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German Pages 303 [304] Year 2022
Günter Meckenstock Protestantismus und Moderne
Schleiermacher-Archiv
Herausgegeben von Notger Slenczka und Andreas Arndt, Jörg Dierken, Lutz Käppel, André Munzinger
Band 33
Günter Meckenstock
Protestantismus und Moderne Studien zu Theologie, Philosophie und Ethik Herausgegeben von Anette Hagan, Michael Pietsch und Dirk Schmid
ISBN 978-3-11-074542-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-074549-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-074558-0 ISSN 1861-6038 Library of Congress Control Number: 2021952347 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Frontispiz: Günter Meckenstock, Foto aus privatem Besitz www.degruyter.com
Vorwort Günter Meckenstock ist am 10. Juli 2020 mit 72 Jahren verstorben. Sein Name ist in der akademischen Welt vor allem mit seiner langjährigen Tätigkeit als Editor und geschäftsführender Herausgeber der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Friedrich Schleiermachers verbunden. Sein wissenschaftliches Oeuvre ist aber sehr viel breiter und durch eine wechselseitige Verschränkung und Reflexion theologischer, philosophischer und ethischer Problemstellungen im Horizont der Moderne charakterisiert. Dieser Dreiklang von Theologie, Ethik und Philosophie liegt auch der formalen Unterteilung der hier versammelten 19 Einzelstudien aus vier Jahrzehnten zugrunde. Innerhalb der einzelnen Themenkreise folgt die Anordnung der Beiträge einem chronologischen Prinzip mit Ausnahme der Texte, die sich speziell mit dem Werk Schleiermachers beschäftigen. Sie werden jeweils am Ende der drei Themenbereiche gesondert zusammengestellt. Auf einen Nachweis der Orte der Erstveröffentlichung wurde verzichtet, da diese leicht über die beigegebene Bibliographie des wissenschaftlichen Oeuvres von Günter Meckenstock ermittelt werden können. Die einzelnen Beiträge sind formal vereinheitlicht und moderat an die neue deutsche Rechtschreibung angeglichen worden, ohne dass ihre jeweilige Eigenart dadurch aufgehoben worden wäre. Der Beitrag „On Pantheism and Panentheism“ (Nr. 3) ist stilistisch stärker überarbeitet worden. Offensichtliche Druckversehen wurden stillschweigend korrigiert. Zwei Texte waren bisher nur auf Japanisch publiziert und werden hier erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht (Nr. 13 und 14). Günter Meckenstocks Darstellung ist sprachlich wie gedanklich häufig sehr konzentriert und präzise. Blumige Ausschmückungen und argumentative Nebelkerzen waren ihm ein Gräuel. Die Auseinandersetzung mit seinen Texten kann immer wieder neu zu einem kritischen und produktiven Nachdenken über Gott, den Menschen und die Welt im Angesicht der Moderne anregen. Sein Tod hat viele, die ihm nahe standen tief erschüttert. Er selbst hat dieses Gefühl in einer Reflexion über die Sterblichkeit des Menschen in der ihm eigenen Diktion klar und einfühlsam beschrieben: „Der Tod der Anderen greift mehr oder minder tief auch in das je eigene Leben ein, denn beim Ableben nahestehender Menschen stirbt ein Stück des eigenen Lebens. Der Tod Anderer ist für jede Person umso bedeutsamer und schmerzlicher, je enger die persönliche Beziehung zu ihnen war […]. Bricht eine solche Beziehung ab, so geht ein Teil des eigenen gestalteten Lebens verloren.“¹ Die Unterzeichneten haben über Jahrzehnte hinweg eng und vertrauensvoll mit Günter Meckenstock zusammengearbeitet. Sie waren ihm nicht nur kollegial, sondern auch freundschaftlich verbunden und haben sich zur Herausgabe
Günter Meckenstock, „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit – Denkmotive der Aufklärung,“ in Auferstehung. Ringvorlesung der Theologischen Fakultät Kiel, hg.v. Philipp David / Hartmut Rosenau, Kieler Theologische Reihe 10, Münster: Lit Verlag, 2009, 143 – 165, 146. https://doi.org/10.1515/9783110745498-001
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Vorwort
dieser Aufsatzsammlung entschlossen, um die Breite seiner wissenschaftlichen Interessen und seine Stimme im akademischen Diskurs im Bewusstsein zu halten. Unser besonderer Dank gilt Prof. Dr. Makoto Mizutani (Kyoto) für die Bereitstellung des deutschsprachigen Originalmanuskripts der beiden zuerst auf Japanisch erschienenen Studien. Darüber hinaus danken wir Prof. Dr. Notger Slenczka, Prof. Dr. Andreas Arndt, Prof. Dr. Jörg Dierken, Prof. Dr. Lutz Käppel und Prof. Dr. André Munzinger für ihre spontane Bereitschaft, den Band in das von ihnen herausgegebene Schleiermacher-Archiv aufzunehmen. Dr. Albrecht Döhnert und Katharina Zühlke vom Verlag W. De Gruyter haben das Projekt sachkundig und tatkräftig unterstützt und entscheidend zu seinem Gelingen beigetragen, wofür ihnen beiden ganz herzlich gedankt sei. Ein besonderer Dank gilt schließlich Eva Meckenstock, die ohne zu zögern ihre Zustimmung zu diesem Aufsatzband gegeben hat. Edinburgh / Neuendettelsau / Lüneburg, am Reformationstag 2021 Anette Hagan Michael Pietsch Dirk Schmid
Inhalt I. Theologie Karl Barths Prolegomena zur Dogmatik. Entwicklungslinien vom Unterricht in der 3 christlichen Religion bis zur Kirchlichen Dogmatik [1986] Über die Schwierigkeit, von Gott zu reden [1991]
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Some Remarks on Pantheism and Panentheism [1994]
31
Gott, Freiheit und Unsterblichkeit – Denkmotive der Aufklärung [2009] Schleiermachers Verknüpfung von Theologie und Ästhetik [1997] Schleiermachers Bibelhermeneutik [2001]
41
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Zeitgeschichtliche Bezüge in Schleiermachers Predigten 1808 – 1810 [2019]
87
II. Ethik Protestantisches Gewissen? Grundlinien zur Bestimmung eines schwierigen Begriffs [1988] 105 Sozialethische Motive der Zwei-Reiche-Lehre und der Königsherrschaft-ChristiLehre [1992] 117 Liebe [1993]
129
Zur wirtschaftsethischen Bedeutung des christlichen Menschenbildes [2001] 161 Schleiermachers naturrechtliche Überlegungen zur Vertragslehre (1796/97) [1985] 171 Friedensstiftende Impulse von Schleiermachers Religionstheorie [2006] Schleiermachers Theorie der Geselligkeit [2006]
193
183
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Inhalt
III. Philosophie Religion und Geschichte bei Johann Gottlieb Fichte [1993]
211
Beobachtungen zur Methodik in Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre 225 Protestantismustheorien im Deutschen Idealismus [1998] Schleiermachers Auseinandersetzung mit Fichte [1992] Schleiermachers frühe Spinoza-Studien [2002]
Bibliographie Günter Meckenstock
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I. Theologie
Karl Barths Prolegomena zur Dogmatik Entwicklungslinien vom Unterricht in der christlichen Religion bis zur Kirchlichen Dogmatik Es¹ scheint ein reizvolles und lehrreiches Geschäft zu sein, die drei uns jetzt vorliegenden Fassungen der Barthschen Prolegomena zur Dogmatik aus den Jahren zwischen 1924 und 1938 fortschreitend zu untersuchen. Jede dieser Fassungen ist mit einer bestimmten Epoche der akademischen Lehrtätigkeit Karl Barths verbunden.² Der Dogmatikkurs Unterricht in der christlichen Religion, dessen Prolegomena 1985 aus dem Nachlass publiziert wurden,³ gehört Barths Göttinger Zeit an, die Prolegomena zur Christlichen Dogmatik ⁴ seiner Münsteraner Zeit, die Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik ⁵ seiner Bonner bzw. Baseler Zeit. Für die Einschätzung der Beziehungen zwischen diesen drei Fassungen weisen Barths Selbstzeugnisse in durchaus unterschiedliche Richtung. Auf der einen Seite finden sich Briefäußerungen, die den jeweiligen Umarbeitungsprozess von der ersten zur zweiten und dann von der zweiten zur dritten Fassung im Stil des totaliter aliter und des Neueinsatzes beschreiben. Sie folgen demselben Muster, das Barth bei der Umarbeitung seines Römerbrief-Kommentars 1920/21 ausbildete.⁶ So schreibt er zur
Der folgende Aufsatz ist die nur durch Anmerkungen ergänzte Fassung meines Habilitationsvortrags, den ich am 18. Januar 1986 vor der hochwürdigen Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel gehalten habe. Zitatnachweise und Belegverweise ohne Angabe des Autors beziehen sich ausschließlich auf Karl Barth. Über dessen Veröffentlichungen informiert Hans Markus Wildi, Veröffentlichungen von Karl Barth, Bd. 1, Bibliographie Karl Barth, hg.v. Hans-Anton Drewes, Zürich: Theologischer Verlag, 1984, über die sehr umfangreiche Sekundärliteratur Manfred Kwiran, Index to literature on Barth, Bonhoeffer and Bultmann, Basel: Reinhardt, 1977. Karl Barth, Prolegomena 1924, Bd. 1, Unterricht in der christlichen Religion, hg.v. Hannelotte Reiffen, Karl Barth-Gesamtausgabe 17, Zürich: Theologischer Verlag 1985 (= Unt. 1). Erstmals teilte Wolfgang Trillhaas als Anhang zu seinem Aufsatz Karl Barth in Göttingen die Disposition des Barthschen Göttinger Dogmatikkurses Unterricht in der christlichen Religion mit (Wolfgang Trillhaas, „Karl Barth in Göttingen,“ in Fides et communicatio: Festschrift für Martin Doerne zum 70. Geburtstag, hg.v. Dietrich Rössler / Gottfried Voigt / Friedrich Wintzer, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1970, 362– 375, 374– 375). Karl Barth, Die Lehre vom Worte Gottes: Prolegomena zur christlichen Dogmatik, Bd. 1, Die christliche Dogmatik im Entwurf, München: Chr. Kaiser, 1927 (= CD); Karl Barth, Die Lehre vom Worte Gottes: Prolegomena zur christlichen Dogmatik 1927, Bd. 1, Die christliche Dogmatik im Entwurf, hg.v. Gerhard Sauter, Karl Barth-Gesamtausgabe 14, Zürich: Theologischer Verlag, 1982 (= CDS). Karl Barth, Die Lehre vom Wort Gottes: Prolegomena zur kirchlichen Dogmatik, Bd. I/1, Die kirchliche Dogmatik, München: Chr. Kaiser, 1932 (= KD I/1); Karl Barth, Die Lehre vom Wort Gottes: Prolegomena zur kirchlichen Dogmatik, Bd. I/2, Die kirchliche Dogmatik, Zollikon: Evangelischer Verlag, 1938 (= KD I/ 2). Karl Barth, Der Römerbrief. Zehnter Abdruck der neuen Bearbeitung (1922), Zürich: Theologischer Verlag, 1967, VI. https://doi.org/10.1515/9783110745498-002
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Christlichen Dogmatik im November 1926: „Die Prolegomena erscheinen mit dem bekannten Gerippe in ganz neuer Form. Es bleibt auch hier fast kein Stein auf dem andern.“⁷ Und im April 1931 äußert sich Barth über seine Arbeit an der Kirchlichen Dogmatik: „Wenn es so weitergeht wie bisher, so wird es wie 1920 der Römerbrief ein ganz neues Buch mit vielen neuen Schießscharten und unterirdischen Gängen.“⁸ Auf der anderen Seite finden sich Äußerungen, in denen Barth die Veränderungen der sich durchhaltenden Grundintention unterordnet, diese Veränderung als „Vertiefung“⁹ charakterisiert und die Entwicklung gradual durch „allmählich […] mehr und mehr“¹⁰ schildert. Diese gegenläufige Selbstdeutung von doppeltem Bruch einerseits und Kontinuität andererseits möchte ich anhand der Texte überprüfen. Dabei möchte ich so vorgehen, dass ich in einem ersten Abschnitt die historischen Entwicklungslinien kurz nachzeichne. Sodann will ich auf zwei Beobachtungsfeldern die drei Fassungen jeweils durch Längsschnitte untersuchen. Schließlich will ich die daraus sich ergebenden Tendenzen skizzieren.
1 Also zunächst schildere ich Barths Vorlesungs- und Publikationstätigkeit zum Thema der Prolegomena zur Dogmatik: Karl Barth, der reformierte Pfarrer in Safenwil, erhielt zum Wintersemester 1921/22 einen Ruf auf eine mit Geldern amerikanischer Presbyterianer neu eingerichtete Honorarprofessur in Göttingen. Sein Lehrauftrag galt der „Einführung in das reformierte Bekenntnis, die reformierte Glaubenslehre und das reformierte Gemeindeleben“.¹¹ Erstmalig wollte er für das Sommersemester 1924 „Prolegomena zur Dogmatik“ ankündigen, vierstündig. Die Göttinger Theologische Fakultät, der Barth als Honorarprofessor nicht angehörte, fasste im Dezember 1923 den Beschluss, er müsse seine „Prolegomena zur Dogmatik“ in „Prolegomena zur reformierten Dogmatik“ präzisieren.¹² Dagegen protestierte Barth förmlich und scharf.¹³ Der in den folgenden Monaten hin- und herwogende heftige Streit, in dem Barth auch das Berliner Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung ein-
Briefwechsel 1921 – 1930, Bd. 2, Karl Barth – Eduard Thurneysen: Briefwechsel, hg.v. Eduard Thurneysen, Karl Barth-Gesamtausgabe 4, Zürich: Theologischer Verlag, 1974, 441 (= BaThu 2). Brief an Thurneysen vom 2. April 1931, zitiert nach CDS (s. Anm. 4), XVII. Karl Barth, „Der Götze wackelt“: Zeitkritische Aufsätze, Reden und Briefe von 1930 bis 1960, hg.v. Karl Kupisch, Berlin: Vogt, 1961, 185. Karl Barth, Die Lehre von der Schöpfung: Vierter Teil, Bd. III/4, Die kirchliche Dogmatik, Zürich: Evangelischer Verlag, 1951, IX. Karl Barth – Rudolf Bultmann: Briefwechsel 1911 – 1966, hg.v. Bernd Jaspert, Karl Barth-Gesamtausgabe 1, Zürich: Theologischer Verlag, 1971, 215 (= BaBu). Vgl. Brief des Dekans Alfred Rahlfs vom 22. Dezember 1923, BaBu, 210. Vgl. BaBu, 211– 215.
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schaltete,¹⁴ endete inhaltlich mit einem von Barth vorgeschlagenen Kompromiss: Barth kündigte seinen Göttinger Dogmatikkurs unter einem auf den ersten Blick überraschenden Titel an – „Unterricht in der christlichen Religion“. Barth selbst sah sich genötigt, in einer Vorrede zu Beginn der ersten Vorlesungsstunde, bevor er dann mit seinem Diktat des ersten Leitsatzes die eigentliche Vorlesung eröffnete, eine Begründung für diesen Titel zu geben: Die Form der Ankündigung dieser Vorlesung bedarf einer Erläuterung. Der Titel „Unterricht in der christlichen Religion“ hat mir bereits die Anfrage eingetragen, ob ich über Religionspädagogik zu lesen gedenke. Dies ist nicht der Fall. Wenn Sie den Titel ins Lateinische zurückübersetzen: Institutio religionis christianae, so ist er gleichlautend mit dem Titel des bekannten Hauptwerkes von Calvin. Aber es handelt sich diesmal auch nicht um Calvin-Erklärung. Ich gedenke vielmehr ganz einfach über Dogmatik zu lesen, und der Titel ist nicht mehr und nicht weniger als ein Deckname, mit dem ich der Tatsache Rechnung trage, daß im Rahmen der hiesigen theologischen Fakultät unter dem allgemeinen Titel „Dogmatik“ nur lutherische Dogmatik im Vorlesungsverzeichnis und am schwarzen Brett angekündigt werden darf. Meine Dogmatik wird aber meiner Herkunft, meinem Lehrauftrag und meiner theologischen Überzeugung gemäß selbstverständlich reformierte Dogmatik sein. Als solche sie anzuzeigen habe ich vermieden, weil ich nicht einsehe, warum ich mit einer solchen konfessionellen Kennzeichnung, die der Geschichte und dem Wesen gerade der reformierten Kirche und Theologie durchaus widersprechen würde, den allgemeinchristlichen Charakter meiner Vorlesung zum vornherein in Frage stellen sollte. Der gewählte Deckname mit seiner Anspielung auf Calvin ist ein Kompromiß. Eine andere Bedeutung als diese akademische hat er nicht. Ich werde nun, nachdem durch die offizielle Ankündigung der Notwendigkeit ihr Recht geschehen ist, auf diesen Titel nicht mehr zurückkommen. Auf meinem Heft steht der Titel: „Prolegomena zur Dogmatik“.¹⁵
Barth wechselte im Herbst 1925 von Göttingen nach Münster, wo er zunächst seinen Göttinger Dogmatikkurs abschloss, indem er die noch fehlende Eschatologie nachtrug. Vom Wintersemester 1926/27 bis zum Wintersemester 1927/28 wiederholte Barth mit größeren Überarbeitungen und Erweiterungen seinen dreisemestrigen Dogmatikkurs „Prolegomena, Dogmatik I, Dogmatik II“, nunmehr fünfstündig. In den Sommerferien 1927 stellte Barth aufgrund seines Vorlesungsmanuskripts die zumeist nur geglättete Druckfassung seines Buches Die Lehre vom Worte Gottes. Prolegomena zur christlichen Dogmatik fertig.¹⁶ Im Dezember 1927 erschien dieser erste Band der Christlichen Dogmatik im Entwurf in einer Auflage von 4000 Exemplaren; er hatte privat und öffentlich eine bemerkenswerte Resonanz. Die den Prolegomena folgende materiale Dogmatik unter Ausschluss der Ethik sollte in zwei Bänden 1929 veröffentlicht werden – zusammen mit einer ergänzten zweiten Auflage der Prolegomena. Aus inneren und äußeren Gründen wurde dieser Plan nicht realisiert.
Vgl. BaThu 2 (s. Anm. 7), 213 – 214. 217. 221– 222. 245. 250 – 251, sowie Karl Barth – Martin Rade: Ein Briefwechsel, hg.v. Christoph Schwöbel, Gütersloh: Mohn, 1981, 198 – 200. Unt. 1 (s. Anm. 3), VIII (ohne Hervorhebungen des Originals). Zur Publikationsgeschichte vgl. Gerhard Sauters Bericht in CDS (s. Anm. 4), XI–XVIII; außerdem BaThu 2, 435 – 436. 441– 442. 448. 450 – 451. 501. 507.
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Im Frühjahr 1930 wechselte Barth von Münster nach Bonn. Ab Herbst 1930 war er wohl entschlossen, noch einmal eine Neugestaltung vorzunehmen: er konzipierte statt der dreibändigen Christlichen Dogmatik im Entwurf jetzt eine fünfbändige Kirchliche Dogmatik unter Einbeziehung der Ethik. Die Druckfassung der neu zu erstellenden Prolegomena arbeitete Barth wiederum parallel zu seiner Vorlesungstätigkeit aus. Er ahnte zunächst, als er im Frühjahr 1931 begann, auch nicht entfernt, wie gewaltig der Materialzuwachs sein würde und dass er statt des vorgesehenen einen Semesters für die ganzen Prolegomena allein drei Semester benötigen würde, um auch nur den Stoff des ersten Halbbandes zu bewältigen, der dann im Herbst 1932 erschien und der nur die Hälfte des Umfanges des zweiten Halbbandes hat. Dieser zweite Halbband der Prolegomena zur kirchlichen Dogmatik folgte erst 1938 und ist der Ertrag sowohl seiner restlichen Bonner als seiner anfänglichen Baseler Semester.
2 Ich lege jetzt zwei Längsschnitte durch das Textmaterial, um signifikante Änderungen aufzuspüren. Der erste Längsschnitt gilt Aufbau und Inhalt der Prolegomena.
2.1 Im Unterricht firmieren die Prolegomena nicht explizit unter dem Titel einer Lehre vom Wort Gottes. Doch belehrt ein Blick ins Inhaltsverzeichnis, dass Barth nach einem einleitenden Paragraphen zur Aufgabenbestimmung von Dogmatik und Prolegomena¹⁷ und einem weiteren zum Verhältnis der Dogmatik zur Predigt¹⁸ dann in drei großen Schritten seine Lehre vom Wort Gottes entfaltet. Er baut also schon hier seine Prolegomena mittels seiner Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes als Offenbarung, als Heilige Schrift und als christliche Predigt auf. Allerdings ist eine Asymmetrie auffällig. Das zweite und dritte Kapitel, die Lehre vom Worte Gottes als Heiliger Schrift (§§ 8 – 10)¹⁹ und die vom Worte Gottes als christliche Predigt (§§ 11– 13)²⁰, sind streng parallel durchgeführt. Hier ist Barths einheitlicher Gestaltungswille zum Erfolg gekommen. Demgegenüber ist das erste Kapitel „Das Wort Gottes als Offenbarung“ (§§ 3 – 7)²¹ in seiner Struktur und seinem methodischen Fortschreiten merkwürdig unscharf, unsicher und unfertig. Bei näherem Hinsehen zerfällt es in zwei Blöcke mit unterschiedlichen Leitbegriffen. Die §§ 3 und 4 untersuchen zwar den Offenbarungsbegriff, aber jeweils im Blick auf das Pre
§ 1 „Das Wort Gottes als Problem der Dogmatik“, Unt. 1 (s. Anm. 3), 3 – 28. § 2 „Die Predigt als Ausgangspunkt und Ziel der Dogmatik“, Unt. 1, 28 – 51. Unt. 1, 245 – 320. Unt. 1, 321– 378. Unt. 1, 53 – 244.
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digtgeschehen; hier ist der Predigtbegriff leitend. Dann kommt ein Wechsel. In §§ 5 – 7 geht es nun um die interne Analyse des Offenbarungsbegriffs. Die Wirklichkeit der Offenbarung entfaltet Barth durch die Trinitätslehre, die objektive Möglichkeit durch die am Chalcedonense orientierte Christologie, die subjektive Möglichkeit durch die Pneumatologie. Aber nicht nur das erste Kapitel als Ganzes, sondern auch die interne Entfaltung des Offenbarungsbegriffs ist nicht ohne Ungereimtheiten. Barth ist offensichtlich des traditionellen Materials noch nicht Herr; er kann es vom Offenbarungsbegriff als seinem Konstruktionsprinzip aus noch nicht durchgliedern. Es gelingt ihm nur, die Materialblöcke seinem Offenbarungsbegriff zuzuordnen. Er schafft es aber noch nicht richtig, dieses Material selbst auch entsprechend durchzubilden. Der Unterricht zeigt noch deutliche Spuren der Neigung Barths „zur freien Prophetie“²², wie er sie zusammen mit Thurneysen in seiner Safenwiler Pfarrerzeit geliebt hatte. Auch ist erkennbar, dass Barth intensive dogmen- und theologiegeschichtliche Studien erst mit Beginn seiner akademischen Lehrtätigkeit aufgenommen hatte und in dieser Hinsicht eine verzweifelte Aufholjagd betrieb.²³ Viele seiner dogmen- und theologiegeschichtlichen Kenntnisse im Unterricht gehen nicht auf die Lektüre der Quellen zurück, sondern sind aus den gängigen Kompendien geschöpft. Von daher erklärt es sich, dass seine herausgreifenden Darstellungen und seine Beurteilungen oft etwas zugleich Erfrischendes und Gewagtes haben. Barth hielt sich dadurch für salviert, dass es ihm ja auf Argumentationsfiguren und systematische Leitgedanken ankam und nicht auf historische Detailstimmigkeit. Die Prolegomena zur christlichen Dogmatik unter dem Gesamttitel Die Lehre vom Worte Gottes bringen bedeutende Präzisierungen und Differenzierungen. Sie sind nach der Einleitung von drei auf vier Kapitel und insgesamt von 13 auf 25 Paragraphen angewachsen. Die für den Aufbau der Prolegomena bestimmende Lehre von den drei Gestalten des Wortes Gottes wird nicht nur wie im Unterricht faktisch angewandt, sondern hier auch explizit erörtert,²⁴ um sie schließlich in der Kirchlichen Dogmatik für eine methodische Selbstrechtfertigung der Prolegomena²⁵ zu nutzen. Barth hat bei der Münsteraner Wiederholung seines Dogmatikkurses ganz offensichtlich die methodische und thematische Inkohärenz seines ersten UnterrichtsKapitels „Das Wort Gottes als Offenbarung“ bemerkt. Der Neugestaltung dieses Kapitels gilt Barths ganze Bemühung. Er begegnet den Unstimmigkeiten dadurch, dass er dieses Kapitel nun in der Christlichen Dogmatik zweiteilt. Den ersten Teil verselbständigt er unter starker Ausweitung zu dem neuen Kapitel „Die Wirklichkeit des Wortes Gottes“²⁶. Den zweiten Teil des ersten Unterrichts-Kapitels lässt Barth in seinem neuen zweiten Kapitel „Die Offenbarung Gottes“²⁷ quantitativ aufs Doppelte
BaThu 2 (s. Anm. 7), 217. Vgl. z. B. BaThu 2, 59 – 61. 99. 243. Vgl. CD (s. Anm. 4), 37– 47; CDS (s. Anm. 4), 58 – 69. Vgl. KD I/1 (s. Anm. 5), 305 – 310. CD, 18 – 125; CDS, 33 – 164. CD, 126 – 333; CDS, 165 – 434.
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anwachsen und differenziert es sehr viel sorgfältiger und genauer in drei Abschnitten mit jeweils mehreren Paragraphen. Jetzt ist auch die Untergliederung durchweg nach sachlichen Gesichtspunkten vorgenommen. Der dogmatische Gedanke ist des Stoffs Herr geworden. Die Gliederung erfolgt von innen heraus. Äußerliche, darstellungstechnische Gesichtspunkte sind verabschiedet. Barth hat sein drittes und viertes Kapitel der Christlichen Dogmatik: „Die heilige Schrift“²⁸ und „Die Verkündigung der Kirche“²⁹ weitgehend aus dem Unterricht übernommen. Hier finden sich allenfalls Verdeutlichungen. Bei den Prolegomena zur kirchlichen Dogmatik treten Kontinuität und Wandel im Vergleich mit der Christlichen Dogmatik augenfällig hervor. In beiden Fassungen geht es um „Die Lehre vom Wort Gottes“. Den Gesamtaufriss der Prolegomena übernimmt Barth aus der Christlichen Dogmatik. Das heißt auch die Kirchliche Dogmatik hat Prolegomena mit vier Kapiteln, deren zweites Kapitel wiederum in drei Abschnitte unterteilt ist. Die Zahl der Paragraphen ist geringfügig von 25 auf 24 geschrumpft. Der größte Eingriff und stärkste Wandel, ja die einzige echte Neuerung im Aufbau, hat im ersten Kapitel stattgefunden. Es ist von sechs auf fünf Paragraphen verringert und statt „Die Wirklichkeit des Wortes Gottes“ in der Kirchlichen Dogmatik „Das Wort Gottes als Kriterium der Dogmatik“³⁰ überschrieben. Völlig neukonzipiert ist daher § 5 „Das Wesen des Wortes Gottes“³¹, der die §§ 5 – 6 der Christlichen Dogmatik ersetzt. Barth denkt hier seine Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes so fort, dass das in diesen drei Gestalten sich durchhaltende und artikulierende Wesen des Wortes Gottes als Rede, als Tat und als Geheimnis zur Darstellung gebracht wird. Er fasst hier die dreimal drei Näherbestimmungen des Wortes Gottes selbständig zusammen, die er in der Christlichen Dogmatik mittels seiner Analyse einer kirchlich orientierten Anthropologie erläutert hatte.³² Diese Betonung der exklusiven Vorgegebenheit des Wortes Gottes bringt allerdings nicht nur ein Abschneiden aller anthropologisierenden Fehldeutungen, ein Wegwischen jedes Hauchs von menschlicher Beteiligung und Selbständigkeit, eine Konzentration auf das selbstmächtige Wort Gottes allein, sondern sie bringt zugleich eine Akzentverschiebung im Begriff des Wortes Gottes selbst. Das Wort Gottes wird von Barth jetzt so formuliert, dass seine Aktuosität zugunsten seiner Positivität zurücktritt. Die Betonung der Vorgängigkeit und Aseität des Wortes Gottes lässt den Geschehenscharakter schwinden. Während im Gesamtaufbau der Kapitel und Abschnitte die Kirchliche Dogmatik nur im ersten Kapitel von der Christlichen Dogmatik stärker abweicht und auch die Themen in den Paragraphen weitgehend beibehalten werden, machen das geänderte Gesamtkonzept und die Methodenfrage sich doch verschiedentlich bemerkbar. Die Einbeziehung der Ethik in die Dogmatik ist ja für Barth kein theoretisches Zusam
CD (s. Anm. 4), 334– 410; CDS (s. Anm. 4), 435 – 530. CD, 411– 463; CDS, 531– 587. KD I/1 (s. Anm. 5), 47. KD I/1, 128 – 194. CD, 62– 65. 79 – 82. 110 – 112; CDS, 87– 90. 106 – 109. 148 – 150.
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menstückeln voneinander unabhängiger Lebenswirklichkeiten. Sondern Barth möchte durch dieses Einbeziehen die einheitliche und universale Wirksamkeit des Wortes Gottes artikulieren. Barth lehnt eine Trennung ab, weil dadurch die Dogmatik in den Geruch der Wirklichkeitsfremdheit komme und die Ethik im Zuge der Anthropologisierung eine Aufwertung erfahre, die das in der Dogmatik ausgemerzte Grundübel der modernistischen Theologie wieder durch die Hintertür hereinlasse: die Selbstmächtigkeit des Menschen gegenüber Gott.³³ Die Methodendiskussion verändert die Bedeutung der Prolegomena insofern, als die Prolegomena nicht nur in einer Mangelsituation der vorläufigen Verständigung mit den Zeitgenossen dienen, sondern auch die affirmative Aufgabe einer Verständigung über den eigentümlichen Erkenntnisweg der Dogmatik erhalten. Nicht mehr der unklassische Status der eigenen Zeit veranlasst die Prolegomena,³⁴ sondern die Notwendigkeit, dem methodischen Bestimmtsein der Dogmatik durch die eigene Sache nachzugehen.³⁵ Der Kampf gegen die natürliche Theologie auch im Rahmen der Dialektischen Theologie, das heißt die Vielzahl der Abwege und Deckwege der Anthropologisierung steht jetzt vor Barths Auge. Hier wütet seine Polemik. Deshalb wird jeder Anschein von menschlicher Selbstmächtigkeit und Eigenständigkeit gegenüber dem Wort Gottes getilgt, der Vermittlungsprozess streng einlinig vom alleinigen Subjekt Gott gedacht.
2.2 Den zweiten Längsschnitt vollziehe ich auf dem Beobachtungsfeld der Programmatik und Methodik: Barths theologisches Programm ist das einer Theologie des Wortes Gottes. „Dogmatik ist Besinnung auf das Wort Gottes.“³⁶ Schon im Unterricht ist sein Dogmatikbegriff inhaltlich und strukturell an seiner Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes ausgerichtet. Der Leitsatz von § 1 gibt eine inhaltliche Definition: Das Problem der Dogmatik ist die wissenschaftliche Besinnung auf das Wort Gottes, das, in der Offenbarung von Gott gesprochen, in der heiligen Schrift von Propheten und Aposteln wiedergegeben, in der christlichen Predigt heute zur Aussprache und zum Gehör gebracht wird und werden soll. Prolegomena zur Dogmatik nennen wir den Versuch einer grundsätzlichen Verständigung über den Gegenstand, die Notwendigkeit und den Weg dieser Besinnung.³⁷
Doch wird durch diese Definition der Dogmatik die Problemlage, auf die geantwortet werden soll, und das treibende Motiv nur angedeutet. Entgegen dem objektiven Bedeutungsgefälle von der Offenbarung Gottes zur Predigt steht motivatorisch und
Vgl. KD I/2 (s. Anm. 5), 875 – 890. Vgl. Unt. 1 (s. Anm. 3), 24– 27, und CD (s. Anm. 4), 10 – 14; CDS (s. Anm. 4), 24– 29. Vgl. KD I/1 (s. Anm. 5), 24– 35. Unt. 1, 12. Unt. 1, 3 (ohne Hervorhebungen des Originals).
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noetisch die christliche Predigt an der Spitze der Dogmatik. Die christliche Predigt löst dogmatische Fragen und Überlegungen aus. Zu jedem Sonntagsgottesdienst und zu jedem Kasualgottesdienst sieht sich der Prediger erneut mit der Frage konfrontiert: „Was willst du sagen?“³⁸ Und die Antwort, die Barth nicht müde wird zu wiederholen, lautet: Du als Prediger musst und kannst es wagen, von Gott zu reden.³⁹ Die Menschlichkeit und das heißt die Vieldeutigkeit der Predigt, in der sich ja Gott selbst zu Gehör bringen will, bedarf der wahren, von der Sache herkommenden Kritik, bedarf der dogmatischen „Katharsis“⁴⁰. Die Dogmatik bestimmt sich so als „Hilfsfunktion der Predigt“⁴¹. Während Barth am Anfang eine gegenstandsbezogene, jedoch latent funktionale Definition der Dogmatik gibt und diese Verschränkung auch in den Untersuchungen der Prolegomena mehr oder minder beibehält, schließt er mit einer operational-methodologischen Definition. In seinem dritten Unterrichts-Kapitel stellt er die Kategorien bereit, mit deren Hilfe er die materiale Dogmatik so formulieren kann, dass sie der Aufgabe kritischer Prüfung der kirchlichen Verkündigung gerecht wird. Im Unterricht ist das Wagnis der christlichen Predigt der Auslöser der Dogmatik. „Praedicatio verbi Dei est verbum Dei“, dieser aus der Confessio Helvetica posterior stammende Leitsatz⁴² setzt das dogmatische Fragen in Gang.⁴³ Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit diese Behauptung zu Recht aufgestellt werden kann? Barth folgt hier den Pfaden der durch Kant inaugurierten Transzendentalphilosophie, um mittels der methodischen Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit die Legitimationsmomente der faktisch vorhandenen christlichen Predigt zu erheben. Er rekonstruiert die Möglichkeitsbedingungen christlichen Redens. Konkurrierend zur aposteriorisch-konditionalen Rekonstruktion, aber gegen dieses Verfahren nicht abgegrenzt und auch als eigenes Verfahren nicht ausgewiesen, praktiziert Barth beim Offenbarungsthema eine dialektisch-genetische Begriffs- und Traditionsanalyse. Eine methodische Beeinflussung durch Kant zeigt sich auch in Einzelheiten. So erschließt Barth die zweite und die dritte Gestalt des Wortes Gottes in ihrer gegenseitigen Bezogenheit durch eine zwölfstellige Kategorientafel.⁴⁴ Kants Kritik der reinen Vernunft war hier offensichtlich das Vorbild. Diese Kategorientafel soll die Vollständigkeit der Grundbegriffe zur Erfassung des vergangenen und gegenwärtigen Offenbarungszeugnisses sicherstellen.
Unt. 1 (s. Anm. 3), 6 (ohne Hervorhebungen des Originals). Vgl. Unt. 1, 6 – 7. 53 ff. 321 ff. Unt. 1, 377, vgl. auch Unt. 1, 45. Unt. 1, 347. Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche in authentischen Texten mit geschichtlicher Einleitung und Register, hg.v. Ernst Friedrich Karl Müller, Leipzig: Deichert, 1903, 171,10 (ohne Hervorhebungen des Originals). Vgl. Unt. 1, 40. 325. Vgl. Unt. 1, 370 – 371.
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Zwei methodische Schwierigkeiten erörtert Barth im Unterricht und in den anderen beiden Fassungen ausführlich. Das erste Problem betrifft die Prolegomena selbst, das zweite die Gesamtdogmatik. Erstens kommt das Dilemma offen zur Sprache, dem sich alle Prolegomena ohne externe Prinzipienbezüge konfrontiert sehen. Barth gesteht ein, dass er seine Prinzipienlehre nicht anders entfalten kann als in Gestalt einer methodisch bedenklichen petitio principii. ⁴⁵ Die technisch-methodische Schwäche, die Barth hier ins Licht stellt, ergibt sich aus der Selbstrückläufigkeit der Dogmatik, ihrer Selbstgeschlossenheit und totalen Hingewiesenheit auf die in ihr zur Sprache kommende Sache. Die dogmatischen Sätze stützten sich allein wechselseitig. Das in den Prolegomena zu erarbeitende kritische Prinzip für alle dogmatischen Einzelaussagen lässt sich allein durch bewusste paradigmatische Prolepsen ausgewählter Einzelthemen vor Augen führen und als Norm präparieren. Zum zweiten gewinnen die Unterrichts-Prolegomena für Barth in seiner Ausführung ein großes systematisches Gewicht, das in merkwürdigem Kontrast zu seiner anfänglichen Zurückhaltung steht. Die Prolegomena entwickeln nämlich die für die materiale Dogmatik leitenden „Hauptgesichtspunkte, um den Stoff zu überblicken“⁴⁶. Sie geben das einzige systematische Gerüst ab, das den in Gestalt von Loci versammelten Stoff zu bearbeiten erlaubt. Die Prolegomena sind für Barth gerade wegen seines Antisystem-Affekts so wichtig. Sie ziehen das systematische Interesse auf sich. Dementsprechend weist er den Prolegomena die Aufstellung der Hauptgesichtspunkte und der durchgeführten materialen Dogmatik die strenge und deutliche Prüfung des Einzelnen in Gestalt der Loci zu. „Die Entscheidung fällt überall im Einzelnen.“⁴⁷ Den Systemanspruch lehnt er für die Dogmatik ab.⁴⁸ Das System schläfere das Denken ein. Die Dogmatik brauche die Unruhe des kritisch schärfenden Denkens, um ihren Zweck erfüllen zu können. Die mit jedem System intendierte Vollständigkeit der Darstellung sei angesichts der christlichen Wahrheit sowieso unerreichbar. Das System hemme die Schärfe und die lebendige Offenheit dogmatischer Arbeit. Die Prolegomena zur christlichen Dogmatik bringen programmatisch und methodisch eine dreifache Präzisierung. Erstens macht Barth dem methodischen Ineinander von reduktiv-konditionaler und deduktiv-genetischer Verfahrensweise ein Ende und ordnet beiden je einen Untersuchungsgang zu, der im Gesamtaufriss eine spezifische Aufgabe hat.⁴⁹ Das erste Kapitel „Die Wirklichkeit des Wortes Gottes“ fragt nach der Wirklichkeit, in der die christliche Verkündigung, die ja faktisch mit Anspruch auf göttliche Vollmacht auftritt, gründen muss, damit dieser Anspruch nicht als illusionär verworfen werden muss. Demgegenüber zeigen das zweite bis vierte Kapitel die ge-
Vgl. Unt. 1 (s. Anm. 3), 97– 102. 161– 163, außerdem CD (s. Anm. 4), 14– 17. 105 – 110; CDS (s. Anm. 4), 29 – 32. 142– 148, sowie nur implizit KD I/1 (s. Anm. 5), 41– 43. Unt. 1, 368. Ebd. Vgl. auch CD, 426 – 427. 451– 452; CDS, 547– 548. 574– 575, sowie KD I/2 (s. Anm. 5), 963 – 973. Vgl. CD, 126; CDS, 165.
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netische Entwicklung der drei Gestalten des Wortes Gottes vom Offenbarungs- zum Predigtbegriff. Zweitens nimmt Barth innerhalb des ersten Kapitels einen Methodenwechsel vor von der phänomenologischen zur existentiellen Betrachtungsweise.⁵⁰ Die sogenannte phänomenologische Betrachtungsweise bringt als Einführung in die Thematik nur so etwas wie eine Bilanz der Lage, eine Ermittlung der an der Problemkonstellation beteiligten objektiven Faktoren, eine Auflistung ihrer Beziehungen – doch gerade unter Abstraktion von der konkreten Situation, vom predigenden und hörenden Menschen einerseits und der intentionalen Bezogenheit des sich selbst artikulierenden Wortes Gottes auf den Menschen andererseits. Die sogenannte existentielle Betrachtungsweise liefert die Erfassung genau dieser konkreten Situation, wo das Wort Gottes dem Menschen begegnet. Drittens erläutert Barth die funktionale und die inhaltliche Seite seines Dogmatikbegriffs in jeweils selbständigen Gedankengängen. Barth setzt mit einer funktional auf die christliche Rede bezogenen Kontextdefinition ein.⁵¹ Nach dem Durchgang durch die „Wirklichkeit des Wortes Gottes“ stellt Barth zum zweitenmal einen Dogmatikbegriff auf, diesmal einen inhaltlich qualifizierten und prägnanten.⁵² Er schließt endlich seine Prolegomena mit einer operational-methodologischen Definition.⁵³ Die Prolegomena zur kirchlichen Dogmatik haben gleichfalls diese dreifach unterschiedene Erörterung des Dogmatikbegriffs, wobei allerdings jetzt die funktionale Kontextbestimmung durch den Kirchenbegriff vorgenommen⁵⁴ und methodologisch die reine Gegenstandsbestimmtheit des dogmatischen Denkens herausgestellt wird. Dogmatisches Denken ist Dienst am sich selbst artikulierenden und darstellenden Wort Gottes. „Dogmatische Methode besteht also schließlich schlicht darin, daß Gottes Werk und Handeln in seinem Wort über Alles (wirklich über Alles!) geehrt, gefürchtet und geliebt werde.“⁵⁵ Die Offenheit für neue vom Gegenstand inaugurierte Erkenntnisse und die grundsätzliche Unabgeschlossenheit des dogmatischen Weges verhindere letzte Resultate und Totalansichten, weise das nie endende dogmatische Hören und Lehren in permanenter Forschung an jedem Einzelpunkt immer wieder auf die nie erreichbare und immer wirkmächtige Mitte, das Wort Gottes. Barth nimmt den Methodenwechsel der Christlichen Dogmatik von der phänomenologischen zur existentiellen Betrachtungsweise ausdrücklich zurück⁵⁶ und konzipiert deshalb das erste Kapitel neu. Die existentielle Betrachtungsweise wird von ihm als verfehlt verworfen und ausgetilgt. Die phänomenologische Methode mit ihrer distanzierten Lage- und Faktorenanalyse weicht einem affirmativen Berichtsverfah-
Vgl. CD (s. Anm. 4), 47– 49; CDS (s- Anm. 4), 69 – 71. Vgl. CD, 1; CDS, 13. Vgl. CD, 112; CDS, 150. Vgl. CD, 429. 447; CDS, 549. 569. Vgl. KD I/1 (s. Anm. 5), 1. KD I/2 (s. Anm. 5), 970. Vgl. KD I/1, 128 – 136.
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ren. Genauer: Barth folgt jetzt einer Methodik des fides quaerens intellectum, die die vorgängige Tatsachenerschließung der Wirklichkeit des Wortes Gottes durch deren nachgängige Möglichkeitserfassung zu verstehen sucht.⁵⁷ Dadurch setzt er seine theologisch-erkenntnistheoretische Leitidee der analogia fidei ⁵⁸ methodologisch um. Barth plädiert für eine an Loci orientierte dogmatische Methode gegen jede Systembildung. Die vier inhaltlich notwendig abzuschreitenden Loci De Deo, De creatione, De reconciliatione und De redemptione haben ihre Einheit und unterschiedene Selbständigkeit aus dem Faktum der Offenbarung des einen dreieinigen Gottes. Diese vier Loci erfassen nicht die Mitte der göttlichen Offenbarung selbst, sondern sind offene Linien, die von dieser Mitte ausgehen und ins Unendliche weisen. Sie sind selbständig, sie erläutern sich gegenseitig, sie stehen nebeneinander. Alle ließen sich zur Grundanschauung eines dogmatischen Systems machen, alle sind in der Theologiegeschichte einmal dazu gemacht worden und hätten dann die jeweils drei anderen sich eingegliedert.⁵⁹ Gerade damit sei aber ihre Eigenart als selbständige Momente des Offenbarungsgeschehens verfälscht worden. Barth gebraucht hier den Systemgedanken als Vermeidungs- und Ausschließungsregel, um dogmatische Fehlentwicklungen zu verhindern, die als Möglichkeiten in seinen Aussagen sehr wohl angelegt sind. Sofern die Dogmatik eine „Funktion der lehrenden Kirche“⁶⁰ ist, sieht Barth den dogmatischen Erkenntnisweg darin, die notwendige „Beziehung des Hörens auf das Lehren“⁶¹ paradigmatisch zu vollziehen. Insofern kommt die Dogmatik neben die Predigt zu stehen. Sie ist nicht mehr nur kritische und normierende Instanz, nicht mehr nur Instrument der Predigt, sondern selbst paradigmatischer Dienst der Verkündigung, Hören und Lehren neben der Predigt, aber auf sie bezogen. Das hier erstmals auftauchende Begriffspaar der hörenden und lehrenden Kirche⁶² bringt damit die Tendenz der Verselbständigung der Dogmatik auf den Begriff.
