tätiges selbst herbeiführt. Die Beseitigung einer Unangemessenheit durch Vollstrecken des Schicksals ist nicht passiv und passim zu erreichen, sondern nur durch geplante und bewußte Ausführung. Hegel schreibt in entsprechender Konsequenz: so „daß es ((das Leben des Individuums)) sich so aus sich selbst tötet". Nun besteht aber ein nicht zu übergehender Unterschied zwischen dem naturalen Erlöschen des Individuums im Sterben und seiner tätlichen Eigenvernichtung im Selbstmord. Wäre der Tod immer ein tätiges Vollstrecken, würde dieser Unterschied unwesentlich. D a Hegel zu dieser Annahme nicht genötigt sein will, nimmt er zusätzlich eine Verschiebung vor: Die wirkliche Aufhebung der Unangemessenheit führt nicht das Individuum allein herbei; seine Tätigkeit wird vielmehr stumpf (!), es delegiert sein Leben an ereignislose Gewohnheit, also an mechanische Repetition. Wenn der Inhalt dieser Beschreibung für sich Gewicht haben soll, läßt sich aber nicht außerdem sagen, daß das Individuum oder sein Leben sich aus sich selbst tötet, sondern dann ist die erwähnte „Abstumpfung" identisch mit dem Versagen seiner hochkomplizierten Restitutionsprozesse, beispielsweise der Eiweißsynthese, der oxydativen Atmung usw. Das Individuum setzt somit seinen natürlichen Tod nicht, sondern ihm wird die naturale Fundierung entzogen. Der Tod des Individuums kann in dieser Analyse nicht prattoanalog als Aufhebung bzw. Handlung gedacht werden, vielmehr ist er ein ihm nicht zuhandenes Versiegen der Lebensprozesse. Das Individuum führt sich folglich nicht noch in seinem eigenen Tod anordnend und setzend auf - es ist für ihn eben nicht mehr sein eigener Herr, sondern es hat sich den Tod gefallen zu lassen. Von dieser Notwendigkeit gibt es nur eine Ausnahme: die frei gewählte Selbsttötung. Das Kernargument aller Ethiken gegen den Selbstmord zielt denn auch genau darauf ab, daß das Individuum sich in ihm als absoluten Herrn
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über etwas aufspielt, was es nur vorfindet, was ihm verliehen ist, sein Leben nämlich. Hegels Argumentation gegen den Selbstmord muß freilich anders lauten: Nicht das Leben als verliehenes ist zu schützen; denn ein nur vorgefundenes Leben bliebe gegenüber dem Individuum different. Im Generalnenner der Tätigkeit aber sind Hegel zufolge Individuum und Leben identisch. Das Individuum, das sich das Leben nimmt, verstößt somit gegen sein eigenes Inneres: „die umfassende Totalität der Tätigkeit, das Leben, ist gegen die Persönlichkeit, die selbst diese unmittelbar ist, kein Äußerliches." (SW 7, 129) Diese Argumentation ist aber nicht stringent: Wenn die Persönlichkeit unmittelbar ist, was das Leben als Totalität ist, dann kann die Persönlichkeit nicht gegen das Leben vorgehen, auch nicht gegen ihr eigenes, denn ein Teil mit einer bestimmten Beziehung zum Ganzen kann sich nicht von diesem Ganzen („Totalität") ablösen, ohne in dieser separatistischen Setzung den Charakter der Beziehung, hier also seine Unmittelbarkeit, einzubüßen. Diese Unmittelbarkeit ist aber eine attributive Eigenschaft der lebenden Persönlichkeit. Dagegen müßte sich eine Persönlichkeit, die gegen das Leben ankämpfen wollte, zuvor zur gesetzten gemacht haben, um mit dem Leben in eine mögliche Auseinandersetzung überhaupt eintreten zu können. Diese Setzung hat sie als existierende Persönlichkeit aber nicht in ihrem Potential. In Hegels Worten: Der Begriff als die Unmittelbarkeit des Individuums vermag nichts gegen die Idee als die Totalität des Lebens. Die Möglichkeit des Suizids ist also in Hegels Theorie nicht ersichtlich. In der „Enzyklopädie" hat Hegel auch einmal an Stelle seiner systemkonformen konzeptualistischen und aktualistischen Vorstellungen über das Beginnen und Enden der Individuen eine genetische Beschreibung gewählt: „Die Individuen werden geboren und vergehen, die Gattung ist das Bleibende in ihnen, das in allem Wiederkehrende und nur für das Nachdenken ist dasselbe vorhanden." (SW 8, 79) Geborenwerden und Vergehen sind keine Handlungen. Die Gattung, die das Substrat dieser Vorgänge ist, scheint ein absolutes Recht über die Individuen zu haben. Aber auch sie wird beschränkt, u.zw. von der Erde: „Die Gattung, welche sich in Arten . . . zerlegt . . ., erleidet in diesem ruhigen Geschäfte Gewalt von der Seite des allgemeinen Individuums, der Erde, welches als die allgemeine Negativität die Unterschiede, wie sie dieselben an sich hat, und deren Natur um der Substanz willen, der sie angehören, eine andere ist als die Natur jener, gegen das Systematisieren der Gattung geltend macht." (Phän 219) Das ungeheure Recht der Gattungen auf die Individuen wird also selbst auch aufgehoben, aber nicht durch einen vorgesetzten Grund oder ein Prinzip, sondern durch ein Individuum, den Träger alles Gattungsgeschehens. Dies ist die Erde selbst. Ihre Bestimmung als Individuum macht es möglich, die regressive Analyse des Individuen-Gattungsprozesses nicht in Gattungsvorstellungen allgemeinster und zugleich inhaltsloser Art enden zu lassen: Den Gattungen und dem Gattungsprozeß in seinen drei Weisen (vgl. SW 9, 668 f.), dem Geschlechtsverhältnis, dem Verhältnis Gattung-Art und dem Ver-
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hältnis Gattung-Individuum geht erneut ein Individuum voraus. Die Auffassung der Erde ist allerdings philosophisch und naturwissenschaftlich ohne analytischen Wert und nur als mythologisches Konstrukt zu bezeichnen.
Der weltliche Beginn des Individuums Besonders schwierig gestaltet sich für die Hegeische Theorie die Konstruktion des Beginns des menschlichen Individuums. Beim Tod sind die Verhältnisse einfacher; indem der Leib stirbt, endet das Beisammensein der Seele und des Körpers. Der Zeitpunkt dieses Auseinanderfallens ist bestimmbar und angebbar durch das Ende der Belebungsvorgänge. Der Beginn des Individuums ist demgegenüber komplizierter. Es gilt zumindest, Zeugung, Intrauterinität und Geburt zu unterscheiden. Bezüglich der Zeugung hegt auch Hegel noch die überholten Vorstellungen über die männliche Dominanz: „Die Zeugung muß man nicht auf den Eierstock und den männlichen Samen reduzieren . . .; sondern im Weiblichen ist wohl das materielle Element, im Manne aber die Subjektivität enthalten." (SW 9, 672 f.) Hegel übernimmt damit lange gepflegte Vorstellungen: Weil der Samen nicht aber das Ei - von einem Individuum in ein anderes übergeht, hält man ihn für aktiv, tätig und damit besser. Das Ei wird in „seinem" Individuum befruchtet; deswegen ist es passiv, materiell und schlechter. In diesen Hegelschen Ausführungen zur Zeugung findet man abermals deutliche Hinweise auf ein Grundmotiv seines Philosophierens, das die Gleichsetzung von Aktivität und Subjektivität sowie von Passivität und Materialität betreibt. Außerordentlich schwierig gestaltet sich die Interpretation der Intrauterinität für die Hegeische Sicht des Individuums. Der Fötus wird zwar monadisches Individuum genannt, aber er ist noch gänzlich unmittelbar, noch „nicht in sich reflektiertes Subjekt und darum passiv." (SW 10, 158; vgl. auch Phän 22) Mit dieser - falschen - These hat sich Hegel eine sachgerechte Erklärung erschwert. Es ist nämlich nicht zutreffend, daß der Fötus überhaupt noch nicht in sich reflektiert und nur passiv ist; er kann z. B. seine Körperlichkeit auf sich beziehen und Daumen lutschen. Vom sechsten Monat an hört er die Schlaggeräusche des mütterlichen Herzens usw. Diskussionen darüber, ob der Fötus Bewußtsein oder Selbstbewußtsein hat, sind z. Z. zwar noch nicht ertragreich, aber im Hegelschen Sinne wirklich in sich reflektiertes Subjekt kann er sein. So ist die Hegelsche Intrauterinitätsinterpretation nur noch von historischem Interesse: Da der Fötus noch nicht für sich ist, ist seine sich wissende Individualität noch von ihm verschieden; sie ist noch bei der Mutter. „Somit ist dessen selbstische Individualität ein von ihm verschiedenes Subjekt, das auch als anderes Individuum sein kann, von dessen Selbstischkeit es als eine Substanz, welche nur unselbständiges Prädikat ist, durchzittert und auf eine durchgängig widerstandslose Weise bestimmt wird; dies Subjekt kann so dessen Genius genannt werden." (SW 10, 158) Hegel versucht, das Verhältnis der Mutter und des Fötus ein
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nicht-geistiges und nicht-leibliches, sondern ein psychisches zu nennen; er stellt sich vor, daß es sich um zwei Individuen handelt, bei denen eines das Selbst für beide abgibt. Die Mutter wird deshalb Genius des Kindes genannt. „Das Substantielle des Genius ist die ganze Totalität des Daseins, Lebens, Charakters, nicht als bloße Möglichkeit oder Fähigkeit oder Ansich, sondern als Wirksamkeit und Betätigung, als konkrete Subjektivität." ( S W 10, 158) Hinsichtlich des Leibes des Fötus wäre die Mutter also nur materielles Element, der Vater dagegen würde die Subjektivität zeugen. Nach der Zeugung aber würde die Mutter eine dominierende seelische Leitrolle übernehmen, die den Fötus auf eine „durchgängig widerstandslose Weise" formen soll. Wissenschaftlich sind solche Ansichten heute zwar nicht mehr interessant; es bleibt aber die Frage an Hegel, wodurch es in seinen Überlegungen ermöglicht werden kann, daß die Kinder später ihrer Mutter seelisch nicht völlig gleichen, wenn sie deren sie fötal völlig bestimmender Genius ist. Auch die postnatalen Erfahrungen könnten dann bei den Kindern nur zu Aberrationen gegenüber dem Charakter der Mutter führen; qualitative Unterschiede könnten nicht erklärt werden 4 . Die Geburt nennt Hegel in der „Phänomenologie des Geistes" einen „qualitativen Sprung" (vgl. Phän 15), in der „Enzyklopädie" nur noch einen „ungeheuren" Sprung, (vgl. S W 10, 98) Ein ungeheurer Sprung ist eine quantitative Differenz, keine qualitative. Diese Abschwächung wird sich Hegel überlegt haben. Als Unterschied, der durch die Geburt gegenüber der Intrauterinität begründet wird, kann auch Hegel schließlich nur eine Änderung bestimmter Funktionen angeben. In der „Phänomenologie des Geistes" (vgl. Phän 15) beschreibt er, wie durch den ersten Atemzug die Kontinuität der Austauschprozesse endet. In der „Anthropologie" der „Enzyklopädie" wird auf die Vereinzelung der Ernährung (vgl. S W 10, 98) verwiesen. Beide Angaben begründen nicht die Ansetzung eines qualitativen Sprunges. Damit die Geburt aber als ein solcher angesehen werden könnte, müßte bewiesen werden, daß durch sie die körperliche Trennung von der Mutter f ü r das Kind konstituiert wird; dies ist offensichtlich nicht der Fall. Insbesondere die Forschungen von René Spitz lassen es wahrscheinlich werden, daß der gerade geborene Säugling sich und die Mutter noch nicht als irgendwie getrennt auffaßt. (vgl. Spitz 1967, 30 ff. u. 140 ff.) So reduziert sich der Geburtsvorgang selbst physiologisch auf eine Funktionsänderung und psychologisch auf nichts oder vielleicht ein passageres angstvolles Erlebnis. - In der „Vorrede" zur „Phänomenologie des Geistes" analysiert Hegel auch das Reifen des sich bildenden Geistes und die Langsamkeit dieses Prozesses. Im Beginn ist der Geist noch nicht vollkommen; Hegel sucht eine Parallele dazu beim Kind: „. . . eine vollkommene Wirklichkeit hat dies Neue so wenig als das eben geborene Kind; und dies ist wesentlich nicht außer acht zu lassen. Das erste Auftreten ist erst seine Unmittelbarkeit oder 4
Als Skurrilität sei nur nodi angeführt, daß Hegel audi bereit ist, die sog. Muttermale der seelischen Einwirkung der Mutter anzulasten; vgl. SW 1 0 , 1 6 5 f.
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sein Begriff." (Phän 16) Diese Parallelisierung scheint aber auf Schwierigkeiten zu stoßen: Zwar ist das erste Auftreten des geschichtlich verstandenen allgemeinen Geistes offensichtlich nicht sein Ziel; seine anfängliche Realität ist der Aufgabe seines Begriffs noch nicht angemessen. Wenn man die Idee des Menschen in der gleichen Weise ausschließlich am erwachsenen Vernunftmenschen mißt, ist auch der Säugling noch nicht die Wirklichkeit des Begriffs, die seine Entwicklungsaufgabe ihm stellt, nämlich die des „erwachsenen Vernunftmenschen Die aus dieser Überlegung gefolgerte Bestreitung einer „vollkommenen Wirklichkeit" der Menschen, die sich noch nicht „fertig-gestellt" haben, ist allerdings un-menschlich: Ihr zufolge sind Kinder und Kindische, Säuglinge und geistig Hinfällige keine wirklichen Menschen. Einen Anspruch auf diesen Titel dürfen nur solche Menschen erheben, die im vollen Besitz ihrer Denk- und Wirkmechanismen sind. (vgl. SW 17, 49 f.) Herabgesetzt wird damit, was ohne weitere Zutat vollkommener Ausdruck der Idee des Menschen ist: die freie Form der Vereinigung der Gegensätze der Sinnlichkeit und der Vernunft, des Körpers und des Geistes. Unter bestimmten Voraussetzungen ist im übrigen sogar für Hegel der Säugling die Vollkommenheit einer menschlichen Wirklichkeit, die er darin auszudrücken beginnt, daß er schreit: „Durch diese ideelle Tätigkeit zeigt sich das Kind sogleich von der Gewißheit durchdrungen, daß es von der Außenwelt die Befriedigung seiner Bedürfnisse zu fordern ein Recht habe, — daß die Selbstständigkeit der Außenwelt gegen den Menschen eine nichtige sei." (SW 10, 99) Die Stilisierung des profanen Säuglingsgeschreis ist gewiß merkwürdig; möglich wird sie bei Hegel durch die „Deutung" des Geschreis als einer ideellen Tätigkeit. Man fragt sich jedoch, warum Säuglinge schreien müßten, wenn sie von der Gewißheit erfüllt wären, daß die reale Welt so nichtig und unselbständig sei. In diesem Fall genügten stumme Winke. Geschrei ist eine Geste des Unterlegenen. Außerdem muß man darauf hinweisen, wie sehr Hegel mit dieser Interpretation den Horizont des Menschen beschränkt: Der Säugling wird in ihr aufgefaßt wie eine verkleinerte Ausgabe des sich abgrenzenden und auf seinen Ansprüchen bestehenden Subjekts der „Philosophie des Redits". Die Ergebnisse der empirischen Säuglingsforschung ergeben ein anderes, ein menschenfreundlicheres Bild: Der erste Organisator der Seele dürfte mit einem in der Verfolgung von Ansprüchen begründeten Schreien nichts zu tun haben; er ist wahrscheinlich die reine Absichtslosigkeit des blickerwidernden Lächelns, das nichts will. (vgl. Spitz 1967,135 ff.)
Das Individuum und die Sozialität Schließlich stellt sich noch die Frage nach dem Verhältnis, das zwischen Individuum und Sozialität besteht. Hegel erweist sich in der Behandlung dieses Problems als ein durchaus entschiedener Vertreter der Auffassung des Individuums
§ 18 Begriff und Individuum
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als eines ζφον πολιτικόν. Die wichtigste bestimmende Gruppe ist nach ihm das Volk. (vgl. Phän 257) Insbesondere die das geistige Leben des Individuums ausmachenden Inhalte sind sozial geprägt. Letztlich sollen sogar die besonderen Wünsche des Individuums dem allgemeinen Wohl dienen. „Das rein einzelne Tun und Treiben des Individuums bezieht sich auf die Bedürfnisse, welche es als Naturwesen, d. h. als seiende Einzelheit hat . . . Nicht nur aber diese Form des Bestehens seines Tuns überhaupt hat es in der allgemeinen Substanz, sondern ebensosehr seinen Inhalt; was es tut, ist die allgemeine Geschicklichkeit und Sitte aller. Dieser Inhalt, insofern er sich vollkommen vereinzelt, ist in seiner Wirklichkeit in das Tun aller verschränkt. Die Arbeit des Individuums für seine Bedürfnisse ist ebensosehr eine Befriedigung der Bedürfnisse der andern als seiner eigenen, und die Befriedigung der seinigen erreicht es nur durch die Arbeit der andern." (Phän 257) Da in der Hegeischen Theorie der Zustand des Individuums als Selbstproduktion gedacht wird, gibt es in ihr keine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung, sondern diese ist nur über den Weg der Arbeitens möglich. Ist aber Bedürfnisbefriedigung erst einmal als Arbeit verstanden und ist Arbeit in der ständisch-bürgerlichen Gesellschaft notwendig geteilte, dann ist die in den Arbeitsprozeß eingebettete Bedürfnisbefriedigung insgesamt nicht nur eine Angelegenheit einzelner Individuen, sondern Aufgabe eines gemeinschaftlich herzustellenden Glücks. Dabei ist allerdings noch nicht geklärt, ob die Ergebnisse des vielteiligen Arbeitsprozesses in allen oder verschiedenen seiner Sparten nicht doch nur den Bedürfnissen einzelner oder weniger Individuen dienen. Bezüglich der Bedürfnisbefriedigung selbst ist zu fragen, ob sie wirklich immer als Arbeit gedeutet werden kann. Sie müßte dann das Moment der Ordnung attributiv enthalten, denn nur geordnete bzw. ordnungserzeugende Bedürfnisbefriedigung ist als Arbeit verstehbar. Auch der Vollzug der Vitalfunktionen könnte unter dieser Voraussetzung als Arbeit bezeichnet werden. Zur Arbeit wiederum gehört attributiv, daß sie formiert. So kann z. B. einfache Körperpflege Arbeit sein, indem sie den Leib in einen besseren Zustand versetzt. Ebenso sicher können destruierende Vollzüge nicht als Arbeit bezeichnet werden; sie de-formieren nur. Ein gut Teil der individuellen Bedürfnisbefriedigung ist nun leider aber von soldier ordnungslosen, deformierenden Art: die Lust am Zerstören, der Sadismus, unmäßige Nahrungszufuhr, unproduktive Habgier, Sucht nach Macht. Alle diese Vorgänge destruieren in ungebundener Willkür. Zweifellos befriedigen sei jedoch bestimmte Bedürfnisse bestimmter Individuen oder auch Gruppen. Diese anarchisierende, deformierende Bedürfnisbefriedigung beläßt das Individuum im Fürsichsein des parasitären Genusses und entfernt es damit aus der Sozialität. Aber es hieße gegen alle Phänomenalität verstoßen, wenn man behauptete, daß die oben benannten Vorgänge und alle Perversionen hinzugenommen nicht individuelle Bedürfnisse stillen könnten. Insofern gibt es also durchaus individuelle Bedürfnisbefriedigung, die keine intersubjektive Arbeit ist. Niemand
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wird behaupten, daß es sich dabei um edle oder anzustrebende Vorgänge handelt. Dies läßt sich mit gutem Grund bestreiten, denn es mangelt dem Individuum in ihnen am Wichtigsten, dessen es zu seiner Wirklichkeit, nicht seiner Besonderheit, bedarf, nämlich an der Zustimmung der Anderen und dem Zusammengehen mit der Welt. „Daß . . . ein Individuum als wirkliches auftrete, dazu gehören . . . zwei: es selbst in seiner Subjektivität und seine äußere Umgebung. Damit die Äußerlichkeit nun als die seinige erscheine, ist es notwendig, daß zwischen beiden eine wesentliche Zusammenstimmung vorwalte, die mehr oder weniger innerlich sein kann und in welche allerdings audi viel Zufälliges hineinspielt, ohne daß jedoch die identische Grundlage fortfallen darf." (SW 12, 343 f.) Diese Zusammenstimmung kann sowohl die Beziehung zwischen dem Individuum und der Realität betreffen als audi den Zusammenhang zwischen einzelnen Individuen. Im ersten Verhältnis darf das Individuum Gewalt anwenden : Die Welt ist dazu da, bearbeitet zu werden. Im zweiten Verhältnis aber setzt die Notwendigkeit der wesentlichen Zusammenstimmung an, daß der Sozialisationsprozeß nur auf Vernunft beruhen darf, denn sie ist das Auszeichnende des Menschen. Sozialisation ohne Zustimmung ist einseitige, besondere Gewalt. Dem Sozialisationsprozeß aus dem Bewußtsein heraus, der Vergesellschaftung, steht schon bei Hegel die als ursprünglicher verstandene Entstehung der Gemeinschaft gegenüber. Unter Bezug auf die griechische Tragödie bezeichnet er „das Volk als das fruchtbare Erdreich, aus welchem die Individuen . . . aus ihrem eigenen heimischen Boden emporwachsen und durdi die Existenz desselben bedingt sind". (SW 14, 548) Bemerkenswert ist es, daß Hegel hier zum Zwecke der Sicherung der „Ursprünglichkeit" des Verhältnisses zwischen Volk und Individuum ein Passivitätsmodell benutzt, demzufolge die Individuen als „wachsend" verstanden werden. Es heißt also in auffällig abweichender Weise nidit, daß das Volk die Individuen hervorbringt oder erstellt. Neben dieser Verwendung für „genetisch" gedeutete Sozialität, z. B. vom Typ des Volkes, benutzt Hegel das biologische Kreszenzmodell auch für das Verständnis der Abhängigkeit der Individuen von ihrer Zeit bzw. dem Milieu ihrer Zeit: „Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit . . . Geht seine Theorie in der Tat drüber hinaus, baut es sich eine Welt, wie sie sein soll, so existiert sie wohl, aber nur in seinem Meinen, - einem weichen Elemente, dem sich alles Beliebige einbilden läßt." (SW 7, 35) Von der ganzheitlich-historistischen Position Hegels her ist es konsequent, daß er die Prägung des Individuums durch soziokulturelle Faktoren als so weitgehend ansetzt. Ebenso folgt aus dem Tenor, der die Individualität als Zusammenschluß des Allgemeinen und des Besonderen auffaßt, daß Theorie und Tätigkeit des Individuums die Gestaltung des Besonderen aus dem Geist des Allgemeinen sind. Zu einer realitätsgerechten Durchführung dieser Aufgabe ist es allerdings nötig, daß nidit nur das Allgemeine behandelt, sondern audi das Besondere ergriffen wird; und die Weise gerade dieses Ergreifens ist zunächst das subjektive Fühlen, Meinen, Wollen, Zweifeln, Kritisieren. Das zugehörige
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Stadium kann nicht übergangen werden. Erst das dauernde Verbleiben in ihm ist leere Subjektivität oder böse Besonderheit. Das Denken ist nur insofern wahrheitsfähig, als es in die Sadie vertieft ist. Die sog. Sache aber besteht immer in zwei Modis, in der sie ergriffen werden kann. Als allgemeine ist sie ein Typ, eine Gattung usw.; als besondere ist sie Abweichung vom Typ oder von der Gattung. Die Wege der Wissenschaften haben beide Modi zu benutzen. Das forschende Denken muß den T y p beachten, ebenso aber muß es den Abweichungen nachgehen. Das Forschen der Einzelwissenschaften ist sogar weitgehend Aberrationsanalyse. Jedenfalls ist die Untersuchung der Aberrationen oder des Besonderen nicht willkürlich-besonderes Denken. Die Geschichte der Naturwissenschaften besteht vielmehr weitgehend in einer erfolgreichen Sammlung der Beobachtungen und Analysen realer Abweichungen vom bekannten Allgemeinen. Diese Fortschritte bringt die Forschung heim, wenn das Denken nicht nur, wie Hegel es sich vorstellt, „die Sache in sich walten" läßt, also mit abstrahierten Allgemeinheiten umgeht, die keine Sachen mehr sind, sondern wenn es die Sachen außer sich untersucht. Das Denken ist das Allgemeine der Individuen, aber das Denken ist nicht nur das Denken des Allgemeinen, sondern auch das Untersuchen des Besonderen. V o r der Beachtung des un-vernünftigen Besonderen schirmt sich das Hegeische Denken aber ab: Seinem Entwicklungsbegriff zufolge kann es wirkliches Besonderes nicht geben; Entwicklung ist immer die Konvergenz der vernünftigen Zusammenschlüsse, nie Aberration oder zufällige Mutation.
§ 1 9 Begriff und M e n s d i Die Naturbestimmtheit und der Wille Das Auftreten, die Erscheinung, die Vorstellung des Menschen sind nicht sein Begriff. Zur allgemeinen Vorstellung des Menschen gehören ζ. B. Sinnlichkeit und Vernunft. Aus dem bloßen Vorhandensein dieser Faktoren wird aber nicht ableitbar, in welcher Beziehung Sinnlichkeit und Vernunft im Menschen zueinander stehen. Die Bestandsstücke der Annahmen über den Menschen sind gleichgültig gegeneinander. Sie sind jeweils für sich betrachtbar und erforschbar; derartige Erforschung führt nicht zu einer Analyse ihrer Subjektivität. Ihre subjektlogischen Verflechtungen ergeben sich nur aus der Analyse des Begriffs, der sie zusammenhält, also aus dem reinen Begriff des Menschen. Ihre wirklichen Verflechtungen aber werden erst ersichtlich, wenn der Zusammenhalt des Begriffs des Menschen und seiner Realität erörtert wird. (vgl. S W 1 2 , 1 5 6 u. 3, 76) Der reine Begriff des Menschen kann aufgefaßt werden als die reine Persönlichkeit oder die abstrakte Freiheit, also als die Vernunft, die erkennen und wirken will. Die Realität des Menschen ist der Übergang dieses Willens in die Bestimmungen des Daseins. Das Dasein ist gegliederter und reicher als der Be-
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griff, aber es soll nur durch den Begriff bestimmt sein und ihm entsprechen. So will es die vorgängige idealistische Identitätsthese. - Der ins Dasein übergegangene Begriff des Menschen bleibt auch in der Realität immer derselbe; die Situationen der Realität schatten ihn jedoch ab. Insofern die Realität selbst begriffene ist, führen solche Perspektivierungen nidit zur Zerschlagung des einheitlichen Begriffs des Menschen. „Im Rechte ist der Gegenstand die Person, im moralischen Standpunkt das Subjekt, in der Familie das Familienglied, in der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt der Bürger (als bourgeois) - . . . auf dem Standpunkte der Bedürfnisse . . . ist es das Konkretum der Vorstellung, das man Mensch n e n n t . . . " (SW 7,272) Es entspricht der Vernunft, daß der Mensch als lebendiger ist. Den ersten Ausdruck findet das Leben in den Bedürfnissen; insofern sind sie audi das erste Ziel des Menschen, auf das er stößt und das er in den weiteren Zielen seiner selbst wirklich und sittlich gestalten soll. Die vorrangige Aufgabe der Bedürfnisse ist es, das Leben des individuellen Menschen in seinen besonderen Lagen zu sichern. Die Menschen sind aus ihrem Begriff heraus weitgehend voneinander verschieden, damit sie den Vielfältigkeiten der naturalen und historischen Situationen entsprechen können. Die Organisation der Bedürfniserledigung, der animalische Wille, ist der Trieb des Lebens und als Begriff identisch. Seine Realisierung aber erzeugt die ursprüngliche Besonderung der Menschen schon ihrer Natur nach und der Naturseite des lebendigen Willens nach. Entsprechend sind sie in Charakter und Anlagen verschieden. Für alle menschlichen Individuen gilt: „Jedes hat Anlagen und Bestimmungen in sich, die dem andern fehlen. Diese Unterschiede der Individuen gehen den Willen an sich nichts an, weil er frei ist. Die Freiheit besteht eben in der Unbestimmtheit des Willens oder daß er keine Naturbestimmtheit in sich hat. Der Wille an sich ist also ein allgemeiner Wille. Die Besonderheit oder Einzelheit des Menschen steht der Allgemeinheit des Willens nicht im Wege, sondern ist ihr untergeordnet." (SW 3, 46) Die Anlagen, Charaktere und Motivationen sind besondere und dienen deshalb nicht dem Allgemeinen oder dem konkreten Wirklichen, sondern zunächst versuchen sie in der Gestalt von Gefühlen, Leidenschaften, Gewohnheiten usw. nur für sich zu herrschen. Diese besonderen Mächte und Kräfte bringen den Menschen dahin, für sie tätig zu sein und zu empfinden. So kann es „unser Bewußtsein werden, daß wir im Dienste unserer Gefühle, Triebe, Leidenschaften, Interessen, ohnehin von Gewohnheiten stehen, als daß wir sie im Besitz haben, noch weniger, daß sie bei unserer innigen Einheit mit ihnen uns als Mittel dienen. Dergleichen Bestimmungen des Gemüts und Geistes zeigen sich uns bald als besondere im Gegensatze gegen die Allgemeinheit, als die wir uns bewußt werden, in der wir unsere Freiheit haben, und [wir] halten dafür, in diesen Besonderheiten vielmehr befangen zu sein, von ihnen beherrscht zu werden." (L 1,14) Diese realistische psychologische Einsicht nötigt allerdings zu einer weiteren: Wenn das menschliche Individuum von Besonderheiten beherrscht werden kann, dann muß es andererseits dem Allgemeinen unterliegen. „Sonach können wir
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dann viel weniger dafür halten, daß die Denkformen, die sich durch alle unsere Vorstellungen... hindurchziehen, uns dienen, daß wir sie, und sie nicht vielmehr uns im Besitz haben; was ist uns übrig gegen sie, wie sollen wir, ich midi als das Allgemeinere über sie hinausstellen, die selbst das Allgemeine als solches sind?" (L 1, 14) Der Beherrschung durch die partikulären Interessen seiner N a tur entgeht der Mensch, indem er sie und sich in das reine Denken wendet; von der Beherrschung durch das Allgemeine des Denkens braucht er sich Hegel zufolge dagegen nicht beengt zu fühlen, weil das Allgemeine des Denkens der Begriff der Freiheit des Geistes ist. - Der Weg dieses allgemeinen Denkens vom abstrakten Bewußtsein hin zum konkreten Geist hat zwei Aspekte: einmal die Erfahrungsseite des Bewußtseins, die Agogik seiner Lernstadien. Sie ist als Phasenlehre verstehbar: „. . . das Bewußtsein in seiner Fortbewegung von dem ersten unmittelbaren Gegensatz seiner und des Gegenstandes bis zum absoluten W i s s e n . . . Dieser Weg geht durch alle Formen des Verhältnisses des Bewußtseins zum Objekte durch und hat den Begriff der Wissenschaft zu seinem Resultate." (L 1, 29) Der andere Aspekt betrifft die Entwicklungs- und Erfahrungsseite des Bewußtseins ineins, also sowohl die Entwicklung aus seiner Logizität heraus als auch die Erfahrung seiner Logizität nach, wozu die historischen, geographischen und soziokulturellen Situationen der Erfahrung auswechselbare Bezüge abgeben. Dieser zweite Aspekt ist also nicht primär, sondern erst sekundär historisch.
Sein und Fürsichsein des Menschen In systematischer Hinsicht besagt Hegels Hauptthese über den Menschen, daß er denkt und nur als denkender ist. Diese These erhält die prattographische Akzentuierung, „daß er, was er ist und was überhaupt ist, aus sich selbst für sich macht". (SW 12, 57) Der Modus „denken" wird von Hegel also identifiziert mit „aus sich selbst für sich machen". Diese Gleichsetzung ist bedenklich; sie stellt für eine unvoreingenommene Analyse eine Einengung der Möglichkeiten des Denkens dar: 1. „Aus sich selbst" bezeichnet den Verzicht auf die originäre Fülle der Fremd- und Außenerfahrung; Denken nur „aus sich selbst" ist produktionslogischer Egoismus. 2. „Für sich" bezeichnet die Habgier des universalen Besitzanspruches; Denken nur „für sich" ist produktlogischer Egoismus. 3. „Machen" bezeichnet die Beschränkung des Denkens auf Fertigung und auf Herstellung; ein als Machen gedeutetes Denken ist identisch mit der Reduktion alles Erwägens, Naciisinnens, Meditierens und Bedenkens auf Kopf-werk. Diese Restriktion stellt die Verwerfung alles Denkens dar, das nicht auf wirkensanaloge Schemata zurückgeführt werden kann. Unter idealistischen Vorzeichen wird diese Technik im übrigen zu einer mindestens gedanklichen Kosmogonie erhoben, denn sie soll nicht nur für den Menschen gelten - „was er ist", sondern auch für das Universum - „was überhaupt ist". Die Uberbrückung der Differenz zwischen Sein und Fürsichsein erzwingt aber
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nicht, daß man sie als Ergebnis einer Tätigkeit begreift - wie Hegel unablässig verkündet. Die natürlichen Dinge sind unmittelbar, seiend und einzeln; der menschliche Geist aber ist, und er ist f ü r sich; er ist immer ein Doppeltes. Jedoch ist er es nicht selbst, der sich in einem Produktionsvorgang verdoppelt, sondern er findet sich als ein Doppeltes vor, und dies von seinem Auftreten a n : Es gibt kein menschliches Bewußtsein in der Welt, das nicht auch Selbstbewußtsein w ä r e und sich so immer schon erlebte. Hegel behauptet z w a r : „Der Mensch als Geist verdoppelt sich, indem er zunächst wie die Naturdinge ist." ( S W 12, 57) D i e empirische Entwicklungspsychologie widerspricht indes dieser These: Selbst einfache geistige Prozesse des Menschen - beispielsweise unkomplizierte Lernvorgänge oder einfache Begriffsbenutzungen - scheinen anders strukturiert zu sein als die entsprechenden der Säugetiere, (vgl. Foppa 1966, 301 ff.) Insofern verhält sich der Mensch geistig nie wie ein „Naturding". — Außerdem kann gegen Hegels Auffassung folgende Erwägung vorgebracht werden: Wenn die V e r dopplung zum Fürsichsein ein realer, produzierter Vorgang wäre, müßte sie psychologisch untersuchbar sein. Psychisches oder geistiges „Machen", das sich der empirischen Untersuchung entziehen könnte, gibt es nicht. Wenn dieses „Machen" also wissenschaftlich nicht untersuchbar ist - wie es scheint - , dann besteht es als realer Vorgang, als subjektive Tätigkeit, nicht. Seine Restriktion auf eine transzendentale Bedingung ist damit nicht unmöglich; eine Bedingung k a n n aber gerade nicht die Form eines „Machens" haben. Hegel zufolge gewinnt der Mensch das Wissen seiner Verdopplung als Sein und Fürsichsein in zweifacher Weise, nämlich theoretisch und praktisch. Das theoretische Verfahren besteht darin, daß der Mensch „im Innern sich selbst sich zum Bewußtsein bringen muß, was in der Menschenbrust sich bewegt, was in i h r wühlt und treibt; und überhaupt sich anzuschauen, vorzustellen, was der G e d a n k e als das Wesen findet, sich zu fixieren und in dem aus sich selbst H e r vorgerufenen wie in dem von außen her Empfangenen nur sich selber zu erkennen h a t . " ( S W 12, 5 7 f . ) D e r Ansatz der Beachtung der Polarität „aus sich selbst Hervorgerufenes" - „von außen her Empfangenes" wird also sofort dem Wiedererkennensbedürfnis des ichlichen Denkens („nur sich selber erkenn e n " ) unterworfen. - I m übrigen ist das theoretische Verfahren des Aufdeckens des verdoppelten Charakters des Seins und des Fürsichseins, das Hegel hier beschreibt, durchaus nicht machensanalog, sondern darin wird aufgefordert, die zugehörigen Phänomene zu entdecken und sie als sie selbst zu betrachten. I n der Durchführung wird der Imperativ des Machens in der theoretischen Selbsterkenntnis bei Hegel also nicht befolgt. I n praktischer Hinsicht gewinnt der Mensch die Erfahrung seiner doppelten Existenz durch seine Prägungstätigkeit an Dingen der W e l t : „Zweitens wird der Mensch durch praktische Tätigkeit für sich, indem er den Trieb hat, in demjenigen, was ihm unmittelbar gegeben, was für ihn äußerlich vorhanden ist, sich selbst hervorzubringen und darin gleichfalls sich selbst zu erkennen. Diesen Zweck vollführt er durch Veränderung der Außendinge, welchen er das Siegel
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seines Innern aufdrückt und in ihnen nun seine eigenen Bestimmungen wiederfindet. Der Mensch tut dies, um als freies Subjekt audi der Außenwelt ihre spröde Fremdheit zu nehmen und in der Gestalt der Dinge nur eine äußere Realität seiner selbst zu genießen." (SW 12, 58) Es ist zu fragen, ob diese Hegelsche Annahme so selbstverständlich ist: Gegenüber dem ihm unmittelbar Gegebenen hat der Mensch offensichtlich nicht eine, sondern drei Verhaltensmöglichkeiten. Sicher kann der Mensch es einmal als Material seiner Darstellung und Produktion benutzen; ferner kann er es vernichten, u.zw. in einfacher Negation durch gewöhnliche Destruktion und in doppelter durch Destruktion und nachfolgende Assimilation, z.B. im Ernährungsprozeß; er kann es aber audi schließlich — sein lassen als das, was und wie es ist. Allerdings muß der Mensdi, wenn er sich für dieses Sein-lassen der Weltdinge entscheidet, frei genug für diese Gewährung sein, mindestens frei genug, um dies zu können: etwas, das ihm begegnet, nicht zu bearbeiten oder zu vernichten, nicht als Mittel seiner Selbstverherrlichung, seines Genusses oder seiner Angstabarbeitung zu gebrauchen, sondern es nur selbst - sein zu lassen. Ist der Mensch dagegen von dem angstvollen Motiv gehetzt, „der Außenwelt ihre spröde Fremdheit zu nehmen", dann ist seine Angstbewältigungsausrüstung massiv im Einsatz; in diesem Zustand ist er nicht frei genug, etwas außerhalb seiner - sein zu lassen. In der Angst vor der abweisenden Härte und undurchdringlichen Neuheit der Welt bleiben ihm dann nur zwei Wege: entweder das Eingeständnis seiner Angst vor der Fremdheit oder der Wunsch, die Fremdheit der Welt als solche zu beseitigen. Die erste Möglichkeit entfällt in Hegels Theorie: Ein idealistisches Verfahren bzw. ein philosophierender Idealist mit eingestandener Realangst ist ein Widerspruch in sidi selbst. So bleibt nur die Benutzung der zweiten Möglichkeit: Die Angst vor dem Neuen muß also selbst abgeschafft werden. Als der einfachste Mechanismus erweist sich für diesen Zweck die Abschaffung der Fremdheit der Welt. Wird ihr die Fremdheit ab-gesprochen, dann ist sie nicht mehr sie selbst und fremd und an sich, sondern „äußere Realität" des Menschen selbst und nur für ihn. In dem Wunsche des Vertreibens der dunklen Fremdheit inszeniert deshalb der Mechanismus der Verneinung der Unbekanntheit der Welt - gedeutet als Negation der Negation - das theoretische Drama seines großen, welterhellenden Tages, der immer währen soll. So soll die Angst vor der Dunkelheit, Fremdheit, Undurchdringlichkeit und Sprödigkeit der Welt gewendet und negiert werden in die Siegelsetzung eines weitmächtigen Menschenich, das die Welt nur als die seinige anerkennen will. „Schon der erste Trieb des Kindes trägt diese praktische Veränderung der Außendinge in sich; der Knabe wirft Steine in den Strom und bewundert nun die Kreise, die im Wasser sich ziehen, als ein Werk, worin er die Anschauung des Seinigen gewinnt." (SW 12, 59) Aber diese Ansicht ist unzutreffend: Der erste Trieb des Kindes befaßt sich nicht mit der Eitelkeit der Gewinnung der Selbstanschauung, sondern die an sich narzißtisdie Welt des Säuglings ist der äußersten realen Hilfe bedürftig. Die Wiederherstellung eines leiblichen Gleichgewichtszustandes durch Nahrungs-
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aufnähme wird deshalb vom ersten Trieb befördert: Im Saugen stillt der Säugling Unlust, stellt er seinen universalen Narzißmus wieder her; denn Brust oder Flasche sind für ihn nicht Stücke einer Außenwelt, sondern noch er selbst, (vgl. Hartmann, H. 1960) Der erste Trieb des Kindes kann überhaupt noch nicht auf eine Außenwelt gehen, weil diese Welt für es nodi nicht besteht; sie muß mühsam über Objektvorläufer konstituiert werden. Der von Hegel zitierte Knabe aber wird sich entscheiden müssen: Entweder er wirft Steine ins Wasser und erzeugt dadurch eine gestaltlose und ergebnislose Aufregung in diesem Medium. Sie dauert nicht lange an; das Wasser stellt sehr schnell seine geschmeidige glatte Grenze wieder her, weil die Veränderung des Knaben an ihm - nichts bewirkt. Oder der Knabe will als Narziß das Bild seiner selbst im Spiegel der Wasserwelt genießen. Dann darf er gerade nichts tun; vor allem darf er das Wasser nicht in Unruhe versetzen. Im Wellenwerfen, dieser ergebnislosen Veränderung der Außenwelt, übertrifft ihn sowieso jeder herabstürzende Felsbrodken. Die These, daß der Mensch nur das ist, was er „aus sich selbst für sich selbst" macht, ist die einer totalen Selbstproduktion. In einer solchen Sicht wird notwendig vom Fortschritt in der Historie ausgegangen: Was die Menschen aus sich gemacht hätten, das wäre von dann an — vorher aber eben nicht — für immer ihr eigen; die jeweils neue Generation bzw. das nachfolgende Bewußtsein müßten immer neu von dem gerade zuvor erreichten Stand der Selbstproduktionshöhe ausgehen. Unter diesen Bedingungen scheint die Annahme eines allgemeinen Wesens des Menschen, wie es von Hegel andererseits gefordert wird, nicht möglich zu sein: „Wenn man von menschlicher Natur sprach, hat man vornehmlich etwas Bleibendes sich vorgestellt. Die Darstellung der menschlichen Natur soll auf alle Menschen passen, auf vormalige und jetzige Zeit. Diese allgemeine Vorstellung kann unendliche viele Modifikationen erleiden; aber tatsächlich ist das Allgemeine ein und dasselbe Wesen in den verschiedensten Modifikationen. Die denkende Reflexion ist es nun, die von dem Unterschiede absieht und das Allgemeine festhält, das unter allen Umständen auf gleiche Weise wirksam sein und in dem gleichen Interesse sich zeigen soll. Der allgemeine Typus läßt sich auch in dem aufzeigen, was sich am stärksten von ihm zu entfernen scheint; in der verzerrtesten Gestalt kann man das Menschliche noch spüren." (Vern 51) Die Polarität zwischen Entwicklung und Wesen Eine konvergierende Harmonisierung der beiden Auffassungen, der einen, die den Menschen als Ergebnis perennierender Selbstproduktionen, und der anderen, die ihn als gleichbleibenden Typ auffaßt, dürfte unmöglich sein. Die Selbstproduktion kann nicht anders als nach dem Vorbild der kategorialen Dialektik begriffen werden, d. h. die jeweils durchgearbeiteten Stadien des Bewußtseins und des Wissens stehen zu einer Neuaufnahme nicht mehr zur Verfügung: Potenzen, die Wirklichkeit geworden sind, können nicht mehr Potenzen werden;
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Wissen wird nie mehr Unwissen; Produziertes wird nie mehr unmittelbar. Die Selbstproduktion des Menschen kann in dieser Sicht also nicht nach dem Muster eines zirkulären Entwicklungsbegriffs gedeutet werden. Deshalb entfällt auch die Vergleichbarkeit mit dem Zyklus „Same - Pflanze" oder audi „befruchtete Eizelle - Mensdi": Die Stadien, die der Geist und die Kategorien hinter sich gebracht haben, sind unaufhebbar auch in ihnen. In diesem Modell muß jede Stufe oder Generation Neues, Wichtiges erbringen, das eine spezifische Überhöhung gegenüber der voraufgehenden ausmacht. - Sind die Menschen aber kein Ergebnis ihrer Selbstproduktionen, sondern ist vielmehr das reale Wesen des Menschen ein allgemeiner Typ, dann können seine historischen Stadien für séinen Begriff nur unwesentlich sein. Die Geltung einer Einheit des menschlichen Typs würde seine historischen Stufen aus dem Rang produzierter Vervollkommnungsschübe zu interessantem Beiwerk oder sogar zu Menschentheater herabsinken lassen. Für den konkreten Menschen sieht Hegels Theorie, wie sich zweierlei zusammenschließt: Der Mensch ist einerseits ein freies "Wesen. Darin besteht seine Grundbestimmung, die er freilich für sich machen muß. Andererseits hat er besondere Triebe und verfolgt besondere Zwecke; eigens genannt werden der Erhaltungstrieb und der Erkenntnistrieb, (vgl. SW 3, 49) Daß es daneben oder dagegen vielleicht auch nodi Destruktionstriebe oder eine trieblidie Flucht aus dem Erkennen geben könnte, wird von Hegel noch nicht erwogen. Aber er erkennt wenigstens in seiner Frühzeit an, daß die Naturgrundlagen ein wichtiges Element des menschlichen Handelns und Verhaltens sind. Der Mensdi ist damit abhängig von der Natur außerhalb und innerhalb seiner selbst. „ . . . die Natur des Menschen ist mit den Ideen der Vernunft gleichsam nur geschwängert." (Theol 4) Um diese Veräußerlichung kommt das Wesen des Menschen nicht herum, wenn es sich zur Natur nicht nur im Ganzen, also theoretisch, sondern auch im Einzelnen, also praktisch, einstellen will. Die Gegebenheiten der Natur, der äußeren ebenso wie der inneren, sind unmittelbar und sinnlich; in praktischer Hinsicht kann mit ihnen zunächst nur im gleichen Modus verkehrt werden. Deshalb muß der praktisch vorgehende Mensch sich ebenfalls als einzeln sinnliche Unmittelbarkeit bewähren. N u r in dieser Verfassung kann er für seine Zwecke eine naturentsprechende Form finden. Der Mensch muß also Triebe haben. Insoweit kann Hegels Argumentation ohne Einschränkung gefolgt werden. Es stellt aber einen nicht ausgewiesenen Sprung in eine Metaphysik der Triebe dar, wenn neben den Hinweisen auf die beschränkten Zwecke oder bestimmten Absichten der Triebe (vgl. z. B. SW 3, 26) audi gesagt wird, daß daraus, daß der Mensdi Triebe hat, geschlossen werden kann, daß er tätig sein könne. „Es ist kein Mensch aber zufrieden mit seiner bloßen Ichheit, Ich ist tätig, und diese Tätigkeit ist, sich zu objektivieren, Wirklichkeit, Dasein zu geben. In weiterer, konkreter Bestimmung ist diese Tätigkeit des Begriffs der Trieb." (SW 16, 544) Aus Trieben folgt diese Bestimmung gerade nicht. Triebe verfolgen die Erfüllung ihrer eigenen partikulären Ziele; die Erstellung von Werken und die Sinnhaftigkeit
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und Sittlichkeit der Praxis ist ihnen etwas Fremdes. Wenn es einen Übergang von den Trieben zur Praxis gäbe, dann wären 1. die Tiere auch praktische Wesen und es entfiele 2. der Untersdiied zwischen Praxis und Verhalten. Beide Konsequenzen könnte Hegel nicht anerkennen. Aus Trieben folgt nur der Zwang des Sich-verhalten-miissens, nicht das Tätig-sein-können. Die empirische Psychologie, die auch die Triebe untersudit, würde es konstatieren, wenn sie den Übergang zum Tätig-sein beinhalten könnten; aber sie stößt nur darauf, daß die Tiere und die Menschen sich ihnen im Verhalten anpassen müssen. Erst die Negation des trieblichen Verhaltens ermöglicht Tätigsein, also die Durchführung gesetzter Zwecke gegen die unmittelbaren Zwecke der Triebe. In der Jenenser Realphilosophie hat Hegel diese Sachlage berücksichtigt. Allerdings spricht er nicht von expliziter Negation der Triebe, sondern bringt etwas Geheimnisvolleres ins Spiel. Zum erstenmal greift die „List" der Vernunft ein: „. . . einzelne Zwecke des natürlichen Seins [werden] zu einem Allgemeinen. Hier tritt der Trieb ganz aus der Arbeit zurück. Er läßt die Natur sich abreiben, sieht ruhig zu und regiert nur mit leichter Mühe das Ganze: List. Die breite Seite der Gewalt wird von der Spitze der List angegriffen." (JR 198 f.) Die List distanziert also die trieblichen Unternehmungen zum vereinheitlichten „Zusehen". Zusehen ist aber zugleich Negation des prattologischen Momentes in der Polarität zwischen Tätig-sein und ·θεωρεϊν. Auch zum Wirken gehört also Theorie. Zum Zwecke der Erlangung seiner Freiheit muß der Mensch die Triebe als besondere negieren. Da die Triebe in Hegels Theorie jedoch grundsätzlich ein Instrument der Vernunft sind, besteht die Negation nicht darin, sie aus der Wirklichkeit herauszubringen, sondern ihnen soll das Recht des Scheins der Selbständigkeit genommen werden. Die Aufgabe ist also nicht ihre Generalunterdrückung in einer Art mönchischer Askese, sondern die Anerkennung ihrer Vernunftfähigkeit, also ihre Überführung aus der natürlichen Besonderung in die Selbstvollbringung des Willens. Die Nötigung des Willens in der Bedrängung durch die Triebe endet, indem er seinen allgemeinen Zweck gegen die Triebwillkür durchsetzt. Die Ziele der besonderen Triebe müssen folglich negiert werden, damit der eine oder andere unter dem Primat des Lebens, des Individuums, der Vernunft einen allgemeinen Zweck ausführt. „Die Freiheit als Idealität des Unmittelbaren und Natürlichen ist nicht als ein Unmittelbares und Natürliches, sondern muß vielmehr erworben und erst gewonnen werden, und zwar durch eine unendliche Vermittelung der Zucht des Wissens und des Wollens. Daher ist der Naturzustand vielmehr der Zustand des Unrechts, der Gewalt, des ungebändigten Naturtriebs unmenschlicher Taten und Empfindungen." (SW 11, 73) Die These „der Mensch ist von Natur frei" heißt also soviel wie: Insoweit die Natur des Menschen sein Begriff ist, ist er frei. Da aber Begriff und Denken an sich die Natur des Menschen sind, ist er an sich frei. Diese Bestimmung muß aber noch für den Menschen werden; von der Betroffenheit des Hinund Hergerissenwerdens in Naturimpulsen muß er sich befreien: es widerspricht seinem Begriff, unmittelbares Auseinander und für ihn selbst Äußeres zu sein.