3 Ich komme zur zusammenfassenden Skizze: Die durch die Längsschnitte gewonnenen Beobachtungen möchte ich in fünf Entwicklungstendenzen bündeln. Beginnen wir beim Äußerlichsten, bei der unverkennbaren Tendenz zu enormem quantitativen Wachstum. Der Umfang der Prolegomena wächst etwa um das Vierfache. Der Hauptgrund für dieses quantitative Anwachsen ist in den immer ausführlicheren und zahlreicheren Erörterungen von Bibelstellen sowie in der Auseinandersetzung mit
Vgl. KD I/2 (s. Anm. 5), 3 – 11. 28 – 30. Vgl. KD I/1 (s. Anm. 5), 257. Vgl. KD I/2, 973 – 985. KD I/2, 943 (ohne Hervorhebungen des Originals). KD I/2, 955 (ohne Hervorhebungen des Originals). Vgl. KD I/2, 891– 892.
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theologiegeschichtlichen und zeitgenössischen Positionen zu sehen. Diese anschwellende Materialfülle historisch-systematischer Provenienz geht einher mit einer immer größer werdenden Souveränität Barths gegenüber den aus der Dogmen- und Theologiegeschichte vorgegebenen Materialien. Reichte es im Unterricht zum Beispiel bei der Inkarnationschristologie nur aus, sie als Traditionsblock überhaupt aufzunehmen und ihr einen Ort im Überlegungsgang zuzuweisen, so wird sie schon in der Christlichen Dogmatik auch im Detailaufbau von Barth assimiliert. Die Kirchliche Dogmatik stellt noch eine Steigerung dar. Alles Traditionelle wird nun dem Barthschen Anliegen unterworfen. Es hat kein Eigengewicht mehr. Immer ausdrücklicher wird zweitens Barths Abgrenzung gegen jede Art von Philosophie. Ist die Philosophie zuerst durchaus brauchbar, sofern man sie als Begriffssteinbruch und Methodologielieferantin instrumentalisiert und nicht ihren Einflüsterungen zur Anthropologisierung nachgibt, so wendet sich Barth in der Kirchlichen Dogmatik scharf polemisch gegen die Philosophie. Er braucht sie methodologisch nicht mehr, seitdem er im „Anselmbuch“⁶³ eine eigene theologische Methodologie entwickelt hat. Andererseits ist sie jetzt die permanente Verführerin, jede Kombination von Theologie und Philosophie ist für Barth ein Kennzeichen der neuen Anthropologisierung. Seine schroffe Ablehnung der natürlichen Theologie setzt ihn in ein polemisches Verhältnis zur Philosophie. Mit der ersteren meint er auch die letztere abweisen zu müssen. Offensichtlich scheint drittens die Tendenz zur Verkirchlichung der Dogmatik zu sein. Dafür spricht schon der Titelwechsel von Christlicher zu Kirchlicher Dogmatik. Doch bei genauerem Hinsehen ergibt sich hier eine gegenläufige Schwebelage. Unverkennbar ist einerseits eine Steigerung der Aufnahme kirchlicher Wirklichkeit, ihrer Traditionen und Verbindlichkeiten. Unverkennbar ist aber andererseits eine Lockerung der Bindung der Dogmatik an konkrete kirchliche Verkündigungspraxis. Je weiter Barths eigene Pfarrerzeit in die Vergangenheit rückt, desto selbständiger wird die Dogmatik, desto mehr gewinnt sie selbst Verkündigungscharakter. Es ist ein lehrreicher Einzelzug, dass Barth ab Sommersemester 1931 in Bonn jeweils seine Vorlesungen mit einer Andacht begann.⁶⁴ Man könnte auch sagen: während anfangs die Dogmatik funktional und instrumental auf die konkrete Predigtsituation bezogen ist, gestaltet sie später von ihrem Gegenstand aus ihre eigenen kirchlichen Voraussetzungen. Sie verwandelt sich tendenziell von einer kritischen zu einer konstitutiven Instanz für die kirchliche Verkündigung. Viertens gibt es eine Tendenz zu Eindeutigkeit und gedanklich-konzeptioneller Konsequenz. In allen drei Fassungen entfaltet Barth in den Prolegomena seine Lehre
Karl Barth, Fides quaerens intellectum: Anselms Beweis der Existenz Gottes im Zusammenhang seines theologischen Programms, Zürich: Evangelischer Verlag / Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 31966; Karl Barth, Fides quaerens intellectum: Anselms Beweis der Existenz Gottes im Zusammenhang seines theologischen Programms. 1931, hg.v. Eberhard Jüngel / Ingolf U. Dalferth, Karl Barth-Gesamtausgabe 13, Zürich: Theologischer Verlag, 1981. Vgl. Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf, München: Chr. Kaiser, 1975, 227.
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vom Worte Gottes. Der erste Schritt vom Unterricht zur Christlichen Dogmatik besteht in der vereinheitlichenden und differenzierenden Durchbildung der Prolegomena selbst nach der Leitidee des Wortes Gottes. Der zweite Schritt von der Christlichen Dogmatik zur Kirchlichen Dogmatik, das heißt zu den vier Loci mit einbezogener Ethik, ist das Geltendmachen der in den Prolegomena erarbeiteten Sachgesichtspunkte auf die Großorganisation der materialen Dogmatik, das Wirksamwerdenlassen dieser Leitlinien nicht nur in der Behandlung der Stoffe der traditionellen Loci, sondern auch in der Konstitution und Ausgestaltung dieser Loci selbst. In der Kirchlichen Dogmatik haben wir also sozusagen die Ausdehnung der Prolegomena über die gesamte Dogmatik, die Vereinheitlichung der Dogmatik gemäß der in den Prolegomena gewonnenen Sachkonzeption. Oder anders herum formuliert: Je stärker Barth vom prophetisch-kritisch zu handhabenden Einzelnen abrückt und je mehr er die systematische Form ausbildet, desto mehr werden die Prolegomena durchgebildet zu einem integralen Bestandteil der Gesamtdogmatik, desto mehr verlieren sie ihren Eigencharakter als Repräsentanten der Globalgesichtspunkte und Gesamtheitsstrukturen. Sie sind immer weniger vorwegnehmende Einführung und immer mehr Teil der durchgeführten Dogmatik. Damit stoßen wir aber auf eine verwirrende Gegenläufigkeit, die im großen wiederholt, was auch im einzelnen besonders im Unterricht zu beobachten ist. Die von Barth häufig geübte Argumentationsfigur des Entweder-Oder⁶⁵ zielt zwar auf die Eindeutigkeit der Begriffsbildung und Gedankenführung ab und will dem Hörer auch Eindeutigkeit suggerieren, doch wird diese Eindeutigkeit nicht erreicht. Sehr vieles bleibt in der Schwebe, verschiedene Aspekte werden bis zum Widerspruch betont, manche schroffen Einzelaussagen stimmen durchaus nicht zusammen. Besonders im großen gilt das dogmatische Gegenläufigkeitsgesetz. Je konsequenter eine Gesamtkonzeption bis in den letzten Folgesatz durchgeführt ist, desto leichter wird dieser Eindeutigkeitszuwachs konterkariert sowohl intern durch ein Auseinandertreten von Form und Inhalt als auch extern durch eine dieser Konzeption widersprechende Außenwirkung. Intention und Effekt, Sagen und Tun treten je stärker auseinander, je präziser die erste Seite ist. Intern kollidiert die aktuelle Selbsterschlossenheit des Wortes Gottes mit der systematischen Form. Die konzeptionelle Stimmigkeit bedarf zu einer Überprüfung nämlich der systematischen Verknüpfungen. Damit stellt sich trotz Barths expliziter Polemik gegen jedes Systemdenken gerade dieses Denken ein, mit den so verfemten Effekten der Stoffbemächtigung und des Verlustes der kritischen Bewegtheit von der Sache. Barths Dogmatik bekommt entgegen seiner Intention eine Tendenz zur Eigengesetzlichkeit. Extern verliert sie ihre Offenheit, auch in dem Sinn, dass bestimmte wichtige Motive verdrängt werden. Fünftens: Diese Tendenz zur Verdrängung zeigt sich beim Entlastungseffekt dieser Theologie. Für die Gesamteinschätzung des radikalen Barthschen Programms der absoluten Autonomie, der exklusiven Selbsterschlossenheit und „unaufhebbaren Sub-
Vgl. z. B. Unt. 1 (s. Anm. 3), 144. 150. 177. 235. 240. 277. 325.
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jektivität Gottes“⁶⁶ gibt der Unterricht einen überraschenden Interpretationsansatz an die Hand. Barth spricht hier explizit von einem Entlastungseffekt seiner Dogmatik, der sich auf der Seite des Predigers und des Predigthörers einstellt.⁶⁷ Die modernistische Bewusstseinstheologie des Neuprotestantismus muss sich von ihm den Vorwurf gefallen lassen, dass sie dem frommen Subjekt, dem sie mit der Möglichkeit des Wissens von Gott eine selbstmächtige Gottesbeziehung zutraue, allzuviel aufbürde, dass sie von ihm Leistungen verlange, unter denen es zusammenbrechen müsse. Das religiöse Subjekt mit seinen Erlebnissen und Erfahrungen scheitere als zureichender Grund eines solchen Objekts wie Gott, weil die Übernahme dieser Aufgabe „die Sprengung jedes wirklichen, gegebenen menschlichen Subjekts“⁶⁸ bedeute. Damit steht im Licht, dass die Barthsche Verschärfung der theologischen Aufgabenstellung zur exklusiven Selbsterschlossenheit Gottes gerade auf eine Entlastung der menschlichen Subjektivität und ihrer Frömmigkeit angelegt ist. Um die Selbstvernichtung der frommen Subjektivität zwischen den beiden Mahlsteinen eines entweder illusionären Gottesbegriffs oder einer totalen Selbstüberforderung wirkungsvoll zu verhindern, schraubt Barth die Forderungen seines Programms so hoch, dass sie offensichtlich von menschlicher Seite unerfüllbar sind und dass also gar keine Versuche in dieser Richtung unternommen werden. Barth entlastet durch Radikalisierung. Der von ihm mit so hohem Wagnis belastete Prediger und der von ihm durch solche heteronome Autoritäten belastete Predigthörer können befreit aufatmen, weil das Gelingen des ihnen abverlangten Wagnisses per se nicht in ihrer Hand liegt. Diesen Entlastungseffekt haben in der krisenhaften Lage nach dem Ersten Weltkrieg offenbar viele theologisch Interessierte dankbar wahrgenommen. Barths Erfolge bei der Etablierung und Durchsetzung seines theologischen Programms dürften neben der Frische der Formulierung nicht zuletzt durch diesen Entlastungseffekt verstehbar sein, den man sich guten Gewissens, weil theologisch begründet, zu eigen machen konnte. Mit der weiteren Ausarbeitung dieses Programms und der Überführung in ein ausgefeiltes System wurde dieser Entlastungseffekt zu einem nicht gewollten, aber latenten Effekt des Gesamtsystems. Überblicken wir zusammenfassend die von uns nachgezeichneten Entwicklungslinien der Barthschen Prolegomena zur Dogmatik, so drängt sich das Gesamturteil auf, dass die Barthsche Selbstdeutung der vertiefenden Entwicklung den an den Texten beobachteten graduellen Akzentverschiebungen und pointierenden Klarstellungen ziemlich gut gerecht wird. Allerdings könnte die konträre Barthsche Selbstdeutung gerade in ihrer Widersprüchlichkeit als ungewolltes und doch treffendes Abbild der Vielfalt und verwirrenden Gegenläufigkeit der Entwicklungslinien verstanden werden. Sie wären gegen ihre ursprüngliche Aussagenintention ein trefflicher Indikator der Unabschließbarkeit, der Lebendigkeit und des Aufgegebenseins dogmatischen Denkens.
Unt. 1 (s. Anm. 3), 120 (ohne Hervorhebungen des Originals). Vgl. Unt. 1, 57– 58. Unt. 1, 57.
Über die Schwierigkeit, von Gott zu reden Ein¹ Bild stehe am Anfang: Gottesverständnis, Selbstverständnis und Weltverständnis sind wie kommunizierende Röhren. Verändert sich das Gottesverständnis, wie es zum Beispiel in der monotheistischen Verkündigung der israelitisch-jüdischen Propheten geschehen ist, so folgen zwangsläufig Veränderungen im Menschen- und Weltverständnis. Wandelt sich das Weltverständnis, wie es im 17. Jahrhundert durch die Verselbständigung der Naturwissenschaft und die globalen Entdeckungsreisen geschehen ist, so hat das Folgen für das Gottes- und Menschenverständnis. Wandelt sich das Menschenverständnis, wie es durch die politisch-sozialen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts, durch die Tiefenblicke der Geschichtswissenschaft, die Weitenblicke der Völkerkunde und die neuen Horizonte der Psychologie geschehen ist, so können Weltund Gottesverständnis nicht so bleiben, wie sie waren. Der Herkunft nach stammt das Wort „Gott“, das geradezu als Kennzeichen der germanischen Sprachen genommen werden kann, vom altgermanischen Wort guda. Wie die Wörter „Mensch“ und „Tier“ war es vorchristlich ein Neutrum, zumeist pluralisch verwendet. Als Partizipialbildung (ghu-to-m) hieß es wohl ursprünglich in magischer Sphäre „das (durch Zauberwort) angerufene oder berufene Wesen“². Mit der christlichen Mission wurde dieses Wort als Appellativ ausschließlich im Singular auf den einen christlichen Gott angewendet, während das für Götter damals gebräuchliche Wort tivar, das mit deus indogermanisch stammverwandt ist, nicht aufgegriffen wurde. Das verblasste, in den maskulinen Singular transformierte Wort „Gott“ gewann christlich den Charakter eines Eigennamens, eines Rufnamens. In dieser Wandlung zum Eigennamen verschaffte sich nicht nur das erste Gebot des biblischen Dekalogs Geltung (es gab keine Götter mehr neben Gott, alle anderen waren Götzen), sondern im Gebrauch als Rufname (vgl. Mk 15,34) wurde auch der personale Modus der religiösen Erfahrung sprachlich artikuliert. Christliche Rede von Gott steckt heutzutage in einer radikalen Krise. Vom Menschen, von seinen Wünschen, Idealen und Hoffnungen, von seinen Verbiegungen, Lastern und Behinderungen, von seiner Würde und seinen Verbrechen zu reden, fällt nicht schwer. Aber von Gott zu reden, das ist das Schwerste und Schwankendste. Der breite Konsens, dass es sinnvoll sei, von Gott zu reden, gehört heutzutage in der europäisch-nordamerikanischen Kultur der Vergangenheit an. Der tiefgreifende Kulturwandel seit der Aufklärung, die von ihr beförderte Ausbildung der neuzeitlichen Lebensverhältnisse beanspruchen in besonderer Weise die theologische Aufmerksamkeit, weil alles Überlieferte und Vertraute zu diesem Neuen in Beziehung gesetzt werden muss. Vieles Überlieferte muss aufgegeben werden, vieles muss erstmals bedacht und formuliert werden. Dieser Kulturwandel stellt aber nicht nur große Anforderungen hinsichtlich des neuen Darstellungsrahmens, dieser Kulturwandel
Leicht überarbeitete Fassung eines Vortrags, den ich 1990 in München und Hamburg gehalten habe. Jacob Grimm / Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 8, München: dtv, 1984, 1017. https://doi.org/10.1515/9783110745498-003
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kann zugleich den Blick für die prinzipielle Schwierigkeit theologischer Rede schärfen, indem er jede Selbstverständlichkeit und Gedankenlosigkeit bei diesem Thema unterbindet. Die Schwierigkeit, von Gott zu reden, will ich durch zwei Überlegungsgänge zu bestimmen versuchen. Ich werde zunächst die zeitgenössische Schwierigkeit, von Gott unter den Bedingungen der Moderne zu reden, thematisieren; sodann werde ich mich mit der prinzipiellen Schwierigkeit des Redens von Gott, die sich in einer paradoxen Gedankenstruktur äußert, beschäftigen.
1 Die zeitgenössische Schwierigkeit, von Gott zu reden In theoretischer wie in praktischer Hinsicht ist die Moderne dem Programm der Autonomie thematisch und unthematisch, offen und verborgen verpflichtet. Das Ringen um Autonomie bildet in religiöser, politischer, sozialer, kultureller und wissenschaftlicher Hinsicht die Grundströmung der Neuzeit. Dieses Heraustreten aus traditionellen Bindungen, das mit einer arbeitsteiligen Gesellschaftsdifferenzierung einherging, gehorchte einer Dialektik von Schwäche und Stärke. Der moderne Mensch war bereit, aus dem Zentrum der Welt herauszutreten und diese Schwäche und Schutzlosigkeit auszuhalten. Der Fortschritt in Erkenntnis und Weltgestaltung ergab sich aus der wachsenden Fähigkeit, Selbstverständlichkeiten und überliefertes Vorwissen einzuklammern sowie von der eigenen Besonderheit zu abstrahieren. Der Mensch ließ nicht mehr alles nur um sich kreisen, er musste sich nicht mehr als Zentrum der Wirklichkeit einsetzen. Gerade diese Fähigkeit, Distanz und Fremdheit auszuhalten und von sich selbst wegzusehen, gerade die Disziplin, sich dem Allgemeinen als dem Vernünftigen einzuordnen und das eigene Beteiligtsein zu kalkulieren, ermöglichte dann allerdings eine viel umfassendere Weltbemächtigung und Selbstbemächtigung. Diese unter dem Stichwort Säkularisation abgehandelte Kulturerscheinung prägt heutzutage in Europa folgenreich und spannungsreich das allgemeine Bewusstsein. Die häufig genannten Faktoren, die für die Gottlosigkeit der modernen Lebenswelt ursächlich verantwortlich gemacht werden, sind 1. die wissenschaftliche Welterklärung, 2. die technisch-industrielle Weltgestaltung, 3. die organisatorisch-soziale Daseinsvorsorge. Von theologischer Seite wird vielfach noch die kulturelle Anthropozentrik der modernen Lebenswelt angeführt. Diese Feststellung, für die der Status einer Beobachtung und Beschreibung beansprucht wird, geht zumeist einher mit einer Wertung. Aus der Kulturbeschreibung wird unter der Hand die Entdeckung des widergöttlichen Wesens des Menschen. Die Konzentration auf die menschliche Erfahrung und auf die menschlichen Erkenntnismöglichkeiten wird als Beleg der menschlichen Selbstvergottung genommen. Die moderne Grundströmung programmatischer Autonomie hat auch einen langfristigen Wandlungsprozess der kirchlich-religiösen Lebensgestaltung und theologischen Überlieferung in Gang gesetzt. Der modernen Provinzialisierung des Lebens
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in je eigenständige Lebensbereiche, der Arbeitsteiligkeit der Gesellschaftsorganisation entspricht eine Privatisierung der Frömmigkeit. Der Kulturwandel greift tief in die dogmatisch-ethische Lehrbildung und ins Selbstverständnis christlicher Verkündigung ein. Die unausweichliche theologische Wertung der neuen Lage darf nicht unbesehen negativ sein, insofern als der christliche Glaube nicht mit dem antiken bzw. mittelalterlichen Weltbild identisch ist. Wäre er das, so könnte das Gespräch mit den Zeitgenossen nur in der Aufforderung zur Rückkehr zum Vergangenen bestehen. Die kulturellen Bedingungen, unter denen christlicher Glaube heute formuliert werden muss, stellen einerseits höhere Anforderungen an die Glaubensdarstellung, sie bewahren die theologische Reflexion aber andererseits durchaus sachgemäß auch vor mancher schnellen Beruhigung und Selbstzufriedenheit. Damit wird die neuzeitliche Entwicklung nicht wehklagend als Behinderung oder Verhinderung christlicher Theologie angegriffen, sondern als Motiv für eine angemessenere Theologie aufgenommen. Die Krise, in die das Christentum gestürzt worden ist, ist keine Veranstaltung böser Mächte, keine schuldhafte Wendung in die Gottlosigkeit, auch kein Ausfluss besonderer Sündhaftigkeit, so als sei die Zeit des Hochmittelalters oder die Zeit der frühen Christenheit eine Zeit gewesen, die besser für den christlichen Glauben war. Der Umbruch ist teilweise das Ergebnis der Verwirklichung religiöser und sittlicher Motive des christlichen Glaubens, ist insofern vom Christentum selbst mit hervorgerufen und eröffnet damit die Chance zu einer klareren Darstellung seiner selbst.Weder wurden die modernen Naturerkenntnisse willentlich produziert, um den Menschen zum Maß aller Dinge zu machen – so wäre es zum Beispiel absurd, den Geozentrismus aus religiösem Motiv wiederherstellen zu wollen –, noch hat der christliche Glaube eine größere Affinität zum antiken Weltbild, weil dieses ihn etwa begünstigte. Zudem sind die biblischen Aussagen zu Gott kein monolithischer Block; sie lassen sich nicht spannungslos zu einem Gesamtbild zusammenfügen; sie zeigen eine ausgeprägte Entwicklungsgeschichte der Gotteserfahrung. Der exegetisch-biblische Befund erlaubt es nicht, das biblische Zeugnis gleichsam als Fixgröße zu handhaben und es als vermeintlich einheitlichen Gegenpol gegen die Moderne ins Feld zu führen. Der christliche Glaube kann dem Dialog zwischen Moderne und biblischem Zeugnis nicht ausweichen. Das Reden von Gott kann nicht mehr an ein mythisches Weltbild anknüpfen, in welchem religiöse Deutung des Lebens und vorwissenschaftliche Erklärung der Welt aufs innigste verwoben waren, in welchem die Erklärung ohne die Deutung nicht zu allgemeinerer Plausibilität kam. Das mythische Erklären ist durch das wissenschaftliche Erklären abgelöst worden. Dessen Dichtigkeit und Konsistenz ist weit höher. Die natürliche Abhängigkeitserfahrung des Menschen ist anonym geworden. Während die Rede von Gott früher häufig auch Erklärungsbedürfnisse befriedigen musste und dadurch eine engere Verwobenheit mit der allgemeinen Kultur hatte, tritt sie heute reiner in ihrem Deutungsprofil hervor. Die Ansatzpunkte für das Reden von Gott sind dadurch höher ins Prinzipielle geraten. Das gilt aber nicht nur für das Weltverhältnis,
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sondern auch für die Rechtssphäre, die heute durch eine autonome Sittlichkeit gestaltet wird. Die modernen Rechtsordnungen kommen ohne göttliche Legitimation aus, sie basieren auf Verfahrensweisen, die religiöse Legitimation geradezu abweisen. Recht wird gesetzt durch wandelbare Institutionen und legitimiert durch den Willen des Volkes. Mit der Autonomie von Welterkenntnis und Weltgestaltung, von Wissenschaft, Recht und Kultur verliert die Rede von Gott selbstverständliche Darstellungszusammenhänge. Sie muss dadurch prinzipieller werden. Die Wahrnehmung von Wirklichkeit wird immer von einer Deutung begleitet. Die Erfahrung von Kontingenz, dass nämlich das faktische Sosein auch anders sein könnte, meint gerade diese Deutbarkeit, diese Offenheit für verschiedene Wertungen, die für eine geschichtliche Wirklichkeit kennzeichnend ist. Krankheit, Tod, überraschende Lebensschicksale, entscheidende Begegnungen erfordern eine lebensgeschichtliche Deutung, im wissenschaftlichen Zeitalter auch eine objektivierende Erklärung. Die fromme Deutung erfolgt durch Transzendierung des Sinnzusammenhangs, durch Bezugnahme auf Gott als den ausgespanntesten Deutungsrahmen. Die Lebensdeutung ist der Ort der Religion. Hier ist der Leistungsbedarf der Religion in der Neuzeit dadurch noch markant gestiegen, dass die Deutung umfassender und signifikanter sein muss. Die lokale und temporale Endlichkeit individuellen und sozialen, ja die Begrenztheit des menschheitlichen Lebens wird paradoxerweise als kontingente Offenheit erfahren. Diese letzte Offenheit des menschlichen Daseins und Erkennens, die die Geistigkeit des Menschen inauguriert, bedeutet Unabschließbarkeit alles wissenschaftlichen Erklärens und fordert religiöses Deuten. Die Horizonte, auf die sich die Religion artikulierend bezieht, sind nicht weggewischt oder aufgesogen, sondern nur sehr weit hinausgeschoben worden. Fromm ist jeder Mensch. Nur kann diese Frömmigkeit gewusst oder ungewusst, vor dem sehenden Auge oder hinter dem Rücken sein. Gerade für diejenigen, die den durch soziale Organisation und wissenschaftlich gesteuerte Technik hinausgeschobenen Lebenshorizont noch wahrnehmen, ist die Religion keineswegs funktionslos geworden. Religion wird in ihrer artikulierten Gestalt geradewegs ein Ausweis der Bildung. Verglichen mit dem 18. Jahrhundert – ich erinnere an Schleiermachers Reden an die Gebildeten unter den Religionsverächtern – haben sich die Fronten und Wertungen verkehrt. Die Modernität ist sowohl Unterstützerin als auch Widersacherin des christlichen Glaubens. Die Modernität ist einerseits Widersacherin des christlichen Glaubens, wenn sie sich am tätig zu gestaltenden und sinnreich zu genießenden Vorhandenen genug sein lässt. Christliche Rede von Gott steht in Antithese zu einer Modernität, die programmatisch den Weg der abstrakten Selbstverabsolutierung und ausgrenzenden Selbstverwirklichung beschreitet. Die Modernität, die in ihrem Kampf gegen die Heteronomie nur noch das dem Menschen Verfügbare und Vorhandene als das Wirkliche akzeptiert, betreibt die Verunendlichung des Endlichen. Dieses Leben in kleiner Münze fördert eine Einzelheit, die in Theorie und Praxis das Transzendierungspotential negiert. Die Rede von Gott zielt dagegen auf die Ganzheit des Lebens, auf das Ganze der Wirklichkeit, das jedes einzelne Leben und seine Zeit umgreift. Der Mensch
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kann nicht durch seine Praxis, durch sein Handeln, durch sein aktuelles tägliches Leben definiert werden. Mit der Gottesbeziehung ist immer das letztlich Verbindliche und das alles Einzelne übergreifende Ganze thematisiert. Christliche Rede von Gott steht in deutlichem Gegensatz zum Konsumismus und zu einer partikularisierenden Selbstverwirklichung. Die Modernität ist andererseits Unterstützerin des christlichen Glaubens, insofern sie die Ernsthaftigkeit und Verbindlichkeit des eigenen Denkens, Redens und Handelns gegen alle Außenleitung, auch institutioneller Art, einschärft und durchzusetzen sucht. Die jesuanische Kritik am Pharisäismus ist die Kritik an der Indienstnahme der Religion, und das heißt am religiösen Unernst. Dieser religiöse Unernst kann sehr wohl in Gestalt einer Hochschätzung religiöser Institutionen, frommer Sitten und Gebräuche einherkommen. Christliche Rede von Gott stellt im letzten Ernst die Frage an jeden Menschen: Wer bist du, Mensch? Hierin trifft sie sich mit einer Modernität, die die Fragen von letzter Verbindlichkeit für das individuelle und öffentliche Leben nicht den Regelungen irgendwelcher Institutionen überlassen will, sondern jedem einzelnen eine unverwechselbare Entscheidung, einen unverwechselbaren Beitrag zur Formulierung des Lebens zubilligt und abverlangt. Wie der christliche Glaube so schärft auch das moderne Bewusstsein die Unvertretbarkeit und Eigenverantwortung jedes menschlichen Lebens ein. Insofern ist die Moderne mit ihrem Programm von Autonomie und Freiheit durchaus in Übereinstimmung mit einem zentralen christlichen Anliegen.
2 Die prinzipielle Schwierigkeit, von Gott zu reden Die prinzipielle Schwierigkeit, von Gott zu reden, macht sich in einer paradoxen Gedankenstruktur bemerkbar. Diese paradoxe Polarität ist kein gedanklich-argumentativer Mangel, sie basiert nicht auf einer Unbedächtigkeit des Gottesgedankens. In ihr kommt die Lebendigkeit Gottes zum Zuge. Der Begriff kann diese Lebendigkeit Gottes nur in Form der Feststellung seines eigenen Ungenügens aufscheinen lassen, nicht aber fixieren. Der Begriff ist das Grab des Lebens. Damit wird keinem Irrationalismus das Wort geredet, sondern die Aktuosität geistigen Lebens angesprochen. Einsehen, Anschauen, Verstehen ist Schweben zwischen den Gegensätzen. Wir reden (ich rede) von Gott. Die Untersuchung dieses Ausgangssatzes führt auf drei polare Aspekte, die dem Reden von Gott eigentümlich sind. Der Charakter, wie von Gott geredet werden kann, ist geprägt durch den Aspekt der Gegenständlichkeit dieses Redens, den Aspekt der Funktionalität dieses Redens und den Aspekt der Subjektivität dieses Redens.
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2.1 Transzendenz und Immanenz Die Schwierigkeit, von Gott zu reden, ist nicht primär die Schwierigkeit einer gottlosen Kulturlage, sie ist auch und besonders die Schwierigkeit, überhaupt von Gott reden zu können, die Schwierigkeit des Gegenstandes. Welchen Modus hat unser Reden von Gott? Ist es eine echte Rede, oder ist es eine Rede, durch die nur unser Schweigen präzisiert werden soll? Es gibt ja durchaus Situationen, in denen eine Rede nur bezweckt, das dieser Situation allein angemessene Schweigen öffentlich anzusagen, den Grund und die Art dieses Schweigens bewusst zu machen. Ist nicht die negative Theologie die sowohl sachlich (von Gott und seiner Majestät her gedacht) als auch sozial (von der Autonomie des Menschen her gedacht) sinnvolle und gebotene Theologie? Lässt sich in Bezug auf Gott etwas anderes als unser Nichtwissen konstatieren? Lässt sich diese Negation in irgendeiner Weise in eine Affirmation verwandeln? Das Reden von Gott muss darin paradoxe Struktur haben, dass einerseits die Welttranszendenz Gottes und andererseits die welthafte Identifizierbarkeit Gottes ausgesagt wird. Die Welttranszendenz Gottes muss festgehalten werden sowohl gegen alle Versuche der Verunendlichung des Endlichen als auch gegen alle Versuche der Verendlichung des Unendlichen. Die welthafte Identifizierbarkeit Gottes muss festgehalten werden gegen alle Versuche der diastatischen Vergleichgültigung Gottes für die Welt. Die Transzendenz Gottes ist in der philosophisch-theologischen Tradition durch die Prädikate der Absolutheit und Unendlichkeit ausgesagt worden. Gott ist das aus sich, von sich, durch sich seiende Unendliche, das in sich lebt, seiner selbst völlig mächtig ist und bedürfnislos völlig bei sich und in sich ist. Wird in der transzendentalen Analyse auf die Möglichkeitsbedingungen dieser Erkenntnis und auf die Möglichkeitsbedingungen von Bewusstheit überhaupt reflektiert, so wird der Gedanke der Absolutheit Gottes in einen notwendigen Erkenntniszusammenhang zur Konstitution von Ichheit gesetzt. Von Gott ist in metaphysischer Tradition im Blick auf die Welt als Ursprung und Grund geredet worden. Dies führte aber in unauflösliche Aporien der Verhältnisbestimmung von Gott, Welt und Selbst. Die seit dem 18. Jahrhundert geäußerte Kritik an der theistischen Gottesvorstellung sollte die christliche Theologie produktiv aufnehmen und im Sinne einer Aufgabenstellung akzeptieren. Die dogmatisch-ontologische Eigenschaftslehre ist dem befreienden und zukunftsorientierten Charakter christlicher Frömmigkeit nicht kongruent. Sie lässt sich mit dem Postulat menschlicher Freiheit und Verantwortlichkeit nicht zusammendenken.Von Gott gilt es nicht primär im Sinne des Von-Woher zu reden, sondern des Wohin. Damit wird der Offenheit und Freiheit der menschlichen Existenz und der Gottesbeziehung Rechnung getragen. Die Rede von Gott hat ihre Basis nicht primär im theoretischen Welterkennen, sondern im praktischen Freiheitshandeln. Mit diesem muss sie nicht nur verträglich sein, sondern sie muss die Möglichkeit und Praxis solcher Freiheit selbst erhellen und begleiten.
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Deshalb muss jeder Tendenz zur Verdinglichung Gottes entgegengewirkt, muss der Auffassung, Gott wie etwas Vorfindliches und Vorgegebenes zu nehmen, widersprochen werden. Jede begriffliche Verendlichung Gottes wäre seiner Absolutheit unangemessen. Damit ist keiner bloßen Entgegensetzung gegen das Endliche, die ihrerseits Verendlichung bedeutete, das Wort geredet.Vielmehr muss die Dialektik des Begreifens beachtet werden, der zwar auch der Gottesbegriff unausweichlich unterliegt, die aber gerade vom Gottesbegriff transzendiert werden will. Die Prädikate der Absolutheit und Unendlichkeit nehmen die Transzendenzerfahrung auf und sagen die Washeit Gottes, seine alles überschreitende Erhabenheit aus. Dies reicht nicht aus. Ihr tritt die Erfahrung innigster Nähe zur Seite. Die Wieheit Gottes zeigt sich in der unausweichlichen Anwesenheit Gottes für jeden Einzelnen. Die Rede von Gott will ein Wer zur Sprache bringen, dem die persönliche Erschlossenheit jedes Menschen wesentlich ist. Diese Inklusivität Gottes meint das nie Ausschließbare, das den Menschen im Innersten letztlich Betreffende, dasjenige, das er auch um den Preis seiner Selbstnegation nicht loswerden kann. Über die Merkmale der Absolutheit und Unendlichkeit hinaus und gegen die drohende Subjekt-Objekt-Spaltung des Erkennens meint der Gottesbegriff einen Wirklichkeitsbezug, der wohl geleugnet, aber nie negiert werden kann, der keine Neutralität eines menschlichen Beobachters zulässt, in dem der Mensch so innig bei sich ist, dass dies alle einzelnen Lebensakte durchdringt. Im Großen Katechismus von 1529 schreibt Martin Luther in seiner Erläuterung des 1. Gebots: Was heißt ein Gott haben oder was ist Gott? Antwort: Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten. Also daß ein Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und gläuben, wie ich oft gesagt habe, daß alleine das Trauen und Gläuben des Herzens machet beide Gott und Abegott. Ist der Glaube und Vertrauen recht, so ist auch Dein Gott recht, und wiederümb, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zuhaufe, Glaube und Gott. Worauf Du nu (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott.³
Gemäß diesem Merkmal der Inklusivität gehört der Glaubende ganz in diese Beziehung hinein, kann von Jenseitigkeit Gottes nur in dieser Beziehung gesprochen werden. Von Gott muss personhaft geredet werden. Die Bilder, mit denen von Gott geredet wird, müssen den Charakter innigsten Betroffenseins in der Gottesbeziehung ausdrücken. Jesus sprach von Gott als König; das ist uns fremd geworden. Jesus redete Gott als Vater an; das ist uns vertraut und neuerdings umstritten. Das war damals traditionell und umwälzend zugleich. Die Vater-Titulatur Gottes war in der Königslegitimation durchaus verbreitet (vgl. Ps 2,7). Doch war sie alles andere als sentimentalfamiliär, sondern meinte in der patriarchalischen Gesellschaftsordnung ein enges
Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1976, 560,9 – 24.
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Treueverhältnis. In der alttestamentlichen Erwählungsvorstellung Israels war Jahwe als Schöpfer und Bundesstifter im Blick (vgl. Dtn 32,6; Jes 64,7). Für Jesus wurde er zum gütigen Vater aller Geschöpfe (vgl. Mt 6,26 – 29). Dabei hatte Jesus keine kausalorientierte Vorstellung vom Weltschöpfer, Weltregierer und Geschichtslenker, sondern er sprach situationsgesättigt vom Geber und Erhalter des konkreten Lebens. Jesu Hochschätzung konkreter Kreatürlichkeit in den unmittelbaren Lebensvollzügen gewann ihr besonderes Profil durch seine Geringschätzung der exklusiven Gesetzesund Bundesvorstellungen. Jesus sagte den Sündern die göttliche Güte zu und erfreute sich an den Früchten der Erde (vgl. Mt 11,19). Indem Jesus die frühjüdische Verschränkung von Schöpfung, Heilsgeschichte und Gesetz sprengte, konnte er die Schöpfung gegen das Gesetz ins Feld führen. Für Jesus war Gott primär Schöpfer und Richter, genau in dieser Kombination. Jesu Verkündigung war grundsätzlich zukunftsbezogen (vgl. Mt 8,22; Mk 2,21– 22; Lk 9,62) und wies die Gotteserfahrung aus der Vergangenheit in die Zukunft. Durch Beispiele aus der jedem vertrauten Alltagserfahrung sagte Jesus diese neue Zuwendung Gottes futurisch in kosmischer Weite an. Wenn Gott gemäß 1Joh 3,16 als Liebe prädiziert wird, so ist damit in allein angemessener Weise die Personalität der Gottesbeziehung ausgesagt. Wie diese Personalität aussieht, das leuchtet in einzigartiger Weise an Jesus, seinen Worten und Taten, an dem von ihm ausgehenden Gesamtleben auf. Dem zum Eigennamen gewordenen Gottesbegriff ist der Modus personaler, zeugnishafter Rede allein angemessen. Doch bleiben die Prädikate der Unendlichkeit und Absolutheit das Rationalitätskriterium, dem sich das Reden von Gott unterwerfen muss, will es im persönlich-frommen Betroffensein nicht der Beliebigkeit verfallen.
2.2 Autorität und Personwerdung Welche Funktion hat das Reden von Gott im Gesamtzusammenhang menschlichen Redens, im Konzert zwischenmenschlicher Mitteilungen? Das Reden von Gott hat teil am Überlieferungsgeschehen, durch das Kultur allererst aufgebaut wird. Jede Generation muss ihre Einsichten und Fertigkeiten an die nachfolgende weitergeben. Dazu bedarf es übergreifender Werte und Zusammenhänge, die sich als dauerhaft bewähren und denen sich alle am Überlieferungsgeschehen Beteiligte verpflichtet fühlen. Überlieferung vollzieht sich zunächst im Aufbau von Autorität, die sich dann später im Prozess der Kritik bewahrheiten muss. In diesem Überlieferungsgeschehen nimmt die Rede von Gott eine ambivalente Aufgabe wahr. Sie baut Autorität auf und formt sie in freie Aneignung um. Das Reden von Gott will sinnstiftende Zusammenhänge aufbauen, die als Hintergrundserfüllung den individuellen und den sozialen Lebensvollzug tragen und prägen. Die Basisleistung besteht gerade in der Herstellung von Zusammenhängen, die unproblematisch und darin lebensfördernd sind. Christliche Rede von Gott will für soziales Miteinander und privates Beisichsein einen einheitsstiftenden Konsens formulieren, den sie als tragfähige Basis immer neu symbolisiert und aktualisiert. Sie
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will Konsens aufbauen und tut das auf eine Weise, die den Zweifel und damit die Umbildung des Konsenses fördert. Die Rede von Gott beansprucht Autorität und tut das doch so, dass die Autorität in freie Zustimmung umgewandelt wird. Sie schafft Konsens und löst den einmal erreichten immer wieder auf. Sie drängt auf Fixierung und überschreitet jede Fixierung. Dass das Wort „Gott“ in autoritativen Zusammenhängen erscheint, ist nicht zufällig so. Es ist darin begründet, dass in dieser Abbreviatur die verbindlichen Vorstellungen für das Zusammenleben und das Weltverstehen versammelt werden. Wir reden von Gott. Wir denken nicht nur an ihn, denken nicht nur über ihn nach. Wir reden und singen von ihm. Wir wenden uns sprachlich an andere, wir stellen Gemeinschaft her, indem wir von ihm reden. Das Reden von Gott hat für diese Gemeinschaft eine besondere Bedeutung. Es will Sinn stiften und die Gemeinschaft auf bestimmte Werte und Einstellungen verpflichten. Kein Mensch kann in jedem Lebensmoment die lebenswichtigen Erfahrungen und Einstellungen immer wieder aktualisieren. Deshalb werden diese Basisüberzeugungen im Ausdruck „Gott“ verschlüsselt. Durch seine Nennung werden die sinnstiftenden Gemeinsamkeiten innerhalb einer Gemeinschaft sowie auch zwischen den Generationen namhaft gemacht. Durch die Überlegenheit dieses Konsenspunktes über alle Wirklichkeit wird zugleich die Offenheit des geschichtlichen Prozesses gewahrt. Auf Gott hat man sich lange Zeit berufen, um Autorität abzusichern. Das Wort war ein wichtiges Element der Autoritätssprache. Es wurde benutzt von Eltern, Erziehern, Herrschern, Händlern, Unternehmern und Kolonisatoren. Doch in dieser Hinsicht ist sein Gebrauch stark rückläufig. Gegenläufige Tendenzen, Gott zur Begründung von Aufmüpfigkeit und Veränderungsabsicht heranzuziehen, zur radikalen Kritik vorhandener Zustände, haben sich verstärkt und irritieren diejenigen Gruppen, die sich einmal dieses Wortes zu ihren Zwecken bedient hatten und die nun feststellen müssen, dass es auch trefflich gegen sie gewandt werden kann. Spätestens seit der aufklärerischen Religionskritik ist die Erkenntnis allgemein verbreitet, dass die Rede von Gott für durchaus eigene Zwecke des Sprechers dienstbar gemacht werden kann und dass gegen alle, die dieses Wort mit direkten Praxisforderungen verknüpfen, Misstrauen angebracht ist. Verantwortliches Reden von Gott erfordert eine gewisse Scheu und Zurückhaltung. Der Missbrauch für partikulare Interessen und Bestrebungen kann deshalb nicht unwidersprochen bleiben. Nicht einzelne Handlungen, sondern die überschwängliche Wirklichkeit soll durch dieses Wort im Bewusstsein versammelt werden, damit die angemessenen selbstkritischen Handlungseinstellungen gewonnen werden können. Die Rede von Gott provoziert Zweifel. Und das ist gut so. Rede von Gott führt über die dem Einzelnen zugängliche Wirklichkeit hinaus. Sie reklamiert Ganzheit und Überfluss. Doch scheitert die Rede damit nicht an der alltäglichen Erfahrung? Indem sie auf das „Mehr“ hinauswill, kollidiert sie mit der Erfahrung. Gott ist der Mehrwert der Wirklichkeit. Er ist nicht greifbar und fixierbar. Dadurch provoziert das Reden von Gott die Frage: Gibt es ihn? Das ist intentionsgemäß, denn dies Reden übersteigt das Verlangen nach unmittelbarer sinnenfälliger Erfahrung und ist deshalb elementaren
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Zweifeln ausgesetzt. Da christliches Glaubensbewusstsein auf freie Zustimmung angelegt ist, ist der Zweifel am sprachlichen Ausdruck wesentliche Hilfe im Prozess der Personwerdung. Der Zweifel am autoritativen Sprachzusammenhang, der die Autoritätsgebundenheit der Wahrheitsaneignung zugunsten einer freien Zustimmung aufhebt, ist sachlich angemessen. Indem der Ausdruck „Gott“ über den ihn rahmenden autoritativen Sprachzusammenhang hinausführt, wird in der Entwicklung von Individuen und Gruppen seine überschießende Bedeutung wirksam. Mit Gott kommt eine Fülle zur Sprache, die alles Gewohnte und Greifbare sprengt. Gott führt über das Hergebrachte und durch Tradition Gesicherte hinaus. Er hilft zur eigenen Identität, die mehr ist als Gliedschaft in einer Gruppe. Ändert sich die Alltagserfahrung und ändern sich die kulturellen Rahmenbedingungen für das Reden von Gott, so muss das in die Rede selbst aufgenommen werden, in ihr selbst thematisiert werden. Die sprachliche Artikulation ist nicht beliebig und gleichgültig. Der theologische Feminismus hat darin sein Recht und seine Grenze. Mit dem Auswechseln einiger Bildwörter ist es nicht getan. In der männlichen Namensform „Gott“ und in seiner Anrede als Vater spiegelte sich die patriarchalische Gesellschaftsordnung. Diese ist in Auflösung begriffen. Das Reden von Gott ist an diesem Wandel aktiv und passiv beteiligt. Will der Mensch nicht sein Leben fragmentarisieren und will er zugleich individuell von dieser Ganzheit reden, so muss er von Gott reden. Die Rede von Gott ist lebensnotwendig, weil in ihr und durch sie die umfassende ganzheitliche Wirklichkeitsdimension aufleuchtet, die alles Vorhandene überschreitet. Das erfahrbare und notwendige Reflexionsbedürfnis des Menschen versammelt sich in der Frage nach Gott. Die welthafte Abhängigkeit des empirischen Bewusstseins wird in der Rede von Gott bewusst aufgenommen und dadurch ein Raum der Freiheit eröffnet.