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Will der Mensdi nidit nur logisch, sondern auch -wirklich für sich werden, muß er sich deshalb selbst in Besitz nehmen. Dazu gehört zweierlei: sowohl die Herrschaft über den eigenen Leib und das Training des eigenen Geistes als auch die konkrete Selbsterfassung als freier Mensch im Bewußtsein. Diese Aufgabenstellung ist reflexiver Art; der Mensch bezieht sich darin auf sich selbst. Ihr entspricht die Verwandlung von Möglichkeiten in Wirklichkeiten, also ζ. B. die Ausbildung von Anlagen und Fähigkeiten. Als entwickelte sind solche Dispositionen dann wieder von der Äußerlichkeit ihrer naturalen Bedingungen einerseits, der Innerlichkeit des Selbstbewußtseins andererseits abgesetzt und zu ihrer eigenen ausgebildeten Wirklichkeit geformt. So entsteht auch eine Distanz zwischen dem Selbstbewußtsein und den beherrschten Fertigkeiten; sie ist für das Selbstbewußtsein notwendig, weil der Mensch ausnahmslos in seiner unmittelbaren Gegenwart lebt. Er wäre in seinem Bewußtsein widerstandsunfähig zur Besonderung in die aktuellen Momente seines Erlebens genötigt, wenn er nicht über die bewußtseinsschützenden hilfreichen Techniken seiner Reizschwellen, Fertigkeiten, Gewohnheiten verfügte. Gerade unter dem Primat der Vernunft muß der Mensch allzeit konkret bleiben, also auch in der kleinsten Aufgabe wirklich dabeisein; noch in die minuziösesten Einzelheiten tritt er ein mit dem Gewicht seiner Individualität. Diese Versenkung in Details kann der Mensch sich aber andererseits nur gestatten, wenn er gleichzeitig sein Selbstbewußtsein solide in sich reflektiert weiß, während seine Fertigkeiten die je momentanen Aufgaben für es heranholen. So kann die Zentralität des Bewußtseins des Menschen mit der Besonderheit seines Verhaltens harmonisch bestehen, (vgl. SW 14, 55) „Der Mensch . . . hat . . . ein konkretes äußeres Dasein, aus welchem heraus er sich zwar in sich als Subjekt zusammenschließt, doch in dieser subjektiven Einheit mit sich ebensosehr auf die Äußerlichkeit bezogen bleibt. Zum wirklichen Dasein des Menschen gehört eine umgebende Welt, wie zur Bildsäule des Gottes ein Tempel." (SW 12, 330)
Die Begierde Die beiden Auslegungspole in Hegels Begriff des Menschen sind sein allgemeines, gleichbleibendes Wesen einerseits, seine ununterbrochene Selbstproduktion andererseits. Diese beiden Pole können nicht als nebeneinander bestehend aufgefaßt werden, es sei denn, man sieht entweder im allgemeinen Wesen nur ein formales Prinzip oder in der Selbstproduktion nur eine zusätzliche Aufgabe. Jede Vermittlung der beiden Pole führt zu großen Schwierigkeiten, besonders dann, wenn man versucht, das allgemeine Wesen und die Selbstproduktion als Identität zu denken. Zu dieser Annahme ist man genötigt, wenn man das Theoretische, das nicht gemachte Wesen, und das Praktische, den sich selbst durchführenden Produktionsmechanismus in Hegels Lehre als gleichursprünglich ansetzen zu können glaubt. Im Gelingensfall würde das bedeuten, das Wesen und die Selbstproduktion sowohl anthropologisch als auch transzendental ablei-
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ten zu können. Worin soll man die Wurzel einer solchen Deduktion sehen können? Riedel setzt sie in der Begierde des Menschen an. „Die Tatsache, daß Hegel auch hier über die Antinomien der neueren Philosophie hinausgeht und, unabhängig von allen idealistischen' oder ,materialistischen' Konstruktionen, die entweder ein naturloses Subjekt oder eine subjektlose Natur zur Voraussetzung haben, die faktische Seinsverfassung des Menschen auf dem Grunde seiner Tätigkeit denkt und so das Theoretische und Praktische in den Blick nimmt, dürfte vor allem mit der veränderten Stellung der Begierde zusammenhängen, von der her der Zusammenhang von Arbeit und Praxis bei Hegel entscheidend bestimmt wird." (Riedel 1965,105) Dieser Versuch, Theorie und Praxis des Menschen über die Begierde zu einigen, führt zu zusätzlichen Schwierigkeiten. Zunächst stellt Hegel gerade die Begierde in einen deutlichen Gegensatz zur Arbeit: „Die A r b e i t . . . ist gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden, oder sie bildet." (Phän 149) Die Begierde formiert nicht, sondern sie führt zur Vernichtung des Gegenstandes, auf den sie sich richtet. „Die Begierde ist überhaupt: 1) zerstörend; 2) in der Befriedigung derselben kommt es deshalb nur zu dem Selbstgefühl des Fürsichseins des Subjekts als einzelnen, dem unbestimmten Begriff des mit der Objektivität verbundenen Subjekts." (SW3,108) In der zerstörenden Begierde lebt der Mensch für die Stillung der Bedürfnisse seiner naturalen Grundlagen. Die Begierde ist also Bereicherung auf Kosten des Begehrten, selbst dann, wenn sie im Dienste des Lebens steht. Notwendige Begierde zu Zwecken der Selbsterhaltung ist z. B. der Ernährungsprozeß; er führt zu keiner weiteren Formierung, als daß das Zerstörende sich erhält als befriedigtes, gesättigtes Fürsichsein. „Die Begierde ist so in ihrer Befriedigung überhaupt zerstörend, wie ihrem Inhalte nach selbstsüchtig; und da die Befriedigung nur im Einzelnen geschehen, dieses aber vorübergehend ist, so erzeugt sich in der Befriedigung wieder die Begierde . . . Das Verhältnis der Begierde zum Gegenstande ist noch durchaus das des selbstsüchtigen Zerstörens, - nicht das des Bildens." (SW 10, 279) Die Begierde ist das unlustvolle Spannungselement der Bedürfnisse; sie ist ein abhängiges Element und führt außerhalb ihrer zu keinem Ertrag. In den Vollzügen seiner Begierden lebt der Mensch mit voller Intensität; erst als befriedigter hat er das Gefühl, Unmittelbares negiert zu haben und mit seinem Gegenstande identisch geworden zu sein. Diese Einigung hat einen anthropologischen und einen begrifflichen Aspekt. „Nach der äußerlichen Seite bleibt... das unmittelbare Selbstbewußtsein in dem ins Unendliche sich fortsetzenden langweiligen Wechsel der Begierde und der Befriedigung derselben, - in der aus ihrer Objektivierung immer wieder in sich zurückfallenden Subjektivität befangen. Nach der inneren Seite dagegen, - oder dem Begriffe nach, - hat das Selbstbewußtsein, durch Aufhebung seiner Subjektivität und des äußerlichen Gegenstandes, seine eigene Unmittelbarkeit, den Standpunkt der Begierde negiert, sich mit der Bestimmung des Andersseins gegen sich selber gesetzt, - das Andere mit dem Idi erfüllt, aus etwas Selbstlosem zu einem freien, zu einem selbsti-
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sehen Objekt, zu einem anderen Ich gemacht, - somit sich als ein unterschiedenes Ich sich selber gegenüber gestellt, - dadurch aber sich über die Selbstsucht der bloß zerstörenden Begierde erhoben." (SW 10, 280) Hegel unterscheidet also erneut ausdrücklich zwischen der äußerlichen, der existierenden und der inneren, der logischen Seite des Menschen: Der natürlichen Existenzseite nach bringt die Begierde den Menschen nur zur Repetition der Bedürfnisse, nicht zu etwas Neuem. Der Begriffsseite nach soll die Begierde aber einen konstitutiven Effekt hervorrufen können. Dieser Auffassung kann jedoch kaum zugestimmt werden: Man denke etwa an die Begierde des Ernährungsprozesses. In ihm wird in keiner Weise, wie Hegel darlegen will, „das Andere mit dem Ich erfüllt", sondern, genau umgekehrt, das Ich mit dem Anderen. Man erfüllt nicht die Nahrung mit seinem eigenen Begriff oder Ich, sondern sich selbst mit der Nahrung - auch begrifflich bzw. phänomenal. Oder man denke an die Begierde der Habgier. In ihr wird nicht das „Selbstlose zu einem freien, selbstischen Objekt", und damit zu einem Subjekt, gemacht, sondern das ohnehin schon Selbstlose in die Fänge geiziger Subjektivität verbracht und von ihr weder gewürdigt noch formiert. Oder man denke an die Begierde der Destruktion. In ihr wird nichts Unterschiedenes als Selbständiges dem Ich gegenübergestellt, sondern mit H a ß und Feuer eine Regression in Totes und Kohlenstoff betrieben. Subjektive Begierde und objektive ebenso wie reflexive Anerkennung bleiben sich so restlos fremd. Die Verzerrung in der Analyse der Begierde bei Hegel wird durch eine merkwürdig gleichartige Auffassung der Rollen der Subjektivität und der Gegenstände in der Begierdelöschung ermöglicht. Hegel zufolge kommt es in diesem Vorgang zu einer Aufhebung des Gegenstandes und der Subjektivität. Für den Gegenstand trifft nun sicherlich zu, daß er in der Begierdeerledigung - aber nur im Modus der Beseitigung - aufgehoben wird: Er wird darin zerstört oder assimiliert. Die Subjektivität jedoch wird in der Begierdelöschung nicht aufgehoben; sie verliert nur vorübergehend einen Aspekt: Danach steht sie kurzfristig nicht mehr unter einer bestimmten Spannung, ansonsten ist sie genau dieselbe wie vorher geblieben. Nach wenig Zeit schon kann die Begierde sich mit der ihr eigenen Macht wieder melden: Sie befällt als dieselbe denselben Menschen: Nichts an ihm wurde also aufgehoben. So können bestimmte Begierden den Menschen tausendfach heimsuchen: Er wünscht sich vielleicht nichts sehnlicher, als im Nachgeben ihnen gegenüber ein anderer, ein von ihnen befreiter zu werden. Trotzdem erlebt er keine Erledigung seiner Unmittelbarkeit, keine Aufhebung seiner beschränkten Subjektivität; die Begierdelöschung schließt ihn nicht mit etwas Äußerlichem zusammen - wie Hegel meint - , sondern wirft ihn als denselben auf sich zurück. Die Begierdezyklen führen ihn zu - nichts. Der § 429 der „Enzyklopädie" und sein Zusatz können also nur als aus Progressionsgründen erschlichen angesehen werden, und die Analyse des begrifflichen Effekts der Begierde muß als mißlungen bezeichnet werden. Würde man ihr Gelingen aber einmal methodisch konzedieren und annehmen, daß auf-
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grund einer Mitwirkung der Begierde die „faktische Seinsverfassung des Menschen auf dem Grunde seiner Tätigkeit" (Riedel 1965, 105) gedacht werden könnte, dann dürfte man immer noch nicht ansetzen, daß das Praktische und das Theoretische aus einer „Gleichursprünglichkeit" (vgl. Riedel 1965, 105) entstehen. Wenn nämlich die gesamte Seinsverfassung des Menschen nur auf der Basis der Tätigkeit gedacht wird, dann werden das Praktische und das Theoretische nicht als äquivalent angesehen, sondern Tätigkeit ist dann das Allfundament, sowohl für Praxis als auch für Theorie. Diese Ansicht wäre nicht unbedingt die Hegels: Der Mensch ist nach ihm, was er geworden ist, gewiß nur durdi seine Arbeit; aber diese Arbeit ist weder die Bedingung noch der Zustand der Theorie. Theorie ist Beziehung ohne Beeinflussung; sie ist ein Verhältnis ohne Begierde: „Das wahre theoretische Verhältnis ist erst da vorhanden, wo wirklich Beziehung auf einander und dodi Freiheit der Sich-verhaltenden gegen einander eintritt." (SW 9, 300)
Die Selbsterzeugung des Menschen Die Gleichsetzung des Denkens und des Wirkens sowie die Furcht vor der Unfreiheit, in die Nidittätigkeit stürzen soll, werden von Marx übernommen: „Der Mensch ist unmittelbar Naturwesen. Als Naturwesen und als lebendiges Naturwesen ist er teils mit natürlichen Kräften, mit Lebenskräften ausgerüstet, ein tätiges Naturwesen; diese Kräfte existieren in ihm als Anlagen und Fähigkeiten, als Triebe; teils ist er als natürliches, leibliches, sinnliches, gegenständliches Wesen ein leidendes, bedingtes und beschränktes Wesen, wie es auch das Tier und die Pflanze i s t . . . " (Marx 1844, 650) Die Selbständigkeit des Denkens ist hier freilich dem natürlidien Wirken nachgeordnet, dem nur noch das natürliche Erleiden gegenübersteht. Damit entsteht das Problem, bewirkte Natur von gewordener Natur zu unterscheiden und die qualitative Höherrangigkeit des Wirkens gegenüber dem Erleiden zu begründen. Bei Marx und in der Marx-Nachfolge, wo Hegels idealistischer Ausgang gestrichen wird, ist es Übung geworden, in Hegels Analyse des Menschen die Selbstproduktionsweise nur in einer bestimmten Akzentuierung hervorzuheben. Diese Interpretation ist insoweit im Recht, als Hegel in der Durchführung seiner Theorie den Mensdien viel öfter situativ als strukturell als prattoanalog beschreibt; besonders gilt dies für die historischen Erfahrungsweisen nach dem Muster der „Phänomenologie des Geistes". Dieser Beschreibungslage nach hat Marx also recht: „Das Große an der Hegeischen Phänomenologie und ihrem Endresultat - der Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip - ist also einmal, daß Hegel die Selbsterzeugung des Mensdien als einen Prozeß faßt, die Vergegenständlidiung als Entgegenständlidiung, als Entäußerung und als Aufhebung dieser Entäußerung; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Mensdien, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift . . . Er erfaßt die Arbeit als das Wesen, als
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das sidi bewährende Wesen des Menschen; er sieht nur die positive Seite der Arbeit, nicht ihre negative. Die Arbeit ist das Fürsichwerden des Menschen innerhalb der Entäußerung oder als entäußerter Mensch. Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige." (Marx 1844, 645 f.) Ohne auf die Berechtigung des letzten Satzes einzugehen - man denke für das Gegenteil an den „arbeitenden Knecht" oder an Hegels Legitimation der Arbeitsteilung - , kann Marx' Sicht für richtig befunden werden, soweit er nur an Hegels durchführende Interpretation des Menschen denkt. Hegel versucht durchaus, das Wesen des Menschen als Selbstproduktion zu denken - „er macht sich zu dem, was er ist" - , soweit dies irgend geht. Aber eine Grenze dieser Interpretation sieht Hegel anscheinend, wenn er das allgemeine Wesen des Menschen auch als ein sich selbst gleichbleibendes bestimmen will, in dem eine identische Vernunft ist: „Denken überhaupt ist seine einfache Bestimmtheit, er ist durch dieselbe von dem Tiere unterschieden; er ist Denken an sich." (L 1, 110) Nun kann man Denken freilich wieder prattoanalog verstehen und den Menschen als dasjenige Wesen, das sich durch Denken macht. So denkt Hegel durchgängig. Wie aber soll diese Deutung verfahren, wenn Hegel selbst fortfährt: „Aber das Denken ist auch an ihm; der Mensch selbst ist Denken, er ist da als denkend . . . " ? (L 1, 111) „Das Denken ist auch am Menschen" - versteht man auch hier das Denken als ein Madien, dann ist der Mensch damit den Zwängen der Technokratie eines „an ihm" befindlichen und damit über ihn befindenden Denkens sui generis ausgesetzt: Das Denken „am" Menschen würde audi ihn selbst als ein formierbares Substrat nehmen und bearbeiten. Dieser Konsequenz ist man enthoben, wenn nicht von einer Bipolarität ausgegangen wird, die Denken als Arbeiten und Arbeiten als Denken dem Sein gegenüberstellt, sondern wenn eine Tripolarität des Denkens, Arbeitens, Seins zugegeben wird. Hegel ist selten genug so verfahren, in systematischer Hinsicht nie. Meistens setzt er Denken und Produzieren gleich und läßt den Menschen nicht - sein. Aber es gibt Ausnahmen wie diese: „ . . . der Mensch ist dies: den Widerspruch des Vielen nicht nur in sich zu tragen, sondern zu ertragen und darin sich selbst gleich und getreu zu bleiben." (SW 12, 324) „Tragen" und „Ertragen" sind nicht als Produktion zu denken, sondern als ein ruhiger Widerstand gegen die Vielfalt weltlicher Bedrohungen und Reize; Widerstand erbringt kein Produkt und kann keine Fertigung vorzeigen, sondern ist nur die Kontinuität seines Selbststandes: als Getragenheit der sich weigernden Gelassenheit im individuellen Geist. Solche Gelassenheit erst ermöglicht die „gründlichere, tiefere Teilnahme einsamer mit sich und stiller nach außen" (Enz 28) am wesentlichen Denken. „Wenn, wie Aristoteles sagt, die Theorie das Seligste und unter dem Guten das Beste ist, so wissen die, welche dieses Genusses teilhaftig sind, was sie daran haben, die Befriedigung der Notwendigkeit ihrer geistigen Natur." (Enz 28) Zumindest der Gipfel des Denkens, die „Theorie", scheint also nicht Arbeit zu sein, und ihr Vollzug soll Befriedigung und Genuß erzeugen. Warum wohl läßt man sich Aristoteles zufolge auf eine Begegnung
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mit der Theorie ein? Sicher nicht deswegen, um in ihr oder durch sie zu wirken, sondern um das Wohlsein pathischer, schauender Befriedigung zu erfahren, also um den Geist in seinem Frei-raum, in seiner Frei-zeit und in seinem Freisein zu finden5. Insofern wäre es höchst seltsam, wenn dem Genuß in der Theorie und der Befriedigung in der Idee ein Denken vorausginge, das nur aus dem radikalen Gegenteil, nämlidi aus Arbeit, bestünde, bzw. ein Mensdi, der nur produzierte und produzierte, wobei dies alles nur unternommen würde, um schließlich einen Genuß zu haben. Unter dieser Voraussetzung verhielten sich die Theorie und das Denken zueinander wie der späte Genuß und eine vorgängige Arbeit, die unablässig damit beschäftigt ist, Rücklagen zum Zwecke späteren Genießens aufzuhäufen. Die Theorie und die Idee gehen aber nicht darin auf, der spezielle Pensionswohlstand eines geschäftig gewesenen Denkens zu sein. Hegel hat nicht übersehen, daß im Leben des Tages eine Gleichsetzung des Mensdien und seiner Bestimmung durch die sich denkende Selbstproduktion nicht möglich ist: Wenn das Wesen des Menschen tätiges Denken wäre und die Durchführung dieses Denkens die Philosophie, dann müßten die Menschen von sidi aus und mit Leichtigkeit den gelingendsten Fall ihrer Selbstproduktion nur in der Verwirklichung der Philosophie und der Beschäftigung mit ihr sehen. In dieser Sicht dürften sie als sich verwirklichende eigentlich nur noch denken. Im normalen Leben ist dies nicht der Fall: „Umgekehrt jedoch ist diese Form ((das Philosophieren)) andererseits mit der Abstraktion behaftet, sich nur in dem Elemente des Denkens als der bloß ideellen Allgemeinheit zu entwickeln, so daß der konkrete Mensch sich nun audi gedrungen finden kann, den Inhalt und die Resultate seines philosophischen Bewußtseins in konkreter Weise, als durchdrungen von Gemüt und Anschauung, Phantasie und Empfindung auszusprechen, um darin einen totalen Ausdruck des ganzen Innern zu haben und zu geben." (SW 14, 440 f.) Die Bestimmung des Mensdien mag also im Denken gründen; wenn der Mensch aber ein konkreter ist, bedeutet dies, daß er nicht nur Denken ist, sondern zugleich auch ein einzelner in der Gefahr der Besonderung. Beiden Bestimmungen muß der wirkliche Mensch gerecht werden. Vernachlässigt er seine Einzelheit, stört er sein Leben; vernachlässigt er sein Denken, vergißt er seine Vernunft. Ist er in die Wahl zwischen gedanklichen Abstraktionen und sinnlicher Erfüllung gestellt, kann es sich ereignen, daß er sich gegen die kategoriale Leere und für das Erlebenwollen und die un-vernünftige Anlehnung an Äußerlichkeiten entscheidet: „Es kann . . . die Sehnsucht nach einer Objektivität entstehen, in welcher der Mensch sich lieber zum Knechte und zur vollendeten Abhängigkeit erniedrigt, um nur der Qual der Leerheit und Negativität zu entgehen." (SW 7, 225) In faktischer Hinsicht muß Hegel also anerkennen (was kategorial ausgeschlossen bleibt), daß es Entwicklungen gegen den Weg der Vernunft gibt, daß der Mensch regredieren kann. 5
Vgl. die Aristoteles-Diskussion in § 24 Der Zwang des Wirkens, b) Die Aristotelesdeutung.
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In den Bedingungen solcher Regressionen verschränken sidi individualpsychologische mit sozialpsychologischen Momenten: Es „muß der einzelne Mensch, um sidi in seiner Einzelheit zu erhalten, sich vielfach zum Mittel für andere machen, ihren beschränkten Zwecken dienen, und setzt die andern, um seine eigenen engen Interessen zu befriedigen, ebenfalls zu bloßen Mitteln herab". (SW 12, 207) Der Mensch ist zwar ein soziales Lebewesen; auch seine Bedürfnisse sind zum Teil soziale. Aber indem er sie deswegen, weil sie Bedürfnisse sind, als nur die seinen gegen andere Menschen setzen muß, stört er immer wieder die Sozialität. Und die Macht der Bedürfnisse bestimmt auch ihn selbst immer wieder zum Mittel und Knecht der anderen Menschen.
§ 2 0 Begriff und Seele Die Seele im Dinglidien Die Durchführung der Wissenschaften stellt sich für Hegel als Durchführung der Begriffe dar. Er nennt sie die Anstrengung der Begriffe, (vgl. Phän 48) Dieser Wortgebrauch will nicht metaphorisch verfahren; die Begriffe werden als der Kern oder die Subjektivität der Realität verstanden; es wird angesetzt, daß sie nicht bewegt werden, sondern sich selbst bewegen. Der Begriff verhält sich zur Realität insgesamt ähnlich wie die Seele zum Menschen, also als forma corporis o. ä. Einer Gefahr allerdings, der die Seele immer ausgesetzt ist, entzieht sich der Begriff, nämlidi der, als Seiendes mißverstanden zu werden. Dagegen ist der Begriff ständig der Fehldeutung ausgesetzt, als eine nicht wirkliche, sondern nur abstrahierte Einheit angesichts der Realität und ihrer Unterschiede aufgefaßt zu werden. Seine Wirklichkeit besteht aber für Hegel gerade darin, die erfüllende Einheit des Differenten zu sein. Nur als diese synthetische Kraft ist er konkrete Totalität. Vielleicht läßt sich Hegels Position als die eines subjektiv-aktualistischen Begriffsrealismus bezeichnen, denn Begriffe können seiner Theorie zufolge selbst wirken, sie sind nicht nur Werkzeuge: „ . . . was wir Seele und näher Ich heißen, ist der Begriff selbst in seiner freien Existenz." (SW 12, 157) Der Begriff ist die vollständige, innerliche Einheit der unter ihm versammelten Bestimmungen. So bleiben diese nicht besondere für sich und somit ohne die Möglichkeit der partikulären Selbstbestimmung; sie sind sie selbst aber erst in der Weise der ideellen Zusammenbindung. Die Anlage oder die Macht zu solcher Zusammenfassung ist die logische Subjektivität des Begriffs. Sie besorgt die konkrete Einheit der Fülle eines Begriffs; sie verhindert eine nur gleichgültige, äußerliche Zusammensetzung. Vorstellungen können innerlich zusammenhanglose Serien bezeichnen, Begriffe nur konkrete Einheiten. Hegel setzt eine weitgehende Identität der Seele und des Begriffs in allen Bereichen des Seienden an. Für das Reden über das materielle, pflanzliche, tierische Dasein konstatiert er die Gewohnheit, daß von einer spezifischen Seele der
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Metalle, des Gesteins, der Gestirne und der Pflanzen gesprodien wird, stellt jedoch ebenso fest: „Für die natürlichen Dinge aber, wie Steine, Pflanzen usf. kann der Ausdruck Seele in der obigen Bedeutung nur uneigentlich gebraucht werden. Die Seele der bloß natürlichen Dinge ist für sich selbst endlich, vorübergehend und mehr eine spezifizierte Natur als eine Seele zu nennen. Die bestimmte Individualität soldier Existenzen tritt deshalb schon in ihrem endlichen Dasein vollständig hervor." (SW 12, 214) Die Individualität dieser Entitäten ist prinzipiell ohne Rest bestimmbar und deshalb freiheitsunfähig; sie kann sich nicht für sich selbst nach innen vermitteln. Weil der Begriff der natürlichen Dinge endlich ist, kann er demnach keine wirkliche Seele sein. In anderer Weise ist allerdings auch der Begriff der nur empfindenden Seele der lebendigen Organismen endlich: Die empfindende Seele ist nur an sich in der Realität vorhanden, ohne eine wissende Rückkehr in sich durchführen zu können. „Ihr Inhalt bleibt daher selbst beschränkt, und ihre Manifestation bringt es teils nur zu einer formellen Lebendigkeit, Unruhe, Beweglichkeit, Begierlichkeit, und Angst und Furcht dieses abhängigen Lebens teils nur zu der Äußerung einer in sich selber endlichen Innerlichkeit." (SW 12, 215 f.) 1 So ist schließlich doch erst der Begriff des Geistes unendlich und die Seele im Geist wirklidi frei; erst im Geist kann sie wirklich als prägende Macht auftreten. In der dinglichen Realität vermag sie als Begriff nur zu synthetisieren; im Geist dagegen erscheint sie als sie selbst. Dabei muß sie sich zwar wieder insofern verendlichen, als sie sich zum Zwecke ihres Erscheinens der beschränkten Endlichkeit inkorporieren muß; aber wenigstens gerinnende Zeichen ihrer Unendlichkeit kann sie dort vor ihrer Rückkehr in sich hinterlassen. In dieser prägenden Tätigkeit negiert sie die Realität, z. B. des Körpers, so daß diese nicht mehr nur sie selbst ist, sondern Folie der Erscheinung des Geistes. Auf diesen Wegen der sich selbst entwickelnden Seele muß eine wichtige Fixierung besonders hervorgehoben werden. „Das Negieren nun aber der unmittelbar äußerlich daseienden Glieder hat nicht nur die negative Beziehung, als die Tätigkeit des Idealisierens, sondern ist in dieser Negation zugleich affirmatives Fürsichsein... Als diese in ihrem Negieren ebenso affirmative Idealität ist die Seele aufzufassen. Wenn es daher die Seele ist, welche im Leibe erscheint, so ist diese Erscheinung zugleich affirmativ. Sie tut sich zwar als die Macht gegen die selbständige Besonderung der Glieder kund, doch ist auch deren Bildnerin, indem sie das als Innres und Ideelles erhält, was sich äußerlich in den Formen und Gliedern ausprägt." (SW 12, 173 f.) Das besondere Objektive hat seine Affirmation in seinen festen Grenzen, in der Verteidigung eines definiten Raumes als seines eigenen Raumes. Kontrahierende Negation in sich liegt nicht in seinen Möglichkeiten. Das Lebendige dagegen kann sich zusammenziehen und ausdehnen; in höheren Weisen kann es sich von Ort zu Ort bewegen. Als besonderes Material an einem bestimmten Ort affirmiert es sich also nicht. Dafür 1
Man adite u. a. auf die Herabsetzung der Begierlidikeit in diesem Zusammenhang.
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ist seine erste Stärke die Negation seiner Glieder in seinen bewegenden Willen; so geht es in sich. Aber es geht auch wieder hinaus in sie, benutzt sie und gibt ihnen Ausdruck von seiner Tätigkeit. Die Betätigung der Seele im Lebendigen führt so zur Widersprüchlichkeit ihrer eigenen Erscheinung: Die Seele erscheint, indem sie die Glieder für sich tätig sein läßt; dies ist ihr Hinausgang. Aber dabei erscheint die Seele nicht selbst als ein Etwas, sondern die Glieder ersdieinen als vom lebendigen Begriff der Seele bewegt, innerviert und mit den geronnenen Spuren dieser Vorgänge - dem Ausdruck - versehen. Die Seele selbst kann gar nicht erscheinen, weil sie nichts Seiendes ist.
Die Seele als Substanz Die Betrachtungsweise der rationalistischen Metaphysik bestand darin, die Seele als Substanz zu deuten. Sie benutzte den Begriff der Seele, um damit den dem Individuum einwohnenden spirituellen Träger zu bezeichnen; aber sie tat es mit Kategorien, die nach Hegels Meinung nur auf dingliche Substanzen anwendbar sind. „Bei dem Ausdruck Seele schwebt die Vorstellung vor, daß sie ein Ding ist wie die andern Dinge; man fragt nadi ihrem Sitze, der räumlichen Bestimmung, von der aus ihre Kräfte wirken, noch mehr danach, wie dieses Ding unvergänglich sei, den Bedingungen der Zeitlichkeit unterworfen, der Veränderung darin aber entnommen sei." (L 2, 435 f.) Nicht zugunsten, wohl aber zum gerechten Verständnis der Vertreter dieser philosophie-historischen Position muß allerdings festgestellt werden, daß sie nicht wie ihre wichtigsten Kritiker von einer idealistischen, sondern von einer dualistischen Verstehenslage ausgingen. Sie mußten also ein Begreifenssystem finden, in dem es möglich war, Geist und Materie, Seele und Körper kategorial kommunizierbar zu machen. In dieser Absicht war eine mindestens dingparaphrasierende Fassung der Seele kaum vermeidbar. Idealistische Positionen haben diese kategoriale Problematik nicht. Hegel findet (vgl. SW 10, 56), daß die alte Metaphysik die Differenz zwischen Materie und Geist zwar unverrückbar habe festhalten wollen, sie aber „bewußtlos" dadurch aufgehoben habe, daß sie die Seele dinganalog gedacht habe. Dieser Vorwurf der Inkonsequenz ist jedoch nicht zutreffend: Die Metaphysik des Rationalismus dachte die Seele für die Zeit der weltlichen Existenz des mensdilichen Individuums als in Formen der Welt eingeschlossen und gefaßt, dinganalog also, aber gerade weil sie an der Differenz zwischen Substanz und Erscheinung durchgängig festhielt, nicht als wirkliches Ding. Sie verstand die Seele als nichtdingliche Substanz, die für die Welt in dinganalogem Gewände erscheint, ohne deshalb dadurch ganz bestimmt zu werden, d. h. ohne dadurch Ding zu werden. Hegel beurteilt die rationalistische Metaphysik der Seele aber durchaus negativ: 1. Durch ihre Frage nach dem Sitz der Seele habe sie diese in den Raum gesetzt, (vgl. SW 10, 56) Mit Hegel wäre gegen Hegel hierbei festzustellen, daß
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durch eine besondere Bindung der Seele, des Geistes, des Bewegungsprinzips an körperliche Organe noch keine Verräumlidiung selbst eintritt, weil die Seele als Beweger des ihr zugehörigen leiblichen Organismus ihn gerade dazu bringt, den Raum für sich und für sie zu negieren. 2. Durdi die Frage nach dem Entstehen und Verschwinden werde die Seele in die Zeit gesetzt. Dagegen ließe sich bemerken, daß die Seele dadurch, daß sie nach durchgängiger Lehre der rationalistischen Metaphysik als unsterblich gedacht wird, es doch gerade zu einem unüberholbaren Akt der Negation der Weltzeit für sie bringt, die sie vermittlungslos hinter sich läßt. Dies aber würde bedeuten, daß sie nie eine kategoriale Bindung mit ihr eingegangen wäre. 3. Durch die Frage nach den Eigenschaften der Seele werde sie zu einem Ruhenden, zu einem Verknüpfungspunkt von Eigenschaften gemacht. Dazu muß gesagt werden, daß die attributiven Eigenschaften der Seele in der Seelenmetaphysik durchaus dingnegativ gedacht werden, z. B. im-materiell, un-sterblidi. Aber auch die positiv formulierten Eigenschaften bezeichnen ontologisch Undinglichkeit: Beharrlichkeit etwa bedeutet Veränderungslosigkeit im Ablauf der Zeit. Solche Veränderungslosigkeit kann überhaupt nur dann angenommen werden, wenn man davon ausgeht, daß die Weltzeit für die Seele einfach nicht ist. Eher ließe sich dieser dritte Vorwurf in der Weise umkehren, daß man behauptete, die Seelenmetaphysik denke die Seele wie eine Substanz ohne Eigenschaften. Unzulässig wäre in jedem Falle allerdings die Anwendung solcher Kategorien auf die Seele, die nur auf Dinge angewendet werden können. Hegel verweist im Beispiel darauf, daß etwa Kant in den „Paralogismen" der „Kritik der reinen Vernunft" bei der Betrachtung des Schlusses von der Einfachheit der Seele auf ihre Beharrlichkeit ihr methodisch intensive Größe, also einen Grad der Realität in Anbetracht ihrer Vermögen, zubillige. „So hat Kant das Recht, die Kategorie des Quantums, ,wie auf irgendein Existierendes', und insofern dies Seiende als einfach bestimmt ist, die des intensiven Quantums auf dasselbe anzuwenden." (L 1, 220) Die Schwierigkeiten hierbei dürften in der Deutung des Begriffs Einfachheit liegen. Es wäre zu prüfen, ob Einfachheit und Beharrlichkeit wirklich den interpretativen Übergang auf intensive Größe erlaubten, oder ob diese Eigenschaften nicht im Sinne der alten Metaphysik überleitungsunfähige Begriffe wären. Allerdings geht Hegel auf derartige Fragen und die dualistische Position überhaupt weiter nicht ein, sondern er glaubt, der gesamten Schwierigkeiten der nur reflektierenden Verfahrensweise durch die spekulative Entwicklungslogik enthoben zu sein; ihr zufolge werden durch die Negativität des Geistes einerseits alle Dinganalogien und Bestimmungen nach dem festen Muster des unmittelbaren Seins nach innen aufgehoben und andererseits die endlichen Formen des Daseins und des daseienden Bewußtseins aus dem Geist heraus erzeugt, ohne daß er dadurch selbst verdinglicht würde.
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Die Seele und das Bewußtsein Hegels weitgehende Gleichsetzung der Seele und des Begriffs durch die Regionen des Seienden hindurch legt fest, daß damit die Substanz der Entwicklung zur Wahrheit bezeichnet wird, die sich aber, um für sich zu sein, noch realisieren muß; sie muß sich deshalb zum gesetzten Resultat erheben und sich selbst damit den Anschein der Unmittelbarkeit nehmen. Deswegen sind in der Subjektivität der Substanz Seele und Geist zu unterscheiden, u. zw. in ontologischer und in anthropologischer Hinsicht. In ontologischer Bedeutung ist die Seele einmal in ihrem An-sich Substanz, dann aber als zentrierende Beseelung, als forma corporis, das ideelle Fürsichsein des Leibes; der Geist ist als Prinzipienbegriff der gesamten dialektischen Entwicklung zunächst Substanz, nur daseiende Idee, dann aber nicht erst als objektiver oder absoluter Geist, sondern schon als subjektiver Geist Idee, die für sich selbst und in sich selbst ist, nämlich als das Fürsichsein des bewußten und selbstbewußten innerlichen Lebens der Individuen. In dieser Form bewirkt er die Aufnahme und Verarbeitung der von ihm erlebten Empfindungen und Vorstellungen, betätigt sich als Moderator seiner Zwecke und erwirbt so das Gesetztsein seiner Bestimmungen für sich. Damit ist er subjektive Idee, denn er hat die Seele für sich gemacht. „Die Seele ist nicht nur für sidi immateriell, sondern die allgemeine Immaterialität der Natur, deren einfaches ideelles Leben. Sie ist die Substanz, die absolute Grundlage aller Besonderung und Vereinzelung des Geistes, so daß er in ihr allen Stoff seiner Bestimmung hat, und sie die durchdringende, identische Idealität derselben bleibt. Aber in dieser noch abstrakten Bestimmung ist sie nur der Schlaf des Geistes; - der passive νοΰς des Aristoteles, weldier der Möglichkeit nach Alles ist." (SW 10, 52 f.) Hegel lehnt sich somit hier an das Modell des Aristoteles an, das er freilich in eigener Weise auslegt6. Offen tritt jedoch von vornherein der Unterschied zutage, daß für Hegel die Seele bedingungslos immaterielle Negativität sein soll. In ihrer Beschreibung aber kann er genauso wenig wie Aristoteles oder die Seelenmetaphysiker auf Worte verzichten, die der Bezeichnung dinglicher Realität entlehnt sind, wie ζ. B. „Substanz", „Besonderung", „Vereinzelung" und besonders „Stoff". Hegel kann zwar zugebilligt werden, daß ihr Benutzungssinn bei ihm nicht positiv und qualitativ, sondern realitätsprivativ verstanden werden soll. Diese Einlassung müßte dann gerechterweise aber auch gegenüber den metaphysischen Rationalisten gelten können. In anthropologischer Hinsicht kann nach Hegel durch die Differenz des Geistes und der Seele der Unterschied zwischen Mensch und Tier ausgemacht werden. Im Leben ist der Geist nämlich das Bewußtsein seiner Inhalte für sich; die Seele ist nur das Bewußtsein nicht fester, ungegenständlicher, unmittelbarer Inhalte, wie ζ. B. der Gefühle: „ . . . die niedrigste Stufe des Bewußtseins . . . in der mit dem Tiere gemeinschaftlichen Form der Seele." (Enz 12 f.) Die Seele denkt • Vgl. § 24 Der Zwang des Wirkens, b) Die Aristotelesdeutung.
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nodi nicht; denken kann erst der Geist in seiner Deutlichkeit; dies ist der Unterschied zwischen seelischer Lebendigkeit und geistigem Bewußtsein, und dieser Unterschied ist beträchtlich. Deswegen findet Hegel es auffällig, daß zwischen Tier- und Menschengestalten nur geringe Abweichungen bestehen. Aber gerade diese Geringfügigkeit stammt aus dem Geist selber, der sich generell entschlossen hat, als Natur sein Anderes zu sein und in der Rückkehr zu sidi individuelle lebendige Existenz mit seelischer Zentrierung zu werden. Die Gestaltungsabsicht, Individuen mit einer lebendigen Seele hervorzubringen, ist für Tier und Mensch dieselbe - im Unterschied zu den Regionen des Anorganischen und der Pflanzen. Was der Geist im Menschen über die Seele hinaus ist, dies ist er vornehmlich für sich oder für seine Erzeugnisse außerhalb seines Leibes; dazu benötigt er nicht einen wesentlich anderen Leib, als ihn die Tiere haben, sondern nur einen graduell verfeinerten. Zur Beseelungsleistung des menschlichen und des tierischen Leibes genügt derselbe Begriff. S o führt der Geist auch eine seiner wichtigsten Unternehmungen am Menschen - die Vereinigung der Seele und des Bewußtseins - rein in sich durch, ohne daß sie am Leibe erschiene. In der Analyse dieser Vereinigung verwendet Hegel einen für heutige Denkweisen unerhört spekulativen Stil: Zunächst stehen sich gegenüber die Seele als die Substanz des noch unmittelbaren Geistes und das Bewußtsein als der erscheinende Geist, der sich von seiner Substanz getrennt hat. Ihre Vereinigung muß so vor sich gehen wie die Verbindung des für sich seienden Begriffs und der an sich seienden Objektivität im vernünftigen Wissen, das der Geist ist. Als vernünftiges Wissen erfährt der Geist die sich kreuzende Identität von begriffener, begrifflicher Objektivität und objektiviertem, objektivem Begriff. Indem die Objektivität logisch begriffen wird, wird sie eben selbst zum Begriff, und indem der Begriff dialektisch objektiviert wird, wird er objektiv. Begriff und Objektivität werden so im vernünftigen Wissen identisch. Die strukturell entsprechende Identität für die Seele und das Bewußtsein stellt der freie Geist so her, daß er einmal die Seele als Objekt setzt, damit ihre Begrifilichkeit objektiviert und ein andermal das Bewußtsein als eines, das in der Welt ist, bzw. das seiende Moment des Bewußtseins 7 als „Seelenhaftes" setzt und damit subjektiviert. Indem ihm dieser Identitätsnachweis gelingt, zeigt sich der Geist als der Träger der Vereinigung der Substanz der Seele und des Subjekts des Bewußtseins. Damit glückt ihm zugleich ein Beweis der Wahrheit, den die Seele nicht vorführen kann; sie ist zunächst unmittelbare, natürlich-fühlende Totalität. Das Bewußtsein kann dagegen nichts anderes als demonstrieren; es ist die Trennung in den Schadit des Ich und das ihm äußerliche Objekt; das Bewußtsein lebt vom Verweisen auf dieses Objekt. Die Seele, die auf nichts zeigen, auf nichts verweisen kann, vermag also noch nicht einmal etwas zu beweisen, obwohl dies technische Voraussetzung jeder Wahrheitserstellung ist; das Bewußtsein kann seine sämtlichen Beweise nur als auf ein Außen bezogen durdi7
Hegel scheut sich nicht zu schreiben: „das Seiende des Bewußtseins". (SW 10, 2 9 5 )
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führen, sie aber nicht logisch internalisieren, obwohl dies die Voraussetzung jeder Wahrheitsfindung ist, die Unmittelbarkeit vermitteln will. Erst der freie Geist, der dem Bewußtsein analog den Objekten als einer gegenübersteht und der Seele analog als Totalität sowohl er selbst als auch sein Gegenüber ist, kann sich als sich wissende Wahrheit begreifen. Die Seele war erst das Fühlen der Wahrheit, das Bewußtsein war ihr Objektivieren; erst der freie Geist ist sie wirklich selbst. Selbstverständlich stellt sich die Frage, ob diese Durchführung legitim ist. Vor ihrer Behandlung muß jedoch zum wiederholten Male darauf verwiesen werden, daß Hegel in seinen begrifflich-dialektischen Durchführungen immer von der Traktierung der umfassenden Typen ausgehen will, nie von den Aberrationen oder Fehlentwicklungen der unbegriffenen Realität. Über die grundsätzliche Differenz dieses Ansatzes hinaus muß hier aber untersucht werden, ob Hegel sich in der obigen Explikation an die unterstellte und gewünschte begriffliche Notwendigkeit hält: Die Identifizierung der Seele und des Bewußtseins soll dadurch ermöglicht werden, daß der Geist allgemein das „Seiende des Bewußtseins als Seelenhaftes" setzt und „das Seelenhafte zu einem Objektiven" macht. Mit diesen Charakterisierungen werden jedoch nicht die Normalitäten der beiden genannten Typen bezeichnet, sondern Ausnahmesituationen in einer bestimmten ontologischen Perspektive. Das Bewußtsein verfügt nämlich nicht in der Weise über seiende Momente, eventuell auch nur ausgewählter Art, wie dies für die reale Objektivität gilt. Nur in verzerrter Hinsicht läßt es sich dann als seiend auffassen, wenn es in unmittelbarem Bezug auf Seiendes außerhalb seiner lebt und wirkt. Also erst die intentionale Verflechtung stellt es in eine scheinbare Reihe mit Gegenständen in der Welt. Das reine „ S u m " Descartes' kann dagegen nur ein Phänomen, nichts Seiendes beweisen. Der Charakter des Seienden bezeichnet also nur ein Situationsmoment am Bewußtsein, nämlich die Voraussetzung des Konnexes zwischen ihm und der seienden Realität, jedoch nicht seine Totalität. Die Setzung der Identität der Seele und des Bewußtseins scheitert von der Seite des Bewußtseins aus also daran, daß es nicht wirklich als seiend wie Seiendes gedacht werden kann und als solches für gedankliche Ausgangslagen folglich nicht zur Verfügung steht. Ebenso ist in der Parallele die Seele nicht von sich aus wirklich Objekt oder Objektives; solches kann sie nur „ f ü r " das Bewußtsein sein. Die Objektfassung der Seele bedarf also der auffassenden Differenz des Bewußtseins. Will das Bewußtsein sich also mit dem „Objekt" der Seele zusammenschließen, hätte es sich letztlich mit einer eigenen Leistung zu verbinden, von der es aber in diesem Stadium noch nicht sieht, daß sie seine eigene ist. - Man muß das von Hegel vorgeschlagene Verfahren zur Identifizierung der Seele und des Bewußtseins deshalb mit phänomenographischer Begründung als kategorial unmöglich bezeichnen. Die Identität der Seele und des Bewußtseins im freien Geist kommt in Hegels Beweisführung durchaus nur über situative Konjunktionsperspektiven zustande und dürfte ontologisch nicht zu halten sein.
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Gewiß ist es der Geist selber, der über die Stufen der Seele und des Bewußtseins zu sich zurückkehrt; damit ist vom Vorentwurf des Systems her der Gelingensfall seiner Heimführung unterstellt. Und weiter wird davon ausgegangen, daß Seele und Bewußtsein Entwicklungsstadien auf dem Wege zur Freiheit des Geistes sind. Die zugehörige Beweislast bleibt allerdings abzutragen. Aber damit stellt sich zusätzlich die vordringliche Frage, ob Seele und Bewußtsein unter solchen Aspekten überhaupt wirklich und logisch jemals sie selbst sein können, denn immer schwebt über ihnen das Gebot des Entwicklungszwanges zum sog. freien Geist. Zwar soll die Seele audi in Hegels System unmittelbar fühlende Totalität sein. In Wirklichkeit kann sie hier gerade systematisch keine Totalität sein; sie ist a priori eingefangen von einer übergreifenden Perspektive, nämlidi der, ein zu entwickelndes Stadium sein zu müssen. Die Totalität der Seele wird also sofort als „gebraucht", „verwendet", „eingeordnet" gedacht. Auch die Seele ist eine Erscheinung der Idee und darf deswegen nicht ruhiger Zustand ihres eigenen Rechts sein, sondern sie muß zu einem Ergebnis führen, das sich gegen sie selbst wendet und sie zugrunde richtet, indem sie die Pflicht hat, Bewußtsein zu werden. So muß die Seele „ihren" Zweck verwirklichen, indem sie sich zu einem Material für andere Bestimmung herabsetzt, genau wie vorher der Leib zum Material ihrer Formierungskraft wurde. In dieser Bearbeitung erfuhr der Leib die Anerkennung, die einzige Weise der Wirklichkeit der Seele zu sein. Ebenso soll die Seele die einzige Weise der Wirklichkeit des Bewußtseins sein. Ob man diese Weisen für die einzig möglichen oder für die einzig tatsächlichen hält, hängt jedoch davon ab, ob man die Hegeische Durchführung als gelungen ansieht. Die Weise, Wirklichkeit für ein anderes zu sein, bedeutet jedenfalls trotz aller Aufhebungsdialektik auch immer eine Herabsetzung: Wenn die Seele das Material des Bewußtseins ist, dann bedeutet dies, daß das Bewußtsein an sich immer schon über die Seele erhaben ist: In der Dialektik des Für-sich-setzens erweist es sich die Ehre des Wissens dieser Superiorität, indem es die Seele „aufhebt", m. a. W. vom besseren Ganzheitswissen her in Beschlag nimmt. So scheint ein Annexions- bzw. Kolonisationsmodell in dieser Aneignungsdialektik benutzt zu werden: Die Autorität des sich selbst krönenden Fortschritts oder Heilswissens negiert die bis zur „Entdeckung" bestehende Selbständigkeit der benachbarten Grundlage, bewahrt ihren Reichtum für sich, nicht etwa für sie und erklärt sie durch den erfahrenen Prozeß für erhöht. Mit solchen Gedanken wurden die „unabweislichen Verfügungen" von der Eroberung Mittel- und Südamerikas an bis zur Annexion Bosniens und der Herzegowina grundiert, um die Macht der eigenen Hoheit zu „vermitteln". Neben die ontologischen und ideologiekritischen Zweifel stellen sich auch psychologische, wenn es sich darum handelt, Hegels Verbindung der Seele und des Bewußtseins zu bedenken: Hegel geht davon aus (vgl. SW 10, 109), daß die Kontinuität der Seele durch Schlaf und Wachen hindurch erhalten bleibt. Im Wachleben ist die Seele konkret für sich; im Sdilaf ist sie in einem nur an sich
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seienden Zustand. Den Unterschied beider Modi bezeichnet das Erwachen, das nur vordergründig ein natürlicher Vorgang ist. „Das Erwachen ist nicht nur für uns oder äußerlich vom Sdilafe unterschieden; es selbst ist das Urteil der individuellen Seele, deren Fürsichsein für sie die Beziehung dieser ihrer Bestimmung auf ihr Sein, das Unterscheiden ihrer selbst von ihrer noch ununtersdiiedenen Allgemeinheit ist." (SW 10, 109 f.) Es fällt aber schwer einzusehen, wie der Übergang des Erwadiens, also anthropologisch der Wechsel von der Seele zum Bewußtsein, ein Urteil der Seele sein könnte. Die schlafende Seele, insofern sie gerade nur an sich seiende sein soll, kann nicht Ersteller eines bewußtseinsfähigen Urteils sein. Zu einer solchen Leistung wäre sie erst als schon bewußte Seele bzw. als Bewußtsein imstande; um in dieser Fassung leben zu können, müßte sie aber schon erwacht sein. Die philosophische Analyse des Erwachens führt hier wie oft in Schwierigkeiten, weil der phänomenale Befund mißachtet wird, der eindeutig den Charakter passiver Genesis, nicht bewußter Produktion, hat und der kein bewußtes Urteil ist.
Die Wege der Empfindungen Die einfache Vermittlung der Seele mit dem Leibe ist die Empfindung. Sie ist als ein punktuelles Besonderes von der sich durchhaltenden Identität des Bewußtseins unterschieden, zugleich aber in seiner durchdringenden Einfachheit enthalten. Hegel denkt die Vermittlung der Empfindung in einer sich selbst entgegengesetzten, doppelten Weise. Einmal nimmt die Seele als empfindende ihre natürliche Unmittelbarkeit auf und macht sie für sich. So beseitigt sie den Gegensatz zwischen sich als in der Empfindung auf die Äußerlichkeit gerichtet und sich als in ihrer Bestimmung auf sich bezogen; so macht sie also das Mannigfaltige einfach. Ein andermal wird das - angeblich - ursprünglich dem Fürsich-sein Angehörige der Empfindung zur natürlichen Leiblichkeit hinausgesetzt und als äußerlich empfunden. „Hiernach unterscheidet sich eine Sphäre des Empfindens, welches zuerst Bestimmung der Leiblichkeit... ist, die dadurch Empfindung wird, daß sie im Fürsichsein der Seele innerlich gemacht, erinnert wird, — und eine andere Sphäre der im Geiste entsprungenen . . . Bestimmtheiten, die, um als gefundene zu sein, um empfunden zu werden, verleiblicht werden." (SW 10, 126) Damit scheint ein vollständiges Kreuzungsmodell gesichert: Äußeres gelangt nach innen, Inneres gelangt nach außen. Aber Schwierigkeiten lassen sich auch angesichts dieser symmetrischen Wege nicht übersehen. Hegel geht zunächst davon aus, daß alles, was im Bewußtsein und in der Vernunft auftritt, Quelle und Ursprung in der Empfindung habe. (vgl. SW 10, 123) Er schließt sich damit jedoch nicht einem empiristischen Ansatz an. Empfindung ist ihm nämlich nicht nur die Aufnahme von äußerlichen Sinnesdaten und deren Rezeption ins Bewußtsein - also nur die Vermittlung auf dem Weg von außen nach innen - , sondern er setzt für sie auch eine Entstehung aus der umgekehrten Richtung an. Solche Empfindungen stammen demnach aus dem
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Bewußtsein und dem Geist, und ihr Ergebnis wird verleiblicht; bei ihnen soll es sich also um aus dem „Geist entsprungene Bestimmtheiten" handeln. „Der Inhalt der Empfindung ist entweder ein aus der Außenwelt stammender, oder ein dem Inneren der Seele angehöriger; die Empfindung also entweder eine äußerliche oder eine innerliche." (SW 10,128) Offensichtlich sind aber die zu veräußernden Empfindungen Hegels (die „innerlichen") etwas ganz anderes als die Sinnesempfindungen (die „äußerlichen"). Letztere sind kategorial zunächst einmal qualitative, zufällige Bestimmtheiten; entsprechende Bestimmtheiten aus dem Geist müßten notwendig geordnete Formalität sein. Derartiges pflegt man gemeinhin nicht mit Empfindung zu bezeichnen, sondern dabei eher an Ordnungen, Klassen oder Kategorien zu denken. In welcher Zwangslage sich Hegel bei diesem Problem befindet, geht u. a. auch daraus hervor, daß er auf die Notwendigkeit verweist, eine Wissenschaft erst noch zu schaffen, die sich mit der Systematik der „innerlichen" Empfindungen abgeben soll. „Das System des innern Empfindens in seiner sidi verleiblichenden Besonderung wäre würdig, in einer eigentümlichen Wissenschaft, — einer psychischen Physiologie, ausgeführt und abgehandelt zu werden. . . . es würde die interessanteste Seite einer psychischen Physiologie sein, . . . die Verleiblichung zu betrachten, welche sich geistige Bestimmungen, insbesondere als Affekte, geben." (SW 10, 127f.) Erst durch die Verleiblichung der „innerlichen" Bestimmungen kann das Subjekt fähig werden, sie wirklich zu empfinden; sie müßten sowohl sein eigen, als audi von ihm distanziert sein. Hegel setzt zwei Typen „innerlicher", zu veräußernder Empfindungen an: „Erstens solche, die meine, in irgend einem besonderen Verhältnisse oder Zustande befindliche unmittelbare Einzelnheit betreffen; - dahin gehören, zum Beispiel, Zorn, Rache, Neid, Scham, Reue; Zweitens solche, die sich auf ein an und für sich Allgemeines, - auf Recht, Sittlichkeit, Religion, auf das Schöne und Wahre, - beziehen." (SW 10, 139) Beide Typen zusammen machen die Klasse der „innerlichen", zu veräußernden Empfindungen aus, denen die andere Klasse der „äußerlichen", zu verinnerlichenden Empfindungen gegenübersteht. Zwischen den beiden Empfindungsklassen bestehen augenscheinlich aber gravierende Unterschiede, die ihre gemeinsame Bezeichnung als Empfindungen unmöglich machen. Die Sinnesempfindungen (die „äußerlichen", die „ver-innert" werden) sind, wie Hegel unablässig betont, zufällig, besonders, vielfach. „So enthält, zum Beispiel, das Sehen die unbestimmte Möglichkeit vielfacher Gesichtsempfindungen." (SW 10, 128) Die Empfindungen aus dem Geiste (die „innerlichen", die „ver-äußert" werden) sind dagegen nicht primäre Empfindungen, sondern Empfindungsordnungen bzw. Einteilungen von Empfindungen. Die Sinnesempfindungen beziehen sich direkt auf qualitativ Materielles, eine Gelbempfindung z. B. auf das Gelb einer Rose. Die Geistesempfindungen dagegen beziehen sich nicht auf äußere Reize, sondern auf anderes Psychisches bzw. auf andere Empfindungen. Wenn man sich an Hegels eigene Beispiele hält, kann man z. B. feststellen: Man ist neidisch auf Erfolg, empfindet Reue wegen einer bösen eigenen
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Handlung, hegt Radiegefühle wegen einer bösen fremden Handlung, ist zornig wegen eines als beleidigend empfundenen Verhaltens, schämt sidi auf Grund eines Ertapptseins, hat das Verlangen nach Gerechtigkeit, wird in religiöser Hinsicht von Furdit heimgesucht, mit Ehrfurcht beglückt usw. Diese Phänomenbetrachtung zeigt, daß die Geistesempfindungen eben keine wirklichen Empfindungen sind; sie ordnen 1. vielmehr andere, primäre Empfindungen, machen sie durch Negation verfügbar, helfen dem Subjekt, sich ihrer in der Natürlichkeit seiner Seele zu erwehren; und sie können 2. nur auftreten, wenn ihnen bestimmte Erlebnisse und Ereignisse vorausgehen; sie entspringen keineswegs autonom aus dem Geist. Selbstverständlich wird der Mensch von ihnen „bewegt"; er empfindet in ihnen durchaus etwas. Das ändert aber nichts daran, daß es ihr Zweck ist, andere Empfindungen zu ordnen. Ihr Empfindungsmoment kann sogar als aufdringlich, zerwühlend usw. bezeichnet werden; indem sie andere Empfindungen ordnen, sind sie selbst aber keine Empfindungen, sondern deren Ordnung, die als aufgefaßte audi einmal den Erlebnischarakter der „Un-ordnung" zeigen kann. Zorn und Rache ζ. B. „zer-reißen" den Menschen. Die Geistesempfindungen sind also nicht Empfindungen, sondern Kategorien für Empfindungen. Psychologisch bezeichnet man sie als Affekte, Gefühle, volitive Akte usw. Die Sinnesempfindungen beziehen sich auf empfundene Welt, Materie, Dinglichkeit, u. zw. nach der Maßgabe der philosophischen und physiologischen Theorien. Die Geistesempfindungen beziehen sich nie auf dingliche Realität, sondern nur auf Psychisches. Der primäre Bezug von Zorn, Rache, Neid, Scham, Reue auf Dinge ist undenkbar. Die Bezeichnung Empfindungen für die „innerlichen, veräußerten Empfindungen aus dem Geiste" ist also illegitim, wenn man an einer Grundordnung der Klassen Empfindungen, Gefühle, Affekte, Urteile usw. festhalten will. Der Geist ordnet nach seinen Prinzipien; sinnliche Qualitäten, die Material für Empfindungen abgeben würden, kann er aber aus sich selbst nidit erschaffen. Das gilt auch für die physiologischen und pathophysiologischen Korrelate psydiischer Alterationen: Zornesröte, Angstdurchfall, Ulcusbluten usw. beruhen, auch wenn sie psychisch bedingt sind, auf Quantitätsveränderungen materieller Art, auf Gefäßerweiterungen, -Verengungen, ph-Wertverschiebungen usw. Sie sind quantitative körperliche Veränderungen, die erst dann als qualitative aufgefaßt werden können, wenn sie über die Vermittlung primärer Empfindungen, z. B. Sehen von Blässe, Spüren von Schmerz usw., zur Verfügung stehen. Wenn aus dem Geist heraus unmittelbar am Leibe qualitative Veränderungen entstehen könnten, wäre ein psychogenes Ulcus anders als ein somatogenes, sähe „brennende" Schamröte anders aus als eine gewöhnliche Hyperthermie usw., und jede Anamnese erübrigte sidi.
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Die Beziehungen zwisdien Seele und Leib Auch die Hegeische These, die besagt, daß die Seele unmittelbar in allen Gliedern des Leibes lebendig sei, hat ihre Schwierigkeit. Kategorial ist Hegel zu ihrer Annahme genötigt, weil er die Seele als universale Negation der Leibesglieder versteht. Prinzipiell verhält es sich audi so, daß der Leib in allen dem Zentralnervensystem unterstehenden Teilen des Bewegungsapparates willentlich und den entsprechend dem autonomen System unterstehenden unwillentlidi innervierbar ist. Hegel aber schließt weiter: „Die Lebendigkeit dieses meines Körpers besteht darin, daß seine Materialität nicht für sich zu sein vermag, mir keinen Widerstand leisten kann, sondern mir unterworfen, von meiner Seele überall durchdrungen und für dieselbe ein Ideelles ist. Durch diese Natur meines K ö r p e r s . . . werden die Bewegungen meiner Seele unmittelbar zu Bewegungen meiner Körperlichkeit." (SW 10, 138 f.) Diese These ist für Hegel aus systematischen Gründen erforderlich; aber sie ist nicht gerechtfertigt. Die Materialität des Leibes kann sich zwar nicht mit definierten Zielen den Forderungen des Ich entgegenstellen; sie ist nicht selbst auch Wille oder Seele, wie andererseits das Idi nicht Körper ist. Aber sie setzt den Absichten des Idi unwillentlich eindeutige Grenzen, die es nicht um das mindeste zu verändern in der Lage ist. In der Verwirklichung von Zielen, die mit leiblichen Mitteln erreicht werden sollen, stellen die Absichten des Idi und die Materialität des Leibes ebenbürtige Konkurrenten dar. Der Alltag beweist die Macht auch des leiblichen Körpers in vielfältiger Weise. Nur zwei Beispiele seien herausgegriffen: In Sportkonkurrenzen etwa entscheidet nicht unbedingt der größere Ehrgeiz oder die höhere Leistungsmotivation des individuellen Idi über den Erfolg; der Körper kann sehr wohl „Widerstand" dagegen leisten, z. B. durch ungeeignete Glieder oder durch einen Kollaps. Und nicht der wird unbedingt ein besserer Pianist, der die größere Übungsanstrengung aufbringt, sondern vielleicht dodi der, dem die Natur die besseren anatomischen und neurophysiologisdien Grundlagen hinsichtlidi mechanisch-manueller Gewandtheit, akustischer Auffassungsgabe und klanglicher und dynamischer Gestaltungsfähigkeit mitgegeben hat. In solchen und vielen anderen Fällen erreichen die „Bewegungen der Seele" das von ihnen gesetzte Ziel gerade deshalb nicht, weil sie beim Versuch der leiblichen Übertragung scheitern. Die phänomenographische Analyse erweist durchgängig, daß es eine totale, beliebig weit auszudehnende Negation des Körpers im und durch den Geist in seiner seelischen Form nicht gibt. Die wirkliche Leistung der Seele im Wechsel der Empfindungsfolgen ist es, sich selbst als eine allgemeine und einfache darin zu behaupten. Die entsprechende Leistung des Bewußtseins besteht darin, sich aus dieser Abfolge heraus zu sich zu erheben und einer äußeren Welt gegenüberzutreten. In der Anerkennung ihrer objektiven Totalität wird das Bewußtsein zum erstenmal objektiv. So kann der subjektive Geist schon objektives Bewußtsein sein: „Als objektives Bewußtsein habe idi wohl zunächst eine unmittelbare Empfindung, zu-
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gleich ist dies Empfundene aber für mich ein Punkt in dem allgemeinen Zusammenhange der Dinge, somit ein über seine sinnliche Einzelnheit und unmittelbare Gegenwart Hinausweisendes. An die sinnliche Gegenwart der Dinge ist das objektive Bewußtsein so wenig gebunden, daß ich auch von demjenigen wissen kann, was mir nicht sinnlich gegenwärtig ist . . . Das Bewußtsein betätigt aber seine Unabhängigkeit von dem Stoffe der Empfindung dadurch, daß es ihn aus der Form der Einzelnheit in die Form der Allgemeinheit erhebt, an demselben, mit Weglassung des rein Zufälligen und Gleichgültigen, das Wesentliche festhält." (SW 10,149 f.) Insgesamt ist in der Hegeischen Theorie die Differenz zwischen Seele und Leib eine nur relative. Der leibliche Körper ist eine Realität, die zugehörige Seele sein Begriff. Die Seele in einem leiblichen Körper macht diesen zum Leib im Vollsinne des Wortes. Als solcher entspricht seine Realität seinem Begriff: Wenn Begriff und Realität so koinzidieren, ist ideelle Wahrheit verwirklicht. Der Zerfall dieser Wahrheit bringt nicht zwei dann wieder selbständige Substanzen hervor, also eine leiblose Seele und einen seelenlosen Leib. „. . . e i n toter Mensch ist daher noch eine Existenz, aber keine wahrhafte mehr, ein begriffloses Dasein: deswegen verfault der tote Körper." (SW 7, 73) Der leblose Körper verfault also, weil kein Begriff mehr in ihm tätig ist; plastischer läßt sich kaum ausdrücken, wie real Hegel die Tätigkeit des Begriffs verstand. In ihrer Rückkehr aus dem Anderssein gibt sich die Idee in den lebendigen Individuen ein unmittelbares, vereinzeltes Dasein, das die ihm unterlegte Natur vermittels seiner nodi natürlichen Selbstbewegung negiert. Damit rechtfertigt die Idee die Lebendigkeit des individuellen Organismus. Seine Organisation ist ein Produkt des Begriffs. „Daß nun aber der Begriff und die leibliche Gestalt oder näher: daß Seele und Leib einander entsprechen, dies zu begreifen, ist die Sache der Naturphilosophie." (SW 13, 370) Da die Natur eine strenge Entwicklung durchläuft, haben die individuellen Organismen in diesem Zusammenhang einen jeweils bestimmten Zweck zu erfüllen, für den sie ausgerüstet sein müssen. Deswegen muß das animalische Subjekt sein allgemeines Insichsein seiner Körperlichkeit einbilden, die Besonderheit der umgebenden Natur aufnehmen und sich selbst als wirkliches einzelnes reproduzieren können. Als dieses einzelne bildet es seine Sinnesorgane, seine Triebe und Instinkte seinem Zweck entsprechend aus und pflanzt sich fort. (vgl. Enz 291 ff.: Der tierische Organismus) Von Hegels ganzheitlichem Entwicklungsbegriff aus ergibt sich konsequent die Annahme, Körper und Seele als Mittel des Zweckes der Ideeverwirklichung anzusetzen. Gegenüber dieser Nötigung erhält kein Individuum eine Freistellung. Seele und Körper werden somit nidit als zwei wirklich selbständige, verschiedene Substanzen verstanden - wie es die rationalistische Philosophie bis zu Kant hin sah - , sondern als Begriff und Realität für einen Zweck. Da dieser Zweck voll erkennbar ist, können auch seine Voraussetzungen und Momente durchsichtig gemacht werden. Anders wertete Kant diese Verhältnisse noch in
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seiner späten Zeit: „ . . . wenn audi Seele und Körper als zwei spezifisch-verschiedene Substanzen, deren Gemeinschaft den Menschen ausmacht, angenommen werden, bleibt es für alle Philosophie, vornehmlich für die Metaphysik, unmöglich auszumachen, was und wie viel die Seele, und was oder wieviel der Körper selbst zu den Vorstellungen des innern Sinnes beitrage, ja, ob nicht vielleicht, wenn eine dieser Substanzen von der andern geschieden wäre, die Seele schlechterdings alle Art Vorstellungen (Anschauen, Empfinden und Denken) einbüßen würde." (Kant GS 20, 308) Kant geht also noch davon aus, daß Seele und Körper in einer bestimmten Weise aufeinander einwirken, daß sie als selbständige Einheiten sich etwas drittes vermitteln können; er setzt noch nicht an, daß sie sich selbst ganz miteinander vermitteln, wie dies für Hegel notwendiges Resultat ist. Hegel nennt es „ideelos" und „sophistisch", wenn man glaube, daß die Seele sich unberührt erhalten könne, sofern dem körperlichen Leib Schaden zugefügt werde. Eine brutale Einwirkung auf den Leib, z. B. eine „Mißhandlung", betreffe ebenso die Seele und sogar das Idi. (vgl. SW 7, 101 f.) In diesem Fall urteilt Hegel durchaus der Realität entsprechend; die Macht der Realität reicht aber viel weiter, als in einer solchen extremen Situation sichtbar wird. Die These der Totalvermittlung zwischen Seele und Leib schließt auch eine asketische oder kathartische Lebensführung aus; eine Seele, die sich in Situationen der Anfechtung in der Absicht der Friedensgewinnung in sich zurückziehen könnte, gibt es in Hegels Theorie nicht. Die Seele ist vielmehr ununterbrochen zur beherrschenden Gewaltausübung auf den körperlichen Leib genötigt; sie lebt ausschließlich in dieser aufhebenden Aktivität. Ihre Macht benutzt sie geheim und offen gegenüber der nur scheinbaren Selbständigkeit der leiblichen Glieder und Organe. Als Belebungsprinzip negiert die Seele deren Vielfalt im zentral gesteuerten Stoffwechsel, der Voraussetzung ihrer Erhaltung ist. Als Innervationsprinzip führt sie Entsprechendes in der Bewegungssteuerung durch, in der unaufhörlich die unkoordinierte Einzelheit der Glieder den zentralen Lenkungsabsichten unterworfen wird. So sind Seele und Leib für Hegel nicht ein Zusammenhang zweier selbständiger Einheiten, sondern letztlich eine Identität. „Den Leib und seine Gliederung nämlich haben wir anzusehn als die Existenz der systematischen Gliederung des Begriffs selbst, der in den Gliedern des lebendigen Organismus seinen Bestimmtheiten ein äußeres Naturdasein gibt, wie dies auf untergeordneter Stufe schon beim Sonnensystem der Fall ist. Innerhalb dieser realen Existenz nun erhebt sich der Begriff ebensosehr zur ideellen Einheit aller dieser Bestimmtheiten, und diese ideelle Einheit ist die Seele." (SW 12, 170) So wie die Idee allgemein der Begriff ist, der als Realität für sich ist, so ist das Leben die Idee als die Seele, die in der Realität des Körpers für sich wird, indem sie Leib wird. Weil zur Idee aber sowohl Identität als auch Differenz gehören, sind Seele und Körper ununterscheidbar als Leib, unterscheidbar jedoch als beseelendes Prinzip und als organisches Außereinander.
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Die Aufgabe der im Dienste der Idee stehenden Seele Diese systematischen Verhältnisse werden von Hegel ausführlich dargestellt. Damit soll es möglich gemacht werden, den Weg des Geistes von seiner seienden Existenz, die ihm äußerlich ist, zu seiner von ihm selbst vermittelten Realität zu denken; es soll also konstruiert werden, wie der Geist von seinem Naturdasein zu seinem Selbstdenken gelangt. Zunächst ist nach der Hegeischen Entwicklungsvorstellung der aus der Natur zurückkehrende Geist noch nicht objektiv für sich, sondern erst subjektiv in den lebenden menschlichen Individuen; so ist er noch nicht das Wissen dieser Form bzw. dieses Zustandes. Alles Seiende trägt Naturbestimmtheiten an sich; audi die sog. seiende Seele ist durch diese Charaktere gekennzeichnet. Sie sind ihre natürlichen Qualitäten, deren Ubergang in die Zeit ihre Zustände sind. Machen sie sich als besondere selbständig, gefährden sie die Allgemeinheit der Seele: Das Individuum ist dann seinen Begierden ausgeliefert; es kann sich nicht umfassend willentlich bestimmen und bedenken. Diesen störenden Abstand muß der Mensch also verringern, wenn er Herr über sein Naturdasein werden und bleiben will. In der Durchführung dieser Aufgabe gibt es in Hegels dialektischem Entwicklungskonzept nur eine Richtung: Die Seele muß sich ihres Leibes bemächtigen, ihn bearbeiten, umbilden. Alles Natürliche ist nur Material für die Einbildung des Geistes; der Leib ist dies im besonderen. Es muß daher das selbst noch natürliche Interesse der Seele sein, den körperlichen Leib ihren Intentionen verfügbar zu machen; so negiert die Seele ihn, indem sie ihm Reflexe, Instinkte, Triebe eingibt. In dieser Tätigkeit veräußerlicht und vervielfacht sie sich aber selbst und muß nun diese ihre Negationen negieren, um einfaches Zentrum ihres Fürsichseins zu werden und den Leib als ganzen zu beherrschen. — Die Bemächtigung des Leibes ist die Bedingung der Freiheit der Seele. N u r indem die Seele sich in den Leib hineinarbeitet, wird ihre prinzipielle Freiheit f ü r sie verfügbar; sie muß dazu das äußerliche Dasein ihres Begriffs verinnerlidien; dies geschieht aber nur durch ihren Herausgang in den Leib hinein. Um „ihrem Begriffe entsprechend zu werden, muß die Seele, . . . ihre Identität mit ihrem Leibe zu einer durch den Geist gesetzten oder vermittelten machen, ihren Leib in Besitz nehmen, ihn zum gefügigen und geschickten Werkzeug ihrer Tätigkeit bilden . . . Der Leib ist die Mitte, durch welche ich mit der Außenwelt überhaupt zusammen komme. Will ich daher meine Zwecke verwirklichen, so muß ich meinen Körper fähig machen, dies Subjektive in die äußere Objektivität überzuführen". (SW 10, 243) Das Selbstsein der Seele und die Verwirklichung der subjektiven Zwecke sind also in Hegels Theorie dasselbe. Will die Seele sie selbst sein, muß sie arbeiten, u. zw. muß sie zunächst den ihr zugehörigen Leib bearbeiten. Es gibt für sie nicht den Weg eines doppelten Selbstseins wie in den dualistisdien Seelenmetaphysiken: Ihnen zufolge kann die Seele sowohl auf ihren Leib einwirken als auch sich aus ihm in sich selbst zurückziehen, wenn sie zu sidi kommen
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will. Deshalb kann hier die Askese ein Mittel der Leibesbemeisterung sein, während sie von Hegel verworfen wird (vgl. SW 10, 237; 18, 164f.); sie ist ihm nur eine Negation, die zugleich affirmiert und die Wichtigkeit desjenigen, dem entsagt wird, zu viel hervorhebt. Hegels Kritik ist allerdings insgesamt nicht zulässig, da sie nur den mißlingenden Entsagungsfall bezeichnet; in der gelingenden Askese ist die Negation dagegen geglückt und der Gegenstand der Entsagung subjektiv untergegangen. Neben der Askese ist für dualistische Metaphysiken als Weg der Selbstgewinnung auch die ruhige Beziehung der Seele auf sich selbst möglich: Darin läßt die Seele ihren Leib einfach neben sich - sein, beschäftigt sich gerade nicht mit ihm, sondern konzentriert sich in sich selbst, u. zw. nicht durch Arbeit und Wirken für außerhalb ihrer liegende Aufgaben, sondern dadurch, daß sie absichtslos denkt oder sich einer „Theoria" widmet, ohne dem Erfüllungszwang eines Zweckes oder einer Aufgabe unterworfen zu sein. In Hegels Theorie bleibt der Seele dagegen für jede Art der Selbstvergewisserung nur der Weg des Wirkens auf den Leib und mittels des Leibes hinaus in die Welt. Dieses Konzept gilt Hegel nicht nur für die „natürliche Seele", sondern auch für die „fühlende Seele", die die Substanz ihrer nur an sich seienden Erfüllung als Subjektivität setzen, sich dadurch in Besitz nehmen und „die M a c h t . . . selbst für sich" werden soll (vgl. SW 10, 155), und schließlich für die „wirkliche Seele", in der sich die Identität des Äußern mit dem Innern, des Leibes mit seinem Begriff herstellt, wobei jenes diesem „unterworfen ist", (vgl. SW 10, 246) So ist in Hegels Theorie die Seele die sich immer mehr als „unterwerfende Macht" durchschauende Institution, d. h. die sich nur als Okkupation des Leibes beruhigende Aggression auf diesen: „Dies Sein, der Leib der bestimmten Individualität, ist die Ursprünglichkeit derselben, ihr Niditgetanhaben." (Phän 227) Da das Individuum, der Mensch, die Person nur das sind, was sie gemacht haben, muß das Kainsmal des Nichtgetanhabens am Leibe ausgebrannt werden. Im Auftrage der Idee, die sich verwirklichen will, hat die Seele den Leib zum Werkzeug dieser für ihn nicht erfahrbaren Instanz umzuschaffen, damit er vor ihr gerechtfertigt werde. „Wenn die im Dienste des Geistes zu vollbringenden Tätigkeiten des Leibes oftmals wiederholt werden, erhalten sie einen immer höheren Grad der Angemessenheit, weil die Seele mit allen dabei zu beachtenden Umständen eine immer größere Vertrautheit erlangt, in ihren Äußerungen somit immer heimischer wird, folglich zu einer stets wachsenden Fähigkeit der unmittelbaren Verleiblichung ihrer innerlichen Bestimmungen gelangt und sonach den Leib immer mehr zu ihrem Eigentum, zu ihrem brauchbaren Werkzeuge umschafft." (SW 10, 244) In Übung und Automation, deren Ergebnis die Gewohnheit ist, stabilisiert sich die Seele gegenüber dem Leib, läßt ihn f ü r sich arbeiten, um selbst frei zu sein. Der Zusammenschluß der Seele mit dem Leib besteht also darin, daß er ihr Eigentum ist und ein ihr unterworfenes Werkzeug sein muß. Diese Situation ist den Phänomenen nach dieselbe wie bei den sich unter vie-
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len Vorzeichen rechtfertigenden Gewaltanwendungen, die, um jeweils „wirklich" zu sein, um die Exkulpation für ihren Genuß zu gewinnen und um vor allem Macht- und Arbeitsmittel zu ihren Gunsten zu besitzen, mit einer „zweckmäßigen" Begründung über andere und anderes verfügen müssen. Nach diesem Vorbild wird hier der Leib zum „Werkzeug, das Eigentum schafft" und zum „Eigentum, das Werkzeuge schafft". Der Grund der Entfremdungsmöglichkeit des Leibes von sich selbst ist damit gelegt. Die Seele verfügt zwar nodi nicht über Etwas, Quantität und Maß. Diese Kategorien werden erst vom Bewußtsein entdeckt. Das Bewußtsein kann sie dann benutzen, um mit dem „Werkzeug, das Eigentum" schafft, zunächst quantifiziertes Eigentum schaffen zu lassen, dann dessen Quantität zu abstrahieren und schließlich damit die Werkzeuge der Leiber zu quantifizieren und als solche austauschbar zu machen. Das leiblich existierende Individuum, das „an sich nidits ist, solange es sich nidit zu etwas gemadit hat", muß unter diesen Voraussetzungen die Erfahrung machen, daß es nicht dazu kommt, etwas zu sein oder zu werden; andere hinderten es nämljdi daran, aus sich selbst etwas zu machen, indem sie etwas mit ihm machten. Denn wenn ein Wert, um überhaupt zu sein, sich erst herstellen muß, kann er an dieser seiner Existenznahme jederzeit gehindert werden. Die Seele, die daraufhin angelegt ist, im Leib zu erscheinen, um in ihm zu wirken, lebt grundsätzlich auch in der Gefahr, in ihrer Tätigkeit von dritter Seite angesprochen und fehlgeleitet zu werden; es braucht dazu nur der Fall einzutreten, daß dem ihr zugehörigen Leib fremdes Abarbeitungsmaterial unterschoben wird. Die Seele ist also prinzipiell in die Zwangslage versetzt, gegebenenfalls aus einer ihr fremden Bestimmung heraus arbeiten zu müssen. Diese Folgerung ist unabweisbar, wenn die Seele nicht als „principium individuationis personae", sondern als allgemeine Idealität des Materiellen, speziell dessen Negation zum Leibe, verstanden wird. „Die Seele ist das Allesdurchdringende, nicht bloß in einem besonderen Individuum Existierende; denn . . . muß dieselbe als die Wahrheit, als die Idealität alles Materiellen, als das ganz Allgemeine gefaßt werden, in welchem alle Unterschiede nur als ideelle sind, und welches nicht einseitig dem Anderen gegenübersteht, sondern über das Andere übergreift. Zugleich aber ist die Seele individuelle, besonders bestimmte Seele, sie hat daher mannigfache Bestimmungen oder Besonderungen in sich; dieselben erscheinen, zum Beispiel als Triebe und Neigungen. Diese Bestimmungen sind, obgleich von einander unterschieden, dennoch für sich nur etwas Allgemeines. In mir, als bestimmtem Individuum, erhalten dieselben erst einen bestimmten Inhalt. So wird, zum Beispiel, die Liebe zu den Eltern, Verwandten, Freunden u.s.w. in mir individualisiert; denn ich kann nicht Freund u.s.w. überhaupt sein, sondern bin notwendigerweise mit diesen Freunden dieser, an diesem Ort, in dieser Zeit und in dieser Lage lebende Freund." (SW 10, 181 f.) Die Seele und die Individualität sind also in Hegels Theorie different: einmal, da die Seele allgemeine, übergreifende Negation ist, ein andermal, da sie in ihren gesetzten Bestimmungen wieder allgemein ist. Die Individualisierung dieser
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Bestimmungen erfolgt nicht aus ihnen selbst oder aus einem ihnen übergeordneten individuellen Subjekt heraus, sondern aus Erfahrungen an bestimmten Orten und in bestimmten Zeiten. Die konkrete Individualität der Seele - wenn man sie überhaupt noch so nennen will - wird so zum Erfahrungs- und Lernprodukt. Die Seele als Projektionsobjekt Die Kritik am SeelenbegrifF, die zunächst von philosophischer Seite vorgetragen wurde, erhielt später zusätzlich psychologische und soziologische Unterstützung. In jüngster Zeit hat Topitsch versucht, die philosophischen und theologischen Seelenvorstellungen insgesamt auf mythologisierende Projektionen bzw. Retrojektionen zurückzuführen. Er unterscheidet dabei vier Ausgestaltungsweisen, (vgl. Topitsch 1966, 201 ff.) In den biomorphen Verfahren tritt das Motiv der Lebensseele auf; die Seele wird als belebendes und bewegendes Prinzip verstanden. Ihnen entspricht audi der Beginn der Hegeischen Seelentheorie: An sich ist die Seele „Naturgeist". (SW 10, 46) Dies ist ihr Anfang, (vgl. SW 10, 60 f.) In den technomorphen Auffassungen wird die forma-corporis-Vorstellung ausgebaut: Es kann sowohl vom Verhalten des bearbeiteten Materials als auch von der zweckmäßigen Gestaltung des Arbeitsvorganges ausgegangen werden. Die Hegeische Theorie verwendet tedinomorphe Elemente eindeutig unter dem Primat rationaler Gestaltung zugunsten des „Werkmeisters" und zu Lasten des Materials: Die Seele „bildet sich in den Körper ein"; ihre „Tätigkeit gegen den Leib" bezweckt, in seiner vollständigen „Durchdringung" „für sich" zu werden, sich „als Subjekt mit ihm als Prädikat" zu wissen, (vgl. SW 6, 242 f.) Hegel benutzt sogar Bilder der Läuterung und Reinigung durch das Feuer zum Vorteil der Seele; er stützt sich hierbei also auf ein „Opfer"-Motiv: „Das ist die eigene Bestimmung der Natur, daß sie sich aufopfert, verbrennt, so daß aus diesem Brandopfer die Psyche hervorbricht und die Idee sich in ihr eigenes Element, in ihren eigenen Äther sich erhebt." (SW 15,122) Soziomorphe Vorstellungen betreiben offen oder umgestaltet eine Internalisierung sozialer Schichtungsverhältnisse. Sie sind besonders auffällig und von Topitsch selbst bei Piaton, Aristoteles, aber auch noch bei Freud nachgewiesen worden. Audi bei Hegel bieten sich auffällige Parallelen an zwischen seiner Einteilung der Seelenstufen und den Ständen der „Grundlinien der Philosophie des Rechts": a) Der Bauernstand wird als „substantiell und unmittelbar" bezeichnet. Er ist gekennzeichnet durch die Haltung des „gläubigen Zutrauens", der „einfachen Gesinnung", sowie der Auffassung: „die Natur tut die Hauptsache." Er ist „zur Unterwürfigkeit geneigt", (vgl. SW 7, 280 ff.) Die „natürliche, nur seiende Seele" ist ähnlich in unmittelbarer Naturbestimmtheit befangen; sie ist den „natürlichen Veränderungen" unterworfen, die sie anerkennen muß; sie „vertraut ihnen", (vgl. SW 10, 63 ff.)
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b) Der Gewerbestand soll die „Naturprodukte formieren", (vgl. SW 7, 282) Die „fühlende Seele" soll ihre „Substantialität für sich bearbeiten", (vgl. SW 10, 155 ff.) Der Gewerbestand unterscheidet sich in den „Handwerks-", „Fabrikanten·" und „Handelsstand" (vgl. SW 7, 282 f.), die „fühlende Seele" in die „unmittelbare", „selbstische" und durch Gewohnheit „freie", (vgl. SW10, 157fF.) aa) Die Handwerker besorgen „Arbeit für einzelne Bedürfnisse" anderer; sie veräußern ihre Individualität in ihren Produkten an jene; ihre Aktivität gehört nicht mehr ihnen, sondern dem bearbeiteten Material. Die „fühlende Seele" als „unmittelbare" ist „nicht der freien Reflexion" in sidi fähig; ihre „selbstisdxe Individualität" kann „von ihr verschieden" sein und von anderen bestimmt werden. Der Handwerker wird vom Auftraggeber fremdbestimmt; die „unmittelbar fühlende Seele" von ihrem „Genius", bb) Der Fabrikant schließt die „Masse" der besonderen Arbeit in einem Ziel, das er als „allgemeines" bezeichnet, zusammen. Die „fühlende Seele" als „Selbstgefühl" „schließt die besonderen Gefühle" des Subjekts als seine für seine Zwecke „in sidi zusammen", cc) Der Handelsmann führt das Besondere der Güter durch das „allgemeine Tausdimittel des Geldes" in den „abstrakten Wert" seiner Wirklichkeit hinüber. Er hat es nicht mehr mit dem Ding als einzelnem zu tun. Die „fühlende Seele" als „Gewohnheit" madit das Besondere der Gefühle zu einer nur seienden Formalität an ihr und setzt damit ihre Konkretion herab. Sie macht sich gegenüber dem einzelnen Gefühl frei. Hegel beschreibt die „fühlende Seele" als „Gewohnheit" mit Worten, die genauso auf den sog. kühlen Kaufmann im Umgang mit seinen Waren und seinem Geld im Kontor zutreffen: „Die Seele hat den Inhalt auf diese Weise in Besitz, und enthält ihn so an ihr, daß sie in solchen Bestimmungen nicht als empfindend ist, nicht von ihnen sich unterscheidend im Verhältnisse zu ihnen steht, nodi in sie versenkt ist, sondern sie empfindungs- und bewußtlos an ihr hat und in ihnen sidi bewegt. Sie ist in sofern frei von ihnen, als sie sich in ihnen nicht interessiert und beschäftigt; indem sie in diesen Formen als ihrem Besitze existiert, — ist sie zugleich für die weitere Tätigkeit und Beschäftigung . . . offen." (SW 10, 235 f.) Avidi der Kaufmann hält die gekauften Gegenstände nur als seiende „in Besitz", verkehrt mit ihnen nur durch die seiend-abstrakte Gewohnheit des Geldes. In ihre Individualität ist er nicht „versenkt", sie „interessiert ihn überhaupt nicht"; er erfaßt sie als seinen Besitz in der Geldform. c) Der „allgemeine Stand" lebt f ü r die Aufgabe der Verwirklichung der Freiheit im Staate; er dient den „allgemeinen Interessen des gesellschaftlichen Zustandes" in ihm. (vgl. SW 7, 283) Die „wirkliche Seele" steht im Zeichen einer „freien Allgemeinheit", sowie des „höheren Erwachens zum Ich"; sie dient als Grundlage seines universalen Wirkens, (vgl. SW 10, 252 f.) In den ekstatisch-kathartisdien Vorstellungen kann sich die Seele zum Zwecke ihrer Befreiung ganz oder zeitweise von der Welt ablösen oder zurückziehen. Solche Erwägungen spielen in Hegels Denken keine Rolle. Das vorhin angegebene „Brandopfer"-Zitat läßt die Seele jedodi wie ein kathartisches Produkt
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einer Selbstopferung der Natur zugunsten der Entwicklung zum Geiste hin erscheinen. In Hegels Lehre kann die Seele nicht in ihrem eigenen ruhigen Selbststand oder in Verzicht oder Entsagung leben, sondern nur durdi Tun und Wirken, als Einbilden in die Realität. Wenn sie überhaupt sein soll, kann sie nur als tätige sein.
§ 21 Begriff u n d Person a) Das Begreifen der Person als Deuten und Forschen Ontisdie, ontologische und ethische Personauffassungen Die Begriffe der Person und der Persönlidikeit sind äquivok. Fast alle Denker und Psychologen beanspruchen für sich jedoch, mit ihnen etwas Bestimmtes zu verstehen. Mitunter werden die Begriffe Person und Persönlichkeit ununterschieden verwendet; mitunter wird ihre Identität oder audi ihre partielle bzw. totale Differenz behauptet. Allport berichtet von genau fünfzig Benutzungsweisen des Begriffs Persönlichkeit, (vgl. Allport 1949, 26 ff.). Er unterscheidet weiter insgesamt fünf Grundtypen möglicher Persönlichkeitsdefinitionen, nämlich 1. Sammeldefinitionen, in denen die Persönlidikeit als Summe ihrer Anlagen, Tendenzen, Motive und Neigungen aufgefaßt wird, 2. ganzheitliche Definitionen, in denen die Eigenschaften der Persönlidikeit unter Benutzung des GanzesTeile-Modells in einer bestimmten Zentralisation systematisiert werden, 3. hierarchische Definitionen, in denen Vorstellungen eines Aufbaus oder einer Schichtung leitend sind, 4. Anpassungsdefinitionen, in denen von den Adäquationserfahrungen des Organismus und des Lernens ausgegangen wird und 5. Unterschiedsdefinitionen, die es ermöglichen, jedes Mitglied einer Gruppe als von den anderen verschieden zu erkennen. Diese Definitionsmöglichkeiten müssen als zu eng angesehen werden. Sie verfügen nämlich ausnahmslos nur über eine ontische Perspektive, nicht über eine ethische, die sich mit Schuldfähigkeit und Freiheit befaßt, also mit Problemen, die genauso philosophische wie psychologische sind. Es fehlt ihnen ferner die ontologische Dimension mit ihrer großen Tradition von Boethius an. Der ontische Ausgangspunkt ist zusätzlich eingeschränkt auf eine theoretische Erfassung von Einheiten, die im Charakter seiender Passivität gedacht werden, während die Probleme des Denkens und Handelns als evtl. autonome und autogene keine Berücksichtigung finden. Unter Verwendung der von Allport angegebenen Definitionsmöglichkeiten kann die Psydiologie der Persönlichkeit deshalb nur auf dem Boden einer als solche nicht durchschauten positivistischen Ontologie ontisdi deskriptiv, nidit aber reflexiv oder spekulativ oder ethisch betrieben werden. Insofern hätte sidi die heutige Persönlichkeitspsydiologie in Hegels Vorstellung
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auf den Bereich des gedankenlos Seienden, das sich nicht zu verantworten hat und sich nicht erfassen kann, restringiert 8 . Wie sehr die psychologischen Persönlichkeitsvorstellungen dieses Jahrhunderts trotz der beschriebenen Beschränkung untereinander differieren, sei mit folgender Gegenüberstellung demonstriert: In Welleks Theorie ist Persönlichkeit „das seelische Sein" des Menschen, von dem er bedingt, bestimmt und getragen wird, für Watson ist sie nur die Summe des Verhaltens über eine lange Zeit; in der einen Annahme ist Persönlichkeit also Bedingung des Erscheinens des Verhaltens, in der andern erst Ergebnis des selbst zufälligen Verhaltens, (vgl. Wellek 1950; Watson 1930) Die uralte Differenz zwischen Grund und Erscheinung im Begriff der Person, die in der erwähnten Verwendung (vgl. § 9. Zur Geschichte des Begriffs Person - Der Personbegriff im Altertum) des etruskisdien Wortes „phersu" schon auftritt, indem die mit ihm bezeichneten Maskierten zwar als bestimmte erscheinen, aber als maskierte gerade nicht als die, die sie sind, lebt sich in Fassungen wie den folgenden vollends auseinander: Bei Jung ist Persona nur die Maske, der äußere Schein (vgl. Jung 1921 u. 1928); bei Lersch ist Person die Grundform des seelischen Seins (vgl. Lersch 1938 [1966 10 ]). (vgl. auch Herrmann 1969, 23) Damit ist in den Spektren der Psychologie der Begriff der Person völlig zerfallen in die beiden unterschiedlichen Aspekte, in denen einmal der Grund, das Wesen, bezeichnet werden soll, in denen ein andermal geglaubt wird, daß nur die Erscheinung, das Verhalten, vielleicht nur die Maske, analysiert werden kann. Die Hoffnung, die Person ontisch und ontologisch bestimmen zu können, u. zw. so, daß ihr Begriff der Reflexion und der ontisch-experimentellen Uberprüfung standhält, ist heute weithin aufgegeben. An die Stelle des Begriffs der Person ist z. T. das Konstrukt „Person" getreten, (vgl. Herrmann 1969, 32 ff., 55 ff., 61 ff.) Die Geschichte der Bemühungen um einen umfassenden Personbegriff scheint beendet.
Die philosophischen Interpretationen der Person vor Hegel Zwischen den Anfängen und dem Ende dieser Entwicklung erscheint wie ein Desiderat die Definition des Boethius: Persona est naturae rationalis individua substantia, (vgl. Boethius, Liber de persona et duabus naturis, PL 64,1343) Die besondere Leistung dieses Gedankens liegt im Versuch der Verbindung vernünftiger Allgemeinheit und individueller Einzelheit. Was in ihm zunächst wie eine ontologisch gelingende Definition aussieht, hat jedoch auch seine Schwierigkeiten; dies gilt besonders dann, wenn man die Begriffe Natur und Substanz als bis zu Spinoza, Leibniz und Hegel sowie zur neuzeitlichen Naturwissenschaft hin entwickelte ansetzt, also unter natura nicht Wesensnatur oder essentia, sondern 9
Es gibt aber audi heute Ansätze zu Persönlichkeitsauffassungen, die nicht unter die Allportschen Klassen fallen; man denke beispielsweise an die Spontaneität des Spradierwerbs bei Chomsky (vgl. Chomsky 1968) oder an den Entwurf einer humanistischen Psychologie bei Maslow (vgl. Maslow 1973).
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gegenständliches Seiendes im raumzeitlidien Zusammenhang und unter Substanz nicht Selbständigkeit (subjectum ultimum), sondern entwickelbare Einheit versteht. Man kann freilich einwenden, Boethius hätte dieses Verständnis nodi nicht gehabt, was ohne weiteres zuzugeben ist; unbeantwortet bliebe damit aber die Gegenfrage, wie vom philosophischen Denken aus gesehen in der Formel des Boethius die Allgemeinheit der Vernunft an einen einzelnen dinglichen Leib kommen kann, wie andererseits vom naturwissenschaftlichen Denken aus gesehen die Einzelheit eines dinglichen Leibes über die Allgemeinheit der Vernunft verfügen kann. Gegen Boethius sei also vorgebracht: Eine Substanz ist entweder prädizierbar und damit logisch teilbar - oder man kann nichts Vernünftiges über sie sagen; und Natur ist entweder etwas anderes als Geist und damit eben nicht rational, sondern höchstens rationalisierbar - oder sie ist rational, dann aber nicht Natur. Und metathetisdi gilt: Was Natur ist, kann nicht unteilbar sein; was aber andererseits rational ist, kann nicht Substanz sein, sondern nur Subjekt oder Logos. Die Definition des Boethius bringt somit Glieder bzw. Prädikate zusammen, die von der philosophischen Entwicklung aus gesehen unvereinbar bleiben bzw. werden müßten. In der Scholastik wurde die ontologisdie Persondiskussion fortgesetzt. Hier sei nur auf Thomas von Aquin verwiesen. In der Theologie der Summa theol. erörtert Thomas das Verhältnis zwischen Person und Eigentümlichkeit: „Ad primum ergo dicendum quod persona et proprietas sunt idem re, différant tarnen secundum rationem: unde non oportet quod multiplicato uno multiplicetur et reliquum. (S. theol. I, q 40, a 1 ad 1) Zum ersten ist zu sagen, daß Person und Eigentümlichkeit in der Sache dasselbe sind, sieb aber dennoch dem Begriff nach unterscheiden: von daher ist es nicht nötig, daß durch die Vervielfachung des einen auch das andere vervielfältigt wird. Die boethianisdie Formel greift Thomas zum Zwecke der Besprechung in S. theol. I, q 29, a 1 auf. („De diffinitione personae") In S. theol. I, q 29, a 3 ad 2 werden die Ergebnisse - die eigenen und die anderer - zusammengefaßt „. . . quidam diffiniunt personam dicentes, quod persona est hypostasis proprietate distineta ad dignitatem pertinente. Et quia magnae dignitatis est in rationali natura subsistere, omne individuum rationalis naturae dici tur persona, ut dictum est." Manche definieren als Person, indem sie sagen: Person ist eine Hypostase, die durò eine in den Bereich der Würde gehörende Eigentümlichkeit ((von anderen)) unterschieden ist. Und weil es eine hohe Würde ist, in vernünftiger Natur zu bestehen, wird jedes Individuum von vernünftiger Natur Person genannt, wie schon gesagt ist. (Aus S. theol. I, q 29, a 4 ergibt sich, daß Thomas die Formel des Boethius auch als seine eigene ansieht: „sed diffinitio personae est, rationalis naturae individua substantia.") Diese ontologisdie Persondeutung geriet in ernstliche Schwierigkeiten, als in der Neuzeit der psychologische Empirismus darauf hinwies, daß die Person, die im mittelalterlichen Verständnis in einem universalen Sinnzusammenhang wechselseitiger Art vorgestellt wird, auch ganz anders aufgefaßt werden kann. Statt von den angenommenen metaphysischen Verflechtungen der Person oder
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von ihrem als unbeeinflußbar gedachten Kern ging er von der Erfahrung, von der Wirkung der erlebten Situationsfolgen, aus. In den Mittelpunkt der Analyse rückte nunmehr der jeweilige Kontext der Person. Damit wurde betont, daß jeder Sinn, indem er zunächst einmal erfahren wird, gelernt werden muß und insofern zur Fremdbestimmung durch das Gelernte führt. Im psychologischen Empirismus ergab sidi so die Annahme, die Person als von „Natur" inhaltsfrei zu denken und nur auf das Moment zurückzuführen, das sie von den Individuen der tierischen und pflanzlichen Natur unterscheidet: das Bewußtsein ihrer selbst, das sich in der Zeit durchhält und Verstand oder Vernunft hat. In seiner eigenen Ausgestaltung dieses Ansatzes unterschied Kant zwischen den vernunftlosen Wesen, den Sachen, und den vernünftigen Wesen, den Personen. Die Möglichkeit der Gewinnung des Sichwissens als Idi macht den Menschen zur Person: „Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und vermöge der Einheit des Bewußtseins bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person, d. i. ein von Sadien, dergleichen die vernunftlosen Thiere sind . . . durch Rang und Würde ganz unterschiedenes W e s e n . . . " (Kant GS 7, 127) Der Mensch ist also dadurch Person, daß er über sich nachdenken und sich bedenken kann; dies erfolgt so, daß er in seiner Vorstellung als Fixierungsfolie sein Ich benutzt. Dieses Idi wird gefunden, nicht gemacht; der Mensch „kann es haben". Bei Kant ist die Person demnadi nicht ein Produkt, sondern etwas, das der Mensch in sich entdeckt, u. zw. auch als ein Zweck an sich, der Wert und Würde hat. Damit wird die Überleitung des Personbegriffs in die praktische Philosophie ermöglicht: Was Zweds an sidi selbst ist, darf nicht als Mittel gebraucht werden; alle Willkür wird dadurch eingeschränkt. (vgl. Kant GS 4, 428) Der anthropologischen und der praktischen Analyse geht voraus die Untersuchung der „Paralogismen der reinen Vernunft", darunter auch des „Dritten Paralogism der Personalität"; als deren Ergebnis bewirkt die theoretische Entmetaphysizierung der Person die Verlagerung der Persondiskussion in die beiden anderen philosophischen Disziplinen. Kant weist ethisch und anthropologisch der Person einen hohen Rang zu: Sie ist in ethischer Hinsicht etwas, das nicht fremdbestimmt werden soll, in anthropologischer Hinsicht etwas, das alles andere Lebendige unendlich überragt. In inhaltlicher Hinsicht aber bleibt die Person bei Kant - u. zw. konsequent - leer. Die nachfolgenden Entwicklungen werden in den großen Linien teilweise bis heute von Kants Lehre der Inhaltsfreiheit vorbestimmt und geraten in entsprechende Schwierigkeiten; dies ist besonders feststellbar, wenn sie wieder eine regionale Erfüllung versuchen. Man halte sidi nur die juristische und die psychologische Entwicklung vor Augen: 1. Die ethische Person, die beweisen und manifestieren will, daß sie Zweck ist, muß diesen Anspruch streitbar und konkret verteidigen: So entsteht die ethisch-juristische Fassung der Person als abstraktes Subjekt der miteinander konkurrierenden Ansprüche. 2. Die anthropologische Person, die weiß, daß sie etwas unendlich Überragendes ist, diese Auszeichnung
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aber nicht deskriptiv erfüllen kann, muß sich entsprechend als unendliche Erfüllungsmöglichkeit denken; so wird sie psychologisch zum „Konstrukt" der Person. Beide Personbegriffe sind „leer". Die personalistische Psychologie Sterns und seiner Nachfolger Eine neue anthropologische Interpretation des Personbegriffs begann erst wieder bei Stern (vgl. Stern 1906-1924), der die Person zu einem Zentralbegriff der Psychologie machen wollte und sie deshalb vom Seelenbegriff abgrenzen mußte. (vgl. Pongratz 1967, 47 ff.) In seiner Persontheorie wird in dieser Absicht das traditionelle Leib-Seele-Schema außer acht gelassen und statt dessen die Person als ein primäres Einheitsprinzip angesetzt; es soll Leib und Seele zur erscheinenden Unselbständigkeit herabsetzen. Weil Leib und Seele aber ansatzbedingt die gleiche Valenz haben müssen, kann die Person weder etwas Nur-Materielles noch etwas Nur-Geistiges sein. Und während unterstellt wird, daß den LeibSeele-Theorien zufolge die Seele nur aus dem Leib heraus oder zumindest mit ihm als Medium mit der Welt verkehren kann und daß dies ein schwerwiegender Theorienachteil sei, soll die Person unmittelbaren Bezug zur Welt haben. Sicherlich war es Sterns Absicht, neben der experimentell-objektiven Forschungsrichtung wieder eine an der Subjektivität ausgerichtete in die Psychologie einzuführen. Heute wird man feststellen können, daß dieser Versuch gescheitert ist, weil er Ansprüche stellte, die seine Mittel überstiegen: Das Problem des Leibes und der Seele ist ein ontologisches; man kann versuchen, es zu lösen; man kann es für unlösbar oder sogar für sinnlos halten; aber man kann es nicht durch eine ontische Lösung ersetzen. Diese aber legte Stern vor, indem er die Person als ein weltliches Faktum deutete und die Probleme des Leibes und der Seele damit relativieren wollte. - Zusätzlich hat Revers darauf hingewiesen, daß Stern in der Bemühung um eine Neutralisierung der psychophysischen Problematik den Personbegriff mit spinozistischen Mitteln klären wollte, indem er für Physis und Psyche das eine Substrat suchte. „Dies Substrat sieht er gegeben in der Person. Das Psychische ist demgegenüber nur Beschaffenheit und Merkmal. Darin wird erkennbar der Regreß auf Spinoza, nach dessen Auffassung Physis und Psyche Attribute der all-einen Substanz sind. Die Haltbarkeit dieser These hängt freilich davon ab, ob der Schnitt zwischen Leib und Seele so gelegt werden kann, wie Stern ihn - im Anschluß an Spinoza — legt. Er definiert die Person als ,eine individuelle, eigenartige Ganzheit, welche zielstrebig wirkt, selbstbezogen und weltoffen ist, lebt und wirkt'. Der Personbegriff Sterns betrifft sowohl das menschliche als auch das tierische Individuum und ist eine Hypostasierung der Individualität." (Revers 1960, 405) Die Interpretation von Revers versucht, Stern weit entgegenzukommen, wenn sie die Schwierigkeit seines Personbegriffs nur in der speziellen Lage des Schnittpunktes zwischen Leib und Seele sieht. Vom Hegeischen Standpunkt aus ist dagegen eine Konstruktion der Individualität auf spinozistischem Boden überhaupt nicht möglich, weil
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dort die Negation nur einfadie Determination ohne Negation der Negation ist, die erst wirkliche Affirmation ermöglicht (vgl. SW 19, 375) und weil damit die Individuation bloße Zusammensetzung bleibt, ohne daß sie mit sich vermittelt wird. (vgl. SW 19, 395) Eine verbreitete Grundansicht über Leib und Seele setzt an, daß diese beiden Regionen sich in irgendeiner Weise gegenseitig beeinflussen und daß sie in einem individuellen Träger, der Person, partiell oder total vermittelt werden; wenn man die umgekehrte Position bezieht, kann man behaupten, daß die Person dem Leib und der Seele vorausgeht und sie erst fundiert. Die erste Sicht ist die der Seelenmetaphysik, der phänomenologischen Psychologie und der Forschungsrichtungen der empirischen Psychologie, die die Primordinalität der Begriffe Leib und Seele nicht für sinnlos halten. Auch Kant und Hegel gehen von ihr aus. Die zweite Sidit ist die Sterns: Ihre erste Schwierigkeit besteht in der Vernachlässigung des Vermittlungsproblems, das besagt: Die Person ist genetisch und phänomenographisdi nichts Erstes, sondern ein Ergebnis, ein Vermitteltes, bzw. sie „lebt", ist und wirkt vom „Hintergrund" des Leibes und der Seele aus. Eine weitere Schwierigkeit dieser Richtung entsteht aus folgender Problematik: Die Person verfügt nicht, wie Stern annimmt, über „unmittelbaren Bezug" zur Welt, denn als ein in der Welt endliches Individuum hat sie nur einen durch Sinne, Sitte, Einstellung, Prägung vermittelten Bezug zu weltlichen Gegebenheiten. Wenn sie aber als Spontaneität autonomen Bezug zur Welt hat, u. zw. rezeptiv oder konstitutiv, so erscheint sie als diese Spontaneität ex definitione nicht, kann also als intelligible nicht sinnliche oder untersuchbare Person sein. Stern beabsichtigte mit seinem Personbegriff, die Überwindung des alten Dualismus- bzw. Faktorenproblems des Leibes und der Seele zu ermöglidien; was er anbot, war die Person selbst als „Lösung". Dabei wurde von ihm übersehen, daß - wie schon gesagt - ontologisdie Probleme nicht ontisdi gelöst werden können. Stern fand jedoch eine Reihe von Nachfolgern, sowohl in der Psychologie als auch in der philosophischen Anthropologie und der Wertphilosophie, die an der Primordinalität der Person festhielten, ζ. B. Scheler (vgl. Scheler 1913 f. u. 1928), Haecker (vgl. Haecker 1933), Wust (vgl. Wust 1928) und auch Karl Bühler (vgl. Bühler 1960). Bei Bühler verläuft der unvermittelte „Schnitt" in der Person nicht zwischen Leib und Seele, sondern zwischen dem inneren Wesen und der Sozialfunktion, die als Rollenspiel verstanden wird. Bühler berücksichtigt in seinem Ansatz also nicht die personkonstitutive Bedeutung der Sozialität: Ebenso wie Materie und Geist über Leib und Seele der individuellen Person vermittelt werden, müssen monadische Subjektivität und Intersubjektivität über Individuum und Gesellschaft in der konkreten Person zusammenkommen. Ein Reduktionsversuch, der von den Sozialfaktoren als Prägemomenten der Person absehen will, entdeckt nicht einen von äußerlichen Einflüssen frei gebliebenen Kern oder ein Wesen der Person, sondern eine Abstraktion, die aus sich die konkrete Person nicht erstehen lassen kann; die noch-
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nicht-soziale Person gibt es nicht. Das innere Wesen und der soziale Aspekt können nicht unverbunden und unvermittelt nebeneinander gestellt werden. Die Rolle eines Menschen ist nicht ein Produkt eines freien „Spiels" seines Wesens. Dagegen meint Bühler: „Unser Wort Persönlichkeit will nicht mehr diese Rollen als solche treffen, aber dies: daß und wie er sie spielt; von da aus versucht man die Wesensart eines Menschen zu bestimmen." (Bühler 1929, 25) Einer solchen Auffassung liegt die Ansicht zugrunde, als ob die soziale Rolle der Person nur aus dieser heraus produziert werde; der sozialgenetische Aspekt der Persönlichkeitsforschung ist damit eliminiert. Präzise wurde diese Auffassung von Rubinstein kritisiert: „Daran ist jedoch die rein äußerliche Gegenüberstellung von innerer Wesensart und gesellschaftlicher Funktion der menschlichen Persönlichkeit falsch, die K. Bühler metaphysisch vollzieht." (Rubinstein 1964, 282) - Die Persönlichkeitstheorien von Stern und Bühler implizieren unauflösbare ontologisdie Schwierigkeiten: Sterns endliche Person erreicht nicht die ontologische Differenz des Leibes und der Seele; für Bühlers scheinautonome Person mit ihren Rollenspielen ist das soziale Moment nicht konstitutiv: Bei Bühler ist die Person kein wirkliches ζφον πολιτικόν; sie geriert sich nur in einer sozialen Rolle. Eine Richtung insbesondere der kontinentalen Psychologie hat versucht, Persönlichkeitsforsdiung nicht ontologisch, sondern psychologisch zu betreiben, ohne dabei nur operativ zu denken. Lersch etwa bemühte sich, das Verhältnis zwischen Seele und Geist nicht metaphysisch, sondern psychologisch zu bestimmen: Die regionale Kontraposition von endothymem Grund und noetischem Oberbau bzw. personellem Oberbau wird als psychologische Perspektive, nicht als ontologisdie Begründung verstanden. „Im Personbegriff wird das seelische Leben anthropologisch gesehen und zwar insoferne, als die Mannigfaltigkeit seiner wechselnden Inhalte als Einheit des Vollzuges menschlicher Existenz verstanden wird, als etwas, worin der Mensch sein Dasein in der Welt verwirklicht und wodurch er sich selbst als seiend erfährt. Die Betrachtung des Menschen als Person nimmt also das seelische Leben in der ganzen Breite und Vielgestaltigkeit seiner aktuellen Vollzüge und Inhalte, die im Aspekt der allgemeinen Psychologie erscheinen, mit in den Blick." (Lersch 1954, 55) Die Person ist demnach die Grundform menschlichen Seins; diese These soll jedoch psychologisch aufgefaßt werden. Der Charakter wird demgegenüber als „individuellmenschliche Prägung" verstanden. Die auf dieser Gegenüberstellung fußende Annahme einer Beziehung zwischen Grundform und Prägung muß aber wieder ein Werkmeistermodell technomorpher Art benutzen. Und der Aufbau aus a) Lebensgrund, der als Grundschicht apersonaler Lebendigkeit den endothymen Grund fundieren soll und das Organismische mit seiner physiologischen Gesetzlichkeit bezeichnet, b) endothymem Grund und c) Oberbau erinnert auffällig an die Gliederung der vegetativen, animalischen und vernünftigen Seele bei Aristoteles. Die philosophische Tradition scheint demnach nicht verlassen worden zu sein. - Die Momente des Selbstseins der
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Person will Lersdi dann wieder deskriptiv psychologisch bestimmen; aber dabei verwandelt er psychologische Beschreibungen in ontologische Ansprüche, ohne sie als solche beweisen zu können: Er gibt drei solcher Momente an: 1. Das Erlebnis der Unverwechselbarkeit und Einmaligkeit; dagegen kann man vortragen: Die Einbringung von „Evidenz" liefert nodi keinen argumentativen Nachweis. 2. Das Bewußtsein der Freiheit von Möglichkeiten des Sichwählens; hierzu kann man sagen: Das bloße Erlebnis der Freiheit ist noch kein Ausweis der Möglichkeit wirklicher Freiheit. 3. Das Bewußtsein einer Aufgabe und Verantwortlichkeit; hiergegen läßt sich schließlich vorbringen: Damit ist nodi nicht bewiesen, daß wirkliche ethische Aufgaben gestellt sind. (vgl. Lersdi 1954, 141) Das Erlebnis des Selbstseins verfügt also als ganzes bzw. in den drei genannten Momenten über psychologische Evidenz; trotzdem könnte es ohne eine ontologische Basis im Bewußtsein auftreten. - Lersdi möchte zwar methodisch das Erleben als einen Grundbegriff der allgemeinen Psychologie vom Menschen als einem Grundbegriff der Anthropologie unterscheiden. Damit wird von ihm die Arbeit der Durchführung einer deskriptiv-phänomenologisdien Analyse des Bestandes der Person in Differenz von der philosophischen ausgesprochen. Unglücklicherweise wird diese Absicht jedoch sofort wieder philosophisch, u. zw. in höchst problematischer Weise, belastet: Daß die Anthropologie in Philosophie münden soll (vgl. Lersdi 1954, 50 f.), ist von der beabsichtigten Differenz her legitim; ohne ersichtliche Rechtfertigung bleibt jedoch die These, daß der endothyme Grund der psychologischen Betrachtung, dessen Annahmeberechtigung ein besonderes Problem ist, sich ontologisch als eine „seelische Substanz" (Lersch 1954, 524) „erweisen" soll. Diese „Substanz" wird zudem mit den unklaren Charakteren „dynamische Wirklichkeit, . . . immaterielles Kraftzentrum" (Lersch 1954, 524) belegt; Dynamis ist aber gerade nicht Wirklichkeit, und der Begriff der Kraft bezeichnet die Einwirkung auf materielle Körper. Mit der Hypostasierung von „Substanz" endet dieser Versuch, Persönlichkeitsforschung qualitativer Art auf phänomenologischer Basis zu treiben, damit unreflektiert in Begriffen der vorkantischen Philosophie. Es ist aber nach Kant nicht mehr möglich, die Ergebnisse der „Paralogismen der reinen Vernunft" ohne Begründung als nichtexistent anzusehen. Sie besagen u. a., daß eine unmittelbare Transformation der Inhalte ontischer Psychologie in ontologische nicht möglich ist: Der philosophische Mantel, der über manche psychologische Ansätze dieses Jahrhunderts gehängt wurde, ist also kritikloser als eine skeptische Restriktion der philosophischen Möglichkeiten in der Psychologie.
Phänomenologische und schichttheoretische Konzeptionen Obwohl die gesamte deskriptive Psychologie dieses Jahrhunderts auf der phänomenologischen Methode Husserls basiert und sie benutzt, sind die Reduktionsund Ubersetzungsverhältnisse seiner Theorie von ihr praktisch nie übernommen
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•worden10. In regionaler Hinsidit ergibt sich aus ihnen, daß die Realitätsproblematik in der Unterscheidung des reinen und des personalen Ich thematisiert wird: Die reale, konkrete Person ist eine Leistung der extramundanen, transzendentalen Subjektivität; eine ontologische Gleichwertigkeit beider ist völlig ausgeschlossen. Die Person wird als innerweltliche Realität und als grundsätzlich sozialisiert verstanden. Sie ist das „Substrat personaler Charaktere, in ihrem zeitlichen Sein als Substrateinheit. So wie sie jeweils konstituiert ist, fungiert sie als Motivationssubjekt für neue Affektionen und Aktionen." (Husserl 1952, 359 f.) „Zur Apperzeption Person gehört personaler Zusammenhang . . (Husserl 1952, 371) „Die dem sozialen Verband zugehörigen Personen sind füreinander gegeben als ,Genossen', nicht als Gegenstände, sondern Gegensubjekte, die ,mit'-einander leben, verkehren, aufeinander bezogen sind, aktuell oder potentiell, in Akten der Liebe und Gegenliebe, des Hasses und Gegenhasses, des Vertrauens und Gegenvertrauens usw." (Husserl 1952, 194) Da in den Untersuchungen der Spätzeit Husserls die transzendentale Begründung der Intersubjektivität so viel an Bemühung einnahm, ist manchmal nicht mehr deutlich genug gesehen worden, daß die real konstituierte Person bei ihm nur als soziale ausgelegt wird. Das Problem des Solipsismus ist nur eines der transzendental cogitierenden egologischen Monadologie, (vgl. Husserl 1950, 58 ff. u. 149 ff.) Die Reflexionen über sie beschäftigen sich mit den intentionalen Konstitutionszusammenhängen. Hauptobjekt der phänomenologisch-psychologischen Analyse sind sie aber nicht, sondern dies sind die Personen, die Akte vollziehen oder in Erlebnissen affiziert werden, (vgl. Husserl Ms. Κ III 1) In der Fundierung der Person in der Zeitlichkeit des Selbstbewußtseins behielt Husserl im übrigen die von Locke und Kant gewiesene Richtung bei: „Die Person wird aufgefaßt als Träger personaler Eigenschaften, Gewohnheiten, erworbener Vermögen, was alles wieder zurückweist auf das strömende Bewußtseinsleben der Person, verlaufend in mannigfaltigen Akten, Affektionen, Stimmungen, die alle im Ich - als Ichpol verstanden - zentriert sind." (Husserl Ms. Κ I I I 1) Die Husserlsche Persontheorie akzentuiert somit die zeitliche Folge: Urimpressionen werden als aufgefaßte zum Jetzt; auf ihrem Grund konstituiert sich das aktuelle Ich, wodurch Individualität erscheint (vgl. Husserl 1928, 422 ff.): Nicht durch den Gegenstand ihrer Intention werden die Erlebnisse eines Ich individuiert, sondern nur durch ihre Zeitstelle; die Transzendierung der immanenten Zeitströme in die Intersubjektivität ist die Konstitution der realen Person im gegenseitigen Füreinander. Für die Konstitution der Person ist deshalb nur das Kontinuum der Zeit von Belang, nicht das des Raumes. Da zwischen Zeit und Subjektivität keine kategoriale Unvereinbarkeit besteht, entgeht der Husserlsche Ansatz der grundsätzlichen Bestreitbarkeit, in den die auf Raumvorstellungen aufbauenden Schichttheorien geraten. 10
Mit dieser Feststellung ist nichts über die psychologiegesdiiditlidie Bedeutung Franz Brentanos gesagt; sein Einfluß auf die Psychologie und seine Wirkung auf Husserl sind aber nodi kaum eigens untersucht worden.