2.3 Erfahrung der Grenze und der Fülle des Lebens Wer ist der von Gott Redende? Welche Erfahrungen lassen den Redenden von Gott reden? Welchen Sitz im Leben hat das Reden von Gott? Wir reden ja nicht immer von ihm.Wir können zu allen Zeiten und an allen Orten von ihm reden. Aber wir tun es nur in besonderen Situationen, in Situationen des besonderen Mangels und der besonderen Fülle, in Situationen, die wir nicht im Griff haben, die wir nicht und niemals in den Griff bekommen können. Auch hier gilt die polare Struktur. Wir reden sowohl von Gott, wenn das Lebensganze plötzlich fraglich wird, als auch wenn das Lebensganze plötzlich überwältigend präsent ist. Situationen, die nicht aktiv durch Handeln bewältigt werden können, sondern in denen die eigene Empfänglichkeit ausgehalten werden muss, sind der Sitz im Leben für das Reden von Gott. Sowohl Grenzerfahrungen individuellen Lebens (Katastrophen, Sterben) als auch biographische Besinnungen auf das eigene Gewordensein drängen, wenn die Wahrnehmung der Unverfügbarkeit von Lebensglück und Gelingen des Lebens angemessen ausgesprochen werden soll, zum Reden von Gott. Der empirische Mensch nimmt im Reden von Gott
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seine eigene vielfältige Voraussetzungshaftigkeit und Angewiesenheit auf Welt und Gesellschaft so wahr, dass das Gegebene die Hoffnung auf Zukunft einschließt, dass die verwirrende Vielfalt des Lebens in einer Einheit geborgen ist. Dietrich Bonhoeffer formulierte 1944 in seinen Gefängnisbriefen für die Theologie die Aufgabe, Gott auch und gerade in der Mitte des Lebens zu suchen und zu finden. Während ich mich den Religiösen gegenüber oft scheue, den Namen Gottes zu nennen […], kann ich den Religionslosen gegenüber gelegentlich ganz ruhig und wie selbstverständlich Gott nennen. Die Religiösen sprechen von Gott, wenn menschliche Erkenntnis (manchmal schon aus Denkfaulheit) zu Ende ist oder wenn menschliche Kräfte versagen – es ist eigentlich immer der deus ex machina, den sie aufmarschieren lassen, entweder zur Scheinlösung unlösbarer Probleme oder als Kraft bei menschlichem Versagen, immer also in Ausnutzung menschlicher Schwäche bzw. an den menschlichen Grenzen; das hält zwangsläufig immer nur solange vor, bis die Menschen aus eigener Kraft die Grenzen etwas weiter hinausschieben und Gott als deus ex machina überflüssig wird; das Reden von den menschlichen Grenzen ist mir überhaupt fragwürdig geworden (ist selbst der Tod heute, da die Menschen ihn kaum noch fürchten, und die Sünde, die die Menschen kaum noch begreifen, noch eine echte Grenze?), es scheint mir immer, wir wollten dadurch nur ängstlich Raum aussparen für Gott; – und ich möchte von Gott nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft, nicht also bei Tod und Schuld, sondern im Leben und im Guten des Menschen sprechen. An den Grenzen scheint es mir besser, zu schweigen und das Unlösbare ungelöst zu lassen. […] Gott ist mitten in unserem Leben jenseitig. Die Kirche steht nicht dort, wo das menschliche Vermögen versagt, an den Grenzen, sondern mitten im Dorf.⁴
Auch wenn zumeist und zunächst die Erfahrung der Grenze von Gott reden lässt, so zielt diese Erfahrung doch gerade hinein in das Leben. Gott repräsentiert und garantiert die Fülle des Lebens. Diese Ambivalenz, die nicht im Sinne der Vertröstung und der Grenzsicherung aufgelöst werden darf, fordert ein Leben mit Gott, nicht ein Leben wegen Gott. Indem Gott unser Leben immer und überall begleitet, trägt er unsere Freiheit. Dann wird nicht eine partikularisierende Fixierung zum Gottesersatz. An den Grenzen begegnen wir ihm, aber aus der Mitte leben wir. Das Reden von Gott artikuliert eine bestimmte Zuwendung zur Gesamtwirklichkeit und zum eigenen Leben. Und die Wahrnehmung dieses thematischen Orts ist für menschliche Bewusstheit unverzichtbar. Die Ganzheitsfrage ist die Kehrseite der Transzendenzerfahrung. Die uns individuell begegnende und verfügbare Wirklichkeit ist nicht das Ganze; die Ganzheitsfrage führt uns über unsere besondere Wirklichkeitserfahrung hinaus und bewahrt die Besonderheit vor der Nichtigkeit. Die Rede von Gott erschließt die Ganzheit für das einzelne fromme Bewusstsein und identifiziert das Einzelne als Manifestation des Ganzen. Das Gottesverständnis korrespondiert einem bestimmten Wirklichkeitsverständnis. Der Gedanke Gottes als der Einheit und Ganzheit alles Seienden ist dann notwendig, wenn nicht nur pragmatisch mit Wirklichem umgegangen, sondern der
Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung: Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg.v. Eberhard Bethge, Gütersloh: G. Mohn, 121983, 134– 135.
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Grundcharakter des Wirklichen selbst vergegenwärtigt werden soll. Häufig wird der Hinweis auf die Fraglichkeit des Menschen gegeben, auf seine Befindlichkeit, nicht nur Fragen zu stellen, sondern Frage zu sein. In diesem Verstehensrahmen wird dann die Rede von Gott dadurch einsichtig gemacht, dass Gott als der Redende die Antwort auf die menschliche Frage sei. Dabei kann die Abwehr aller anthropozentrischen Ansätze soweit gehen, dass nicht nur die rechte Formulierung der Frage, sondern auch das aktuelle Aufbrechen der Frage noch dem Subjekt Gott zugerechnet wird. Doch ist dieses zunächst so plausible Deutungsmuster von menschlicher Frage und göttlicher Antwort, wobei die göttliche Antwort auch der menschlichen Frage allererst die richtige Fassung gibt, erfahrungsgesättigt und konsistent? Ist die elementare Beobachtung nicht die, dass Menschen zumeist mit Antworten sehr viel schneller bei der Hand sind als mit Fragen? Ist das Stellen und das Aushalten von Fragen nicht schon eine Äußerung von Offenheit und Stärke, die gerade die Schwäche akzeptiert und deshalb zumeist abgelehnt wird? Will man sich dieses Verstehensschemas bedienen, so ist es viel näherliegender, zunächst einmal Gott als die Offenheit des Fragehorizonts zu verstehen. Mit dem Gottesbegriff wird sprachlich diese Bewegung aus den immer schon vorhandenen Vorurteilen und Antworten beschrieben und motiviert. Gott bricht unsere Antworten auf. Er gibt die Zuversicht und das Vertrauen, diese Schwäche auszuhalten und bis zu neuen Antworten nackt und bloß zu sein. Das Reden von Gott verfährt nicht primär argumentativ, sondern auf der Ebene des Glaubens. Nicht nur im Sinne einer vorläufigen und abkürzenden Vermutung sprechen wir von Glauben, sondern im Sinne einer Totalaussage, die reflexiv nicht aufgebaut werden kann, deren konstruktiver Charakter dunkel bleiben muss. Vor jeder Aussage, die Gott zur Sprache kommen lässt, steht verborgen die begleitende Formel „ich glaube“. Mit Glauben ist eine Wirklichkeitsdeutung gemeint, für die die einzelnen unmittelbaren Einsichten nicht zureichend sind. Gott und Glaube gehören zusammen. Während alle Aussagenwahrheiten als Satzwahrheiten (S – P) ein Wahrsein repräsentieren, will das Reden von Gott ein Wahrwerden heraufführen. Das Problem aller dogmatischen Aussagen ist es, dass sie dieses Wahrwerden in ein Wahrsein verfestigen und in dieser Verwandlung verfälschen. Entgegen der Eindeutigkeit der Wissenschaftssprache und der dogmatischen Tendenz der Fixierung religiöser Schwäche ist es eben kein Mangel, dass die Rede von Gott unspezifisch ist. Am Schluss sei an das Bild des Anfangs erinnert. Wie bei kommunizierenden Röhren lässt sich das Gottesverständnis gegen die Wandlungen im Selbst- und Weltverständnis nicht abschotten, sondern muss sich ebenfalls wandeln. Ist die Moderne die Krise des Gottesgedankens? Nein und ja. Die Schwierigkeit, von Gott reden zu wollen und es nur stotternd zu können, begleitet die Geschichte der menschlichen Kultur, die Geschichte der Theologie. Aber diese Schwierigkeit ist nicht neutral gegenüber dem Verstehensrahmen. Das Reden von Gott hat seinen Ort im Erklären der Welt verloren, den es im mythischen Weltbild innehatte; dafür ist es um so klarer an das Deuten und Werten gewiesen. Das Reden von Gott verlor seinen Ort in der Ist-Sphäre und verstärkte ihn in der Soll-Sphäre, wanderte aus dem Kausalbereich
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in den Freiheitsbereich. Trotz, ja wegen der Schwierigkeit, von Gott überhaupt reden zu können, muss von ihm geredet werden, weil menschliches Leben gedeutet werden muss und gedeutet wird.
Some Remarks on Pantheism and Panentheism Introduction Pantheism and panentheism are concepts which are concerned with doctrines in the European history of philosophy and theology. Both are contrary to the concept of philosophical and theological theism. Christian faith, rooted in the Bible, has theistic elements. In biblical statements God is thought to be a perfect, necessary, personal, intelligent, otherworldly and manlike being; God is the creator of the world in the sense of creatio e nihilo; God created the beings of the world purposefully; God may interfere with events in the world; God preserves the world and deals with his creatures according to his plans like a potter with his pottery¹; God informs mankind of his will to govern the social, moral, political and religious affairs, by special revelations handed down to the biblical writers; God has a special relationship with mankind through Christ. Philosophical theism and pantheism are doctrines of the 17th and 18th centuries, which means they belong to the European Enlightenment. They emerged against the background of the religious wars in Europe after the Reformation and the development of empirical sciences. In specific ways they try to take account of the new intellectual situation of methodological atheism in natural empirical sciences and the cultural struggle of the religious wars. They formulate theology by reason and evidence, not by faith and creed. They were understood not as the framework of churchdogmatics, but as a criticism of church-dogmatics and a better theory of rational theology. The liberation from church-dogmatics required a reformulation of metaphysical topics in such a way that the issues of confessional quarrel were ignored. Both doctrines are answers to the pressing mind-body problem. Theism and pantheism are rational doctrines concerning the relationship between God and the world. They naturally presuppose that the concept of the world is only conceivable in relationship to the concept of God. Both concepts have a realistic view and a theoretical intention, which means they are interested in objective facts. The relationship between the concepts of God and mankind is mediated by the relationship between the concepts of God and the world. Pantheism and panentheism have different roots. Pantheism is located in the struggle between rationalism and supranaturalism, theism and atheism, churchdoctrines and empirical sciences in the 17th and 18th centuries. Pantheism opposed supranaturalistic theism. Moreover, at that time, pantheism was so closely related to the philosophy of Baruch de Spinoza (1632– 1677) that pantheism became nearly synonymous with Spinozism. Theists accused pantheists of being materialists or atheists. Panentheism, conversely, is located in the context of the philosophical sys-
Cf. Rom 9,21. https://doi.org/10.1515/9783110745498-004
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Some Remarks on Pantheism and Panentheism
tems succeeding the critical philosophy of Kant. ‚Panentheism‘ is one of the artificial terms which was created in the 19th century at the end of the German system-philosophy to signify a system as a whole. Panentheism is interested both in giving final reasons for philosophical reflection and in establishing practical responsibility within the framework of divine causality. Atheism is not yet an actual feature of panentheism.
1 Some Historical Lines The Irish philosopher John Toland (1670 – 1722) first used the term ‚pantheist‘. „The pantheists […] of which number I profess my self to be one.“² In 1709 Toland characterized pantheistic teaching by the formula: „Nullum dari Numena materia et compage mundi huius distinctum, ipsamque naturam, sive rerum Universitatem, unicum esse et supremum Deum.“³ Toland, the first philosopher to be called a free-thinker, criticized in his anonymous first work Christianity not mysterious (1696) Christian theology in the sense of deism. He accepted divine biblical revelation only as far as it consists of rational sentences. He argued that divine revelation is only aimed at renewing the law of nature (lex naturae), which is identical with the law of God’s kingdom. Divine revelation takes the form of rational perceptions, not of mysteries. Toland rejected a super-rational or anti-rational understanding of revelation and reminded his readers that the Christian faith became mystical when it became a licensed religion in the Roman Empire. The truth of the Christianity lies only in its identity with rational universal morality and religion. Miracles are explained as natural effects heightened to an enormous extent. The universal religion of the lex naturae is also an element of hylozoistic pantheism, formulated by Toland in his book Pantheisticon sive formula celebrandae sodalitatis socraticae (1720). The liturgy expounded here shows the religious character of pantheism. God is the soul of the world, the world is the body of God. The term ‚pantheism‘ was a concept that developed out of conflict. Concepts for situations of conflict are often of the kind that shows facets of the conflict from different points of view in very different respects. Pantheists denied any otherworldly relationship of God to the world. Their motives often had an ontological and theoretical basis. Opponents used the term ‚pantheism‘ to charge pantheists with atheism. This implied not only a denial on their part of God’s existence, but also the polemical accusation of immorality and impiety. Pantheists were characterized as corrupt and thoroughly wicked. The motives of their opponents were of a practical kind. Whereas pantheists argued that theists were not at the height of the contemporary intellectual standard, their opponents denied the purity of their morality and predicted a breakdown of moral rules and systems. John Toland, Socinianism truly stated: Being an example of fair dealing in all theological controversys, London, 1705, 7. John Toland, Adeisidaemon, sive Titus Livius a superstition vindicates: Annexae sunt eiusdem Origines Iudaicae, Den Haag, 1709, 117.
1 Some Historical Lines
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Pantheism had an important function in the early history of the critique of religion in Europe. It supported a universally valid set of rules, not only in natural sciences, but regarding all perception and recognition, the predominance of mathematics and logic, and the autonomy of scientific methods. Pantheism shows a tendency toward determinism. But how is determinism consistent with morality? At this point, pantheism was judged to lead to immorality. Pantheism could be misunderstood as justifying even the banal or evil and, therefore, blurring or blotting out the difference between good and evil. Because of its emphasis on nature, pantheism has no interest in and no understanding of the openness of history. Immanuel Kant (1724– 1804) placed pantheism in the context of physico-theology. He discussed pantheism in his Kritik der Urteilskraft (1790), his doctrine of the methods of teleological discernment in the philosophical explanation of the objective expedient forms of matter. Pantheism holds that the ultimate reason for the existence of different forms of matter is not a highest intelligence but the totality of the world as a unique substance. Spinozism comprehends the totality of the world as the quintessence of many determinations inherent in a unique simple substance.⁴ Kant makes a distinction between pantheism and Spinozism. Both view the relationship between God and the world as an inherent relationship. Pantheism focuses on the aspect of inherent world-beings, Spinozism on the aspect of the only substance.⁵ Pantheism and Spinozism are answers to the question about the absolute unity demanded by reason of the principle of the events and states of the world. Kant shows that pantheism and Spinozism do not answer the question about the teleology of nature; rather, they answer in the negative. They transform the causal relationship and the actual efficacy of nature into an inherent relationship with ideal final causes. The attempts of pantheism and Spinozism fail to explain the teleological efficacy of nature from theoretical principles of reason. Pantheism has been called irreligious and immoral. Therefore the book Über die Lehre des Spinoza (1785) by Friedrich Heinrich Jacobi (1743 – 1819), in which he reported that Gotthold Ephraim Lessing had confessed his agreement with Spinoza’s formula ἑν και παν to him, launched a major intellectual discussion in Germany. Jacobi’s attack was aimed at Spinoza’s philosophical system, which he judged to be a synthesis of rationalism, fatalism and atheism. According to common opinion, Jacobi considered Spinozism as systematically elaborated pantheism. As a result of that debate, pantheism and Spinozism enjoyed a higher standing in Germany, not in the sense of an elaborated philosophical doctrine, but in the sense of a rational understanding of the absolute and its relationship to the relative.⁶ Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834) described Spinoza as a prominent example of the articulation and representation of piety. In his speeches Über die Religion (1799), Cf. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. Berlin / Libau: Lagarde and Friedrich, 1790, § 80. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 85. Cf., e. g., Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämmtliche Werke: 1805 – 1810, Vol. 7, Sämmtliche Werke, ed. by Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart / Augsburg: J.G. Cotta, 1860, 339 – 344.
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Some Remarks on Pantheism and Panentheism
Schleiermacher declared that piety could be presented both under the categories of personality and freedom as well as under the categories of lawfulness and regulation. Schleiermacher showed Spinozism to be an elaborate presentation of piety opposed to personalism. Piety, which is rooted in feeling, not in reason or action, is the contemplation and feeling of the universe and has various legitimate ways to articulate that contemplation and feeling. It is an authentic sphere of human life quite different from metaphysics and morality. Schleiermacher argued that a lack of pantheism means the negation of transcendence in the idea of God.⁷ Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1832) defended pantheism against the accusation that it was „Allesgötterei“⁸: pantheism does not mean the deification of single concrete things,⁹ but the unique substance which is inherent in each individual concrete thing.¹⁰ Hegel argued that pantheism views God only as „Ansich“ – as substance and absolute power, not as „Fürsich“ – as freedom and self-consciousness, or as „Anundfürsich“ – as mind. The ‚Atheismusstreit‛ (1798/99) about the philosophy of Johann Gottlieb Fichte (1762– 1814) provided a latent argumentative contribution to the problem of pantheism. Fichte refuted the accusation that his philosophy of „Ichheit“, of the radical autonomy of the practical moral subject, was a special kind of atheism, by characterizing it as acosmism. He criticized the realistic view of the world as an entity of sufficient individual finite beings. He emphasized instead the non-entity of individual finite beings and the unique entity of God. Panentheism is a philosophical doctrine which seeks to avoid some of the problems of pantheism and of theism. Historically, it is a late concept in the struggle between pantheism and theism. Panentheism has the strategical intention to synthesize the moral autonomy of man and the ontological predominance of God. Karl Christian Friedrich Krause (1781– 1832), the author of the term ‚panentheism‘,¹¹ understood his philosophy as a continuation of the doctrine of Kant. Philosophy is the perception of the absolute; it is „Wesenschauung“. God is not or has not an essence („ein Wesen“), is not essence per se („das Wesen“), but is essence („Wesen“). To conceptualize reality, philosophy breaks into two branches.¹² In the analysis of selfcontemplation („Selbstanschauung“) the subjective-analytic branch deals with self-
Cf. Friedrich Schleiermacher, Geschichte der Philosophie, Vol. III/4,1, Sämmtliche Werke, ed. by Heinrich Ritter, Berlin: G. Reimer, 1839, 250. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vermischte Schriften aus der Berliner Zeit, Vol. 20, Sämtliche Werke: Jubiläumsausgabe, ed. by Hermann Glockner, Stuttgart: Frommann, 1930, 118. Cf. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II,Vol. 16, Sämtliche Werke: Jubiläumsausgabe, ed. by Hermann Glockner, Stuttgart: Frommann, 1928, 509 – 517. Cf. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Aesthetik I, Vol. 12, Sämtliche Werke: Jubiläumsausgabe, ed. by Hermann Glockner, Stuttgart: Frommann, 1927, 486. Cf. Karl Christian Friedrich Krause, Vorlesungen über die Grundwahrheiten der Wissenschaft, zugleich in ihrer Beziehung zu dem Leben, Göttingen: Dieterich’sche Buchhandlung, 1829, 484. Cf. Karl Christian Friedrich Krause, Vorlesungen über das System der Philosophie, Göttingen: Dieterich’sche Buchhandlung, 1828.
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perception („Selbstwahrnehmung“). The analysis of self-perception, of I-being, leads to „Wesenschauung“, the contemplation of essence. The objective-synthetic branch includes the perception of God. From this basic point, Krause synthesizes reality and develops the different parts of concrete sciences. Krause comprehends the human subject („Ich“) as the unity („Vereinwesen“) of natural body and rational mind. Both are reciprocal and interacting. Their unity is in God („Urwesen“, original essence), absolute being, truly real, perfect and infinite. Krause combines mystical piety and systematic sophistication. Krause characterized panentheism as speculative theism. The concept of panentheism which is presented by David A. Pailin¹³ with reference to Charles Hartshorne (1897– 2000) is very much different from Krause’s. Pailin defines panentheism in contrast to theism (ens realissimum and actus purus) and pantheism (Spinoza’s concept of inherence). Panentheism regards world-beings as God’s accidentals, theism as accidentals outside of God and pantheism as not accidental, but as essential. Pailin situates panentheism consequently in a third position between theism and pantheism.With regard to pantheism, how can one avoid deifying all finite world-beings, with demotivating consequences for morality? Regarding theism, how can one avoid increasing the difference between God and the world in such a way as to render a relationship between God and the world inconceivable? The theistic doctrine of God’s attributes (perfect, absolute, necessary, eternal, unchangeable and infinite) can be elaborated in a diastatic, dichotomous sense. The pantheistic doctrine of the inherence of world-things in God can be accentuated in the sense of essential identification. Panentheism tries to combine attributes of divine perfection and finite being, to produce a varied unity of God and the world. Therefore, Hartshorne stresses the structure of dipolarity and the idea of dual transcendence. The concept of God must include attributes of contingency, too. Panentheism intends to prove the compatibility of transcendence and contingency within the concept of God.
2 Some Systematic Aspects The concept of God itself is the result and the articulation of perennial efforts to define the realm of ultimate values, the variety of religious feelings, last causes regarding world-explanation, and the legitimation of social institutions. The core of a doctrine is often elucidated by the issues stressed in a polemical debate with counter-doctrines. The focus of theism is spirituality and personality, the agency of a transcendent God. God is the creator of the world and the author of the moral determination of mortal-immortal mankind. God’s personal agency is conceived of as divine providence combining omniscience and omnipotence. Theism was opposed because of its alleged disregard of the lawfulness of reality. The focus of pan-
David A. Pailin, „Panentheism,“ in Traditional Theism and its Modern Alternatives, ed. by Svend Andersen, Arhus: University Press, 1994, 95 – 116.
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Some Remarks on Pantheism and Panentheism
theism is lawfulness, the rational understanding of the world and of nature. Pantheism was suspected of atheism, materialism and fatalism, was attacked by both a theoretical reproach as well as a moral reproach. In the theoretical respect, pantheism was thought of as the unification of God and nature, as the negation of transcendence. Strictly ordered nature itself is divine and self-sufficient. In the moral respect, pantheism was thought to deny human responsibility and freedom. Pantheism is characterized by the kind of relationship that exists between God and the world. From a realist viewpoint, pantheism interprets the God-world relationship as the inherence of accidentals in a substance. Wordly beings as accidentals are inherent in the divine substance. They exist only through their inherence in God. Theism, however, interprets the God-world relationship as the divine causality in relation to the world or as the dependence of the world on God. God is the cause, the world the effect. The struggle between realistic theism and realistic pantheism is the struggle about the adequate category of relationship. Pantheism is rooted in rationalism. There are no reservations concerning the possibility of a rational perception of God. Reason is able to recognize God. Evidence and the logical coherence of the idea of God guarantee the truth. Pantheism recognizes God by reason, not by revelation. It refuses a doctrine of revelation and transcendence, which undermines the lawfulness of nature. Pantheism denies the religious experience of divine transcendence. It favours rational ethics with a determination of motives and behaviour. Spinoza’s formula deus sive natura shows his concentration on nature and his confidence in the methods of logical proofs regarding theological and ethical themes as well. The assumption underlying pantheism is that world-beings and nature in their lawful reality can be explained by focussing on their relationship to God. In this way, pantheism underpins the universal validity of natural lawfulness and the power of reason. The unity of the principles of nature is not found in a highest intelligence, but in the world’s totality, which is understood theologically as a unique substance. The attributes of the world are synthesized with the traditional attributes of God. Pantheism refutes a concept of transcendence which allows for an arbitrary divine intervention into the natural process. Pantheism has no interest in the contingency of the conditions and events concerning world-beings, but only in the stable existence, the rational change and the necessary shape of world-beings. Therefore, miracles are a central theme in the struggle against the dogmatic view of the world. God’s miraculous arbitrary interventions in the natural process interrupt a lawful understanding of nature and a universal rationality. At this point there is a connection to deism. But whereas deism views the transcendent creator God as detached from the world, its preservation and governance after creation, pantheism sees God as actively preserving the world, especially regarding the validity of natural laws. Pantheism has a physico-theological interest. Like Spinozism, pantheism is a special concept challenged by the dualism of body and mind. In the 17th century, the methodical elaboration of modern natural sciences and the conception of a transcendental philosophy integrating doubt as a way of intellectual advancement put
2 Some Systematic Aspects
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body and mind in clear contrast. Therefore, the juxtaposition of nature and reason became a central problem. As regards the ontological difference, is any acting of one sphere upon the other possible? Are both spheres of equal range? Is there any interaction? What is the function of God? Spinoza taught a parallelism of both spheres guaranteed by the concept of God, because he understood extension and thought as God’s attributes to be inseparable. Spinoza was convinced of the ontological insufficiency of finite things. They exist only through their inherence in the unique substance, which is conceived as causa sui. It is necessary for the understanding of the world to conceive of God. The physico-theological approach of pantheism has no answer to the epistemological question of how efficient reason is. In his transcendental critique of the idea of God, Kant argued that the categories which constitute the human rational perception of the world are unable to constitute metaphysics and its recognition of God. He reduced the idea of God to a regulative function in the objective world-perception, but gave him fundamental importance as a moral postulate. One shortcoming of pantheism is its concentration on the concept of substance and its neglect of moral freedom. Panentheism takes remedial measures against that by stressing the dependence of the world on God. Therefore, panentheism combines the category of causality with the category of inherence.
2.1 Religious Context (Reason and Piety) Pailin conceives God as an eternal and temporal, absolute and relative being. He combines the divine attributes of necessity and contingency. In the material doctrine of God’s attributes, Pailin analyzes the notion of omniscience to demonstrate that the aspects of necessity and contingency are compatible in the concept of God.¹⁴ Reading the sentences in his paper was not possible before a concrete time in a concrete place (i. e. before they were written at Manchester). That means God’s recognition concerning space and time is contingent, but necessary when the event happens. That double aspect allows for the simultaneous determination and indetermination of events and actions. But the root of piety which claims that God is omniscient is not adequately taken into consideration. There is a relationship between divine attributes and the type of human piety. The attribute of God’s omniscience has existential consequences for man. It means that men are protected in all situations of life, but also responsible for all willing and acting.¹⁵ The motivation for and direction of a concept of God is not to describe a state of affairs, but to influence a movement of life. This draws special attention to basic piety, something which Pailin does not afford it. Take for example Pailin’s understanding of
Cf. Pailin, Panentheism (s. note 13), 98 – 99. Cf. Ps 139.
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Some Remarks on Pantheism and Panentheism
the statement „God is love“: God’s love „may be described as being absolute, necessary, eternal, unchanging and infinite“;¹⁶ in a concept of divine interventionist activity, God’s love materializes for a particular person and, ruled by the principle „doing what’s best for this person“, is relative to the contingent circumstances of that person’s life. A shortcoming of this understanding of love is that love may confirm the particularity of persons. This understanding cannot avoid conflicts arising from managing the contingent best for many persons (for example contrary social desires of related individuals). The aim and principle of love can be better described as a perfect „between“, as a fulfilled relationship. Believing in God’s love is having the confidence that all men, like the whole of creation, have a full relationship with God. Pailin’s message is that a coherent concept of panentheism is in keeping with the Christian-Jewish-Islamic faith. Pailin refers to „the realist understanding of the object of faith typical of the Judeo-Christian-Islamic traditions of belief in God“.¹⁷ He claims panentheism to be „a rationally coherent interpretation of the view of God that underlies the traditions of faith in God typical of Judaism, Christianity and Islam“.¹⁸ Can all those traditions be identified by their realistic view of God? Schleiermacher identified Judaism, Christianity and Islam according to the aspect of teleological piety,¹⁹ but where is the evidence of unification, if the stress is not on the type of piety, but instead on the object of worship? How can the multitude of beliefs be related to the concept of God and God’s attribute of unity? Historical distinctions are influential in systematic analyses because systematic ideas are not indifferent to historical contexts. There should be a reflection in principle on the religious function of logical coherence. How can the fact that faith and the articulation of faith are subject to the world’s laws and, therefore, inadequate for the object of worship, be taken into consideration? What is the mode of religious statements? Does the motivation to attempt a coherent reconstruction of religious concepts depend on special types of piety? Do the limits of rational reconstruction prove the predominance of spirited piety? It is also significant for religious experience that very different elements be managed in a fertile way. Coherence in theoretical and logical aspects is not a primary religious need. Religious experience aims at perception and clarity, but the spiritual liveliness of the religious process has priority. This social and individual process shall be kept from an undesirable development and obstruction. Faith itself desires reason and reflection. Fides quaerens intellectum.
Pailin, Panentheism (s. note 13), 99. Pailin, Panentheism, 111. Pailin, Panentheism, 116. Cf. Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2 Vols., Berlin: G. Reimer, 21830/31, § 9.
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2.2 A Realistic Approach Pailin claims that Hartshorne’s panentheism with its bipolar structure of God’s attributes gives a coherent understanding of divine perfection which is in accord with a realistic view. In respect of the objections to panentheism mentioned by Pailin,²⁰ some questions arise: How is God’s eternity to be compared with temporality? Has eternity a temporal element, or is eternity without connection to space and time? Is it obvious to conceive God’s eternity as the causation of time? What is the ontological state of God’s attributes relating to the world, by which he is thought to be changeable? What changes in God, the attributes, the modes of attributes, or the constellation of attributes? Is it necessary to think of God’s activity in the sense of personal activity? Is there only the alternative between the concept of God as an ideal or as an actual individual? Is God’s activity in accord with his unchangeability, or is an active mode complementary to a passive mode? But what about the world? Is the world such an evidently brute fact as which it is conceived? Is it almost clear what the world is? Or is one of the motives of the notion of God to clarify even what the world is? In the summary at the end of Pailin’s paper, there is an ambiguity in the assessment of the realistic point of view. On the one hand, Pailin claims to have given proof of the possibility of „a realist concept of God“; here God is understood „both as the proper object of worship and as an actual personal individual“.²¹ On the other hand, Pailin admits that all realistic concepts of God, not only panentheism, have a problem with divine activity, and therefore, the activity-problem would be no argument against panentheism. If the problem is unsolvable in a realistic approach, we must draw conclusions by looking at the efficiency and truthfulness of the realistic view. What about an approach which leads to unsolvable problems? Do the problems with God’s omniscience and moral determination perhaps arise from realistic synthesis of God’s attributes and the world’s modes? The realistic approach is troublesome especially as pertaining to the relationship between God and evil: God cannot be omnipotent (almighty) and the supreme good without any evil in any way. If God is merely good and almighty and can prevent evil, he must do so. The intentional character of statements about God’s attributes is not adequate or compatible with God’s quality of absoluteness. The realistic approach promotes a statement-theology. But statements about God produce unsolvable contradictions between the presuppositions and structures of this mode of human knowledge and the unique quality of God. The realistic view of God has a tendency to make God a being like world-beings or like human beings. The hypothesis that God exists classifies God as a world-being because existence is a modal category of the world reality.
Cf. Pailin, Panentheism (s. note 13), 110 ff. Pailin, Panentheism, 116.
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Some Remarks on Pantheism and Panentheism
2.3 The Self-consideration of a Doctrine Like theism and pantheism, Pailin’s panentheism is not conscious of the historical preconditions and real effects of its own theory. That the understanding of reality is an essentially historical one is no theme of its doctrine. I presume there are tendencies of self-justification and self-immunization in each doctrine. The theorems of a doctrine ought to be consistent with its principle. Or conversely: a philosopher is not allowed to negate his propositions by his own theorems. He must think about what he is saying. For example, theism postulates that God is different from all other world-beings. But the attributes which are predicated to God are of the same kind as those of world-beings. There is only a gradual difference. The notion of God as absolute, as essence (not a being) makes sense only when it is formulated as an absolute notion. The doctrine of God must be a non-statement-theory. But theism, pantheism and panentheism are constructed as statement-theories. They make direct claims about God. That is the justification for giving God numerous attributes. And because some attributes are ambiguous in connection with God and the world, Pailin, like Hartshorne, introduces the formal attributes of temporality and contingence into his concept of God. But does God not get a double identity in that way? And is it enough to correct or to add some attributes, even though their very production is wrong? Each adequate doctrine of God must reflect its own insufficience to conceive God in an adequate way. Therefore, there can be no direct intentional concept of God. But theism and pantheism consider God in such a direct way. Theism speaks of the different attributes of God: omnipotence, omniscience. And it speaks of these attributes in such a way that it asserts the notion of God by summarizing the attributes in the same way in which a tree or a window is described. Material statements in respect to God’s attributes are established philosophically by three methods referring to human or worldly attributes. These are negation (via negationis), extension (via eminentiae), and analogy (via analogiae). The three methods relate and connect the absolute to relative entities. Theism does not mention that the absolute must always be considered in its relation to the relative. It postulates an apartheid, but cannot manage it. Theism does not notice its own insufficience, which it postulates as an attribute of God. Theism is still naive. The praying man says, there are no words to praise God. By uttering this, he praises God. The theist says, God is totally different. But in the doctrine, this is ignored, the absoluteness becomes an attribute, and theism says directly by divine perfections what and how God is. What makes the concept of God true? How is it conceivable to verify the concept of God despite or because of his transcendence? It is prohibited to consider God as an object like a stone or tree. To think about God means to formulate the way in which transcendence becomes conceivable in the way of a paradox. An adequate doctrine can only be the movement which shows the insufficience of human conception and gives way to the self-clarification of God in his self-disclosure in the absolute idea of himself by his own spirit.
Gott, Freiheit und Unsterblichkeit – Denkmotive der Aufklärung Ehrwürdige Versammlung, als ich vor vierzig Jahren studierte, waren Tod und Auferstehung Jesu konfliktträchtige Themen. Bultmanns Entmythologisierungsprogramm entfachte heftige Diskussionen, welche Wege zu einer für die Gegenwart verständlichen Verkündigung des christlichen Glaubens zu gehen seien. Seine Formel, Jesu sei ins Kerygma auferstanden, schlug die Funken für Spaltungen in Gemeinden und Kirchen. Am Auferstehungsverständnis entschied sich damals die Bedeutung und die Legitimität des christlichen Glaubensbewusstseins. Heutzutage ist es erstaunlich ruhig geworden auf dem alten Kampfplatz. Sichten wir also dessen wichtige Linien!
Einleitung Nach den biblischen Texten soll mit der Auferstehung oder Auferweckung menschliches Leben erneut beginnen. Wird von Auferstehung gesprochen, so bleibt die Instanz, die den Vorgang bewirkt, unbestimmt. Wird von Auferweckung gesprochen, so ist deutlich, dass das Geschehen von einer Außeninstanz bewirkt gedacht wird. Beide Vorstellungen meinen erneuerte Lebendigkeit, genauer die Wiederherstellung von neuer leiblicher Lebendigkeit nach dem Gestorbensein. Während die altorientalische Vorstellung von auferstehenden Göttern (beispielsweise Osiris, Tammuz) an den Vegetationskreislauf von Sterben und Neuwerden anknüpft, formuliert die biblische Auferstehungsvorstellung ein einmaliges Geschehen. Nicht die immer wiederholte Wiederkehr des Gleichen, sondern die einmalige Wiederbelebung ist im Blick. Im Alten Testament begegnet die Auferstehungsvorstellung selten, zumeist nur im Zusammenhang der Genesung von todesähnlicher Krankheit (vgl. Ps 16,10; 116,8; 118,17) bzw. bei prophetischen Totenauferweckungen zur Verlängerung des irdischen Lebens (Elia in 1Kön 17,17– 22; Elisa in 2Kön 4,18 – 37; 13,20 – 21). Die Erwartung einer endzeitlichen Auferstehung des Volks bzw. des Einzelnen, wie sie in einigen wenigen Texten des Alten Testaments aufscheint (vgl. Ez 37), dürfte wohl eine doppelte Wurzel haben: Sie ist erstens motiviert durch die ausweitende Annahme, Jahwe als Gott des Lebens sei Herrscher auch über das Totenreich (vgl. Ps 22,30 gegen Ps 88,12), und zweitens durch die Vergeltungshoffnung, den hier unschuldig leidenden Frommen, insbesondere den Märtyrern der Makkabäer-Zeit, werde ein jenseitiger Ausgleich zuteil (vgl. Jes 53,10 – 12 zum Gottesknecht; Dan 12 mit doppelter Auferstehung der Gerechten und Gottlosen). Im Neuen Testament hat die Auferstehungsvorstellung hervorgehobene Bedeutung. Sie begegnet in unterschiedlichen Themenkreisen. Die urchristliche Gemeinde stellt in ihrer Verkündigung Jesus ganz ins Licht seines Todes und seiner Auferstehung. Jesu Auferweckung legitimiert das christliche Evangelium. Jesus, der durch Menschen wegen Gotteslästerung zu einem schmählich-schmerzlichen Tod verurteilt https://doi.org/10.1515/9783110745498-005
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wurde, sei durch die Auferweckung in seiner vollmächtigen Gottesverbundenheit bestätigt worden. Diese Vollmacht kann auch in besonderen Taten dargestellt werden. So erweckt Jesus nach dem Bericht des Johannes-Evangeliums Lazarus aus dem Tod zur Fortsetzung des irdischen Lebens (vgl. Joh 11). An vielen Stellen des Neuen Testaments wird zur Darstellung des Hoffnungshorizonts von einer allgemeinen Auferstehung am Ende der Welt gesprochen. Während die Erwartung einer allgemeinen Auferstehung oder Auferweckung eine Vorstellung zur Vollendung der Welt ist, qualifiziert die Glaubensaussage der Auferstehung Jesu dessen Verkündigung des Gottesreichs als in Gottes Willen beschlossen. Beide Vorstellungen können verknüpft werden, müssen es aber nicht. Mein Vortrag soll die Auferstehungsvorstellung des christlichen Glaubensbewusstseins beziehen auf Denkmotive, die in der Aufklärung unter den Stichworten Gott, Freiheit und Unsterblichkeit formuliert worden sind. Diese Aufgabe will ich in drei Schritten bearbeiten. Zunächst werde ich einige phänomenologische Beobachtungen vortragen, um den gedanklichen Ort der Auferstehungsvorstellung zu charakterisieren. Sodann werde ich die Ideen von Gott, Freiheit, Unsterblichkeit darstellen, wie sie Immanuel Kant in seinen Untersuchungen der Vernunft geprüft und begründet hat. Schließlich will ich die kritische Beurteilung knapp angeben, die Schleiermacher in prophetischen Linien zur Auferstehungsvorstellung gezeichnet hat.
1 Phänomenologische Beobachtungen zur Auferstehungsvorstellung Um die Auferstehungsvorstellung und ihre aufklärerische Interpretation besser profilieren zu können, sammele ich zunächst einige Beobachtungen zum lebensweltlichexistenziellen Kontext der Auferstehungsvorstellung.
1.1 Sterblichkeit Die Auferstehungsvorstellung ist auf das menschliche Sterblichkeitsbewusstsein bezogen. Sterben und Tod beschäftigen menschliches Denken und Fragen mitten im Leben. Etwa seit dem neunten Lebensjahr weiß jeder Mensch, dass der Tod ein unausweichliches Ereignis des je eigenen Lebens sein wird. Auch wenn der Zeitpunkt dieses Ereignisses nicht gewusst wird, gibt das Todesbewusstsein dem menschlichen Leben eine existenzielle Tiefenprägung. Der Tod erscheint unter dem Gesichtspunkt der Gattung (der Menschheit) in einem durchaus anderen Licht als unter dem Gesichtspunkt des Einzelnen (des Individuums). Für die Gattung gehört der Tod des Einzelwesens zum Prozess der dort währenden Erneuerung. Die Erhaltung der Gattung geschieht so, dass die Einzelwesen sterben und neuen Einzelwesen Platz machen. Durch den Tod der Einzelwesen können gerade
1 Phänomenologische Beobachtungen zur Auferstehungsvorstellung
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wichtige Entwicklungen der Gattung befördert werden. Die Gattung erhält dadurch eine größere Beweglichkeit. Durch Tod und Geburt der Einzelwesen wird die Abfolge der Generationen zu einer eigens zu gestaltenden Aufgabe. Die Beziehung zu den Menschen, die später leben, muss bewusst gestaltet werden. Dies wird allerdings dadurch erschwert, dass die zukünftigen Generationen keine eigene Stimme haben, sondern der menschheitliche Aspekt von den Mitgliedern der gegenwärtigen Generation selbst vertreten werden muss, unter Umständen gegen die Interessen der gegenwärtigen Generation. Für den Einzelnen prägt das Sterblichkeitsbewusstsein konstitutiv das Individualbewusstsein. Der Tod begegnet jedem Einzelnen zunächst nicht als eigener Tod, sondern als Tod der anderen. Die Betroffenheit ist eine indirekte und doch einschneidende. Der Tod der Anderen greift mehr oder minder tief auch in das je eigene Leben ein, denn beim Ableben nahestehender Menschen stirbt ein Stück des eigenen Lebens. Der Tod Anderer ist für jede Person umso bedeutsamer und schmerzlicher, je enger die persönliche Beziehung zu ihnen war, je weniger die Anderen als Funktionsträger begegneten, je mehr sie persönlich Sprechende und Antwortende waren. Das eigene Leben jeder menschlichen Person ist ja zum großen Teil geprägt durch wechselseitige Mitteilung und Darstellung. Bricht eine solche Beziehung ab, so geht ein Teil des eigenen gestalteten Lebens verloren. Der Tod ist unvertretbar, er ist der je meinige. Der Tod gibt existentiell dem Selbstbewusstsein einen markanten Charakter. Der Tod schneidet nämlich das Möglichkeitsbewusstsein ab. Jeder Mensch ist ja nicht nur der, der er ist, sondern auch der, der er sein kann und der er sein soll. Der Tod beschränkt den Möglichkeitsraum gegenüber der Wirklichkeit. Durch ihn werden Grundfragen der Lebensgestaltung mit letzter Dringlichkeit und Unausweichlichkeit gestellt. Menschliches Dasein ist unabgeschlossen. Es steht immer noch etwas aus, was noch nicht wirklich geworden ist. Gerade das Todesbewusstsein erzeugt den Druck, Lebensentwürfe auch zu realisieren. Der Tod tritt als Verdichter und Begrenzer zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit auf. Erreicht das Dasein seine Grenze, dann ist dies zugleich der Verlust des In-derWelt-Seins. Der Tod hebt das Sein-können aus der Unverbindlichkeit in die Verbindlichkeit. Der Tod stellt definitiv fest, was der einzelne Mensch ist. Das ist in seltenen Fällen im Sinne einer Vollendung gemeint; in den meisten Fällen im Sinne einer fragmentarischen Feststellung. Mit dem Todesbewusstsein weiß jeder Mensch sein eigenes Ende, seine eigene Begrenztheit. Die Angst vor dem Tode ist mehr als die Furcht vor dem Ableben. Der Tod stellt die Frage nach der Transzendenz. Immer wieder haben Menschen nach dem Danach gefragt. Das endliche und somit sterbliche Subjekt hat einen unaufhebbaren Drang, die eigene Endlichkeit zu übersteigen. Der Umgang mit der Negativität des Todes prägt die menschliche Geistigkeit und gibt dem sittlichen Tun Verbindlichkeit.