§ 2 1 Begriff und Person
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An ihnen ist vielerlei kritisiert worden; ihre Bildhaftigkeit wurde zunehmend verspottet, obsdion zumindest ihre negative Funktion als „Warnschilder" angesichts der unbegrenzten Verwendung nur-linearer Modelle nicht übersehen werden darf. (vgl. Herrmann 1969, 312) Wenig beachtet wurde, daß sie kategorialer Nonsens sind, denn Subjektivität ist nicht räumlich. Selbst wenn die Schichtenlehren nicht sedimentativ-topographisch, sondern hierarchisch-genetisch verstanden werden, bleiben sie auf Räumlichkeit bezogen, oder sie haben nur metaphorischen Wert. Die Autoren weisen zwar des öfteren selbst auf den eingeschränkten Gleichniswert der Verräumlichung in den Schichtenlehren hin 11 . Es bleibt jedoch die Frage, ob dann, wenn die Schichten nicht als objektiv, sondern nur als Ersatzbilder verstanden werden sollen, ihre Verwendung zu Zwekken der Verschmelzung phylogenetischer und ontogenetischer Ergebnisse, womit Rothacker als erster begonnen hat, bereditigt ist. (vgl. Rothacker 1938, 1952 5 , 20 ff.) Faßt man die Schichten wiederum nicht bildlich, sondern real auf, entsteht hinsichtlich des PersonbegrifFs die spezielle Frage, wie die Verbindung zwischen Schidit und Person gedacht werden soll. „Beruht die Personalität der menschlichen Person auf der zu ihrer vegetativen und animalischen Natur hinzukommenden geistigen Ausrüstung, in einer die (ungeistigen) Lebensschichten überlagernden Geistschicht, oder finden sich audi ζ. B. in den Bereichen der Triebe, der Gewöhnung, des Lernens und der .praktischen Intelligenz' Kriterien der Personalität?" (Revers 1960, 403) In der Analyse der Schichten kann man Längsschnitte freilegen, die evtl. Funktionsverbindungen erklären; die Zentralisierung der Funktionen in einem Bewußtsein, einem Ich, ist aus ihnen nicht ableitbar. Sie muß zu den Schichten hinzutreten. Der Erklärungswert der Schichtvorstellungen für die Analyse des Personbegriffs ist also begrenzt; von einsichtigen Vertretern wurde dies nie bestritten. Der Verzicht auf inhaltliche Persondeutungen in der neueren Psychologie Die Schwierigkeiten, in die der Personbegriff in diesem Jahrhundert geraten war, haben audi zu der Frage geführt, ob überhaupt noch sinnvoll mit ihm umgegangen werden kann. Vor dem Hintergrund entsprechender Erwägungen kam es zu Absetz- und Umgehungsbewegungen. - Die vorsichtigste Distanzierung vom Begriff der Person ist die des Verzichts auf inhaltliche Erläuterungen. In dieser Weise sind mehrere Wege beschreitbar. Man kann ζ. B. auf Untersdiiedsdefinitionen ausweichen: Man nennt dann etwa „die Gesamtheit der entwickelten psychischen Anlagen . . . ,die Persönlichkeit' des Menschen, die Gesamtheit aller psychischen Anlagen - der entwickelten wie der unentwickelten - . . . .Charakter'. Die Persönlichkeit eines Menschen ist dasjenige, was bisher unter dem Einfluß seiner Umgebung aus seinem Charakter geworden ist; 11
Bei den Vertretern der in dieser Hinsicht besonders verdächtigen horizontalen Theorien, insbesondere bei Prinzhorn (vgl. Prinzhorn 1958 2 ) und Lewin (vgl. Lewin 1935), vermißt man diese Selbstbesdiränkung allerdings.
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E Der Begriff und die Person
sein Charakter umfaßt alles, was er überhaupt in psychischer Hinsicht werden kann. Persönlichkeit ist die jeweilige, Charakter die allgemeine seelisdi-geistige Eigenart des einzelnen Menschen." (Rohradier 1952, 234) In modaler Fassung wäre somit Charakter die Möglichkeit des Menschen, Persönlichkeit die Wirklichkeit. Soweit ist dieser rezessive Definitionsversuch Rohrachers zulässig. Allerdings muß sofort wieder gefragt werden, was der Unterschied zwisdien Möglichkeit und Wirklichkeit bei menschlicher Subjektivität sein kann. Mit Sicherheit besteht der Übergang der Möglichkeit zur Wirklichkeit hier nicht in einer äußerlichen Translation oder Addition; so kann er übrigens schon im Falle der nur dinglichen Realität nicht gedacht werden. Deswegen ist es nicht zulässig anzunehmen, die Überführung der Möglichkeit in Wirklichkeit an Subjekten sei nur Produkt des „Einflusses der Umgebung". Man kann in der Absicht, sich inhaltlich nicht festzulegen, Persönlichkeit auch nominal definieren, ohne das Nomen anzugeben: „Persönlichkeit ist insofern einzigartig, als jedes Individuum mit keinem anderen Individuum völlig merkmalsidentisch ist." (Herrmann 1969, 60) Persönlichkeit wird hier also nodi mit Individualität gleichgesetzt. - Bei Eysenck wird diese Gleichsetzung zwar nicht expressis verbis, jedoch in der Sache aufgegeben. „For the purposes of this book, we shall adopt the following definitions: Personality is the more or less stable and enduring organization of a person's character, temperament, intellect, and physique, which determines his unique adjustment to the environment." (Eysenck 1953, 2) Es erzeugt jedoch Bedenken, wie Eysenck mit dem Begriff „einzigartig" umgeht. Er faßt ihn nämlich als ein Produkt auf, das von einer „Organisation" erzeugt wird. Kategorial ist diese Sequenz nicht zulässig, denn Organisationen, Konstellationen o. ä. sind reproduzierbar. Dies gilt wenigstens prinzipiell. Das Produkt eines selbst Reproduzierbaren kann deshalb nicht „einzigartig" sein. - Von Guilford wird die Gleichsetzung zwischen Persönlichkeit und Individualität vollends aufgegeben und nur noch eine Koppelung versucht: „Die Persönlichkeit eines Individuums ist seine einzigartige Struktur von Wesenszügen (traits)." (Guilford 1970, 6) Dieser Definitionsversuch ist ebenfalls voller Schwierigkeiten, denn er verbindet Individualität mit einer Struktur, die einzigartig genannt wird. Eine Struktur bzw. ein Muster ist aber grundsätzlich kopierbar und zu vervielfältigen. Insofern gilt bei Guilford derselbe Einwand wie bei Eysenck.12 Mit solchen Schwierigkeiten hat es versuchsweise dann ein Ende, wenn auf die psychologische Fassung des Personbegriffs überhaupt verzichtet und nur noch das organisch-physiologische Moment berücksichtigt wird. Dies war das radikale Programm Watsons. Er unterschied zwischen den physiologischen Eigenschaften des Organismus, die nach ihm für alle Menschen gleich sind, und dem Komplex der ausgebildeten Reiz-Reaktions-Systeme, die zusammen die jeweils ausge18
Die Forschung an eineiigen Zwillingen belegt, daß man eher den Begriff des Individuums aufgeben müßte, als eine Struktur, einen Chromosomensatz z. B., für einzigartig zu halten.
§ 21 Begriff und Person
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formte Verhaltensstruktur ergeben. In ihr findet sich die Summe derjenigen Aktivitäten eines solchen Lebewesens, die über lange Zeit hin entdeckt bzw. beobachtet werden können und von denen deshalb behauptet werden kann, daß sie im Reaktionspol die Veränderung des Verhaltens steuern, (vgl. Watson 1930) Skinner lieferte dieser frühbehavioristischen These eine Verdeutlichung nach, indem er in der Annahme einer psychischen Persönlichkeit nur Animismus am Werk sah: Aus dem Bedürfnis einer Erklärung der Steuerung werde dem an sich physischen Organismus ein interner Führer zugedacht. So werde beispielsweise dem äußeren Menschen, der aufhöre zu essen, ein innerer Mensch beigeordnet, der Sattheit empfinde. Und dieser Zusammenhang werde dann umgedreht und man behaupte, ein innerer Mensch habe Impulse, die der äußere ausführe, (vgl. Skinner 1953, 29) Von Skinner wird damit die „Entmythologisierung" des Personbegriffs zu Ende geführt: Dem sog. menschlichen Organismus wohnt weder ein „individuum ineffabile" noch die Möglichkeit der Spontaneität ein. Die Rede von Freiheit, Spontaneität, Aktivität ist ebenso mythologisch wie die von einer irgendwie inneren Person. Die sog. Person ist nichts als ein Regelsystem organismischer Variablen, die fallweise andere Anpassungen an die Umwelt bedingen und erlauben. Ein Regelsystem und Variable aber sind grundsätzlich quantifizierbar und mit mathematischen Methoden untersudibar, also meßbar. Aussagen über Regelsysteme dürfen nach Verfahren der Wahrscheinlichkeitsrechnung audi auf zukünftige Vorgänge projiziert werden. Der Komplex „Persönlichkeit" kann demnach als etwas aufgefaßt werden, das in toto auf die Voraussagbarkeit seines Verhaltens untersudit werden darf. Die Aufgabe der Persönlichkeitspsychologie ist es in dieser Sicht also, die Teile der Ganzheit „Person" so weit zu analysieren, daß die Vorhersage besonderen Verhaltens in besonderen Situationen möglich wird. Persönlichkeit ist also identisch mit der Gesamtheit der nicht situativen Verhaltensbedingungen, (vgl. Cattell 1950, 2) Diese Cattellsdie Auffassung ist auf verhaltenspsychologischem Boden konzipiert worden; sie ist aber weit genug, um als Genus auch viele andere Persönlichkeitsdefinitionen zu fassen: nämlich soldie, die die Persönlichkeit nicht mit ihrem situativen Verhalten gleichsetzen. „Persönlichkeit ist vielmehr ,Bedingung' oder .Ordnung* (Organisation) oder ,System' oder ,Produkt' oder ,Abstraktion' des konkreten Verhaltens (und Erlebens). Einigkeit besteht also . . . bei den meisten Persönlichkeitstheoretikern überhaupt. . . darüber, daß die Persönlichkeit ein bei jedem Mensdien einzigartiges, relativ überdauerndes und stabiles Verhaltenskorrelat ist." (Herrmann 1969, 25) Damit scheint etwas Bemerkenswertes gesidiert, nämlich die Distanz der Person, gewissermaßen die ihres Selbsts, gegen ihre jeweilige Situation; so kann sie mehr sein - quantitativ und qualitativ - als ein ihr kontingenter Aspekt, den sie im Zwang des jeweiligen Verhaltensfalles zeigen muß. In der Relation Verhalten : Verhaltenskorrelat ist diese Differenz sicherlich von Bedeutung. Aber ihre Legitimität ist aus sich nicht begründbar: Gegen die Möglichkeit der Annahme einer Differenz zwischen der Person und ihrem Verhalten läßt sich
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E Der Begriff und die Person
mit zunächst gleichem Recht behaupten, daß Person mit Verhalten auf gleicher kategorialer Ebene überhaupt nichts zu tun habe, weil in dieser Annahme die Person wie das Verhalten als Sinnlichkeit aufgefaßt und die ontologisdie Differenz zwischen Spontaneität und Sinnlichkeit verspielt werde. Was Person ausmache, sei vielmehr Spontaneität, Intelligibilität, Freiheit, nicht aber deren Auftretensmodi in einem Zentralisierungspol des Verhaltens, den man Person nenne. Gegen eine solche Argumentation könnten einige der psychologischen Theorien wieder stellen, daß sie die Spontaneitätsthese oder -hypothese durdiaus respektieren möchten. D a aber der kritischen Philosophie zufolge Spontaneität und Freiheit, obschon sie das Ansich der Person ausmachen würden, überhaupt nicht erscheinen könnten, bliebe der Psychologie auf erfahrungswissenschaftlichem Boden gar nichts anderes übrig, als sich an die Sinnlichkeit in ihren Gliederungen zu halten und zwischen einzelnen Verhaltensweisen und konsistentem Verhaltenszentrum zu unterscheiden. - Insofern die empirische Psychologie die Spontaneitäts- und Freiheitsproblematik nicht für sinnlos erklärt, wie es von der Position Watsons und Skinners aus unabweisbar ist, und damit die Position einer bestimmten Metaphysik der Endlichkeit bezieht, muß ihr zugestanden werden, daß sie sich mit dieser Einlassung auf Kantischen Voraussetzungen bewegt: Auf dem Boden der theoretischen kritischen Philosophie gäbe es auch heute keine positive Ontologie der Person.
Die Person als erfahrungswissenschaftlicher Forschungsgegenstand Wenn die empirische Psychologie nicht versucht, mit ontischen Ergebnissen Probleme der Ontologie zu „lösen", ist sie mit ihrer Beschränkung der Untersuchungen der Person auf die Sinnlichkeit, u. zw. in ihren Polen des Zentrums „Person" und der Gliederungen des „Verhaltens", nicht nur erfahrungswissenschaftlich, sondern auch kritisch-philosophisch gerechtfertigt. In Parallele ist es auf dieser theoretisch-kritischen Grundlage ebenfalls nicht möglich, Probleme der empirischen Erfassung der Person mit philosophischen Überlegungen zu lösen. Die erste der beiden Restriktionen ist immerhin von einem Psychologen wie Allport ausdrücklich anerkannt worden; in Entsprechung von Philosophen formulierte Beschränkungen sucht man allerdings vergebens: „Von Philosophen stammende Hypothesen sind oft die besten Führer des Psychologen, der Neuland oder nur teilweise erforschtes Gebiet betritt . . . Entschlossen, ohne die Seele fertig zu werden, hielten sich die Psychologen von spekulativen Lehrmeinungen der Theologie und Philosophie fern. Leider verfielen sie gleichzeitig in die ziemlich erbärmliche Gewohnheit, alle metaphysischen Auffassungen, mit denen sie nicht arbeiten wollten, als ipso facto bedeutungslos zu erklären. Es wäre viel klüger, einzuräumen, daß die metaphysische Einheit eine Eigenschaft der Persönlichkeit sein kann, und doch daran festzuhalten, daß sie ein ganz anderes Problem ist als die empirische Einheit, die in das Arbeitsgebiet der Psychologie fällt." (Allport 1949, 353 f.) Die Beachtung der Differenz zwischen der meta-
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physischen und der empirischen Einheit der Person entspricht den Ergebnissen der kritischen Philosophie; daraus folgt, daß man in der Psychologie beispielsweise den reinen Willen oder die Freiheit selbst nicht untersuchen kann, sondern nur ihre Erscheinungen. Sachlich darf die Psychologie allerdings die genannte Differenz nicht einmal als philosophisches Prinzip anerkennen: Weil die Psychologie selbst nicht Philosophie ist, kann sie nämlich keine ihr regional fremden Denkergebnisse als Prinzipien benutzen. Die erwähnte Differenz steht der Psychologie aus ihren eigenen Untersuchungen heraus nur als ein Postulat, nicht als Prinzip, zur Verfügung, u. zw. als ein empirisches Postulat. In einer bestimmten historischen Gestalt konnte die Psychologie mit diesen Voraussetzungen etwa zu dem Resultat kommen, daß die Willensphänomene in bestimmter Weise vor anderen ausgezeichnet sind, daß sie einmal alle seelischen Vorgänge und Zustände durchdringen und ihren Zusammenhang herstellen, daß sie damit ein andermal eine besondere Bedeutung für die Erkennbarkeit aller psychischen Vorgänge aufweisen. Dies ist die Position des Wundtschen Voluntarismus. Die Willensphänomene überragen ihm zufolge alle anderen; sie selbst sind wieder von Vorstellungen begleitet. Der Wille steht dem Ich nahe, und der „reine Wille" steuert die gesamte Tätigkeit des Menschen - auch die theoretische. Deshalb ist es für Wundt möglich, ihn als „transzendentale Apperzeption" zu bezeichnen. „Diese reine Apperzeption ist natürlich nirgends in der Erfahrung wirklich anzutreffen.-Gleichwohl ist sie als die letzte, nicht weiter zurüdszuverfolgende Bedingung jeder Erfahrung anzusehen." (Wundt 1907, I, 377) Mit der Ansetzung des reinen Willens überschreitet Wundt die erfahrungswissenschaftliche Basis. Da er aber nicht nur von einem empirisdien Ansatz ausgeht, sondern philosophisch unterstellt, daß das Denken originär zu Ergebnissen gelangen kann, indem es Tatsachen nach seinen eigenen Fähigkeiten zu Begriffen von objektiver Gültigkeit erhebt, ist ihm diese Ansetzung immanent erlaubt. Wichtig ist hier aber dies: Schon Wundt, einer der Begründer der experimentellen psychologischen Großforschung, erkannte die Differenz zwischen der metaphysischen und der empirischen Person an, die in der Folge kein wissenschaftlicher Psychologe, der den Bereich der Philosophie respektierte, aufzuheben trachtete. (Die Versuche, diese Differenz für sinnlos zu erklären, stellen im übrigen keine Aufhebung des Problems dar.) Alle Personbegriffe einer philosophisch reflektierten wissenschaftlichen Psychologie beachten sie und bewegen sich damit in cartesisch-kantischen Bahnen: Was an der Person erscheint, ist weder die Freiheit des reinen Willens noch die Vernunft des reinen Denkens; im Verhalten treten vielmehr Kompromisse mit der Realität und der Sinnlichkeit zutage. — In der Analyse des Verhaltens aber gründen die ergebnisträchtigen Personbegriffe der Psychologie dieses Jahrhunderts nicht mehr auf einer Auslegung der Subjektivität, sondern sie verfahren objektanalog; sie unterstellen beispielsweise räumliche Feldverhältnisse (vgl. Lewin 1963), Merkmalsordnungen (vgl. Eysenck 1953), Lernsedimentationen (vgl. Skinner 1953; Bandura u.
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Walters 1963), Schichtvorstellungen (vgl. Rothacker 19525), psychisches Sein (vgl. Krueger 1953; Wellek 1950). Abgesehen von der implizierten ontologischen Problematik ergibt sidi als Folge des „objektiven" Verständnisses des untersuchten Verhaltens eine bestimmte Arbeitsperspektive: In den psychologischen Untersuchungen der Persönlichkeit wird nicht originäre Freiheit oder Aktivität als Gegenstand zugrunde gelegt oder bedacht, sondern ontologisch nicht spezifiziertes Seiendes. Das Gefälle zwischen „Person" und „Persönlichkeit" in Sprache und Psychologie Beachtenswert ist audi der Unterschied zwischen „Person" und „Persönlichkeit" im Sprachgebrauch. In der umgangssprachlichen Verwendung hat sich inzwischen eine bestimmte Wertung ergeben, in der „Persönlichkeit" eine Anerkennung ausspricht, „Person" dagegen neutral oder herabsetzend gebraucht wird. Die folgenden Angaben können sich selbstredend nur auf die deutsche Sprache der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit beziehen: Die einfachsten Züge sind „Personenzüge"; TEE-Züge befördern „Persönlichkeiten". Der Ausdruck „Personenkraftwagen" bezeichnet nur den Unterschied zu Lastkraftwagen; das jeweils größte Auto einer Serie ist „prominenten Persönlichkeiten" vorbehalten. In Amtsakten liest man: „Das Benehmen dieser Person war gewöhnlich" (also ungewöhnlich); damit wird sie zur „gewöhnlichen Person". Die Boulevardpresse meldet auch heute noch „Ereignisse über hervorragende Persönlichkeiten". Über Trinker stellt man fest, daß diese „Personen" einen „gewöhnlichen Ausdruck" haben; ein Maßanzug aber ist „Ausdruck der Persönlichkeit". Eine „Persönlichkeit" kann sein: bedeutend, gewichtig, angesehen, prominent, hoch, gefestigt, ausgereift, hervorragend; eine „Person" kann sein: schlecht, gemein, gefährlich, verkommen, stumm. In der harmlosen Mittellage ist eine „Person" z. B.: angenehm, lustig, gutmütig, ehrlich (von diesen Eigenschaften profitieren merkwürdigerweise immer andere). Ist ein Millionär ein asozialer Mensch, nennt man ihn nicht eine „verkommene Persönlichkeit", sondern eine „exzentrische"; erzieht eine arme Witwe drei Kinder mit gutem Erfolg, wird sie trotzdem keine „Persönlichkeit", sondern bestenfalls eine „würdige, kluge, geschickte, tüchtige Person". Eine Magd oder Arbeiterin bringt es bei sog. guter Figur zur „stattlichen Person"; ein geisteskranker Regent bleibt immer noch eine „ernste Persönlichkeit" (selbst wenn er nicht depressiv, sondern paranoid war - wie Alfonso XIII.). Als umgangssprachliche Prädikate verweisen „Person" und „Persönlichkeit" somit weniger auf die moralische Rechtschaffenheit oder die tatsächliche Leistung als auf den Reflex der gesellschaftlichen Stellung. Auch in manchen psychologischen Theorien wird von Persönlichkeit als dem „Besseren" gegenüber Person als dem „Einfachen" bzw. „Allgemeinen" ausgegangen. Diese Verhältnisse setzt schon Stern in der Aufbereitung dieses Forschungsbereiches an: Person ist nach ihm das organismische Individuum aus sich selbst; dies gilt für Menschen und Tiere. Persönlichkeit kann nur der Mensch
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werden, u. zw. dadurch, daß er - wie Stern sagt - Werte „introzipiert". (vgl. Stern 1950, 102 ff.) Person ist bei Stern ein Beschreibungsbegriff, Persönlichkeit ein axiologischer Begriff. - In den letzten Jahrzehnten wurde eine ähnliche Gliederung von Arnold vertreten, (vgl. Arnold 1957) Der Unterschied zu Stern besteht darin, daß Person bei Arnold als Synthesis aus Leib, Seele und Geist gedacht wird. Auf dieser Grundlegung ruht als zu erreichendes Ziel die Persönlichkeit auf. Der Mensch ist in dem Maße Persönlichkeit, als er Werte aufgenommen oder verwirklicht hat. In genetischer Hinsicht ist bei Auffassungen, wie sie von Stern und Arnold vertreten werden, die Person das Primäre; ihm ruht die Persönlichkeit auf. Dasselbe entwicklungspsychologische Verständnis kennzeichnet auch die Auffassungen von Vetter und Revers; axiologisch denken sie aber anders. Vetter ent-wertet Persönlichkeit dadurch, daß er sie nur die Konfiguration des seelischen und charakterlichen Gefiiges sein läßt. Für ihn ist Person das Uberragende: Sie ist das Ewige des Menschen, Mitte seines Wesens, Transzendenz der Natur, (vgl. Vetter 1949) Revers bestimmt die Person als die Einmaligkeit einer menschlichen Existenz, in der Geistseele und Leib vereinigt sind; es wird angesetzt, daß sie in sidi selbst bestehen und über sich verfügen kann 13 . Persönlichkeit wird demgegenüber „nur" als die Wirklichkeit ihrer konkreten Historie in ihrem Ablauf verstanden.
b) Das Begreifen der Person aus dem Begriff Die Persönlichkeit als Begriff, die Person als Wirklichkeit Von allen bisher besprochenen Begriffen der Person und der Persönlichkeit unterscheidet sich der Hegeische Ansatz radikal : Zwischen Persönlichkeit und Person läßt sich ihm zufolge „an sich" nicht unterscheiden. Logisch und genetisch ist jedoch Persönlichkeit das Primäre. Die zugehörige Hegelsche Formel lautet: „Persönlichkeit drückt den Begriff als solchen aus, die Person enthält zugleich die Wirklichkeit desselben, und der Begriff ist nur mit dieser Bestimmung Idee, Wahrheit." (SW 7, 382) Die Hegelsche Theorie der Persönlichkeit bzw. der Person ist nichts anderes als die explikative Analyse dieses Gedankens. Dieses Geschäft ist so einfadi oder so mühsam wie das der Analyse der Kunst als eines wahren Ausdrucks des Absoluten oder des Systems des Rechts als der verwirklichten Freiheit. Aus der Hegeischen Formel geht zunächst hervor, daß die Persönlichkeit nur Begriff oder an sich ist und nur die Person die Wirklichkeit dieses Begriffes ist und deshalb Idee sein kann. Die Wahrheit der Persönlidikeit findet sich somit erst in der Person; in ihr wird die unendliche Beziehbarkeit der Persönlichkeit konkret für sich. Persönlichkeit verhält sich somit zu Person wie Subjektivität zu Subjekt, (vgl. SW 7, 381) — Allerdings bleibt der Sprachgebrauch Hegels nicht immer gleich; in der „Wissenschaft der Logik" (L 2, 484) wird Person als 15
Diese These ist eine deutliche Wiederaufnahme thomistisdier Gedanken.
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Subjektivität bezeichnet; in rechtsphilosophischen Überlegungen wird nicht nur korrekt die Persönlichkeit abstrakt genannt, d. i. als Begriff verstanden, sondern auch die Person (vgl. SW 3, 217); in der „Enzyklopädie" wiederum läßt Hegel nicht nur die Person eine wirkliche sein, sondern audi die Persönlichkeit, (vgl. Enz 88) Auf diesen Sprachgebrauch wird man im einzelnen achten müssen. In der Verfolgung der genannten Formel ergibt sich als erstes, daß die Persönlichkeit als Begriff nicht Realität ist, sondern deren Prius. „ . . . indem die Einzelnheit als Ich, die Persönlichkeit..., vornehmlich indem die Persönlichkeit Gottes vor dem Bewußtsein ist, so ist von reiner, d. i. der in sich allgemeinen Persönlichkeit die Rede; eine solche ist Gedanke und kommt nur dem Denken zu." (Enz 88) So ist die Persönlichkeit nodi Denken, und auch ihr Ich ist nur Gedanke, der noch leer ist, der aber seine Auffüllung und Erweiterung nicht von außer sich her beziehen kann, sondern nur aus der Entwicklungsnotwendigkeit des Gedankens selbst. Deshalb muß die Persönlichkeit als Gedanke schon Dialektik sein: Um wirklich werden zu können, muß sie vor allem befähigt sein, sich nicht in Erfahrungen zu verlieren, sondern sich sich gewinnend in sich zu reflektieren. „Jede neue Stufe des Außersichgehens, d. h. der weitern Bestimmung ist audi ein In-sidi-gehen, und die größere Ausdehnung ebensosehr höhere Intensität. Das Reichste ist daher das Konkreteste und Subjektivste, und das sich in die einfachste Tiefe Zurücknehmende das Mächtigste und Übergreifendste. Die höchste zugeschärfteste Spitze ist die reine Persönlichkeit, die allein durch die absolute Dialektik, die ihre Natur ist, ebensosehr alles in sich befaßt und hält, weil sie sich zum Freisten macht, - zur Einfachheit, welche die erste Unmittelbarkeit und Allgemeinheit ist." (L 2, 502) Die Logik ist das Vorhersein der Welt im Gedanken. Das absolute Sichdenken dieser Gedanken ist die für sich wirkliche Idee des Gedankens und seiner Reflexion in sich: die reine Persönlichkeit. Als Gedanke ist sie Entfernung von sich, als Reflexion Rückkehr. Ihr Denken ist Bestimmen, ihre Reflexion Begründen; dies läßt sie zusammenfallen: So setzt sie die Gründe hinaus und die Bestimmungen in sich hinein. Die absolute, zeitfreie Persönlichkeit entwickelt ihr Leben als begreifender Begriff. Er enthält alle überhaupt möglichen Bestimmtheiten in sich, und sein Wesen ist es, seine Besonderungen zu seinen Selbstbestimmungen zu machen und auf verschiedenen Gestaltungswegen zu sich zurückzukehren. „Die absolute Idee als der vernünftige Begriff, der in seiner Realität nur mit sich selbst zusammengeht, ist um dieser Unmittelbarkeit seiner objektiven Identität willen einerseits die Rückkehr zum Leben; aber sie hat diese Form ihrer Unmittelbarkeit ebensosehr aufgehoben und den höchsten Gegensatz in sich. Der Begriff ist nicht nur Seele, sondern freier subjektiver Begriff, der für sich ist und daher die Persönlichkeit h a t . . . der aber ebensosehr nidit ausschließende Einzelheit, sondern für sich Allgemeinheit und Erkennen ist und in seinem Andern seine eigene Objektivität zum Gegenstande hat." (L 2, 484) Der für sich seiende subjektive Begriff, die Persönlichkeit, die sich in ihrem
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Anderen erkennt, das „reine Wort, durch das alles wird und das das Leben ist und das Licht", wird abgesetzt von allem nur denkbaren Endlichen: „Alles übrige ist Irrtum, Trübheit, Meinung, Streben, Willkür und Vergänglichkeit: die absolute Idee allein ist Sein, unvergängliches Leben, sich wissende Wahrheit, und ist alle Wahrheit. Sie ist der einzige Gegenstand und Inhalt der Philosophie." (L 2, 484) An sich enthält die absolute Idee alle möglichen Bestimmungen; in der Ausgestaltung ihrer Wege werden diese verschieden; die Philosophie muß sich immer bemühen, in der Erkenntnis ihrer Stationen sie selbst zu erkennen. Die reine Persönlichkeit ist der Begriff als solcher; der Begriff aber ist Denken und Denken ist Ich. Ich und dieses und jedes Ich können so als absolut reines Denken, das als Veräußern In-sich-gehen ist, ebenfalls Persönlichkeit sein. Was immer audi an ihm durch Willkür und Begierde und den Fall seines äußeren Daseins begrenzt sein mag, als Persönlichkeit ist Ich und dieses und jedes Ich trotz aller Endlichkeit ungetrübte, reine Beziehung auf sich. „Die Persönlichkeit fängt erst da an, insofern das Subjekt nicht bloß ein Selbstbewußtsein überhaupt von sich hat als konkretem auf irgend eine Weise bestimmtem, sondern vielmehr ein Selbstbewußtsein von sich als vollkommen abstraktem Ich, in welchem alle konkrete Beschränktheit und Gültigkeit negiert und ungültig ist. In der Persönlichkeit ist daher das Wissen seiner als Gegenstandes, aber als durch das Denken in die einfache Unendlichkeit erhobenen und dadurch mit sich reinidentischen Gegenstandes." (SW 7, 89 f.) Das abstrakte Ich, das nicht an seine Inhalte gebunden bleibt, das aber trotzdem begreifendes Ich bleibt, begreift eben — sich; es ist das Begreifen des Begreifens. Dies ist das Idi; zwar kann es noch viel mehr, es verfügt über Gedächtnis und Einbildungskraft usw., aber in Reinheit ist es dies: Begreifen des Begreifens, also Selbstbegreifen und dessen Wissen: Selbstbewußtsein. „Ich aber ist diese erstlich reine, sich auf sich beziehende Einheit, und dies nicht unmittelbar, sondern indem es von aller Bestimmtheit und Inhalt abstrahiert und in die Freiheit der schrankenlosen Gleichheit mit sich selbst zurückgeht. So ist es Allgemeinheit; Einheit, welche nur durch jenes negative Verhalten, welches als das Abstrahieren erscheint, Einheit mit sich ist, und dadurdi alles Bestimmtsein in sich aufgelöst enthält. Zweitens ist Ich ebenso unmittelbar als die sich auf sich selbst beziehende Negativität Einzelheit, absolutes Bestimmtsein, welches sich Anderem gegenüberstellt und es aussdiließt; individuelle Persönlichkeit. " (L 2, 220) Die logische Fassung der Persönlichkeit, die zur individuellen Persönlichkeit geworden ist, lautet also: sie ist negierende Allgemeinheit, die Einheit mit sich wird, die anderes überhaupt ausschließt und dadurch für sich bleibt. Genau dieselbe Fassung trifft aber audi auf den tätigen Begriff zu, wie man unschwer feststellen kann. Deshalb hat man von beiden nichts begriffen, wenn man nicht ihre Identität begriffen hat. Auf dem Weg der Idee-Entwicklung haben die Persönlichkeit und der Begriff den gleichen Rang, sie sind beide die abstrakteste Form der Idee. „So ist z. B. Ich als Persönlichkeit auch schon die Idee, aber in abstrak-
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tester Gestalt." (SW 7, 188) - Die Gleichsetzung des Begriffs und der Persönlidikeit impliziert gewichtige Konsequenzen. Die Aufgabe des Begriffs ist die des Traktierens der Objektivität, damit sie zu einer begriffenen wird. Die Aufgabe der Persönlichkeit kann somit audi keine andere sein als die des Begreifens und Bestimmens. Da die Persönlichkeit aber ebenso bestimmendes Denken wie reflexives Begründen ist, gerät ihr ihr Bestimmen immer auch zum Selbstbestimmen (während die zufällige Subjektivität aus dem Fremdbestimmen nicht in sich zurückkehrt), (vgl. SW 15, 143) Daraus folgt, daß das Verhältnis der Selbst- und der Fremdbestimmung nie als ein bestimmtes für sich an etwas demonstriert, sondern nur spekulativ als die Kongruenz des Selbstbewußtseins und des Bewußtseins gedacht werden kann. „Es ist dies der innerste, abstrakte Punkt der Persönlichkeit — die nur spekulativ als diese Einheit des Selbstbewußtseins und des Bewußtseins, oder des Wissens und seines Wesens, der unendlichen Form und des absoluten Inhalts gefaßt werden kann, welche Einheit schlechthin nur ist als das Wissen dieser Einheit in gegenständlicher Weise, als des Wesens, welches mein Wesen ist." (SW 15, 223) Ebenso ist nur spekulativ darzulegen, daß die Einheit des Bewußtseins und des Selbstbewußtseins, weil sie begreifende ist, audi individuell ist: Jedes Außersichgehen des Begreifens führt in jeweils anderes, als es selbst ist, jedes Insichgehen aber in seine Identität. Die Existenz des Begriffs oder der Persönlichkeit ist somit an Individualität geknüpft. „Die Einzelnheit ist das Prinzip der selbständigen Vorstellung des Geistigen, weil der Geist nur als Individuum, als Persönlichkeit zu existieren vermag." (SW 13, 291) Das Insidigehen der reinen Persönlichkeit erzeugt ihre Individualität und die Bedingungen ihrer Konkretion. Auf das Außersichgehen als ein ebenso konstitutives Moment kann jedoch in diesem Prozeß nicht verzichtet werden. Nur ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den beiden Richtungen gewährleistet die Genese wirklicher Individualität. Im Falle ihres Mißlingens entsteht an Stelle der wirklichen Individualität die „bloße Personifikation", die nur der leere Schein der Individualität ist. „In diesem letzteren Falle nämlich ist die Persönlichkeit nichts als eine oberflächliche Form, welche in den besonderen Handlungen sowie in der leiblichen Gestalt nicht ihr eigenes Inneres ausdrückt und somit die gesamte Äußerlichkeit ihrer Erscheinung als die ihrige durchdringt, sondern für die äußere Realität als deren Bedeutung noch ein anderes Inneres hat, das nicht diese Persönlichkeit und Subjektivität selber ist." (SW 12, 421) Die bloße Personifikation ist das Scheitern des Versudis, äußere Realität und Persönlichkeit zu identifizieren, weil der Realität nicht die ihr gemäße Deutung zuerkannt wird, sondern ihr aus den Tiefen der Persönlichkeit „ein anderes Inneres" übergestülpt wird, das ihr nicht angemessen ist; d. h. das projektive Element gestattet sich das besondere Herausgehen, ohne wieder in sich zu gehen. Die willkürliche Projektion zeigt sich so als das Unvermögen der reflexiven Identifikation.
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Hegels Programm in der Literatur Dieses von Hegel aufgestellte Programm einer Analyse der Begriffe Persönlichkeit und Person ist in der Hegelliteratur nicht immer richtig wiedergegeben worden. - In der Arbeit „Hauptmomente in Hegels Begriff der Persönlichkeit" hat Dunlop (vgl. Dunlop 1903) als Hegels besonderes Verdienst in der Analyse des Persönlichkeitsbegriffes zwei bestimmte Ergebnisse bezeichnet: Zum ersten habe Hegel den Begriff der Persönlichkeit zum obersten Prinzip der Welterklärung gemacht. Dazu ist festzustellen: Hegel dachte in seinen Grundbegriffen nicht an Konzepte der Welterklärung, schon gar nidit an kausal-metaphysische Ableitungen. Außerdem läge von Hegels System aus eine logische Berechtigung zu Dunlops Annahme nur vor, wenn man eine unmittelbare Identität zwischen Begriff, Geist und Persönlichkeit ansetzen könnte. Dies ist aber nicht möglich. Der Begriff der Persönlichkeit ist vermittels der ihm eigenen Dialektik „die höchste zugeschärfteste Spitze" der Negation der Negation. (vgl. L 2, 502) Um seine logische Selbstbewegung durchführen zu können, identifiziert er sich mit dem Arbeitsmittel des Gedankens und - denkt sich durch. Die Welterklärung ist dagegen erst ein Geschäft für subjektive Individuen im Anderssein des Gedankens. Die logische Selbstbewegung der Persönlichkeit ist absolute Tätigkeit; die Welterklärung ist eine Aufgabe des subjektiven Geistes. Zum zweiten hat Dunlop zufolge Hegel von Möglichkeiten, die das Persönliche übersteigen könnten, nichts wissen wollen, sondern den persönlichen Geist als das definitiv Höchste angesehen, (vgl. Dunlop 1903) Hegel hat aber die Person nur als das Höchste des Menschen bezeichnet, (vgl. SW 7, 90) Ansonsten besteht kein Zweifel, daß das, was das Höchste ist, realstes Konzentrat des Begriffs sein muß, daß dieses Realste aber nicht die begreifende endliche Existenz, sondern der begreifende Begriff ist, der die Ur-teilung von Geist und Natur wieder aufhebt. Die konkrete Person ist gegen ihn immer noch die Manifestation der Ur-teilung des Begriffs und seines Anderen, also des nicht zu Ende gekommenen Prozesses. Der „persönliche Geist" einer menschlichen Person ist nicht die Persönlichkeit im Gedanken. In einer anderen Arbeit über „Die Hegeische Logik als Selbsterfassung der Persönlichkeit" stellte Redlich (vgl. Redlich 1964) mehrere Thesen auf, als deren Grundtenor die Gleichsetzung von Logik und Persönlichkeit Gottes aufzufassen ist. Eine gewisse Berechtigung zu einer solchen Deutung hat Hegel selbst gegeben, u. zw. in den bekannten Worten, die Logik sei „die Darstellung Gottes . . . , wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist". (L 1, 31) Diese Worte müssen jedoch genau genommen werden; sie besagen, 1. daß die Logik die Darstellung Gottes sei, nidit Gott selbst, also seine Beschreibung, nicht er selbst in seiner Absolutheit, 2. daß die Logik die Darstellung des noch nur für sich seienden Gottes sei, der (logisch) das Anderssein, die Welt, noch nicht aus sidi entlassen hat. Insofern ist er Begriff und nur für sich, und insofern kann er als Persönlichkeit bezeichnet wer-
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E Der Begriff und die Person
den, denn Persönlichkeit und Begriff sind dasselbe. Den Gott, den die Menschen denken, fassen sie aber als unendliches Gegenüber auf, als wahrgewordene Übereinstimmung des Begriffs und der Realität; d. h. er ist so das Dasein des Absoluten, die höchste Konkretion, „die absolute Person". (SW 8, 339) Für den Menschen ist Gott deshalb nicht Persönlichkeit, sondern Person. - Unhegelisch scheint in Redlichs Analyse audi die Bestimmung der Person als des Begriffs „der geistigen Essenz, des unsichtbaren Seelengrundes, der durch die Person wie durdi eine Maske hindurditönt und sie erst eigentlich zur Person macht, d. h. der sie über alle anderen Erscheinungen hinaushebt in das Reich des Gedanklichen, Metaphysischen und damit des Ewigen". (Redlich 1964, XII) Mit solchen Worten könnten eher mystische Auffassungen oder Ansätze Lerschs, Vetters und Jungs beschrieben werden. Nach den vorangehenden Darlegungen braucht dies nicht weiter erläutert zu werden. Der Zusammenschluß des Lebens und der Persönlichkeit In die Realität der Welt tritt die Persönlichkeit vermittels des Lebens. „Die umfassende Totalität der äußerlichen Tätigkeit, das Leben, ist gegen die Persönlichkeit, als welche selbst Diese und unmittelbar ist, kein Äußerliches. Die Entäußerung oder Aufopferung desselben ist vielmehr das Gegenteil, als das Dasein dieser Persönlichkeit." (SW 7, 128) Die Möglichkeit der Kongruenz des Lebens und der Persönlichkeit wird von beiden vorbereitet: Das Leben hatte sich als die Idee in der Form des unmittelbar einzelnen Subjekts ergeben, das einfache, negative Identität mit sich ist, u. zw. als in sich fortdauernder Prozeß des Idealisierens. So ist es Herausgehen im Bei-sidi-bleiben. Die Persönlichkeit ist demgegenüber die spiegelbildliche Negativität des Lebens: nämlich nicht unmittelbar einzelnes Subjekt, sondern reflexive allgemeine Einheit; nicht einfache, negative Identität, sondern Einheit durch negative Abstraktion; nicht Kontinuität des Idealisierens, sondern absolutes Bestimmtsein, das von sich ausschließt, (vgl. L 2, 220 f.) So ist sie Insidigehen durch Begreifen. Der Zusammenschluß dieser reinen Spiegelbildlichkeit des Lebens und der Persönlichkeit ist die Möglichkeit der Existenz der Person. Das Faktum des Lebens der Person wird vorbereitet durch die Momente des Lebens und die Beseelung der Körper: „Daß Ich nach der Seite, nach welcher Ich nicht als der für sich seiende, sondern als der unmittelbare Begriff existiere, lebendig bin und einen organischen Körper habe, beruht auf dem Begriffe des Lebens und dem des Geistes als Seele, - auf Momenten, die aus der Naturphilosophie aufgenommen sind." (SW 7, 101) Den Fall der Lebendigkeit der Person in einem Körper hat die Natur zu tragen. Insofern findet die Person sidi vor und ist unfrei; was damit einerseits ein Nachteil ist, ermöglicht andererseits, daß die Person die Absicht ihrer Befreiung gegen etwas ansetzt, das sie ursprünglich nicht zu verantworten hat. Zunächst ist die Person die Möglichkeit der Persönlichkeit, also Subjektivität oder Begriff zu sein, nur als Fall des
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Lebens. Damit ist sie erst die abstrakteste Weise der Kundgabe der Freiheit; die Person ist anfänglich nur das Wissen, das besagt: „Ich bin Person, idi bin für midi, das ist das schlechthin Spröde." (SW 16, 238) Die Person weiß also nicht unmittelbar, daß sie frei ist, sondern sie weiß so nur, daß sie für sich ist. Zum Wissen ihrer Freiheit muß sie sich erst hinarbeiten. Spröde ist das Fürsidisein audi deswegen, weil ihm alle Inhalte abgehen, weil es nodi ungegliedert, allgemein ist. „Die Allgemeinheit dieses für sich freien Willens ist die formelle, die selbstbewußte sonst inhaltslose einfache Beziehung auf sidi in seiner Einzelnheit, - das Subjekt ist insofern Person." (SW 7, 89) Das Fürsidisein der Person ist also identisch damit, daß ihre Subjektivität für sie geworden ist. Person und Subjekt sind rangungleich (vgl. SW 7, 90); denn alles Lebendige ist Subjekt, aber nidit ebenso Person. Als Leben ist die Subjektivität erst Möglichkeit der Person, nodi nicht ihre Wirklichkeit. Wirklichkeit der Person ist erst das subjektive Leben, das für sich ist, d. h. seinen Begriff oder seine Persönlichkeit anschaut. „Die Person ist also das Subjekt, für das diese Subjektivität ist, denn in der Person bin ich schlechthin für mich: sie ist die Einzelnheit der Freiheit im reinen Fürsidisein. Als diese Person weiß ich midi frei in mir selbst und kann von Allem abstrahieren, da nidits vor mir als die reine Persönlichkeit steht, und doch bin idi als Dieser ein ganz Bestimmtes: so alt, so groß, in diesem Räume, und was Alles für Partikularitäten noch sein mögen. Die Person ist also in Einem das Hohe und das ganz Niedrige; es liegt in ihr diese Einheit des Unendlichen und schlechthin Endlichen, der bestimmten Grenze und des durchaus Grenzenlosen. Die Hoheit der Person ist es, welche diesen Widerspruch aushalten kann, der nidits Natürliches in sich hat oder ertragen könnte." (SW 7, 90) Die Person ist „schlechthin" für sich, das bedeutet audi: Sie kann mit sidi umgehen, sie kann ihre Freiheit wollen und damit praktischer Begriff werden. Audi als praktische Person bleibt sie als Subjektivität unauflösbar, „undurchdringliche Härte". Dies ist ihre Hoheit, die wegen des Charakters der Subjektivität aber unbestimmbar bleibt; die Würde der Person ist, weil die Person als Subjektivität ideell bleiben muß, im Einzelfall nicht belegbar; die Person ist ausweisbar nur als „diese", „hier" und „jetzt". Ihre Hoheit kann sie somit nidit aus-sagen, nur im leeren deiktischen Urteil - „dies ist meine Person" — auf sie verweisen. Darin zeigt sie auf nichts konkret Unterscheidbares; jedes Stück anderer Realität ist ihr an Vorzeigbarkeit überlegen. Diese Undemonstrierbarkeit, aber nur sie, ist ihre Insuffizienz. Es macht den Widerspruch der Person aus, einerseits als Wille unendlich und frei, andererseits als Leben bestimmt und leer zu sein. Deswegen fallen in der Person die Auszeichnung und die Hohlheit des Menschen zusammen. „Das Höchste des Menschen ist Person zu sein, aber trotz dem ist die bloße Abstraktion Person schon im Ausdruck etwas Verächtliches." (SW 7, 90) Der Weg der Bestimmung des Menschen, der zur Selbstbestimmung führen soll, oszilliert zwischen den Polen der wirklichen Idee seiner Person und dem leeren Punkt des Dies seiner Subjektivität.
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E Der Begriff und die Person
Der Wille und das Handeln In der Perspektive des abstrakten Geltens und der Anwendung des Rechts wird die Person zum „Fall", zum zufälligen Dasein. N u r unter diesem Aspekt gilt also die Feststellung, „ein Individuum als eine Person bezeichnen ist der Ausdruck der Verachtung". (Phän 345) Diese Herabsetzung ist nur möglich, wenn das abstraktiv reine Eins der Person die aktuelle Behandlungsfolie ist, denn das Reditsgesdiehen läßt von der Person nur die leere Einzelheit vor sich bestehen. In ihrem anderen Pol erfährt die Person dagegen ihre Hoheit, u. zw. zunächst ohne ihr Zutun als einen Inhalt ihres Bewußtseins. Das Bewußtsein des Menschen „enthält dies, daß das Individuum sich als Person, das ist, in seiner Einzelheit sich als in sich Allgemeines, der Abstraktion, des Aufgebens von allem Besonderen, Fähiges, sidi somit als in sich Unendliches erfaßt". (SW11,109) Indem der Mensch sich aber in seiner Einzelheit als Allgemeines weiß, ist er sich auch in seiner Person seiner Persönlichkeit gewiß : Er ist damit auf dem Wege zu seinem Begriff, zu seiner noch unausgesprochenen Allgemeinheit, die die Persönlichkeit ist und die als solche Gedanke ist. Den Weg ihrer Gewinnung muß der Mensch selbst gehen; der Gedanke übersetzt die Persönlichkeit für sein Wissen nicht in die Person. Obschon der Gedanke die Persönlichkeit ist, kann er sich als soldier nicht im Menschen verwirklichen. Zu diesem Zweck muß die Persönlichkeit sich vorerst als Wille in ihrem Bewußtsein gewinnen: „Es ist seiner reinen Persönlichkeit und darin aller geistigen Realität bewußt, und alle Realität ist nur Geistiges; die Welt ist ihm schlechthin sein Wille, und dieser ist allgemeiner Wille. Und zwar ist er nicht der leere Gedanke des Willens, der in stillschweigende oder repräsentierte Einwilligung gesetzt wird, sondern reell allgemeiner Wille, Wille aller Einzelnen als solcher. Denn der Wille ist an sich das Bewußtsein der Persönlichkeit oder eines Jeden, und als dieser wahrhafte wirkliche Wille soll er sein, als selbstbewußtes Wesen aller und jeder Persönlichkeit, so daß jeder immer ungeteilt Alles tut, und was als Tun des Ganzen auftritt, das unmittelbare und bewußte Tun eines Jeden ist." (Phän 415) Vermittels ihres Willens wird die Persönlichkeit zur wirklichen Person. Die absolute Persönlichkeit vor der Setzung ihres Gedankens als Wille ist eine und dieselbe. Alle Personen sind also untereinander hinsichtlich ihrer reinen Persönlichkeit gleich. Indem die Persönlichkeit sich aber als Wille setzt, besondert sie sich zu einzelnen wirklichen Personen. Sie sind voneinander verschieden dadurch, daß die Auftrittsweisen der Persönlichkeit als Wille sich unter jeweils besonderen Umständen zu wirklichen Personen machen; sie sind verschieden nicht in ihrem Begriff, also an sich, sondern in dem, wie sie für sich werden, d. i. als Produkte ihrer für sie werdenden Arbeit. In Hegels Vorstellung ist die Individuation der Person nicht Folge einer Teilhabe an einer Idee, einer ex origine radikal individuellen Seele, einer Spontaneitätsfähigkeit oder eines Zusammenschlusses materieller und geistiger Komponenten in freien subjektiven Zentren, sondern sie ist Resultat einer Arbeit. Sie muß als Prozeß, als kontinu-
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ierlidier Vorgang verstanden werden. Individuation aus Arbeit heraus ist nicht einmalige Setzung. Die Selbsterfassung des Ich in der Form der Setzung des „Ich bin Idi" bringt noch keine konkrete Verschiedenheit hervor; sie erstarrt in der bloßen Abstreifung der besonderen Inhalte und ist in die Unerfülltheit des Begriffs der Persönlichkeit zurückgegangen. Konkrete Person wird das Ich in seiner anfänglichen Profillosigkeit nur dadurch, daß es Inhalte bearbeitet, daß es sie mit der Identität seines Selbstbewußtseins durchdringt und das Wissen dieser Arbeit bewahrt. In dieser Arbeit ist es nicht im Genuß auf sidi reflektiert; es hat nicht seine Besonderheit und deren Verherrlichung im Auge. Genuß und Verwirklichung schließen sich aus. Der Selbstgenuß in der Arbeit würde nur bewirken, daß die Person auf Besonderheiten regredierte; sie setzte damit sogar ihre Persönlichkeit zur Besonderheit herab. „So ist zwar das eigene Ich bei allem, was der Mensch weiß, will und ausführt; aber es macht einen großen Unterschied, ob es ihm bei seinem Wissen und Handeln auf sein eigenes partikulares Ich oder auf das ankommt, was den wesentlichen Inhalt des Bewußtseins ausmacht; ob der Mensdi sich mit seinem Idi in diesen Inhalt unzersdiieden einsenkt oder in der steten Bezogenheit auf seine subjektive Persönlichkeit lebt." (SW 13, 366 f.) Der Begriff der Persönlichkeit schließt Ichheit, Einzelheit, Freiheit, Allgemeinheit ein; diese Charaktere bleiben aber sämtlich leer, wenn sie nicht im Tun erfüllt werden; in der Person muß ihr Gedanke konkret werden. Die mit ihrer Verwirklichung anhebende Person findet nichts in sich vor außer einem Produktionsmechanismus, der „Trieb" genannt wird; mit diesem muß sie für sich arbeiten, außerhalb seiner fällt sie in die Starre bloßer Möglichkeit zurück. Erst durch Handeln tritt somit die menschlidie Person in die reale Besonderheit ein (vgl. SW 14, 563); weil die Tätigkeit des Geistes sein Wesen ist, verfolgt er nur ein Geschäft: sich zu produzieren (vgl. Vern 55); was er wirklich ist, dazu macht der Geist sidi erst (vgl. SW 11, 113); die Natur des Geistes besteht aus dem unendlichen Trieb, das Leben tätig zu verändern (vgl. SW 11, 274); auch der Gedanke ist tätig - eben dies ist seine Entwicklung (vgl. L 1, 9); ja, das Wesen der Wirklichkeit ist nicht, sondern es tut, d. h. das Tun ist an und für sich das Wesen der Wirklichkeit; oder: Außer dem Tun gibt es keine Wirklichkeit (vgl. Phän 293).