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Gott, Freiheit und Unsterblichkeit – Denkmotive der Aufklärung
1.2 Leiblichkeit Mit der Ausrichtung auf die Leiblichkeit bezieht die Auferstehungsvorstellung eine markante Position zur Frage, was der Mensch ist. Der Mensch ist Leib. Die Leiblichkeit schließt in jedem Menschen äußere und innere Wirklichkeit zusammen. Für mich und für andere bin ich da als dieser Leib. Der empfindende, anschauende, vorstellende und denkende Mensch erfährt sich selbst als leibhaftes Lebewesen. Durch den Leib hat der Mensch Anteil sowohl an der raumzeitlichen Körperwelt als auch an der emotional-imaginativ-geistigen Seelenwelt. Die eigentümliche Erkenntniswelt des leiblichen Menschen wird im Außenaspekt durch die sinnlichen Anschauungsformen von Raum und Zeit, im Innenaspekt durch die Vorstellungsformen und Gefühlsqualitäten geprägt. Dingwahrnehmung und Selbstwahrnehmung sind leibhaft vermittelt. Der Mensch steht durch seinen Leib im Mittelpunkt seiner Erfahrungswelt. Die Weltperspektive des menschlichen Subjekts ist durch die Leiblichkeit bestimmt. Leib meint den lebendigen beseelten Körper. Die Seele wird im und vom Leib ausgedrückt. Ich bin ein Leib und habe einen Körper. Der Leib als Körper meint die Wahrnehmung meiner selbst als des mir nächsten Außen, durch das ich Kontakt habe zu anderem Außen. Der Leib als Körper ist die Brücke zu den vielen Dingen der raumzeitlichen Erfahrungswelt. Obwohl nach der raumzeitlichen Dingheit der Begriff des Körpers und der des Leibes denselben Aussagegegenstand haben, wird dieser Gegenstand doch jeweils sehr verschieden in den Blick genommen. Der Begriff des Körpers ist bestimmt durch die Objektivierung der Betrachtung, durch die Distanznahme von aller personalen Beteiligung, ist zentriert auf Äußerlichkeit ohne personale Bezogenheit des Erkennenden und Aussagenden.Vom menschlichen Körper wird immer da gesprochen, wo er als Naturgegenstand Untersuchungsobjekt der naturwissenschaftlichen Disziplinen ist. Der Begriff des Leibes schließt gerade diese wesentliche und unauflösliche Bezogenheit der Person in die Erfahrungswelt ein. Leib steht immer in Gemeinschaft mit Seele. Beide sind konstitutiv aufeinander bezogen, bilden eine differenzierte Einheit. Die menschheitlich sehr alte Ausbildung der Seelenvorstellung ist wohl durch elementare Beobachtungen und Interessen motiviert worden. Neben der Wahrnehmung, dass im Schlaf der Mensch sich von seinem Körper zu befreien scheint, will die Seelenvorstellung insbesondere verständlich machen, was den Unterschied zwischen belebten und unbelebten Körpern ausmache, wie die Belebung zustande komme. Daran schließt sich dann an – und das ist für das heutige Thema wesentlich – der Fragenkreis, ob und wie das Leben nach dem Tod des Körpers fortdauere. An Gestorbenen lässt sich wahrnehmen, dass die Lebendigkeit aufhört, der Leib in einen anderen Existenzmodus übergeht und der Körper verwest. Damit stellt sich die Frage, wie die Erfahrung personaler Identität, die wir unserer Seele zuschreiben, angesichts des Todes zu deuten ist. Die Seelenerfahrung impliziert ein Interesse an der Kontinuität menschlicher Existenz über den körperlichen Tod hinaus. Das kann auf die
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Vorstellung von Seelenwanderung, individuell-seelenhafter Weiterexistenz oder Auferstehung führen.
2 Prüfung und Begründung des die Erfahrung Übersteigenden bei Immanuel Kant Für die neuzeitliche europäische Kultur, die durch Renaissance, Reformation und Aufklärung ihre Grundimpulse bekommen hat, haben Freiheit und Zweifel besondere Bedeutung. Der methodische Zweifel revolutionierte das Erkennen, die Freiheitsidee das Wollen und Handeln. Die Formulierung der christlich-frommen Überzeugungen und Einstellungen hat sich in einem schmerzhaften Wandlungsprozess dem neuen kulturellen Kraftfeld angepasst. Die wirkmächtigen Impulse der kulturellen Umformung lassen sich insbesondere am Denken des Königsberger Philosophen Immanuel Kant (1724– 1804) studieren. Das Leistungsvermögen sowohl der erkennenden Vernunft als auch das der gestaltenden Vernunft hat er einer gründlichen Prüfung unterzogen. Deren Ergebnisse führten zu weitreichenden Veränderungen. Die drei Grundfragen menschlich-vernünftiger Lebenswahrnehmung: was können wir wissen? was sollen wir tun? was dürfen wir hoffen? wurden von Kant geprüft und beantwortet. Sein Gewissheitsfundament ist die praktische Freiheit.
2.1 Prüfung des Wissens Kant fasst im Gegensatz zum frühen Rationalismus die Leiblichkeit und die sinnliche Anschauung nicht mehr abwertend als eine die wahre Verstandeserkenntnis verdunkelnde und verwirrende Erkenntnisquelle auf, sondern als gleichwertige Erkenntnisquelle neben dem Verstand. Kant unterzog in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781; 21787) den rationalen Gottesbegriff und den rationalen Seelenbegriff einer genauen Prüfung.¹ Das Ergebnis dieser Prüfung war, dass diese beiden wesentlichen Lehrstücke des Rationalismus als theoretisch haltlos eingeschätzt werden mussten. Beide rückten in den Status von Postulaten der praktischen Vernunft.
2.1.1 Gottesgedanke Die Kritik der reinen, nicht empirisch gestützten Vernunft durch Kant führte die traditionelle substanzontologische Metaphysik an ihr Ende. Seine kritische Analyse der
Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft: Zweite Auflage 1787, Bd. 3, Kant’s gesammelte Schriften, hg.v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: G. Reimer, 21911, 262– 281. 383 – 461.
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theoretischen, für alle Ist-Aussagen konstitutiven Vernunft erbrachte, dass das Gottesbewusstsein auf dem Weg des objektiven Wissens aus dem Gegenstandsbewusstsein nicht formuliert werden könne. Die reinen Verstandesbegriffe, die als Kategorien objektive Gültigkeit dadurch bekommen, dass sie das gegebene Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung verknüpfen, sind auf die Wahrnehmungsdata eingeschränkt, falls sie überhaupt Gegenstände erhalten sollen; das heißt sie sind gedankliche Formen möglicher Erfahrung. Durch Kants kritische Prüfung muss die theoretische Vernunft eine Einschränkung ihres Geltungsbereichs auf mögliche Erfahrung hinnehmen. Danach ist alle objektive Erkenntnis auf sinnliche Anschauung angewiesen; alle dogmatische Metaphysik im Sinne bloßer Begriffserkenntnis des übersinnlichen Unbedingten (Ontotheologie zur Fundierung der Substanzontologie) ist abgeschnitten. Kant deckte in der rationalen Theologie, die eine Gotteserkenntnis aus dem reinen Begriff vortrug, einen doppelten Gottesbegriff auf. Gegen den Begriff des vollkommensten Wesens brachte er den empiristischen Einwand, gegen den Begriff des notwendigen Wesens den kritizistischen Einwand vor. Für den theoretischen Vernunftgebrauch diagnostizierte Kant eine regulative, nicht aber eine konstitutive Bedeutung der Gottesidee. Das hatte zwei Konsequenzen: Kant schränkte den Geltungsbereich der theoretischen Vernunft auf mögliche Erfahrung ein, weil die rationale Theologie die Metaphysik nicht begründen könne. Und umgekehrt: Kant zerstörte die konstitutive Beziehung des Gottesbewusstseins zum metaphysisch-objektiven Wissen. Dieses Ergebnis ist ambivalent, es lässt sich sowohl positiv als auch negativ lesen. Abgeschnitten wurde der Weg, rationale Theologie mittels reiner theoretischer Vernunftbegriffe und Vernunftschlüsse begründen und explizieren zu wollen. Gott könne im metaphysischen Wissen nicht beweisend denkerisch erreicht werden. Kant destruierte einen ganzen Zweig metaphysischer Wissenschaft und damit zugleich einen Stützpfeiler kirchlicher Theologie. Abgeschnitten wurde aber auch der Weg des theoretischen Atheismus, der als Widerpart der rationalen Theologie behauptete, die Nichtexistenz Gottes nachweisen zu können. Dieser rationale Atheismus argumentiere genauso mit transzendenten Begriffen wie der Theismus. Beiden fehle aber für solche Bildung transzendenter Begriffe die Legitimation. Von theoretischer Seite lasse sich zur transzendenten Gottesidee weder ein Ja noch ein Nein ausmachen, sondern allein ein Kann-sein-odernicht-sein.
2.1.2 Seelengedanke In seiner Schrift Träume eines Geistersehers (1766) brachte Kant die Perspektivengebundenheit und die Ortsgebundenheit menschlicher Subjektivität markant zum Ausdruck.² Die menschliche Seele sei durch ihre Verbundenheit mit dem Leib hin-
Vgl. Immanuel Kant, „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik,“ in
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sichtlich ihres Ortes und ihrer Perspektive unwiderruflich bestimmt. Die Körperlichkeit gebe dem Selbst seine Orthaftigkeit in der physischen Welt. Die Behauptung eines separaten Orts der Seele im Körper sei dagegen eine unangemessene Verdinglichung, die durch keine Erfahrung bestätigt werden könne. Die Seele habe keinen differenten Ort im Körper, sondern sie sei da, wo empfunden werde, in der Fingerspitze ebenso wie im Kopf. Durch keine Erfahrung sei die Annahme gefordert, einige Teile der Empfindung abzutrennen und das Selbst in einem winzigen Gehirnteil zu platzieren und von dort die Körpermaschine mechanistisch dirigieren zu lassen. Die Seele sei im ganzen Körper und in jedem seiner Teile ganz. Kant prüfte in der Kritik der reinen Vernunft die Seelenlehre der rationalen Psychologie und kam zu dem Ergebnis, dass die Wahrheitsansprüche der rationalen Seelenlehre theoretisch nicht zu rechtfertigen seien. Die rationale Psychologie wolle die Natur des menschlichen denkenden Wesens unabhängig von aller Erfahrung durch reine Vernunft erfassen. Sie gehe dabei aus von der unbestreitbaren Evidenz des alle Erfahrung begleitenden identischen Ich-denke-Bewusstseins. Dieses denkende Subjekt im inneren Sinn, die Seele, sei, so die rationale Psychologie, substanzhaft, einfach, persönlich-konstant und geistig. Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele zielt nach Kant auf die Aussage, dass das Ich unveränderlich und dauernd sei. Da aber keine Anschauung von diesem unveränderlich bleibenden substanzhaften Ich möglich sei, könne auch zur Unsterblichkeit der Seele keinerlei Wissen erworben werden. Die Seeleneigenschaften würden nur durch eine unberechtigte Übertragung gewonnen. Die für die Erfahrungsgegenstände maßgeblichen Kategorien würden unberechtigt auf diese Ich-Instanz des „Ich denke“ angewendet, die in allen Vorstellungen identisch die Wahrnehmungsdaten und Erkenntnisformen synthetisiere. Diese Ich-Instanz könne nicht objektiviert werden. Das Selbstbewusstsein sei nämlich kein Vorstellungsgegenstand, sondern die alle Erkenntnis begleitende Vorstellungsform, durch die allen Gegenständen die Eigenschaften beigelegt werden, die als Erkenntnisbedingungen die Möglichkeit der Erkenntnis dieser Gegenstände ausmachen. Die logische Identität des Ich, die in der Apperzeption des alle Erkenntnis begleitenden „Ich denke“ gedacht wird, dürfe nicht verwandelt werden in die numerische Identität einer substantiellen Seele im Sinne einer absolut beharrenden Person. Kants Analyse der rationalen Psychologie ergab, dass die Prädikate des überempirischen Seelenbegriffs latent alle den für die Erfahrungsurteile des Verstandes konstitutiven Kategorien folgen und diese Herkunft nur verschleiern. Wer dieses Ergebnis bestreiten will, muss entweder bei den Kategorien zeigen, dass deren Geltung keineswegs nur auf Erfahrungsurteile eingeschränkt sei, oder er muss in der ratio-
Vorkritische Schriften II: 1757 – 1777, Bd. 2, Kant’s gesammelte Schriften, hg.v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: G. Reimer, 21912, 315 – 373, 324– 325.
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nalen Psychologie Seelenprädikate aufweisen, die nicht auf Kategorien zurückgeführt werden können. Für den rationalen Seelenbegriff kam Kant zum selben Ergebnis, das er analog auch für den rationalen Gottesbegriff formulierte: Die Unsterblichkeit der Seele könne unabhängig von aller Erfahrung weder behauptet noch geleugnet werden. Das theoretische Ungenügen der Vernunft verneine nicht die Berechtigung des moralischen Interesses an personaler Unsterblichkeit. Kant nahm deshalb die Unsterblichkeit der Seele in seine Lehre von den Ideenpostulaten der praktischen Vernunft explizit auf.
2.2 Begründung aus der vernünftigen Freiheitspraxis In der Einschränkung der theoretischen Vernunft zugunsten der praktischen Vernunft erblickte Kant den großen Nutzen seiner Metaphysikkritik. Die metaphysischen Vernunftideen von Gott und der Unsterblichkeit der Seele, die den Verstandesgebrauch im Vollzug der begrifflich-anschaulichen Erkenntnis idealiter regulieren, ohne eine objektive Erkenntnis des Unbedingten zu ermöglichen, wurden der praktischen Vernunft übereignet. Die für die praktische Vernunft konstitutive Idee der Freiheit wurde zum Wegzeichen für den Gottesgedanken und Seelengedanken. Die Freiheitsidee war für Kant die Brücke zwischen der kausal strukturierten Erfahrungswelt und der spontanen Seinswelt des Unbedingten. Die kosmologische Idee der Freiheit, nämlich einen Zustand von selbst anfangen zu können, könne nur problematische Geltung beanspruchen, weil sie die Kausalität der Natur übersteige. Doch die praktische Idee der Freiheit, unabhängig von allen Impulsen der Erscheinungswelt den Willen bestimmen zu können, begründe und offenbare die Welt des aus seiner Form gültigen moralisch-göttlichen Gesetzes.
2.2.1 Moralische Postulate In seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788) formulierte Kant eine moralisch-personale Begründung des Gottesgedankens und des Seelengedankens.³ Das praktische Vernunftgesetz ziele auf das höchste Gut, das der unbedingte vollständige Gegenstand der praktischen Vernunft sei. Dialektische Verwicklungen entständen daraus, dass im höchsten Gut Tugend und Glückseligkeit vereint seien, und zwar so, dass die Tugend die Ursache der Glückseligkeit sein müsse. Die unbedingt gebotene Beförderung des höchsten Guts sei in ihrem Erfolg nicht nur von der Tugend, sondern auch von der Natur abhängig. Nur wenn Glückseligkeit an Glückswürdigkeit gebunden werde, könne die Unbedingtheit des moralischen Gesetzes gewahrt bleiben und zugleich Moralität mit Glückseligkeit vereint werden.
Vgl. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Bd. 5, Kant’s gesammelte Schriften, hg.v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: G. Reimer, 21913, 1– 163, 122 – 134.
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Eine wirkliche Aufhebung dieser Antinomie sei nur möglich, wenn die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes postuliert werde. Ein Postulat der reinen praktischen Vernunft sei ein theoretischer Satz, der theoretisch nicht begründbar sei, der aber dem unbedingten Freiheitsgesetz unzertrennlich zugehöre. Das Postulat der Seelenunsterblichkeit sichere das unendliche sittliche Fortschreiten der Person, damit sie ihr Ziel, dem moralischen Freiheitsgesetz angemessen zu werden, erreichen könne. Dieses Postulat ist aber für sich allein nicht tragfähig, sondern abhängig vom Postulat des Daseins Gottes. Erst die Existenz Gottes ermögliche die Verwirklichung des höchsten Guts, das als Objekt des Willens mit dem Sittengesetz unauflöslich verbunden gedacht werden müsse. Der Gottesbegriff, der im theoretischen Vernunftgebrauch transzendent ist, werde im praktischen Gebrauch immanent. Allein Gott könne die wesentliche Harmonie von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit herstellen und garantieren. Kant sah in dieser Aussage die christliche Lehre vom Reich Gottes als der harmonischen Proportionierung von Heiligkeit und Seligkeit authentisch interpretiert. Da die Kritik der theoretischen Vernunft das Ergebnis erbracht hat, dass dogmatische Aussagen über Existenz oder Nichtexistenz einer unsterblichen Seele genauso wie über Existenz oder Nichtexistenz Gottes nicht objektiv möglich sind, so gibt der moralische Vernunftglaube den entscheidenden Impuls, sowohl die Existenz Gottes als auch die Unsterblichkeit der Seele anzunehmen. Die reine praktische Vernunft gebietet diese Elemente des Vernunftglaubens nicht direkt, wohl aber ist dieser Vernunftglaube für die gebotene Existenz und Realisation der moralischen Aufgabe vollkommen zuträglich.
2.2.2 Stiftung der Kirche In seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft begründete Kant den Gottesgedanken aus der moralischen Unvollkommenheit der einzelnen Menschen und der deshalb unverzichtbaren Konstitution der Kirche.⁴ Für die Beschreibung des moralischen Zustandes des Menschen unterschied Kant markant zwischen der Menschheit und dem einzelnen Menschen, zwischen der Gattung und dem Individuum. Für die Gattung Mensch gelte: Die ursprüngliche moralische Anlage des Menschen sei gut; am Begriff des moralischen Gesetzes erschließe sich der Begriff der Freiheit; die Wahrnehmung dieser moralischen Bestimmung gebe ein Gefühl der Erhabenheit; das moralische Gesetz fordere die pflichtbestimmte Güte des Menschen; aus dem Sollen folge notwendig das Können. Für das Individuum Mensch gelte: Das moralische Leben beginne vom Stand der sittlichen Verderbtheit aus; der Hang zu widergesetzlichen Maximen begleite und
Vgl. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Bd. 6, Kant’s gesammelte Schriften, hg.v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: G. Reimer 21914, 1– 202, 93 – 147.
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konterkariere alles sittliche Wollen. Die Verkehrtheit des menschlichen Herzens bestehe in der falschen Zuordnung sinnlicher und vernunftpraktischer Bestimmungsgründe der Freiheit. Sinnlichkeit und Vernunft seien nicht jeweils für sich verdorben, sondern nur in ihrer Zuordnung. Die sittliche Aufgabe sei die Herstellung der richtigen Zuordnung von sinnlichen und vernunftpraktischen Maximen. Diese Verwandlung des Menschen könne nur durch eine Neuschöpfung, eine Wiedergeburt, eine Revolution der Gesinnung geschehen. Nur so könne der Mensch ein moralisch-guter, tugendhafter, pflichtbestimmter, Gott wohlgefälliger Mensch werden. Der einzelne Mensch sei unfähig, das moralische Freiheitsgesetz zu verwirklichen. Eine Beförderung zum Guten könne also nur erreicht werden, wenn es gelinge, eine Gesellschaft für die Tugend zu etablieren, die das gesamte Menschengeschlecht umfassen müsse. Außer den vernünftigen Tugendgesetzen für jeden Einzelnen müsse es noch eine gesellschaftliche Vereinigung geben für alle, die das Gute lieben, um das rastlos anfechtende Böse überwinden zu können. Insofern nur die Gesellschaft die Ausbreitung von Moralität fördern könne, sei sie das eigentliche Subjekt jeder sittlichreligiösen Initiative. Dieses ethische Gemeinwesen sei die Kirche. Dieses Gemeinwesen könne durch Menschen nicht begründet werden. Allein Gott könne sie stiften. Noch einmal: Die moralische Unvollkommenheit der Menschen als verantwortlicher Freiheitswesen dränge zu einer Gemeinschaftsbildung, die nur religiös verstanden werden könne. Da Kant die aufklärerische Prämisse nicht teilte, jeder Mensch sei von Natur aus gut und damit auch, falls er nicht abgelenkt werde, zu allem Tun des Guten bereit, sondern da Kant vielmehr von der anfänglichen Neigung zur Bosheit bei jedem einzelnen Menschen überzeugt war, sah er die sittliche Aufgabe, diese Ausgangslage zu überwinden und den Prozess der sittlichen Vervollkommnung in Gang zu bringen und zu unterhalten. Das Gute könne nur in einem sittlichen Entwicklungsprozess realisiert werden, den kein einzelner Mensch je für sich bewerkstelligen könne. Das für die praktische Vernunft notwendige ethische Gemeinwesen, die Kirche, könne nur durch Gott als moralischen Weltherrscher gestiftet werden. Die von Gott gestiftete ideale Kirche, die unsichtbare Vereinigung aller tugendhaften Menschen unter der göttlichen moralischen Weltregierung, sei das Urbild für die von Menschen zu stiftende sichtbare Kirche. Auch wenn die Stiftung des Gottesreiches nur von Gott selbst erwartet werden könne, so müsse doch jeder Mensch sich so um das Gottesreich bemühen, als ob alles von seinem Einsatz abhänge.
2.3 Ablehnung einer verdinglichenden Auferstehungsvorstellung In seiner Religionsschrift beurteilte Kant auch anmerkungsweise die Auferstehungsvorstellung vor dem Forum der Vernunft.⁵ Da ihm wegen seiner Zugehörigkeit zur philosophischen Fakultät eine historisch-exegetische Würdigung der biblischen Be-
Vgl. Kant, Religion (s. Anm. 4), 128 – 129.
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richte zu Jesu Auferstehung und Himmelfahrt als einem Geschehen, das nicht wie Jesu Lehren und Sterben öffentlich stattfand, sondern auf den Kreis seiner Vertrauten beschränkt war, verwehrt war, nahm er nur generell eine Vernunftwürdigung der Auferstehungsvorstellung vor. Kant kam zu folgendem Ergebnis: Nach ihrem Ideengehalt formulieren diese Berichte, dass Jesus ein neues Leben beginne und in die selige Gemeinschaft mit allen Guten eintrete. Die Auferstehungsvorstellung sei zwar nach Art sinnlicher Vorstellungen leicht fassbar, für den Vernunftglauben an die Zukunft aber unangemessen. Eine buchstäbliche Auferstehungsvorstellung impliziere nämlich einen psychologischen und kosmologischen Materialismus der menschlichen Persönlichkeit, weil die menschliche Persönlichkeit nur unter der Bedingung der Körperlichkeit und der Räumlichkeit gedacht werde. Demgegenüber lasse der Spiritualismus eine identische Person auch ohne Körper und ohne Örtlichkeit im unendlichen Raum zu. Gegen die buchstäblich genommene Auferstehungsvorstellung spreche insbesondere die Zufälligkeit, mit der die personale Identität in ihrer postmortalen Existenz an eine bestimmte wenn auch geläuterte Materiekombination gebunden vorgestellt werde. Die spiritualistische Vorstellung einer beharrlichen einfachen Substanz brächte nicht so viele Verwicklungen und Ungereimtheiten. Zudem bleibe unbegreiflich, wie die irdische Kalkerde, welche die menschliche Identität tragen solle, in anderen himmlischen Weltgegenden mit anderen Materien bestehen könne. Kant gab also dem Spiritualismus einen relativen Vorzug vor dem Materialismus der Auferstehungsvorstellung, doch stand er insgesamt beiden reserviert gegenüber. Kant stellte ins Zentrum den moralischen Glauben, den er im Neuen Testament, speziell in der Verkündigung Jesu, vorbildlich formuliert fand.
3 Prophetische Linien Der Berliner Gemeindeprediger und Universitätstheologe Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834) behandelte in seiner zweibändigen Dogmatik Der christliche Glaube (1821/22; 21830/31) die Auferstehung zweimal, zunächst in der Christologie die Auferstehung Jesu⁶, sodann in der Eschatologie die Auferstehung der Toten⁷ am Weltende. In beiden Themenfeldern hat Schleiermacher untersucht, wie wesentlich die Auferstehungsaussage zur Begründung und Darstellung christlichen Glaubens ist.
Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), Bd. I/13,1– 2, Kritische Gesamtausgabe. 1. Abteilung: Schriften und Entwürfe, hg.v. Rolf Schäfer, Berlin: De Gruyter, 2003, § 99. Vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube, § 160 – 163 (besonders § 161).
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3.1 Abwertung der Auferstehung für das Christusverständnis Schleiermacher entwickelte ein Verständnis der Person Jesu, das Auferstehung, Himmelfahrt und Wiederkunft zum Gericht als für die Erlösertätigkeit Jesu unwesentlich beiseite stellen kann. Die Auferstehungsberichte trügen zur Lehre von der Person Jesu nichts Wesentliches bei, weil der Glaube an das inspirierende eigentümliche Sein Gottes in Jesu auch ohne die Auferstehung bestehe. Die Tatsache der Auferstehung Jesu habe keine Bedeutung für den Glauben an den Erlöser. Die seit der Aufklärung höchst kontrovers geführte Debatte, ob die Erscheinungen des auferstandenen Jesus objektive Geschehnisse oder subjektive Phantasien seien, wies Schleiermacher der Lehre von der heiligen Schrift zu. Schleiermacher stellte die Tatsächlichkeit der berichteten Geschehnisse wegen der Zuverlässigkeit der Bibel fest, schöpfte aus dieser Tatsachenfeststellung aber keine dogmatische Legitimation der wesentlichen Glaubensbedeutung Jesu. Für das Zustandekommen und Selbstverständnis des christlichen Glaubens sei die Auferstehung Jesu unerheblich. Die Auferstehung Jesu sage nämlich gerade nichts zur unvergleichlichen und eigentümlichen Würde Jesu und der besonderen Gegenwart Gottes in ihm aus. Doch allein die Anerkenntnis dieser eigentümlichen und kräftigen Gegenwart sei für den christlichen Glauben wesentlich, allein diese Gegenwart mache die Fortdauer seiner inspirierenden Wirksamkeit im heutigen Glauben verständlich. Für Schleiermacher war die unverrückbare Prämisse seiner dogmatischen Überlegungen, dass das geistig-fromme Leben der Gläubigen in der Mitteilung der Vollkommenheit und Seligkeit Christi begründet sei und durch die fortwährende geistige Mitteilung erhalten werde.
3.2 Undeutlichkeit der Hoffnungsbilder Schleiermacher stellte zwei Prinzipien auf, denen alle inhaltlichen Aussagen genügen müssen, die den christlichen Glauben in seiner Hoffnungskraft darstellen wollen. Beide Prinzipien gründen in der konstitutiven Bezogenheit christlich-frommen Selbstbewusstseins auf das inspirierende Gottesbewusstsein Christi. An diesen beiden Prinzipien müssen die Vorstellungen gemessen werden, die in der biblischen Tradition zur persönlichen Fortdauer und zum Weltende sporadisch begegnen. Der christliche Glaube sei erstens durch die gottmenschliche Person Christi ermöglicht. Christi Person sei das Urbild für jede menschliche Person. Der christliche Glaube an die persönliche Fortdauer gründe in der unveränderlichen Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in der Person Christi. Die Vereinigung der menschlichen Individuen mit Christus impliziere die Ahnung der persönlichgeistigen Unvergänglichkeit. Wie Christus so auch die Glaubenden. Die Hoffnung auf persönliche Fortdauer sei prägend in der Vorstellung der Auferstehung. Der christliche Glaube sei zweitens durch den kirchlichen Gemeingeist bestimmt, durch dessen Inspiration Christus fortwirke. Der Glaube an die in Christus begründete
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Vollkommenheit des kirchlichen Gesamtlebens bestimme und motiviere die Handlungen und Hoffnungen der Glaubenden. Für die unter irdischen Bedingungen immer unvollkommene Kirche müsse sich die christliche Hoffnung auf die Vollendung der Kirche richten. Diese Hoffnung sei prägend in der Vorstellung vom Jüngsten Gericht, durch welches alle welthaften Einflüsse auf die Kirche negiert werden sollen. Die Vollendung der Kirche und die Fortdauer der Persönlichkeit müssen nach Schleiermacher in der christlichen Hoffnung vereinigt werden, weil beide in Christus ihr Fundament haben. Wie diese Vereinigung der beiden Prinzipien aber gedacht werden könne, dafür fehle die gedankliche Probe. Zwischen beiden Prinzipien besteht für Schleiermacher eine Unschärferelation: Die Vollendung der Kirche könne nur im Sinne eines Umbruchs gedacht werden, dann werde aber die Fortdauer der Persönlichkeit undeutlich. Die Fortdauer der Persönlichkeit könne nur im Sinne einer Entwicklung gedacht werden, dann werde aber die Vollendung der Kirche undeutlich.
3.2.1 Leibliche Auferstehung Nach Schleiermacher können unter irdischen Bedingungen seelisch-geistiges Einzelleben und leiblich-organisches Dasein nicht getrennt sein. Die Auferstehungsvorstellung trage genau diesem Zusammenhang von Leiblichkeit und Geistigkeit Rechnung. Die beiden christlichen Hoffnungsprinzipien brächten allerdings keine zusammenstimmenden Aussagen, weil die Auferstehung unter dem Aspekt der fortdauernden Persönlichkeit anders gedacht werden müsse als unter dem Aspekt der Vollendung der Kirche. Unter dem Aspekt der fortdauernden Persönlichkeit beinhalte die Auferstehungsvorstellung die Identität des Lebens vor dem Tod mit dem nach der Auferstehung. Individuelle Geistigkeit sei an die Stetigkeit des Bewusstseins gebunden; diese Stetigkeit gründe in Erinnerung, diese wiederum sei mit dem Leiblichen verwoben. Sei das seelisch-geistige Einzelleben also mit dem leiblich-organischen Dasein verknüpft und der Geist an die irdische Organisation gebunden, dann müsse für die Auferstehung auch eine Ähnlichkeit beider Welten angenommen werden. Werde das neue Leben ohne großen Bruch an das irdische Leben angeknüpft, so werde der Gedanke der Vollendung der Kirche zu wenig berücksichtigt. Unter dem Aspekt der Vollendung der Kirche werde die Kontinuität zwischen der künftigen und der gegenwärtigen Leiblichkeit eingeschränkt durch die Aussage, dass der künftige Leib unsterblich (vgl. 1Kor 15,42) und ohne Geschlechtlichkeit (vgl. Mt 22,30) sei. Dadurch solle das Interesse an leiblicher Selbsterhaltung und der Widerstreit zwischen Natur und Geist verhindert werden. Allerdings werde durch diese Aussage eine andere Welt vorausgesetzt und die Stetigkeit des Bewusstseins vermindert. Der unsterbliche Leib habe nämlich andere Funktionen und die darauf bezogene Seele eine andere Erinnerung und eine andere Organisation.
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3.2.2 Zwischenzustand und Gericht Die Vorstellung einer allgemeinen gleichzeitigen Totenauferstehung zum Jüngsten Gericht setzt nach Schleiermacher voraus, dass die vorher Verstorbenen bis zum Jüngsten Gericht in einem Zwischenzustand verharren, der vom Endzustand nach dem Jüngsten Gericht unterschieden ist. Dieser Zwischenzustand, für den es keine eindeutigen neutestamentlichen Zeugnisse und keine eindeutigen Glaubenskriterien gebe, könne ohne gravierende Verwicklungen nicht gedacht werden, gleich ob Bewusstlosigkeit oder Bewusstsein angenommen wird. Diese Verwicklungen zeigte Schleiermacher durch Einzelanalysen auf. In der Vorstellung vom Seelenschlaf werde der Zwischenzustand gedacht als Beendet-sein des alten irdischen Lebens und Noch-nicht-Begonnenhaben des neuen ewigen Lebens. Würden in diesem Zustand die Entschlafenen als gleichsam nicht bestehend gedacht, so lasse sich für die mit neuem Leib Auferstehenden schwer denken, wie der frühere irdische Zustand erinnert werden könne: damit sei die personale Identität unbegreiflich. Würden im Zwischenzustand die Entschlafenen als mit Bewusstsein begabt gedacht, so müsse entgegen allen Vorstellungen vom Purgatorium und seinen werkhaften Bewährungsmaßnahmen (Fegefeuer) auch Gemeinschaft mit Christus bestehen, denn sonst fielen die Glaubenden aus der Gnade heraus und würden faktisch bestraft. Bestehe also im Zwischenzustand für die Entschlafenen Gemeinschaft mit Christus, dann könne in der Zwischenzeit entgegen den Vorstellungen von einem Schattenleben in der Unterwelt keine Verringerung der Lebenstätigkeit stattfinden: Vielmehr, da die sinnlichen Hemmungen der Christusgemeinschaft wegfielen, läge ein Zustand erhöhter Seligkeit vor und die neue Leiblichkeit der Auferstehenden wäre überflüssig oder sogar schädlich. Bei der Annahme, im Zwischenzustand bestehe nur Gemeinschaft der Einzelseele mit Christus, nicht aber Gemeinschaft der Glaubenden untereinander, diese werde erst mit der allgemeinen Auferstehung hergestellt, bliebe im Zwischenzustand das Vorhandensein der Kirche unterbrochen und folglich eine der beiden christlichen Prämissen verletzt. Um diesen Verwicklungen zu entkommen, werde teilweise die allgemeine Totenauferstehung bildlich verstanden und das künftige ewige Leben als gleich nach dem Tod jedes einzelnen Menschen beginnend (vgl. Lk 23,43) angesetzt. Ein solches Verständnis schließe ein, dass die Einzelseele sogleich den neuen Leib erhalte. Die biblischen Vorstellungen von der Wiederkunft Christi und vom Jüngsten Gericht müssten dann ebenfalls bildlich verstanden werden. Dieses individualisierend-bildliche Auferstehungsverständnis werde der Glaubensforderung nach Stetigkeit der menschlichen Persönlichkeit besser gerecht, während die kosmologische Veränderungsvorstellung besser die Vollendung der Kirche hervortreten lasse. Die Verknüpfung von allgemeiner Totenauferstehung und Jüngstem Gericht führt nach Schleiermacher in Widersprüche, wenn dieses Jüngste Gericht für Selige und Verdammte unterschiedliche Endzustände heraufführe und die Leiblichkeit als diesen Zuständen angemessen gedacht werden müsse. Werde diese Leiblichkeit schon durch
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die Auferstehung zugeteilt, so werde das Jüngste Gericht überflüssig. Werde umgekehrt das Jüngste Gericht als Verwandlung der Leiblichkeit gedacht, so werde die Vorstellung einer gleichzeitigen allgemeinen Verwandlung von Lebenden und Toten in der allgemeinen Auferstehung überflüssig.
3.2.3 Ewige Seligkeit Die christliche Auferstehungshoffnung zielt traditionell auf die ewige ungetrübte Seligkeit im Anschauen Gottes. Diese vollkommene Glaubensexistenz kann nach Schleiermacher entweder gedacht werden als stetiger Besitz der höchsten Vollkommenheit oder als Entwicklung zu dieser höchsten Vollkommenheit ohne Rückschritt und Kampf. Das genauere Durchdenken dieser beiden Deutungen mache auf Unklarheiten aufmerksam. Werde die Vollkommenheit als stetig und nicht steigerungsfähig gedacht bei einem endlichen Lebewesen ohne allen Bezug auf eine gestaltungsbedürftige Dingwelt, so lasse sich nicht vorstellen, wie dieses vollkommene Wesen seine Vollkommenheit ohne Tätigkeit äußern könne. Ein gemeinsames Leben ohne gemeinsame gegenständliche Tätigkeit sei zwar als gemeinsame künstlerische Gottesverehrung denkbar, doch stelle sich, so Schleiermacher, leicht das Gefühl der Dürftigkeit in all dieser Geschäftslosigkeit ein. Denn es fehle die äußere Naturbearbeitung und die innere geistige Selbstbeherrschung. Wie aber ein solches Werk ohne Trübung der Seligkeit angenommen werden könne, bleibe unklar. Doch nur bei Annahme eines irgendwie beschaffenen Werkes lasse sich die menschliche Grundstruktur von Tätigkeit und Empfänglichkeit aufrechterhalten. Werde dagegen angenommen, die Auferstehung bringe den Beginn eines Wachstums in der Vollkommenheit, so lassen sich Schwankungen in diesem Wachstumsprozess und somit auch Gefühle von Unvollkommenheit und Schuld kaum vermeiden. Da Wachstum aber auch an Außenrelationen festgemacht werden müsse, so würden sich sehr schnell alle Bedingungen des irdischen Lebens wieder einstellen. Die vollkommene Fülle des lebendigen Gottesbewusstseins sei also zu denken als Realisierung des uns auch jetzt schon gegenwärtigen Ideals, nämlich Gott ohne Hemmnis in den Grenzen der endlichen Natur ohne Schwanken und Streit vollständig zu erkennen und wirksam sein zu lassen. Wie diese Realisierung durch die Auferstehung gedacht und zugleich die Stetigkeit der Persönlichkeit gewahrt werden könne, bleibe allerdings undeutlich.
Schluss Gott ist nach biblischem Zeugnis und christlichem Glauben ein Gott des Lebens. Diese Grundüberzeugung gilt auch für Sterblichkeit und Tod. Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes. Wie diese unerschütterliche und ewige Verbundenheit der Glau-
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benden mit Gott weltbildhaft vorgestellt werden kann, das ist ein Gegenstand vielfältiger Überlegungen. In der Auferstehungsvorstellung soll die neue Leiblichkeit nach dem Tod keine Wiederherstellung des alten Leibes sein. Die neue Leiblichkeit ist das Hoffnungsbild dafür, dass die vom Tode zum ewigen Leben Erweckten davon erfüllt sind, dass sie im Glauben an Christus gelebt haben und jetzt ewig in der Fülle Gottes leben. Die weltbildhafte Seite der Auferstehung, wenn man sie raumzeitlich zu denken versucht, führt in Widersprüche und Ungereimtheiten. Die Auferstehungsvorstellung will das neuschöpferische Handeln Gottes im Sinne seiner unaufhebbaren Zuwendung aussagen. Dass das symbolisch genommen werden muss, wird schnell klar, wenn die Zustände der Auferstandenen genauer geschildert werden sollen. Kant und Schleiermacher haben in ihren genauen Analysen den Weg gewiesen zu einem neuen Selbstverständnis des christlichen Glaubens. Beide haben die Eigenwertigkeit und Eigentümlichkeit des Glaubens gerade durch den Verzicht auf alle Ansprüche, objektives Wissen zu sein, begründet und profiliert. Vom Glauben kann nur existentiell geredet werden. Der Glaube, will er sich selbst verstehen, muss seine Unterschiedenheit von allem Wissen akzeptieren. Er muss sich existential auslegen. Für das Auferstehungsthema heißt das, dass ein Wissen über die Zustände nach dem Tod unerreichbar ist, dass aber die dem Glauben eigene Hoffnungskraft sich in diesem Bild für das Leben jetzt inspirierend ausdrückt. Das Auferstehungssymbol öffnet den Horizont des Lebens.
Schleiermachers Verknüpfung von Theologie und Ästhetik Der Gefühlsbegriff hat für Friedrich Schleiermacher, den klassischen Autor des deutschen Protestantismus im 19. Jahrhundert, zentrale Bedeutung.¹ Sowohl seine Ästhetik als auch seine Theologie haben hier ihr Fundament. Der Gefühlsbegriff eignet sich als Leitbegriff, um der Verknüpfung beider Disziplinen nachzugehen. Das möchte ich mit knappen Strichen skizzieren. Anfangs werde ich an einige Basisaussagen der Theologie Schleiermachers erinnern. Dann werde ich Schleiermachers Ästhetik kurz charakterisieren und schließlich auf die Beziehungen zwischen Kunst und Religion eingehen.
1 Schleiermacher verankert seine Dogmatik nicht in einer Schriftlehre, einer Offenbarungslehre oder einer Gotteslehre, sondern im ethischen Begriff der Kirche. Die Kirche hat für Schleiermacher ihre Basis in der Frömmigkeit. Und die Frömmigkeit verortet Schleiermacher in der Sphäre des Gefühls. Da nicht jedes Gefühl fromm ist, muss ein qualifizierendes Merkmal für die frommen Gefühle angegeben werden; dies ist das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, das sich im Gottesbewusstsein ausspricht. Gefühl ist für Schleiermacher unmittelbares ungegenständliches Selbstbewusstsein, das vom gegenständlichen Selbstbewusstsein deutlich unterschieden werden muss.² Gegenständliches Selbstbewusstsein meint die Vorstellung, die jemand objektivierend von sich selbst auf Grund von Selbstbetrachtung hat und die beispielsweise zu moralischer Selbstbilligung oder Selbstmissbilligung führt. Unmittelbares Selbstbewusstsein meint die Innigkeit des Beisichseins, die dem Fühlen von Freude und Leid, von Reue, Zerknirschung oder Zuversicht zu Gott charakteristisch ist. Um die Konstituentien der Frömmigkeit zu erfassen, operiert Schleiermacher mit zwei Grundschemata, die er ihrerseits nicht noch einmal in ihrem Zustandekommen begreift und aufeinander bezieht. Die Trias von Wissen, Tun und Fühlen stellt er neben den Dual von Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit. Unerörtert bleibt nicht nur die Stellung des Gefühls zu Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit, sondern auch der Theoriestatus des Gefühlsbegriffs, also das Verhältnis des Gefühls zum Gefühlsbegriff. Das triadische Grundschema artikuliert die unterschiedlichen Bezogenheiten des Selbstbewusstseins nach innen und außen, sein Beisichselbstsein und Aussichherausgehen. In der Trias von Wissen, Tun und Fühlen ordnet Schleiermacher die Zitatnachweise und Belegverweise ohne Angabe des Autors beziehen sich auf Friedrich Schleiermacher. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt: Erster Band, Berlin: G. Reimer, 21830, 8 – 9. https://doi.org/10.1515/9783110745498-006
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Frömmigkeit dem Gefühl zu. Er verwahrt sich gegen die Behauptung, die Frömmigkeit sei Wissen oder Tun. Wäre die Frömmigkeit Wissen, so müsste der beste Kenner der christlichen Glaubenslehre „zugleich der frömmste Christ“³ sein. Wäre die Frömmigkeit Tun, so müsste der Erfolg im Tun des Guten der Maßstab für die Frömmigkeit sein. Die Frömmigkeit ist allerdings dem Wissen erschlossen und den Antrieben zum Tun verbunden. Gefühle sind weder verworren noch unwirksam.⁴ Schleiermachers duales Grundschema ist an unterschiedlichen Verfasstheiten des Selbstbewusstseins orientiert. Für jedes Selbstbewusstsein sind zwei Elemente, ein „Sichselbstsezen und ein Sichselbstnichtsogesezthaben, oder ein Sein, und ein Irgendwiegewordensein“⁵ konstitutiv. Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit sind in jedem endlich-konkreten Selbstbewusstsein wechselseitig verschränkt. Die Selbsttätigkeit ist dem Freiheitsgefühl, die Empfänglichkeit dem Abhängigkeitsgefühl korreliert. Das Freiheitsgefühl ist nach Schleiermacher nicht generell als erhebend, das Abhängigkeitsgefühl nicht generell als niederdrückend zu qualifizieren. Das Abhängigkeitsgefühl sei beispielsweise in der Bekehrung erhebend; das Freiheitsgefühl könne angesichts kommender oder vorangegangener Einschränkungen niederdrückend sein. Grundlegend ist für Schleiermacher der Gedanke, dass endliches Dasein sich nicht selbst verdankt. Die relationale Dualität von Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit kann sich nicht selbst hervorbringen und tragen. Die relative Selbsttätigkeit ist kontingent und wird als selbst empfangen worden seiend verstanden. Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit begleitet das Gefühl relativer Freiheit. Beim schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl ist die Wechselwirkung mit einem Gegenstand ausgeschlossen, weil sonst eine Gegenwirkung durch Selbsttätigkeit erfolgen würde. Da jeder einzelne Lebensmoment immer auch durch Gegebenes bestimmt werde, könne das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl auch keinen einzelnen Moment allein erfüllen. Die Frage der Bestimmbarkeit geht Schleiermacher nicht an. Wird das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit verstanden als unmittelbares Selbstbewusstsein, das aber ein bestimmtes sein soll, dann muss erklärt werden, wie dieses bestimmte unmittelbare Selbstbewusstsein überhaupt identifizierbar sein kann, wenn es nicht den üblichen Strukturen des Bewusstseins von Rezeptivität und Spontaneität unterworfen sein soll. Schleiermacher identifiziert das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl als Gottesbeziehung. Indem das Selbstbewusstsein eine bestimmte Gestaltung seiner Selbst als nicht selbstbestimmt versteht, stellt es seine Außenbezogenheit ungegenständlich vor. Gott ist „das in diesem Selbstbewusstsein mit gesezte Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins“⁶. Anders: das Gottesbewusstsein ist „das unmit-
Schleiermacher, Der christliche Glaube (s. Anm. 2), 12. Vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube, 15. Schleiermacher, Der christliche Glaube, 17. Schleiermacher, Der christliche Glaube, 22.
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telbare innere Aussprechen des schlechthinigen Abhängigkeitsgefühls“⁷. Das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl ist die ursprüngliche Offenbarung Gottes im Menschen, indem Gott als das das menschliche Sosein Bestimmende gefühlt und diese unmittelbare Bestimmtheit des Gefühls auf Gott zurückweisend gedacht wird. Diese Definition des Gottesbegriffs erläutert Schleiermacher dahin, dass er alle welthaften Merkmale ausschließt. Durch welthafte Merkmale würde Gott in die Sphäre der Wechselwirkung, in die Sphäre des relativen Freiheitsgefühls und des relativen Abhängigkeitsgefühls, gesetzt, verlöre damit seine Absolutheit und würde zum Weltding. Die Versinnlichung Gottes kann und darf deshalb nach Schleiermacher nur symbolische Bedeutung haben. Außerdem verhindert Schleiermacher durch diese Definition, dass das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl in Abhängigkeit gesetzt wird von einem vorausgehenden Wissen von Gott. Die Philosophie, für die die Gottesidee der unverzichtbare anfängliche Grenzpunkt bleibt, verweist auf ihren Gegenpol, den sie selbst nicht erreichen kann. Frömmigkeit und Verstand sind die Pole, zwischen denen sich das Leben des Geistes entfaltet. In einem fortdauernden Prozess der Annäherung gehen Philosophie und christliche Frömmigkeit aufeinander zu.
2 Nach Dilthey ist Schleiermacher „der Ästhetiker der Romantik“⁸. Doch der konzeptionellen Bedeutung, die Schleiermachers Ästhetik für die romantische Kunstauffassung hat, entspricht nicht der Grad der Ausarbeitung. Hier ist vieles unscharf und probierend. Auch in der Ästhetik hat der Gefühlsbegriff eine Basisstellung. Meinen zweiten Hauptteil, der Schleiermachers Ästhetik skizzieren soll, habe ich in vier Unterabschnitte gegliedert.