Das Sein der menschlichen Person: die Tat Die gesamte Philosophie Hegels ist u. a. der Versuch des Nachweises, daß die Wirklichkeit nur als Ergebnis eines Vermittlungsprozesses entstanden ist; dieser aber wird als begriffliche Tätigkeit aufgefaßt. Mensch und Natur unterliegen diesem Prinzip, werden ihm gegenüber bestimmungslos. Da aber der Mensdi gegenüber der Natur das Begrifflichere ist, hat er die Entwicklung selbst voranzutreiben; nur dadurch kann er sich ganz wirklich machen, von der Persönlichkeit zur Person werden. „Die beschließende und unmittelbare Einzelnheit der
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E Der Begriff und die Person
Person verhält sich zu einer vorgefundenen Natur, welcher hiermit die Persönlichkeit des Willens als ein Subjektives gegenübersteht, aber dieser als in sich unendlich und allgemein ist die Beschränkung, nur subjektiv zu sein, widersprechend und nichtig. Sie ((die Persönlichkeit)) ist das Tätige, sie ((die Beschränkung)) aufzuheben und sich Realität zu geben, oder, was dasselbe ist, jenes Dasein als das ihrige zu setzen." (SW 7, 92) Die Person tritt also einer Natur gegenüber, die sie als eine unmittelbare vorfindet; und so lange sie selbst nichts vermittelt hat, befindet sie sidi audi nur in der Insuffizienz der Unmittelbarkeit. Als Person hat sie in diesem Status nodi kein Profil, sondern ist noch nur ihre Persönlichkeit, versehen mit dem Willen, sich zu verwirklichen. Die Persönlichkeit, die der Möglichkeit nadi unendlidi ist, muß diesen nur subjektiven Zustand ihrer selbst notwendig aufheben; sie muß also objektiv werden; dies aber kann sie nur in der Form niederringender Tätigkeit erreichen. Dieser Vorgang bringt zweierlei zusammen: 1. die Selbstproduktion der Persönlichkeit zur Person, ihre Überführung in die Wirklichkeit und 2. die Vernichtung der nur vorgefundenen Natur. Die Verwirklichung der Person ist damit Aggression der unmittelbaren N a t u r und Durchführung ihrer Unterwerfung; nur in der jeweils noch nichtformierten Realität gibt es Material für die erforderlichen Verwirklichungsmöglichkeiten. Weder Askese noch Genuß - als Ausweichen vor der Realität - sind mögliche Modi der Verwirklichung. Der Begriff der Person ist die Persönlichkeit; das Begreifen aber ist Tun und nur Tun; mit ihm als Mittel macht der Begriff sich zur individuellen Person. „Das wahre Sein des Menschen i s t . . . seine Tat; in ihr ist die Individualität w i r k l i c h . . . " (Phän 236) Im Wirken erweist es sich, daß der Mensch nur als tätiger ist, wirklich ist: „Die Individualität stellt s i c h . . . in der Handlung als das negative Wesen dar, welches nur ist, insofern es Sein aufhebt." (Phän 236) - Auf den Menschen hat die Tat zwei Wirkungen: Erstens werden in ihr die Passivität und das Seiende des Leibes zum benutzten, eingesetzten Werkzeug. Das cartesische „Sum" wird damit zum Schluß aus einer „cogitatio", die erst als „labor" wirklich ist. Zweitens erzeugt die Tat Wirklichkeit und macht damit auch den Menschen wirklich; außerdem macht sie das Meinen zum Sagen. Die Tat vernichtet schwebende Unbestimmtheit und endlosen Fortgang, Zweifel und Überlegung; sie bestimmt, weil sie selbst der erst wirklidi gewordene Be-schluß ist. „Die Tat ist ein einfach Bestimmtes, Allgemeines, in einer Abstraktion zu Befassendes; sie ist Mord, Diebstahl, oder Wohltat, tapfere Tat usf., und es kann von ihr gesagt werden, was sie ist. Sie ist dies, und ihr Sein ist nicht nur ein Zeidien, sondern die Sache selbst. Sie ist dies und der individuelle Mensch ist, was sie ist; in der Einfachheit dieses Seins ist er für andere seiendes, allgemeines Wesen, und hört auf, nur gemeintes zu sein." (Phän 236 f.) So wird der individuelle Mensch, die Person, zum Tatresultat; den anderen Menschen scheint dieses Tatresultat sogar sein ihnen auslegbares Wesen zu sein. Und das ist es wirklidi: Über die Taten der Menschen läßt sich etwas sagen; über das, was die Menschen sonst noch sind bzw. innerlich, verborgen sein wollen, läßt sich nur
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etwas meinen. Nur aus vollendetem Tun geht ein Werk hervor, das als wirkliches gelten kann; Absichten bringen nur gemeinte Werke hervor, die nicht wirklich werden, wenn nicht das Tun hinzutritt. So zeigt sich das Wirken nicht an ihm selbst - leere Betriebsamkeit und wirkliches Produzieren können gleich aussehen - , sondern erst an der bearbeiteten Gegenständlichkeit. Analysiert man dagegen die Personen nicht im Rekurs auf ihr zu Ende gekommenes Wirken, sondern nach ihren Motiven, so verwandelt man sie in dieser Theorie aus ihrer Wirklichkeit in gemeintes Sein zurück. Solches Verfahren, also das Eindeuten von Motiven, das „verstehende" Eindeuten, ist sinnlos und verwerflich: „Die Zergliederung... in Absichten und dergleichen Feinheiten, wodurch der wirkliche Mensch, d. h. seine Tat, wieder in ein gemeintes Sein zurück erklärt werden soll . . ., müssen dem Müßiggange der Meinung überlassen bleiben . . . " (Phän 237) In der Ablehnung der Eindeutung von Absichten und in der Verwerfung des Verstehens des Ausdrucks wird Hegel sogar so brutal, daß er eine tätliche Belehrung für aussichtsreich hält: Da der leibliche Ausdruck und die leibliche Figur nicht das Ansidi des Menschen seien, könnten sie bei dem, der solche Frechheiten über andere annehme, ein Gegenstand der tätlichen Behandlung sein; dadurch würde der Meinende schon den Unterschied zwischen Ausdruck und Tat erlernen, (vgl. Phän 236 u. 249) Wenn die Person nur in ihrem Tun wirklich werden und bleiben kann, so bedeutet dies, daß sie in ihrer Konkretisierung nicht primär in der Reflexion auf sich leben darf, sondern im Bezug auf einen Gegenstand oder ein Behandlungsfeld stehen muß. Weiter ist Bearbeitung für Hegel immer das Herausheben des möglichen Allgemeinen an einer Sache; mißlingt das in Angriff genommene Werk, war die Person eben nicht in die Allgemeinheit der Sache vertieft, sondern in ihre eigenen Partikularitäten: Ein mißlungenes Werk stammt aus einem mißlungenen Plan, ein bizarres Werk aus bizarren Absichten, ein ausgefallenes Werk aus ausgefallenen Interessen, objektiver Manierismus aus subjektiven Manierismen. Auch wenn es der Person um sie selbst geht, muß sie also eine Sache angehen, sich einem zunächst Unpersönlichen widmen. Allerdings bedeutet diese Bedingung nicht, daß es in der Realisierung der Freiheit und Wirklichkeit der Person letztlich um eine Sache als äußerliche und besondere ginge, sondern es handelt sich darum, sie als Material eines Zweckes zu benutzen. Die Sache ist als sich selbst äußerliche ohne einen eigenen Zweck, der ihr erst verliehen werden muß. In der Formierung wird dieser Zweck in die Sache sichtbar hineingesetzt. Die bloße Besitznahme variiert sie noch nicht; die Formierung verändert sie strukturell und physiognomisch. Der Mensch soll seine Freiheit verwirklichen; deswegen muß er Zwedke setzen, und dazu muß er arbeiten. Dies ist eines seiner menschlichen Grundrechte, auf die er nicht verzichten kann; er müßte sonst die Erfüllung seiner Bestimmung aufgeben. Diese Bestimmungspflicht kann aber nicht in der abstrakten Form einer neutralen Aufgabe vor dem Menschen erscheinen - sie würde ihn unbeteiligt lassen - , sondern er muß sie als Insuffizienz in sich verspüren.
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E Der Begriff und die Person
Das Interesse und das Geltungsstreben Die gesamte Tätigkeit und damit das Wesen der Person bleiben unvollendbar, weil die Person nicht die Bewegung des Begriffs in seinem reinen Medium ist, sondern weil sie in ihm nur ist, insofern er in seinem Andern, in natürlidier, endlicher Gestalt, auftritt. Die zwecksetzende Tätigkeit der Person kann sich deshalb ebenfalls nie völlig auf sich selbst beziehen; das Endliche kann mit sidi selbst keinen vollendeten Schluß vollziehen. Die Tätigkeit muß sich ferner immer von ihrem Zentrum fort bewegen; damit muß sie sich ebenso immer bestimmter Mittel bedienen. Insofern diese Mittel nach außen gekehrt sind, machen sie Gehirn, Hände, Werkzeug und Arbeitsgegenstände aus; insofern sie nach innen gekehrt sind, stellen sie die Macht des Begriffs dar, der seinen Zweck der Person in einer anderen Firmierung, als er selbst ist, unterschiebt. In dieser Lenkung benutzt der Begriff das Interesse und das Geltungsstreben. Beide sind an sich dasselbe. Das Interesse ist die Nichtbeachtung der Person durdi sich selbst wegen des zu erreichenden Zweckes; das Geltungsstreben ist aus demselben Grund ihre Selbstbeachtung. In beiden Zustandsweisen tritt dem Subjekt besonderer, eigener Inhalt als zu erreichender Wert gegenüber. Bei jedem Tun sind Geltungsstreben und Interesse - begrifflich-faktorenanalytisdi ein Faktor mit zwei Modi im Bewußtsein - am Werk. Hinsichtlich des Geltungsstrebens gilt: » . . . tätig ist der Mensch nur, insofern er etwas nicht erreicht hat, und sich in Beziehung darauf produzieren und geltend machen will. Wenn dies vollbracht ist, verschwindet die Tätigkeit und Lebendigkeit, und die Interesselosigkeit, die alsdann eintritt, ist geistiger oder physischer Tod." (SW1 7, 234) Geltungsstreben darf nicht als Selbstsucht aufgefaßt werden; das Geltungsstreben ist der bloße Motor des Tuns, in dem die Person unkundig ihrer wirklichen Bestimmung, aber vom Begriff gesteuert, davon ausgeht, daß ihre Absicht den allgemeinen Zweck enthält. Die Selbstsucht zieht dagegen ausdrücklich ihren besonderen Inhalt dem objektiven Inhalt vor. (vgl. SW 10, 376 f., SW 16, 261) - Das Interesse besteht nicht in einem Versunkensein in ein schon fertiges Objekt. Das interesselose Wohlgefallen ist gerade kein Interesse, das sich zur Arbeit anschickt, sondern ein Genuß, der die Tätigkeit hinter sich weiß. Dagegen ist das Interesse das Aufgehen des Einzelnen und seiner Tätigkeit im unvollendeten Werk; denn für den Geist ist nichts an sich vor ihm, sondern alles erst durch ihn für ihn. „Daß, in sofern der Inhalt des Triebes als Sache von dieser seiner Tätigkeit unterschieden wird, die Sadie, welche zu Stande gekommen ist, das Moment der subjektiven Einzelnheit und deren Tätigkeit enthält, ist das Interesse. Es kommt daher nichts ohne Interesse zu Stande." (SW 10, 376) Die Person ist subjektiv wirklich gewordener Begriff; das Wirklichwerden ist ihr Tun. Was sie ist, ergibt sich aus der Folge ihrer Handlungen und nur daraus. „Sind diese eine Reihe wertloser Produktionen, so ist die Subjektivität des Wollens ebenso eine wertlose; ist dagegen die Reihe seiner Taten substantiel-
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1er Natur, so ist es auch der innere Wille des Individuums." (SW 7, 182) Es kommt also nicht darauf an, etwas zu wollen, sondern etwas auszuführen. „Die Lorbeeren des bloßen Wollens sind trockene Blätter, die niemals gegrünt haben." (SW 7, 184) Die Person ist von anderen Personen nicht einfach und unmittelbar unterschieden, sondern durch ihre in Leistungen und Werken vollendeten Taten, nicht schon durch ihre Handlungen. Denn nur die Tat äußert sich in Produktion und Bearbeitung; die Handlung ist nur die Anerkennung der Tatplanung im Bewußtsein. (vgl. SW 3, 26 f.) „Zur Tat gehört der ganze Umfang von Bestimmungen, die mit einer hervorgebrachten Veränderung des Daseins in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Zur Handlung gehört zunächst nur dasjenige, was davon im Entschluß oder Bewußtsein war." (SW 3, 216)
Die Bestimmung der Person durch ihr Wirken in nadihegelschen Theorien Die Person ist die Summe ihrer Taten; sie besteht nicht in einem Zentrum, dem seine Taten gegenüberstehen. Die Manifestation der Idee der Persönlichkeit besteht darin, daß sie erscheint und daß, was von ihr nicht erscheint, auch nidits ist. Der Unterschied zwischen Hegels Theorie und anderen aktualistischen Personkonzeptionen besteht hauptsächlich darin, daß für Hegel zwischen Person und Tat keine Differenz besteht, sondern Identität, während die sonstigen Ansätze ein Gegenüber von Kern und Aktions-bzw. Reaktionsfolge annehmen und dabei eine Integration der Aktions- und Reaktionserfahrungen auf der Personseite unterstellen. Zu dieser Konsequenz sind sie genötigt, um eine Einheit der Person, wenn auch nicht kategorial, so doch wenigstens konzeptuell, ansetzen zu können. So ist, um nur ein Beispiel zu nennen, bei Thomae die Person (er sagt Persönlidikeit) der „Inbegriff einer zum Sinngebilde der Individualität integrierten Reihe von Ablaufgestalten oder Prozessen", (vgl. Thomae 1968, 103 ff.) Gerade in dieser Definition bemerkt man die Bemühung um eine Denkbarkeit der Person als harmonisierter Sedimentation, die das exakte Gegenteil des Hegeischen Denkens bezeichnet. Deshalb kann Thomae die Person auch als Lebenslauf in seinen Bezügen zur Welt interpretieren, also als das Ergebnis einer passiven Synthesis aller Erlebnisse samt dem möglichen Aufbegehren dagegen; dieses würde als Resultat wieder der Kontinuität des Lebenslaufs zugeschlagen. Eine Integrationsserie auf der „Subjekts-" bzw. Organismusseite wird audi vom Behaviorismus angenommen, obwohl ihm der Begriff der Person selbst nicht mehr als wissenschaftsfähig gilt. Seinem Ansatz zufolge sammelt sich der Niederschlag der Lernerfahrungen am Organismuspol. Aber zu einer eigentlichen Aktivität gelangt dieser Pol nicht, (vgl. Skinner 1953) Das Verhalten, das wie Selbstbestimmung aussieht, ist von Variablen gesteuert, die einem gelernten Reaktionssystem einwohnen. Was den Ansdiein einer Selbstbestimmung zeigt, ist in Wirklichkeit nur Folge von Fremdsteuerungen. Es ist eine Täuschung, wenn man annimmt, daß der Mensch originär produktiv ist und daß in der
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E Der Begriff und die Person
Neuzeit seine Produktivität und seine Autonomie, seine Befreiung von Unmündigkeit und Fremdbestimmung, zugenommen haben. In Wirklichkeit ist nur die Herrschaft der Welt - Skinner spridit von Reizen der Umwelt und der Zeit stärker geworden, denn immer öfter gelangt der Mensch in Situationen, die sein Verhalten differenziert ausformen; aus seinen Reaktionen entstehen neue reizbringende Gelegenheiten, und aus diesen wird wieder gelernt. Die sogenannte Originalität des Menschen besteht nur darin, daß seine Reaktionssysteme verfeinert werden, daß er somit empfindlicher und differenzierter reagiert - „plastischer und mehr produziert" (Hegel) - , in den Ablaufsgestalten der Welt somit immer bemerkbarer als Faktor auftritt - „Taten vollbringt" (Hegel) - . Wenn man eine Konfrontation Hegels und des Behaviorismus vornimmt, sagt Hegel: Die Person entnimmt ihrem Begriff die Zwecke und verwirklicht sie in der Zufälligkeit der Welt; so ist sie die Gliederung der von ihr betriebenen Verwirklichung. Skinner sagt: V o m Organismus werden untereinander gekoppelte Reaktionssysteme auf Komplexe von Variablen bezogen; so ist seine „Individualit ä t " die Reihe seiner Reaktionen. Zwischen Hegel und Skinner liegen gewiß Welten: Hegel glaubt an die Erreichung der Freiheit und an die Selbstbestimmungsfähigkeit der Person; Skinner lehnt die Begriffe Freiheit, Handlung, T a t als Fiktionen ab und erkennt nur Reaktivität an. Die gedanklichen Pole „Freiheit" und „Reaktion" sind sicher unvereinbar. - Hegel und Skinner treffen sich dann aber doch wieder in einer bestimmten Sicht: Für Hegel ist die Vernunft der Menschen und der Dinge dieselbe; hinter Menschen und Dingen wirkt nichts Verborgenes oder Geheimnisvolles auf sie ein. D i e Vernunft ihrer Bestimmung wird jedoch im Geist gesehen. Für Skinner ist das Gesetz der Menschen und der Dinge dasselbe; sie erscheinen in Verhalten und Veränderungen. Das Gesetz ihrer Erscheinung aber geht nur von der Physis aus. - Für Hegel und Skinner ist der Inbegriff der Menschen und der Welt voll erkennbar, total rational; freilich stehen sich innerhalb dieser Identität eine idealistische, „geistige" und eine mechanisch-materialistische, „physische" Fassung gegenüber, also eine „Phänomenologie der geistigen Vernunft" einer „Reaktionsstatistik der physischen Organismusvariationen". Unter diesen absolut differenten Vorzeichen behaupten Hegel und Skinner über die menschliche Person dasselbe, nämlich: Die Person (bzw. der Pol, den dieser Terminus anpeilt) ist nichts Seiendes bzw. Konsistentes, und sie hat keine Eigenschaften, sondern sie ist nur als Aktualität - „aus sich tätige" (Hegel), „als reagierendes System" (Skinner). - In beiden Denkwegen ist eine nachdrückliche Ablehnung bzw. Zerschlagung der Seelenmetaphysik und der Eigensdiaftsontik durchgeführt; es handelt sich jeweils u m konsequente Bearbeitungen von Ansätzen, die wieder reich an neuer Problematik sind. Aber theoretische Konsequenz ist in jedem Fall erkenntnisträchtiger, und sei es durch eine ihr äquivalente Anstrengung des Widerspruchs, als die Reproduktion v o n Annahmen, die nur genehme Vorstellbarkeit und verständliche Wahrscheinlichkeit f ü r sich haben. Der Hegeische Personbegriff wurde vom dialektischen Materialismus in be-
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stimmter Richtung weiterentwickelt. Die Wichtigkeit des Begriffs „Arbeit" in beiden Philosophien macht von vornherein eine Ähnlichkeit ihrer Personbegriffe möglich. Bei Marx selbst gibt es noch keine denkerische Integration der individuellen Personen; sie treten nur als gesellschaftliche Kategorienträger auf. Gegen Feuerbach wandte er in seiner 6. These ein: „. . . das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse." (Marx 1845, 3) Später bedauerte er in einer Analyse der Träger des Warenaustausches das Fehlen eines direkten Personbegriffs ausdrücklich: „Unsre Verlegenheit stammt vielleicht daher, daß wir die Personen nur als personifizierte Kategorien, nicht individuell, gefaßt haben." (Marx 1867,177) Im systematischen dialektischen Materialismus ist diese Lücke geschlossen. Ihm zufolge ist der Mensch Individuum auf Grund seiner einzelnen, besonderen und allgemeinen gesellschaftlichen Merkmale - womit allerdings wiederum, wie schon früher in der Philosophie, das Problem einer Individualität, die als Kompositionsfolge aufgefaßt wird, entsteht. - Persönlichkeit (man spricht hier von Persönlichkeit, nicht von Person) wird der Mensch dadurch, daß er seine Beziehung zur Umwelt bewußt gestaltet. Die Richtung der Gestaltungsaufträge erfährt der einzelne Mensch aber nicht aus sich selbst, sondern aus der Kollektivität, dem Theoriebestandsnachfolger des Hegeischen objektiven Geistes. „Er ((der Mensch)) ist in maximalem Ausmaß Persönlichkeit, wenn er ein Minimum an Neutralität, Indifferenz und Gleichgültigkeit und ein Maximum an Parteilichkeit' gegenüber allem gesellschaftlich Bedeutsamen aufweist." (Rubinstein 1963, 103) Persönlichkeit wird der Mensch in der Lehre des dialektischen Materialismus durch die Aneignung der konkreten gesellschaftlichen Arbeitsresultate und durch das Hinauswirken in den gesellschaftlichen Lebensprozeß. Gegenüber den formalen Lerntheorien liegt also eine axiologische Differenz vor: Der Erwerb der gesellschaftlichen Erfahrungen ergibt einen bestimmten Wert der Persönlichkeit, und die Anwendung dieser Lernerfahrungen ist werterzeugende Arbeit; d. h. in ihr wird nicht nur ein Naturstoff gegen die Natur gekehrt, sondern die Naturmacht, der Mensch, wendet sich selber gegen die Natur. Dadurch verändert er sich zugleich selbst, weckt in sich schlummernde Potenzen und setzt ihr erwecktes Kräftespiel unter die Botmäßigkeit objektiver Zwecke. Die Formierung der Persönlichkeit des Menschen erfolgt nur in geordneter Arbeit; diese Ordnung aber darin reicht der dialektische Materialismus über Hegel hinaus - bezieht sie nicht aus einem immanenten Zweck des vernünftigen Menschen, sondern aus der realen Kollektivität. Insofern gehen die gesellschaftliche und die psychologische Kategorie der Persönlichkeit ineinander über. Die Verbindung der gesellschaftlichen Zwecke und ihrer individuellen naturalen Fundierung ist folglich hier das Arbeitsgebiet der Persönlichkeitspsychologie. Die Persönlichkeit wird demnach nicht als Funktionenpol, wie im Behaviorismus, verstanden, sondern als dialektisches Zentrum der Vermittlung. Dem dialektischen Materialismus zufolge möchten Behaviorismus und Sinnespsychologie,
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E Der Begriff und die Person
die von ihm als Mechanizismus katalogisiert werden, die seelischen und geistigen Phänomene durch linearen Übergang aus den Reizen erklären. Die Persönlichkeitspsychologie der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts - dabei wird insbesondere an Stern und Scheler gedacht - wiederum erkläre das Seelenleben voluntaristisch, trieblich, motivational, nämlich aus bestimmten, der Persönlichkeit angeblich einwohnenden Absichten. Der Mechanizismus und diese Art der Persönlichkeitspsychologie seien spiegelbildlich dasselbe: in beiden Richtungen werde hinter den dialektischen Standpunkt Engels', Marx', Hegels zurückgegangen; die lineare Unmittelbarkeit werde als einziges Explikations- und Entwicklungsmodell unterstellt. Erkenne man die Schwierigkeiten des Mechanizismus und dieser Persönlichkeitspsychologie, dann sei die Lösung folglich keinesfalls in einer gedankenlosen Synthese der optimalen Einzelergebnisse beider Richtungen zu suchen. Auf diese Weise komme man nur zu einer irrationalen Zweifaktorentheorie. Der einzige sinnvolle Ausweg bestehe in der Ansetzung der Persönlichkeit als tätiger Vermittlung. „Wir gehen davon aus, daß die äußeren Ursachen (die äußeren Einwirkungen) immer nur durch die Vermittlung der inneren Bedingungen wirken . . . Bei der Erklärung beliebiger psydiischer Erscheinungen tritt die „Persönlichkeit" als das zu einem Ganzen verbundene Insgesamt der inneren Bedingungen zutage, durch die alle äußeren Einwirkungen „gebrochen" werden. Darum ist die Einführung des Begriffs der Persönlichkeit in die Psychologie eine notwendige Voraussetzung für die Erklärung der psychischen Erscheinungen. Die These, der zufolge die äußeren Bedingungen nur mittelbar, über die Persönlichkeit, mit ihrem psychischen Effekt zusammenhängen, ist der zentrale Gedanke, von dem aus wir theoretisch an alle Probleme der Persönlichkeitspsychologie wie auch der Psychologie überhaupt herangehen müssen." (Rubinstein 1964, 279 f.) Die Hegeische Vermittlungsthese wird also explizit beibehalten; die Vermittlung wird aber nicht mehr als ideelle Tätigkeit, sondern materiell oder gesellschaftlich verstanden. Rubinstein gibt diese Modifizierung schon sprachlich im Ausdruck „Brechung der äußeren Einwirkungen in der Persönlichkeit" wieder. Der materialistische Ansatz bedingt weiter, daß die äußeren, materiellen oder gesellschaftlichen, Ursachen den inneren Bedingungen überlegen sein müssen: Die psychischen Erscheinungen der Persönlichkeit werden von außen her veranlaßt. Aber daß sie ein zentriertes Resultat haben, ist Ergebnis der „vermittelnden Persönlichkeit". - Die besonderen Probleme dieser Persönlichkeitsdeutung in der Weiterentwicklung der Hegeischen Theorie liegen darin, daß die Vermittlung als negierendes Tun des Subjekts beibehalten wird, daß sie andererseits aber kein spontanes Tun, sondern nur determiniertes Tun sein kann. Gegen diese Weiterentwicklungen sei noch einmal auf den Kern der Hegelschen Überlegungen zur Persönlichkeit und Person verwiesen: Die Person ist die Wirklichkeit des Begriffs der Persönlichkeit; sie besteht nicht als Nebeneinander von Geist und Natur, von Seele und Körper in einem Leib, sondern sie ist der Geist, der sich zur Heimholung seiner selbst aus seinem Anderssein, der Natur,
§ 21 Begriff und Person
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in die Form der individuellen Vernunft entsdilossen hat. Weil die Person Individuum ist und weil sie in einem naturalen Leib verbleibt, ist sie unvollendbar; denn sie kann das Ausschließen der Natur im nur einfachen negativen Tun an ihr nicht überwinden. Sie soll aber den Begriff insgesamt zur Wirklichkeit erheben; deswegen ist sie das Fortwähren des Wirkens gegen Besonderheit und Zufälligkeit, die gegen den Begriff anstehen; ihrer Bestimmung nach ist sie so nur als handelnde, deren Wille es ist, tätige zu sein : Die Tätigkeit ist ihr Ζ weds und ihre Form. Der Stein ihrer Sisyphosarbeit ist der Begriff, den sie zur Hoheit der Idee emportragen soll.
F Die Logik des personalen Fungierens § 22 Die Erscheinung der Person Die Setzung von Innen und Außen Die Zentrierung des Geistes in der Person bildet die Stufen seiner Subjektivität in seinem Übergang von der Substanz zum zu vollendenden Subjekt getreu ab: Als Seele lebt der Geist in natürlicher Bestimmtheit; als Bewußtsein befindet er sich im Verhältnis zu dieser Bestimmtheit, die er als äußerliches Objekt auffaßt; als Intelligenz bestimmt er sich subjektiv selbst und wird sich durchsichtig und frei. Diese kategorialen Verhältnisse befassen sich mit der inneren Wirklichkeit des Menschen; die äußere sieht armseliger aus; sie entspricht nicht einer ebenfalls vertikalen Ordnung, sondern ist zeitlich zerrissen. „Denn einerseits sehen wir den Menschen in der gemeinen Wirklichkeit und irdischen Zeitlidikeit befangen, von dem Bedürfnis und der Not bedrückt, von der Natur bedrängt, in die Materie, sinnlichen Zwecke und deren Genuß verstrickt, von Naturtrieben und Leidenschaften beherrscht und fortgerissen; andererseits erhebt er sich zu ewigen Ideen, zu einem Reidie des Gedankens und der Freiheit, gibt sich als Wille allgemeine Gesetze und Bestimmungen, entkleidet die Welt von ihrer belebten, blühenden Wirklichkeit und löst sie zu Abstraktionen auf, - indem der Geist sein Recht und seine Würde nun allein in der Rechtlosigkeit und Mißhandlung der Natur behauptet, der er die Not und Gewalt heimgibt, welche er von ihr erfahren hat." (SW 12, 88) Zumindest in der menschlichen Wirklichkeit zeigt die Selbstbestimmung des Geistes zur Freiheit also auch den Charakter eines gewalttätigen Verfahrens, das ein weites Verhaltensspektrum aufweist und einerseits von den sinnlichsten Antrieben gehetzt, andererseits von Befriedungswünschen durchzogen sein kann. Gleichzeitig ahnt der menschliche Verstand, daß er diese Zerrissenheit mit seinen endlichen Mitteln nicht überwinden kann. Deswegen stellt er sich die Frage nach einem absoluten Mittel zur Aufhebung der erlebten und erfahrenen Gegensätze und gerät damit an die Aufgabe der Philosophie. Von ihr erwartet der Mensch dann, daß sie seine Schwierigkeiten dadurch beendigt, daß sie die end-gültige Unwahrhaftigkeit der ihn zerreißenden Polaritäten nachweist, deren Wahrheit also nicht in ihrer Fest-legung, sondern vielmehr in ihrer Auflösung durdi vernunft-angemessene Vermittlung zu suchen ist. Damit ergibt sich die Konsequenz, die Erfahrungen der äußeren Verhältnisse wieder auf die kategoriale Wirklichkeit zu beziehen, denn sie allein kann die erlebten Gegensätze nachhaltig miteinander versöhnen.
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F Die Logik des personalen Fungierens
Dieser Wirklichkeit entspricht der Mensch selbst, zuunterst als Faktum der Anthropologie, in der er schon als Geist besteht, aber noch durch die Natur getragen wird. Diese Gehaltenheit bewirkt aber keine umfassende Bestimmtheit durch die Natur; ebenfalls führt sie nicht zu einer wirklichen Passivierung. Soldie Züge nimmt der Geist nur insofern an, als es für die Vorbereitung der Bildung der vollbringenden Organe und ihrer Aktionen erforderlich ist. Die Gestaltung der leiblidien Erscheinung des Menschen ist jedoch keine passive Synthesis, sondern die gegenseitige Produktion der organischen Teile (vgl. SW 3, 188), die als verschiedene Einzelheiten nebeneinander bestehen und in der Aufgabe des Leibes geeint sind. Im schon für sich seienden Geist besteht dagegen keine Verschiedenheit gegeneinander mehr; er existiert als Vereinigung im Begriff, als Idealität des ehemals Verschiedenen. Deshalb kann das Ich zugleich das Einzelnste und das Allgemeinste ineinander sein. Die leibliche Gestalt aber muß eine Organisation in einer Äußerlichkeit haben, die verschiedene Einzelheiten nebeneinander bestehen läßt. Sie macht sich nur dadurch zur Einheit, daß sie sich die materielle Realität, u. z. als Außenwelt und als sie selbst, entgegensetzt, (vgl. SW 10, 242) Die in dieser Weise setzende Einheit ist schon die Seele, die aber in dieser Form nodi in der innigsten leiblidien Verflechtung und damit nicht ideell, sondern einheitslos und vom Schatten der Realität getroffen lebt. Unentdeckbar an ihr sind deshalb die „Wurzeln der Kraft des Geistes in der Unterwelt" ; undurchschaubar bleiben sie die „Wasser der Vergessenheit" (vgl. Phän 339): die Spezifikationen der Seele in den kontinentalen Ansiedlungen, den rassischen Zugehörigkeiten, dem jeweiligen Volksgeist usw. Insgesamt bilden sie das Ensemble der naturalen Grundlagen des individuellen Geistes. Dazu gehört sowohl das, was nie ins Bewußtsein steigt, als audi das, was aus ihm wieder absinkt: „ . . . wir haben Vieles, audi schon Körperliches, bewußtlos; z. B. die Lebensverriditungen, die zu unserer Selbsterhaltung gehören, besitzen wir, ohne darum von ihrer genaueren Beschaffenheit audi schon ein Bewußtsein zu haben, das wir erst in der Wissenschaft erwerben. Auch geistiger Weise sind wir Vieles, was wir nicht wissen." (SW 3, 33 f.) Zu dem, was man zwar ist, aber noch nicht bewußt hat, zählen als naturale Dispositionen auch die Anlagen und Talente des Individuums bzw. die neurophysiologischen Konditionen, die sie benötigen. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob diese Bereiche in Hegels Theorie nidit als Produkte einer Tätigkeit aufgefaßt werden müßten. So interpretierte beispielsweise Rosenkranz zu diesen Punkten: „Sogar Genie zu sein muß das Individuum sich gefallen lassen." (Rosenkranz 1870, 178) Die natürliche Bestimmtheit der Individualität scheint somit nicht eine tätig gesetzte zu sein. Eine den Phänomenen angemessene Erfassung der Verhältnisse des Geistes und der Natur im Fall des natürlichen Individuums bringt Hegel also zu einer äußerlich auffallenden Einschränkung der universalen Aktivitätshypothese; es wird von ihm zugegeben, daß der in Individuen ontogenetisdi „startende" Geist bei dieser Gelegenheit in der
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Form der Fähigkeit oder der Anlage sein kann: „Vors erste also ist die ursprünglich bestimmte Natur der Individualität, ihr unmittelbares Wesen noch nicht als tuend gesetzt. . . Dies ursprüngliche Wesen i s t . . . nicht nur Inhalt des Zwecks, sondern an sich audi die Wirklichkeit, welche sonst als gegebener Stoff des Tuns, als vorgefundene und im Tun zu bildende Wirklichkeit erscheint. Das Tun ist nämlich nur reines Übersetzen aus der Form des noch nicht dargestellten in die des dargestellten Seins." (Phän 287) Die Reduktion des ontologischen Entwicklungs- oder Bestimmungsproblems auf ein Darstellungsproblem, die Hegel in der Analyse der Anlagen des menschlichen Individuums hiermit vornimmt, wirkt wie eine außerordentliche Konzession. In der Theorie handelt es sich aber nicht um ein derartiges „Nachgeben". Auch als Anlage ist der Geist nämlich schon er selbst, also Tätigkeit in der Hülle einer Potenz. In der Entwicklung des Geistes verhält es sich deshalb so, daß auch dann, wenn der Geist sich „friedlich" oder „organisch" zu entfalten scheint, dies eine Tätigkeit, eine Abarbeitung der Natur ist, die aber, weil sie noch keine Arbeit im Bewußtsein ist, diesem audi nidit als solche erscheint. Das Werden des Geistes zum Bewußtsein ist seinem Wesen nach geistiges Wirken. Die scheinbare Passivität des anfangenden Individuums ist somit ein Lenkungsresultat des Geistes, der das Individuum für seine Zwecke bereitmadit. Wenn der Begriff im Menschen an der Heimholung der Welt in sich arbeiten soll, ist es erforderlich, daß das Individuum zunächst unmittelbar und der Welt ähnlich wird, damit es überhaupt eine Welt sich gegenüber haben kann. Außerdem ist nicht zu vermeiden, daß das Individuum, bevor es tätig war, nidit wissen kann, was es ist und will, daß es den Zweck seines Tuns in unmittelbarer Natürlichkeit weder festlegen noch erfahren kann. Andererseits ist es unmöglich, daß dieser Zweck der Natur einwohnen soll, die das Individuum erst zu bearbeiten hat. Der Zweck muß ihm also immanent sein, obsdion nidit zu umgehen ist, daß es ihn als beginnendes nicht durchschaut. „Ebendarum aber hat es unmittelbar anzufangen und, unter welchen Umständen es sei, ohne weiteres Bedenken um Anfang, Mittel und Ende zur Tätigkeit zu sdireiten; . . . Als Anfang ist sie in den Umständen des Handelns vorhanden; und das Interesse, welches das Individuum an etwas findet, ist die schon gegebene Antwort auf die Frage: ob und was hier zu tun ist. Denn was eine vorgefundene Wirklichkeit zu sein scheint, ist an sich seine ursprüngliche Natur, welche nur den Schein eines Seins hat, - einen Schein, der in dem Begriffe des sidi entzweienden Tuns liegt, aber als seine ursprüngliche Natur sich in dem Interesse, das es an ihr findet, ausspricht." (Phän 288) Das Bewußtsein hat deshalb in seiner weiteren Selbstentwicklung den Nachweis zu führen, daß auch die natürliche Realität nach seinem eigenen Begriff gestaltet und dieser selbst ist und die Weise des ruhigen Gegenüberstehens der Realität eine aus dem Begriff entlassene ist. Audi die Naturseite der Individualität ist also eine gesetzte, wenn auch nicht für sie gesetzte. Talente und Anlagen können auf der Basis dieser unterschobenen Zwecksetzung als die Mittel ange-
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sehen werden, mit Hilfe derer der Begriff sich selbst wirklich macht. Der Auffassungs- und Bearbeitungswille in spezifischer Form, das Talent, vereint sich mit dem Auffassungs- und Bearbeitungsreiz in spezifischem Inhalt, dem Interesse; so gehen das offene Tun und sein psychisches Substrat ineinander über. Unter dem Entwicklungsgesetz des Begriffs sind Anlagen also Umstände, (vgl. Phän 288) - Den soziokulturellen Theorien der konkreten Genesis des Individuums dieses Jahrhunderts geht somit in Hegel ein ontologisdier Vorläufer voraus: Die ursprüngliche Natur des Individuums besteht aus Umständen, die der Begriff erzeugt hat. Die Übersetzung der Anlagen in das Schaffen greift auf die Inhalte zurück, die der Mensch der Natur entwendet hat (vgl. SW 12, 225); in seiner Anschauung, Vorstellung und Phantasie hat er einen verwertbaren Schatz daraus entworfen.
Die Erschaffung der Erscheinung aus dem Begriff Gegen die universale Aktivitätshypothese kann man unter Benutzung einfacher phänomenaler Befunde den Einwand erheben, daß die menschliche Person doch offensichtlich mit einem Leib in der Welt sei; dieser Leib „sei" erst einmal und er trage zusätzlich einen Ausdruck eines „Inneren" passiv an sich. Die bestehenden Verhältnisse werden in dieser Auffassung zwar unmittelbar, nicht gesetzt, erfaßt, aber ihre Phänomenalität ist schwerlich zu leugnen. Um sie zu überwinden, muß Hegel ihre unmittelbare Erfassung systematisch aufheben: Da der Leib als Organismus seinem Zweck nach zentrierende Allgemeinheit, also objektive Reflexion ist, kann er nicht wie eine bewegungslose Gestalt gefaßt werden, und sein Ausdruck kann deshalb ebenfalls nicht eine Konfiguration, sondern nur eine Bewegung sein. „Das Wesentliche des Organischen, da es an sich das Allgemeine ist, ist vielmehr überhaupt, seine Momente in der Wirklichkeit ebenso allgemein, d. h. als durchlaufende Prozesse zu haben, nicht aber an einem isolierten Dinge ein Bild des Allgemeinen zu geben." (Phän 207) Schon aus den Bedingungen des Organismus geht demnach hervor, daß der Ausdruck nichts Seiendes ohne Tätigkeitsauftrag sein kann. Andererseits bleibt unbestreitbar, daß Geistiges als Ausdruck am Menschen erscheint, „da" ist. Für den menschlichen Leib bedeutet dies, daß er in der Lage sein muß, Geist konkret darzustellen. Für die Erfüllung dieser Funktionen ist der Leib aber nicht von sich aus befähigt, sondern abermals wirkt der Geist kryptisch-teleologisch mit; an diesem Verfahren sind Hegel zufolge wiederum nur prattoanaloge Momente beteiligt: „Der ursprüngliche Begriff selber muß es sein, der die Gestalt für die konkrete Geistigkeit erfunden hat, so daß jetzt der subjektive Begriff . . . sie nur gefunden und als natürliches gestaltetes Dasein der freien individuellen Geistigkeit gemäß gemacht hat. Diese Gestalt, welche die Idee als geistige — und zwar die individuell bestimmte Geistigkeit - an sich selbst hat, wenn sie sich in zeitliche Erscheinung herausmachen soll, ist die menschliche Gestalt." (SW 12, 117) In dieser Annahme geht Hegel von einer präzisen
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Arbeitsteilung aus: Der allgemeine Begriff tritt als Architekt auf, der den Bauplan der menschlichen Gestalt „erfindet", wie in einer Art gestalterischer Imagination. Der subjektive Begriff spielt die Rolle eines beauftragten Arrangeurs, der mit dem Material umzugehen hat, es für die Produktion „gemäß macht". Hegel benutzt diese Modelle nicht metaphorisch; er denkt sie, wenn auch wohl nicht bildlich, so doch teleologisch wirklich: „ . . . die Physiologie müßte es zu einem ihrer Hauptsätze machen, daß die Lebendigkeit notwendig in ihrer Entwicklung zur Gestalt des Menschen fortzugehen habe als der einzig für den Geist angemessenen sinnlichen Erscheinung." (SW 12, 117) In dieser Ziel Verschiebung würde die Physiologie von einer analytischen zu einer Programmwissenschaft, ein interessanter Nebenhinweis darauf, wie Hegel die Wissenschaften seinem idealistischen Philosophieprogramm unterwerfen möchte - allen vorgetragenen Rechtfertigungen der Erfahrung zum Trotz 1 . Wenn es der Geist ist, der sich inkorporiert, dann können seine Verleiblichung und ihr Ausdruck theoriekonform nichts Seiendes sein, denn auch jede Außengestalt der geistigen Tätigkeit ist etwas Ideelles: Das Einbilden des Geistes ist generell Aufheben der Materie. Im Ausdruck verleiblichen sich jedoch besondere geistige Zustände, ζ. B. Leidenschaften und Affekte. Da sie selbst nichts Allgemeines sind, ist auch ihre Erscheinung als Ausdruck nicht das Ergebnis gedanklicher Bestimmungen. „Armut, Sorge, Zorn, Kälte und Gleichgültigkeit, die Wut der Leidenschaften, das Festhalten einseitiger Zwecke und die Veränderlichkeit und geistige Zersplitterung, die Abhängigkeit von der äußeren Natur, die ganze Endlichkeit des menschlichen Daseins überhaupt spezifiziert sich zur Zufälligkeit ganz partikulärer Physiognomien und deren bleibendem Ausdruck." (SW 12, 210) Somit besteht die Gefahr, daß der Ausdruck doch zu etwas Zufälligem herabsinken könnte und damit in Geistlosigkeit unterginge. Hegel begegnet dieser Schwierigkeit dadurch, daß er den Ausdruck insgesamt als ein Begleitprodukt des wirkenden Geistes auffaßt, das als solches wiederum produziert: Während der Mensch nach außen hin etwas vollbringt oder von außen her etwas erlebt, ist der Ausdruck das Spurensetzen, das aus dem in sich bleibenden Beaufsichtigen jenes primären Tuns kurzzeitig in den Extremitäten, langzeitig in den Gesichtszügen, erzeugt wird. „Diese Züge und ihre Bewegung sind . . . das zurückgehaltne an dem Individuum bleibende Tun, und nach seiner Beziehung auf das wirkliche Tun das eigene Beaufsichtigen und Beobachten desselben, Äußerung als Reflexion über die wirkliche Äußerung." (Phän 232) Der Ausdruck ist somit ein Schaffen des Individuums an sich selbst oder die auf das Individuum zurückgewendete Bemühung, die das Tun nach außen begleitet. Damit ist der Ausdruck insoweit auch auf die Generalformel des tätigen Geistes gebracht. Es muß allerdings beachtet werden, daß Hegel in dieser Durchführung praktisch nur diejenigen Bereiche des Ausdrucks be1
Vgl. § 1. Hegel über die Psychologie; § 7. Psychologie im Dienste des „Geistes" und der „Idee".
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trachtet, die das Tun des Individuums in seiner Durchsetzung nach außen bzw. in seiner formierenden Arbeit erzeugt, nicht die anderen Bereiche, die den pathischen Erfahrungen, ζ. B. des Schreckens oder der Angst zugeordnet sind. Hegels Konsequenz, auch den Ausdruck prattoanalog, u. z. als tätiges Beobachten des Tuns, zu deuten, wurde im übrigen von der empirischen Ausdrucksforschung nicht weiter verfolgt, (vgl. Kirchhoff 1965) Der Ausdruck als Selbstbeobachtung der Person Da dem Hegeischen Ansatz zufolge der Ausdruck das Beobachten des Tuns der menschlichen Subjekte durch sie selbst ist, kann er zu jeweils spezifischer Eigenheit geformt werden. Die Summe dieser vereinheitlichten Beobachtungen schlägt sich an der menschlichen Gestalt nieder: So wird der Ausdruck zur aufgeschriebenen Kontrolle des geistigen Wirkens; der Leib ist das Buch, dem diese Kontrollen eingeschrieben wurden. „Dieses Ganze, welches die bestimmten ursprünglichen festen Teile und die Züge, die allein durch das Tun entstehen, in sich faßt, ist, und dies Sein ist Ausdruck des Innern, des als Bewußtsein und Bewegung gesetzten Individuums." (Phän 228) Der Ausdruck ist somit ein Kompromiß: er soll nur tätiges Beobachten sein; als zurückgehaltene Äußerung über die primären, den Leib verlassenden Äußerungen wird er aber leibliches Phänomen und dadurch endlich, seiend und zufällig. Damit übergibt der Ausdruck Subjektivität unter Aufgabe ihrer grundsätzlichen Bestimmung zurück an reale Objektivität und verzichtet auf die Funktion, wirklichen Geist erscheinen zu lassen. Das Wesen des individuellen Subjekts kann im Ausdruck also nicht erscheinen. Will der Mensch jedoch seiner Bestimmung entsprechend auftreten, muß er auch in diesem Modus der Erscheinung Person werden: er muß auch hier die Heimholung des Geistes aus der Natur betreiben, sein beobachtendes Reflektiertsein aufgeben und sich in das reine Tun wenden, also durch seinen Willen tätig werden. „Die Individualität gibt dasjenige in sich Reflektiertsein auf, welches in den Zügen ausgedrückt ist, und legt ihr Wesen in das Werk." (Phän 234) Der Ausdruck bleibt also nur ein Zeichen der tätigen Individualität; ihr Wesen drückt er nicht aus. Der Mensch ist mehr, als sein Ausdruck andeutet. Die Auszeichnung des Ausdrucks aber ist nicht seine Unfähigkeit der wirklichen Expression des Individuums, sondern seine Fähigkeit, den menschlichen Leib als den Wohnsitz und das „einzig mögliche Naturdasein des Geistes" (vgl. SW 13, 12) auszuweisen. Im einzelnen sind es zwei Phänomene, die Hegel für den hier zu erbringenden Nachweis besonders geeignet hält, nämlich der aufrechte Gang und die Bildung der Hand, des absoluten Werkzeugs, (vgl. SW 10, 246) Das Gesicht und seine Züge sind dagegen nur der Ausdruck von Eigentümlichkeit und Partikularität. Im Mienenspiel drückt der Mensch kontinuierlich seine momentane Zufälligkeit aus, die Weise, in der er entweder nur mit sich zu tun hat oder in der er mit sich in der Verarbeitung anderer zu tun hat. Die Mittellage des Ablaufs
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wird unterbrochen, wenn große Regungen sich Ausdruck verschaffen. Dann kommt es zum Vergleich allgemeiner Mächte mit individueller Subjektivität. „Demut, Trotz, Drohung, Furcht sind Mienen dieser Art. Bei soldier Vergleichung tritt schon eine Trennung des Subjekts als solchen und des Allgemeinen ein, und die Reflexion auf das Substantielle biegt sich immer zur Einkehr ins Subjekt zurück, so daß dieses und nidit die Substanz der überwiegende Inhalt bleibt." (SW 13, 375) Die Mienen sind geronnene Ausdrucksbewegungen, das Mienenspiel ist ihr flüchtiger Niederschlag; Mund und Auge sind die ausgezeichneten Träger der schnellen Beweglichkeit des leichten Mienenspiels, das alle Gemütsstimmungen über sich hin laufen läßt. Hervorgebracht wird das Mienenspiel von den Muskeln des Gesichts; der Bewegungsapparat insgesamt bringt die Gebärden hervor. Einige Gebärden werden von Hegel analysiert; den Deutungsschlüssel findet Hegel abermals im Tun, das entweder bejaht oder verneint, (vgl. SW 10, 249) Beispielsweise ist das Kopfnicken ein bejahendes Tun im Ansatz der Unterwerfung unter den anderen; das Kopf schütteln ist ein verneinendes Tun des Umstoßens; Kopfaufwerfen ist bejahendes Tun, nämlich Affirmation seiner selbst in der Selbsterhebung über andere; Stirnrunzeln ist verneinendes Tun des Sich-auf-sich-Fixierens usw. Über die Berechtigung dieser Deutungen im einzelnen läßt sidi sicherlich streiten; bemerkenswert ist die Konsequenz, mit der Hegel wiederum das Tun am Werke sein läßt. Die „absolute Gebehrde des Menschen" aber besteht in der aufrechten Stellung. (vgl. SW 10, 248) Hegel gibt zutreffend an, daß der Mensch das einzige dauernd auf zwei Beinen aufrecht stehende und gehende Lebewesen ist, das dazu nicht die Hilfe der vorderen Extremitäten benötigt und dabei einer vollkommenen Raumorientierung fähig ist. Diese Eigenschaft hat der Mensch jedoch Hegel zufolge nicht als Naturausstattung, sondern - als Produkt eines Beschlusses und seiner Umsetzung in die Tat: „Der Mensch ist nicht von Natur, von Hause aus, aufgerichtet; er selber richtet sich durch die Energie seines Willens auf." (SW 10, 248) Dieser Reinform eines absolut-idealistischen, „lamarckistischen" Erzeugungsmusters kann allerdings nur mit starker Skepsis begegnet werden. U. a. sind die Verhältnisse zwischen den Faktoren Mutation und Situationsdruck in der Entwicklung des aufrechten Ganges unbekannt. Die anatomische Voraussetzung des aufrechten Ganges, den scharfen Knick zwischen dem Kreuzbein und dem Lendenabschnitt der Wirbelsäule, gibt es nur beim Menschen. Hinzu treten als weitere unerläßliche Bedingungen die der Funktion der aufrechten Haltung entsprechende Hals- und Lendenlordose sowie die Brustkyphose. Die Konstruktion dieser Voraussetzungen läßt sich von tierischen Formen, einschließlich der der Menschenaffen, nicht ableiten. „Wir kennen weder den Weg noch die Ursache dieser Entwicklung." (Goerttler 1972, 221) Insofern ist es - vielleicht nur z. Z. noch, vielleicht für immer - müßig, darüber Erwägungen anzustellen. Einen „Willen", der eine solche Entwicklung durchführt, kann es in natur-
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wissenschaftlicher Begründung jedenfalls nicht geben; mit dieser Feststellung wird Hegels naturphilosophische Überlegung allerdings nicht getroffen. Gegen ihn sei deshalb dieses Argument vorgebracht: Auch in Hegels Theorie und gerade in ihr muß der aufrechte Gang eine absolute „Setzung" des Menschen sein; wäre er dies nicht, könnten entweder Menschen, u. z. im Vollsinne des Begriffs, audi ohne diese Fähigkeit bzw. Fertigkeit leben und wirken — was es nidit gibt —, oder es handelte sich dabei um nichts spezifisch Menschliches. Also fnüßte die V o r a u s s e t z u n g " des aufrechten Ganges, von den Vor-Gängern des Menschen „gemacht" worden sein. Diese Folgerung aber wäre das exakte Gegenteil der Hegeischen These, daß der „Mensch nicht von Natur, von Hause aus, aufgerichtet" ist, sondern diese Fertigkeit erst „durch die Energie seines eigenen Willens" aus-bildet. Die Hand wird von Hegel emphatisch gepriesen; er nennt sie das „Werkzeug der Werkzeuge" (SW 10, 248); „sie ist der beseelte Werkmeister seines ((des Menschen)) Glücks". (Phän 231) Hegel rekurriert damit wörtlich auf Aristoteles: καί γαρ ή χειρ δργανόν εστίν οργάνων . . . (De an. 432 a 1) Diese Feststellung ist bei Aristoteles jedoch nicht selbständig zu lesen, sondern in seine Formontologie eingebunden. (Auch Thomas nannte die Hand das „Organ der Organe", weil sich der Mensch durch sie und seine Vernunft Werkzeuge von unbegrenzter Mannigfaltigkeit für unbegrenzte Wirkungen herstellen kann. „Homo habet naturaliter rationem, et manus, quae sunt organa organorum, quia per eas homo potest sibi praeparare instrumenta infinitorum modorum, et ad infinitos effectus." (S. theol. I, q 76, a 5 ad 4) Die Analyse bei Thomas ist genauer als die Hegels, da sie zwischen Werkzeug und Werkzeugherstellung unterscheidet und die unaufhebbaren Unterschiede zwischen leiblichem Organ und dinglichem Werkzeug nicht verwischt.) Daß die Hand genetisch das „Werkzeug aller nachfolgenden Werkzeuge" ist, soll nicht bestritten werden. Daß sie „Werkmeister des Glücks" ist, wird vorwiegend der empfinden, dem das selbstgeschaffene Werk ein Gegenstand großer Befriedigung ist. Eine entsprechende Haltung setzt die Auffassung voraus, das Glück für erzeugbar, machbar zu halten. Ihr steht eine andere Auffassung gegenüber, die das Glück nicht für eine Reflexion der Betätigung, sondern für ein Geschenk hält, das außerdem als Ereignis in unvorhersehbaren Momenten eintritt, nicht als ein Planungsergebnis an bestimmten Zeitstellen. Übrigens erwähnt Hegel nicht, daß die Hand nicht nur herstellt, sondern ebenso zerschlägt, daß sie der Vermittler fast aller Aggression und sogar der unmittelbare Produzent des Erschlagens, Erdrosseins und Erwürgens ist. - Hegel stellt fest, daß die Hand an Beweglichkeit die entsprechenden Extremitäten der Tiere hinter sidi läßt. Diese Angabe trifft zu; allerdings ist sie kein unmittelbares Phänomen der Hand, sondern hat die dem Menschen eigene größere Bewegbarkeit des Schulter-, Ellenbogen- und Handgelenks zur Voraussetzung, ist durch sie „real vermittelt". An der Hand selbst ist insbesondere der Zeigefinger sehr beweglich. Aber die gesamte manuelle Flexibilität würde nichts nützen, wenn nicht — was Hegel nicht beschreibt - der Daumen so erheblich verlängert wäre.
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Der lange Daumen erst macht aus dem Klammerorgan der Sdiwing-HangelKletterer das primäre Werkzeug der Erdbewohner. 2 Für die Durchführung der Aufgabe des Menschen, sich selbst zur Erscheinung und Wirklichkeit zu bringen, stellt Hegel die Hand neben den Mund als Organ und Werkzeug der Sprache. Allerdings steht die Hand ihm noch höher als der Mund; insofern ist Hegel der späteren Auffassung Marx' und seiner Würdigung der Arbeit näher als der Meinung Humboldts und seiner Hervorhebung der Sprache. Der Mund hat eine doppelte Funktion: Er verinnerlicht das Äußere, indem er mit der Zerstörung der Form der Speise beginnt, damit sie vom Organismus aufgenommen werden kann; und er veräußerlicht das Innere, indem er Organ der Sprache ist, die ein Mittel ist, mit dem sich der subjektive Geist zum objektiven machen kann. Der Mund wirkt so im Gegensatz zwischen Verinnerlichung und Veräußerlichung, zwischen der Bejahung des Ansich der ihm übergeordneten Individualität und ihrer sprachtätigen Negation. In der Verinnerlichung muß der Mund etwas Bestimmtes, nicht Austauschbares, tun - Speise essen, Wasser trinken, Luft einatmen - , damit das Individuum existieren kann; die Hand ist unendlich freier: „Sie ist das, was der Mensch tut." (Phän 231) Überdies erreicht die Hand es, daß der Sprache aus ihrer flüchtigen Existenz zu einer bleibenden Grundlage verholfen wird: Die geschriebene Sprache ist objektiviert; im Sprechen hat die Sprache Existenz nur während des jeweiligen Aktes; sie ist als gesprochene schon vergangen. Die Differenz zwischen Wirken und Empfangen Der Leib kann das Innere des Subjekts nicht sichtbar machen; dieses Innere ist Tun, und Tun kann nicht die Form des Seienden haben. Als Leib und im Leib ist das Individuum aber durchaus im Modus eines Seienden: als Leib mit Organen ist es „undurchdringlich" und widerstandsfähig. Erst im Tun negiert sich diese Resistenz der Organe in Produktion. „Der sprechende Mund, die arbeitende Hand, wenn man will, auch noch die Beine dazu, sind die verwirklichenden und vollbringenden Organe, welche das Tun als Tun, oder das Innre als solches an ihnen haben; die Äußerlichkeit aber, welche es durch sie gewinnt, ist die Tat als eine von dem Individuum abgetrennte Wirklichkeit." (Phän 229) Es ist bemerkenswert, daß Hegel die Beine unter die erzeugenden Organe aufnimmt; sie spielen möglicherweise aber in der Entwicklung des Menschen noch eine weit wichtigere Rolle, als ihnen Hegel zugesteht: Erst die Umbildung des Fußes zum Sohlengehwerkzeug in Verbindung mit der aufrechten Stellung ermöglicht es, daß der Mensch sich frei auf der Erde hin und über sie weg bewegt. Vor allem mit seinen Beinen kann der Mensch sich also negativ gegen die Welt verhalten wie kein Tier: Er vermag in gleicher Anforderungshöhe, weit zu gehen und zu steigen; er kann springen und klettern, sogar schwimmen und tauchen; so ist er fähig, die Erde in den verschiedensten Modi von sich weg zu halten, sich beweg* Die Opponierbarkeit des Daumens dagegen gibt es ζ. T. schon bei Affen.
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lieh gegen sie zu behaupten. Der Mensch ist nicht an bestimmte horizontale oder vertikale Zonen gebunden, sondern ihnen gegenüber frei; er kann sich von jedem Punkt der Welt, wenn er ihn stört, abkehren, davon weggehen und in-sich-gehen. Es ist zu überlegen, ob der Mensch dadurch nicht viel mehr reflexionsfähig geworden ist als durch die Arbeit, wie Hegel ansetzt: „Die Naturgegenstände nämlidi sind mächtig und leisten mannigfachen Widerstand. Um sie zu bezwingen, schiebt der Mensch andere Naturdinge ein, kehrt somit die Natur gegen sich selbst, und erfindet Werkzeuge zu diesem Zwecke. Diese menschlichen Erfindungen gehören dem Geiste an, und solches Werkzeug ist höher zu aditen, als der Naturgegenstand." (SW 11, 316) Unbestreitbar ist die Natur mächtig. Ob der Mensch sie niederringen muß, um ontologisch für sich zu werden und psychologisch zu sich zu kommen, ist nicht selbstverständlich ; diese Auffassung ist vielmehr an einen Vorentwurf gebunden. Wenn die Natur dem Menschen Widerstand leistet, kann die Antwort in zwei Weisen gesucht werden: Einmal besteht die Möglichkeit der Annahme des Konflikts; die Lösung ergibt sich dann in der aggressiven Formierung der Naturgegenstände. Zum anderen besteht aber auch die Möglichkeit - die Hegel überhaupt nicht kennt - , den Konflikt nicht anzuerkennen, sondern ihn in der Natur zu belassen, von seinem Orte wegzugehen und „in sich" zu gehen. (Aufgaben der Naturbearbeitung können freilich situativ unvermeidbar sein. Nicht über diese Selbstverständlichkeiten kann man rechten, sondern nur darüber, ob Denken als solches nur Bearbeiten ist.) Spezifisch menschliche Erfindungen sind die Werkzeuge im übrigen nicht. Auch Sdiimpansen erfinden und gebraudien sie mitunter. Daß diese Menschenaffen ihre Werkzeuge nur in bestimmten Situationen verwenden und nur zur Befriedigung eines jeweils bestimmten Triebes einsetzen können, macht gerade für Hegels Analyse keinen kategorialen Unterschied aus: Schimpansen gebrauchen Werkzeuge als gegen die Natur gekehrte Natur. Schimpansen können also arbeiten. Das „Tun als das Wesen der Wirklichkeit" hätte also doch redit unterschiedliche Auftrittsorte. - In diesem Zusammenhang darf man darauf hinweisen, daß die Sdiimpansen den Menschen gerade in einer anderen Perspektive als der der Arbeit durchaus ungleich sind: 1. Sie gehen nicht nur mit den hinteren Extremitäten und aufrecht; die Menschen gehen und stehen dagegen ohne Benutzung der Hände senkredit gegen die Erde: dies ist eine selb-ständige, aber tatlose Negation der Natur. 2. Ihr Zeigefinger ist relativ unbeweglich; nur die Menschen können mit der Variabilität dieses hinweisenden und zurückdeutenden Organteils die Voraussetzung „zugespitzter" deiktischer Urteile gewinnen: Der „göttliche Blitz" der Erkenntnis entsteht somit vielleicht nicht allein oder nicht hauptsächlich oder überhaupt nicht als ein Arbeitsprodukt, sondern als subjektiver Niedersdilag eines tatlosen Zeigens aus der Haltung schauender Rezeptivität heraus. So jedenfalls sah Michelangelo den empfangenden Zeigefinger und das sich öffnende Auge des Mensch werdenden, aber dabei nicht arbeitenden Adams in der Sixtinischen Kapelle.
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Ebenso wichtig wie die zwischen Tier und Mensch bestehenden Unterschiede in den peripheren anatomischen Apparaten sind die Differenzen in der ZNSOrganisation. Davon wird speziell die Werkzeugherstellung getroffen: Die besten Werkzeuge des Menschen, die Maschinen, verfertigt er als Erfindungen seines Gehirns. Für die Bedienung „vollautomatischer" Maschinen wird fast nur nodi das Gehirn benötigt; die Hände sind damit vom absoluten zum „absolut überflüssigen Werkzeug" geworden, und das Schicksal des Menschen ist ihnen entzogen worden. Die „Handwerkmeister des menschlichen Glücks" sind arbeitslos geworden; das manufakturale Zeitalter und sein Denken sind zu Ende. Es war das Zeitalter, in dem Hegel in seinen Gedanken und seiner Auszeichnung des manuellen Wirkens noch ganz lebte: Bloßes Geschehen kennzeichnete ihm nur die Außenseite des Menschen. Geschehen charakterisiert audi die Verläufe der Natur, das Einschlagen des Blitzes etwa. (Daß der Geist ebenfalls, θύραθεν, also „wie ein nicht-weltlicher Blitz" gesandt, in die Natur einschlagen könnte, ist für Hegel konzeptuell undenkbar.) In dem, was mit ihm geschieht, erscheint der Mensch nicht; sein Verhalten ist nicht sein Wirken. Das Wesen des menschlichen Tuns besteht für Hegel darin, daß es einen besonderen Zweck zur Erscheinung bringt, der sich in diesem Prozeß notwendig gegen Anderes setzt. Zwecke setzen bedeutet jedoch, sie gegen Anderes durchsetzen. „Handeln und sich durchsetzen aber kann nur der Mensch . . ." (SW 14, 390) So sagt Hegel selbst, daß das Handeln, das Zwecksetzen betreibt, ontologisdies „aggredì" ist. Ist Handeln wirklich das Setzen von begrenzten Zwecken gegen andere und anderes, ergibt sich anscheinend keine sonstige Lösung.
Die wirkliche Erscheinung der Person in ihrem Werk Das Handeln, das von der Absicht der Veränderung der realen Besonderheiten getrieben wird, ist schon in seinen Voraussetzungen aggressiv : Erst die gelingende Formierung eines Werkes ergibt eine zu bewundernde Gestaltung; ihr geht immer die unterwerfende, prägende Gewaltanwendung voraus, und jeder Mißlingensfall eines solchen Prozesses bedeutet nur Zerstörung. Handeln ist zunächst immer das Um-sich-sdilagen des angeblichen oder zutreffenden Rechts des Charakters: „Die Handlung selbst ist diese Verkehrung des Gewußten in sein Gegenteil, das Sein, ist das Umschlagen des Rechts des Charakters und des Wissens in das Recht des Entgegengesetzten . . . " (Phän 514) Die Übertragung der Vielfalt des Charakters aus der Subjektivität in das objektive Werk hebt an ihm selbst die Verteilung in die Zufälligkeit auf; seine objektive Verwirklichung vereinigt seine Besonderheiten und negiert sie ins Werk eines einheitlichen Resultates. So lösen seine bestehenden Widersprüche sich nicht in subjektive Manierismen, sondern in die Gediegenheit eines selbständigen Inhalts auf. Indem der Mensch die Besonderheiten seines Charakters nur in sich aufeinander bezieht, bleibt ihre Beziehung eine unmittelbare, die in keine Einheit umschlägt; indem er sie in einem Werke hinaussetzt, eint er sie, da er sie in der Planung einer Idee zu-
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sammenbringt. So können sie ein Anderes füreinander bleiben, was sie voneinander unterscheidbar hält; sie sind aber in einem Dritten geeint, also miteinander vermittelt. Allerdings ist die Erzeugung der ideellen Harmonie im Werk für das Subjekt nidit nur der Gewinn seiner objektiven Wirklichkeit, sondern ebenso für es selbst Entfremdung und Entäußerung: „Dies Tun und Werden aber, wodurch die Substanz wirklich wird, ist die Entfremdung der Persönlichkeit, denn das unmittelbar d. h. ohne Entfremdung an und für sidi geltende Selbst ist ohne Substanz und das Spiel jener tobenden Elemente; seine Substanz ist also seine Entäußerung selbst, und die Entäußerung ist die Substanz, oder die zu einer Welt sich ordnenden und sich dadurch erhaltenden geistigen Mächte." (Phän 348) Der Verzicht auf sich in der Durchführung seiner Entäußerung bringt das subjektive Bewußtsein in die Wirklichkeit der Welt; in ihr stehen sich Realität und Bewußtsein nicht ohne Bezug einander gegenüber, sondern in der Vermittlung des vollendeten Werkes. In der Wirklichkeit sind Bewußtsein und Realität im Werk eins geworden. So macht sidi das Individuum als der Inbegriff seiner Werke zur wirklichen Person in der Welt; u. z. als die Idee der Reihe seiner Werke, nicht als die vollständige Reihe seiner Werke, wie Michelet meint, (vgl. Michelet 1840, 533) In einer Reihe befinden sich auch mehr oder minder zufällige Glieder; die Person aber ist der erscheinende Geist ihres gesamten Werkes, aus dem Beliebiges untergehen kann. Der Hermes ist die Fülle der Werke des Praxiteles in einem einzigen ; und Schubert bleibt wirklich der, der er war, auch wenn die Gasteiner Symphonie nie mehr gefunden wird. Das Werk des Menschen ist die objektivierte Bestimmtheit, in der er sich sichtbar macht und erscheint. Im aktuellen Tun des Menschen kann es letztlich noch nicht zu seiner Erscheinung kommen, weil die Bestimmtheit hier nur als tätige, flüchtige, nicht als getane, belegbare ist. Die bestehenden Bestimmtheiten der Werke können verglichen werden; die Merkmale des Tuns existieren so lange nicht. Im Werk erst erscheinen die individuellen Erzeugnisse der Personen als wirklich unterscheidbare. In höchster Realität trifft diese Kennzeichnung auf den Künstler zu: „Was der Substanz angehört, gab der Künstler ganz seinem Werke mit, sich selbst aber als einer bestimmten Individualität in seinem Werke keine Wirklichkeit: er konnte ihm die Vollendung nur dadurch erteilen, daß er seiner Besonderheit sidi entäußerte und zur Abstraktion des reinen Tuns sich entkörperte und steigerte." (Phän 494 f.) So ist nach Hegel die Erscheinung der menschlichen Person nidit in der Form ihres Schädels oder in ihren Gesichtszügen zu suchen, auch nicht in ihren Mienen oder ihrem Gebärdensystem, sondern in dem Werk, das sie mit Mund und Hand aus sich entläßt. Die wirkliche Erscheinung des Menschen besteht in dem, was sein Mund spricht und seine Hand schafft; nur durch sie und vermittels ihrer tritt die Innerlichkeit hervor. Das absolute Werkzeug ist die Hand; sie ist dem Mund überlegen, denn sie entäußert fort und fort belegbare Wirklichkeit. Durch die H a n d wird die Negativität des Begriffs der Persönlichkeit individuelle Realität. Die wirkliche Erscheinung der Person besteht also in der Veränderung
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der Welt und der Dinge. Hegels Ansatz, das Sein des Menschen in seinem Tun zu sudien, läßt keine andere Wahl. - Der Ansatz der erfahrungswissenschaftlidien Psychologie kann diese Konsequenzen nicht übernehmen; hier wird beobachtet, daß der Mensch sich verhält, „reagiert", „handelt" und - ist. „Persönlichkeit ist etwas und tut etwas. Sie ist nicht synonym mit Verhalten oder Tätigkeit . . . Sie ist, was hinter besonderen Handlungen und in dem Menschen liegt." (Allport 1959, 49 f.) Phänomenographisch ist das Redit des Verstandes und der kritischen Erfahrung auf Allports Seite: Die Erscheinung des menschlichen Verhaltens und Handelns verweist darauf, daß der Mensch nicht nur wirkt, sondern auch — ist. Wenn der Mensch er selbst sein kann, hat dies - im Sinne Hegels vielleicht seine Leistung vollbracht; vielleicht hat ihn aber auch ein glückliches Schicksal dahin getragen.
§ 23 D a s Gebot der Unverborgenheit Die Überwindung der Innerlichkeit Der absolut gemachte Begriff ist die Idee; er enthält das Gesetztsein seines Ansich für sich, und er weiß, daß das Ansich er selbst als ungesetzter war; als gesetzter ist er das Wissen seiner selbst und seines Gegenstandes als desselben. „Was nicht vernünftig ist, hat keine Wahrheit, oder was nicht begriffen ist, ist nicht; indem also die Vernunft von einem Andern spridit, als sie ist, spricht sie in der Tat nur von sich selbst; sie tritt darin nicht aus sich heraus." (Phän 389) Die Aufgabe des Denkens ist es also, den objektiven Begriff der Dinge als Produkt seines eigenen Tuns zu erweisen und sich selbst als den Prozeß zu erkennen, der den Dingen auflösend entgegentritt und sie zu Gedankendingen macht. Wenn in der zugehörigen Durchführung das Denken vom Mittel zum Gegenstand seiner selbst wird und wenn entsprechend auch der Gegenstand zum Gedanken wird, ist die Behauptung einer absoluten Transparenz aufgestellt: Das Tun des Denkens wird zum Gedanken, der alle Gegenständlichkeit durdidringt, weil er alles ist. „ I n s o f e r n . . . das subjektive Denken unser eigenstes, innerlichstes Tun ist, und der objektive Begriff der Dinge die Sache selbst ausmacht, so können wir aus jenem Tun nicht heraus sein, nicht über demselben stehen, und ebensowenig können wir über die Natur der Dinge hinaus." (L 1, 14 f.) Das Denken ist nicht eine Form, die das Bewußtsein den gegenständlichen Inhalten zwar unumgänglich, aber in einer Art unbeteiligter Herausgabe anheftet, sondern als Gedanke ist es der begriffene Inhalt selbst. Subjektiv ist der Gedanke nur als ein Denken, das das innerlichste Tun des Subjekts ist, das aber, indem es gleichrangig objektiver Gedanke ist, die äußerlidiste Sache ist, an der nichts unverborgen bleiben kann. Das Denken als Tun schlägt so notwendig in seine bedingungslos offenbare Erscheinung um. Das denkende Tun aber bringt in Hegels Gesamttheorie auch den Ubergang von der Person-
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lidikeit zur wirklidien Person hervor, an der also ebenfalls nichts unverborgen bleiben dürfte. Die Summe der Erfahrungen des subjektiven Individuums, sowohl der aktiven als auch der passiven, besteht in seinem Tun; dies darf nidit als die quersdinittliche Belichtung einer momentanen Anstrengung aufgefaßt -werden, sondern es ist das „Getan-haben" in der offenbaren Reihe der Werke. „Was es ((das Individuum)) sei, das es tut und ihm widerfährt, dies hat es getan, und ist es selbst; es kann nur das Bewußtsein des reinen Obersetzens seiner selbst aus der Nadit der Möglichkeit in den Tag der Gegenwart, des abstrakten Ansici in die Bedeutung des wirklidien Seins, und die Gewißheit haben, daß, was in diesem ihm vorkommt, nichts anders ist, als was in jener schlief." (Phän 290) So stehen sich auch im personalen Individuum prinzipiell Möglichkeit und Wirklichkeit, Nacht und Tag, Verborgenheit und Erscheinung, Ansich und Fürsich gegenüber. Gemeinhin bezeichnet man den Weg von dem ersten in den zweiten Zustand als Entwicklung. Die Möglichkeit des Menschen besteht in seinen Anlagen oder Vermögen, seine Wirklichkeit in ihrem Gesetztsein für ihn. Dieses ihr Gesetztsein für ihn ist seine primäre Offenbarkeit und Erscheinung. „Wir sagen: der Mensch ist vernünftig, hat Vernunft von Natur; so hat er sie nur in der Anlage, im Keime. Der Mensch hat Vernunft, Verstand, Phantasie, Wille, wie er geboren, selbst im Mutterleibe. Das Kind ist auch ein Mensch, es hat aber nur das Vermögen, die reale Möglichkeit der V e r n u n f t ; . . . es vermag noch nichts Vernünftiges zu tun, hat kein vernünftiges Bewußtsein. Erst indem was der Mensch so an sich ist, für ihn wird, - also die Vernunft für sich: hat dann der Mensch Wirklichkeit nach irgend einer Seite, - ist wirklidi vernünftig, und nun für die Vernunft." (SW 17, 49 f.) Die bloße Überführung der Anlagen in Fertigkeiten verändert ihr Ansich nicht. Deshalb kommt der Mensch durch diese Veränderungen allein nicht weiter; er macht sich durch diese Verwandlungen audi nicht reidier an Inhalten. Aber er wird reicher an Form, wenn er die „unfruchtbare Abstraktion der Innerlichkeit" (vgl. SW 20, 157) überwindet. Deshalb ergeben diese Veränderungen der Form, die Überführungen des An-sich der Fähigkeiten in das Für-sich der gehandhabten Fertigkeiten, einen bedeutenden Unterschied: In ihnen vollzieht sich eine Veräußerung und Objektivierung des bis dahin bloß Innerlichen: »Alles Erkennen, Lernen, Wissenschaft, selbst Handeln beabsichtigt weiter nichts, als das was innerlich, an sich ist, aus sich heraus zu ziehen, und sidi gegenständlich zu werden." (SW 17, 50) Die Absicht des subjektiven Geistes besteht darin, daß er erscheinen will; sein Zweck ist die Unverborgenheit. Durch seine Verwirklichung tritt er offen in die freie Existenz, die er bis dahin nur an sich selbst hatte. Seine Selbstentwicklung erbringt andere Resultate als die Entwicklung der natürlichen Dinge. Bei ihnen besteht eine zeitliche Differenz zwischen Ansich und Erscheinung: Der Keim und seine Frucht existieren nicht gleichzeitig, sondern nacheinander. Ansich und Erscheinung treten hier in eine auf- und zurückgehende Reihe. Im
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Geiste bewegen sie sich dagegen im Ergebnis in eins zusammen. Das Ansidi einer Anlage eines Menschen tritt an ihm selbst audi für sie hervor: Die Anlage erfaßt sich wieder in der ausgebildeten Ersdieinung ihrer Fertigkeit. So wird der Mensch durch und durch für sich selbst; die Aufgabe dieser Zentrierung muß er in der Weise erfüllen, daß er nicht in Besonderheiten fällt, sondern seine Wirklichkeit sucht, in der er allgemein werden kann. Immerhin führt der Weg in diese Wirklichkeit zunächst stets über die Selbstentzweiung: Fertigkeiten fallen nicht als vollendete aus dem Geiste heraus, sondern sie vergeben sich in ihrer Selbstentwicklung in natürliche Medien, in die hinein sie sich bilden und die sie durch ihre Formierung überwinden: Die Fähigkeit des analytischen Denkens beispielsweise offenbart sich als Fertigkeit in der sicheren Zergliederung von Problemen; reproduktiv-mechanische Gewandtheit unterwirft Dinge einer Behandlungsgewohnheit usw. Der arbeitende Geist legt so seine Anlagen in die Schranken der endlichen Welt hinein; die Zurücknahme der Inhalte dieser Tätigkeit ist die Bildung des Geistes, die ihm so aus seiner Arbeit hervorgeht. Durch die Aufhebung der Entzweiung in die Bildung und das Wissen arbeitet der Geist also die Natürlichkeit seiner Anlagen, ihre Naturvielfalt, ab und setzt sie in die durchscheinende Form der Allgemeinheit. „Auf diese Weise nur ist der Geist in dieser Äußerlichkeit als solcher einheimisch und bei sich. Seine Freiheit hat so in derselben ein Dasein, und er wird in diesem seiner Bestimmung zur Freiheit an sich fremden Elemente für sich, hat es nur mit solchem zu tun, dem sein Siegel aufgedrückt und von ihm produziert ist." (SW 7, 267)
Das offene Handeln und die List Die Überführung der Möglichkeit in die Wirklichkeit ist identisch mit dem Erscheinen der Wahrheit. Im personalen Individuum ist diese Wahrheit konkret als die Einheit der wesentlichen Bestimmungen seines Fürsichseins. Diese Einheit muß sich entwickeln; die Offenbarkeit der Person benutzt so die Form der Sukzession. Der Zweck der Reifung und Entwicklung der Person ist ihre Wirklichkeit: Was nicht erscheint, ist auch nicht wirklich; die Kraft ist nidits anderes als die Summe ihrer Äußerungen, der Geist nichts außerhalb seiner Werke. Das Höchste und Trefflidiste ist das Ausgesprochene, nicht das Unausgesprochene; das Unaussprechliche ist gar nichts. Die Tiefe liegt im Werk, nicht im Dichter. „ . . . seine Werke sind das Beste des Künstlers und das Wahre; was er ist, das ist er, was aber nur im Innern bleibt, das ist er nicht." (SW 12, 390) Von dem, was sich nicht in einem Werk ausdrückt, kann immer gesagt werden, daß es noch nicht wirklicher Geist ist; es gehört der Möglichkeit und der Nadit an; der Geist ist wirklich, weil das Werk eine Sache des Tages ist. „Das Geistige aber manifestiert sich und reinigt sich, indem es selber seine Außenform bestimmt von der Willkür der Phantasie, der Verschwemmung der Gestalten und dem anderweitigen trüben symbolischen Beiwesen." (SW 13, 55) Gesin-
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nung und Absicht, Wunsch und Schau sind irreal und irrational, solange sie sich nicht in Tat oder Werk darstellen und ausweisen. Die psychologische Ausgangsfeststellung des Verstandes, der einen Unterschied zwischen der Innerlichkeit des Menschen und der Äußerlichkeit seiner Taten ansetzt, verwirft Hegel von Grund auf; er muß es tun, wenn der Mensch die Reihe seiner Taten und Werke sein soll. Abweichungen von diesem Tenor läßt Hegel nur für Kleindetails gelten: Die Innerlichkeit des Menschen kann so einerseits nichts grundlegend anderes sein als seine Erscheinung im Werk und in der Tat; die Äußerlichkeit des Menschen kann andererseits nicht einer völlig verstellten Innerlichkeit entsprechen; der Mensch kann sich nicht wesentlich anders geben, als er ist. „Es kann freilich im Einzelnen vorkommen, daß der Mensch sich verstellt; das ist aber ganz etwas Partielles. Das Wahre ist, daß das Äußere von dem Innern nicht verschieden ist." (Vern 66) Im Gesamt der Hegeischen Theorie muß diese Konsequenz gezogen werden. Ein Mensch, der sich verstellt, ist ζ. B. in seinen Absichten mißgünstiger, als es sein Auftreten anzeigt; er hat sich zur Beachtung seiner Besonderheiten gegen das Wohl der Andern entschlossen, d. h. er handelt böse und macht sich dadurch zum Besonderen. Die Verstellung ist nur ein Teil der Besonderung. N u r wer einen Grund hat, sich von der Gemeinschaft entfernen zu wollen, hat einen Grund zur Verstellung. Die ontologisdie Bedingung der Verstellung ist die Differenz zwischen Absicht und Handlung: Wer sich verstellt, tut dies, um nicht entdeckt zu werden. Die Verstellung ist ein aktueller Ausdruck aus Furcht vor den Handlungsfolgen in der Zukunft; sie ist das ins Gegenteil verkehrte Voraus einer Handlung und ohne Rechtfertigung im Werk. Der reguläre Ausdruck ist das Hinterher einer Tat, ihr Reflektiertsein auf den Täter und ein Niederschlag an ihm, der ihr gerechter Abdruck ist. In den Mienen eines Gesichtes erscheint so die unverborgene Identität zwischen Absicht und Tat. Das wirklich offene H a n deln bedarf keiner Verstellung; es kann listig sein, ohne pfiffig werden zu müssen. „List ist etwas Anderes als Pfiffigkeit. Das offenste Handeln ist die größte List (wir müssen sie in ihrer Wahrheit nehmen), nämlich: durch seine Offenheit bringt er das Andre zum Tage, daß es an und für sich sich zeigt, eben darin sich selbst vernichtet: [List ist] das große Betragen, die Andern nötigen, zu sein, wie sie an und für sich s i n d . . . " (JR 199) Die Offenheit der List besteht also gerade darin, die Identität eines substantiellen Zieles zu verfolgen und andere zur Bejahung dieses Zieles zu bringen und damit auch ihren Absichten und ihrem Handeln zur Identität zu verhelfen. (Mit dieser Listtheorie lassen sich allerdings immer auch sog. „objektive Interessen" rechtfertigen und verfolgen.) Weil die Entwicklung der menschlichen Person die Selbstverwirklichung des Begriffs ist und der Begriff wirklich nur als Idee ist, kann die Person nicht als Entwicklung, sondern nur als entwickeltes Resultat wirklich sein; ein Resultat aber kann nur als erschienenes bestehen. Deswegen ist das noch nicht manifeste bloße Wollen ebensowenig wert wie die innerliche gute Absicht. „In magnis voluisse sat est hat den richtigen Sinn, daß man etwas Großes wollen solle,
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aber man muß auch das Große ausführen können: sonst ist es ein nichtiges Wollen. Die Lorbeeren des bloßen Wollens sind trockene Blätter, die niemals gegrünt haben." (SW 7, 184) Das reine Wollen ist ein so nichtiger Vorgang, daß es sich im nachhinein nicht einmal als gewesen beweisen kann. Die Absicht des Wollens kann nur das offenbar gewordene Ergebnis demonstrieren, in dem die vorgängigen Intentionen aufgehoben sind; in die Welt gebracht aber wird das Wollen durch die Handlung bzw. die Tat, in die der beabsichtigte Plan eingeht. „Die Handlung ist die klarste Enthüllung des Individuums, seiner Gesinnung sowohl, als auch seiner Zwecke; was der Mensdi im innersten Grunde ist, bringt sich erst durch sein Handeln zur W i r k l i c h k e i t . . ( S W 12, 297)
Die unvollendbare Erscheinung der Totalität der Person Wenn das menschliche Individuum sich verwirklichen will - und das soll es - , muß es sich unverborgen madien. In diesem Vorgang entstehen zwei Schwierigkeiten. Erstens ist ein Individuum, das seine Wirklichkeit nur in seiner Tat und seinem von ihm geschaffenen Werk gewinnt, aus ontologischer Begründung heraus aggressiv und gierig: Seine Geltung entsteht aus der Formierung desjenigen Materials, das es für sich in Beschlag nimmt und das als Subsistenzoder Bearbeitungsgrundlage anderen nicht mehr zur Verfügung steht, obwohl sie es vielleicht dringender benötigten. Mit diesem für sie bitteren Entzug ist es jedoch nicht genug; die Benachteiligten müssen obendrein denjenigen bewundern, der dieses Material für seine Zwecke an sich zog, denn vernünftige Wirklichkeit muß ausnahmslos anerkannt werden. Die Wirklichkeit der Person besteht aber in ihrer Präsenz im von ihr geschaffenen Werk; eine Person kann nicht anders als in ihrer Tat oder ihrem Werk anerkannt werden. Und es ergibt sich in Hegels Theorie nun einmal die Forderung: Die Menschen sollen einander anerkennen können. Als die Konsequenz dieser Forderung resultiert die allgemeine Konkurrenz aller mit allen um die Anerkennung ihrer Werke und Taten. Die Gleichsetzung der Wirklichkeit der Person mit ihrer erschienenen Leistung und ihren Produkten bedingt dieses „bellum omnium" um die Respektierung in der sichtbaren Welt. Aus dem blutigen Kampf der Fäuste des Naturzustandes ist damit der unblutige in der Stellvertretung durch die Werke geworden. Jener war direkt, aber auf seine natürliche Dauer beschränkt; dieser ist indirekt, aber ohne die Hoffnung eines Endes. Die zweite Schwierigkeit entsteht in der Durchführung des Entwicklungsauftrages selbst: Die Wirklichkeit des Menschen soll nur in seinem Werk und in seinen Taten bestehen. Welche Vorgänge im Leben der Menschen sind aber als Taten aufzufassen? Gibt es nidit einen elementaren Unterschied zwischen spontanen Taten und reaktiven Verhaltensweisen? Auch Hegel anerkennt den Unterschied zwischen Handlungen und Begebenheiten, bzw. zwischen Handeln und Verhalten, wie die neuere Terminologie lautet. Da für ihn der Geist aber immer auf dem Wege zur Freiheit ist, hat dieser Unterschied nur deskriptive,
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nicht ontologische Bedeutung. Daß „Begebenheit" bzw. „Verhalten" audi eine Abwesenheit der Freiheit bezeichnen könnte, wird in Hegels Theorie nicht gedacht. Insofern sind Handlungen und Begebenheiten noch „in sich ein organisches Ganzes ". (vgl. SW 12, 205) Die Differenz zwischen Handeln aus Freiheit und Verhalten als einem Zustand möglicher Unfreiheit gibt es f ü r Hegel noch nicht. In Berücksichtigung der tatsächlichen Zustände bei den Menschen in der Welt anerkennt Hegel aber, daß ihr Inneres oft nicht zur Verwirklichung heraustritt. „Was erscheint, ist nur eine reale Totalität, deren innerlichst zusammengefaßte Belebung aber als innre zurückbleibt." (SW 12, 205) Diese Feststellung wirkt wie eine außerordentliche Konzession. Sie scheint zunächst im Widerspruch zur gesamten Theorie zu stehen, denn sie besagt, daß das seelisdie und geistige Prinzip im Menschen, „die innerlichst zusammengefaßte Belebung", die also den Geist als „Werkmeister" bezeichnet, gegenüber dem Werk und der Tat, der „realen Totalität", der Erscheinungshöhe bzw. -deutlichkeit nach zurückbleibt. Zwischen dem Gebot der Unverborgenheit und seiner tatsächlichen Durchführbarkeit entsteht damit eine Lücke: „Das geistige Individuum ist eine Totalität in sich, zusammengehalten durch einen geistigen Mittelpunkt. In seiner unmittelbaren Wirklichkeit erscheint es in Leben, Tun, Lassen, Wünschen und Treiben nur fragmentarisch, und doch ist sein Charakter nur aus der ganzen Reihe seiner Handlungen, seines Leidens zu erkennen. In dieser Reihe, welche seine Realität ausmacht, ist der konzentrierte Einheitspunkt nicht als zusammenfassendes Zentrum sichtbar und erfaßbar." (SW 12, 205) Die damit von Hegel konzedierte Differenz zwischen dem nicht erscheinenden Kern des personalen Individuums und seiner Außenseite bezeichnet in Wirklichkeit aber keine systematische Lücke, sondern sie ist eine Konsequenz des theoretischen Ansatzes: Die Aufgabe des Begriffs in der Welt ist es, die Realität zu sich heimzuholen, um dann mit ihr als die Vereinigung der Idee zu sein. In dieser angestrebten Weise kann das personale Individuum aber nie Idee werden, denn es vermag den Fall seiner Lebendigkeit, „dies Moment aus der Naturphilosophie", nicht abzugeben, ohne sich aufzulösen. Die vollendete Besetzung ihrer äußerlichen Lebendigkeit ist der Persönlichkeit nicht möglich; es ist ihr verwehrt, sich ganz in das existierende Individuum hinauszusetzen; sie belebt es nur insofern, als es etwas anderes ist als seiende Natürlichkeit, nämlich wirkender Wille, der den Ubergang in Taten und Werke ausführt und in seiner geprägten Eigentümlichkeit - als Charakter - nur in seiner belegbaren Entwicklung auftritt und nachweisbar ist. Der Charakter ist erkennbar nur als seine Geschichte. Diese Auffassung ist ein Vorläufer der lebensgeschichtlichen Persönlichkeitstheorie, wie sie heute besonders von Thomae vertreten wird. Ihr zufolge macht der Lebenslauf in all seinen Bezügen zur Welt die Individualität der Persönlichkeit aus. (vgl. Thomae 1968, 105 ff.) In dieser modernen Fassung sind freilich alle ontologischen Probleme ausgeklammert. Unter dieser Voraussetzung stimmt sie mit der von Hegel vertretenen These überein, daß der Charakter der Person nicht in einer
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Formel oder einem Gedanken wiedergegeben werden kann, sondern nur an einer Reihe von Einlassungsgestalten - „Werken" - ablesbar ist. Die weiteren hierhin gehörigen Überlegungen führten in den modernen Konzeptionen zur Unterscheidung zwischen der längsschnittlich beschreibbaren Außeneinheit der Person und dem limitativen Konstrukt der Inneneinheit „Persönlichkeit", (vgl. Herrmann 1969, 61 ff.) Die Vollendung des aus dem Theorieansatz Hegels entstehenden Gebotes, daß die Person erscheinen soll, ist theoriekonsequent nidit möglich, weil die Persönlichkeit nicht weltliche Besonderheit werden kann, sondern die Natur zu sich heimholen soll. Diesen Auftrag kann der Begriff gegenüber dem natürlichen „Fall" des seienden Individuums nicht zu Ende bringen. Deshalb ist der „konzentrierte Einheitspunkt als zusammenfassendes Zentrum der Person" weder im einzelnen Tun erkennbar, noch ist die zusammengefaßte Reihe allen Tuns und aller Erfahrungen, der Charakter des lebendigen Individuums, mit dem Zentrum der Person identisch. Dieser Einheitspunkt, die Persönlichkeit, ist etwas nicht Erscheinendes jenseits des erscheinenden Charakters. Die Person hat den uneingeschränkten Auftrag, sich in ihrer offenbaren Erscheinung zur Geltung zu bringen. Dieser Auftrag ist aus ontologisdier Begründung heraus unvollendbar. Weil auf die Herstellung der Identität des Begriffes und der Realität aber nicht verziditet werden kann, ist eine Entpflichtung der Person von ihrem Auftrag nicht möglich. Damit liegt ein unabschließbares Geschäft vor ihr, dem sie ihre Möglichkeiten ausnahmslos widmen soll.
§ 24 D e r Z w a n g des Wirkens a) Der Zweck des Tuns Die Tätigkeit als Wesen des Geistes Als die Hauptbegriffe der Hegelsdien Philosophie sind Geist, Begriff und Idee anzusehen. In den metaphysischen und den idealistischen Denkweisen hatten diese Begriffe immer schon eine vorrangige Rolle gespielt. Hegels Deutung bringt sie aber zum erstenmal auf eine spezifische Gleichheit, indem sie prattoanalog als arbeitende verstanden werden: Die Idee ist unendliches Wirken, der Geist ist tätig, der Begriff ist Tun. Dabei ist auch für diese Position durchaus klar, daß diese Begriffe im Denken des alltäglichen Verständnisses nicht arbeiten können. Auch Hegel selbst kann nicht unterstellt werden, daß er angenommen habe, der Geist arbeite offen und förmlich wie ein H a n d werker. Andererseits hat Hegel einen entsprechenden Sprachgebraudi nicht für illegitim oder metaphorisch gehalten, sondern er ging davon aus, daß sich unter der Vorstellung des arbeitenden Geistes zwei Typen einander nähern: Die uni-
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versale Lebendigkeit des schaffenden Geistes enthält den Menschen als eine Möglichkeit in sich; der Geist ist das allgemeine Schaffen, der Mensch ein spezifischer Fall dieses Schaffens. Da der Mensch aber seine eigene Sprache und nicht unmittelbar die des Geistes spricht, muß er versuchen, in entdeckender Vermittlung mit seinen Möglichkeiten den Geist zu erreichen. Es handelt sich nach Hegel in einem solchen Verfahren nicht um eine anthropozentrische Projektion, weil der Weg vom Menschen zum Geist vermittelnde regressive Analyse, nämlich zum Allgemeinen und Bedingenden ist. Gegen diese idealistische Annahme wandte sich bald die Philosophie der sogenannten Hegeischen linken Schule und besonders dramatisch L. Feuerbach. In einem ausführlichen Versuch des Nachweises idealistischer Projektion wurde von ihm eine Kritik der Hegeischen Philosophie begonnen. Einer der bekanntesten Gedanken Feuerbachs lautete dahin, daß der Mensch nach seinem Bilde Gott (und Geist) erschaffe. Es war nur konsequent, wenn Feuerbach mit dieser These auch eine „Entlarvung" der Hegeischen Philosophie versuchte: Hegel bemühe sich zwar, den Menschen aus dem Inbegriff des Geistes heraus darzustellen; in Wahrheit habe er aber gar nicht bemerkt, daß er nur Projektionen jongliere. Er habe menschliche Inhalte und menschliche Formen auf ein imaginäres Konstrukt hin entworfen. Der reduzierte Umkehrungsversuch Marx' und Engels', der Hegels Lehre erst „auf die Füße" stellen wollte, verwarf weitgehend die Inhalte dieser Philosophie wegen ihrer Idealität, übernahm aber ebenso weitgehend ihre Formen, u. z. die logischen Formen, z. B. die Dialektik, und die subjektiven Formen, z. B. die Arbeit. Der in dieser Weise restringierte Rest der Hegelsdien Philosophie wurde dann einer neuen Verwendung zugeführt, in der er als Begründungsverfahren erhalten blieb. Auch in diesem Jahrhundert wurde die anthropologische Hegeldeutung fortgesetzt. So versuchte beispielsweise Kojève die Hegeische Theorie als eine Anthropologie aufzufassen, die auf einer nachdrücklichen Interpretation der Arbeit beruhe, (vgl. Kojève 1947) Für die Durchführung des Hegeischen Systems kann Kojève durchaus recht gegeben werden; doch muß man nicht der Auffassung sein, daß die Reduktion auf das Wirken für die Erreichung seines Zieles unbedingt nötig gewesen wäre. Hegels Philosophie lebt nur von einer einzigen für sie wirklichen Differenz, der zwischen Begriff und Idee. Die Idee, das anzustrebende Ziel, ist das Gesetztsein der Bestimmungen des Begriffs in seinem Fürsichsein. (vgl. SW 7, 62; Enz 196) Zur Verwirklichung eines solchen Zieles ist aber, wenn man von der Hegeischen Durchführung einmal absieht, durchaus kein Tätigkeitsmodell erforderlich, so ungewohnt diese Feststellung sich auch anhören mag. Die Idee des Geistes ist an diejenige Form seiner Wirklichkeit gebunden, in der er sich vollendet weiß. Dieses Sichwissen des Geistes ist prinzipiell auch in Modellen einer passiven Genesis erreichbar, so sehr eine solche Vorstellung auch einer Gewöhnung, die Theorie und Praxis identifiziert, widersprechen mag. Wenn man aber Modelle sucht, in denen eine passive Genesis
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der selbstbewußten Identität konzipiert wurde, denke man beispielsweise an die „fractional antedating goal-responses" und ihre reflexiven Integrationswirkungen in Hulls System (vgl. Hull 1952), an die situative Motivationsveränderung in Lewins Feldtheorie (vgl. Lewin 1963), an die doppelte Intentionalität des passiven Bewußtseinsstromes in Husserls System (vgl. Husserl 1928) usw. usw. Die Möglichkeit, den Geist nicht nur als einen arbeitenden aufzufassen, ist auch Hegel nicht verborgen geblieben; diese Perspektive wurde aber nachdrücklich beiseite geschoben und herabgesetzt. „Sagt man . . ., der Geist ist, so hat das zunächst den Sinn: er ist etwas Fertiges." (Vern 55) Dagegen ist festzustellen, daß aus einem bloßen Existenzurteil kein qualifizierendes oder Zustandsurteil erschlossen werden kann; das Existenzurteil „der Geist ist" darf hödistens dahingehend ausgelegt werden, daß der Geist nicht nur in einem Moment, sondern langzeitlich ist, daß er die Form eines Mitgehens mit seiner Zeit hat. Als solcher ist er aber gerade nicht abgeschlossen oder fertig. Man kann aus Hegels Feststellung entnehmen, wie antipathisdi ihm jede andere als eine prattoanaloge, also auch eine prozessuale Geist- oder Bewußtseinsdeutung, ist. In seiner Argumentation fährt Hegel fort: „Er ist aber etwas Tätiges." (loc. cit.) Dem kann man entgegenhalten: Wenn etwas den Charakter oder das Prädikat „a" real aufweisen soll, wenn man es etwa als „tätiges" bezeichnen können soll, hat dies zur Voraussetzung, daß es erst einmal Gegenstand eines Existenzurteils ist, in dem festgestellt wird, daß es ist. Über den Geist müßte man entsprechend urteilen können: „der Geist ist u. z. ist er ein tätiger". Um dieser Konsequenz zu entgehen, setzt Hegel beim Geist Existenz, Sein, Wesen einerseits, Tun andererseits radikal als dasselbe: „Die Tätigkeit ist sein Wesen; er ist sein Produkt und so ist er sein Anfang und audi sein Ende." (loc. cit.) Strenggenommen dürfte man Hegel zufolge also nicht mehr sagen, daß der Geist irgendwie, z. B. als tätiger, ist, sondern nur, daß das Tun des Geistes ist; da dieses „ist" des Geistes aber nicht ein „ist" wie bei Dingen ist, sondern nur „tut", würde bei Hegel das konventionell-sprachliche Urteil „der Geist ist nur als tätiger" bedeuten „das Tun des Geistes tut". Mit dieser Deutung des Geistes als einer absolut aktualistischen Funktion entsteht jedoch das Problem der Zentrierung dieses Tuns, d. h. es ergibt sich die Frage, wie dieses reine Tun überhaupt die Form des Individuums gewinnen kann. Diese Schwierigkeit achtet Hegel gering. „Sich zu produzieren, sich zum Gegenstande seiner selbst zu machen, von sich zu wissen, ist das Geschäft des Geistes; so ist er für sich selber . . . Der Geist produziert, realisiert sich nach seinem Wissen von sich; er wirkt, daß das, was er von sich weiß, auch realisiert werde." (loc. cit.) Wenn es somit heißt, daß der Geist „produziert" und ein „Geschäft" betreibt, so tritt zur universalen prattoanalogen Vorstellung ein merkantiles Derivat hinzu; eine der erfolgreichen Betätigungsformen der Neuzeit findet sich in Übertragung im Geiste wieder ein. Auch sie wird benutzt, um dem Geist zur Realität zu verhelfen, um seine Subjektivität zu seinen ihm
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wieder zur Verfügung stehenden Prädikaten zu madien, damit er von diesen aus sich in seinen funktionierenden Zentren wiedererkennt. Die Differenz zwischen den Phänomenen des Bewußtseins und seiner Aufgabe Die Selbstbestätigung des Geistes in Produktion und Geschäft ist gebunden an Regeln, die den für diese Vorgänge erforderlichen Konflikt einerseits zulassen, andererseits beschränken. Die entsprechende Domestizierung wird in Hegels Theorie durch die Vorstellung einer nur begrenzten Dissoziation des Geistes auf allen seinen Wegen erreicht. „Denn der Begriff des Geistes als wahrhafter Totalität ist . . . an sich nur dies, sich zu trennen, in sich als Objektivität und in sich als Subjekt, um sich durch diesen Gegensatz aus der Natur herzukommen und sodann als Überwinder und Macht derselben frei und heiter gegen sie zu sein. Dies Hauptmoment im Wesen des Geistes selbst ist daher auch ein Hauptmoment in der Vorstellung, welche er von sich selber gibt." (SW 13, 53 f.) Das Verfahren des Geistes gegen die Natur hat somit die Sicherheit des Ausganges zugunsten des Geistes und gegen die Natur von vornherein für sich. Die Natur hat dieses Spiel von Anfang an so verloren wie Mephisto seine Bemühungen um Faust. Der Konflikt zwischen Natur und Geist wird also nicht radikal ernst und mit ungewissem Ausgang gedacht, sondern er dient der Bereicherung des Geistes; er ist für ihn ein Turnier mit Lerngewinn. Der Geist führt nur das zu einem Ergebnis, was schon in seinem Entschluß liegt, was er als das Seinige anerkennt und weiß, noch ehe es ausgeführt ist; in ihm ist die Tat ein Ergebnis der Handlung, und das Ausgeführte, was es auch sei, ist ein Resultat seiner Selbstentwicklung. „Der Geist handelt wesentlich, er macht sich zu dem, was er an sich ist, zu seiner Tat, zu seinem Werk; so wird er sich Gegenstand, so hat er sich als ein Dasein vor sidi." (SW 11,113) Der Entwurf des Ganzen ist im Geiste, der als Inbegriff, nicht als gegliederte, reale Komplexität aufgefaßt wird, anfänglich aber nicht für ihn als Bewußtsein oder gewußt vorhanden, sondern erst an sich. Für den Geist als Bewußtsein ist dieser Entwurf erst einsichtig, wenn er ihn ausgeführt hat. Das Bewußtsein soll und kann also in seiner Entwicklung - u. z. ohne Plankenntnis nur erarbeiten, was es an sich schon ist. Es wird in Hegels Theorie nicht im mindesten daran gezweifelt, daß die Entwicklung des Geistes unbeirrbar ihren immanenten Notwendigkeiten folgt. Wenn man die teleologischen Schwierigkeiten dieser Ansicht einmal nicht thematisiert, liegt eine andere Merkwürdigkeit der Konzeption darin, daß für den angeblich sicheren und vorgezeichneten Entwicklungsweg vom Ansich zum Fürsich kein Entfaltungsmodell, sondern ein Erarbeitungsmodell angesetzt wird. Es ist durchaus nidit einsichtig, warum dieser Weg einer notwendig genannten Entwicklung über die Arbeit führen muß. Wenn eine Substanz, ζ. B. der Geist, wirklich Inhalt und Plan ihrer Entwicklung enthält, kann sie ihren Endzustand in einfachster Weise durch Reifung gewinnen. Die Annahme der Notwendigkeit der Arbeit für den zuge-
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hörigen Entwicklungsweg stellt eine unnötige Komplizierung dar, die als überflüssige aber im Hegelsdien Sinne eine - besondere ist; es sei denn, die Substanz enthielte ihren Entwicklungsplan eben doch nicht. Auf dieser Annahme besteht Hegel jedoch mit Nachdruck: daß der Geist seinen vollen Plan und damit den Inhalt des Bewußtseins an sidi enthalte. Das Bewußtsein verfügt später über Tatsachen, Erfahrungen usw., die aber nur für es, nidit für den Geist in ihm, Primärvorgänge sein können. Für den Geist sind diese Inhalte nicht aufgenommen oder unmittelbar, sondern immer schon seine Taten. „Wenn man daher von ,Tatsachen des Bewußtseins' spricht, die für den Geist das Erste wären und ein Unvermitteltes, bloß Gegebenes für ihn bleiben müßten; so ist darüber zu bemerken, daß sich auf dem Standpunkte des Bewußtseins allerdings vieles solches Gegebene findet, - daß aber der freie Geist diese Tatsachen nicht als ihm gegebene, selbstständige Sachen zu belassen, sondern als Taten des Geistes, - als einen durch ihn gesetzten Inhalt, - zu erweisen und somit zu erklären hat." (SW 10, 299 f.) Unter dem Primat des Geistes hat das Bewußtsein also den eindeutigen Auftrag, seine für es sich ergebenden Fakten, Erfahrungen und Tatsachen als Taten aus dem Ansich des Geistes zu erweisen. Das Bewußtsein muß demnach seine Inhalte und sich selbst als Produziertes erweisen. In der Abwicklung dieses Auftrags stößt das Bewußtsein auf viele Probleme, die die „Phänomenologie des Geistes" zu lösen versucht. Bezüglich seines Selbstverständnisses gerät das Bewußtsein in eine Kollision zwischen Logik und Evidenz: Seinem Auftrag zufolge müßte es sich selbst als Produziertes auffassen, u. z. nicht nur phänomeno-logisch, sondern audi phänomeno-graphisch; denn was das Bewußtsein ist, das soll es auch bewußt besitzen: seine Erlebnisse müßten also seiner Logik konform sein. Wenn das Bewußtsein also ontologisdi produziertes ist, müßte es sich entsprechend phänomenal audi als produziertes erscheinen. Die Erfahrungen des Bewußtseins widersprechen aber dieser Konsequenz; es erlebt sich in mannigfachen Modifikationen, aber nie als ein ontologisches Erzeugnis. In der „Philosophie des Geistes" geht Hegel auf diese Schwierigkeiten ein: „Da Idi für sich nur als formelle Identität ist, so ist die dialektische Bewegung des Begriffs, die Fortbestimmung des Bewußtseins ihm nicht als seine Tätigkeit, sondern sie ist an sich, und für dasselbe Veränderung des Objekts. Das Bewußtsein erscheint daher verschieden bestimmt nadi der Verschiedenheit des gegebenen Gegenstandes, und seine Fortbildung als eine Veränderung der Bestimmungen seines Objekts." (SW 10, 259) Hegel gibt also zu, daß das Bewußtsein sich selbst nicht als Werkstatt erlebt, daß es phänomenal sich nicht als einen sich formierenden Werkmeister auffaßt, sondern daß es sich als aus seinen Erfahrungen lernendes sieht, daß es seine psychologische oder phänomenale Situation einerseits nicht mit seiner ontologisdien oder transzendentalen Verfahrensweise andererseits verwechselt bzw. gleichsetzt: Das allgemeine Bewußtsein weiß nichts von seiner möglichen ontologischen Funktion; es versteht sich als auffassenden Pol, nicht als schaffendes Zentrum. Sein ontologisches Verhalten mißdeutet es nicht, weil es ihm nicht bekannt ist. Wird die
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Funktion des Bewußtseins dagegen zu ontologisdx-konstruktiven Zwecken analysiert, besteht die Gefahr, die Vorstellungen des ontologisdien Verfahrens, die f ü r die kategoriale Benutzung des Bewußtseins benötigt werden, auch für seine weltliche Erfahrungssphäre anzusetzen, mithin das erlebende Bewußtsein nicht nur als Konstruktion und Produkt eines ontologisdi vorgängigen Bewußtseins aufzufassen, sondern audi phänomenal als einen analogen Medianismus. In einer Theorie wie der Hegeischen, in der die Wirklichkeit der Zusammenschluß des Ansidi und seines Gesetztseins aus dem Prinzip des Geistes ist, dürfte diese Analogisierung unumgänglich gewesen sein. In anderen Bewußtseinstheorien, die nicht von denselben Prinzipien ausgingen, war eine solche Nötigung vermeidbar. Es sei beispielsweise an die Position Husserls gedacht. Da Husserl der transzendentalen Subjektivität kein Werkmeistermodell eindeutete, war er in seinen Analysen nicht gezwungen, das Bewußtsein als Produktionsstätte zu verstehen. Hegel dagegen war entschlossen, auch gegen die Phänomene zu theoretisieren, auch in diesem Problem den Tatsachen mit der Vernunft heim-zuleuchten aus ihrer nur besonderen Verdunkelung. „Obgleich die Fortbestimmung des Bewußtseins aus dessen eigenem Inneren hervorgeht und auch eine negative Richtung gegen das Objekt hat, dieses also vom Bewußtsein verändert wird, so erscheint diese Veränderung dem Bewußtsein dodi als eine ohne seine subjektive Tätigkeit zu Stande kommende, und gelten ihm die Bestimmungen, die es in den Gegenstand setzt, als nur diesem angehörige, als seiende." (SW 10, 260) Da es unmöglich ist, dem Bewußtsein zu einer anderen Ansicht über sidi selbst zu verhelfen, als es sie nun einmal hat, wird auch in Hegels Theorie von ihm nicht verlangt, daß es sich als etwas anderes auffaßt, als es sidi immer schon offenbar ist, nämlich als selbstbewußtes und intentionales Bewußtsein. Die Bewegungen der Produktion werden deshalb in den Geist selbst verlegt. So kann seine Universalität in seinem Ansidisein angesetzt werden; die Realisierung dieses Ansichseins erfolgt aber erst in der Erarbeitung des Fürsichseins: In seiner Selbstbestimmung macht der Geist sich zu seiner Voraussetzung, zum Anderen seiner selbst, dessen anscheinende Unmittelbarkeit er wieder aufheben muß. Mit der Beseitigung der Unmittelbarkeit vernichtet er audi den Makel seiner in der Natur fundierten UnZuverlässigkeit und wird objektiv. „Die ganze Tätigkeit des subjektiven Geistes geht aber darauf aus, sich als sidi selbst zu erfassen, sich als Idealität seiner unmittelbaren Realität zu erweisen. H a t er sich zum Fürsidisein gebracht, so ist er nicht mehr bloß subjektiver, sondern objektiver Geist." (SW 10, 40f.) Der subjektive Geist ist also im Vergleich mit dem objektiven kategorial weniger entwickelt: Obschon der subjektive Geist die Weltstelle des tatsächlichen Bewußtseins ist, kommt er nur zu begrenztem Wissen, weil sein eigener Begriff ihm noch nicht objektiv geworden ist, sondern erst unmittelbar real, so daß er objektives Wissen von sich erst durch die Vernichtung dieser Unmittelbarkeit wird und damit seiner eigenen Idee näher kommt. Der Übergang von der Subjektivität zur Objektivität des Geistes ist also Weiterentwicklung seiner Realität. Angesichts dieses Axioms können die Evi-
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denzen des nur subjektiven, „gewöhnlichen" Bewußtseins keinen gültigen Eigenwert aufweisen. Sie müssen zunächst ihre eigene theoretische Stellung in die praktische des Selbstbewußtseins auflösen und damit dem Primat des Praktischen ihre Reverenz erweisen, (vgl. Kroner 1921-1924, II, 259) Die Autorität des Selbstbewußtseins steigert sich in seiner Entwicklung in die völlige Verflüssigung alles ihm Gegenüberstehenden. Es nimmt nicht mehr abwägend auf, betrachtet nidit mehr, sondern übt in Willkür und Begierde vernichtende, in Formierung und Arbeit ordnende Gewalt aus, setzt sidi hinaus und vermittelt die Welt wieder mit sich. Das Wirken des Selbstbewußtseins löst die Theorie des Bewußtseins ab, indem die Welt ihm zum Mittel seiner Selbstbestätigung in seiner Objektivierung geworden ist. In dieser Tätigkeit macht es sich sein eigenes Wesen, ohne es schon als dieses zu erfassen: Es gestaltet sich zur absoluten Negativität des reinen Fürsidiseins und setzt die Welt zur Unwiditigkeit herab. Die evtl. mögliche Anhänglichkeit an die Gegenstände der Welt bekämpft es, indem es sie bearbeitet und ihre natürliche Seite vernichtet, indem es ihnen seine eigene Form durch seine Arbeit gibt.