Schleiermacher, Der christliche Glaube (s. Anm. 2), 34; vgl. auch 23 – 24. Vgl. Wilhelm Dilthey, Schleiermachers System als Philosophie, Bd. 2,1, Leben Schleiermachers, hg.v. Martin Redeker, Berlin: De Gruyter 1966, 443. Über die Forschungsliteratur informiert Gunter Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1984, 140 – 144. Eine systematische Darstellung gibt Thomas Lehnerer, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, Stuttgart: Klett Cotta, 1987. Theologische Aspekte der Ästhetik erörtert Inken Mädler, Kirche und bildende Kunst der Moderne: Ein an F. D. E. Schleiermacher orientierter Beitrag zur theologischen Urteilsbildung, Beiträge zur Historischen Theologie 100, Tübingen: Mohr Siebeck, 1997.
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2.1 Der systematische Ort der Ästhetik Schleiermacher lehnt die traditionelle Auffassung ab, die Ästhetik theoretisiere das „Wohlgefallen am Schönen“⁹. Bei diesem traditionellen Verständnis werde die künstlerische Produktivität nicht genügend berücksichtigt. Schleiermacher sieht die Aufgabe der Ästhetik als einer wissenschaftlichen Disziplin darin, den Zusammenhang der künstlerischen Tätigkeit mit den anderen Geistestätigkeiten zu verstehen und sie von ihrem Ursprungskeime an bis in die Mannigfaltigkeit der Formen und Gestaltungsregeln in allen ihren Verästelungen zu begleiten. Auf der Seite der technischen Vorschriften für den Künstler und der kritischen Vorschriften für den Kenner will Schleiermacher alles dasjenige ausschließen, was sich auf die Bearbeitung des Materials selbst bezieht.¹⁰ Alle Detailregeln haben ihren Ort in den Kunstschulen. Schleiermacher versteht die Ästhetik als kritische Disziplin, nicht als technische Disziplin. Sie wurzelt in der Ethik und vermittelt diese mit der Empirie. Die Ethik als spekulative Grundwissenschaft der Kultur, das heißt des Geistes in der Geschichte, bedarf nach Schleiermachers Wissenschaftssystematik vermittelnder Disziplinen, die die Brücke zur Empirie schlagen. Dabei sind die kritischen Disziplinen stärker dem Erkennen und die technischen stärker dem praktischen Gestalten gewidmet. Die Ästhetik verfährt kritisch, indem sie die spekulativen Grundsätze auf die empirischen Tatbestände bezieht und beide wechselweise bestimmt. Die Ästhetik hat die Aufgabe, erstens die Kunsttätigkeit spekulativ in den Zusammenhang aller menschlichen Tätigkeiten einzuordnen und als wesentliche Tätigkeit zu legitimieren und zweitens die Kunstzweige enzyklopädisch zu erfassen. Die Ästhetik bekommt von der Ethik ihre spekulativen Leitbegriffe. Nur durch diesen Rückbezug hat sie ihren Ort in der Einheit und Totalität des Wissens. Nur wenn der höchste spekulative Punkt erreicht wird, kann von der Ästhetik als einer Wissenschaft gesprochen werden. Sie vermittelt diese spekulativen Leitbegriffe mit den technischen Regeln, die für die einzelnen Kunsttätigkeiten gelten. Die Kunst ist in ihrem Wert von den sittlichen Wirkungen der Kunstwerke unabhängig.¹¹
2.2 Merkmale der Ästhetik Die Kunstwerke sind vor den technischen Anleitungsregeln und den wissenschaftlichen Beurteilungsregeln da. Oder anders: Die Praxis geht der Theorie voran, und das
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32), hg.v. Thomas Lehnerer, Philosophische Bibliothek 365, Hamburg: Meiner, 1984, 3. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen über die Aesthetik, Bd. III/7, Sämmtliche Werke, hg.v. Carl Lommatzsch, Berlin: G. Reimer, 1842, 36 (= SW III/7). Vgl. Friedrich Schleiermacher, Reden und Abhandlungen, der Königl. Akademie der Wissenschaften vorgetragen, Bd. III/3, Sämmtliche Werke, hg.v. Ludwig Jonas, Berlin: G. Reimer, 1835, 221 (= SW III/3).
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muss so sein, weil die spontane Begeisterung für die Kunst unverzichtbar ist.¹² Doch ist damit keiner exklusiven Genialität das Wort geredet. Sondern die Wissenschaft fragt auch bei den Kunstwerken, warum sie so und nicht anders geworden sind.¹³ Das beziehungslose Nebeneinander von Kunsttätigkeit und Ästhetik möchte Schleiermacher beenden, indem er keine eigenen Ideale und Normen aufstellt, sondern die Kunsttätigkeit beobachtet und analysiert. a) Schleiermachers Ästhetik ist eine Ästhetik der Produktion. Sie schaut auf den Werdeprozess der Kunst und gibt die Momente an, die zusammenkommen müssen, damit das anfängliche Gefühl in einem Werk objektiv wird. Das Urdatum ist das Werden des Urbildes in der Verknüpfung von Begeisterung und Besonnenheit; die Phantasie gestaltet ein inneres Bild zur Werkform. Diese Darstellung im Material ist dann auch für andere erfahrbar. Dadurch dass sich Schleiermacher in seiner Ästhetik an der Produktion des Kunstwerks orientiert und keinen Kanon der objektiven Schönheit aufstellt, wird seine materiale Beurteilung der einzelnen Kunstprodukte nicht präjudiziert. Sobald sich zeigen lässt, dass die wesentlichen Momente des künstlerischen Prozesses gegeben sind, wird das Kunstwerk auch als schön beurteilt. Schleiermacher erstellt also kein Raster von objektiven Schönheitskriterien, denen die Kunstwerke genügen müssen und aufgrund derer ihre Güte beurteilt wird, sondern er gewinnt durch seine Konzentration auf den künstlerischen Prozess eine große Offenheit für das Ergebnis des künstlerischen Wirkens. b) Schleiermachers Ästhetik ist eine Ästhetik des Ausdrucks. Sie beginnt beim Ausdruck des subjektiven Gefühls. Doch kommt nicht allein das subjektive private Gefühl zur Erscheinung, sondern etwas allgemein Menschliches. Als „geistige Selbstmanifestation“¹⁴ wird in Typen die menschliche und außermenschliche Natur dargestellt. Ausdruck ist sowohl subjektiv wie objektiv. Das in der Natur Angedeutete wird in der Kunsttätigkeit vollendet. Hier schließt sich Schleiermacher an den Mimesis-Begriff des Aristoteles an. In der Kunst erweist sich der produktive Geist als Interpret und Fortführer der Schöpfung.¹⁵ Damit ist ein enges Verhältnis zur Religion angedeutet.¹⁶ c) Schleiermachers Ästhetik ist eine Ästhetik des Künstlers. Sie geht von der Tätigkeit des Künstlers aus, nicht vom Inhalt oder der Form des künstlerischen Produktes. Durch die Tätigkeit der Phantasie wird unanschauliches Gefühl zur Anschauung gebracht. Schleiermacher erklärt sich gegen die Exklusivität der Kunst, gegen die Konzentration auf wenige geniale Kunstproduzenten. Er vertritt einen
Vgl. SW III/3 (s. Anm. 11), 216. Vgl. SW III/7 (s. Anm. 10), 34. Friedrich Schleiermacher, Psychologie, Bd. III/6, Sämmtliche Werke, hg.v. Leopold George, Berlin: G. Reimer, 1862, 243 (= SW III/6), vgl. auch 110. Vgl. SW III/3, 186 – 187. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, Bd. 2, Schleiermachers Werke, hg.v. Otto Braun / Johannes Bauer, Leipzig: Meiner, 21927, 99 – 100.
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universellen Kunstbegriff.¹⁷ Für Schleiermacher sind alle, die sich Kunstwerke aneignen, selber Künstler. Der Sinn für Kunst und die Produktion von Kunst sind nur graduell unterschieden. Der Impuls ist derselbe, ist allgemein. Der Geniebegriff wird von Schleiermacher in dem Sinne einbezogen, dass für ihn alle Menschen Künstler sind. Das Schwergewicht liegt auf der Produktion, während die Kunstrezeption davon abgeleitet ist. Die Kunst ist das Organ zur Darstellung des Individuellen. Alle Werke der schönen Kunst sind nach Schleiermacher gewollte „Selbstmanifestation des Künstlers“¹⁸. Schleiermacher sieht die Verwandtschaft eines Künstlers mit einer bestimmten Kunstrichtung als organisch begründet an. Sie ist das Konstante, während die Urbildproduktion jeweils momentan ist. Diese Urbildproduktion ist eine „erzeugende Bewegung“¹⁹, die in der individuellen erkennenden Funktion ihren Ort hat und auf die organische Funktion einwirkt.
2.3 Das Wesen der Kunst Das übliche negative Merkmal, von der Kunst alles das auszuschließen, was bestimmten Zwecken dient, und das übliche positive Merkmal, Kunst sei reines Wohlgefallen am Schönen, sind zu unscharf, wie einerseits der Blick auf das Kunsthandwerk und andererseits das Vorkommen der Schönheit in Natur, Wissenschaft und Sittlichkeit lehrt. Das macht die Frage nach dem Gemeinsamen des Künstlerischen nur dringlicher.²⁰ Schleiermacher analysiert deshalb das Werden der Kunst nach den wesentlichen Elementen, die bei jeder künstlerischen Produktion anzutreffen sind. Alle Kunsttätigkeit geht auf den ursprünglichen Trieb zurück, inneres Leben äußerlich darzustellen, damit es gemeinsamer Besitz sei. Der Unterschied von Künstlerischem und Kunstlosem liegt in Regel und Maß. Dies lässt sich am besten beim leiblichen Ausdruck von Freude und Schmerz studieren, den Naturanfängen von Tanz und Gesang, die zu Mimik und Musik ausgeweitet werden.²¹ Zwischen Impuls und Äußerung ist das Moment der Besinnung, in welchem die Art der Darstellung regelhaft konzipiert wird. Während im kunstlosen Zustand das Erregtsein und die äußerliche Darstellung miteinander unmittelbar verbunden sind, treten sie bei der Kunsttätigkeit auseinander. Die äußerliche Darstellung wird innerlich vorgebildet. Die Erregung gibt den Impuls, der durch die vorbildende Besinnung in eine geregelte Tätigkeit umgesetzt wird. Diese vorbildende Besinnung, die zwischen Erregung
Vgl. SW III/3 (s. Anm. 11), 210 – 211. SW III/3, 220. Schleiermacher, Ästhetik (s. Anm. 9), 16. Vgl. SW III/3, 188 – 191. Vgl. SW III/3, 192.
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und Äußerung eintritt, ist das Wesen jeder Kunst.²² Die vorbildende Tätigkeit kann sich entweder auf einzelne festliche Darstellungen hin sammeln, indem sie im alltäglichen Leben immer wieder zurücktritt und nur zur Festzeit gestaltend heraustritt; oder sie kann, wenn das menschliche Wesen bis ins Tiefste erregt worden ist, eine unendliche Aufgabe erhalten, die immerwährend zur Darstellung drängt, durch eine einzelne Darstellung aber nie erfüllt werden kann. Die drei Hauptmomente der künstlerischen Produktivität sind nach Schleiermacher die erzeugende Stimmung, die vorbildende Besinnung bzw. gestaltende Urbildung und die darstellende Äußerung bzw. Ausführung. Erregender Impuls und materiale Äußerung müssen als Momente auseinandertreten. Die darstellende Äußerung bezieht sich unmittelbar nur auf das Urbild, das durch Stimmungsimpuls und Besinnung hervorgerufen worden ist. Erzeugende Stimmung und gestaltende Urbildung lassen sich in der Erfindungsgabe zusammenfassen und machen die Genialität aus. Von der genialen Erfindungsgabe muss die Virtuosität der Darstellungsfertigkeit unterschieden werden.²³ Die Urbildung, deren Produkte wie die Kunstwerke von der wirklichen Welt distanziert sind, vollzieht sich im Bereich des freien Spiels. Aus den drei Elementen Impuls, Besinnung und Ausführung entwickelt Schleiermacher eine umfassende Phänomenologie der Kunst. Er kann so die unterschiedliche Teilnahme an der Kunst und die unterschiedlichen Grade der Produktivität erfassen. Die drei Elemente jeder Kunsttätigkeit können sehr verschieden kräftig sein. Ist die organische Fertigkeit der Darstellung nicht ausreichend entwickelt, so kann diese Unvollkommenheit die künstlerische Darstellung und den Kunstgenuss nachhaltig beeinträchtigen. Eine geringe Darstellungsfertigkeit lässt auch die Erfindungsgabe verkümmern, und es bleibt bei einer vergeblich ringenden Genialität.²⁴ Wenn dagegen die Erfindungsgabe dürftig ist dagegen die Erregbarkeit und die organische Fertigkeit groß, so kommt es zur Nachahmung. Und häufig kommt es zu einer Symbiose zwischen denen, die zwar Erregbarkeit und Erfindungsgabe, aber keine organischen Fertigkeiten besitzen (vgl. zum Beispiel Tonkünstler und Dichter) und denjenigen, die wohl Erregbarkeit und organische Fertigkeiten, aber keine Erfindungsgabe besitzen (vgl. zum Beispiel Virtuosen und Vorleser). Ist nur die Erregbarkeit vorhanden, nicht aber Erfindungsgabe und organische Fertigkeit, so haben wir den Typ des Kunstfreunds.²⁵ Ist ein Kunstleben in einem Volk etabliert, so gibt es auch den dritten Fall, dass die anfängliche Erregbarkeit nur mangelhaft ist, gleichwohl aber Erfindungsgabe oder organische Fertigkeiten ausgebildet sind. Die Kunst gibt nicht ein einzelnes bestimmtes Gefühl und nicht ein einzelnes bestimmtes Wollen, sondern sie gibt die Stimmung wieder, aber durch ein bestimmtes Medium.²⁶ Alle Künste sind „Ausdruck der Stimmung“²⁷, wobei die Stimmung aus
Vgl. SW III/3 (s. Anm. 11), 193. Vgl. Schleiermacher, Ästhetik (s. Anm. 9), 44; SW III/3, 194. Vgl. SW III/3, 195. Vgl. SW III/3, 196. Vgl. Schleiermacher, Ästhetik, 23 – 24.
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festgehaltenen und angehäuften Gefühlsmomenten und Affektionsmomenten entsteht. Zwar ist alle objektive Tätigkeit von der Stimmung des Subjekts mitgeprägt und mitverursacht, doch nur die Kunst ist diejenige freie Produktion, die von der Stimmung ausgeht. Die Kunst gibt in Tönen und Bewegungen, in Bildern und Gedanken „Sinnbilder der eigenthümlichen inneren Welt“²⁸. Die Schönheit der Kunst vereinigt die Vollkommenheit des sittlich guten Bildens und des intellektuell wahren Erkennens in sich, indem die Kunst einzelnes als Symbol des Absoluten erzeugt. Bei gleichem Inhalt unterscheidet sich die Kunst von der Wissenschaft durch ihre Produktivität, von der bildenden Tätigkeit durch ihre Zwecklosigkeit.
2.4 Die Einteilung der Kunst Schleiermachers Bestimmung der Kunstzweige folgt der psychologischen Grundunterscheidung von Selbstbewusstsein und Gegenstandsbewusstsein. Vom Gegenstandsbewusstsein gehen die bildenden Künste Malerei und Skulptur aus, indem sie in freier Phantasieproduktion und äußeren Medien die Vorstellungen gestalten und darstellen. Vom Selbstbewusstsein gehen Musik und Mimik aus, indem sie die Artikulationen des Gefühls wie Gebärde und Laut gestalterisch überformen. Die Dichtung vereint beide Pole, wobei sie stärker auf das Gegenstandsbewusstsein bezogen ist. Schleiermacher sucht in seinem System der Künste die beiden Grundpole zu vermitteln und die Gesamtheit der Künste als produktiven Ausdruck der Phantasie zu verstehen.²⁹ Alle künstlerische Selbstdarstellung vollzieht sich in der Bewegung, im Ton, in der Gestaltbildung oder in der Rede.³⁰ Jeder Kunstzweig kommt durch den allgemeinen einheitlichen Kunsttrieb und das besondere Organ zustande.³¹ Die Musik braucht die produktive innere Stimme und das rezeptive innere Ohr. Die Mimik braucht den leicht beweglichen Leib, die Malerei und die Bildnerei das Auge und die Phantasie, die Poesie den tongewordenen Gedanken in der Sprache.³² Die Phantasie entdeckt in der Natur Träger für künstlerische Ausdrucksgestaltung. Sie erzeugt so besondere Ausdruckssphären: Der Mimiker nutzt die Beweglichkeit des Leibes, der Musiker die Möglichkeit der Stimmbildung, der Bildhauer die Gestaltungsfähigkeit von Materialien im Raum, der Maler Farbe und Licht, der Dichter die Sprache.³³
Schleiermacher, Ästhetik (s. Anm. 9), 17. Schleiermacher, Ästhetik, 18. Vgl. SW III/7 (s. Anm. 10), 155. Vgl. SW III/3 (s. Anm. 11), 220. Vgl. Schleiermacher, Ästhetik, 53. Vgl. Schleiermacher, Ästhetik, 51– 52. Vgl. SW III/3, 212– 217.
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Die innere Einheit der Künste sieht Schleiermacher äußerlich dadurch dokumentiert, dass die Künste ihre Vollkommenheit nur in einem alle Künste vereinenden Festleben finden. So geschehen in den goldenen Zeitaltern der griechischen und der italienischen christlichen Kultur.
3 Für die interpretatorische Erschließung der Kunst für die Theologie möchte ich auf drei Sachverhalte hinweisen: auf die systematisch-funktionale Verwandtschaft, auf die Präsenz des Religiösen in der Kunst und auf die Indikation der Kunstentwicklung durch die religiösen Leitideen.
3.1 Verwandtschaft der Lebensakte Religion und Kunst gehören beide zum individuellen Symbolisieren. Das macht ihre Verwandtschaft aus. Das macht teilweise auch die Schwierigkeit aus, sie gegeneinander abzugrenzen. Ihren Ort im Haushalt menschlicher Lebensakte bestimmt Schleiermacher durch das für die Ethik charakteristische Viererschema von erkennender und organisierender Funktion einerseits sowie von allgemeiner identischer Natur und individueller eigentümlicher Person andererseits. Der ersten Gegensatzbildung liegt der Gegensatz von Idealität und Realität, von Sein und Bewusstsein, zugrunde. Im Erkennen wird das Reale in das Ideale, beim Organisieren das Ideale in das Reale gebildet. Geht es in diesem ersten Gegensatz also um das Weltverhältnis des Menschen, so bei der zweiten Gegensatzbildung um „das Verhältniß der Menschen untereinander“³⁴. Die identische Allgemeinheit der Natur tritt hier der individuellen Eigentümlichkeit der Person gegenüber. Die Elemente beider Gegensatzbildungen können nicht voneinander gesondert werden, sondern sie sind in jedem Lebensmoment beisammen. So wie Erkennen und Organisieren nur zusammen vorkommen, so gestaltet sich das Identische (die Natur) in jedem eigentümlich, und in jedem Eigentümlichen manifestiert sich das Identische. Kunst und Religion sind individuelles Symbolisieren, das heißt Symbolisieren der individuellen Vernunft. Das individuelle Symbolisieren ist Ausdruck der konkreten Zustände des zeitlichen Selbstbewusstseins.³⁵ Die Kunst geht vom Gefühl und von der Phantasie aus, die das Gefühl in die Anschauung übersetzt. Die Kunst entsteht aus dem Selbstinnewerden des Individuums, seiner Empfänglichkeit, die die Welt spiegelt, und aus der Tätigkeit der Phantasie, die die Ausdruckstätigkeit leitet. Kunst ist bei
Schleiermacher, Ästhetik (s. Anm. 9), 9. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Philosophische und vermischte Schriften, Bd. III/2, Sämmtliche Werke, Berlin: G. Reimer, 1838, 489 (= SW III/2).
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Dominanz der erkennenden Funktion also zugleich Erkenntnis im Gefühl und Darstellung des inneren Lebens.Während für das Wissen die identische Allgemeinheit des Erkennens charakteristisch ist, nimmt die Kunst, die individuelles eigentümliches Erkennen ist, die Interessen der Person und die Besonderheit des empirisch Gegebenen in besonderer Weise im Gefühl auf. Schleiermacher grenzt die Kunst von der Religion durch eine Analogiebildung ab. Die Religion verhalte sich zur Kunst wie das Wissen zur Sprache.³⁶ Anders formuliert: Das individuelle Symbolisieren der Kunst hat eine Nähe zur aktiven Weltgestaltung, das individuelle Symbolisieren der Religion eine Nähe zur Systemkonstruktion. Doch beide bedürfen einander, denn Kunst ohne Religion wird haltlos, Religion ohne Kunst gestaltlos. Schleiermacher thematisiert nicht die Verschiedenheit der sozialen Institutionen, die der Religion und der Kunst gewidmet sind. Das religiöse Symbolisieren hat in der Kirche eine gesellschaftlich anerkannte Institution. Das fehlt bei der Kunst, wenn nicht Kunstakademien und Vereine von Kunstliebhabern an diese Stelle gerückt werden. Doch zeigt sich zumindest ein geringerer Institutionalisierungsgrad der Kunst gegenüber der Religion.
3.2 Präsenz der Religion in der Kunst Die Kunst hat selbst eine religiöse Dimension, allerdings zunächst eine negative. Schleiermacher versteht nämlich die Kunst als Protest gegen die Vereinzelungstendenz des Wirklichen und sieht darin ihre unverzichtbare symbolische Würde. „Im Leben will uns überall das Einzelne als solches festhalten. Gegen diese Ansicht muß die Kunst polemisiren, weil ihr sonst die symbolische Würde des Einzelnen verloren geht. Daher das Bestreben, das Einzelne für sich in seiner Nichtigkeit darzustellen.“³⁷ Diese transzendierende Tendenz signalisiert die humane Unverzichtbarkeit und theologische Transparenz der Kunst. Die naturgestaltenden und erkennenden Tätigkeiten dokumentieren gerade die Bedürftigkeit des Menschen, dessen Würde auch in seinem Ausgang aus Hilflosigkeit und Unwissenheit nicht garantiert ist. Denn beide wesentlichen und unverzichtbaren Emanzipationsprozesse von Arbeit und Wissenschaft sind in eschatologischer Perspektive unzureichend, weil im Zustand der Vollendung beide als bloße Erneuerung bzw. als bloße Tradition gedacht werden müssen. Demgegenüber beweist das Spontane und Spielerische die Unerschöpflichkeit der Kunst. Die freie Produktivität der Kunst tritt damit der notwendigen Gesetzlichkeit von Wissen und Naturbeherrschung komplementär zur Seite.³⁸ Die Kunst ist also ein eschatologisches Desiderat.
Vgl. SW III/2 (s. Anm. 35), 490. Schleiermacher, Ästhetik (s. Anm. 9), 24. Vgl. Schleiermacher, Ästhetik, 26 – 27.
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Die religiöse Dimension der Kunst zeigt sich positiv in der Stilbildung. Hier ist ein Blick auf die Seite des wissenschaftlichen Denkens hilfreich. Denn das allgemeine Symbolisieren zielt hinsichtlich der Identität auf die Idee Gottes, hinsichtlich der Totalität des Besonderen auf die Idee der Welt. Dementsprechend hat das individuelle Symbolisieren einerseits eine religiöse Richtung auf das Eine, andererseits ein freies Spiel mit dem Einzeln-Besonderen.³⁹ So wie in der Dialektik Gottesidee und Weltidee spannungsvoll verschränkt bleiben, lassen sich auch in der Kunst die religiös-spekulative und die individuell-eigentümliche Seite nicht ganz voneinander trennen. Schleiermacher unterscheidet zwei Kunststile. Die religiöse oder heilige Kunst stellt er der geselligen oder spielerischen (erotischen) Kunst gegenüber. Diese beiden Stile lassen sich in allen Kunstzweigen entdecken.⁴⁰ Die spielerische Kunstrichtung reißt das Einzelne vom Allgemeinen los und offenbart so das rein Irdische, während die heilige Kunstrichtung das Göttliche im Menschlichen offenbart.⁴¹ In der spielerischen Auffassung beweist die Kunst ihre Freiheit, in der religiös-symbolischen ihre „innere Nothwendigkeit“⁴². Nach Schleiermacher gehört das Ernste und das Spielerische zusammen. Auf beiden Seiten würde die Einseitigkeit aus der Kunst herausführen. Die rein religiöse Kunst hat eine praktische Tendenz zum „Bewirkenwollen bestimmter Bewegungen“⁴³. Damit ist sie davon bedroht, philiströs zu werden, so wie die rein spielerische Kunst durch die Tendenz zur Üppigkeit gefährdet ist.⁴⁴ Dem reinen Spiel mit dem Einzelnen fehlt der Geist, der reinen religiösen Stimmung die Darstellung. „Das Bild von Gott kann auf keine Weise unmittelbar bezeichnet werden, sondern offenbart sich nur indirect an einzelnen Verhältnissen.“⁴⁵ Der geschnitzte Fetisch oder der gemalte GottVater sind zwar in ihrem Urbild aus einer religiösen Stimmung erzeugt worden, doch sie sind keine Darstellung Gottes, weil sie die religiöse Stimmung nicht übertragen. Vornehmlich die Zeichenhandlungen der Propheten sieht Schleiermacher als Beispiele für gelungene religiöse Kunstwerke an. Den religiösen Stil der Kunst leitet Schleiermacher ab aus der religiösen Stimmung, die sich in einem Festleben äußern will. Dabei wird die objektive Arbeitstätigkeit unterbrochen. Das Äußerlichwerden der religiösen Stimmung geschieht entweder durch Reflexion im Dogma oder durch Darstellung in der Kunst. Im religiösen Festleben des Kultus wirken beide in Spontaneität und Rezeptivität aufeinander ein. In der Reflexion, die über das Gefühl im Dogma nachdenkt, wird das Gefühl dem Denken angenähert. Demgegenüber ist die künstlerische Darstellung eine freie Produktion, die dem Denken gegenübersteht. Künstlerische Darstellung und dogmatische Reflexion sind für die
Vgl. Schleiermacher, Ästhetik (s. Anm. 9), 21. Vgl. Schleiermacher, Ästhetik, 22. Vgl. Schleiermacher, Ästhetik, 42. Schleiermacher, Ästhetik, 25. Schleiermacher, Ästhetik, 24. Vgl. Schleiermacher, Ästhetik, 25. Schleiermacher, Ästhetik, 21.
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Äußerung des Gefühls also relative Gegensätze. Dies zeigt sich auch bei ihrer jeweiligen Tendenz zu internen Verknüpfungen. „Wie das Dogma System werden will, so auch die Kunstdarstellung strebt, einen Cyclus zu bilden, er sei nun mythologisch oder symbolisch.“⁴⁶ Schleiermacher sieht die dogmatische Systembildung und die künstlerische Zyklusbildung in einem Verhältnis der Reziprozität. Je mehr die Systembildung zunimmt, desto mehr tritt die Zyklusbildung zurück (Scholastik) – und umgekehrt (Antike).
3.3 Kunstgeschichtliche Indikation Schleiermacher sieht die moderne Kunst typologisch als musikalisch-subjektiv, die antike Kunst als plastisch-objektiv an.⁴⁷ Diese Typisierung ergibt sich aus der unterschiedlichen Zuordnung von Gottes- und Weltidee. Für die moderne Kunst konstatiert Schleiermacher die Dominanz der Gottesidee; daraus ergibt sich, weil die Gottesbeziehung für jeden unmittelbar ist und somit jeder der Beziehungspunkt sein kann, eine Aufforderung, Ausdruck und Darstellung zu individualisieren. In der antiken Kunst dagegen hatte die Idee der Welt den Vorrang, wie sie im mythischen Zyklus ausgesprochen wurde. Dieser Zyklus galt für alle Künste, die deshalb in ihren Bearbeitungen leichter aneinander anschließen konnten. Die Weltidee, insofern Welt das Verschiedene ineinanderfügt und nur in diesem Ineinandersein ist, liefert dadurch gleich das Prinzip für die Kombination der Kunstzweige.⁴⁸ Die moderne Kunst betreibt demgegenüber eine stärkere Isolierung und Differenzierung der verschiedenen Kunstzweige. Antike und moderne Kunst mit ihren differenten Natur- und Freiheitsauffassungen unterscheiden sich auch in der Ausbildung der Gottesidee. Während die antike Kunst die Götter als bestimmte Einzelwesen nimmt, orientiert sich die moderne Kunst an einer heiligen Geschichte, in der die Einzelwesen völlig zurücktreten (selbst Christus ist nicht einmal völlig konkretisiert); hier sind die Einzelwesen allein Momente in der göttlichen Offenbarung.⁴⁹
3.4 Summa Die religiösen Bezüge der Kunst und die künstlerischen Bezüge der Religion belegen nicht nur die wechselseitige Beeinflussung der Entwicklung von Religion und Kunst, sondern Schleiermacher gelingt es, gerade durch ihre Verknüpfung beide als wesentliche Elemente einer Kultur begreiflich zu machen, die produktive Vielfalt fördern und integrieren will.
Schleiermacher, Ästhetik (s. Anm. 9), 23. Vgl. Schleiermacher, Ästhetik, 50. Vgl. Schleiermacher, Ästhetik, 49. Vgl. Schleiermacher, Ästhetik, 42– 43.
Schleiermachers Bibelhermeneutik Als Prediger, Exeget und Übersetzer war Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768 – 1834) seit seiner Studienzeit mit hermeneutischen und textkritischen Fragen konfrontiert.¹ Schleiermachers Bibelhermeneutik hat ihr eigentümliches Gepräge durch ihre Einbindung in die allgemeine Hermeneutik.² Durch die Verabschiedung der Lehre von der Verbalinspiration der biblischen Schriften und die Bejahung bibelkritischer Untersuchungen brachte Schleiermacher auch in der Bibelhermeneutik den Geist wissenschaftlicher Forschung zur Geltung.
1 Quellenlage Schleiermacher hat seine Bibelhermeneutik nicht monographisch dargestellt. Sollen seine mannigfaltigen Ausführungen zur Bibelhermeneutik gesammelt und gesichtet werden, so sind sehr verschiedene Materialien zu berücksichtigen. Seine Bibelhermeneutik ist mit seinen allgemeinen hermeneutischen Erörterungen und seinen exegetischen Untersuchungen vielfach verwoben.
Zitatnachweise und Belegverweise ohne Angabe des Autors beziehen sich auf Friedrich Schleiermacher. In Zitaten aus Schriften Schleiermachers oder anderer Autoren werden Hervorhebungen nicht eigens ausgewiesen. Schleiermachers allgemeine Hermeneutik wurde seit der Wertschätzung durch Wilhelm Dilthey ein häufig thematisierter Gegenstand philosophischer und philologischer Forschungen und Erörterungen. Gegen Hans-Georg Gadamer, der Schleiermacher als Einfühlungshermeneuten der individuellen Gedankenproduktion charakterisierte, hat die neuere Forschung betont, dass Schleiermacher gerade Autorenindividualität und allgemeine Sprache wechselseitig verknüpft. Während Schleiermachers Bibelhermeneutik allenfalls fachtheologische Beachtung findet, wird seine allgemeine Hermeneutik im Blick auf die Modernität seines Denkens stark diskutiert, vgl. beispielsweise Dieter Burdorf / Reinhold Schmücker, Hg., Dialogische Wissenschaft: Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, Paderborn: Schöningh, 1998. Zur Fülle der Forschungsliteratur vgl. Harald Schnur, Schleiermachers Hermeneutik und ihre Vorgeschichte im 18. Jahrhundert: Studien zur Bibelauslegung, zu Hamann, Herder und F. Schlegel, Stuttgart / Weimar: J.G. Metzler, 1994, 201– 245, sowie Terrence N. Tice, Schleiermacher Bibliography: With Brief Introductions, Annotations and Index, Princeton Theological Monographs 12, Princeton: University Press, 1966; Terrence N. Tice, Schleiermacher Bibliography: Corrections, New Information and Comments, Princeton: University Press, 1985; Terrence N. Tice, Schleiermacher Bibliography (1784 – 1984): Updating and Commentary, Princeton: University Press, 1985; Terrence N. Tice, „Schleiermacher Bibliography: Update 1987,“ New Athenaeum / Neues Athenaeum 1 (1989): 280 – 350; Terrence N. Tice, „Schleiermacher Bibliography: Update 1990,“ New Athenaeum / Neues Athenaeum 2 (1991): 131– 163; Terrence N. Tice, „Schleiermacher Bibliography: Update 1994,“ New Athenaeum / Neues Athenaeum 4 (1995): 139 – 194. https://doi.org/10.1515/9783110745498-007
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Schleiermachers Bibelhermeneutik
1.1 Vorlesungen über Hermeneutik Schleiermacher hat ab 1805 an den Universitäten Halle an der Saale und Berlin insgesamt neunmal Vorlesungen über Hermeneutik gehalten, achtmal in der Theologischen Fakultät, einmal (Sommer 1814) wechselnd in der Philosophischen und Theologischen Fakultät.³ Dieser auffällige Fakultätswechsel deutet schon äußerlich an, dass die Hermeneutik für Schleiermacher wissenschaftspraktisch eine Scharnierposition zwischen Philosophie und Theologie einnimmt. Weil Schleiermacher seine Pläne zu einer literarischen lehrbuchmäßigen Darstellung der Hermeneutik nicht verwirklicht hat, sind als Quellen die Kompendien wichtig, die er dreimal für seine Vorlesungen ausgearbeitet hat. Da ist zunächst das Kompendium seiner im Sommer 1805 gehaltenen zweistündigen Hallenser Vorlesung mit stärkeren exegetischen Bezügen, betitelt Hermeneutik. Erster Entwurf. ⁴ Da ist sodann das Kompendium Die allgemeine Hermeneutik,⁵ das Schleiermacher seiner primär philosophisch ausgerichteten Berliner Privatvorlesung „Die allgemeinen Grundsätze der Auslegungskunst“ im Winter 1809/10 zugrunde gelegt hat. Da ist schließlich das Kompendium Hermeneutik ⁶ der vierstündigen Berliner Universitätsvorlesung „Die Hermeneutik, sowohl im Allgemeinen als die des N[euen] T[estaments]“, vorgetragen im Sommer 1819 in der Theologischen Fakultät. Schleiermacher wiederholte diese Vorlesung vierstündig im Sommer 1822, dann jeweils fünfstündig (in einer Kombi-
Vgl. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen, Schleiermacher-Archiv 11, Berlin: De Gruyter, 1992, 293 – 330. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Hermeneutik, hg.v. Heinz Kimmerle, Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse 2, Heidelberg: Winter, 2 1974, 53 – 70 (= HK). Kimmerle hat kritisch alle Manuskripte Schleiermachers zur Hermeneutik ediert; dabei sind allerdings einige Datierungen und Zuordnungen falsch. Zum ersten Kompendium von 1805 gehört auch der von Kimmerle auf 1826/27 datierte Text „Zweiter Theil“ (113 – 120). Zur Identifizierung und Datierung der Texte vgl. Wolfgang Virmond, „Neue Textgrundlagen zu Schleiermachers früher Hermeneutik,“ in Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg.v. Kurt-Victor Selge, Schleiermacher-Archiv 1, Berlin: De Gruyter, 1985, 575 – 590. Wolfgang Virmond, Hg., „Friedrich Schleiermachers ‚Allgemeine Hermeneutik‘ von 1809/10,“ in Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg.v. Kurt-Victor Selge, Schleiermacher-Archiv 1, Berlin: De Gruyter, 1985, 1269 – 1310 (= HV). Dieser Text ist in drei Teile gegliedert. Die „Einleitung“ (= E) gibt die Grundlegung der Hermeneutik. Im ersten Hauptteil untersucht Schleiermacher die „grammatische Seite der Interpretation“ (1276) in 97 Leitsätzen, im zweiten Teil dann die „technische Seite der Interpretation“ (1296) in 50 Leitsätzen. HV, 75 – 105. In der von Schleiermachers Schülern veranstalteten Ausgabe Sämmtliche Werke hat Friedrich Lücke in Band I/7 Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament (Berlin: G. Reimer, 1838) Schleiermachers Manuskripte und die Vorlesungsnachschriften zu einem Text zusammengearbeitet (= SW I/7). Der Hermeneutik-Text (5 – 262, grammatische Auslegung 41– 142, und psychologische Auslegung 143 – 262) basiert hauptsächlich auf dem Vorlesungskompendium von 1819, das mit späteren Nachschriften aufgefüllt ist. Es folgt die Kritik-Vorlesung (263 – 389) mit Kritik der mechanischen Fehler (284– 322) und der frei entstandenen Fehler (323 – 389).
1 Quellenlage
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nation von Hermeneutik und Kritik) im Winter 1826/27, im Winter 1828/29 und im Winter 1832/33 (hiervon sind Randbemerkungen erhalten). Außer in Universitätsvorlesungen äußerte sich Schleiermacher zur Hermeneutik auch noch in Akademievorträgen. Im August und Oktober 1829 trug Schleiermacher in Plenarsitzungen der Berliner Akademie der Wissenschaften die zweiteilige Abhandlung Ueber den Begriff der Hermeneutik, mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch, im März 1830 die Abhandlung Ueber Begriff und Eintheilung der philologischen Kritik vor.⁷
1.2 Exegetische Abhandlungen und Vorlesungen Für Schleiermachers Bibelhermeneutik sind ferner seine exegetischen Abhandlungen und seine exegetischen Vorlesungen zu berücksichtigen. Schleiermacher hat sich in seiner Prediger- und Professorentätigkeit vorzüglich als Bibelexeget verstanden. Die weitaus meisten seiner über 1300 erhaltenen Predigten,von denen bisher 583 gedruckt sind⁸ und etwa 750 noch der Publikation harren⁹, waren der Auslegung von Bibelworten gewidmet. Von seinen theologischen Vorlesungen hatte etwa die Hälfte exegetische Themen. Bereits in Halle hatte er ab Winter 1805/06 regelmäßig exegetische Vorlesungen geplant. In seiner Berliner Professur hielt Schleiermacher in den meisten Semestern eine exegetische Hauptvorlesung, in der Regel fünfstündig. Für diese exegetischen Vorlesungen gibt es umfangreiches Quellenmaterial, das bisher weitgehend unveröffentlicht ist. Im Nachlass befinden sich allein etwa 2000 Manuskriptseiten mit den Vorbereitungen und Ausarbeitungen für die exegetischen Vorlesungen. Zu diesen Vorlesungen sind außerdem zahlreiche Nachschriften erhalten. In seiner Untersuchung Ueber die Schriften des Lukas, deren 1817 erschienener erster (und einziger) Teil kritisch das Lukas-Evangelium behandelt, vertrat Schleiermacher eine Diegesenhypothese für die synoptischen Evangelien: das Lukas-Evangelium sei aus überlieferten Einzelberichten zusammengestellt.¹⁰ Diese Diegesenhy-
Vgl. Friedrich Schleiermacher, „Ueber den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F.A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch,“ in Reden und Abhandlungen der Königl. Akademie der Wissenschaften, Bd. III/3, Sämmtliche Werke, hg.v. Ludwig Jonas, Berlin: G. Reimer, 1835, 344– 386; Friedrich Schleiermacher, „Ueber Begriff und Eintheilung der philologischen Kritik,“ in Reden und Abhandlungen der Königl. Akademie der Wissenschaften, Bd. III/3, Sämmtliche Werke, hg.v. Ludwig Jonas, Berlin: G. Reimer, 1835, 387– 402. Vgl. Wichmann von Meding, Bibliographie der Schriften Schleiermachers nebst einer Zusammenstellung und Datierung seiner gedruckten Predigten, Schleiermacher-Archiv 9, Berlin: De Gruyter, 1992, 229 – 330. Die Predigten Schleiermachers sind als dritte Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe erschienen (14 Textbände und ein Registerband, Berlin / Boston: De Gruyter, 2011– 2018). Vgl. Schleiermachers Zusammenfassung: Lukas „ist von Anfang bis zu Ende nur Sammler und Ordner schon vorhandener Schriften, die er unverändert durch seine Hand gehen läßt.“ (Friedrich
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Schleiermachers Bibelhermeneutik
pothese wiederholte er in seinem 1832 veröffentlichten Zeitschriftenaufsatz Ueber die Zeugnisse des Papias von unsern beiden ersten Evangelien: dem Matthäus-Evangelium liege eine Sammlung von Jesus-Reden des Apostels Matthäus und dem MarkusEvangelium eine Sammlung von Jesus-Geschichten des Dolmetschers Markus zugrunde.¹¹ Durch diese Diegesenhypothese lasse sich die literarische Eigenart der vier Evangelien gut beschreiben und erklären.¹²
1.3 Theologisch-dogmatische Erörterungen Für die Bibelhermeneutik sind schließlich auch seine theologische Enzyklopädie Kurze Darstellung des theologischen Studiums (1811,21830) und seine Dogmatik Der christliche Glaube (2 Bände, 1821/22, 21830/31) wichtig, weil hier jeweils das Anliegen und die Ergebnisse der Bibelhermeneutik aufgenommen und für den Aufbau der wissenschaftlichen Theologie und des christlichen Lehrbegriffs ausgewertet werden.¹³ Dass Schleiermacher eine Sonderhermeneutik der biblischen Schriften ablehnt, führt zu einer neuen Bestimmung der enzyklopädischen Bedeutung der historischen Theologie und zu tiefgreifenden Veränderungen der Schriftlehre im Aufbau der Dogmatik.
2 Schleiermachers Programm der Hermeneutik Nach Schleiermacher wurde eine Theorie der Auslegungskunst zunächst von den Personengruppen ausgebildet, die damit einen lebenspraktischen Nebenzweck verfolgten, nämlich bei Theologen und Juristen.¹⁴ Die für die Auslegung der normativen religiösen und rechtlichen Texte aufgestellten Regeln waren nicht primär wissen-
Schleiermacher, Ueber die Schriften des Lukas: Ein kritischer Versuch. Erster Theil, Bd. I/2, Sämmtliche Werke, Berlin: G. Reimer, 1836, 1– 220, 219). Vgl. Friedrich Schleiermacher, „Ueber die Zeugnisse des Papias von unsern beiden ersten Evangelien,“ in Bd. I/2, Sämmtliche Werke, Berlin: G. Reimer, 1836, 361– 392, 391. Vgl. Schleiermachers Evangelienbeurteilung: „Denn auf der einen Seite giebt uns die Schrift des Johannes das wichtigste aus den zusammenhängenden Erinnerungen eines solchen der in dem engsten persönlichen Verhältniß zu Christo stand, auf der andern die des Lukas die Resultate einer prüfenden Forschung nach dem zuverlässigsten von dem was über Christum in dem Gesammtgedächtniß, daß ich so sage, der apostolischen Kirche niedergelegt war; und in der Mitte zwischen diesen beiden stehen dann die beiden Evangelien, deren Kern aus gesammelten einzelnen apostolischen Erinnerungen besteht, die aber erst durch Ergänzung aus dem Gesammtgebiet der Ueberlieferung zu einem ganzen werden konnten.“ (Schleiermacher, Ueber die Zeugnisse des Papias, 392). Zum Überblick vgl. Hermann Fischer, „Schleiermacher,“ Theologische Realenzyklopädie 30 (1999): 143 – 189. Vgl. HV (s. Anm. 5), E 8.
2 Schleiermachers Programm der Hermeneutik
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schaftlich ausgerichtet, sondern verquickten allgemeine und besondere Gesichtspunkte miteinander. Diese Gemengelage aufzulösen, ist Schleiermachers Anliegen.