Der Trieb aus dem Geiste Das Bewußtsein erscheint dem Menschen nicht als eine Werkstatt; das Selbstbewußtsein der Hegeischen Theorie aber ist nur noch praktisch. Dieser Übergang in die Tätigkeit als das Wesen des Selbstbewußtseins muß begründet werden; dabei ergeben sich allerdings Schwierigkeiten. Im Selbstbewußtsein tritt nämlidi der tätigkeitsfundierende Trieb als solcher nicht auf, sondern nur die zerstörende Begierde, (vgl. Phän 135) Die Einheit des Selbstbewußtseins mit sich, die es sich Schritt f ü r Schritt aufklärt, ist sogar die vernichtende Begierde selbst. Im Bewußtsein kann der Trieb ebenfalls nicht angetroffen werden; es hat seihe Objekte unmittelbar und ist damit nicht weiter triebfähig. Der gesuchte Trieb selbst „ist nichts anderes, als daß etwas in sich selbst, und der Mangel, das Negative seiner selbst, in einer und derselben Rücksicht ist". (L 2, 59) Der Trieb ist also gerade dies, daß etwas, ein Zentrum oder eine Funktion, in einer identischen Perspektive sich sowohl ausgeglichen als audi appetitiv verhält. So aber erscheinen sich das Bewußtsein und das Selbstbewußtsein explizit nie. Der Trieb als Motor der Selbstbewegung tritt phänomenal offen im Bewußtsein und im Selbstbewußtsein nicht auf. Diese gravierende Lücke versucht Hegel nun abermals durch den Rückgriff auf den Geist zu überwinden. „Während man vom Bewußtsein, - da dasselbe das Objekt unmittelbar hat, — nicht wohl sagen kann, daß es Trieb habe; muß dagegen der Geist als Trieb gefaßt werden, weil er wesentlich Tätigkeit, und zwar zunächst 1) diejenige Tätigkeit ist, durch welche das scheinbar fremde Objekt, statt der Gestalt eines Gegebenen, Vereinzelten und Zufälligen, die Form eines Erinnerten, Subjektiven, Allgemeinen, Notwendigen und Vernünftigen erhält." (SW 10, 302 f.) Der Trieb des Geistes ist insofern mit einem Katalysator zu vergleichen: Das
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Bewußtsein steht vor den Dingen, hält sie für etwas anderes und erstarrt in ihrer Betrachtung. Der vom Geist eingeführte Trieb aber bringt den Erkenntnisprozeß in sich weiter: Die äußerliche Welt wird als in Wahrheit innerliche erkannt, sie wird durch die Tätigkeit des Triebes kategorial verändert; die Macht des Bewußtseins wird ins aggressive Selbstbewußtsein erhöht, um schließlich „gleichsetzende", also okkupierende Vernunft zu werden. Im Selbstbewußtsein tritt der Trieb des Geistes noch nicht phänomenal offen, sondern erst als Ahnung und Gefühl auf. Das Selbstbewußtsein ist praktisdi, aber nur-subjektiv praktisch; es kann nicht anders, als nur begehrlich der Selbstsucht seiner Interessen zu leben. Die sich wissende Tätigkeit des „vernünftigen" Triebes ist es nodi nicht. „Im Begriff des Selbstbewußtseins liegt die Bestimmung des noch nicht realisierten Unterschiedes. Insofern dieser Unterschied überhaupt in ihm sich hervortut, hat es das Gefühl eines Andersseins in ihm selbst, einer Negation seiner selbst, oder das Gefühl eines Mangels, ein Bedürfnis . . . Dies Gefühl seines Andersseins widerspricht seiner Gleichheit mit sich selbst. Die gefühlte Notwendigkeit, diesen Gegensatz aufzuheben, ist der Trieb." (SW 3, 107) Die Art des Wissens des Selbstbewußtseins um den in ihm tätigen Trieb ist von ahnendem Charakter. Nach Hegels eigenen Worten verfügt das Selbstbewußtsein nur über ein nichtspezifiziertes Gefühl eines Andersseins, also ein Entfremdungsgefühl, in sich und spürt das Bedürfnis, eine Beseitigung dieses Zustandes herbeizuführen, weil seine Identität mit sich dadurch gestört wird. Dieses Bedürfnis steigert sich sogar zu einem Notwendigkeitsgefühl; auch dies bewirkt der Trieb. Als Positivität und Negativität in derselben Hinsicht wird er aber vom Selbstbewußtsein nicht gewußt, sondern nur gefühlt. Das Selbstbewußtsein ist praktisch, nicht theoretisch, also nicht ein Platz des Wissens. Dieser Charakter bringt es um die Möglichkeit, den Trieb zu wissen; es kann ihn nur fühlen. Als im Wissen vermittelter bleibt der Trieb dem Bewußtsein wegen dessen Unmittelbarkeit, dem Selbstbewußtsein wegen dessen praktischer N a t u r fremd. Das Bewußtsein wird nicht „getrieben", weil es theoretisch ist; dem Selbstbewußtsein bleibt sein nur gefühlter Trieb entwicklungslogisdi unbekannt wie ein äußerliches Ding. So hat es also durchaus den Anschein, als ob nur durch einen Rückgriff auf den Geist - wie Hegel ihn ja auch vornimmt - die Stellung des Triebes gerettet werden kann. In herber Vereinfachung kann zu diesem Verfahren gesagt werden, daß Hegel damit über die Beziehung zwischen Trieb und Bewußtseinsphänomenen nicht mehr erklären kann als jede andere Triebtheorie auch. Der gemeinsame Nenner der Annahmen besagt: Der Trieb (oder die Triebdualität oder das Triebsystem oder das Triebchaos) kann jeweils das Bewußtsein bzw. das Selbstbewußtsein in bestimmter Weise nötigen; das Bewußtsein bzw. das Selbstbewußtsein fühlt diesen Druck und anerkennt ihn, oder es versucht, ihn abzuwehren; der Trieb hat eine gesetzmäßige Stellung in der Ordnung des Lebens, die von den naturwissenschaftlichen Triebtheoretikern als N u r - N a t u r aufgefaßt wird, von Hegel dagegen als Stadium der Rückkehr des Geistes aus der Natur. Das Ziel des Triebes kann das Bewußtsein und das
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Selbstbewußtsein auch bei Hegel nicht bestimmen; das Triebziel stammt aus dem Geiste, „der das vorhandene Leben zu seinem Objekte macht, und der unendliche Trieb der Tätigkeit ist, dasselbe zu verändern." (SW 11,274) Hegels Trieblehre unterscheidet sich im wesentlichen von den empirischen Ansätzen nur dadurch, daß der Auftrittsstelle des Triebes im Leben der Geist als Triebzielplaner vorangestellt wird. Damit werden die Triebzielmöglichkeiten erheblich eingeschränkt: Weil der universale Trieb aus dem Geiste stammt, ist der Begriff eines Todestriebes für Hegel gänzlich undenkbar, denn der Geist sucht seine Vollendung, nicht seinen Untergang. Der Umgang der menschlichen Person mit ihren Trieben besteht konsequent nicht in ihrer Niederringung, wobei als Reinwert dieser Bezwingungsarbeit die dann freie Sublimierungsenergie gewonnen wird, sondern in zustimmender Mitarbeit: Wenn der Trieb aus dem Geist stammt, kann es gegen den Geist gerichtete Partialtriebe oder Triebanteile nicht geben. „Für einen vollen, ganzen Mensdien gehört es sich, daß er höhere Triebe habe, daß ihn dies nächste Mitleben mit der Natur und ihren unmittelbaren Erzeugnissen nicht mehr befriedigt. Der Mensch . . . muß arbeiten. Wozu er den Trieb hat, das muß er durch seine eigene Tätigkeit zu erlangen streben. In diesem Sinne regen schon die physischen Bedürfnisse einen weiten und verschiedenartigen Kreis der Tätigkeiten auf und geben dem Menschen das Gefühl der innerlichen Kraft, aus dem sich sodann auch die tieferen Interessen und Kräfte entwickeln können." (SW 12, 349 f.) Der Trieb aus dem Geiste ist notwendig teleoklin; der Mensch muß mit ihm nur mitarbeiten: Sein eigenes Tun und das des Triebes verfolgen die gleiche Richtung. Da eine Interessendifferenz zwischen Trieb und Mensch nicht denkbar ist, kann es nicht zur Konkurrenz, Disparität oder gar Opposition zwischen ihnen kommen. Damit entfällt audi die Möglichkeit, den Trieb oder die Triebe untereinander dialektisch zu behandeln: Sie haben ohne Einschränkungen im Auftrage des Geistes den Menschen in seiner Entwicklung zu leiten. In Freuds Theorie dagegen ist eine dialektische Triebanalyse denkbar: Nach ihr hat jeder Trieb eine Quelle, ein Ziel, ein Objekt. Die Triebquelle ist genetisch und kategorial dem Trieb voraus und steht einer dialektischen Bearbeitung nicht zur Verfügung. Eine Differenz in der Triebentwicklung entsteht aber dadurch, daß der Mensdi entweder seinen Trieben folgen oder daß er als zensierend arbeitender die Triebziele ablehnen (also negieren) kann; dadurch wird das betreffende Triebobjekt vom nur natürlichen zum geistigen transformiert (also als natürliches konserviert) und steht damit als geistiges der Sublimierung (also der Elevation) zur Verfügung. Es sei jedoch ausdrücklich betont, daß 1. die Inhalte der Freudschen Triebtheorie eigene schwierige Probleme aufweisen, daß 2. ebenso eigens untersucht werden müßte, ob die Freudsche Theorie, so wie sie von ihrem Schöpfer vorgelegt wurde, adäquater mit linear-genetischen oder mit dialektisdien Vorstellungen interpretiert wird. Hier soll nur festgehalten werden, daß die Hegelsdie Triebtheorie nicht dialektisch interpretierbar ist: In ihr sind die Triebe geheime, aber grundsätzlich zielrichtig eingestellte Fermente. Sie
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sind die nidit-aufgehobene Arbeit des Menschen, dasjenige, das es ihm ermöglicht, zu arbeiten, da er arbeiten soll. „Arbeit ist das diesseitige Sich-zumDinge-Machen. Die Entzweiung des Trieb-seienden Idi ist ebendies Sich-zumGegenstande-Machen. (Begierde muß immer von vorne anfangen, sie kommt nicht dazu, die Arbeit von sich abzutrennen.) Der Trieb aber ist die Einheit des Ich als (eines) zum Dinge gemachten . . . die bloße Befriedigung der Begierde ist reines Vernichten des Gegenstandes. Die Arbeit selbst als solche ist nicht nur Tätigkeit (Säure), sondern in sich reflektierte, Hervorbringen, einseitige Form des Inhalts; aber hier bringt sich der Trieb hervor, er bringt die Arbeit selbst hervor [als] einzelnes Moment." (JR 197f.) Der Trieb des Lebens macht das mensdiliche Individuum tat- und handlungsfähig; es verwirklidit den Begriff seines Lebens, wenn es seine Individualität für sich selbst und für andere setzt. Wenn der Mensch sich in dieser Weise zu gewinnen sucht, verwertet er den geisterfüllten Trieb seines Lebens, dessen bewußte Übersetzung in die Realität die Handlung ist. „Eine Handlung ist ein Zweck des Subjekts und ebenso ist sie seine Tätigkeit, welche diesen Zweck ausführt." (SW 10, 376) Die Handlung ist demnach die bewußt getätigte Anerkennung des Zweckes des Subjekts. Sie wird in einer definiten Willensäußerung vollzogen, in der die Überführung des innerlichen Zwecks in die Äußerlichkeit erfolgt. Die Erhaltung der Allgemeinheit des Zwecks in der Äußerlichkeit macht die Handlung wirklich und einzeln. So ist sie abschließbar in ihrem Ergebnis. Diese Vollendbarkeit erfährt z. B. die Begierde niemals, weil sie die Form innerlicher Allgemeinheit nur unabgeschlossen zur Besonderheit heraussetzen kann, ohne sich jemals mit ihrem intentionalen Pol wirklich zusammenfügen zu können. „Die Handlung selbst erweist sich als ein äußerliches und einzelnes Tun; die Begierde aber ist innerlich eingewurzelt und ein Allgemeines; ihre Lust verschwindet weder mit dem Werkzeuge noch durch einzelne Entbehrung." (Phän 405) Der unendliche Unterschied zwischen Handlung und Begierde besteht darin, daß die Begierde in ihrer innerlichen Allgemeinheit für das Individuum eine konturlose Ganzheit ist, also ein Formales, das bloß seiner subjektiv-ergebnislosen Erfüllung lebt, während die Handlung eine „in sich totale Bewegung von Aktion, Reaktion und Lösung" (vgl. SW 12, 297) ausmacht, in der die innerliche Allgemeinheit in eindeutige Bestimmtheit entlassen wird. Die Begierde ist die Form des Subjekts ohne seinen Zweck. Damit sein Zweck bzw. seine Zwecke freie Existenz gewinnen können, muß der Trieb aktiviert werden. In seinem Wesen liegt es, daß er von seinem subjektiven Ausgang her die ihm entgegenstehenden Objekte nur als f ü r ihn an sidi nichtige Realität auffassen kann. Ein Zweck, der sich aber in dieser Weise auf Realitätslosigkeit bezogen findet, gerät in Widerspruch mit sich. „Als dieser Widerspruch seiner Identität mit sich gegen die in ihm gesetzte Negation und Gegensatz ist er selbst das Aufheben, die Tätigkeit, den Gegensatz so zu negieren, daß er ihn identisch mit sich setzt. Dies ist das Realisieren des Zwecks, in welchem er, indem er sich zum Andern seiner Subjektivität macht und sich objektiviert, den Unterschied
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beider aufgehoben, sich nur mit sich zusammengeschlossen und erhalten hat." (Enz 177) In individuell subjektiver Hinsicht tritt der Zweck als Bedürfnis und als Trieb auf. Dieses Paar subjektiver Funktionen wird als ein Widerspruch erlebt, der sich innerhalb des Individuums selbst abspielt; Hegel beschreibt ihn als „gefühlt" (vgl. Enz 178), womit er abermals zugibt, daß es sich nidit um einen „gewußten" Vorgang handelt. Um den Widerspruch zu beseitigen, werden Bedürfnis und Trieb zur Tätigkeit erhoben; damit wird gegen die bloß gefühlte Negativität vorgegangen. Der Widerspruch selbst besteht darin, daß dem Trieb und dem Bedürfnis ein an sich nichtiges, aber dem Anschein nach Objektives „draußen" gegenübersteht. Der Schein wird zum Verschwinden gebracht, indem es in der Tätigkeit mit der Subjektivität vereinigt wird. Diese Tätigkeit ist also Gewalttätigkeit: Damit das Individuum nicht in einer Konfrontation leben muß, wird „hinausgegangen und heimgeholt". Der Widerspruch im Subjekt ist somit nur durch seine Hinaussetzung in Form der Aggression zu lösen. Dieser Vorgang ist für das personale Subjekt erhaltungs- und entwicklungsnotwendig. Äußerliche Gewaltanwendung bzw. Aggression ist in dieser Begründung nidit als Resultat von Frustrationen oder als Austragung naturaler Triebkonflikte gedacht, sondern als unvermeidbares Konstitutivum der Entwicklung. In Hegels Theorie sinkt die Hoffnung auf eine endgültige Ablösung oder Erledigung der Aggression damit in nichts zusammen: Sie ist ein notwendiges Bewährungsritual des Menschen.
Der subjektive Zweck Die Rechtfertigung der aggressiven Besetzung des Objektiven als eines an sich nichtigen Mittels des Zwecks erfolgt bei Hegel nach dem generellen Muster der Exkulpation der Usurpationen: Dieser Vorgang dient angeblich der Verbesserung des „Traktierten", wobei der Besitzergreifer seinen Auskünften zufolge noch Opfer bringt. „Was aber in dem Realisieren des Zwecks an sich gesdiieht, ist, daß die einseitige Subjektivität und der Schein der gegen sie vorhandenen objektiven Selbständigkeit aufgehoben wird. In Ergreifung des Mittels setzt sich der Begriff als das an sich seiende Wesen des Objekts." (Enz 181) Der Zweck und seine Subjektsmodi Trieb, Bedürfnis, Geltungsstreben und Interesse werden als im Dienste der Idee stehend, sozusagen als zu ihren Gunsten tätig, gedeutet: Sie sind in ihrem Begriff an sich die Einheit des Subjektiven und des Objektiven. Durch die Tätigkeit werden sie dies audi für sich: Das Objektive verliert im Durchgang durdi sie den Schein der erfüllten Selbständigkeit, das Subjektive das Gefühl der zu erfüllenden Selbständigkeit. Es ist für diesen Vorgang nicht hinderlich, daß der Inhalt der Zwecke zuerst immer nur in der einseitigen Form des Subjektiven vorhanden ist. Gerade diese Einseitigkeit beruhigt sich nicht in nur positiven Ergebnissen, sondern löst die Spannung des Triebes, die Unruhe des Bedürfnisses, den Ehrgeiz des Geltungsstrebens, das Ausgreifen des Interesses, also subjektiv gefühlte Negation, aus, die sich zu überwinden trachtet.
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Dabei geht die Einseitigkeit nicht davon aus, daß ihr nur etwas Objektives fehle - das ist Begierde - , sondern daß ihr in ihr etwas abgeht. Sie muß den Mangel also in sich selbst negieren. „An sich selbst nämlich, seinem Begriffe nach, ist das Subjekt das Totale, nicht das Innere allein, sondern ebenso auch die Realisation dieses Innern am Äußern und in demselben. Existiert es nun einseitig nur in der einen Form, so gerät es dadurch gerade in den Widerspruch, dem Begriff nach das Ganze, seiner Existenz nach aber nur die eine Seite zu sein." (SW 12, 142) Die Differenz in der Existenz hebt die Geschlossenheit des Begriffs des Subjekts nicht auf: Die Gliederung in Zwecke und Triebe ist als begriffliche Totalität wiederum nichts anderes als das Leben selbst, u. z. als das Leben eines Individuums. Ihm ist es möglich, die Differenz zwischen sich als Begriff und sich als Existenz wieder zu schließen, indem es seinen Zweck als sein Wesen setzt. Nebensächlichkeiten und Besonderheiten können nicht für das Wesen gehalten werden. Deshalb ist ein endgültiger wirklicher Zerfall in die Verschiedenheit des Begriffs und der besonderen Existenz für das lebendige subjektive Individuum nicht möglich. Soweit sich aber eine Differenz aufgetan hat, besteht ihre Auflösung in ihrer als schmerzhaft erlebten Negation, die aber das Glück der individuellen Selbstvergewisserung erzeugt. Der irreversible Verfall an die Besonderheit würde dagegen den Untergang des Individuums bedeuten. Aber das Individuum braucht nicht in der Angst seines Unterganges zu leben, weil es selbst ja das Leben und der Begriff des Lebens ist. Und als die Existenz seines Lebens interessiert sich das Individuum f ü r etwas und manches; dafür will es tätig sein. Diese Absicht macht es zum Individuum seiner Neigungen und Leidenschaften. Die Befriedigung dieser Tendenzen erzeugt dem Individuum sein Wohl, seine Lust, seine Glückseligkeit. Das Recht, sich diese nur-subjektiven Befriedigungen herbeizuführen, besitzt das Individuum, weil es Leben ist. „Hier können wir die Frage aufwerfen: hat der Mensch ein Recht sich solche unfreie Zwecke zu setzen, die allein darauf beruhen, daß das Subjekt ein Lebendiges ist? Daß der Mensch ein Lebendiges ist, ist aber nicht zufällig, sondern vernunftgemäß, und insofern hat er ein Recht, seine Bedürfnisse zu seinem Zweck zu machen. Es ist nichts Herabwürdigendes darin, daß jemand lebt, und ihm steht keine höhere Geistigkeit gegenüber, in der man existieren könnte." (SW7,181 f.) Zwischen dem Leben und dem Zweck des Individuums entsteht nur dann eine Spannung, wenn das Individuum sich substantiell für Besonderes und gegen das Leben entscheidet. Die gefühlten Befriedigungen des Individuums, die parallel zu den Ausführungen seiner wesentlichen Zwecke eintreten, sind seinem Auftrag dagegen nicht abträglich: Es kommt in der Verwirklichung der Zwecke nur auf die Vollendung der Werke, das Vollbringen der Taten, an; was das Individuum dabei empfindet, ist in jeder Beziehung belanglos. Keineswegs ist es möglich, daß durch einen Selbstgenuß des Individuums in seinem Tun der Wert des Produzierten herabgesetzt wird. Die Meinung, daß objektiver Zweck und subjektives Gefallen sich ausschließen, ist nur eine leere Behauptung des abstrakten Verstandes,
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der selbst im Unrecht ist, weil gerade er nidit mehr mit dem Leben identisch ist. Der Zustand des Subjekts in seiner Tätigkeit ist seine Form nur für es selbst; sie geht also in das Werk nicht ein. Ein verändertes Resultat erzeugt jedoch die Selbstsucht; sie ist die Höherbewertung subjektiver Wünsche gegenüber dem Recht der objektiven Inhalte. Nicht weil sie eine besondere subjektive Zustandsweise ist, stört sie das Tun, sondern weil sie besondere Inhalte des Subjekts über die Objektivität der Wirklichkeit stellt und zu Manierismen in der Bewertung führt. Die Zustände des Subjekts in seinem Tun können sehr unterschiedlich sein. Ihre werkreinste Form ist die Begeisterung, die zweifellos eine Form starken Erlebens darstellt. In der Begeisterung fühlt das Subjekt sich nicht als besonderes, sondern es weiß sich von der Sache seiner Zuwendung aufgenommen, von ihr erfüllt, so daß es ihm besonders leicht fällt, seine Form - sofern es über eine verfügt — dem schon in ihm anwesenden Inhalt einzuprägen. Im Gelingensfall schlägt die Begeisterung so in das direkte Formieren des Inhalts um. Und nur auf die Tat oder das Werk kommt es schließlich an; die Frage nach dem Zustand des Mensdien in seinem Produzieren ist - wie gesagt - nebensächlich. Sie ist einzig deswegen aufzuwerfen, weil geklärt werden muß, ob und unter welchen Bedingungen ein Zustand und ein besonderer Wille verwechselt werden können. Es gibt nämlich Zustände, die hinter ihrer Erscheinung ihre partikuläre Absicht verbergen. Der eindeutigste Typ dieser Art ist die Begierde. Ihr Wesen ist es, nicht zu produzieren, sondern zu destruieren. „Die Begierde hat sich das reine Negieren des Gegenstandes und dadurch das unvermischte Selbstgefühl vorbehalten. Diese Befriedigung ist aber deswegen selbst nur ein Verschwinden, denn es fehlt ihr die gegenständliche Seite oder das Bestehen. Die Arbeit hingegen ist gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden, oder sie bildet." (Phän 148 f.) Das Verhältnis zwischen Aufbau und Abbau ist in der Begierde völlig zugunsten der Destruktion gewendet; dieses Ergebnis erzeugt die Begierde aber nicht wegen ihres Genußcharakters, sondern durch ihre besonderen Absichten3. Wird die Formierung zu einem Leisten aus Pflicht ohne jeden Genußanteil, erzeugt sie nicht die höchsten Ergebnisse: Die Endlichkeit jeder Tat und jedes Werkes erlaubt nämlich nicht einen absoluten ethischen oder motivationalen Anfang. Weil jede Tat und jedes Werk dem Ergebnis nach endlich sind, kann es mit ihrem Anfang nicht anders bestellt sein: die Menschen bedürfen des erleichternden Einstiegs. „Wenn die Menschen sich für etwas interessieren sollen, so müssen sie sich selbst darin haben, und ihr eigenes Selbstgefühl darin befriedigt finden . . . wer tätig für eine Sache ist, der ist nidit nur interessiert überhaupt, sondern interessiert d a b e i . . . Es geschieht daher nichts, wird nichts vollbracht, ohne daß die Individuen, die dabei tätig sind, audi sich befriedigen; sie sind partikulare Mensdien, das heißt, sie haben besondere, ihnen eigentümliche Bedürfnisse, Triebe, Interessen überhaupt: unter diesen Bedürfnissen ist nicht nur das des eigenen Bedürfnisses und Willens, sondern audi der eigenen Einsicht, Überzeugung, oder s Vgl. § 19. Begriff und Mensch - Die Begierde.
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wenigstens des Dafürhaltens der Meinung, wenn anders schon das Bedürfnis des Raisonnements, des Verstandes, der Vernunft erwacht ist. Dann verlangen die Menschen auch, wenn sie für eine Sache tätig sein sollen, daß die Sadie ihnen überhaupt zusage, daß sie mit ihrer Meinung, es sei von der Güte derselben, ihrem Redite, Vorteil, ihrer Nützlichkeit, dabei sein können." (SW 11, 51) Die emotionalen Qualitäten der Subjektsverfassung in der Werkherstellung und Tatausführung sind also durdi eine doppelte Endlidikeit bedingt, die einmal die der eigentümlichen Leistung, ein andermal die des partikulären individuellen Menschen ist. In das vollendete Werk gehen sie nicht ein, ebensowenig wie sie die Tat ausmachen. »Das Vergnügen ist ein Sekundäres, ein die Tat Begleitendes. Indem das Substantielle verwirklicht wird, so fügt sich das Vergnügen insofern hinzu, als man im Werke auch sein Subjektives erkennt. Wer dem Vergnügen nachgeht, sucht nur sidi nach seiner Akzidentalität. Wer mit großen Werken und Interessen beschäftigt ist, strebt nur die Sache an sich zur Wirklichkeit zu bringen. Er ist auf das Substantielle gerichtet, erinnert sich seiner darin nicht, vergißt sich in der Sache." (SW 3, 79) Die Befriedigung des Subjekts begleitet also die Werkausführung regelmäßig und notwendig: Sie ist um so gerechtfertigter, je mehr sie selbst den Zweck widerspiegelt und in seinem Dienste steht - als solche ist sie die Begeisterung; sie ist um so weniger substantiell, je mehr die Werkausführung hinter die Behaglichkeit des Individuums zurücktritt - als solche ist sie Vergnügen. Wenn ein Individuum einen substantiellen Zweck verwirklicht, dann darf es diese Übersetzung auch mit Wonne empfinden; wenn es dagegen in seiner Absicht einer Besonderheit folgt, erstarrt es in ergebnisloser Befriedigung. Die Entscheidung über Billigung oder Verwerfung eines Subjektszustandes wird aber nicht von einer isolierten Bewertung einer solchen gefühlten Passivität aus entschieden, sondern sie richtet sidi nach der Güte des auszuführenden Zweckes selbst. Hegels Theorie zufolge erzeugen die Zwecke aus ihrer teleologischen Kraft heraus die ihrer Verwirklichung günstigen subjektiven Zustände, die gegenüber den Zwecken nur akzidentell sind. Die Herrschaft des zweckmäßigen Tuns ist unbeschränkt: „Es liegt im Zweck die Tätigkeit des Realisierens, wir vollführen diese Bestimmung; und das Produzierte muß dem Zwecke gemäß sein, - wenn man nicht ungeschickt ist, muß das Objekt nichts Anderes enthalten, wie der Zweck. Es ist ein Übergang von der Subjektivität zur Objektivität; ich bin unzufrieden mit meinem Zweck, daß er nur subjektiv ist; meine Tätigkeit ist, ihm diesen Mangel zu benehmen, und ihn objektiv zu machen. In der Objektivität hat sich der Zweck erhalten." (SW 17, 411) Der Zweck ist als allgemeiner Begriff zu verstehen, dem gegenüber das Individuum nur punktueller Begriff ist: Wenn das Individuum eine substantielle Absicht ausführen will, ist es der allgemeine Zweck selbst, der seine Bestimmung sucht. So treibt er das Individuum vernünftig an und wird Trieb. Die Differenz zwischen dem Unbewegten und dem Bewegenden, der Ursprung aller Tätigkeit, wird also vom Zweck erzeugt; der bewegende Zweck aber ist dann schon das Subjekt selbst. „Der Zweck ist das Unmittelbare, Ruhende, das Unbewegte, wel-
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dies selbst bewegend ist; so ist es Subjekt." (Phän 22) - Wenn die Substanz das Hervorbringen des Subjekts ermöglichen soll, dann hat das Subjekt die Substanz zu seiner Voraussetzung; aber keine der beiden Seiten ist abgeschlossen für sich, sondern durch die Ordnung des teleologischen Schlusses verbunden. Der Übergang der ordnenden Vermittlung ist das Werk des Zweckes: „Das teleo((lo))gische Tun ist ein Schluß, worin dasselbe Ganze in subjektiver Form mit seiner objektiven Form, der Begriff mit seiner Realität durch die Vermittlung der zweckmäßigen Tätigkeit zusammengeschlossen wird und der Begriff Grund einer durch ihn bestimmten Realität ist." (SW 3, 141)
Die Verwirklichung des Zwecks Der Zusammensdiluß des Begriffs mit der naturalen Realität in der Form der Tätigkeit ist noch kein Thema der Logik, sondern erst der Realphilosophie. Aber schon in der „Wissenschaft der Logik" verwendet Hegel Tätigkeitsmodelle, u. z. nicht erst in der Begriffslogik, sondern schon in der Wesenslogik. Marcuse wies ausführlich und genau darauf hin, „daß Hegel die Bewegtheit des Wesens in allen Charakteren als ,Tun', ,Tätigkeit' bezeichnet. Darin liegen zwei überaus wichtige Anweisungen: Einmal bedeutet ,Tun',,Tätigkeit' einen höheren Grad der Intensivierung der Bewegtheit des Seins und zwar der Intensivierung zum Subjektcharakter des Seienden hin . . . Zweitens aber klingt in ,Tun' und .Tätigkeit' sicher nicht zufällig das griechische Ποιειν an: Ποιειν als ontologische Kategorie, in der das Seiende als Hergestelltsein, Ver-fertigt-sein, als fertiges' angesprochen wird; u. z. hergestellt keineswegs primär von jemand Anderem, vom Menschen verfertigt, sondern hergestellt aus sich selbst und an sich selbst". (Marcuse 1932, 89 f.) Das Wesen stellt seine Fortschritte also angeblich in eigener Tätigkeit her; diese These schließt die Annahme ein, daß es solches vermag, obschon es noch nicht Subjekt ist. Um die Universalität des Tuns des Wesens zu ermessen, muß man sich zusätzlich daran erinnern, daß wiederum das Sein seine Wahrheit erst im Wesen gewinnt (vgl. L II, 3ff.); die Wesensnatur des Seins ist es, sich zum Gesetzten und zur Identität zu „machen". Damit die Bestimmung des Gesetztseins, wodurch das Sein sein Ansichsein mit sich identifiziert, ihm nicht äußerlich wird, muß es sie selbst „vollbringen". Diese Leistungen des Seins und des Wesens werden nicht als solche eines Bewußtseins, sondern als teleologisches, aber noch unbegriffliches und unbewußtes Tun verstanden. Erst in der Begriffslogik tritt die Teleologie dann in der freien Existenz des Begriffs auf. Als subjektiver Begriff ist der Zweck auf die Bearbeitung der Äußerlichkeit aus. „Der Zweck ist daher der subjektive Begriff als wesentliches Streben und Trieb, sich äußerlich zu setzen." (L 2, 391) Aber als Begriff ist er weder Kraft noch Substanz, sondern er enthält den zu erreichenden Unterschied schon in seiner Einheit; d. h. er ist sich selbst gleiche Allgemeinheit, die auf diesen Charakter verzichtet, weil sie sich in unmittelbarer Bestimmtheit erst noch ausführen soll. In sich selbst bestimmender Bewegung muß der Zweck also seine Voraussetzung aufheben, um sie als Begriff
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zu setzen. In dieser Tätigkeit wird nun gleichfalls die Subjektivität des Zweckes aufgehoben und damit der Zweck endlich ausgeführt: seine Identität wird äußerlich; die objektive Äußerlichkeit jedoch wird durch den Zweck erst im Begriff gesetzt. „Der Zweck ist in ihm selbst der Trieb seiner Realisierung." (L 2, 393) Der subjektive Zweck lebt von der Gespanntheit zwischen seiner Identität und seiner Objektivierungstendenz; diese Gespanntheit wird in der zweckvollen Tätigkeit gelöst, in der der Zweck sich in der Bemächtigung seiner unselbständigen Objekte mit sich selbst zusammenfügt und sich als Anfang und Schluß erweist, dem die Objekte als Mittel dienen. Als Begriff ist der Zweck diese unmittelbare, heimliche Macht, die sich den Schein äußerlicher Bestimmtheit am Mittel gibt. Durch diese listige Tat gewinnt er seine negative Einheit außerhalb des Mittels wieder, während das Mittel zum Objekt wird. „Als das Zusammenschließende aber muß die Mitte selbst die Totalität des Zwecks sein. Es hat sich gezeigt, daß die Zweckbestimmung am Mittel zugleich Reflexion in sich selbst ist; insofern ist sie formelle Beziehung auf sich, da die Bestimmtheit, als reale Gleichgültigkeit, als die Objektivität des Mittels gesetzt ist. Aber eben deswegen ist diese einerseits reine Subjektivität zugleich auch Tätigkeit." (L 2, 395) Diese Tätigkeit ist die Macht des Zweckes gegen das Mittel: er kehrt damit sein Fürsichsein gegen den Ansich-Begriff des Mittels. „Das Objekt hat daher gegen den Zweck den Charakter, machtlos zu sein und ihm zu dienen; er ist dessen Subjektivität oder Seele, die an ihm ihre äußerliche Seite hat." (L 2, 396) Der Zweck hat sich das Objekt also unterworfen. Die Selbständigkeit des Mittels besteht nur noch in seiner äußerlichen Objektivität, die es als Voraussetzung behalten hat. „Die Tätigkeit des Zwecks durch das Mittel ist deswegen noch gegen diese gerichtet, und der Zweck ist eben insofern Tätigkeit, nicht mehr bloß Trieb und Streben, als im Mittel das Moment der Objektivität in seiner Bestimmtheit als Äußerliches gesetzt ist und die einfache Einheit des Begriffs sie als solche nun an sich hat." (L 2, 396) Diese Mittelbehandlung würde in einen endlosen Progreß ausarten, wenn sie nicht von der äußeren Zwecksetzung abließe und die Vermittlung als innere Zweckerfüllung begänne. Der auf das äußere Mittel bezogene Zweck hat seine Reflexion in sich noch nidit begonnen, sondern ist Gewalt. Der Zweck und das Objekt erscheinen damit unvereinbar. Die Verwandlung der unmittelbaren Beziehung zwischen ihnen in eine mittelbare ist die innere List der Vernunft, (vgl. L 2, 398) Mit ihrer Hilfe läßt der Zweck zwischen sich und sein ihm unmittelbares Objekt ein anderes Objekt als Mittel eintreten. Der Zweck erhält sich damit in der Delegation seiner Arbeit: der „Herr" Zweck „läßt" arbeiten: „So . . . stellt er ein Objekt als Mittel hinaus, läßt dasselbe statt seiner sich äußerlich abarbeiten, gibt es der Aufreibung Preis und erhält sich hinter ihm gegen die mechanische Gewalt." (L 2, 398) Die eigentliche Macht des Zweckes ist also die Fähigkeit der Erhaltung seiner Identität, die ihm durch die Delegation der Tätigkeit möglich wird. Der als Begriff existierende Zweck kann damit in Objektivität übersetzt werden und doch er selbst bleiben; so ist er das Zusammengehen seiner mit sich.
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Da die Tätigkeit im Bereich der Objektivität aber durch ein Mittel ausgeführt wird, bleibt die äußere Teleologie vorerst nur formal, u. z. so lange, bis sich zeigt, daß die Äußerlichkeit des isolierten Objekts, dem die Zwecksetzung gilt, nur prozessual erfordert, nicht aber wirklich war. In Wirklichkeit ist auch diese Äußerlichkeit schließlich nur ein Schein, den der Zweck als solchen zu erweisen und damit aufzuheben hat. So wird die Äußerlichkeit Bestandteil des Begriffs, was wiederum bedeutet, daß der Zweck an ihr Dasein gewinnt. „Der Zweck hat daher an der Äußerlichkeit sein eigenes Moment; und der Inhalt, als Inhalt der konkreten Einheit, ist seine einfache Form, welche sich in den unterschiedenen Momenten des Zwecks, - als subjektiver Zweck, als Mittel und vermittelte Tätigkeit, und als objektiver, - nicht nur an sich gleich bleibt, sondern audi als das sich gleich Bleibende existiert." (L 2, 399) Das Ergebnis dieser teleologischen „Tätigkeit" ist allerdings begrenzt, denn sie verhält sich durch ihr gewähltes Mittel nur kausal gegen das Objekt und klebt ihm eine Eigenschaft, austauschbar wie andere, von außen an, behandelt es also, wie es gegenüber einem Mittelempfänger angebracht ist. Und darin besteht die Beschränkung der äußeren Zweckmäßigkeit überhaupt, daß sie nicht objektive Zwecke erzeugen kann, sondern nur zu Mittelverwendungen kommt. Als Vermittlung aber ist die äußere Zweckbeziehung wiederum ihre Wahrheit, und für sie ist die Äußerlichkeit des Objekts durchaus Schein. Der zwecksetzende Begriff selbst ist in dieser Wahrheit nicht in der Form äußerlichen Bestimmens, sondern in der Wechselbewegung mit sich; in ihr erkennt er, daß der Zweck im Mittel erreicht und im erreichten Zweck das Mittel bewahrt ist. Die Verwirklichung des Zweckes ist demnach die Überführung nur einseitiger Subjektivität in Objektivität und die Hervorkehrung der Negativität des Fürsichseins gegen die Objektivität; damit ist der Begriff aus seiner Verwirklichungstendenz in die konkrete Totalität der unmittelbaren Objektivität übergetreten. Der Prozeß der Zweckrealisierung erweist insgesamt, daß der unendliche Zweck seine Mittel in sich enthält: Er ist in der Zweckausführung seine Vermittlung mit sich bzw. der Begriff, der sich verwirklicht und als die Einheit des Begriffs und der Realität eben die Idee. In der Lehre vom Zweck entwickelt Hegel den Unterschied zu den Annahmen über die mechanische Kausalität und den objektiven Prozeß. Sie muß also das logisch Neue der teleologischen Übersetzung gegenüber der mechanischen Verknüpfung enthalten und das logische Gerüst entwickeln, das den Unterschied zwischen Vorfall und Tat, Ereignis und Handlung charakterisieren kann. Das Differente des Zwecks, der Tat und der Handlung gegenüber dem Mechanismus, dem Vorfall und dem Ereignis besteht in der Erzeugung einer Finalität anstelle der Überführung nur einer Folge. Die Gemeinsamkeit des Zwecks einerseits, der Handlung und der Tat andererseits, besteht also in ihrer Finalität, deren objektive Fassung die Teleologie und deren subjektive Fassung der Sinn ist. Die Schwierigkeit besteht nun darin, daß Hegel diese beiden Fassungen nicht voneinander trennt. N u r in Tat und Handlung läßt sich legitim ein Plan in Sinn übersetzen. Ein Zweck kann nur wirklich gemacht werden, er kann aber nicht
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tätig sein oder handeln. Dies gilt audi für den Zweck der Begriffslogik. Man kann also 1. von außerhalb des Hegeischen Systems her kritisieren, daß ein zweckvoller Begriff noch nicht die erst im Anderssein zu gewinnende Form eines subjektiven Individuums hat, und 2. läßt sich systemimmanent feststellen, daß gerade der Zweck im Absdinitt „Objektivität" der Begriffslogik behandelt wird, in dem einerseits kategorial nicht mehr über die Subjektivität des Begriffs, des Urteils und des Schlusses verfügt wird, andererseits nodi nicht die Kategorie „lebendiges Individuum" der Idee entwickelt ist. Hegel aber geht in der Zweckanalyse ohne Unterlaß mit Tätigkeitsvorstellungen des Individuums um. Die gesamte Zweckrealisierung der Begriffslogik wird als sinnvolle Tätigkeit gedacht: Der subjektive Begriff ist auf die „Bearbeitung" äußerer Objekte aus; er ist Streben und Trieb, sich äußerlich zu setzen; die Spannung des subjektiven Zweckes wird in einer „Tätigkeit" aufgelöst, die in Objektsbemäditigung besteht; der Zweck ist „ausgeübte Macht"; die Zweckbestimmung am Mittel ist als Reflexion „Tätigkeit" ; die Machtlosigkeit des Objekts gegen den Zweck erweist sich in der „Tätigkeit" seines Dienens; in der Bestimmung des Objekts zum Mittel führt der Zweck den letzten Rest des Triebes in „Tätigkeit" hinüber, er wird in dieser „Tätigkeit" sogar „Gewalt"; die listige „Tätigkeit" der Vernunft läßt den Zweck das Mittel erfinden und für sich arbeiten; der Begriff setzt sich in der „Ergreifung" des Mittels als das Wesen des Objekts; als „Form-Tätigkeit" ist er endlich in Reinheit sein eigener Inhalt. Die Zweckrealisierung kommt in Hegels Analysen ohne Tätigkeitsvorstellungen also in keinem Stadium aus. In den entsprechenden Teilen der Begriffslogik beschrieb und benutzte Hegel Phänomene, die es an objektiver und auch an subjektiver Begrifflichkeit überhaupt nicht gibt, sondern die nur an bewußter, individueller Subjektivität zu entdecken sind. Nur ihrer selbst bewußte individuelle Subjekte können Taten und Handlungen vollbringen. Ein Zweck kann dies nicht; ein Zweck kann sich keinen Entwurf denken; ohne Entwurf aber gibt es keine Tätigkeit und Handlung. Die Anwendung der Tätigkeitsvorstellungen bewußter, individueller Subjekte auf den Zweck ist durchaus unzulässig; man darf ihm nicht Fähigkeiten und Gestaltungsweisen eindeuten, die nur individuellen Subjekten zukommen. Hält man sidi nicht an dieses Gebot, so verfällt man - so hart es auch klingen mag - in die Praktiken des Animismus: Objektivität - hier: logische Objektivität des Begriffs - wird unter Benutzung von psychisdien Elementen verstehbar gemacht; diese aber sind in der Erfahrungswirklichkeit nur an bewußten, individuellen Subjekten zu entdecken. In der mit ihrer Hilfe gedeuteten Objektivität werden die unterschobenen Elemente zu einem universalen Prinzip ausgeweitet, und dieses Prinzip bestimmt dann in Rückübersetzung auch den Menschen: Die Tätigkeit, die nur eines der Konstitutiva des Menschen ist, wird unter Vernadilässigung des originären Charakters anderer konstitutiver Elemente wie z. B. des Denkens, Schauens, Staunens, Sidi-wunderns - um nur einige kognitive Funktionen zu nennen - zum universalen Leistungsapparat des logischen Zweckes umgedeutet; diese umfassende Vereinseitigung
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wird dann wieder auf die Wirklichkeit und den Menschen zurückgedacht. Das Ergebnis dieser Pro-re-jektion ist der handelnde Mensch, der wirken muß, der nichts anderes als arbeiten kann; seine Bestimmung soll es sein, seine Freiheit als das Wesen seines Geistes zu erzeugen und zu wissen: die Verwirklichung solcher Freiheit ist sein alleiniger Zweck.
Die tätige Form in der Natur Bevor die zwecksetzende Tätigkeit die Rückkehr in die ihr angemessene Form des subjektiven Geistes erreicht, hat sie, die Entwicklung des Systems begleitend, nodi in weiteren Regionen zu wirken. Die Schwierigkeiten der Anwendung des Tätigkeitsmodells in der anorganischen Natur sieht Hegel wohl selbst; er versucht, sie mit der Vorstellung „heimlicher Tätigkeit" zu retten. Für die Erzeugung etwa der Symmetrie der Kristalle soll sie am Werk sein: „. . . die ihrer Natur nach ihnen zukommende Form arbeitet in heimlicher Tätigkeit das innre und äußere Gefüge aus." (SW 12, 192) Daß die Tätigkeit heimlich ausgeübt werden muß, dürfte ihre Glaubwürdigkeit nicht fördern, denn gerade das offene Handeln soll doch bekanntlich die größte List sein. Speziell die sog. Tätigkeit der symmetrischen Kristallbildung wäre außerdem keine Negation, da diese Symmetrie nicht wieder aufgehoben werden kann, sondern das räumliche Dasein des Kristalls selber ausmacht. - Das Fehlen wirklicher Negation ist auch der Mangel der Pflanze, wie Hegel selbst angibt; sie lebt nur nach außen, sie kann sich von ihrem Standort nicht absetzen; sie kann nur quantitativ wachsen usw. Trotzdem nennt Hegel ihre Existenzweise „Tätigkeit", (vgl. SW 12, 192) — Erst das Tier ist negativ gedoppelt: es ist äußerlicher Prozeß, wie vor ihm der anorganische Bereich und die Pflanzen, aber auch Prozeß gegen die Äußerlichkeit, und durch letzteren erhält es sein Fürsidisein. Das Tier benutzt als tätiges differenzierte Organe. Diese Organe sind selbst schon Produkte der „Tätigkeit" des Lebensprozesses. Der „Prozeß des Lebens" ist „ein System von Tätigkeiten . . ., weldies sich zu einem System von Organen verwirklicht, in denen jene Tätigkeiten vor sich gehen. Dies in sich beschlossene System hat zu seinem einzigen Zwecke die Selbsterhaltung des Lebendigen durch diesen Prozeß, und das tierische Leben besteht deshalb nur in einem Leben der Begierde, deren Verlauf und Befriedigung sich an dem erwähnten Systeme der Organe realisiert. Das Lebendige in dieser Weise ist nach der Zweckmäßigkeit gegliedert; alle Glieder dienen nur als Mittel für den einen Zweck der Selbsterhaltung". (SW 12, 202) Das Tier bringt also außer sich nichts hervor; es ist Begierde, nicht Trieb; seine Absichten sind nur auf seine Selbsterhaltung gerichtet. Dazu dienen ihm die Organe. Wie sehr die Tätigkeit von Hegel zu einem Beurteilungskriterium erhoben wird, geht u. a. auch daraus hervor, daß er den Rang der tierischen Organe nach ihrem Tätigkeitswert für die Erhaltung des Lebens einteilt. Dazu dienen vornehmlich nicht die paarigen Sinnesorgane und die Extremitäten, sondern diejenigen, die „Seele der Tätigkeit" sind und von denen Hegel Leber, Herz, Lunge
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als die „edleren Eingeweide" nennt: Die Leber ist das Zentrum der Stoffwechseltätigkeit, und an Herz und Lunge erscheint die Tätigkeit sogar sichtbar und hörbar als Pulsieren und Schlagen, (vgl. S W 12, 193) Die stille Steuerung der Selbsterhaltung des Organismus durch das Zentralnervensystem, insbesondere das Gehirn, findet bei Hegel dagegen nicht die angemessene Beachtung. Hegel geht nodi von einer völligen Zweiteilung der Aufgaben des Gehirns und des Rückenmarks aus. Das Gehirn ist ihm das Nervensystem „als Bestimmtwerden" (vgl. S W 9, 5 9 4 ) ; das Rückenmark ist das „praktische" Nervensystem, (loc. cit.) Es muß Hegel zugute gehalten werden, daß ihm die Regulationsfähigkeit insbesondere der Medulla und des Cerebellums, die kein Bestimmtwerden, sondern Steuerung ist, noch nicht bekannt war. „Überhaupt aber konzentrieren sich die Nerven im Gehirn, und dirimieren sich auch wieder von ihm aus, indem sie sich in alle Teile des Körpers v e r t e i l e n . . . Sonst versteht man aber noch sehr wenig von der Organisation des Gehirns." (SW 9, 594) Das Nervensystem ist für Hegel als sensibles nur Ubergehen in Unmittelbarkeit, als irritables Auseinandergehen in die Nerven der Empfindung und der Bewegung als deren nur seiender Träger, als reproduktives nur dumpfes, unbestimmtes und willenloses Selbstgefühl, (vgl. Enz 293 f.) Diese herabsetzende und unzutreffende Auffassung der Nerven- und Hirnbedeutung ist bei Hegel aber theoriekonsequent, denn das wirkliche, das primäre Zentrum der Beseelung des Organismus kann ihm gar kein einzelnes Organ sein, sondern nur die nicht an Organe fixierbare Negativität, die dann als die Seele des Organismus aufgefaßt wird. Was immer am Organismus auch erscheinen mag, ist nicht Zentralorgan oder -prinzip, sondern schon formiertes Organ: Das Prinzip der Lebendigkeit erschafft das Gehirn, nicht aber macht das Gehirn einen Organismus zum Lebendigen. Das Prinzip der Lebendigkeit ist der doppelt negative Begriff, der sich in sich konzentriert. Als Vernunft in der Natur ist er schon Gesetz des Makrokosmos und des Mikrokosmos; er strebt seine freie Organisation an, aber er betätigt sich nicht als Intelligenz oder als selbstbewußte Vernunft. „Die Bewegung des Sonnensystems erfolgt nach unveränderlichen Gesetzen: diese Gesetze sind die Vernunft desselben, aber weder die Sonne, noch die Planeten, die in diesen Gesetzen um sie kreisen, haben ein Bewußtsein darüber." (SW 11, 3 7 f . ) Die gestaltende, tätige Form gehört der Materie unmittelbar, nicht vermittelt und nicht bewußt an: Um diese „unvermittelte" und insofern unbegründete Annahme kommt der absolute Idealismus nicht herum; sie ist sein logisches Lemma in der Realitätsdeutung. - Was für die Größe des Universums gilt, trifft auch für den kleinen Kristall zu: „ . . . in den K r i s t a l l e n . . . ist die gestaltende Tätigkeit keine dem Objekt fremdartige, sondern eine tätige Form, die diesem Mineral seiner eigenen Natur nach angehört; es ist die freie K r a f t der Materie selbst, welche durch immanente Tätigkeit sich formt und nicht passiv ihre Bestimmtheit von außen erhält. Und so bleibt die Materie in ihrer realisierten Form als ihrer eigenen frei bei sich selber." (SW 12, 184) Die wirkliche Natur
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der Materie ist es, Form haben zu sollen. Die Materie selbst ist zwar nicht Form; da sie ihrer aber bedarf, so erzeugt sie sie geistgesteuert in sidi, u. z. als die Form, die jeweils benötigt wird: „In noch höherer konkreterer Weise ((als in der anorganischen Natur)) zeigt sich die ähnliche Tätigkeit der immanenten Form in dem lebendigen Organismus und dessen Umrissen, Gestalt der Glieder und vor allem in der Bewegung und dem Ausdrudk der Empfindungen." (SW 12,184 f.) Die Wirklichkeit der Materie besteht in der Negation ihrer selbst in ihrer immanenten Formierung vermittels ihrer „freien Kraft"; in dieser Tätigkeit wird die Materie zum dialektischen Material der negierenden Negativität. Sie ist der unstillbare Zwang des Wirkens: die Tätigkeit der unbewußten Selbstgestaltung, die der Materie die Form überhaupt, den Pflanzen die Form der Einheit nadi außen, den Tieren die Form der Einheit nach innen, den Menschen die Form der selbstbewußten Formierer verleiht. Der Geist, der die Welt regieren soll, wird so zur Funktion eines ordnenden Organisationszwanges. Um diesen Preis entgeht er dem Verdikt, ein einzelner gegenüber der Welt zu sein. Als subjektiv einzelner, als er selbst für sidi, wäre er für die Hegelsdie Theorie nicht mehr geistiger Gedanke, sondern theoretisch nicht erfaßbares Subjekt. Mit dieser Vorstellung einer partiellen Unbegreifbarkeit des Geistes verträgt sidi der Ansprudi des Systems aber nicht: Die Universalität des Gedankens, der ihr zugedachte Anspruch einer All-erfassung, findet es unerträglich, daß außer ihrer durchdringenden Allgemeinheit, die sich in der Tätigkeit bestätigend aufhebt, nodi ein oberster Zweck für sich sein könnte, der sich gegenüber der Welt erhält. „Das Allgemeine des Zwecks ist aber, daß er eine für sidi feste Bestimmung ist, und daß dann diese Bestimmung, die durdi die Bestimmung der Tätigkeit gesetzt ist, weiter tätig ist, den Zweck zu realisieren, ihm Dasein zu geben; aber dies Dasein ist beherrscht durch den Zweck, und er ist darin erhalten. Dies ist, daß der Zweck das Wahrhafte, die Seele einer Sache ist. Das Gute gibt sich selbst Inhalt; indem es mit diesem Inhalt tätig ist, dieser Inhalt sidi an Anderes wendet, so erhält sich in der Realität die erste Bestimmung, und es kommt kein anderer Inhalt heraus. Was vorher sdion vorhanden war, und was nadiher ist, nachdem der Inhalt in die Äußerlichkeit getreten ist, beides ist dasselbe; und das ist der Zweck." (SW117, 412) Die Bestimmung des Allgemeinen ist also, Zweck zu sein, der sich in Tätigkeit bestimmt und sidi im durch die Tätigkeit erschaffenen Dasein erhält. Zwischen vorher und nachher ist für ihn kein Unterschied außer dem, daß die Wirklichkeit des Zweckes höher ist als seine Bestimmung. Die Wirklidikeit aber ist in Hegels Theorie die Tätigkeit, der der siebte Tag fehlt. Der Zwang des Wirkens ist ohne die Feier, die audi betraditen, schauen und ausruhen kann. Der Geist ist die sich ohne Unterlaß vervollkommnende Selbstorganisation der Realität, die Negation ihres hyletisdien Charakters. Als diese Negation ist der Geist ranghöher als die Materie, denn sie erhält durch ihn den Charakter, als Form gesetzt zu sein. So ist sie Produkt; weil sie aber geformtes Produkt
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auch bleiben soll, muß der Geist als Negation fortwährend in ihr tätig sein. Die materielle, gestaltete N a t u r ist kein selbständiges Artefakt; sie besteht nicht neben dem Geist, wie ein menschliches Werk neben dem Menschen, sondern sie existiert nur in der Tätigkeit des Geistes als das Andere seiner selbst. D a der Geist sich in ihr verwirklicht, ist er „die Güte, diesem Anderen seiner selbst die ganze Fülle seines eigenen Wesens zu geben" (SW 12, 136 f.), dann aber nicht für sich neben ihr sein zu können, sondern in die Natur, die ihn trägt, eingegangen zu sein. „Ihre Wahrheit aber ist deshalb das Setzende selber, der Geist als die Idealität und Negativität, indem er sich zwar in sich besondert und negiert, aber diese Besonderung und Negation seiner als die durch ihn gesetzte ebenso aufhebt und, statt darin eine Grenze und Schranke zu haben, mit seinem Anderen sich in freier Allgemeinheit mit sich selbst zusammenschließt." (SW· 12, 137) Die Gestaltung der Natur erweist den Geist als ideellen und negativen Faktor in ihr; er ist ihre Subjektivität. Alles, was er nun noch zu tun hat, ist, diese Subjektivität zur Idee zu erheben. Der Hineingang in die Natur und die Rückkehr aus ihr sind dabei seine Wege. Dem Zwang der Arbeit unterliegt die gesamte Entwicklung des Geistes bis zur Vollendung des Selbstwissens im absoluten Geist: „Als der Geist, der weiß, was er ist, existiert er früher nicht, und sonst nirgends als nach Vollendung der Arbeit, seine unvollkommene Gestaltung zu bezwingen, sich f ü r sein Bewußtsein die Gestalt seines Wesens zu verschaffen, und auf diese Weise sein Selbstbewußtsein mit seinem Bewußtsein abzugleichen." (Phän 557) Die Arbeitsweise des Geistes ist das Begreifen seiner Momente, in denen die Substanz auftritt. Dieses Begreifen ist „Wiederherstellen" der Momente der Substanz im Wissen und endlich die Wiederherstellung des Ganzen. Das Ergebnis dieser Arbeit f ü r das Wissen wird „Bereicherung" (vgl. Phän 557f.) genannt. Bereichern aber kann sich nur eine Person, eine natürliche oder auch eine juristische, nicht jedoch ein geistiges Stadium oder Moment, ζ. B. eine Stufe der Entwicklung des Geistes oder das Selbstbewußtsein oder das allgemeine Wissen. Die Bezeichnung „Bereicherung" legt den Verdacht nahe, den gesamten beschriebenen Bearbeitungsprozeß als in endlichen Motiven begründet anzusehen. Bereicherung und Gewinn sind ökonomische, keine ontologischen Kategorien.
Der Gedanke als wirkender Wille Auch das absolute Wissen schließlich ist noch kein wirklicher Abschluß der Tätigkeit, denn seinen Fortbestand erreicht es nur durch eine spezifische Erhaltung, und sie ist ebenso Produktion wie die vorgängige Erstellung: „ . . . das Wissen besteht vielmehr in dieser scheinbaren Untätigkeit, welche nur betrachtet, wie das Unterschiedne sich an ihm selbst bewegt, und in seine Einheit zurückkehrt." (Phän 561) Diese scheinbare Untätigkeit ist die denkbar größte List: Das absolute Wissen hat sich in ihr zum tertius gaudens gemacht, das die Aufarbeitung der Unterschiedenen — des Ansidiseins und des Fürsichseins - in der Einheits-
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gewinnung als sein Interesse weiß, aber die zugehörige Mühe nicht selbst übernimmt, sondern für sich arbeiten läßt. Eine zur Ruhe gekommene Befriedigung genießt das absolute Wissen jedoch auch in diesem Stadium nicht; hinter der Fassade scheinbarer Untätigkeit bewahrt es für sich den Charakter fortwährenden Schaffens. Die erarbeitete neue Welt und Selbstgestaltung ist für den sidi selbst wissenden Geist nur ein Durchgang: „In ihr hat er ebenso unbefangen von vorn bei ihrer Unmittelbarkeit anzufangen, und sich von ihr auf wieder groß zu ziehen, als ob alles Vorhergehende für ihn verloren wäre, und er aus der Erfahrung der frühern Geister nichts gelernt hätte." (Phän 564) Die Roheit des unmittelbaren Wissens soll in der Begriffswissenschaft abgelöst werden durdi das wirklich unendliche Traktieren. Die Durchführung des Begriffs ist Arbeit, philosophische Arbeit zwar, aber genauso wenig unmittelbar wie die konkrete Tätigkeit; es geht in ihr darum, das „Reich des Gedankens philosophisch, d. i. in seiner eignen immanenten Tätigkeit, oder was dasselbe ist, in seiner notwendigen Entwicklung darzustellen". (L 1, 9) Auf diesem panpragmatischen Boden wird ein wichtiges Problem gegenstandslos, das das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis betrifft: Der theoretische Primat der praktischen Philosophie gegenüber der theoretischen erledigt sich nämlich. Theorie und Praxis als faktorenanalytisch heterogene Momente erlöschen, wenn sich ergibt, daß Theoretisches ohne Praktisches überhaupt nicht gedacht werden kann, daß alles theoretische Verhalten aus ontologischer - oder dafür ausgegebener — Fundierung heraus in praktischem Verhalten eingebettet ist und an sich selbst auch praktisch ist: „Das Theoretische ist wesentlich im Praktischen enthalten: es geht gegen die Vorstellung, daß beide getrennt sind, denn man kann keinen Willen haben ohne Intelligenz. Im Gegenteil, der Wille hält das Theoretische in sich: der Wille bestimmt sich; diese Bestimmung ist zunächst ein Inneres: was ich will, stelle ich mir vor, ist Gegenstand für mich." (SW 7, 52) Man kann sich nicht „ohne Willen theoretisch verhalten, oder denken, denn indem wir denken, sind wir eben tätig. Der Inhalt des Gedachten erhält wohl die Form des Seienden, aber dies Seiende ist ein Vermitteltes, durch unsere Tätigkeit Gesetztes. Diese Unterschiede sind also untrennbar: sie sind Eines und dasselbe, und in jeder Tätigkeit, sowohl des Denkens als Wollens, finden sich beide Momente". (SW 7, 52) Damit hat die Tätigkeitshypothese ihre größte denkbare Ausweitung erfahren : Das theoretische Verhalten ist selbst Tun, Denken ist Tätig-sein, Gedachtes ist in Tätigkeit Erzeugtes; der Kern der Dinge ist ihr Begriff, der selbst gesetzt, d. h. gemacht, ist. Alles ist Tun: Von der schlichtesten Empfindung angefangen bis hin zum geordneten Willenseinsatz sind alle Funktionen des Menschen Tun. Das Wesen des Menschen ensteht in seinem Tun.