2.1 Stellung der Hermeneutik im Wissenschaftssystem Die wissenschaftliche Ausbildung der Hermeneutik nimmt Schleiermacher nicht isoliert vor, sondern er bedenkt auch die mannigfaltigen Beziehungen zu anderen Wissenschaftsdisziplinen. Hermeneutik als Kunst, die Sprachäußerungen (besonders die schriftlich fixierten Sprachäußerungen) eines anderen Menschen zu verstehen, ist aufs engste mit philologischer Kritik (Echtheitsbeurteilung der Sprachäußerungen) und Grammatik (Kenntnis der Sprachgesetze) verwoben.¹⁵ Außerdem müssen für das geschichtliche Gesamtleben die Ethik, für die Naturseite des Sprachgeschehens die Physik und für die Einheit des Wissens die Dialektik berücksichtigt werden.¹⁶ In Schleiermachers Wissenschaftssystem treten die auf Natur und Vernunft gerichteten beiden realen Grundwissenschaften unter den modalen Gegensatz von Urbild und Abbild, von Spekulation und Empirie, so dass die vier realen Grundwissenschaften die spekulative Physik, die empirische Naturkunde, die spekulative Ethik und die empirische Geschichtskunde sind. Die formalen Grundwissenschaften sind Dialektik und Mathematik. Ethik und Geschichtskunde haben beide die im Prozess der Geschichte sich realisierende Vernunft zum Gegenstand. Beide sind durch das kritische und das technische Verfahren aufeinander bezogen und bringen Spekulation und Empirie so zusammen, dass die Geschichtskunde die Sittenlehre illustriert und die Sittenlehre die Geschichtskunde strukturiert. Das kritische Verfahren untersucht die Beziehungen von Wesen und Erscheinung, das technische Verfahren stellt die Regeln auf, wie unter den verschiedenen natürlichen Bedingungen die Produktion von bestimmten Erscheinungen vonstatten gehen könne. Zu den kritischen Disziplinen gehören Psychologie, Religionsphilosophie und Ästhetik, zu den technischen Disziplinen Hermeneutik, Pädagogik und Politik.¹⁷ Systematische Ortsbestimmung und wissenschaftspraktische Bedeutung der Hermeneutik sind bei Schleiermacher nicht ganz kongruent. Die Hermeneutik ist einerseits eine der Ethik nachgeordnete technische Disziplin, die zusammen mit philologischer Kritik und Grammatik die sprachliche Kommunikation durch Ausbildung eines Regelwerks befördern soll. Die Hermeneutik hat andererseits dadurch fundamentale Bedeutung, dass das Wissen nur individuell und in besonderen Sprachen auftritt. Die Hermeneutik hat die Aufgabe, dieses individuell konkrete Wissen so zu
Vgl. SW I/7 (s. Anm. 6), 3. Vgl. SW I/7, 11. Zum Zuordnungsproblem von Hermeneutik, Dialektik und Ethik vgl. Andreas Arndt, „Dialektik und Hermeneutik,“ Synthesis philosophica 12 (1997): 39 – 63. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre, auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun, hg.v. Hans-Joachim Birkner, Philosophische Bibliothek 335, Hamburg: Meiner, 21990, 183 – 225.
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Schleiermachers Bibelhermeneutik
erschließen, dass dessen Relativität tendenziell aufgehoben wird. Die Hermeneutik soll methodisch die individuelle Denk- und Redeweise im kritischen Verfahren nachkonstruieren und auf das in ihr artikulierte Denken hin durchsichtig machen.¹⁸ Die Untersuchungsrichtung von Dialektik und Hermeneutik ist gegenläufig: Die Dialektik erörtert spekulativ den Übergang der allgemeinen Vernunft in die individuelle sprachliche Mitteilung, die Hermeneutik umgekehrt den Rückgang der individuellen sprachlichen Mitteilung in die allgemeine Vernunft.¹⁹ Insofern der Erkenntnisprozess sich im Gedankenwechsel vollzieht und insofern an Mitteilung und Verstehen gebunden ist, ist auch die Hermeneutik für die Dialektik notwendig. Beide stehen in vollkommener Wechselwirkung. Die ethische Verwurzelung der Hermeneutik zeigt sich in der Aufgabe, die sprachlichen Mitteilungen anderer zu verstehen um des Wissens und der Wissensgemeinschaft willen. Die Hermeneutik dient der sittlichen Kommunikationsgemeinschaft. Die Erkenntnisgemeinschaft gehört zum höchsten Gut, die Kommunikation zum ethischen Prozess. Die Hermeneutik ist in Theorie und Praxis an der Realisierung des höchsten Gutes beteiligt.
2.2 Konzeption der Hermeneutik Schleiermacher begreift die Hermeneutik in einer alle fachbezogenen Aufgabenstellungen aufhebenden und überwindenden Weite. Er löst die Hermeneutik aus ihrer Bindung an Theologie, klassische Philologie und Jurisprudenz, überschreitet den Bezug auf vorgegebene Texte, deren sanktionierte Verbindlichkeit das Auslegungsgeschäft in Gang setzte und prägte. Schleiermacher konzipiert die Hermeneutik als allgemeine Verstehenslehre. Er bezieht sie auf die elementare Leistung, die bei aller menschlichen Mitteilung erbracht werden muss, wenn sprachlich artikulierte Gedanken teilweise verstanden und teilweise nicht verstanden werden. Schleiermacher begreift die Hermeneutik als „die Kunst, sich in den Besitz aller Bedingungen des Verstehens zu setzen.“²⁰ Missverstehen sei durch unbestimmte oder zweideutige Mitteilungen veranlasst; es entstehe durch Übereilung oder Befangenheit; es stelle sich absichtslos ein, auch ohne Täuschungsaktionen. Verstehen muss nach Schleiermacher gewollt werden und darf nicht auf die Beseitigung von Missverständnissen begrenzt werden. Schleiermacher geht über die negative Formel, wie Missverstehen zu vermeiden bzw. zu beheben sei, hinaus zu einer positiven Formel, wie Verstehen zu erreichen sei, und fasst diese in die hermeneutische Maxime: „Man hat nur verstanden, was man in allen seinen Beziehungen und in
Vgl. Friedrich Schleiermacher, Dialektik, Bd. III/4,2, Sämmtliche Werke, hg.v. Ludwig Jonas, Berlin: G. Reimer, 1839, 231– 232 (§§ 276 – 277) (= SW III/4,2). Vgl. SW III/4,2, 259 – 261 (§ 303). HV (s. Anm. 5), E 3.
3 Die Prägung der Bibelhermeneutik durch die allgemeine Hermeneutik
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seinem Zusammenhange nachconstruirt hat.“²¹ Die hermeneutischen Methoden richten sich nach dem platonischen Grundgedanken, dass alles Seiende sowohl freie Kraftentfaltung als auch Element gegenseitiger Bestimmung ist. Schleiermacher wendet sich gegen einen hermeneutischen Isolationismus. Eine zu verstehende Rede solle nicht allein durch sich selbst verstanden, sondern jeweils in einen größeren Zusammenhang gestellt werden. Deshalb verpflichte die Hermeneutik den Interpreten dazu, das Individuelle in einen immer größeren Horizont einzuzeichnen. Da allerdings dieser Horizont selbst sprachlich ist, müsse auch dieser durch hermeneutische Kunst erschlossen werden.²² Gerade das Verstehen des Individuellen erfordere die „größte historische Construction, […] damit daraus nicht eine nur uns selbst und unsere wissenschaftlichen Bestrebungen verkleinernde Kleinlichkeit entstehe“²³. Im Verstehensprozess ist nach Schleiermacher nicht nur das Ganze vom Einzelnen, sondern auch das Einzelne vom Ganzen abhängig: Ganzes und Einzelnes werden jeweils durch wachsende Kenntnis des anderen besser verstanden.²⁴ Ganzes und Einzelnes erläutern und korrigieren sich wechselseitig. Provisorisch muss bei jedem Verstehensakt auf das Ganze vorgegriffen werden, um das Einzelne zu erfassen; das Verstehen des Einzelnen präzisiert und korrigiert dann wieder das Verstehen des Ganzen. Dieses gilt für das Verhältnis von Wörtern zum Satz, von Sätzen zur Rede und von Rede (Text) zur Sprache bzw. zur Geschichtsepoche.²⁵ Der Verstehensprozess ist wie der Geschichtsprozess unabschließbar. Schleiermacher bestimmt als hermeneutisches Ziel, „die Rede zuerst eben so gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber“²⁶. Zunächst also muss der Interpret sich dem Autor gleichzustellen versuchen, um dann über diese Nähe hinausgehend der Rede neue Beziehungen im gesamten Sprachkomplex und im gesamten Gedankenkomplex zu erschließen.
3 Die Prägung der Bibelhermeneutik durch die allgemeine Hermeneutik Schleiermacher versteht die Bibelhermeneutik als eine spezielle Anwendung und Modifikation der allgemeinen Regeln der Hermeneutik im Sinne einer Verfahrensab-
HV (s. Anm. 5), E 12, Erläuterungen. Vgl. SW I/7 (s. Anm. 6), 145 – 146; HK (s. Anm. 4), 104– 105. Schleiermacher, Ueber den Begriff der Hermeneutik (s. Anm. 7), 379; HK, 151. Vgl. HV, E 27– 30. Vgl. HK, 84. 147. SW I/7, 32; HK, 83. Zur Formel vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Bd. 3, Werke: Akademie-Textausgabe, Berlin: De Gruyter, 1968, 246,17– 23, und Friedrich Schlegel, „Fragmente (Nr. 401),“ in Charakteristiken und Kritiken I (1796 – 1801), Bd. 2, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg.v. Hans Eichner, Paderborn: Schöningh, 1967, 241.
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Schleiermachers Bibelhermeneutik
kürzung.²⁷ Religiöses Interesse und philologischer Geist müssen vereint sein. Die andauernde Beschäftigung mit den neutestamentlichen Schriften sei immer durch ein christliches oder antichristliches Interesse motiviert, denn für eine interesselose Beschäftigung sei die philologische und historische Ausbeute zu gering.²⁸ Wissenschaftlicher Ausgangspunkt müsse das philologische Verstehensmoment und nicht das theologische sein. Allerdings müsse in der speziellen Methodenlehre der neutestamentlichen Hermeneutik das theologische Moment beachtet und eingebunden werden. Der von Christus ausgehende einheitsstiftende Lebensimpuls sei der hermeneutische Grundpunkt zum Verständnis des Neuen Testaments. Die Analogie des Glaubens sei die berechtigte Prämisse jeder Auslegung.²⁹
3.1 Verfahrensregeln Schleiermacher strukturiert die Hermeneutik durch eine viergliedrige Methodenformel, wie gegebene Reden bzw. Texte rekonstruiert werden müssen, nämlich durch grammatische und psychologische, komparative und divinatorische Interpretation. Da jede Sprachäußerung zugleich Produkt eines Autors und Bestandteil eines Sprachsystems ist, untersucht die grammatische (objektive) Interpretation die Rede im Sprachzusammenhang, während die psychologische (subjektive) Interpretation auf den Zusammenhang der individuellen Gedankenerzeugung blickt. Das komparative Verfahren klärt Dunkelheit durch bereits Verstandenes auf; es erfordert historisch-philologische Einzeluntersuchungen. Das divinatorische Verfahren erhellt intuitiv Sinn und Zusammenhang; es basiert auf der autonomen Produktivität des Interpreten. Dazu setzt Schleiermacher mit Leibniz voraus, dass jeder Mensch die Eigentümlichkeit des anderen zumindest minimal in sich selbst trage.³⁰ Die vier Grundverfahren begegnen allerdings zumeist in Zweierkombinationen. Die grammatische Methode ist überwiegend komparativ, die psychologische Auslegung vorwiegend divinatorisch. Doch sollen alle vier Verfahren in jeder Auslegung berücksichtigt werden. Jedes konkrete Sprachgebilde ist nach Schleiermacher in doppelter Weise Teil eines Ganzen, nämlich erstens objektiv durch seinen Bezug auf das Gesamte der Sprache und sodann subjektiv durch den Bezug auf das Gesamte der Gedanken des Sprechenden. Im Verstehen müssen das grammatische und das psychologische Moment verwoben sein. Beide Seiten sind unendlich und lassen sich nicht durch die
Vgl. HK (s. Anm. 4), 89. Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Zweite umgearbeitete Ausgabe (1830), Bd. I/6, Kritische Gesamtausgabe. 1. Abteilung: Schriften und Entwürfe, hg.v. Dirk Schmid, Berlin: De Gruyter, 1998, 317– 446, 379 (§ 174) (= KD2). Vgl. SW I/7 (s. Anm. 6), 81– 82; HK, 98 – 99. Vgl. SW I/7, 147; HK, 105.
3 Die Prägung der Bibelhermeneutik durch die allgemeine Hermeneutik
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Anwendung allgemeiner Regeln auf die konkreten Sachlagen erschöpfen. Deshalb ist Verstehen eine Kunst, die auf dem grammatischen und dem psychologischen Talent beruht. Nach Schleiermacher muss jede Auslegung mit einer allgemeinen Übersicht des auszulegenden Werks beginnen, wobei dessen Einheit und die Hauptzüge seiner Komposition aufgefasst werden.³¹ Die Einheit des Werks und dessen Komposition werden auf der grammatischen Seite durch die Feststellung des Sprachgebiets und der Verknüpfungsarten erhoben. Auf der psychologischen Seite wird die Werkeinheit in dem den Autor motivierenden Prinzip gefunden und die Komposition als Ausdruck dieser eigentümlichen Motivation angesehen. Die eigentümliche Auffassung und Darstellung des Gegenstandes durch den Autor spiegelt sich in der Anordnung und Behandlung des Themas ab. Die Aufgaben der wissenschaftlichen Behandlung der neutestamentlichen Schriften ergeben sich für Schleiermacher aus dem zeitlichen Abstand zwischen den ursprünglichen und den gegenwärtigen Lesern: Da die Verfasser von der Absicht geleitet gewesen sein mussten, ihren ursprünglichen Lesern vollkommen verständlich zu sein, müssen spätere Leser sich den ursprünglichen Lesern gleich zu stellen suchen, um die Texte zu verstehen.³² Dies gilt sprachlich und gedanklich. Die Spezialhermeneutik der neutestamentlichen Schriften gründet Schleiermacher nicht in einer außerordentlichen psychologischen Autorensituation (Verfasser als Werkzeuge des heiligen Geistes), sondern in ihrem „hebraisierenden Sprachcharakter“³³. Die im Neuen Testament begegnende Sprachmischung des auf das Hebräische aufgepfropften Griechischen mache ein besonderes hermeneutisches Regelwerk erforderlich. Die grammatische Auslegung stehe also im Zentrum der Bibelhermeneutik, während die psychologische Auslegung stärker den allgemeinen hermeneutischen Regeln folge. Die hermeneutische Operation führe allerdings zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen, je nachdem, ob das Neue Testament als Ganzes oder nach seinen Einzelschriften untersucht wird.
3.2 Grammatische Interpretation Für die grammatische Auslegung stellt Schleiermacher erstens die Regel auf, dass die nähere interpretatorische Bestimmung einer gegebenen Rede oder ihrer Teile allein aus dem Sprachgebiet erfolgen darf, das dem Verfasser und seinem ursprünglichen Leserkreis gemeinsam ist.³⁴ Die zweite Regel fordert, den Sinn eines Wortes an einer bestimmten Stelle ganz nach seinem Umfeld zu bestimmen.³⁵ Vgl. SW I/7 (s. Anm. 6), 143; HK (s. Anm. 4), 103. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Einleitung ins Neue Testament, Bd. I/8, Sämmtliche Werke, hg.v. Georg Wolde, Berlin: G. Reimer, 1845, 7 (= SW I/8). SW I/7, 27. Vgl. SW I/7, 41; HK, 86.
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Für das Verständnis der neutestamentlichen Schriften will Schleiermacher die Art der Vermischung des Griechischen und Hebräischen genau beachtet wissen: Die Sprachmischung des Griechischen und Hebräischen war schon vor der Abfassung des Neuen Testaments wirksam. Für die Auslegung ist die Kenntnis beider Sprachen notwendig und unverzichtbar, weil die neutestamentliche Sprache von den Schriftstellern nicht schulmäßig gelernt wurde und deshalb Elemente aus der Muttersprache unvermeidlich eingewoben sind. Die Kenntnis des gesamten neutestamentlichen Sprachschatzes ist deshalb besonders wichtig, weil aus Beobachtungen nur zu einzelnen Stellen sich in durchaus willkürlicher Weise immer unterschiedliche, ja entgegengesetzte Sprachverknüpfungen und Analogien auftun lassen. Schleiermacher will den neutestamentlichen Sprachschatz gewinnen von der klassischen Gräzität ausgehend im Durchgang durch die hellenistische Gräzität, durch die Septuaginta, die die stärkste Annäherung zum Hebräischen hat, durch Josephus und Philo sowie die deuterokanonischen Schriften.³⁶ Schleiermacher bemängelt an der Organisation des akademischen Studiums, dass üblicherweise ohne Zwischenschritt von der an der klassischen Philologie ausgerichteten Gymnasialbildung zur kunstmäßigen Exegese des Neuen Testaments übergegangen wird. Abhilfe sieht er hier nicht in einer anderen Schulbildung der künftigen Theologen, sondern nur in einer stärkeren Einführung in die neutestamentliche Grammatik und biblische Archäologie. Die neutestamentlichen Schriften sind nach Schleiermacher nicht übersetzt, sondern griechisch verfasst und auch griechisch gedacht worden, gehören also in die Sprachwelt des Griechischen. Sie seien in einer Periode des Sprachverfalls entstanden und entnähmen ihre Sprache vorwiegend aus dem Alltagsleben. Der Reichtum der griechischen Sprache sei nur in geringem Grade und zudem unterschiedlich stark aufgenommen worden. Die stärksten Bezüge fänden sich auf die Septuaginta und die gewöhnliche Umgangssprache. Der Einfluss des Hebräischen, der auf die Gesamtheit der neutestamentlichen Sprache geblickt eher untergeordnet sei, lasse sich hauptsächlich bei den religiösen Fachwörtern feststellen. Denn die griechischen Fachwörter für religiöse Aussagen seien durch den polytheistischen Kontext unbrauchbar gewesen. Die Frage nach der sprachbildenden Kraft des Christentums hält Schleiermacher nach dem ihm vorliegenden Stand der lexikalischen Hilfsmittel für nicht sicher entscheidbar.
3.3 Psychologische Interpretation Die technisch-psychologische Aufgabe der Auslegung sieht Schleiermacher darin, zu ermitteln, wie die thematische Einheit des Textes „als das den Schreiber bewegende
Vgl. SW I/7 (s. Anm. 6), 69; HK (s. Anm. 4), 91. Vgl. SW I/7, 34; HK, 85.
3 Die Prägung der Bibelhermeneutik durch die allgemeine Hermeneutik
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Princip, und die Grundzüge der Composition als seine in jener Bewegung sich offenbarende eigenthümliche Natur“³⁷ zu verstehen sei. Während die grammatische Auslegung den einzelnen Schriftsteller oder Redner als konkreten Ort der Sprache nimmt, tritt auf der psychologischen Seite der bewusste Sprechakt des Redenden und Schreibenden in den Vordergrund und wird das Entstehen der Komposition aus der Anwendung der Ordnungsgesetze des Denkens auf den lebendigen keimhaften Grundgedanken und aus der mehr unwillkürlichen Wirksamkeit von Nebengedanken nachgewiesen. Als nur in Annäherung zu erreichendes Ziel der Auslegung bestimmt Schleiermacher, den Stil eines Autors, wie er sich in der Sprachbehandlung und im Aufnehmen und Ausschließen von Vorstellungen zeigt, ganz zu verstehen. Am Anfang der psychologischen Interpretation müsse die Kenntnis stehen, wie Gegenstand und Sprache dem Autor gegeben waren und welche Individualität der Autor ausgebildet hat. Die Bearbeitung der Auslegungsaufgabe könne nur durch die Kombination der divinatorischen und der komparativen Methode gelingen. Die divinatorische Methode springe gleichsam in den Individualitätspunkt des Autors, die komparative Methode erschließe die Eigentümlichkeit vom Allgemeinen her. Die psychologische Interpretation der neutestamentlichen Schriften ist dadurch sehr erschwert, dass nur geringe Kenntnisse über die Autoren und ihr Verhältnis zu ihren Lesern überliefert sind. Die Sachlage ist bei den einzelnen Schriften sehr unterschiedlich. Zudem sind bei den historischen und den didaktischen Schriften die Gattungsmerkmale zu beachten. Bei den historischen Schriften hat für Schleiermacher die höchst komplizierte Frage Vorrang, wie die Evangelisten in ihrem Verhältnis zu ihrem Werk zu beurteilen sind, nämlich als Sammler oder als Schriftsteller.³⁸ Die Antwort auf diese Alternative hat starke Konsequenzen für die materialen Beobachtungen, dass bei zwei Evangelien die Kindheits- und Jugendgeschichte Jesu fehlt (absichtlich oder durch mangelnde Kenntnis) und dass die öffentliche Wirksamkeit Jesu und seine Leidensgeschichte unterschiedlich geschildert werden. Im Sinne einer Biographie sieht Schleiermacher den Bericht über Jesus als Stifter der christlichen Kirche nur bei Johannes gefasst, während die synoptischen Evangelien „nur ein Aggregat von Einzelheiten“³⁹ bieten. Die Beurteilung der Evangelien erweist sich dadurch als höchst schwierig, dass die hermeneutische Aufgabe und die historische Kritik unlösbar verwoben sind und nur wechselweise gelöst werden können. Je nachdem, ob die historische Kritik die eine oder die andere Hypothese zum Ursprung des synoptischen Verhältnisses wahrscheinlich macht, wird die hermeneutische Lösung auch verschieden ausfallen. Von besonderer Bedeutung ist für Schleiermacher die Frage, ob die Evangelisten selber Augenzeugen gewesen sind oder ob und wie sie vorliegende Quellen benutzt
HK (s. Anm. 4), 103. Vgl. SW I/7 (s. Anm. 6), 170. SW I/7, 174.
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haben.⁴⁰ Aus der Beschaffenheit der Einzeltexte lasse sich schwer ermitteln, ob Augenzeugenschaft vorliege oder nicht. Schleiermacher erklärt die teilweise gravierenden Unterschiede zwischen den Synoptikern und Johannes damit, dass die synoptischen Evangelien die mündliche Überlieferung der Apostel zur Quelle hätten, während Johannes als Augenzeuge aus einem bestimmten Gesichtspunkt die Ereignisse berichte und gleich für die schriftliche Publikation gearbeitet habe. Zudem seien die Jünger in unterschiedlichem Grade noch von ihrer vorchristlichen Biographie beeinflusst. Bei den didaktischen Schriften sieht Schleiermacher wegen deren epistolarischer Form, die sowohl stärker assoziative als auch strenger durchkomponierte Ausführungen erlaube, die hermeneutische Aufgabe durchaus anders gestellt. Die Briefform beschränke insgesamt den Umfang und die Art des Didaktischen. Je mehr ein Schriftsteller auf den mit seinen Lesern gemeinsamen Vorstellungskreis eingehe, desto mehr habe er Gelegenheit zu Nebengedanken und Anspielungen. Für die neutestamentlichen Schriften bedeute das, dass die Lehrschriften durch den doppelten Charakter entweder als virtuelles Gespräch oder als strukturierte Gedankenmitteilung aufgefasst werden können. Innerhalb dieser Alternative müsse die Exegese den konkreten Ort einer vorliegenden Schrift bestimmen. Auch wenn bei den neutestamentlichen Briefen insgesamt das didaktische Moment vorrangig sei, so stünden sie durch ihre Form in einer näheren Beziehung zum Rhetorischen. Hermeneutisch gelte die Aufgabe, die in Briefen häufig vorliegende Mischung des Erkenntnisse mitteilenden Didaktischen und des Entschlüsse intendierenden Rhetorischen zu fixieren.⁴¹ Für das Auffinden der Gedankeneinheit sei die Unterscheidung wichtig, dass den Verfassern sowohl Impulse von Christus als auch Impulse vor Christus gegeben waren. Diese Duplizität könne unterschiedlich hervortreten und sich in Digressionen niederschlagen. Die große Schwierigkeit der Exegese bestehe darin, dass Aussagen über Verfasser und Empfänger und deren jeweilige Lebenskreise nur aus den Briefen selbst geschöpft werden könnten und keine externen Notizen vorhanden seien. Deshalb lasse sich häufig nur vermuten, woher bestimmte Gedanken angeregt worden seien. Gerade weil die vielen fehlenden Kenntnisse durch Hypothesen und Konjekturen ersetzt werden müssten, gebe es ein weites Feld von Täuschungen und vorschnellen Vermutungen.
4 Spezialthemen der Bibelhermeneutik Die Formulierung der Bibelhermeneutik hat wesentliche Auswirkungen für die Frage der normativen Geltung der biblischen Schriften, ihre interne Gewichtung und dogmatische Auswertung.
Vgl. SW I/7 (s. Anm. 6), 221– 222. Vgl. SW I/7, 178.
4 Spezialthemen der Bibelhermeneutik
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4.1 Apostolizität und Kanonizität Nach Schleiermacher hat die exegetische Theologie die Aufgabe, die kanonischen Schriften, die die Normalität des christlichen Bewusstseins verbürgen, richtig zu verstehen. Die exegetische Theologie ist auf diejenigen Schriften aus dem Anfang des Christentums bezogen, die legitim den Anspruch erheben können, eine verbindliche und authentische Darstellung des ursprünglichen christlichen Bewusstseins zu sein.⁴² Durch diese Gegenstandsbestimmung bringt Schleiermacher von Anfang an ein theologisch-qualitatives Prinzip für die Würdigung der urchristlichen Schriften zum Zuge. Maßgeblich für die Kanonizität ist der religiöse Geist der entsprechenden Schriften, nicht allein ihre Apostolizität, das heißt die Echtheit der Autorenschaft der Apostel als Garanten der zeitlichen und räumlichen Nähe zum Christusereignis. Die mit der Bibelhermeneutik verknüpfte höhere Kritik prüft, ob es in den biblischen Schriften Unkanonisches und ob es außerhalb der biblischen Schriften Kanonisches gibt. Der Kanon lässt sich nämlich weder äußerlich noch innerlich vollkommen bestimmen. Die Normalität kann nicht auf „unwandelbar feste Formeln gebracht werden“⁴³. Schleiermacher ist sich darüber im klaren, dass das die Normalität festlegende Urchristentum weder zeitlich noch personell genau bestimmbar ist. Deshalb kann auch der Kanon nicht strikt festgelegt werden.⁴⁴ Weder zu den Schriften der apostolischen Väter noch gegenüber den Apokryphen ist eine feste Grenzziehung möglich. „Die protestantische Kirche muß Anspruch darauf machen in der genaueren Bestimmung des Kanon noch immer begriffen zu sein; und dies ist die höchste exegetisch-theologische Aufgabe für die höhere Kritik.“⁴⁵ Indem Schleiermacher die theologische Feststellung kanonischer Normalität nicht mehr als von der literaturkritischen Feststellung der apostolischen Echtheit einer Schrift abhängig ansieht, verlieren Unechtheitsfeststellungen ihre theologische Destruktivität. In seiner 1807 publizierten Schrift Ueber den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos führt Schleiermacher den Nachweis der Unechtheit dieses Briefes: die im Brief vorkommende Situation sei im Leben des Paulus nicht zu platzieren; der Brief habe einen anderen Sprachgebrauch als die sonstigen echten Paulinischen Briefe; der Brief sei in sich zusammenhanglos und bruchstückhaft. Das negative Ergebnis der Echtheitsuntersuchung veranlasst Schleiermacher, auf die theologische Frage der Kanonizität einzugehen. Auch bei erwiesener Unechtheit dieses angeblichen Paulusbriefes sei damit noch nicht die Frage der Kanonizität entschieden. „Wer […] den frommen Betrug nicht höher anrechnend als er vom Verf. gemeint war, nur auf den Inhalt Achtung giebt, der könnte ihm [sc. dem Briefe] ja wol
Vgl. KD2 (s. Anm. 28), 365,5 – 9 (§ 103). KD2, 367,6 – 7 (§ 108). Vgl. KD2, 366,17– 19 (§ 106). KD2, 367,24– 368,2 (§ 110).
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Schleiermachers Bibelhermeneutik
seine Stelle [sc. im Kanon] lassen.“⁴⁶ In seiner Vorlesung „Einleitung in das Neue Testament“ hat Schleiermacher auf die in der griechischen Antike häufige Praxis einer fiktiven Autorenschaft hingewiesen und betont, dass bei einer sachlichen Übereinstimmung mit der Auffassung der Apostel es durchaus erlaubt und üblich war, die Autorenschaft eines Apostels in Anspruch zu nehmen und die Schrift unter dem Namen des Apostels herauszubringen.⁴⁷ Schleiermacher sprengt die Korrelation von apostolischer Echtheit und theologischer Kanonizität auf. Durch die Unterscheidung und Entflechtung von theologischer und literaturwissenschaftlicher Beurteilung der neutestamentlichen Schriften sichert er die Legitimität bibelkritischer Untersuchungen und zieht die erforderlichen konzeptionellen Konsequenzen. Allerdings sucht er durch seine Diegesenhypothese den radikalen Bruch zwischen der historischen und der theologischen Fragestellung zu vermeiden.
4.2 Verbalinspiration Die Lehre von der Verbalinspiration, die eine determinierende Wirksamkeit des heiligen Geistes auf die biblischen Schriftsteller von der Gedankenbildung bis zur Niederschrift annimmt, sieht Schleiermacher dadurch als widerlegt an, dass weder die vorhandenen Textvarianten der überlieferten Schriften noch die Verstehenssituation der ursprünglichen Lesergruppen, die sich gar nicht konkret hätten angeredet fühlen können, damit vereinbar seien. Dass die heiligen Schriften überhaupt von Menschen verfasst worden und nicht ohne Menschen unmittelbar vom heiligen Geist niedergelegt worden seien, könne nur im Sinne einer Selbstbindung des Geistes an die geschichtlichen Mitteilungsbedingungen verstanden werden. Somit sei auch von dieser Seite die allgemeine Hermeneutik bestätigt. Gerade indem die literarische Tradition der kanonischen Bücher untersucht wird, müsse für diesen Prozess mit denselben Schicksalen wie bei allen antiken Schriften gerechnet werden. Die Frage, ob die heiligen Schriften als inspiriert anzusehen seien, könne nur durch die Auslegung selbst beantwortet werden. Dabei dürfe kein qualitativer Unterschied zwischen dem Reden und dem Schreiben der heiligen Schriftsteller (Apostel) angenommen werden, da ja die Kirche durch das Reden aufgebaut worden sei und dieses somit religiös mindestens als gleichrangig zum Schreiben beurteilt werden müsse. Außerdem sei nicht die ganze Christenheit die Empfängerin der Schriften, sondern diese richteten sich an konkrete Menschen in einer konkreten geschichtlichen Situation und Sprachwelt.
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ueber den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos. Ein kritisches Sendschreiben an J. C. Gaß, Bd. I/5, Kritische Gesamtausgabe. 1. Abteilung: Schriften und Entwürfe, hg.v. Hermann Patsch, Berlin: De Gruyter, 1995, 153 – 241, 240,4– 6. Vgl. SW I/8 (s. Anm. 32), 121– 122.
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Die häufig praktizierte allegorische Bibelauslegung lehnt Schleiermacher ab, weil dadurch nur die dogmatische Neigung, „in jedem alles zu finden“⁴⁸, befriedigt werden solle. Schleiermacher verwahrt sich gegen die Praxis der dicta probantia und die dadurch vorgenommene Dogmatisierung einzelner Stellen, bei der diese aus ihrem geschichtlichen Zusammenhang gelöst und verallgemeinert werden.⁴⁹ Wenn die heiligen Schriften verbaliter vom heiligen Geist inspiriert wären, dieser aber kein zeitlich wechselndes Einzelbewusstsein sein könne, müssten alle Lebensfragen in den heiligen Schriften auf ewige Weise beantwortet sein. Dazu müsse ein uneigentlicher Redesinn angenommen werden. Der aber öffne der Auslegungswillkür Tor und Tür. Da Widersprüche in der Gesamtheit der evangelischen Berichte eingeräumt werden müssten, sei es nur konsequent, alle Erzählungen nicht als verbalinspiriert, sondern als solche aufzufassen, die den normalen Auslegungsregeln unterliegen. Dies gelte auch für die Widersprüche zwischen den evangelischen Auferstehungserzählungen, die immer wieder gegen die Zuverlässigkeit der Evangelisten angeführt worden sind. Schleiermacher hält das Johannes-Evangelium für einen Augenzeugenbericht, während die drei synoptischen Evangelien aus mehreren Einzelerzählungen zusammengetragen seien. Die unbestreitbaren Widersprüche seien durch die mündlichen Überlieferungsprozesse zu erklären, als bei den Wiederholungen der Berichte zu den Einzelheiten immer neue Konjekturen in die Berichte eingetragen worden seien.⁵⁰ Die fundierende Stellung der Schriftlehre in den Prolegomena zur Dogmatik gibt Schleiermacher auf. Er entzieht der Lehre von der Heiligen Schrift die Basisstellung für den Lehrbegriff und gliedert sie in die Lehre von der Kirche ein.⁵¹ Er wertet die neutestamentlichen Schriften als anfängliche Zeugnisse des ihnen vorausgehenden Glaubens an Christus und bekräftigt deren orientierende Bedeutung für den christlichen Glauben. An der Zuverlässigkeit der biblischen Autoren hält Schleiermacher fest. Er gibt dem Inspirationsgedanken die neue Fassung, dass der heilige Geist den neutestamentlichen Schriftstellern den innerlichen Impuls für ihre Schriften gegeben habe.
4.3 Das Verhältnis des Neuen Testaments zum Alten Testament Ein besonders wichtiges Themenfeld der neutestamentlichen Spezialhermeneutik ist die Verhältnisbestimmung des Neuen Testaments zum Alten Testament und die Frage nach der Art, wie alttestamentliche Aussagen und Schriften im Neuen Testament
HK (s. Anm. 4), 81. Vgl. SW I/7 (s. Anm. 6), 199. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Das Leben Jesu, Bd. I/6, Sämmtliche Werke, hg.v. Karl August Rütenik, Berlin: G. Reimer, 1864, 461 (= SW I/6). Vgl. Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2 Bde, hg.v. Martin Redeker, Berlin: De Gruyter, 1960, 284– 308 (§§ 128 – 132).
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aufgenommen wurden. Das Alte Testament war derjenige Vorstellungskreis, der den neutestamentlichen Schriftstellern und Lesern gemeinsam war. Dementsprechend lieferte vornehmlich das Alte Testament den Stoff und die Gelegenheit für Anspielungen und Nebengedanken. Folglich ist das Alte Testament das wichtigste Hilfsbuch zum Verständnis des Neuen Testaments, wichtiger als die Apokryphen und die zeitgenössischen jüdischen und heidnischen Schriftsteller.⁵² Von großer dogmatischer Bedeutung ist die Antwort auf die Frage, ob auch inhaltlich das Neue Testament von der Septuaginta abhängig sei. Da die neutestamentlichen Schriften aus dem Sprachschatz der Septuaginta und der Apokryphen schöpften, müsse also untersucht werden, ob hier andere Gebrauchsweisen der Wörter und somit andere religiöse Gedanken vorliegen. Lägen nur dieselben Gebrauchsweisen vor, so „wäre nichts neues in der christlichen Theologie und also, da alles religiöse, was nicht bloß momentan ist, sich in der Reflexion fixirt auch nichts in der christlichen Religion. Die Frage aber lässt sich unmittelbar hermeneutisch nicht entscheiden und zeigt sich also als eine Sache der Gesinnung.“⁵³ Doch bemüht Schleiermacher hier die Gesinnung, bzw. die Selbstwahrnehmung des christlichen Glaubensbewusstseins zu schnell. Auch wenn unmittelbare Entscheidungen nicht möglich sind, so gilt der Indiziensammlung und konstruktiven Argumentation gerade das hermeneutische Bemühen. Im Neuen Testament finden sich selbst hermeneutisch gesteuerte Beziehungen auf das Alte Testament, vornehmlich im Schema von Weissagung und Erfüllung. Da es umstritten ist, wie die alttestamentlichen Stellen von den neutestamentlichen Schriftstellern gebraucht worden sind, ob in der ursprünglichen Bedeutung oder in einer modifizierenden Auslegung, so muss eine wissenschaftliche Spezialhermeneutik Stellung beziehen zur Art der Aufnahme des Alten Testaments durch das Neue Testament und die neutestamentliche Auslegungspraxis zu ihrem eigenen Gegenstand machen.⁵⁴ Gerade indem Jesus sich selbst als den Verheißenen darstellt, beruft er sich auf die Propheten; damit wird seine Auslegung der Propheten zum hermeneutischen Thema. Hier sieht Schleiermacher die These einer buchstäblichen Auslegung, als hätten die Propheten an den Stellen, die von Jesus angeführt werden, gerade an ihn gedacht, gegen die These einer hindeutenden Auslegung streiten, Jesus habe die ausgesprochenen Prophetenhoffnungen auf sich bezogen. Aus der Schlüsselstelle Joh 5,39 – 40 hält Schleiermacher nur die hindeutende Auslegung für begründbar.⁵⁵ Die messianische Würde impliziere, dass Jesus sein reines und ursprüngliches Gottesbewusstsein nicht aus dem Alten Testament abgeleitet habe.⁵⁶ Die Reinheit des von Jesus ausgehenden Lebensimpulses verlange eine Hermeneutik der neutestamentlichen
Vgl. KD2 (s. Anm. 28), 377,22– 27 (§ 141 Erläuterung). HK (s. Anm. 4), 90. Vgl. SW I/7 (s. Anm. 6), 195 – 196. Vgl. SW I/6 (s. Anm. 50), 260. Vgl. SW I/6, 281.
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Schriften, die ihnen eine prinzipielle Neuheit und dem Alten Testament wohl eine historisch-heuristische, aber keine normative Bedeutung für den christlichen Glauben zuschreibe. Schleiermachers bibelhermeneutische Leitperspektive ist die Selbstdeutung des Christentums als Menschheitsreligion. Diese Selbstdeutung muss sich auch in der auslegenden Zuwendung zu den Ursprungszeugnissen christlichen Glaubensbewusstseins bewähren.
Zeitgeschichtliche Bezüge in Schleiermachers Predigten 1808 – 1810 Durch den Tilsiter Frieden vom 9. Juli 1807 kam Halle an der Saale zum neuen Königreich Westphalen. Friedrich Schleiermacher, der in preußischen Diensten bleiben wollte, verließ endgültig am 7. Dezember 1807 Halle; er gab seine dortige Professur und Universitätspredigerstelle auf; er siedelte nach Berlin über. Da er diese Veränderung seines Lebensorts bereits im Sommer 1807 vorbereitend erprobt hatte und aus seiner Charité-Zeit 1796 – 1802 noch viele Kontakte vorhanden waren, konnte er in Berlin schnell wieder heimisch werden. Zu diesen Anfängen in Berlin liefern die beiden kürzlich erschienenen Schleiermacher-Briefbände 10 und 11 neue Kenntnisse von bisher Unbekanntem und neue Einzelheiten zu schon Bekanntem.¹ Die Jahre 1808 – 1810 brachten biographisch für Schleiermacher, nach den vorangegangenen beruflichen und persönlichen Erschütterungen, die erhoffte Wende in ein weitgespanntes tätiges Leben in Universität, Kirche, Familie, Staatsverwaltung und Akademie.² Durch einige Briefzitate möge dies verdeutlicht werden. Im Mittelpunkt seines Sehnens und Strebens stand die Erneuerung des universitären Lehramts. So schrieb er am 8. März 1808 an August Boeckh: Daß ich aber gar zu gern wieder lehren möchte auf meine Weise und mein Leben nur in so fern für etwas nuz halten kann als es mir gelingt noch wieder ein Katheder zu besteigen, das ist eine ganz wichtige Voraussezung. Auch gestehe ich Ihnen ehrlich daß ich seit der lezten Zerstörung, wenn ich mir dachte Preußen könnte verurtheilt sein sich nicht wieder zu erholen, mir immer Heidelberg als den einzigen Ort dachte wo ich recht gern wieder eine Professur hätte.³
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Briefwechsel 1808 (Briefe 2598 – 3020), Bd. V/10, Kritische Gesamtausgabe. 5. Abteilung: Briefwechsel und biographische Dokumente, hg.v. Simon Gerber / Sarah Schmidt, Berlin / Boston: De Gruyter, 2015 (= KGA V/10); Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Briefwechsel 1809 – 1810 (Briefe 3021 – 3560), Bd. V/11, Kritische Gesamtausgabe. 5. Abteilung: Briefwechsel und biographische Dokumente, hg.v. Simon Gerber / Sarah Schmidt, Berlin / Boston: De Gruyter 2015 (= KGA V/11). „Meine einzige Sorge ist nur daß ich wirklich anfangen muß mich von der Faulheit, meinem größten Laster zu curiren. Wo sollte sonst die Zeit herkommen alles zu genießen und dabei auch alles zu thun! Denn ein sehr thätiges und mit Gottes Hülfe gesegnetes und nicht unwirksames Leben muß mir noch bevorstehn wenn etwas wahres ist an meinen Ahndungen und Träumen.“ (Brief Schleiermachers vom 1.10.1808 an seine Braut Henriette von Willich; KGA V/10, Brief 2850,16 – 21). Anders die Fremdeinschätzung durch Christian Gottlieb Konopak: „Was Ihre Arbeiten betrifft, so sind Sie, wie ich sehe, jetzt wie ehemals ein Nimmersatt. Sie haben Ethik und theologische Encyklopädie gelesen, haben Predigten gehalten, zwey Schriften, wenn gleich nicht von großem Umfange, in den Druck gegeben, an der Predigtsammlung doch wenigsten fortgearbeitet, und doch sind Sie nicht zufrieden!“ (Brief an Schleiermacher vom 8.6.1808; KGA V/10, Brief 2733,14– 18). KGA V/10, Brief 2655,85 – 91. https://doi.org/10.1515/9783110745498-008
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Zeitgeschichtliche Bezüge in Schleiermachers Predigten 1808 – 1810
Nach vielen Wirren, beginnend mit der königlichen Genehmigung einer allgemeinen und höheren Lehranstalt in Berlin am 4. September 1807, wurde schließlich die Berliner Universität auf Antrag Wilhelm von Humboldts am 16. August 1809 gegründet und im Oktober 1810 eröffnet. Schleiermacher gelang die Zusicherung und Übernahme einer Pfarrstelle. Er berichtete am 31. Mai 1808 an Alexander von der Marwitz: Es ist hier der reformirte Prediger an der Dreifaltigkeitskirche gestorben, und ich habe an den König geschrieben daß wenn er bei der hier zu errichtenden Universität nicht auch einen akademischen Gottesdienst zu stiften dächte er mir doch diese Stelle möchte geben lassen. Sie gehört freilich zu denen die seit dem Kriege ganz ohne Besoldung gewesen sind; es kommt mir aber auch nur darauf an eine feste Kanzel zu haben, und zwar eine solche deren mäßige Geschäfte sich am leichtesten mit dem akademischen Beruf verbinden lassen, und das ist grade diese.⁴
Nach der Verlobung am 18. Juli 1808 auf Rügen mit Henriette von Willich (geborene von Mühlenfels), der Witwe seines 1807 verstorbenen Freundes Ehrenfried von Willich, sah er mit größtem Enthusiasmus der Heirat (1809) mit und der Vaterschaft für die zwei Kinder aus der ersten Ehe seiner Frau entgegen, zu denen ab 1810 vier weitere kommen sollten. Seiner künftigen Schwägerin Charlotte von Kathen schrieb Schleiermacher am 15. September 1808: „Ich sehe mit der größten Sicherheit dem Frühjahr entgegen als dem unfehlbaren Anfang meines eigentlichen Lebens […].“⁵ Gegenüber seinem Studienfreund Carl Gustav von Brinckmann äußerte Schleiermacher am 11. Februar 1809: Mein ganzes Herz ist bei dieser Verbindung. Wenn die Welthändel es gestatten soll sie im May vollzogen werden, und ich verspreche mir dann noch ein recht schönes heiteres reiches Leben in einem andern Styl als das bisherige, ohne doch irgend etwas das mir bisher am Herzen gelegen hat deshalb fahren zu lassen.⁶
Am erforderlichen staatlichen Reformprozess hoffte Schleiermacher durch ein politisches Amt teilnehmen zu können und nicht auf sein Predigen beschränkt zu sein.⁷ Er empfahl sich durch seinen „Vorschlag zu einer neuen Verfassung der protestantischen Kirche für den preußischen Staat vom 18. November 1808“⁸ für die staatliche Kultusabteilung. Am 29. Dezember 1808 schrieb er an seine Braut: Komme ich noch irgend, wenn auch nur vorübergehend in eine Thätigkeit für den Staat hinein, dann weiß ich mir wirklich nichts mehr zu wünschen. Wissenschaft und Kirche, Staat und
KGA V/10 (s. Anm. 1), Brief 2724,31– 39. KGA V/10, Brief 2830,57– 58. KGA V/11 (s. Anm. 1), Brief 3075,49 – 53. Vgl. KGA V/10, Brief 2719,20 – 25. Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Akademievorträge, Bd. I/11, Kritische Gesamtausgabe. 1. Abteilung: Schriften und Entwürfe, hg.v. Martin Rössler unter Mitwirkung von Lars Emersleben, Berlin: De Gruyter, 2002, 1– 18 sowie die Bandeinleitung XXV–XXX (= KGA I/11).