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b) Die Aristotelesdeutung Hegels Aristotelesrezeption Diese Grundthese Hegels sei noch in einigen Perspektiven betrachtet. Nicht uninteressant ist ζ. B., wie Hegel sie in seinen philosophiegeschichtlidien Vorlesungen audi anderen Philosophen eindeutet. Besonders aufschlußreich ist Hegels Umgang mit Aristoteles. Bedauerlicherweise kann jedoch auf eine zusammenfassende und ausreichende Darstellung des Verhältnisses Aristoteles - Hegel nodi nicht zurückgegriffen werden, obwohl schon eine der bedeutendsten frühen Kritiken an Hegel auf aristotelischer Grundlage geübt wurde, (vgl. Trendelenburg 1840) 4 Die zusammenhängenden Aristoteles-Analysen Hegels befinden sich in der „Geschichte der Philosophie", also einem nicht von Hegel selbst redigierten, sondern von Michelet besorgten Werk. Hoffmeister machte seinerzeit darauf aufmerksam, daß ihm unklar war, „woher Michelet die Übersetzungen der (vorwiegend griechischen) Quellen genommen hat". (Hoffmeister in: GeschPhil X I I ) Heute sind 14 Vorlesungsnachschriften aus 6 Berliner Vorlesungen bekannt, (vgl. Kern 1971, 251) Von Hegels Hand ist ferner erhalten eine Übersetzung eines Teils von D e anima, nämlich der Schluß von I I I , 4 und I I I , 5 (429 b 22 bis 430 a 25), die vermutlich 1805 entstanden ist. (vgl. Kern 1961, 49 ff.) Große Teile der überlieferten Hegeischen Aristotelesübertragungen sowie das De-animaFragment sind eingehend untersucht worden durch Walter Kern. (vgl. Kern 1955 und 1961) In der „Geschichte der Philosophie" entsprechen dem 1805 von Hegel übersetzten Text die Seiten in S W 18, 384 ff. Sie sind jedoch nicht mit der früheren Übersetzung identisch, sondern eine von Michelet besorgte Synopse aus Berliner Hörernachschriften und eigenen Aufzeichnungen, (vgl. Kern 1971, 251 f.) Es ist also z. Zt. noch nicht möglich festzustellen, wieweit Hegel für die veröffentlichte Fassung der „Geschichte der Philosophie" letztlich verantwortlich gemacht werden kann. O b in dieser Sache jemals befriedigende Aufklärung möglich sein wird, muß als unsicher gelten. Der schwerstwiegende Nachteil bleibt, daß Michelet seine Unterlagen vernichtet hat. (vgl. Kern 1971, 251) Für die Einschätzung der Micheletschen Redaktion ist von Bedeutung, daß er zwar eine Synopse aus drei Hörer-Kollegheften von drei verschiedenen Berliner Vorlesungsjahrgängen (1823 f., 1825 f., 1829 f.) und aus drei Originalia Hegels angefertigt hat; aber verändert hat er „höchstens Geringfügiges, z . B . um stilistischer Ubergänge willen". (Kern 1971, 251) Für die Sinnanalyse kann man daraus folgern, daß man in der „Geschichte der Philosophie" Hegel nicht für den Aufbau der Abschnitte verantwortlich machen kann, daß man gerade die Kleindetails für sich aber recht präzise befragen darf. - Grundsätzlich hält Kern Hegel für einen guten Kenner des Griechischen (vgl. Kern 1971, 2 5 4 ; 1961, 87), obwohl eine „Umdeutung" des Aristoteles nicht vermieden werde, der aber eine tiefe Berechtigung nicht abzusprechen sei: „Seine ((Hegels)) Dynamisierung der Ge4
Eingehende Untersuchungen zu Einzelproblemen sind in folgenden Büchern der letzten Jahre enthalten: Oeser 1969, Roll-wage 1969.
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dankenformen brach Bahn einer nicht nur theoretisch reflektierten, sondern bewußter vollzogenen Geschichtlichkeit des - modernen - Denkens." (Kern 1971, 258) Für Hegel ist der Kern der Dinge und das Absolute der Begriff in der Welt: Er bewegt sich und die Welt, und beide Bewegungen sind nur eine, wenn sie absolutes Wissen geworden sind. Die Überführung der substantiellen Bewegtheit in die Tätigkeit des Subjekts ist das Wissendwerden der Substanz: Im Wissendmachen nur wird sie wirkliches Subjekt. Für Aristoteles dagegen stammt die Bewegung aus dem anfänglichen Beweger, der sich selbst nicht bewegt, vermittelt und setzt. Auch gehen ihm die Wege der Philosophie nicht darin auf, Weisen der Heimholung des dem Denken Äußerlichen in seinen subjektiv traktierbaren Mechanismus zu sein. Seine Philosophie erfüllt kein Bedürfnis. Es ist deshalb zu fragen, ob Aristoteles' „absichtslose" Philosophie in einer nachdeutenden Anpassung an eine Entwurfsphilosophie nicht notwendig beschränkt wird, von den Einzelheiten ganz abgesehen. - Umstritten ist Hegels Verständnis der griechischen Philosophie insgesamt: Während etwa Kern davon ausgeht, daß Hegel ihr innerhalb seines Verstehenshorizontes gerecht wird, sind z.B. Prauss (vgl. Prauss 1966) und Oeser (vgl. Oeser 1969) sehr skeptisch. Oeser stellt „freizügige, oft gewaltsame Übersetzung" fest, „die den eigentlichen Sinn der behandelten Stelle noch weit über die ursprüngliche Intention hinausführt, aber ihn auch viel geeigneter macht, in das eigene transzendentaldialektische System aufgenommen zu werden". (Oeser 1969, 246) Das Sich-selbst-Denken des Gedankens An das Ende seiner „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften" und damit an eine auffällige Stelle, setzt Hegel ein Zitat aus Aristoteles' Metaphysik: X I I 7, 1072 b 18—30. Ή δέ νοήσις ή καθ' αυτήν, τοΰ καδ' αυτό άριστου· καί ή μάλιστα, τοΰ μάλιστα. - Αυτόν δέ νοεί ô νους κατά μετάληψιν τοΰ νοητοΰ. νοητός γαρ γίνεται θιγγάνων καί νοών. ώστε τάυτόν νοΰς καί νοητόν. τό γάρ δεκτικόν τοΰ νοητοΰ καί της ουσίας, νοΰς. ενεργεί δε εχων. ώστε έκεΐνο μάλλον τούτου, δ δοκεϊ ό νοΰς θείον εχειν· καί ή θεωρία τό ήδιστον καί άριστον. ΕΙ οΰν οΰτως ευ εχει, ώς ημείς ποτε, ό θεός αεί, θαυμαστόν· εί δε μάλλον, ετι θαυμασιώτερονεχει δέ ώδε. - Καί ζωή δέ γε υπάρχει, ή γάρ νοΰ ενέργεια, ζωή. εκείνος δέ ή ενέργεια· ενέργεια δέ ή καδ' αυτήν εκείνου ζωή αρίστη καί άΐδιος. φαμέν δέ τον θεόν είναι ζώον άΐδιον,άριστον ώστε ζωή καί αιών συνεχής καί άΐδιος υπάρχει τφ θεω. Τοΰτο γάρ ό θεός. (Wiedergabe nach: SW 10, 475 f.) Eine Übersetzung dieser Abschnitte bringt Hegel in seiner Interpretation des Aristoteles. Eine Betrachtung dieser Übersetzung ergibt, daß Aristoteles von Hegel Tätigkeitsvorstellungen eingedeutet werden, die er nicht gehabt hat 5 . Hegels Übersetzung sei 5
Eine weitere Schwierigkeit dieser Stelle, auf die hier nur aufmerksam gemadit werden kann, besteht in Folgendem: Die Interpreten sind sich nicht einig darüber, ob ihr gesamter Text vom göttlichen νοΰς handelt, ob 1072 b 19-21 sich explizit nidit mit ihm beschäftigt, ob Aristoteles Parallelen zwischen göttlichem und menschlichem νοΰς herstellen will, usw. Vgl. Seidl 1971, 226.
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hier zunächst vom zweiten Satz an betrachtet; der erste Satz folgt aus methodischer Veranlassung zuletzt. „,Der Gedanke (ó νοΰς) denkt aber sich selbst durch Annahme (μετάληψιν, Aufnahme) des Gedachten (νοητοί)' als seines Gegenstandes, so ist er rezeptiv: ,er wird aber gedacht, indem er berührt und denkt (νοητός γαρ γίνεται θιγγάνων καί νοών); so daß der Gedanke und das Gedachte dasselbe ist', der Gegenstand sdilägt um in Aktivität, Energie." (SW 18, 330) - Zwiespältig ist an dieser Stelle schon die Übersetzung von νοΰς mit „Gedanke". Zunächst ist ό νοΰς immer das oder der Denkende, nicht das Ergebnis oder der Gegenstand des Denkens, also erst einmal Verstand oder Vernunft, dann erst Gedanke, Sinn usw. Audi gegen die Übersetzung durch „Geist" wurden Einwände erhoben. „. . . mit ,Geist' ergeben sich Schwierigkeiten für eine entsprechende Wiedergabe von νόησις, νόημα, νοεϊν, νοητόν, νοητικόν, νοούμενον, deren häufige enge Verbindung doch mehr als nur Wortspiel ist. ,Denken' (die Bonitzsche Ubersetzung) verdeckt zu leidit den Erkenntnischarakter der geistigen Betätigung. Das νοητόν wird ja nicht ,erdacht', sondern ,erfaßt' und dadurch zum νοούμενον gemacht." (Stallmach 1959, 220) Stallmach übersetzt νοΰς mit „Vernunft". Seidl versteht in seiner auf scholastischem Boden durchgeführten Untersuchung νοΰς als „Intellekt", (vgl. Seidl 1971) Νοεϊν ist zunächst wahrnehmen, auch sinnlich wahrnehmen, bemerken, erwägen, nidit aber vermitteln, aufheben, setzen, wie Hegel Denken immer versteht. Tò νοητόν ist ohne Umdeutung das Wahrnehmbare und das geistig Wahrnehmbare, nicht in eingeengter Weise das traktiert Gedachte sensu Hegel. Für νοεϊν verwendet Stallmach „vernehmen" (wobei die Beschränkung auf akustische Rezeption in der Antike weitgehend zutreffend gewesen wäre, während unter den Bedingungen der Neuzeit das Vernehmen sich stark auf sdiriftliche Medien ausdehnte); νοητόν wäre entsprechend das Vernehmbare. Entscheidend ist also, daß νοητόν als Vernehmbares oder Vernommenes aufgefaßt wird, nicht als in Denktätigkeit Erdachtes oder Durchgedachtes („Traktiertes"). (Erst auf dem Hintergrund dieser Gegenüberstellung kann dann der ontologische Status des νοητόν untersucht werden, also gefragt werden, ob es Vernehmbares aller Art, nur logischer Art, oder Ideelles von ausgezeichneter Art ist.) Μετάληψις wird von Hegel im Text mit „Annahme" übersetzt, obwohl er selbst als Wortübersetzung „Aufnahme" angibt. „Annahme" ist durchaus aktiver als „Aufnahme" : „Aufnahme" ist ein stellungsloses Hineinnehmen, „Annahme" enthält Ansätze der anerkennenden Würdigung, der Stellungnahme; Hilfesuchende und Nahrung werden ohne Überlegungen „aufgenommen"; in einer „Annahme" wird dagegen hypothetisch oder dilatorisch unterstellt, daß etwas geschehen ist oder getan werden muß. Μετάληψις wird aber auch durch „Aufnahme" noch nicht exakt wiedergegeben: μεταλαμβάνειν hat in seiner primären Bedeutung einen durchaus passiven Charakter: es bedeutet: Anteil haben oder erhalten, nicht sich Anteil verschaffen; μεταλαμβάνειν τινός ζ. Β. νοητού bedeutet: teilhaftig werden. Μετάληψις τινός ist somit vergleichbar einer ohne jedes Tun oder Zutun empfangenen Anteilhabe,
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nicht aber einem erarbeiteten Besitz. (Man vergleiche audi die weitere Verwendung von μετάληψις bei Aristoteles nach Bonitz 1870, 460; ζ. Β.: γίνεσθαι κατά την μετάληψιν του είδους...) Der betreffende Satz kann also übersetzt werden: Sich selbst vernimmt die Vernunft gemäß ihrer Anteilhabe am Vernehmbaren. Von zugespitzt aktiven und anerkennenden Momenten muß also nicht die Rede sein. - Θιγγάνειν ist erstens in Beziehung auf Extremitäten und Werkzeuge mit anrühren, berühren übersetzbar, zweitens in abstrakter Weise mit sich einlassen auf. Nur wenn man den Gedanken wie einen Fuß oder einen Hammer auffaßt, liegt auch für diesen Fall „berühren" nahe. Die Übersetzung des nächsten Satzes könnte also lauten: Vernehmbare wird sie ((= die Vernunft)) nämlich, indem sie sich auf etwas einläßt und es vernimmt, so daß Vernunft und Vernehmbares dasselbe ((sind bzw. werden)). Aristoteles geht also von einem Zusammengehen oder einem Zusammenschluß aus; daß das νοητόν, das Hegel zu einem Gegenstand macht, in Energie bzw. Aktivität umsdilage, wie Hegels interpretierende Fortsetzung meint, ist einerseits von Aristoteles nicht gesagt, andererseits sinnlos: Aktivität ist das Gewesensein der Energie, Energie aber noch nicht Aktivität. Ein gleichzeitiges Umschlagen von etwas in Aktivität oder Energie ist sachunmöglidi; ein gleidizeitiges Umschlagen in Aktivität oder Energie denkunmöglidi. (Es sei zusätzlich vermerkt, daß Hegel Aktivität und Energie gleichsetzt, nicht Aktivität bzw. actus und ενέργεια.) Gadamer unterstellt Hegel in diesem Zusammenhang eine erhebliche Umdeutung des Aristoteles: „Ohne Zweifel meint es Aristoteles anders, nämlich daß umgekehrt das Denken ,Gegenstand*, d. h. Gedachtes wird." (Gadamer 1961, 194) Hegels Übersetzung fährt fort: „,Denn das Aufnehmende des Gedachten und des Wesens ist der Gedanke.' Das Denken ist das Denken des Denkens. Vom Denken sagt Aristoteles: ,Es wirkt, insofern es hat' (oder: sein Besitz ist Eins mit seiner Wirksamkeit); ,so daß Jenes* (das Wirken, die Tätigkeit) ,mehr göttlich ist, als dasjenige, was die denkende Vernunft (νους) Göttliches zu haben meint' (das νοητόν). Nicht das Gedachte ist das Vortrefflichere, sondern die Energie selbst des Denkens. ,Die Spekulation (ή θεωρία) ist so das Erfreulichste' (Seligste, ήδιστον) ,und Beste' (Höchste)." (SW 18, 331) Ehe auf die Übersetzung im einzelnen eingegangen wird, muß bemerkt werden, daß Hegel eine griechische Lesart zugrunde legt (vgl. SW 18, 331 und Enz 463), die lautet: . . . ώστε εκείνο μάλλον τούτου . . . Diese Lesart findet sidi als Zitat und als Lemma im Metaphysikkommentar des Alexander von Aphrodisias. (vgl. W. Jaeger in: Aristotelis Metaphysica 1957, 253) Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war sie verbreitet; gebracht wird sie von Bekker, aber audi von Sdiwegler (unter Berufung auf Bekker). (Schwegler 1847, Bd. 1, 250) "Ωστ' εκείνου μάλλον τοΰτο findet sich dagegen im Kommentar des Alexander, und Jaeger übernimmt dies. Die Wahl der Lesart ist für die philosophische Interpretation von erheblicher Bedeutung. - Hegel übersetzt δεκτικόν mit „das Aufnehmende"; was aber ein „Aufnehmendes" ist, kann in gewisser Weise als aktiv gedacht werden: es
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vollführt mindestens in eigener Zuständigkeit etwas. Eine vorsichtigere Übertragung gibt diesen Sinn nicht her; sie lautet eher: zur Aufnahme fähig, geeignet oder bereit. Ein Haus kann so zur Aufnahme fähig, geeignet oder bereit sein; aber das Haus ist nicht der oder das Aufnehmende; dies sind Personen oder Organisationen, die nicht dasselbe wie das Haus sind. Während Hegel den νοΰς auch hier als aktiv Aufnehmenden deutet 6 , ist er bei Aristoteles zunächst selbst ein Bewegter, wie einige Stellen zeigen sollen: a) νοΰς δέ υπό τοΰ νοητοΰ κινείται. Metaphysik, 1072 a 30) Die Vernunft aber wird vom Vernehmbaren bewegt. Das Prinzip der Vernunft, durch das sie wach bzw. „aktuell" wird, ist nach Aristoteles nicht eine von ihr vorgenommene Erzeugung des Gedankens, sondern das Bewegtwerden durch das Erkenntnisobjekt, b) (τό αίσθάνεσθαι) τό κατ' ένέργειαν δέ όμοίως λέγεται τφ θεωρείν. διαφέρει δέ, δτι τοΰ μέν τα ποιητικά της ενεργείας εξωθεν, τό όρατόν καί τό άκουστόν, όμοίως δέ καί τα λοιπά των αισθητών. (De anima 417 b 19 f.) Über das verwirklichte Wahrnehmen stellt man Gleiches fest wie über das Betrachten. Es unterscheidet sich aber, daß, beim einen ((der Wahrnehmung)), was das Schaffende der Verwirklichung ((ist)), draußen steht: das Sehbare und das Hörbare und ebenso das Übrige des sinnlich Wahrnehmbaren. Die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung sind also außerhalb — εξωθεν; die Gegenstände der Vernunft befinden sich dagegen in gewisser Weise „έν αύτη τη ψυχή" - in der Seele selbst, aber der νοΰς wird sich nicht mit ihnen vermittelnd zusammenschließen, sondern an ihrem „Betrachten" Genüge finden, c) Φαίνεται δέ τό μέν αίσθητόν έκ δυνάμει δντος τοΰ αισθητικού ενεργείς ποιοΰν. (De anima 431a 4 f.) Es scheint das sinnlich Wahrnehmbare aus dem der Möglichkeit nach seienden Wahrnehmungsvermögen das verwirklichte zu machen. Stallmach kommentiert: „Das Wahrnehmbare gibt ,von außen' den Anstoß zum Übergang in die Energeia. Es hat als das ποιητικόν der Wahrnehmung sachliche Priorität, unbeschadet einer zeitlichen Priorität des Wahrnehmenkönnens. Die Aktualität des wahrnehmbaren Seienden ist Bedingung für die Aktualisierung des Wahrnehmens und damit für die aktuelle Wahrnehmung." (Stallmach 1959, 228) - Νοΰς wird von Hegel an dieser Stelle mit „Gedanke", und paraphrasierend mit „Denken" übertragen; ferner verwendet er „denkende Vernunft". Dieser Wechsel wird Aristoteles sicherlich nicht gerecht. Auch die Übersetzung von ενεργεϊν mit „wirken" zeigt wieder deutlich die Aktivitätszuspitzung; ενεργεϊν ist eher wirksam sein oder tätig sein; dieses wirksam sein hat Varianten; das „Wirken" eines Subjekts ist nur eine davon. (Man vergleiche auch die weitere Verwendung von ενεργεϊν bei Aristoteles nach Bonitz 1870, 251.) Das weitaus Wichtigste ist aber, daß Hegel auf Grund seiner Lesart εκείνο auf ενεργεί bezieht und dann übersetzen kann, daß das β
„Die entscheidende Umdeutung des Aristoteles führt H e g e l . . . in der Lehre v o m νους durch." Es geht „ihm auch hier darum, den Begriff der Passivität und Rezeptivität soweit wie möglich zu entfernen". (Oeser 1969, 250) Weiter konstatiert Oeser, daß der νοΰς παθητικός von Hegel letzten Endes ganz gestrichen werde, (vgl. a. a. O., 252)
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Wirken (ένεργειν) göttlicher ist als das νοητόν, das die Vernunft zu haben meint; und er paraphrasiert sofort, daß das Tätigsein des Denkens vortrefflicher sei als das Gedachte. Nach Ross-Jaeger ergibt sich allerdings das genaue Gegenteil: τούτο muß auf έχων bezogen werden. Also ist das Haben des νοητόν göttlicher als das Wirken; den Rang bestimmt das Vernehmbare, nicht das Vernehmen - eben dies muß man bei Aristoteles nach dem heutigen Stand der Textkritik lesen. Es kommt somit nicht darauf an, daß die Vernunft überhaupt agiert, sondern daß sie von einem Vernehmbaren besetzt oder angetan ist. Dann erst ist die θεωρία das Angenehmste, Erfreulichste, Befriedigendste (ήδιστον). Hegels Übersetzung „das Seligste" bringt einerseits einen spiritualistischen Akzent; andererseits wird bei diesem Wort von Hegel jedoch ein Charakter der expressiven Machtausübung, nicht ein rezeptiver Genuß unterstellt: „Seligkeit kann nur von Gott gesagt werden, in welchem Wollen und Vollbringen seiner absoluten Macht dasselbe ist." (SW 3, 53) - Auch bei diesen Analysen kann Hegel nicht zugestimmt werden; denn die θεωρία des Aristoteles ist mitnichten eine idealistische Spekulation, sondern Anschauung oder Betrachtung des νοητόν, das in den νους eingegangen ist. Als Übersetzung sei nunmehr vorgeschlagen: Denn das Aufnahmefähige des Vernehmbaren und des Wesens ist die Vernunft; sie ist wirksam ((erst)), wenn sie Vernehmbares hat; so daß dieses ((das Haben des Vernehmbaren)) mehr ist als jenes, was die Vernunft ((selbst)) als Göttliches an sidi zu haben scheint, und die Betrachtung ((des Vernehmbaren)) ist das Befriedigendste und Beste. — Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, wie Aristoteles in Hegels Übersetzung als Verkünder eines als reine Tätigkeit verstandenen Denkens ausgegeben wird, während er in Wirklichkeit gerade das Haben des Gedachten und seine es nicht verändernde Betrachtung als das „Beste" ansieht: „Der menschliche Intellekt erkennt sich selbst nur .durch Hinzunahme des Intelligiblen' ((Seidls Übersetzung für νοητόν)), d. h. nur ,nebenher' und bei Gelegenheit einer objekt-geriditeten Erkenntnis (vgl. Λ 9, 1074 b 35-38 und De anima Γ 4, 429 b 9 u. 30 a 2-5)." (Seidl 1971, 214) In seiner Übersetzung geht Hegel folgendermaßen weiter: „,Wenn nun Gott immer so wohl daran ist, als wir zuweilen . . / - bei uns als einzelner Zustand, Gott ist dies ewige Denken selbst - : ,so ist er bewundernswürdig (θαυμαστόν) ; wenn noch mehr, - noch bewundernswürdiger.' . . . ,So ist er aber daran.'" (SW 18, 331) Dem Voraufgehenden zufolge nimmt Aristoteles nicht an, daß Gott sich wohl befindet, weil er Denken im Sinn eines ewigen Erzeugens selbst sei und nur dies sei, wie Hegel mit seinem Begriff des Denkens und seiner Interpretation meint - „Gott ist dies ewige Denken selbst" - , sondern Gott ist das Wohlbefinden, weil er in der θεωρία sein νοητόν εχει. Der inhaltlichen Seite nach war die Gottesvorstellungstradition für Aristoteles noch die der Heiterkeit und des Genusses des Olymp, nicht die eines Cheirurgen, der die materielle Welt aus seinem λόγος heraus erschafft, sie somit tätig erdenkt. Grammatikalisch ist außerdem zu bemerken, daß der Text nicht lautet θεός θαυ-
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μαστός, sondern θαυμαοτόν: Nicht der Gott in seiner angeblichen denkenden Aktivität ist staunenswert, sondern der Tatbestand, daß er sich so wohl verhält. Es wird also über den Gott ein Faktum konstatiert; aus θαυμαστόν kann für das Wesen des Gottes selbst gerade nichts abgeleitet werden. Was für den Positiv gesagt wurde, gilt in gleicher Weise für den Komparativ; auch er ist ein Neutrum: θαυμασιώτερον. - Als Übertragung dieser Sätze sei hier angegeben: Wenn der Gott nun immer so gut daran ist, wie wir manchmal, ist es staunenswert. Wenn er aber ηοώ besser daran ist, ist es staunenswerter. So ist er aber daran. Weiter übersetzt Hegel: „,Es ist aber auch Leben in ihm vorhanden. Denn die Wirksamkeit des Gedankens ist Leben.' . . . Besser: Denn das Leben des νους ist Wirksamkeit. ,Er aber ist die Wirksamkeit... ; die auf sich selbst gehende Wirksamkeit ist dessen vortrefflichstes und ewiges (άΐδιος) Leben. Wir sagen aber, daß Gott ein ewiges und das beste Leben sei . . .'" (SW 18, 331) Hegel geht also davon aus, daß die Wirksamkeit des Gedankens Leben sei und setzt sofort seine Korrektur dahinter, daß das Leben des νους Wirksamkeit ist. Exakt dies aber schreibt Aristoteles nicht; nach Aristoteles gilt: die Wirklichkeit des νοΰς ist Leben, nicht aber: das Leben des νοΰς ist die Wirksamkeit. In dieser Nuance spiegelt sich der Unterschied zwischen Aristoteles und Hegel: „Für sich allein verharrend, hat der Geist keine Denktätigkeit, keine Erinnerung, ja kein Bewußtsein; es ist nicht zu sagen, was ihm, außer dem Prädikat der Lebendigkeit, des Seins, noch für eine Eigenschaft oder Tätigkeit zugeschrieben werden könne." (Rohde 1925 II, 305) - Der „Philosoph" sagt, daß (eine bestimmte) Wirklichkeit Leben ist, nichts anderes als Leben ist - Leben ist ihm kein technomorpher oder prattoanaloger „Begriff" - ; der „Prattophile" sagt, daß das Leben des νοΰς aus Wirksamkeit besteht, nichts anderes als Tätigkeit ist, der gegenüber nichts Différentes mehr bestehen kann, so daß schließlich das Sich-setzen des Gedankens („die auf sich selbst gehende Wirksamkeit") das Aufheben des Lebens in der produzierten Idee sei: „Der νους als passiv ist nichts Anderes als das Ansich, die absolute Idee als an sich betrachtet, der Vater; aber erst als Tätiges wird es gesetzt. Jedoch dies Erste, Unbewegte, als von der Tätigkeit unterschieden, als passiv, ist doch als Absolutes die Tätigkeit selbst. Dieser νους ist Alles an sich; aber es ist erst Wahrheit durch die Tätigkeit." (SW 18, 332) - Aristoteles schreibt aber, daß ενέργεια δέ ή καθ' αύτήν in diesem Zusammenhang Leben ist, ein mit den höchsten Prädikaten auszuzeichnendes Leben, aber eben nicht Tätigkeit. Bei Aristoteles wird dieses Leben nicht wahr erst durch Tätigkeit, schlägt nicht in sie um, sondern es bleibt es selbst. Hegel wußte von seiner Differenz mit Aristoteles in dieser Sache, wie er zeigt, wenn er schreibt: „Das Denken ist dem Aristoteles ein Gegenstand, wie die anderen, - eine Art von Zustand." (SW 18, 332) - Den letzten Satz des an den Schluß der „Enzyklopädie" gestellten Zitats überträgt Hegel laut SW 18 nicht ganz; ζφον gibt er abstrakt mit „Leben" statt mit lebendes Wesen wieder. - Als Übersetzung für diese Partie sei versucht: Und Leben macht in ihm
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den Anfang. Denn die Wirklichkeit der Vernunft ist Leben, jener aber ((ist)) die Wirklichkeit. Seine Wirklichkeit an sich ist aber bestes und immerwährendes Leben. Wir sagen ja, daß der Gott ein immerwährendes, edelstes lebendiges Wesen sei, so daß Leben und Dauer, ununterbrochen und immerwährend, dem Gott zukommt. Denn dies ist der Gott. (Hegel liest in 1072 b 28 : φαμέν δέ entspr. Consensus codicum E und J und Codex Laurentianus; Jaeger hat dagegen in Übereinstimmung mit Bonitz φαμέν δή entspr. dem Kommentar des Themistios.) Aristoteles denkt also nicht, daß die Wirklichkeit des Lebens der Vernunft durdi Selbstproduktion entsteht, sondern durch die Aufnahmefähigkeit des νοΰς für das νοητόν, das bei Gelegenheit der νόησι,ς, aber nicht durch sie erstellt, zum νοούμενον wird. Seidl kommt in seiner Interpretation des Textes von X I I 7 zu dem Ergebnis, daß in ihm der Begriff des νοΰς auf zwei Ebenen eingeführt wird: „ . . . zum einen auf der gnoseologischen Ebene als Erkenntnisvermögen, zum andern auf der metaphysischen Ebene als stofflose abgetrennte Seinsheit. Dadurch dient dieser Begriff in besonders geeigneter Weise dazu, das oberste, göttliche Prinzip, dessen metaphysische Wesenheit Aktualität ist, näher zu bestimmen: als sittlich besten Zustand, als höchste Erkenntnisaktualität oder höchste theoretische Betrachtung und als bestes ewiges Leben." (Seidl 1971, 214 f.) Mit einer solchen parallelen Dualität, die nicht ineinander aufgehoben wird, hätte Hegel sidi nicht abfinden können. Er denkt die νόησις als reine und produzierende zugleich. Der erste Satz seiner Übersetzung des Zitats gibt dies klar an: „,Das Denken aber, das rein für sich selbst ist, ist ein Denken dessen, was das Vortrefflichste an und für sich selbst ist', - absoluter Endzweck f ü r sich selbst. Dieser Endzweck ist der Gedanke selbst; die Theorie ist daher das Vortrefflichste." (SW 18, 330) Auf Grund der vorangehenden Erwägungen sei dagegen eine Ubersetzung vorgeschlagen, die nicht vom Primat der νόησις ausgeht, sondern von einer äquivalenten Relation zwisdien νόησις und νοητόν: Die Vernehmung ((— der Vollzug der Vernunft (νους Vernunft, νόησις Vernehmung))) an sich ((hat es zu tun)) mit dem Besten an sich. Und ihre Auszeichnung ((entspricht)) seiner Auszeichnung. Empfinden, Wahrnehmen und Denken als Tun In SW 18, 390/391 faßt Hegel seine Übersetzung von Aristoteles' Metaphysik X I I 7 1072b 18-30 nodi einmal zusammen: „Denn das Aufnehmende des Wesens, der ούσία, ist der νοΰς. ((Aristoteles nennt ihn δεκτικός — zur Aufnahme geeignet.)) Er nimmt auf, was er aufnimmt, ist die ουσία, der Gedanke; sein Aufnehmen ist Tätigkeit, und bringt das hervor, was als Aufgenommenwerdendes erscheint, - er wird, sofern er hat 7 ." (SW 18, 390) Gadamer kritisiert diese Paraphrasen: „Hegel denkt also das Aufnehmen ((bei Aristoteles)) schon als Tätigkeit. Audi das ist irrig. Aristoteles meint ohne Zweifel, daß das, was aufnehmen kann, 7 Gadamer liest: „er w i r k t . . s t a t t „er wird . . ( G a d a m e r 1961, 194)
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den Charakter des Denkens zwar audi sdion hat, daß aber dies Denken seine Wirklichkeit erst dann hat, wenn es aufgenommen hat." (Gadamer 1961, 194) Hegel fährt fort: „Wenn wir den Inhalt des Gedankens, den gegenständlichen Inhalt für göttlich halten: so ist dies eine unrichtige Stellung; sondern das Ganze des Wirkens ist das Göttliche." (SW 18, 390) Aristoteles sagt aber nicht womit er die ausgewogene Relation zwischen νόησις und νοητόν verschöbe - , daß der Gedankeninhalt gegenständlicher Natur sei; er sagt allerdings deutlich genug, daß das Haben des Vernehmbaren besser ist als das, was die Vernunft aus sich selbst als Göttliches zu haben scheint. Hegel dagegen betont noch einmal den Primat der Tätigkeit: „Die Theorie, sagt Aristoteles, ist das Wirkendste und Seligste, dies ist die Beschäftigung mit Gedanken, mit dem, was aufgenommen worden ist durch die Tätigkeit. Gott ist deshalb immer so wohl daran, wie uns zuweilen." (SW 18, 390 f.) An der Meinung Hegels, daß Aufnehmen immer Tätigkeit sei, kann nicht gezweifelt werden, ebensowenig aber daran, daß er seine Auffassung bei Aristoteles unterstellt. Um die Hegeische Eindeutung der Tätigkeitsvorstellungen in ihrem vollen Umfang zu erfassen, sei noch einmal auf den Wahrnehmungsbegriff in De anima 417 b 19 eingegangen. Aristoteles parallelisiert das Wahrnehmen κατ' ένέργειαν, also das Wahrnehmen gemäß der Wirklichkeit, das wirkliche oder verwirklichte Wahrnehmen und das Betrachten. Hegel macht aus κατ' ένέργειαν ohne Sdieu ein Tun und verfährt dann damit wie mit einem Oberbegriff, dem αισΜνεσθαι und θεωρειν untergeordnet werden: „,und nach' dieser Seite, ,der Tätigkeit, verhält sich das Empfinden wie das Erkennen (Φεωρείν).'" (SW 18, 377) (Unmittelbar anschließend polemisiert Hegel gegen Passivität und Tätigkeit als nur subjektiv verstandenes Tun; er sieht beispielsweise im Leibnizischen Idealismus keinen Vorteil gegenüber der aristotelischen Subjektspassivität (vgl. SW 18, 377); wahre Tätigkeit, auch der Empfindung, ist ihm immer Selbstbestimmung der Idee. (vgl. SW 18, 378 ff.)) Aristoteles dagegen schreibt nicht, daß das Wahrnehmen eine reine Tätigkeit ist; und er kann deshalb auch nicht schreiben, daß es die gemeinsame Perspektive von αίσΜνεσθαι und θεωρειν ist. Ενέργεια hängt zwar mit έργον zusammen; dieser sprachliche Zusammenhang wird audi von Aristoteles bedacht, (vgl. Met IX, 1050 a 21 f.) Aber in der aristotelischen Lehre, insbesondere in der Möglichkeitstheorie, bezeichnet ενέργεια den Teloscharakter der Aktualisierung sowohl eines Wirkenkönnens als auch eines Seinkönnens; es bedeutet nicht Tun auf Grund eines Entschlusses oder eine Tätigkeit, die ein absolut-ideelles Ziel zu erreichen wünscht, (vgl. Stallmach 1959, 185 f.) Mehr noch als bei der Empfindung mußte es Hegel beim Erkennen und Denken unerträglich finden, daß Aristoteles nicht von einem Tätigkeitsmodell ausgeht. Diesem Tenor entsprechend gibt es zu De anima III, 4 Übersetzungsteile, denen man teilweise mehr als nur skeptisch gegenüberstehen muß: Eine wichtige Stelle bezüglich des Teils der Seele, mit dem sie erkennt und denkt περί δέ του μορίου του της "ψυχής φ γινώσκει τε ή ψυχή και φρονεί (De anima
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III, 4, 429 a 10 f.) lautet: απαθές άρα δεί είναι, δεκτικόν δέ τοΰ είδους και δυνάμει τοιούτον αλλά μή τοΰτο, και ομοίως εχειν, ωσπερ τό αίσθητικόν προς τά αισθητά, ουτω τον νουν προς τά νοητά. (De anima III, 4, 429 a 15-18) Als Übersetzung ergibt sich: So muß (dieser Teil der Seele) leidensunempfänglich sein, aber aufnahmefähig für die Form und der Möglichkeit nach so wie diese, aber eben nicht diese selbst, und in gleicher Weise verhalten sich: wie das sinnlich Wahrnehmende zu dem sinnlich Wahrnehmbaren ((steht)), so die Vernunft zum Vernehmbaren8. Aristoteles parallelisiert also zwei Verhältnisse, die die Wahrnehmung und die Vernunft betreffen. „Die geistige Erkenntnis wird, was das Bezogensein des Erkenntnisvermögens auf seinen Gegenstand angeht, von Aristoteles in strenger Analogie zur sinnlichen gesehen. Wie das αίσθητικόν nicht über die αισθητά, so verfügt auch das νοητικόν nicht von sich aus über die νοητά." (Stallmach 1959, 229) Diese Analogisierung bedeutet selbstverständlich nicht eine Identität der beiden Funktionen. Insofern braucht die Rezeptivität der Vernunft nicht wie ein bloß mechanischer Vorgang verstanden zu werden - wenn man die sinnliche Wahrnehmung bei Aristoteles so auffassen wollte: „sie ist vielmehr ein bewahrend-befreiendesZu-sich-selbst-Bringendes Erkenntnisvermögens." (Kern 1971, 249) (vgl. De anima 417b 2-16) Andererseits wird aber auch durch eine solche Interpretation der gleichartige Anfang der Wahrnehmung und der Vernunft bei Aristoteles nicht aufgehoben: Der Charakter des άπαθές der Vernunft stört nicht ihre Empfänglichkeit: „Die denkend erkennende Funktion der Seele kommt nach πψ I I I 4 mit der sinnlichen Wahrnehmung darin überein, daß sie ein πάσχειν τι, ein erleidendes Empfangen von Seiten des νοητόν, des Denkgegenstandes, ist." (Kern 1971, 249) Diese Parallelität will Hegel nicht anerkennen. „In Wahrheit ist . . . der theoretische Geist nicht ein bloß passives Aufnehmen eines Anderen, eines gegebenen Objekts, sondern zeigt sich als aktiv dadurch, daß er den an sich vernünftigen Inhalt des Gegenstandes aus der Form der Äußerlichkeit und Einzelnheit in die Form der Vernunft erhebt." (SW 10, 305) U m dem Denken diesen besonderen Akzent der „erhebenden" Tätigkeit zu verleihen bzw. zu retten, übersetzt und paraphrasiert Hegel in seinem Sinne: „,Das Denken . . . leidet nicht, ist nicht passiv (απαθές),' schlechthin tätig; ,es nimmt die Form auf, und ist der Möglichkeit nach eine solche.' Wenn gedacht wird, so ist das Gedachte insofern Objekt, aber nicht ((!)) wie das Empfunden werdende; es ist Gedanke, und dies ist ebenso der Form eines Objektiven beraubt. Das Denken ist auch δύναμις . . . ,Aber es verhält sich zum Gedaditwerdenden n i c h t ((!!)) wie die Empfindung zum Empfundenwerdenden'; hier ist ein Anderes, Sein, gegen die Tätigkeit." (SW 18, 384) Hegel übersetzt demnach eindeutig gegen den aristotelischen Text, daß die 8
Den Mittelteil will Kern übersetzen: „ . . . d e r Möglichkeit nadi ein so beschaffenes (wie die ,Form'), aber nicht ein (als Ganzes existierendes) dieses." (Kern 1971, 249 f.) Er wirft Heiler unrichtige Obersetzung vor: „ . . . und der Möglichkeit nach so sein wie die Form, aber nicht diese . . ( T h e i l e r in: Aristoteles, Über die Seele 57)
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Parallelität der beiden Verhältnisse nidit bestehe. Aristoteles schreibt - dies muß man einmal ganz hart nebeneinander stellen - : καί ομοίως εχειν, ώσπερ τό αίσθητικόν προς τά αισθητά, ουτω τον νοΰν προς τά νοητά. Hegel überträgt: „Aber es ( = das Denken) verhält sich zum Gedachtwerdenden nicht wie die Empfindung zum Empfundenwerdenden." Das „nicht" ergibt eine Verkehrung ins Gegenteil; dieses „nidit" soll den absoluten Unterschied des tätigen Denkens vom Empfinden bestätigen. - Die textliche Entstehung der Seiten 384-393 in SW 18 ist im übrigen durch Kern analysiert worden, (vgl. Kern 1955, 264-282) Danach stammen die Zeilen 8 (ab: „Das Denken . . .") bis 16 auf S. 384 aus dem nidit erhaltenen - Kollegheft Michelets des Wintersemesters 1823/24. Sie stimmen ziemlich überein mit den beiden erhaltenen Quellen dieser Vorlesung: H o t h o gibt die Passage folgendermaßen wieder: „Was das Denken betrifft so sagt Aristoteles, das Denken sei nicht passiv sondern schlechthin Tätigkeit, nimmt die Form auf und ist der Möglichkeit nach selbst eine solche. Was gedacht wird ist Objekt. Dies Objekt ist selbst ein Gedanke, und wird ebenso seiner Form eines Objektes beraubt. Das Objekt ist selbst Gedanke und selbst dynamis, Denken. Das Denken verhält sich zum Gedachten nicht wie das Empfinden zum Empfundenen." („Geschichte der Philosophie nach dem Vortrag des H . Pr. Hegel. Im Winter 1823/24. H. Hotho". Original: Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, früher Preußische Staatsbibliothek; Sigel: Ms. germ. qu. 1300, Bl. 84) Bei Hube lautet dieser Abschnitt: „Noch vom Denken wollen wir sprechen: Er sagt: Das Denken ist απαθής nicht passiv - Ähnlichkeit - es nimmt die Form auf und ist der Möglichkeit nach eine solche - wenn gedacht wird, so ist das Gedachte Objekt - aber es ist Gedanke - es wird also beraubt seiner Form als Objektives. Das Objektive als Gedachtes ist Gedanke - insofern das Denken δυναμις. Das Denken zum Gedanken verhält sich nicht so wie das Empfinden zum Empfundenen. Hier ist ein Anderes." („Bibl. R. Hube. Varsoviae." Original: Jagiellonische Bibliothek Krakau; Sigel: Inv. N r . 5023, Bl. 183) Das bemerkenswerte „nidit" ist also von zwei voneinander unabhängigen Ohrenzeugen gehört worden. Mit jeder erdenklichen Sicherheit hat Hegel es also vorgetragen. - Selbstverständlich kann man nicht annehmen, daß Hegel den hier besprochenen Satz einerseits nicht habe übersetzen können, andererseits in bewußter Absicht gefälscht habe; es handelt sich vielmehr wahrscheinlich um eine Fehlleistung: audi im Medium des absoluten Geistes — der Heimholung des philosophischen Denkens, dem Ende der Ur-Teilung seiner Idee regieren so bisweilen unerkannt die weltlichsten Wünsche. Bei Aristoteles steht das Gegenteil. Der Nous des Aristoteles will nicht denkend alles „erstellen" und „setzen" und in dieser Weise sich selbst auch erfassen: „Daß der Nous durch die Erfassung seines Gegenstandes sich selbst erfaßt, das bedarf hier, wo es sich um den höchsten Nous handelt, besonderer Erläuterung, da es dem Charakter reiner Energeia zu widersprechen scheint. ,Nous' bedeutet ,Aufnahmeoffenheit' für entsprechende Gegenstände . . . Insofern der Nous ein δεκτικόν ist, ist er eine Art Dynamis. Er geht in die zugehörige Ener-
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geia über, sobald er seinen Gegenstand tatsächlich ,aufnimmt', ,berührt', erfaßt, begreift. Er ist ενεργείς, wenn er seinen Gegenstand ,hat'. Dann ist er eigentlich er selbst, wenn er nicht mehr nur das ist, was er als Begreifenkönnen ist, sondern zugleich auch sein Gegenstand als das Begriffene . . . Am vollkommensten aber ist er ,bei sich selbst', wenn er mit dem vollkommensten Gegenstand eins ist." (Stallmach 1959, 220) Damit wird zurückgelenkt auf den oben untersuchten Satz aus Metaphysik 1072 b 22 f.: τό γαρ δεκτικόν τοΰ νοητοί) και της ουσίας νους, ένεργεΐ δέ εχων, ωστ' εκείνου μάλλον τοΰτο δ δοκει ό νους θείον εχειν, και ή θεωρία τό ήδιστον και άριστον. (Hegels Lesart: έκείνο . . . τούτου) Für Aristoteles ist das Empfangenkönnen, das Aufnehmenkönnen des Nous also Dynamis; Wirklichkeit wird das Denken erst, wenn es das νοητόν empfangen hat; insofern ist die Wirklichkeit, nicht aber das Wirken, der Möglichkeit des Denkens überlegen. Hegel dagegen setzt „den Vorrang des Wirkendseins so selbstverständlich voraus, daß er den ganzen Zusammenhang von Aufnehmenkönnen des Gedankens und Haben gar nicht mehr als begründenden Gedankengang erkennt. So ist sein Ergebnis zwar richtig: ,Der Nous denkt nur sich selbst, weil er das Vortrefflichste ist.' Aber dieser Satz meint für Hegel, daß selbstverständlich das Selbst des Denkens, die freie Tätigkeit und nicht etwa ein Gedachtes das Höchste ist. Für Aristoteles dagegen muß zur Bestimmung des Höchsten erst einmal und gerade vom Gedachten ausgegangen werden. Denn alles Denken ist um des Gedachten willen. Er schließt so: Wenn der Nous das Höchste sein soll - wie feststeht - , darf das, was er denkt, das Gedachte, nichts anderes sein als er selbst. Deshalb denkt er sidi selbst." (Gadamer 1961,194 f.) In seiner These des Primats des Sich-Selbstdenkens des Nous glaubt Hegel, sich mit Aristoteles einig zu wissen. In Wirklichkeit liegen schwerwiegende Differenzen vor. Denn bei Aristoteles bleiben im Gegensatz zu Hegel die Bestimmungen des Seienden erhalten, wenn die Dynamis des Nous dektikos wirklich wird: και εστίν ó μεν τοιούτος νους τφ πάντα γίνεσθαι. (De anima 430 a 14 f.) Und dies ist die eine Vernunft, die alles wird. Allerdings können die Dinge nicht selbst in die Vernunft eingehen (vgl. De anima 431 b 26 f.), sondern nur ihre Formen. Das νοητόν der Dinge muß noch' zum νοοΰμενον werden. „Das είδος ενυλον ist auf eine Wirkmacht angewiesen, die es aus dem Zusammenganzen mit der Hyle heraushebt und damit aus der Vereinzelung in vielen Wirklichseienden zur Einheit des καθόλου führt. Diese Aktualisierungsaufgabe am νοητόν erfüllt der Nous, der ,alles wirkt'." (Stallmach 1959, 233) ((και εστίν)) ό δέ τφ πάντα ποιεΐν. (De anima 430 a 15) Und dies ist die andere Vernunft, die alles wirkt. Der Primat der Energeia fordert in Aristoteles' Lehre diesen anderen νοΰς, dem erst die Kommentatoren den Namen νους ποιητικός beilegten. Aristoteles führt ihn nur ein einziges Mal in seine Lehre ein (nämlich De anima 430 a 15). Das bedeutet: ein „Namenloser" wird einmal erwähnt. Wirklich vorgestellt wird der sog. νους ποιητικός nidit. Dies ist das Eine. Die einzige Erwähnung aber befindet sich ausgerechnet in De anima III, 5, dem wegen seiner Kürze gleichermaßen berühmtesten wie berüchtigtsten Kapitel
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des Aristoteles, (vgl. Brentano 1867, 2 ff., Theiler in: Aristoteles, Über die Seele 142, Seidl 1971, 117 ff.) Zahlreiche und einander widersprechende Kommentare liegen zu ihm vor. Die Widersprüche in den Deutungen begannen schon in der Antike bei Simplikios und Philoponos. Im vorliegenden Zusammenhang sei nur auf eines aufmerksam gemacht. Über das Verfahren, das der sog. Nous poietikos anwendet, wird einzig gesagt: ώς έξις τις, οίον τό φως (De anima 430 a 15), d. h. es kann über ihn nicht mehr ausgesagt werden, als diese Lichtanalogie hergibt. Die Weise des Nous poietikos ist also wie ein Verhalten, wie ((es)) das Licht ((hat)). "Εξις bedeutet Haltung, Verhalten, Zustand, Fähigkeit - nicht aber Handeln. Der sog. Nous poietikos ist also gerade nicht produzierend, setzend, arbeitend usw.; er ist kein Werkmeister, er verändert nichts tätig. Audi der Modus der zugehörigen Verben εχειν, haben und φαίνειν, Akt.: leuchten lassen, Pass.: leuchten, bezeichnet gegenüber den Substantiven εξις und φως keine Aktivierung und keinen herstellenden Charakter. Eine Definition des Lidites gibt Aristoteles in De anima 418 b 9 f.: φως δέ έστιν ή τούτου ενέργεια, του διαφανούς fj διαφανές. Licht ist die Wirklichkeit dieses Durchscheinenden, des Durchscheinenden, insofern es durchscheinend ist. Die Definition des Lichtes erfolgt also mittels der Angabe eines physikalischen Zustandes. Es gibt keinen Hinweis darauf, daß Aristoteles in dem „intelligiblen" Kapitel 5 in Buch III diese psychophysikalische Argumentationsweise verläßt. Man warf sich früher wahrscheinlich nur zu leicht darauf, daß Aristoteles etwas weiter schrieb: άεί γάρ τιμιώτερον τό ποιοΰν του πάσχοντος και ή άρχή της ϋλης. (De anima 430 a 18 f.) Denn immer ist das Wirken ehrenwerter als das Erleiden und der Grund als die Materie. Dieses ποιούν ist aber nichts anderes als das dem Licht ähnliche oder vergleichbare: τρόπον γάρ τινα και τό φως ποιεί τα δυνάμει δντα χρώματα ενεργείς«: χρώματα. (De anima 430 a 16 f.) Denn in einer gewissen Weise macht auch das Licht die der Möglichkeit nach seienden Farben zu wirklichen Farben. Diese Leistung des Lichts muß man materiell interpretieren, wenn man nur an Licht denkt; geht man aber davon aus, daß Aristoteles ein ontologisches Bild benutzt habe, kommt man immer noch nicht zu Vorstellungen des Produzierens, Verfertigens oder Setzens, sondern dazu, daß etwas aufleuchtet, u. z. dem Licht die Farben, dem Nous die Eide. (Daß Aristoteles mit Sicherheit kein bestimmtes Modell geistiger Tätigkeit beschreibt, geht audi daraus hervor, daß er die Unbestimmtheitsformel τρόπον γάρ τινα verwendet.) „Die Wirksamkeit des Nous besteht also keineswegs in einem Setzen des Gegenstandes, sondern nur - um im Bild vom Licht zu bleiben - in einem Aufleuchtenlassen seiner Wesensstruktur." (Stallmach 1959, 236) Und so bedeutet die Angabe über den anderen νους in De anima 430 a 18 τη ούαίςί ών ενέργεια ohne Vorgriff auf spätere Nachdenker, die dieses Kapitel zu eigenen Zwecken kategorial systematisieren wollten oder mußten, zunädist nur, daß die Vernunft dem Wesen nach Wirklichkeit ist. Dies ist das Andere. Die Abstraktion des Eidos erfordert einen anderen Nous als die sinnliche Wahrnehmung; aber damit die Objektivität der Erkenntnis gesichert bleibt, darf dieser Nous nichts machen oder verändern an Eidos und Hyle. Er darf die Eide
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nur bei Lidit besehen, damit sie ihm hell und durchsichtig werden, nicht damit er selbst sie hell und durchsichtig macht. So wie im Zustand des Lichtes Farben erscheinen, so wird im Dunkel alles unsichtbar und undurchsichtig: εστι δέ τό σκότος στέρησις της τοιαύτης εξεως έκ διαφανούς. (De anima 418 b 18 f.) Es ist aber das Dunkel Verlust dieses Verhaltens aus dem Durchscheinenden. - Hegel nennt den sog. Nous poietikos ausdrücklich im Sinne seines Systems „tätig" (vgl. SW 18, 388); ihm zufolge erarbeitet sich der Nous die Wahrheit. „ . . . er ist erst durch die Tätigkeit des Denkens; an sich ist der νους Alles, aber nicht ohne daß er denkt, - er ist absolute Tätigkeit, existiert n u r so, und ist, wenn er tätig ist." (SW 18, 385)® In neueren Aristotelesforschungen wird dagegen wieder ganz anders interpretiert. So kommt Seidl in seinen Untersuchungen (Seidl 1971, 229 ff.) zu dem Ergebnis, daß der aristotelische νους beim Menschen in einem umfassenden Gegensatz zu den Sinnesvermögen steht und daß in ihm ein theoretischer von einem praktischen νους unterschieden werden kann. Die Ansetzung eines eigenen poietischen νους wird dagegen u. a. unter Bezug auf die Nikomachisdie Ethik abgelehnt. Auf Grund seiner Analysen wird von Seidl der Schluß gezogen, „daß das aristotelische Verständnis des göttlichen Prinzips als νόησις νοήσεως nicht von einem ins Absolute gesteigerten Selbstbewußtsein aus, sondern von dem bis zum obersten Seinsprinzip hinaufgeführten Objektbewußtsein gewonnen wird". (Seidl 1971, 231)
Die Einzigkeit des Tuns Hegels erkennender Nous ist n u r als absolute Tätigkeit. Welche umfassende und absolute Rolle der Tätigkeitsvorstellung weiterhin zugedacht wird, zeigt die Wiederkehr dieses ausschließenden n u r bei anderen Bestimmungen oder Regionen der menschlichen Person. Bezüglich des Willens schreibt Hegel: „ . . . der Wille ist n u r das, wozu er sich setzt: er . . . kann, was er ist, n u r durch seine Arbeit werden." (SW 7, 189) Es ist nicht möglich, daß „man den Willen schon als vorausgesetztes Subjekt oder Substrat ausdrückt, aber er ist nicht ein Fertiges und Allgemeines vor seinem Bestimmen und vor dem Aufheben und der Idealität dieses Bestimmens, sondern er ist erst Wille als diese sich in sich vermittelnde Tätigkeit und Rückkehr in sich". (SW 7, 59) Da die verwirklichte Realität des Willens sich selbst produziert, kann auch der Begriff des Willens nur aus Selbsttätigkeit stammen: Wirklichkeit und Wesen des Willens sind nur durch ihn selbst gemacht. - Für die Gewinnung der Freiheit des Fürsichseins gilt: Die formale Struktur des menschlichen Individuums ist das Fürsichsein; wirklich wird sie nur durch Handeln und Tun, besonders dadurch, daß sie das Sein als ihr anderes an ihr tilgt und in dieser Aufhebung ihre Negativität als ihre Realität produziert. So „bewährt die Freiheit des Fürsichseins sich n u r in der Leichtigkeit, mit allem sich einzulassen und sich in dieser Mannigfaltigkeit zu erhalten". (Phän 214) Das 9
Die Sperrungen des Wortes „nur" in den Hegelzitaten erfolgen zusätzlich.
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Fürsidisein ist so die Absicht der Vernunft, der gewinnend Überlebende zu sein und alle Voraussetzungen seiner selbst zu negieren, vor allem aber, selbst nicht mehr Sein, sondern nur noch Negativität als Negieren zu sein, also die Allgemeinheit, die sich selbst bewegt. - Ähnliche Thesen gelten schließlich für die Person selbst: Eine wirkliche menschliche Person, die nur an sich wäre, gibt es deshalb für Hegel nicht; sie muß sich erst für sich dazu machen. „Wenn der Embryo wohl an sich Mensch ist, so ist er es aber nicht für sich; für sich ist er es n u r als gebildete Vernunft, die sich zu dem gemacht hat, was sie an sich ist." (Phän 22) „Das Kind ist an sich Mensch, hat erst an sich Vernunft, ist erst Möglichkeit der Vernunft und der Freiheit, und ist η u r so dem Begriff nach frei. Was nun so erst an sich ist, ist nicht in seiner Wirklichkeit. Der Mensch, der an sich vernünftig ist, muß sich durch die Produktion seiner selbst durcharbeiten durch das Hinausgehen aus sich, aber ebenso durch das Hineinbilden in sich, daß er es auch für si