1 Quellenlage zu Schleiermachers Predigttätigkeit
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Hauswesen – weiter giebt es nichts für den Menschen auf der Welt, und ich gehörte unter die wenigen Glüklichen die alles genossen hätten.⁹
Schleiermacher wurde 1810 in die ministerielle Sektion sowie die wissenschaftliche Deputation für den öffentlichen Unterricht berufen. Er wurde 1810 auch Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften.¹⁰
1 Quellenlage zu Schleiermachers Predigttätigkeit Schleiermacher hat häufig und vielfältig gepredigt. Die Predigtberechtigung erwarb er mit seinem Ersten Examen 1790. Und dann predigte er in unterschiedlichen Ämtern bis zu seinem Tod 1834 in wohl über 3500 Veranstaltungen bei Gottesdiensten und den verschiedenen Kasualien wie Taufen, Trauungen, Begräbnissen. Alle diese Kanzelreden, schätzungsweise 2300 Gemeinde- und 1200 Kasualpredigten, hielt er frei und schrieb nur einige im Nachhinein auf. Allerdings bereitete er sich so auf diese freien Kanzelreden vor, dass er Einleitung, Thema und die wichtigsten Gedankenschritte zumeist stichwortartig in einer Disposition samt Untergliederung auf einem Entwurfszettel notierte. Diese eigenhändigen Notizen, die er teilweise nachträglich sammelnd zu Heften zusammenstellte, reichen in größerer Zahl bis ins Jahr 1808.¹¹ Dann kommt ein markanter Wechsel. Ab Ende 1809 wurden Predigten Schleiermachers in wachsender Zahl von Hörern mitgeschrieben und in einer Nachschrift festgehalten. Viele dieser Nachschriften fremder Hand wurden ihm zugänglich gemacht. Nicht wenige nutzte er für das Anfertigen von Druckfassungen. Das gestellte Thema ist für die Jahre 1808 – 1810 mit einer gegenläufigen Sachlage konfrontiert: Zum einen ist der textliche Quellenbestand schmal, insbesondere für die Jahre 1808 und 1809; zum andern sind Schleiermachers Predigten in diesen Jahren nach seinem eigenen Bekunden „ein Wort zu seiner Zeit gesagt“¹², im doppelten Sinn, subjektiv und objektiv. Auch wenn Bezüge zum Tagesgeschehen eher selten sind, so sind die Predigten, die uns als Drucke, Autographen oder Nachschriften erhalten sind, doch in dem Sinne zeitbezogen, dass sie in ihre Zeit gestaltend hineinwirken wollen. Darüber soll hier berichtet werden; interpretatorische Linien, wie das Berichtete einzuordnen ist, werden nur knapp skizziert. Der Bericht lässt Schleiermacher in längeren Zitaten selbst zu Wort kommen und fällt ziemlich trocken aus.
KGA V/10 (s. Anm. 1), Brief 3008,145 – 149. Vgl. KGA I/11 (s. Anm. 8), XII–XX. Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Predigten 1790 – 1808, Bd. III/3, Kritische Gesamtausgabe. 3. Abteilung: Predigten, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin: De Gruyter, 2013 (= KGA III/3). Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Predigten: Erste bis Vierte Sammlung (1801 – 1820), Bd. III/1, Kritische Gesamtausgabe. 3. Abteilung: Predigten, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin: De Gruyter, 2013, 417,12 (= KGA III/1).
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Zeitgeschichtliche Bezüge in Schleiermachers Predigten 1808 – 1810
Im Blick auf die Termine, an denen Schleiermacher in Gemeindegottesdiensten gepredigt hat, ist die Quellenlage für die Jahre 1808 – 1810 gut fundiert durch die Angaben, die Schleiermachers 1808 begonnenem Tageskalender entnommen werden können, und durch die Ankündigungen im Berliner Intelligenz-Blatt. Schleiermacher hielt unregelmäßig Gottesdienst in den Berliner reformierten Kirchengemeinden Dom, Dreifaltigkeitskirche, Friedrichswerdersche Kirche, Jerusalemer Kirche, Neue Kirche und Parochialkirche. Bleiben Kasualreden und Beichtreden unberücksichtigt, so sind für 1808 terminlich 18 Predigten von Januar bis Juni und fünf Predigten von Oktober bis Weihnachten für Berlin nachweisbar, außerdem auf Rügen im Juni und Juli fünf Predigten und am 4. September in Königsberg eine Predigt, mithin insgesamt 29 Predigten. Im Blick auf das in einer Predigt behandelte Thema und auf den vorgetragenen Wortlaut der Kanzelrede ist die Quellenlage der Textüberlieferung allerdings deutlich eingeschränkt. Zu den 29 Predigtterminen des Jahres 1808 sind sieben Predigtdispositionen¹³ und zwei ausformulierte Predigtvorträge¹⁴ vorhanden. Noch karger ist die textliche Quellenlage im Jahr 1809, auch wenn die Zahl der Predigttermine höher ist. Schleiermacher wurde nämlich am 11. Juni 1809 in das seit Mai 1808 vakante und ihm umgehend vom König zugesagte Amt des reformierten Predigers an der Berliner Dreifaltigkeitskirche eingeführt. Nun musste er regelmäßig an jedem Sonntag im Wechsel vormittags oder nachmittags Gottesdienst halten. Vor seiner Amtseinführung predigte er in Berlin neunmal, fünfmal auf Rügen vor und nach seiner Hochzeit am 18. Mai. Im pfarramtlichen Dienst hielt er dann 26 Predigten, außerdem eine im schlesischen Schmiedeberg. Von den insgesamt 42 Predigten des Jahres 1809 sind nur zwei gedruckte Predigtvorträge, eine Disposition und eine Nachschrift überliefert.¹⁵ Im Jahr 1810 beginnt die textliche Quellenlage besser zu werden, der Strom textlicher Überlieferung wird breiter. Dafür sorgt das Genus Nachschriften. Während Schleiermachers eigene Predigtzeugnisse nun überwiegend auf Predigtdrucke konzentriert sind und Autographen selten werden, nehmen Nachschriften einen stark wachsenden Raum ein. Für das Jahr 1810 lassen sich 53 Berliner Predigttermine angeben sowie einer in Dresden. Für 28 Predigten ist eine textliche Überlieferung vorhanden, überwiegend Nachschriften von Karl Ernst Georg Matthisson, außerdem ein Einzeldruck mit zwei Predigten, ein späterer Drucktext und fünf Schleiermacher-Autographen.¹⁶ Am 9. Dezember 1810 erhielt Schleiermacher einen Hilfsprediger (August Pischon), der die Nachmittagspredigten übernahm.
Vgl. KGA III/3 (s. Anm. 11), 742– 751. 768 – 771. Vgl. KGA III/1 (s. Anm. 12), 396 – 415; KGA III/3, 903 – 914. Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Predigten 1809 – 1815, Bd. III/4, Kritische Gesamtausgabe. 3. Abteilung: Predigten, hg.v. Patrick Weiland unter Mitwirkung von Simon Paschen, Berlin: De Gruyter, 2011, 3 – 23 (= KGA III/4). Vgl. KGA III/4, 27– 235.
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2 Predigtpublikationen Von den insgesamt 124 Predigten, die Schleiermacher 1808 – 1810 gehalten hat, hat er fünf Kanzelreden in den Druck gegeben. Vier dieser fünf Publikationen haben starke zeitgeschichtliche Bezüge, sie sind explizit der Zeitlage bzw. einem Ereignis verpflichtet¹⁷ und wollen eine Deutung geben, die in die größere Öffentlichkeit hineinwirken soll. Wenn nach Schleiermachers „Ueberzeugung christliche Predigten überall nur für den unmittelbaren Hörer ihren vollen Werth [haben], und die weitere Verbreitung derselben durch den Druck mir etwas unwesentliches, ja nicht selten etwas mißliches, zu sein scheint“¹⁸, so steht zu vermuten, dass gerade die publizierten Predigten deutliche Hinweise darauf enthalten, wie Schleiermacher die Zeitereignisse und die geschichtliche Lage wahrnahm und welche Entwicklungslinien er unterstützen wollte.
2.1 Zweite Predigtsammlung 1808 Ein wichtiges Zeugnis dafür, dass Schleiermacher seine Predigttätigkeit ausdrücklich als Teilnahme an zeitgenössischen Entwicklungen und Ereignissen verstand, ist seine Publikation Predigten. Zweite Sammlung. Hatte er zunächst im Jahr 1805 an eine Predigtsammlung zu den christlichen Festtagen gedacht, so wurde durch die umwälzenden Ereignisse des Herbstes 1806 daraus bald eine Predigtsammlung zur Zeitlage,¹⁹ deren Publikation verzögert im April 1808 erfolgte. Nur die letzte dieser zwölf Predigten wurde in dem Zeitraum gehalten, dem dieser Bericht sich widmen soll. Aber auch die elf Predigten, die zwischen August 1806 und Juli 1807 überwiegend in Halle gehalten wurden, fanden erst durch die Buchpublikation ihre Leserschaft in den Jahren 1808 und 1809. Die ersten drei Predigten belegen die kurze Zeitspanne von Schleiermachers Predigten in der von ihm als Universitätsprediger mit großem Einsatz wieder hergestellten Schulkirche im August 1806. Kaum war die Schulkirche für Universitätsgottesdienste neu eingeweiht, als das Sommersemester zu Ende ging und dann der Krieg ausbrach. Die Schulkirche wurde vom Militär requiriert. Die preußischen Truppen erlitten bei Jena und simultan im gut 20 km entfernten Auerstedt Die Ausnahme ist die Predigt zum Karfreitag 1809, die er 1811 im Magazin für Prediger veröffentlichte; diese stellt die religiös-theologische Bedeutung des Märtyrertums heraus ohne direkte Seitenblicke auf die Zeitsituation (vgl. KGA III/4 [s. Anm. 15], 16 – 19); vgl. dazu KGA V/11 (s. Anm. 1), Brief 3544,17– 21. KGA III/1 (s. Anm. 12), 417,2– 5. Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Briefwechsel 1804 – 1806 (Briefe 1831 – 2172), Bd. V/8, Kritische Gesamtausgabe. 5. Abteilung: Briefwechsel und biographische Dokumente, hg.v. Andreas Arndt / Simon Gerber, Berlin: De Gruyter, 2008, Brief 2167,45 – 48 (= KGA V/8); Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Briefwechsel 1806 – 1807 (Briefe 2173 – 2597), Bd. V/9, Kritische Gesamtausgabe. 5. Abteilung: Briefwechsel und biographische Dokumente, hg.v. Andreas Arndt / Simon Gerber, Berlin: De Gruyter, 2011, Brief 2350,30 – 38; Brief 2357,64– 72 (= KGA V/9).
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Zeitgeschichtliche Bezüge in Schleiermachers Predigten 1808 – 1810
(genauer: Hassenhausen) gleich zweifach eine katastrophale Niederlage. Halle wurde am 17. Oktober von französischen Truppen erobert, die Universität geschlossen. Es wurde für Schleiermacher eine Zeit des Wartens; er predigte sporadisch in der Halleschen Domkirche und prüfte im Sommer 1807 seine Aussichten in Berlin. In der Vorrede, datiert auf Februar 1808, wird die Zeitlage angesprochen: Diese zweite Sammlung von Predigten, ganz auf dieselbe Weise entstanden wie die erste, ist nicht diejenige auf welche ich in der zweiten Auflage von jener im voraus hinweisen wollte. Damals hatte ich mir vorgesezt, Vorträge, welche ich an den christlichen Festen gehalten, dem größern Publicum mitzutheilen. Dies Vorhaben bleibt nun noch ausgesezt, da die gegenwärtigen Zeitumstände, besonders auch die meines Vaterlandes, mich veranlaßt haben, unter denen, die in meine Denkungsart eingehen mögen, lieber dasjenige für jezt gemeinnüziger zu machen, was ich vorzüglich in Beziehung auf die neuesten Ereignisse gesprochen habe.²⁰
Die Predigten, die schon im blühenden Anfang der Halleschen Universitätsgemeinde im Sommer 1806 das Thema des Gemeinsinns ansprechen und dieses Thema dann in den Bedrängnissen der Niederlage und der Verkleinerung Preußens kontrastierend ins Lichte mutig-hoffnungsfreudiger Erneuerung stellen, wollen, so schließt die Vorrede, „beitragen, um, wessen wir so sehr bedürfen, frommen Muth und wahre Lust zu gründlicher Besserung zu erwekken und zu beleben und einleuchtend zu machen woher allein wahres Heil uns kommen kann, und wie ein Jeder dazu mitwirken muß.“²¹ Diese Grundtendenz, die Wirklichkeit wahrzunehmen und mit hoffnungsfrohem Mut zu gestalten, wird schon in den Predigtüberschriften kenntlich gemacht: III. Wie sehr es die Würde des Menschen erhöht, wenn er mit ganzer Seele an der bürgerlichen Vereinigung hängt, der er angehört. […] V. Ueber die Benuzung öffentlicher Unglücksfälle. VI. Daß die lezten Zeiten nicht schlechter sind, als die vorigen. Am lezten Sonntage des Jahres 1806. VII. Was wir fürchten sollen und was nicht. Am Neujahrstage 1807. […] X. Der heilsame Rath zu haben als hätten wir nicht. XI. Von der Beharrlichkeit gegen das uns bedrängende Böse.²²
Die zwölfte und letzte dieser Predigten, am 24. Januar 1808 gehalten, nimmt den Geburtstag Friedrich II. von Preußen zum Anlass, um programmatisch auf die Zeitlage und die anstehenden Reformen einzugehen. Seine Predigt Ueber die rechte Verehrung gegen das einheimische Große aus einer früheren Zeit beginnt Schleiermacher mit einer
KGA III/1 (s. Anm. 12), 207,2– 11. KGA III/1, 208,6 – 9. KGA III/1, 209,8 – 10. 12– 16. 20 – 22.
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Anknüpfung an die Stimmung, die ihm aus seiner Kindheit und Jugend vertraut gewesen sein dürfte. Der vierundzwanzigste des ersten Monates war ehedem in diesen Ländern ein vielgefeierter Tag, an welchem die Bewohner derselben sich laut und froh einem eigenthümlichen erhebenden Gefühl überließen. Er war das Geburtsfest des großen Königes, der eine lange Reihe von Jahren über uns geherrscht hat und noch immer der Stolz seines Volkes ist, eines Königes, auf den von dem ersten Augenblikk an wo er das Scepter ergriff bis an den lezten seines Lebens ganz Europa hinsah, bewundernd seinen durchdringenden Verstand im Großen, seine strenge und genaue Aufsicht im Einzelnen, seine rastlose Thätigkeit, seinen ausdauernden Muth, seinen schöpferischen und erhaltenden Geist, und erwartend von seiner Einsicht und Entschlossenheit den Ausschlag in den wichtigsten Angelegenheiten, eines Königes, der eben so sehr durch weise Verwaltung sein Reich von innen kräftigte als durch Tapferkeit im Felde und durch richtige Benuzung der Umstände es von außen sicherte und vergrößerte, so daß er es auf eine Stuffe der Macht und des Ansehns erhob, für welche es vorher nicht geeignet schien, und von welcher es in diesen neuesten Tagen so schnell ist wieder herabgestürzt worden, daß wir nicht abzusehen vermögen ob oder wann es sie wieder werde besteigen können. Eben deshalb, meine Freunde, weil eines Theils weder das feierliche Gedächtniß jenes großen Herrschers unter uns kann vertilgt sein, der zu viel dauernde Denkmäler seines Daseins in seinem Volke gestiftet hat als daß jemals Er selbst oder das was wir durch ihn geworden und unter ihm gewesen sind könnte vergessen werden, noch andern Theils irgend Jemand ohne Schmerz und Beschämung denken kann an den jähen Sturz den wir erlitten haben, eben deshalb kann es nicht anders sein, als daß die Bewegungen, welche der heutige Tag in uns hervorbringt, jene Wunden des Herzens wieder aufreißen, die wir gern heilen möchten durch Ruhe und Stille, und daß wir uns befangen finden in einem zerstörenden Zwiespalt von Gefühlen, indem wir nicht davon lassen können die großen Eigenschaften und die herrlichen Thaten jenes Helden uns lobpreisend zuzueignen, zugleich aber auch die leichte Zerstörbarkeit fast alles dessen was er unter uns gewirkt hatte schmerzlich zu beklagen. Wohin aber haben wir uns zu wenden mit jeder Uneinigkeit in uns selbst, als zu den heilenden Quellen der Religion? wo Schuz zu suchen wenn das Zeitliche mit seinen Widersprüchen uns aufzureiben droht als bei dem Ewigen? wo ist eine beruhigende und einigende Ansicht der Weltbegebenheiten zu gewinnen als durch die Beziehung auf Gott durch welche jeder scheinbare Widerspruch verschwinden und alles sich auflösen muß in Weisheit und Liebe.²³
In der Auslegung von Mt 24,1– 2 schildert Schleiermacher ausdrücklich bejahend die ehemalige Größe und den vergangenen Glanz Preußens und seines Königs, um gerade dadurch jede Form von Situationsverweigerung und jedes Wollen zur Rückwendung scharf zu geißeln. In einem Doppelschritt will er den alten Glanz als vergangen einhegen und zugleich für die Gestaltung des Neuen fruchtbar machen. Er sieht die Gegenwart als einen Übergang: So tritt auch in den längeren geschichtlichen Lebenslauf eines Volkes leicht zwischen jede frühere und spätere Blüthe eine Zeit der Verwirrung und der Gefahr, die jedoch nur bestimmt ist zu einem vollendeteren Zustande den Uebergang zu bilden. Damit sie uns aber hiezu auch wirklich gereiche, so laßt uns auch ja nicht eben durch jene verfehlte Anhänglichkeit an das Vergangene
KGA III/1 (s. Anm. 12), 396,5 – 397,24.
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Zeitgeschichtliche Bezüge in Schleiermachers Predigten 1808 – 1810
zurükgehalten werden dasjenige nicht gern und willig zu thun, was der gegenwärtige Zustand der Dinge von uns fodert.²⁴
Schleiermacher will für die erforderliche Neugestaltung der preußischen Dinge an bestimmte Charakterzüge der Herrschaft Friedrichs anknüpfen und dadurch aller Trägheit und aller Entwicklungsverweigerung entgegentreten. Fünf Zielsetzungen hebt er an Friedrichs Regierungshandeln hervor, die für die anstehenden Reformbemühungen wichtige Impulse geben können: a) Tätigkeitsstreben: Zuerst wie deutlich drükt sich nicht überall das Bestreben aus Arbeitsamkeit und Sparsamkeit zu herrschenden Tugenden unseres Volkes zu machen.²⁵
b) Rechtsstaatlichkeit: Nicht minder aber erfreuten wir uns schon in jenen früheren glänzenden Zeiten des Ruhmes, daß überall bei uns in den Verhältnissen zwischen Obrigkeit und Untergebenen rechtliches Wesen und wahre Biederkeit fast mehr als irgend anders wo herrschte in Staaten von gleichem Umfang. Die parteiische Beugung des Rechtes, die freche Unterdrükkung des Geringeren, die verrätherische Zersplitterung öffentlicher Güter, die Ehrlosigkeit der Bestechung und des Unterschleifes, wo haben wol, ja wir dürfen es zuversichtlich fragen, wo haben diese verderblichen Uebel weniger geherrscht als bei uns?²⁶
c)
Rechtsgleichheit: Vergessen wir ferner nicht wie sehr als ein Grundsaz schon in der Regierung jenes großen Königes hervorragte, daß alle Bürger gleich sein müßten vor dem Gesez, wie laut er es sagte daß jeder Einzelne ihm nur werth wäre nach dem Maaß als er gehorsam und treu beitrüge durch seine Thätigkeit zum Wohl des Ganzen.²⁷
d) Wahrheitssinn: Eben so laßt uns fest halten an dem wahren schon in jenen Zeiten von uns her so laut verkündigten Grundsaz, daß vom Irrthum nie etwas Gutes noch weniger Besseres zu erwarten ist als von der Wahrheit, daß Vorurtheile und Aberglauben nicht die Mittel sein können um die Menschen bei dem was recht und heilsam ist festzuhalten und weiter im Guten zu führen, laßt uns fortfahren daher in dem rühmlichen Bestreben richtige Einsichten in alles was dem Menschen werth und wichtig sein muß so weit als möglich zu verbreiten, den Sinn für Wahrheit zu erwekken, das Vermögen der Erkenntniß zu stärken und zu beleben.²⁸
KGA III/1 (s. Anm. 12), 405,1– 9. KGA III/1, 410,3 – 5. KGA III/1, 410,33 – 411,7. KGA III/1, 411,25 – 29. KGA III/1, 412,24– 33.
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e) Gewissensfreiheit: Endlich aber, was uns hier am nächsten liegt, und uns fast als das größte erscheinen muß, laßt uns ja heilig bewahren und durch nichts in der Welt uns jemals entrissen werden die in jenen Zeiten so oft als ein Grundgesez unseres Vaterlandes ausgesprochene köstliche Freiheit des Glaubens und des Gewissens. ²⁹
Für die private Aufnahme der zweiten Predigtsammlung gibt es in den Briefen der Jahre 1808 und 1809 viele Zeugnisse.³⁰
2.2 Einzeldrucke 1809 und 1810 Für die ersten drei Berliner Jahre liegen zwei Einzeldrucke vor. Dieser Publikationsform bediente sich Schleiermacher in den späteren Jahren dann zunehmend.
2.2.1 Einführung der Städteordnung 1809 Am 15. Januar 1809 hielt Schleiermacher im Berliner Dom die Predigt Ueber das rechte Verhältniß des Christen zu seiner Obrigkeit. ³¹ Durch diesen „christlichen Lehrvortrag“³² wollte er die auf bürgerliche Teilhabe abzielende neue „Ordnung für sämtliche Städte der Preußischen Monarchie“, gesetzlich am 19. November 1808 eingeführt, in ihrer politischen Umsetzung unterstützen. Um eine breitere Aufmerksamkeit zu erreichen, veröffentlichte er die Predigt eine Woche nach Vortrag als Einzeldruck mit knapper Vorbemerkung. Er beginnt mit einer Korrektur der weit verbreiteten Auffassung, die christliche Frömmigkeit habe für die Frage, ob jemand sich für sein Vaterland engagiert einsetze oder nicht, keine Bedeutung.³³ Dieser Einschätzung widerspricht Schleiermacher entschieden und entfaltet in der Auslegung des klassischen PaulusTextes Röm 13,1– 5, letztlich konzentriert auf den Vers 5, den er anders als Luther übersetzt,³⁴ eine doppelte Sicht des christlichen Verhältnisses zur Obrigkeit. „Erstlich, Wie ganz unanständig es dem Christen ist, um der Strafe willen unterthan zu sein, und
KGA III/1 (s. Anm. 12), 413,15 – 19. Vgl. ab Mai 1808 die Verteilung KGA V/10 (s. Anm. 1), Brief 2717,8 – 10; Brief 2719,22– 25; ab Juni die Aufnahme in dichter Folge Brief 2731,25 – 42. 53 – 58; Brief 2753,15 – 19; Brief 2754,14– 16; Brief 2755,59 – 66; Brief 2766,2– 6; Brief 2777,37– 43 u. ö. KGA III/4 (s. Anm. 15), 3 – 15; vgl. dazu KGA V/11 (s. Anm. 1), Brief 3413,4– 32. KGA III/4, 3,6. KGA III/4, 3,13 – 4,4. Schleiermacher übersetzt: „So ist nun nothwendig, daß ihr nicht allein um der Strafe willen unterthan seid“ (KGA III/4, 4,38 – 39) und gibt die Abweichung von Luthers Bibelübersetzung („So seyd nun aus Noth unterthan, nicht allein um der Strafe willen“) in einer Fußnote ausdrücklich an.
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Zeitgeschichtliche Bezüge in Schleiermachers Predigten 1808 – 1810
Zweitens, Wie es ihm natürlich und nothwendig ist, sich um des Gewissens willen zu unterwerfen.“³⁵ Da christliche Frömmigkeit in Selbständigkeit, Mut, Liebe und Freiheit ihr Wesen habe, verbiete sich jede Einstellung zum Staat, die durch Furcht bestimmt sei. Nicht wegen der Strafandrohung, sondern aus freiem Gewissen unterwerfe sich der christlich Fromme der Obrigkeit, der er deshalb „mit seiner ganzen Wirksamkeit nach außen, und mit der innern und stillen Thätigkeit des Nachdenkens und der Betrachtung“³⁶ zugetan sei. Äußerlich und innerlich nehme er an den öffentlichen Angelegenheiten teil und beteilige sich beratend an ihnen.
2.2.2 Gedächtnis an Königin Luise 1810 Im August 1810 veröffentlichte Schleiermacher einen Einzeldruck, durch den er seine beiden Predigten vom 22. Juli und 5. August 1810 öffentlich bekannt machen wollte, in denen er sich zum Tode der Königin Luise äußerte.³⁷ Schleiermacher, der sich für die zweite Hälfte des Kirchenjahres eine Predigtreihe zur Apostelgeschichte vorgenommen hatte, nutzte den ersten Sonntag, nachdem Königin Luise am 19. Juli 1810 gestorben war, für eine Auslegung des Stephanus-Martyriums unter dem Thema „Die Verklärung des Christen in der Nähe des Todes“. Er nahm die durch diesen Tod verursachte Trauer zum Anlass, die allgemeine Gestalt christlichen Sterbens zu zeichnen und den in der verklärenden Wirkung der Liebe liegenden Trost zu geben. Gerade in Zeiten tiefer Umbrüche ist fromme Gewissenhaftigkeit wesentlich, wenn Verleumdung die Impulse zum Neuen blockieren will. Am leichtesten aber vor allen geschieht dies in solchen bedenklichen Zeiten, als die des Stephanus waren, und als auch die unsrigen sind, wie wir uns nicht verbergen können, Zeiten nemlich, in denen Erneuerung und Besserung, und was ihnen nothwendig vorangeht, nicht nur in Einzelnen, sondern im Ganzen sollen bewirkt werden; Zeiten, wo vieles gelöst wird und vieles umgestürzt, damit besseres aufkommen könne, wo in tausend Fällen die noch bestehenden Formen und Buchstaben ihre alte Gültigkeit nicht mehr behaupten können, und das Gewissen eines Jeden mehr als sonst sein einziger Richter sein kann. In solchen Zeiten vornemlich treibt die Verläumdung ihr Spiel, und läßt auch das Edelste und Zarteste nicht unangetastet. Und wenn sie auch nicht unmittelbar zum Tode führt, wie hier, so weiß doch Jeder, wie tief unschuldig gekränkter Name schmerzt, und oft auf unheilbare Weise am Mark des Lebens zehrt, und wie selten die Verläumdung ein einmal gefaßtes Opfer eher als am Ende des Lebens verläßt. Aber auch so scheint dann das Angesicht des Christen, wie eines Engels Angesicht. Es leuchtet daraus hervor der himmlische Glanz der Wahrheit, der innern Zuversicht und Gewißheit, der durch das Urtheil der Menschen nicht irre gemacht wird, der Ueberzeugung, nur das gewollt und gesucht zu haben, was Recht ist vor Gott.³⁸
KGA III/4 (s. Anm. 15), 5,33 – 36. KGA III/4, 11,11– 13. Vgl. KGA III/4, 123 – 150; vgl. dazu KGA V/11 (s. Anm. 1), Brief 3504,56 – 59. KGA III/4, 127,19 – 39.
2 Predigtpublikationen
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In der vorgeschriebenen Gedächtnisfeier am 5. August begann Schleiermacher mit der Feststellung der Besonderheit dieses Trauerfalls: In schmerzlicher Rührung sind wir heute hier versammelt. Es hat dem Herrn gefallen, die weiland durchlauchtigste großmächtige Frau, Luise Auguste Wilhelmine Amalie Königin von Preußen, geborne Prinzessin von Meklenburg-Streliz, am 19ten des vergangenen Monats, im 35sten Jahre ihres Lebens, aus unserer Mitte abzurufen, und dadurch den König unsern Herrn und sein hohes Haus, und mit demselben auch alle getreue Unterthanen in die tiefste Trauer zu versezen. Meine andächtigen Freunde! Nicht leicht nimmt der Tod einen Menschen, der irgend des Namens werth war, aus diesem Leben hinweg, daß nicht eine oder die andere menschliche Brust von schmerzlichen Empfindungen bewegt würde. Je größer nun der Werth des Hinscheidenden war, und je mehr derer in deren Leben das seinige eingriff, um desto tiefer wurzelt, um desto weiter verbreitet sich der wehmüthige Eindruk, so daß die Besten und die Höchsten der Erde es sind, deren Tod die meisten Gemüther und aufs innigste erschüttert.Wie selten die Fälle sind, wo beides sich vereinigt, wissen wir; aber auch unter diesen ist der Verlust, welcher uns getroffen hat, einer der seltensten und schwersten. Denn nicht leicht ist ein Werth allgemeiner anerkannt worden, als der unsrer verewigten Königin; nicht überall, das Zeugniß dürfen wir uns geben, verbindet ein so inniges und festes Band der Liebe das Volk mit seinen Fürsten, als dieses treue Volk mit dem erhabenen und gesegneten Hause, welches über uns herrscht; und wol seit langen Jahren haben wir aus demselben kein so geliebtes und verehrtes Haupt verloren, als das, um welches wir jezt trauern. Wie nun in allen solchen Fällen der Mensch, welcher nicht ganz fern ist von dem Leben aus Gott, zuerst bei dem Trost sucht, dessen Fügung ihn niedergebeugt hat: so sind auch heute die Häuser der Andacht in dieser königlichen Hauptstadt dazu eröfnet, um den gemeinsamen Schmerz aufzunehmen und durch Andacht zu heiligen. Denn der Trost, welchen der Christ sucht, ist nicht nur Hemmung der Thränen und Lüftung der beklommenen Brust; sondern darnach vornemlich strebt er, daß auch die Schickung, die ihn am tiefsten beugt, ihm zugleich zu einer neuen Kraft des geistigen Lebens gedeihe. Diese Richtung nehme denn auch in dieser frommen Todesfeier unser Andenken an die verewigte Königin.³⁹
Doch auch und gerade in diesem so besonderen Trauerfall dringt Schleiermacher auf die angemessene christliche Einordnung der Gedanken über den Wert des Lebens und seiner Güter, über den Ursprung menschlicher Liebe und Verehrung sowie über Art und Umfang menschlicher Wirksamkeit.⁴⁰ Alle durch den Tod nun zerstörten mannigfaltigen Glücksgüter der Königin würden überstrahlt durch ihre heitere mutige fromme Gesinnung, durch ihre Hoheit auch im Unglück. War es der Glanz des Thrones weshalb wir sie glüklich priesen? jene Leichtigkeit, welche die Macht darbietet alle Wünsche zu erfüllen? jene Huldigungen, welche der gefeierten Königin von allen Seiten dargebracht wurden in den glüklichsten Tagen des Staates und ihres erhabenen Hauses? Nein ihr ganzes Leben und Dasein steht in gleicher Herrlichkeit vor uns auch in den trüben Tagen des Unglüks, und sie scheint, wiewol auf eine Höhe gestellt, auf welcher sonst Stürme und Ungewitter dieser Art nicht zu toben pflegten, eben deshalb die herbesten Wechsel erfahren zu haben, um zu zeigen, daß das Heil und der Werth ihres Lebens nicht auf Glanz, Glük und steigender Hoheit ruhte. Waren es die Reize der körperlichen Anmuth und Schönheit, mit
KGA III/4 (s. Anm. 15), 141,13 – 142,9. Vgl. KGA III/4, 143,35 – 39.
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Zeitgeschichtliche Bezüge in Schleiermachers Predigten 1808 – 1810
denen Gott ihre Person so reichlich ausgestattet hatte? Der Tod hat diese Reize ganz zerstört und bis auf die lezten Spuren davon die geliebte Gestalt zerrüttet; aber wenn er seine zerstörende Macht auch bis auf unser Gedächtniß ausdehnen könnte, daß wir allmählig unfähig würden die wohlbekannten tief eingeprägten Züge uns zu vergegenwärtigen: wenn wir nur alles übrige festhalten, wird uns der Eindruk von Seligkeit und Fülle, den uns ihr Leben hinterläßt nichts verlieren.⁴¹
Die Milde ihres Wesens, ihre hohe mutige Gesinnung, ihr tiefer Sinn für Wahres und Gutes seien der Verehrungsgrund. Diese innere Wirksamkeit bestimme das Andenken an die Königin.
3 Allgemein gehaltene und situativ-spezifische Zeitbezüge Wegen der Quellenlage lässt sich wenigstens annäherungsweise nur für das Jahr 1810 ein Urteil über die Intensität zeitgeschichtlicher Bezüge fällen. Eine Orientierung allein an den vorliegenden Predigtdrucken würde eine falsche Akzentuierung bringen. Schleiermacher war schon 1808 in Berlin durchaus ein Prediger, der sehr unterschiedliche Gruppen unter seiner Kanzel versammelte. „Bunter ist überhaupt wol kein Fischzug als mein kirchliches Auditorium: Herrnhuter, Juden, getaufte und ungetaufte, junge Philosophen und Philologen, elegante Damen.“⁴² Dass seine Predigten geradezu in Mode gekommen waren, fand nicht nur sein Schmunzeln. Seine Klage wurde brieflich von Christian Gottlieb Konopak korrigiert: Daß es Sie ärgert, wenn manche Leute, bloß durch eine Art von Mode getrieben, in Ihre Predigten laufen, ist natürlich; wenn Sie aber dabey sagen, Sie thun Ihr Bestes, um sie wieder hinauszupredigen, so ist das, mit Jösting zu reden, wohl nur so eine Redensart. Höchstens könnten Sie doch gegen die falschen Antriebe, in die Kirche zu gehen, predigen. Aber die Modeleute glauben theils selbst nicht, daß sie es aus Mode thun, theils müßte doch auch Ihr Zweck dabey nicht seyn, sie hinaus zu predigen, sondern zu machen, daß ein echter Sinn sie zu Ihnen führte. – Das Herauspredigen kann vollends Ihr Ernst nicht seyn; da müßten Sie ja Ihre Kanzel außerhalb der Kirche haben.⁴³
Schleiermacher galt in Berlin als Prediger für die Gebildeten.⁴⁴
KGA III/4 (s. Anm. 15), 145,19 – 43. KGA V/10 (s. Anm. 1), Brief 2672,75 – 77. KGA V/10, Brief 2733,36 – 44. Vgl. KGA V/11 (s. Anm. 1), Brief 3472,83 – 93.
3 Allgemein gehaltene und situativ-spezifische Zeitbezüge
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3.1 Allgemein gehaltene Zeitbezüge Als eher allgemein gehaltener Bezug auf die Zeitgeschichte kommt in vielen Predigten das vehemente Werben für mehr Gemeinschaftlichkeit vor, aber auch Polemik gegen die Reformunwilligkeit nach der erlittenen Niederlage. Vorzüglich wichtig war Schleiermacher, die Erbaulichkeit der Predigten zu steigern. Erbauung statt Belehrung war sein homiletisches Programm: Man hat die Kirche verwechselt mit der Schule, die Anstalt zur Erbauung mit der Anstalt zur Belehrung, und man hat die Meinung angenommen als ob die sich hier versammelten nur lernen sollten, und der Wortführer als ob er das Ansehn und die Pflicht habe zu lehren. Aber wenn wir auch nur stehn bleiben bei dem verständlichen Worte daß er erbauen soll, daß belebt werden soll und gestärkt die fromme göttliche Gesinnung in den Gemüthern, die Liebe und der innere Trieb zum Guten, m. Fr. wer kann sagen, daß hier anders etwas zu erwarten sei als von dem gemeinsamen Bestreben Aller?⁴⁵
Die christliche Frömmigkeit, die von Christus inspiriert sei, werde durch die aufklärerische Umgestaltung, nur verständig-nützliche Lehrsätze über das allgemeinmenschliche Gottesbewusstsein zu formulieren, in ihrer Wurzel bedroht. Die Frömmigkeit bewahre ihre Lebendigkeit nur in der Gemeinschaft und durch die Gemeinschaft. Gegen die aufklärerische Vereinzelungstendenz, die in der befriedend gemeinten Maxime, jeder solle nach seiner Fasson selig werden, unausweichlich impliziert war, stellt Schleiermacher in seiner Pfingstmontag-Predigt 1810 die grundlegende Bedeutung frommer Gemeinschaft heraus: Die Hülfe kann nur ausgehn von der vereinigten Kraft Aller; jeder muß sich ansehn als Mitglied einer großen gemeinschaftlichen Verbindung. Von den ersten Jüngern heißt es: Sie waren einmüthig bei einander, sahen sich an als Ein Ganzes; das gemeinsame Wohl und Werk war Gegenstand des Nachdenkens und der Betrachtung für alle und für jeden Einzelnen, jedes Bedürfniß wurde von Allen gefühlt jede einzelne Einsicht kam zur Mittheilung und diese Gemeinschaft allein hat die Kirche gestiftet. Wenn sich jeder von ihnen in sich verschlossen hätte und die Religion angesehen nur als eine Angelegenheit zwischen ihm selbst Gott und Christo; wenn es dann auch Einzelne gegeben hätte die von einem andern Geist getrieben ausgingen und lehrten und tauften; aber die Getauften wären auch in jenem Sinn sich vereinzelnder Frömmigkeit getauft worden: wie bald würde der erste Eifer erkaltet, wie wenig das Christenthum verbreitet und wie bald vielleicht das Gedächtniß Christi verschwunden sein […].⁴⁶
Anknüpfend an die Erzählungen der Apostelgeschichte über die Einmütigkeit der Jünger nach Jesu Himmelfahrt und der Ausgießung des Geistes schärft Schleiermacher die geistvolle Teilnahme an den gemeinsamen Angelegenheiten ein. Nur die Ausrichtung auf das Ewige begründe auch das bürgerliche Gedeihen.⁴⁷
KGA III/4 (s. Anm. 15), 101,1– 10. KGA III/4, 104,27– 105,4. Vgl. KGA III/4, 175,34– 36.
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Zeitgeschichtliche Bezüge in Schleiermachers Predigten 1808 – 1810
Das ist die wahre Gemeinschaft aller Güter, daß alle wenn der Geist fordert (woher auch seine Stimme ertönt) Kräfte und Einsichten und äußere und innere Habe hingeben. Und wenn diese Gesinnung in uns lebt, dann wird, wie sich auch äußerlich die Angelegenheiten gestalten, diese Gesinnung erscheinen als das wahre Leben aller in dem der Geist Gottes herrscht. Sollen wir uns nun fragen, ob sie Statt findet diese Gesinnung? O m. Fr. es wäre wohl beßer zu schweigen. Könnte sonst wohl dem Vaterlande so oft versagt worden seyn, was es forderte, könnte die Klage so allgemein erhoben werden, daß viele was sie erst der Gewalt geben, nicht auch und lieber der Vernunft geben wollen, der Gemeinschaft die allein alles erhalten und wieder geben kann; und wenn die Rede ist zu verbeßern die gemeinsamen Anstalten: könnte die Scheu so groß seyn in Anspruch zu nehmen die Zeit, Kräfte den Willen das Vermögen der Einzelnen weil sie es nicht geneigt sind ein Opfer zu bringen. Und wir dürfen nicht sagen; es sey Mangel Schuld daran. Es ist mit dieser Noth nicht größer als wenn in der Zeit des Mangels die Güter der Erde in Speichern aufgehäuft werden, damit sie wuchern können für sich. So fehlt es nicht an Zeit an Muße [an] Kräften; aber es fehlt an dem Geiste, der sie gern herausgiebt.⁴⁸
Diese Geistlosigkeit bringe den Tod. Sie wird deshalb scharf von Schleiermacher bekämpft: So laßt uns dem Tode entrinnen und der Stimme des Geistes folgen, laßt uns fleißig Vorhalten das Bild des geistigen Lebens, damit es besiege die niedere Anhänglichkeit an die Dinge dieser Welt; laßt uns zurückkehren in jene Zeit der christlichen Liebe und Gemeinschaft, damit […] Jeder auch zu denen gehöre, deren Wandel ist im Himmel.⁴⁹
Neue Quellenstücke zum Vortragsthema, die 2017 im letzten Predigtband publiziert werden, zeigen, dass Schleiermacher auch bei offenkundig politischen Themen die Perspektive der christlichen Frömmigkeit nicht verlässt und die zeitgeschichtlichen Bezüge dadurch ihre Einschätzung und Profilierung erhalten.⁵⁰
3.2 Situativ-spezifische Zeitbezüge Die Zeitlage wird spezifisch angesprochen vornehmlich an den Tagen, die durch ihre besondere Ausrichtung eine solche Thematisierung nahe legen.
3.2.1 Bußtag Der Bußtag, ein staatlich verordneter Feiertag im Mai, lenkt den Blick auf die Situation des Einzelnen und der Gemeinschaft. Die Bewältigung der 1806/07 erlittenen Niederlage steht für Schleiermacher im Zentrum des Bußtages 1810. Anknüpfend an Koh 3,11– 13 entfaltet er die These, der Mensch solle Fröhlichkeit nur in der Arbeit finden.
KGA III/4 (s. Anm. 15), 121,18 – 36. KGA III/4, 122,22– 27. Vgl. beispielsweise KGA III/4, 656 – 657.
3 Allgemein gehaltene und situativ-spezifische Zeitbezüge
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Nicht jene Arbeit welche sich durch ein leichtes augenblikliches Schaffen vollendet, sondern solche Arbeit und Thätigkeit bei der wir Widerstand fühlen, bei der wir immer sorgen und befürchten müssen unsern Zwek nicht zu erreichen, die uns niemals einen gewissen Erfolg sichert, diese allein darf jezt der Grund unserer Fröhlichkeit sein. Wehe dem, der jezt nur auf den Erfolg und Ausgang seiner Thätigkeit sähe, nur darum arbeiten wollte, weil sei es der nächste, sei es ein fernerer Augenblik Genuß und Lohn gewährt; wehe dem der nur bei der bestimmten Aussicht thätig sein wollte etwas Unfehlbares und Bleibendes zu schaffen, denn nie ist mehr wahr gewesen als jezt der Mensch trift doch nie das Werk das Gott thut. Also ohne aufs Ende zu sehn laßt uns arbeiten als solche die nichts selbst beschließen und ausführen, sondern die als treue Arbeiter wissen und fühlen, daß nur die Weisheit des Herrn beides vermag. In diesem Sinne laßt uns arbeiten und was heißt das anders als laßt uns dahin sehen, daß unser und des künftigen Geschlechtes Gaben und Kräfte alle durch Uebung an dem was wir für recht und wahr erkennen sich befestigen gründen und erhöhen. Denn können wir es läugnen, daß wir bisher nicht so gearbeitet haben? Aber weil wir nicht so gearbeitet haben, darum sind die Züchtigungen des Herrn über uns gekommen. Wir sind es gewohnt als Christen unser Leben zu vergleichen mit einem Kampf, uns selbst mit Streitern. Das ist wahr und gut. Aber wir sollen nicht nur sehen auf die Zeit des eigentlichen Kampfes wo es Muth gilt und Hingebung und nach kurzer Tapferkeit Sieg erfolgt und Ueberwindung sondern das ganze Leben sollen wir betrachten als einen Kampf und nie ermüden zu streiten. Laßt uns nicht zurükgehalten werden durch das Gefühl daß uns nur ein kleines Maaß von Kräften zu Gebote steht, sondern wirken und schaffen jeder soviel ihm vergönnt ist, und diejenigen die uns nahe stehn und anvertraut sind anhalten und üben damit der Mensch Gottes das ganze Volk tüchtig sei zu jedem guten Werke.⁵¹
Diese gemeinsame Tätigkeit wird den göttlichen Segen erhalten.
3.2.2 Erntefest Beim Erntefest 1810 beleuchtet Schleiermacher die Sinnesarten und gesellschaftlichen Triebfedern, die nicht nur bei der bäuerlichen Nahrungsbeschaffung, sondern auch bei der Einstellung zum Staat wirksam sind und die dann stark die Erfolge menschlicher Tätigkeit fördern oder behindern. Sind Eigennutz, Habsucht, Genussliebe leitend, so sind alle bürgerlichen Bande stets durch Zwietracht bedroht, die den Schein des Wohlwollens leicht überwältigen. Das Gemeinwohl werde dann dem Eigeninteresse nachgeordnet, auch und gerade in den Tagen staatlichen Unglücks. „Aber wie anders der Geist, jener höhere himmlische Sinn, der das Geschäft des Menschen an der Erde ansieht als das Werk Gottes.“⁵² Diese Überzeugung festige auch den Gemeinsinn. Daraus entsteht dann jene Treue, welche sich selbst immer nur als Mittel betrachten läßt, das Ewige aber und Ganze als Zweck; das ist die Treue, die den Menschen festkettet an Ordnung an Vaterland und Gesetz; sie ist die wieder erbaut, wenn zerstört war; sie die nicht abläßt zu geben wo es noth thut, die auffordert zum Muth und zur Tapferkeit. So nur hängt der Mensch mit un-
KGA III/4 (s. Anm. 15), 69,10 – 40. KGA III/4, 174,33 – 34.
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Zeitgeschichtliche Bezüge in Schleiermachers Predigten 1808 – 1810
erschütterlicher Liebe an dem mütterlichen Boden; so erblickt er nicht in diesen wohlthätigen Banden die Wirkung der Begierde und Noth; sondern die Quelle alles Guten und Heiligen.⁵³
Insbesondere die Wechselwirkung von Land und Stadt, von agrarischer Produktion und kultureller Mitteilung liegt Schleiermacher am Herzen. Laßt uns gern ihnen, aus deren Hand wir zunächst irdische Gaben empfangen, mittheilen geistige Gaben, Freyheit,Wahrheit, Bruderliebe und Erleuchtung und Erweckung des Geistes. Sonst – was würden wir andres seyn als die unnützeste Last der Erde, was gegründeter als die Klage, daß die Städte nur da wären das Mark des Landes auszusaugen und in üppiger Schwelgerey zu verprassen, was der Schweiß der ländlichen Bewohner der Erde abgewonnen hat, daß sie es nicht sind von welchen Leben und Thätigkeit ausgeht. O m. Fr. es muß noch im frischen Andenken schweben, zu welcher fürchterlichen Zerrüttung aller heilsamen bürgerlichen Bande diese Klage Ursache geworden ist. Es ist unmöglich an diesem Tage andre als solche Aufforderungen ergehen zu lassen an alle, welche Theil nehmen wollen an diesem Feste; und es soll ein Fest seyn allgemeiner Freude und Vereinigung der Gemüther, und so wie wir fühlen, daß wir von jener Klasse die zeitlichen Gaben empfangen; so sollen wir geistiger Weise auf sie zurückwirken, und dadurch unsern Dank offenbaren gegen den Höchsten, daß wir sie zu ihm erheben um alle gemeinschaftlicher Seeligkeit theilhaftig zu seyn durch seine Gnade.⁵⁴
3.2.3 Jahreswechsel In den Predigten zum Jahreswechsel wird, weil auf das vergangene Jahr zurück- und auf das kommende vorausgeblickt wird, in der Regel auch die Zeitlage angesprochen. Für die hier maßgebliche Zeitspanne sind die Silvesterpredigt von 1809 und die Neujahrpredigt von 1811 erhalten. In beiden Predigten werden Kriegsereignisse und preußische Reformsituation deutlich angesprochen. Während Schleiermacher Ende 1809 die Erfahrung von Vergänglichkeit und Ewigkeit scharf kontrastiert, betont er zum Jahreswechsel 1810/11 angesichts der stattfindenden Kriege und der erlittenen Unglücke, die so leicht Bestürzung und Verwirrung auslösen, die in Mt 24,6 – 13 von Jesus ausgesprochene Aufforderung zu besonnener Furchtlosigkeit, lebendiger Liebe und ausdauernder Beständigkeit in den Zeitläufen. Ans Ende nämlich dächten die Menschen immer dann besonders, wenn der Weltgeist mit zerstörendem Fußtritt über die Erde wandelt, wenn alles sich umzuwälzen scheint, wenn der Kampf des Guten und Bösen vorzüglich stark und heftig geführt wird. Und ein solches Ende haben wir im Sinn, wenn wir uns den Zustand der Welt klar machen. Jeder sieht und fühlt es, daß es so nicht bleiben kann; etwas von dem was bisher bestanden muß untergehn und andres entstehen, das Ende muß zugleich Anfang seyn; denn Herrlicheres wird hervorgehn aus den Trümmern und das Gute siegen über das Böse.⁵⁵
Gegen lähmende Befangenheit setzt Schleiermacher hoffnungsfrohe Tätigkeit.
KGA III/4 (s. Anm. 15), 175,4– 11. KGA III/4, 176,9 – 26. KGA III/4, 244,4– 12.
II. Ethik
Protestantisches Gewissen? Grundlinien zur Bestimmung eines schwierigen Begriffs Die folgenden Überlegungen wenden sich dem Gewissensbegriff zu,¹ das heißt sie thematisieren ein Phänomen unseres sittlichen und religiösen Lebens, das uns allen vertraut ist, das in den verschiedensten Lebenszusammenhängen erscheint und auf das hin wir in den unterschiedlichsten sozialen Bezügen in Anspruch genommen werden – bis hin zur Steuererklärung, die nach bestem Wissen und Gewissen auszufüllen wir uns verpflichten müssen. Doch nicht nur in unserer Alltäglichkeit begegnet uns Gewissen, haben wir Gewissen, verspüren wir Gewissensbisse oder fühlen Genugtuung über unser gutes Gewissen; sondern Gewissen prägt und entscheidet auch hervorragende Situationen von sowohl individueller als auch sozialer Bedeutung. Eine Bestimmung des Gewissensbegriffs will ich in drei Schritten vornehmen. Ich will mich dem Phänomen zunächst erzählend durch Schilderung beispielhafter Gewissensäußerungen, sodann beschreibend durch Erhebung von Gegenläufigkeiten und schließlich deutend durch Zuordnung zum Protestantismusbegriff nähern.
1 Einer ersten Näherung zum Gewissensphänomen dient die Vergegenwärtigung zweier Situationen, die in höchstem Maße unterschiedlich sind und gerade deshalb geeignet, die Vielgestaltigkeit des Phänomens vor Augen zu stellen. Eine grausige Situation ist dichterisch gestaltet worden auf einer Londoner Bühne des ausgehenden 16. Jahrhunderts. Der missgestaltete, überaus intelligente, witzige und zu jeder Heuchelei und Intrige geschickte Richard, Herzog von Gloucester, aus dem Hause York, ist durch Meuchelmord,Verrat und Meineid im Krieg der Rosen zum König Englands geworden. Sein ungezügelter Machtwille, den Shakespeare als pervertierte Liebessehnsucht deutet, kommt zwar durch seine allen Mit- und Gegenspielern überlegene Bosheit zum Ziel, doch verletzt er die göttliche Ordnung. Richard wird die Untaten seiner Herrschaftseroberung nicht los; diese Schatten seiner Vergangenheit begleiten ihn bis in die Träume vor der Entscheidungsschlacht, die er 1485 bei Bosworth gegen Heinrich Tudor, den Nachkommen aus dem Haus Lancaster, schlagen muss, der die Wiederherstellung von Freiheit und Gerechtigkeit auf sein Banner geschrieben hat. Die Träume führen die Opfer seiner Schurkereien erneut ins Bewusstsein. König Richard III. aus seinen Träumen auffahrend:
Der folgende Aufsatz ist die nur durch Anmerkungen ergänzte Fassung meiner öffentlichen Antrittsvorlesung als Privatdozent, die ich am 18. Februar 1987 vor der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel gehalten habe. https://doi.org/10.1515/9783110745498-009
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Protestantisches Gewissen? Grundlinien zur Bestimmung eines schwierigen Begriffs
Ein and’res Pferd! verbindet meine Wunden! – Erbarmen, Jesus! – Still, ich träumte nur. O feig’ Gewissen, wie du mich bedrängst! – Das Licht brennt blau. Ist’s nicht um Mitternacht? Mein schauerndes Gebein deckt kalter Schweiß. Was fürcht’ ich denn? mich selbst? Sonst ist hier niemand. Richard liebt Richard: das heißt, Ich bin Ich. Ist hier ein Mörder? Nein. – Ja, ich bin hier. So flieh! – Wie? vor mir selbst? Mit gutem Grund: Ich möchte rächen. Wie? mich an mir selbst? Ich liebe ja mich selbst. Wofür? für Gutes, Das je ich selbst hätt’ an mir selbst getan? O leider, nein! Vielmehr hass’ ich mich selbst, Verhaßter Taten halb, durch mich verübt. Ich bin ein Schurke – doch ich lüg’, ich bin’s nicht. Tor, rede gut von dir! – Tor, schmeichle nicht! Hat mein Gewissen doch viel tausend Zungen, Und jede Zunge bringt verschied’nes Zeugnis, Und jedes Zeugnis straft mich einen Schurken. Meineid, Meineid, im allerhöchsten Grad, Mord, grauser Mord, im fürchterlichsten Grad, Jedwede Sünd’, in jedem Grad geübt, Stürmt an die Schranken, rufend: Schuldig! schuldig! Ich muß verzweifeln. – Kein Geschöpfe liebt mich, Und sterb’ ich, wird sich keine Seel’ erbarmen; Ja, warum sollten’s andre? Find’ ich selbst In mir doch kein Erbarmen mit mir selbst.²
Sein Gewissen als Anwalt der göttlichen Ordnung verklagt Richard. Es treibt ihn in die personale Selbstentzweiung. Unüberhörbar und auch nicht durch die verachtungsvolle Ausgrenzung und versuchte Abspaltung zum Schweigen zu bringen, mahnt das Gewissen die Verstöße gegen das sittliche Sollen an, überführt ihn aller Untaten als Untaten und treibt ihn dadurch in die Verzweiflung, schlägt ihm selbst den Trieb zur Selbstliebe nieder. Das anklagende und richtende Gewissen exekutiert die personale Selbstauflösung, vollzieht die sittliche Annihilation vor der körperlichen in der Schlacht. Eine ganz andere Situation ereignete sich in Worms im Frühjahr 1521. Der Reichstag des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation hat sich erstmals um den kürzlich gewählten jungen Kaiser Karl V. aus dem Hause Habsburg versammelt. Leidiges, Aufrührerisches steht auch auf der Tagesordnung. Ein Mönch der AugustinerEremiten, Doktor der Theologie und Professor an der kürzlich gegründeten sächsischen Universität Wittenberg, liegt im Streit mit dem Heiligen Vater in Rom. Er will eine andere, eine bessere, eine gläubigere Kirche. Will er auch eine neue Gesellschaft,
William Shakespeare, The Tragedy of King Richard III, Bd. 2, Shakespeares Werke in sechs Bänden. Sonderausgabe, Tempel-Klassiker, hg.v. Levin Ludwig Schücking, Wiesbaden: Vollmer (o. J.), 98.
Protestantisches Gewissen? Grundlinien zur Bestimmung eines schwierigen Begriffs
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eine andere staatliche Ordnung? Der Heilige Vater hat schon mit dem Bann geantwortet, dem Erneuerer alle Christen- und Menschenrechte abgesprochen. Die staatliche Antwort soll nun auf dem Reichstag folgen. Karl von Hase schildert: Um den jungen Kaiser waren fast alle Fürsten des Reiches versammelt. Johann v. Eck, Kanzler des Kurfürsten von Trier, als kaiserlicher Orator fragte, ob Luther die Bücher, die auf einer Tafel lagen, als die seinen erkenne und ob er sie widerrufen wolle. Bevor Luther antwortete, sprach Hieronymus Schurf, sein rechtskundiger College: „Man lese die Titel!“ Als dies geschehn, bekannte sich Luther zu seinen Büchern. Auf die zweite Frage, ob er Alles vertheidigen oder widerrufen wolle: weil dies der Seele Seligkeit und den höchsten Schatz im Himmel und auf Erden, Gottes Wort, betrifft, bittet er Kaiserliche Majestät um Bedenkzeit. Nach einer Berathschlagung der Fürsten erklärt der Kanzler: zwar habe er genugsam Zeit gehabt, dies zu erwägen, doch Kaiserliche Majestät aus angeborner Güte gewähre ihm noch einen Tag, sich zu bedenken. […] Am folgenden Tage war es schon 6 Uhr und die Fackeln angebrannt, als er wieder eingeführt wurde. Viele meinten, er werde widerrufen und sich retten.³ Nach bedachtsamer Vertheidigung, warum er seine Schriften nicht widerrufen könne, nicht die, welche Gottes Wort aus der H. Schrift trieben, noch die, welche des Papstes gottloses Wesen bestritten, noch die, welche gegen des Papstes arge Sachwalter eiferten, war sein letztes Wort: „Es sei denn, daß ich mit Zeugnissen der H. Schrift, oder mit öffentlichen, hellen und klaren Gründen überwunden und überwiesen werde, denn ich glaube weder dem Papst, noch den Concilien allein nicht, weil am Tage liegt, daß sie oft geirrt und sich selbst widersprochen haben, und also mein Gewissen in Gottes Wort gefangen ist, so kann und will ich nichts widerrufen, weil weder sicher noch gerathen ist, etwas wider das Gewissen zu thun.“⁴
Für diese Schlusssentenz gibt es auch eine andere Lesart, die zum geflügelten Wort dieser protestantischen Urszene wurde; nämlich Luthers „‚schlichte Antwort, die weder Hörner noch Zähne hat‘ […]: ‚Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir! Amen.‘“⁵ Luther, der damals in Worms bereits eine lange Erfahrung sowohl mit seinem zerquälten als auch mit seinem getrösteten Gewissen hinter sich hatte, berief sich auf sein Gewissen als auf die Mitte seines Personseins. Im Gewissen hat die Wahrheitsbezeugung ihren Ort, in der sich kein Mensch durch irgend einen anderen Menschen vertreten lassen kann. Das Gewissen zielt hier weniger auf die sittliche Beurteilung oder Normierung einzelnen konkreten Wollens oder Handelns als vielmehr auf die religiös-fundamentale Bestätigung dessen, auf welche Wahrheit sich Luther in letzter Verbindlichkeit und Verpflichtung ansprechen und wobei er sich ohne jedes Ausweichmanöver behaften lassen will. Die personale Identität und Integrität, die durch die unausweichliche Wahrheitsbezeugung gewonnen wird, macht das Gewissen dann zu der Instanz, die Papst und Kaiser standhält, ihnen um der eigenen Personalität
Karl August von Hase, Kirchengeschichte. Lehrbuch zunächst für akademische Vorlesungen, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 111886, 62. Karl August von Hase, Kirchengeschichte auf der Grundlage akademischer Vorlesungen, Bd. 3, Gesammelte Werke, hg.v. Gustav Krüger, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1891, 376. Von Hase, Kirchengeschichte, 63 – 64.
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willen trotzt, weil sich Luther in seinem Glauben des verpflichtenden Zuspruchs Gottes gewiss ist. Diese beiden so unterschiedlichen Situationen mit ihren klassischen Formulierungen der jeweilig eindeutigen Gewissenserfahrung erhellen schlaglichtartig die enorme inhaltliche und funktionale Weite des zu begreifenden Phänomens. Das Gewissen ist die konkretisierende Aneignung und Umsetzung sittlicher Grundsätze im einzelnen Wollen und Handeln und die nachgängige Überprüfung solcher Einzelakte am Ideal. Als Aneignung der sittlich-religiösen Wahrheit kann es dann auch für die Mitte der Person stehen. Mein Gewissen prüft nicht meine Gesinnung selbst. Ich bekomme nicht Gewissensbisse, wenn und weil ich eine unsittliche Gesinnung habe, wenn und weil ich mir unsittliche Grundsätze gegeben habe. Wohl aber meldet sich mein schlechtes Gewissen, wenn meine Handlungen und die konkreten Verhaltensregeln nicht meinen Grundsätzen, meiner Gesinnung entsprechen. Weil aber das Gewissen Wahrheit aneignet und veranlassend darüber wacht, dass ich diese Wahrheit angemessen zur Darstellung bringe, deshalb bildet sich in und mit dem Gewissen meine sittlich-religiöse Wirklichkeit aus. Das Gewissen gibt einer Erkenntnis, Haltung oder Einstellung sittliche Verbindlichkeit. Es stellt den sittlichen Wert oder Unwert fest. Was zunächst im Status der Erwägung war, tritt nun in den Status der Zurechenbarkeit, das heißt mit der Berufung auf das Gewissen binde ich meine sittlichreligiöse Existenz, mein Personsein an bestimmtes Verhalten, an bestimmte sittliche Interaktionen. Im Wort „Gewissen“⁶, das vermutlich um die Jahrtausendwende von dem St. Gallener Mönch Notker Labeo, auch genannt Teutonicus, zur Eindeutschung des griechischen Wortes συνείδησις bzw. des lateinischen conscientia (in einem Kommentar zu Ps 68,20) in Anlehnung an diese gebildet wurde, hat sich noch ein Reflex vom Übergang des Schandenbewusstseins zum Schuldbewusstsein erhalten:⁷ Ohne Gewissen keine Schuld. Solange sittliche Verfehlungen nur als Verfehlungen gegen die Regeln der Gruppe eingeschätzt und sanktioniert wurden, gab es nur Schande, das heißt nur öffentliche Ächtung des Fehlverhaltens und des Übeltäters durch die Gruppe. Dieses vorpersonale Verhalten war noch nicht das je Eigne. Es war allein gruppengesteuert. Wurde ein Fehlverhalten nicht öffentlich bekannt, hatte es keine Mitwisser, so löste die Regelverletzung weder subjektives Unrechtsbewusstsein noch soziale Sanktionen aus. Erst wenn Mitwisser Öffentlichkeit herstellten, wurde das Fehlverhalten als Schande gestraft. Im Gewissen dagegen wird Wollen und Handeln als je eigenes erkannt, akzeptiert und verantwortet. Gewissen ist συνείδησις ἑαυτοῦ, es fordert und fördert Bewusstheit
Zur Wortgeschichte vgl. Jacob Grimm / Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 6, München: dtv, 1984, 6219 – 6287. Vgl. Henry Chadwick, Betrachtungen über das Gewissen in der griechischen, jüdischen und christlichen Tradition, Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge G 197, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1974, 9; sowie Henry Chadwick, „Gewissen,“ Reallexikon für Antike und Christentum 10 (1978): 1025 – 1107, hier 1027– 1028.
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meiner selbst, es schafft Personalität durch Selbstidentifizierung mit Verhaltensnormen, mit Handlungen und mit Handlungsfolgen. Gewissen entsteht durch Internalisierung von Verhaltensregeln, durch ideale Ordnung der Sollenssphäre und Akzeptanz der Fremderwartung als Selbsterwartung. Im Gewissen definiere ich meine sittliche Person. Ich erkläre vor mir selbst, worauf ich mich selbst festlege und mich von anderen behaften lassen will. Es reicht nun, da Gewissen potentielle Schuldübernahme, da es mögliches Schuldbewusstsein impliziert, für das Auslösen sittlichen Unwohlseins aus, dass ich allein der Mitwisser meiner Taten bin. Die Beurteilung meines Tuns erfolgt nicht durch andere, sondern durch mich. Ich weiß mich als gut oder böse, auch wenn die Mitmenschen gar keine Anhaltspunkte für ein entsprechendes Urteil im intersubjektiven Verhalten haben. Das Gewissen verknüpft die Handlung mit der Gesinnung und rechnet die Handlung der Person zu. So bietet es in der Rückschau Kontrolle, in der Vorschau Normierung und in der Gesamtschau personale Selbstvergewisserung.
2 Soll die Wirksamkeit des Gewissens über die beiden klassischen Situationen hinausgehend genauer beschrieben werden,⁸ so fallen erstaunliche Gegenläufigkeiten ins Auge. Die erste Gegenläufigkeit ergibt sich bei Beobachtungen unter der Leitfrage: wer redet da eigentlich, wenn das Gewissen redet? Wer ist das Subjekt? Es ist die Gegenläufigkeit von Individualität und Sozialität. Einerseits begegnet das Gewissen als wesentliche Individualisierungsinstanz, die uneinholbar, unangreifbar und unbestreitbar das je mir Eigene formuliert. Doch steckt hier eine große Gefährdung. Das Gewissen kann zur Absicherung der Privatheit verkommen. Es kann so ins Feld geführt werden, wie in manchen kontroversen Gesprächen das „ich glaube“ oder „ich meine“: Indem die Äußerung so eingeklammert und ausgewiesen wird als nur subjektiv, indem sie beschränkt wird auf private Gültigkeit, die aber doch dem anderen zugemutet wird, wird die Reduktion des Aussageanspruchs benutzt zur Abpolsterung gegen drohende Kritik. Der Auseinandersetzung wird die rationale Verbindlichkeit des Diskurses genommen. Das Gewissenhaben wird dann in sittlichen Erwägungen so angeführt wie das Meinen in theoretischen Erörterungen. Andererseits begegnet das Gewissen als Agent der Sozialität. Wird nämlich auf die Inhalte vieler Gewissensentscheidungen geblickt, so erweisen sich diese sehr häufig als Reflexe der Werte und Verhaltensnormen, die in einer bestimmten gesellschaftlichen Formation in Geltung sind. Insofern erinnert das Gewissen oft ans Trojanische Pferd. Es tritt unabweisbar und unbestreitbar auf als eine individuelle Äußerung, es ist aktual betrachtet nur dem Die kaum überschaubare Literaturfülle zur Begriffsgeschichte und zur Phänomenologie des Gewissens erschließen Hans Reimer, „Gewissen,“ Historisches Wörterbuch der Philosophie 3 (1974): 574– 592, sowie Jürgen Blühdorn, „Gewissen I. Philosophisch,“ Theologische Realenzyklopädie 13 (1984): 192– 213.
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je einzelnen zu eigen, doch die Ideale und Leitbilder, an denen es orientiert ist, gehören der Sozialität an, es ist also inhaltlich betrachtet stark der sozialen Umgebung verpflichtet. Eine zweite Gegenläufigkeit stellt sich ein mit der Frage: was sagt uns unser Gewissen? Sie betrifft die Wandelbarkeit und Entwicklungsfähigkeit des Gewissens. Einerseits ist die Wirksamkeit punktuell, ohne zeitliche Tiefe. Die Gewissensstimme, auch wenn sie längst vergangene Handlungen betrifft, hat jeweils aktuale sittliche Evidenz, orientiert sich allein an dem, was gerade jetzt für mich letzte Verbindlichkeit hat. Hieraus ergibt sich das Merkmal situativer Gebundenheit und zugleich eine Negation aller Perfektibilität. Wer sich in einer konkreten Situation auf sein Gewissen beruft, will dadurch gerade Unsicherheit und Halbheit ausschließen, vielmehr sich bei der völligen Affirmation eines bestimmten Verhaltens behaften lassen. Und deshalb irrt das Gewissen nicht. Die Lehre vom irrenden Gewissen unterstellt die vermeintliche Objektivität eines inhaltlich vollständig durchbestimmten Ideals, die die Soll-Sphäre unter der Hand in eine Ist-Sphäre verwandelt und die konstitutive Bedeutung der Freiheit für alle Sittlichkeit tendenziell eliminiert. Andererseits zeigt eine historische, das heißt im Nachhinein von außen vorgenommene Betrachtung eine erstaunliche Flexibilität und Entwicklungsfähigkeit des Gewissens. Das gilt sowohl in Bezug auf die individuelle Biographie, wo analoge Situationen oder Verhaltensweisen in unterschiedlichen Lebensaltern und bei unterschiedlicher Erfahrungssättigung zu durchaus verschiedenen, ja konträren Gewissensentscheidungen führen können. Das gilt aber auch sozial und dann vermittelst der gesellschaftlichen Normen für die Gewissensentscheidungen der an diesem sozialen Wandel beteiligten Personen. Aus dieser Entwicklungsfähigkeit resultiert die große Bedeutung einer Schärfung, einer Erziehung des Gewissens. Hier haben die pädagogischen Bemühungen ihren Ort. Das Gewissen hat teil an der Entwicklung der Persönlichkeit, ist selbst integrierender Indikator dieser Entwicklung. Diese Bildbarkeit macht das Gewissen selbst zur sittlichen Aufgabe. Eine dritte Gegenläufigkeit betrifft die Gründung und den Aufbau, den Ursprung des Gewissens, wenn die Frage leitend ist: woher kommt das Gewissen? Einerseits ist im Akt des Gewissensrufs ein Bewusstsein seiner Genese rein abgeschnitten. Er hat Unmittelbarkeit. Er wurde immer wieder als die Stimme Gottes erfahren und erklärt. Diese Erklärung trifft neuerdings allerdings gerade in Theologenkreisen auf entschiedenen Widerspruch. In dieser aktualen Unmittelbarkeit herrscht Irrationalität. Das Gewissen als sittlich urteilendes Bewusstsein, das attributiv nach seinem Inhalt qualifiziert wird, anders: bei dem die Qualität des Inhalts auf das Bewusstsein übertragen wird (gutes oder schlechtes Gewissen), ist in seiner Urteilsfindung opak. Der Ruf ertönt, wir wissen nicht warum, nicht wann, nicht wodurch veranlasst. Gerade diese Undurchsichtigkeit des Gewissens öffnet der wissenschaftlichen Forschung ein weites Feld, fordert zu allen möglichen Deutungen und Erklärungen heraus. Hier tummeln sich Psychologen, Soziologen, Philosophen, Theologen, Pädagogen,
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Rechtswissenschaftler, die Analytiker jeder Couleur.⁹ Andererseits ist das Gewissen als sittliches Urteilsvermögen, das häufig von starken Gefühlsaufwallungen begleitet ist (Gewissensbisse schmerzen), sowohl einer argumentativen Rekonstruktion seines Rufs im Nachhinein als auch einer rationalen Differenzierung und Umorientierung im Voraus fähig. Gerade indem das sittliche Ideal und die sittlichen Grundsätze eines Menschen einer rationalen Überprüfung unterworfen werden und durch diese Kritik geläutert werden können, kann auch der Ruf des Gewissens präformiert werden. Die Änderung der Grundsätze führt eine Änderung der Ansprechbarkeit des Gewissens herbei. Aber nicht nur das! Denn indem das Gewissen gerade Grundsätze und Situation durch ein Regelsystem miteinander vermitteln soll, ist das Gewissen sowohl durch eine genauere Erfassung der Situation als auch durch eine Differenzierung des Regelwerks der Umbildung und Ausbildung fähig. Während der Gewissensakt opak bleibt, ist die Kompetenz des Gewissens durch rationale Kritik erhellbar. Eine vierte Gegenläufigkeit lässt sich bei der Funktion des Gewissens beobachten, und zwar in Korrelation zur Zeitstufe. Hier leitet die Frage: wie „arbeitet“ das Gewissen? Einerseits erfolgt die Urteilsbildung des Gewissens rückschauend, das heißt es begutachtet vergangenes Handeln oder Unterlassen. In diesem Fall nimmt das Gewissen hauptsächlich eine Überprüfung des vergangenen Verhaltens an den maßgeblichen Grundsätzen und den sich daraus ergebenden Forderungen vor. Diese Überprüfungsfunktion steht im Vordergrund bei allen Gewissensprägungen, die durch starre gesetzliche Fixierung des Sollensideals charakterisiert sind. Ein autoritär orientiertes Gewissen muss sich laufend der Wirklichkeit versichern, ist dauernd mit Vergangenheitsbewältigung beschäftigt und plagt sich reagierend mit dem sittlichen Mangel der Wirklichkeit ab. Andererseits erfolgt die Urteilsbildung des Gewissens vorausschauend. Hier wird das Verhalten in künftigen, absehbaren oder fiktiven Situationen beurteilt. Und das geschieht so, dass auch die Angemessenheit des bisher üblichen und gebilligten Verhaltens bedacht wird. Diese Normierungsfunktion des Gewissens steht im Vordergrund bei Gewissensprägungen, die durch die Offenheit des sittlichen Prozesses und den verantwortlichen Wandel des Regelsystems charakterisiert sind. Ein solches autonomes Gewissen will den durch die dauernde Freiheitsrealisierung ausgelösten Wandel der sittlichen Welt bewältigen, indem die eigenen Regeln dem jeweiligen Sittlichkeitsstand anverwandelt werden. Dasselbe Ideal provoziert angesichts unterschiedlicher Realisierungsstufen unterschiedliches Verhalten.
Vgl. Klaus Kürzdörfer, Pädagogik des Gewissens. Geschichtlich-systematische Analysen zu seiner Interdisziplinaritätsproblematik, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 1982. In die Forschungslage der vergangenen Jahre führen die Sammelbände von Nikolaus Petrilowitsch, Hg., Das Gewissen als Problem, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1966, Jürgen Blühdorn, Hg., Das Gewissen in der Diskussion, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1976, sowie Ev. Kirchenamt für die Bundeswehr, Hg., Gewissen im Dialog, Gütersloh: G. Mohn, 1980, ein.
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3 In meinem dritten Überlegungsgang will ich den Gewissensbegriff aus einem besonderen Blickwinkel deuten. Die so überaus reich dokumentierbare Begriffsgeschichte ist im Detail für eine Deutungsbemühung wenig ertragreich. Der im Thema genannte Begriff „Protestantisches Gewissen“ ist trotz (vor hundert Jahren hätte man gesagt: ist wegen) des Fragezeichens doch wohl befremdlich. Kann damit mehr als eine historische Reminiszenz gemeint sein, mehr als ein Verweis auf die protestantische Ursituation des Mönchs aus Wittenberg vor Kaiser und Papst? Will dieser Begriff allenfalls Ressentiments mobilisieren? Hat dieser Begriff mehr als nur Erinnerungswert an eine einschneidende Situation der abendländischen Christentumsgeschichte? Oder gehört er vielleicht doch zu den programmatischen Begriffen, ohne die der Protestantismus als religiöse und kulturell-soziale Formation nicht begriffen werden kann, sich selbst nicht begreifen kann? Kann der Protestantismus vielleicht nur um den Preis der Selbstaufgabe auf die konzeptionelle Inanspruchnahme bestimmter Ausprägungen des Gewissensphänomens verzichten? Die Antwort auf diese Frage nach der programmatischen Bedeutung erfordert zunächst einige historische Rückblicke und Vergegenwärtigungen.¹⁰ Die Reformatoren wurden in ihrer eigenen Ausbildung als Theologen mit den differenzierten Ausarbeitungen bekannt, die in der mittelalterlichen Scholastik die Gewissenslehre zu einem Zentralstück der Anthropologie gemacht hatten. Schöpfung und Fall, das ursprüngliche Heilsein und die jetzige sündige Gebrochenheit der menschlichen Natur schlugen sich in der scholastischen Unterscheidung von συντήρησις (meist verstümmelt zu synderesis) und συνείδησις nieder. Die von Augustin herkommende Bedeutsamkeit der Gewissenslehre führte allerdings innerhalb der Scholastik zu scharfen Streitigkeiten um die richtigen Distinktionen und Zuordnungen. Die scholastische Gewissenslehre hatte ihren Sitz im Leben in einer streng kasuistischen Beicht- und Bußpraxis der Kirche. Dadurch wurde das autoritär an den kirchlichen Verhaltensnormen fixierte Gewissen vornehmlich als Kontrollorgan zur internalisierten Selbstüberwachung in Anspruch genommen. Sowohl diese Lehrtradition als auch die dazugehörige Beicht- und Bußpraxis kannten die Reformatoren. Wie zumeist, so auch bei ihnen, war die Lebenspraxis wichtiger als die Lehre. Nicht die Lehre, sondern das Leben ist das treibende Motiv der Reformation. Dass Luther sein anklagendes und verurteilendes Gewissen nicht zum Schweigen bringen konnte, dass er von ihm in die Verzweiflung getrieben wurde, das machte ihn für die befreiende Wahrheit der Rechtfertigung allein aus Glauben empfänglich. So hatte diese Gewissenserfahrung herausragend heuristische Bedeutung für die Rechtfertigungserfahrung. Dass Luther dem Leidensdruck des kasuistisch auf
Die einschlägige Literatur geben Michael Wolter / Friedhelm Krüger / Adam Weyer / Hans-Günter Heimbrock, „Gewissen. II.–V.,“ Theologische Realenzyklopädie 13 (1984): 213 – 241, an die Hand. Für die neuere theologische Debatte sind insbesondere die Beiträge von Gerhard Ebeling zu beachten.
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Werkgerechtigkeit zielenden Gewissens beinahe erlag, führte sein Leben nicht nur in Krise und Befreiung, sondern bahnte auf der Ebene der Lehre dann auch den Weg zur antikasuistischen und transmoralischen Fassung des Gewissensbegriffs. Deshalb hat die Gewissenserfahrung nicht nur für das Zustandekommen, das Werden der Reformation grundlegende Bedeutung, sondern auch für ihre Durchführung und ihre argumentative Verteidigung gegenüber den römischen Altgläubigen. Die entscheidende Erfahrung vom geknechteten und befreiten Gewissen hat für Luther Folgen bis hin zum Vorrang des Gewissens gegenüber widerstreitenden staatlichen und kirchlichen Satzungen. Und diese Haltung Luthers hat sich dem Protestantismus eingeprägt,¹¹ daran konnte auch die erneute Ausbildung einer auf Gewissensharmonie zielenden Kasuistik in der altlutherischen Orthodoxie und im Pietismus nichts ändern.¹² Die reformatorische Berufung auf das Gewissen ist in manchem der paulinischen Argumentation mit der συνείδησις vergleichbar. Jesus verwendete den Gewissensbegriff nicht. Erst Paulus nahm ihn aus der hellenistischen Popularphilosophie in die theologische Reflexion auf. Dabei ließ er die christliche Freiheit sich den Gewissensbegriff anverwandeln. Nicht mehr die Kontrollfunktion, sondern die Normierungsfunktion trat für und mit Paulus erstmals in den Vordergrund. Er nutzte den Gewissensbegriff, um die von ihm intendierte Universalisierung des christlichen Glaubens abzustützen. Nicht mehr die Bindung an das jüdische Zeremonialgesetz ermögliche exklusiv die Gottesbeziehung, sondern durch das Gewissen stünden alle Menschen, auch die Heiden, in der Gottesbeziehung und könnten sich nicht den Ansprüchen Gottes entziehen, brauchten aber auch nicht umgekehrt erst mittels des mosaischen Gesetzes in Beziehung zu Gott gebracht zu werden. An Röm 2,15 hat sich höchst folgenreich die katholische Naturrechtslehre angeschlossen. Danach wurde das Gewissen zum Organ der Überwachung und Kontrolle, ob die im Naturrecht gegebene universale Verlautbarung des göttlichen Willens auch von den Menschen erfüllt werde. Das hier von Paulus gegen die Juden und für die Universalität der Rechtfertigungsbedürftigkeit genutzte Argument wurde schon in der patristischen Theologie dieses Kontextes und dieser Intention entkleidet und zu einer Objektivierung der göttlichen Forderung umgewandelt, auf die als Autorität dann das kontrollierende Gewissen fixiert war. Damit fielen die paulinischen Aussagen im 1. Korin-
Philipp Melanchthon gab bei aller Übereinstimmung mit Luther (vgl. Confessio Augustana 20) doch der Thomistischen Lehre vom syllogismus practicus wieder Raum, dass συντήρησις (habitus) und conscientia (actus) in der Gewissenserfahrung zu unterscheiden sind. Vgl. Philip Melanchthon, Opera Quae Supersunt Omnia, Corpus Reformatorum 13, hg.v. Karl Gottlieb Bretschneider, Halle: Schwetschke, 1846, 147. Vgl. z. B. Friedrich Balduin, Tractatus luculentus posthumus de casibus conscientiae, Wittenberg: Fincelius, 1628; Jacob Stolterfoht, Conscientia in genere, das ist Gründlicher Bericht Vom Gewissen, Lübeck: Volken, 1654; Johann Conrad Dannhauer, Liber conscientiae apertus sive theologia conscientiaria, 2 Bde, Straßburg: Spoor, 1662/67; Philipp Jacob Spener, Theologische Bedencken und andere Brieffliche Antworten, 4 Bde, Halle: Waisenhaus, 1700/02.
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therbrief von der Freiheit des Gewissens, die aus der Freiheit des Glaubens herrührt und diese sittlich konkretisiert und aneignet, dem Vergessen anheim. Die Reformatoren brachten die normierende Funktion des Gewissens wieder zutage und formulierten die transmoralische neu. Diese Eigenart des protestantischen Gewissens wird auch von Calvin bezeugt: es kommt bei ihm im Zusammenhang der Ekklesiologie¹³ sowie der Rechtfertigungslehre¹⁴ vor. Es wird verstanden als Organ, in dem das sittliche Leben auf Gott bezogen wird, in dem die Werke be- und verurteilt werden, in dem sich das Rechtsverhältnis Gottes zum Menschen artikuliert. Der Protestantismus wurde in der Nachfolge Luthers geprägt von der Gewissenhaftigkeit, das heißt gemäß 1Kor 10,29 von der verpflichtenden Bindung der persönlichen und sozialen Lebensgestaltung an das je eigene Gewissen, das sich in der Offenheit der sittlichen Situation des Zuspruchs und Auftrags Gottes gewiss ist. Diese Treue gegen das eigene Gewissen war zugleich Freiheit gegen das Urteil fremden Gewissens, allerdings so, dass es sich im Konfliktfall behaupten muss, ohne sich bei fremden Instanzen rückversichern zu können. Die Reformation eröffnete politisch die Forderung der Gewissensfreiheit, die nach den fürchterlichen Schrecken der Konfessionskriege in der Aufklärung schließlich rechtlich verankert wurde. Die Aufklärung brachte einen tiefgreifenden Wandel der Argumentationslage. Für den Altprotestantismus war die religiöse Verankerung des Gewissens und seine inhaltliche Bindung an das geoffenbarte Gesetz selbstverständlich. Gegen beides wendete sich die Aufklärung. Mit der Kritik an der Positivität und Partikularität der Offenbarung, die als geschichtliche Besonderheit dem allgemeinen Natürlichen nachgeordnet wurde (Deismus), wurde auch einem offenbarungstheologischen Gewissensverständnis der Boden entzogen. Die von Paulus beanspruchte Universalität der notitia Dei naturalis wurde nun gegen eine exklusiv christliche Interpretation ins Feld geführt. Ein aus seinem Kontext gelöstes theologisches Argument wurde gegen die theologische Tradition gewandt. Die von der Aufklärung in den Vordergrund gerückte Emotionalität des Gewissens untermauerte die Enttheologisierung der Sittlichkeit. Die Kritik der Aufklärung führte nicht zur Eliminierung des Gewissensbegriffs, sondern die Neuinterpretation durch den Deutschen Idealismus und den Neuprotestantismus des 19. Jahrhunderts brachte ihn wieder zu besonderer Hochschätzung. Er erfuhr dabei eine extreme Formalisierung hinsichtlich seiner inhaltlichen Bindungen und eine Personalisierung seines Geltungsanspruchs. In dieser Reformulierung artikuliert sich die neuzeitliche Tendenz zur Individualisierung des Lebens, die Tendenz zur Autonomie des menschlichen Wollens und Handelns und die Tendenz zur vernünftigen Allgemeinheit der Sittlichkeit. Der Neuprotestantismus hat die Gewissenslehre in diesen drei Richtungen entfaltet. Das Gewissensphänomen erlaubte Vgl. Jean Calvin, Institutio Christianae religionis 1559 librum IV, Bd. 5, Opera selecta, hg.v. Peter Barth / Wilhelm Niesel, München: Chr. Kaiser, 21962, 164– 168. Vgl. Jean Calvin, Institutio Christianae religionis 1559 librum III, Bd. 4, Opera selecta, hg.v. Peter Barth / Wilhelm Niesel, München: Chr. Kaiser, 31968, 293 – 296.
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ihm, in exemplarischer Weise die Modernität des neuzeitlichen Lebens aufzunehmen. Es bot sich als Medium zur Erörterung des Verhältnisses von Sittlichkeit und Frömmigkeit an. Die Schärfung der Gewissen konnte lange Zeit als Hauptziel der Predigt genannt werden. Schärfung der Gewissen meint verantwortliche Gestaltung der sittlich-religiösen Erfahrungen und Entscheidungen im Lebensprozess des Einzelnen und der von ihm mitgestalteten Sozialität. In die Krise des Protestantismus im 20. Jahrhundert wurde das so geprägte Gewissen hineingezogen, wurde geradezu ihr Indikator. Die fromme Subjektivität, die sich im Gewissen ihrer Selbständigkeit und ihrer Gottesbezogenheit gewiss war, verlor das Vertrauen in sich selbst. Soziale Stabilisierung durch Stärkung der Institutionen sowie theologische Radikalisierung des Offenbarungskonzepts, der auch der religiöse Gewissensbegriff zum Opfer fiel, schienen die probaten Mittel, dem Verfall zu wehren. Die heutzutage zu beobachtenden Rekatholisierungsbemühungen von kirchenleitenden Gruppen, die sich besonders um eine Aufwertung des Amtes bemühen, sprechen das Misstrauen in die Überlebenschancen und die Prägekraft des Protestantismus ziemlich, leider nicht ganz offen, aus. Der kurze historische Rückblick liefert genug Hinweise, die Frage nach der programmatischen Bedeutung des Gewissensbegriffs für protestantische Frömmigkeit zu beantworten. Eine durch den Rechtfertigungsglauben geprägte Frömmigkeit bedarf seiner zur Selbstverständigung im Spannungsfeld von kirchlicher Sozialität und frommer Individualität. Und eine Theologie, die diese Frömmigkeit zu artikulieren und zu begreifen sucht, muss sich um den Gewissensbegriff bemühen. Sie hat dabei keinen leichten Stand. Die durch empirische und historische Forschung zutage geförderte Pluralität der Gewissensbestimmungen und die ins Amorphe gehende Vielgestaltigkeit des Gewissensphänomens legt eine Verwirklichung der Forderung Richard Rothes nahe, im wissenschaftlichen Gebrauch auf den Gewissensbegriff zu verzichten.¹⁵ Aus programmatischen Gründen ist aber der Gewissensbegriff in zweierlei Hinsicht unverzichtbar. Erstens bedarf der Individualität erschließende und begründende Rechtfertigungsglaube einer Vermittlung zur Sittlichkeit. Denn – in Abwandlung des Kantischen Satzes – Frömmigkeit ohne Sittlichkeit ist leer, Sittlichkeit ohne Frömmigkeit ist blind. Der starke sittliche Impuls, den der Rechtfertigungsglaube freisetzt, kann nur in einem entsprechend geschärften Gewissen fruchtbar gemacht werden. Zweitens ist die Gefährdung des kontrollierenden und normierenden Gewissens, in Werkgerechtigkeit zu verhärten, unübersehbar. Das im getrösteten Gewissen artikulierte Personsein aus der Rechtfertigung kann die Offenheit des Lebens freudig annehmen, weil unser gesamtes Sichabmühen mit den Widernissen und Mängeln der Wirklichkeit, unser sittlich-religiöses Streben nach dem Reiche Gottes getragen ist von der göttlichen Liebe, die in uns lebt.
Vgl. Richard Rothe, Theologische Ethik. Zweiter Band, Wittenberg: Zimmermann’sche Buchhandlung, 21867, 21– 22.
Sozialethische Motive der Zwei-Reiche-Lehre und der Königsherrschaft-Christi-Lehre Unsere sittliche Erfahrung¹ ist von der Erkenntnis begleitet, dass alles menschliche Tun der Wechselwirkung von Tun und Leiden unterworfen ist. Im Leiden werden nicht nur die Handlungsgrenzen, die Abhängigkeit des Menschen von anderen Menschen und von der Natur wahrgenommen, sondern im Leiden kommt der Sachverhalt zum Bewusstsein, dass Vollendung und Vollkommenheit die Kraft des Menschen übersteigt. Das Fragmentarische menschlichen Lebens zeigt sich auch und gerade im Bereich sittlichen Tuns. Das muss nicht Anlass zur Resignation sein. Sondern diese Grunderfahrungen verweisen das Tun auf unser Glauben und Hoffen. Dadurch ist das sittliche Tun immer wieder auch auf eschatologische Erwartungen bezogen.² Dabei können Glauben und Hoffen in durchaus unterschiedlicher Weise für das Tun wirksam werden; dabei kann Freiheit durchaus unterschiedlich wahrgenommen werden. Das möchte ich exemplarisch an zwei Lehrtypen der evangelischen Sozialethik verdeutlichen.
1 Einleitung Ich beginne mit einigen grundsätzlichen Überlegungen zu Ethik und Sozialethik.
1.1 Begriff der Ethik und Sozialethik Die Ethik als wissenschaftliche Disziplin hat elementare Lebensvollzüge und deren Regeln zum Gegenstand. Der Mensch handelt; er wirkt auf seine natürliche und soziale Umwelt ein; er verändert sie, er bewahrt sie. Die Ethik bedenkt solche Tatbestände und sittlichen Sachverhalte, bei denen der Mensch einen bestimmten Gestaltungs- und Handlungsspielraum hat. Diese Offenheit des elementaren Tätigseins verlangt zunächst Beurteilungen und Anweisungen, in denen die Erfahrung aufbewahrt ist, welches Verhalten sich in bestimmten Situationen, die sich wiederholen können, bewährt hat. In moralischen Regeln und Geboten wird das richtige Verhalten vorbereitet und angewiesen. Die moralische Grundfrage ist: was soll ich tun? was ist gut? was ist angemessen? Dabei wird vorausgesetzt, dass das So-Sein der Wirklichkeit, die mir begegnet, nicht schon völlig bestimmt ist, sondern Konstellationen enthält, auf die ich gestaltend antworten muss. Nun können sich Menschen in bestimmten Leicht veränderte Fassung eines Vortrages, den ich am 25. April 1991 an der Universität der Bundeswehr Hamburg gehalten habe. Vgl. Christian Walther, Eschatologie als Theorie der Freiheit. Einführung in neuzeitliche Gestalten eschatologischen Denkens, Theologische Bibliothek Töpelmann 48, Berlin: De Gruyter, 1991. https://doi.org/10.1515/9783110745498-010
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Sozialethische Motive der Zwei-Reiche-Lehre und der Königsherrschaft-Christi-Lehre
Situationen durchaus verschieden verhalten; moralische Regeln können kollidieren. Hier hat die Ethik ihren Ort. Sie analysiert die moralischen Regeln, deren Bezug zur Wirklichkeit, deren Implikationen für zukünftiges Verhalten, deren Verträglichkeit untereinander. Die Ethik ist nicht unmittelbar tatbezogen, sie ermittelt die Prinzipien guten sittlichen Tuns. Die Sozialethik hat diejenigen Tatbestände und sittlichen Sachverhalte zum Gegenstand, in denen der Mensch Gemeinschaftswesen ist. Wie sollen wir Gemeinschaft gestalten? was sollen wir gemeinschaftlich tun?, ist die sozialethische Grundfrage. Menschliches Tun bezieht sich bestätigend oder verändernd, erhaltend oder verwandelnd auf den jeweiligen Gesellschaftszustand. Für einen Menschen, der allein auf einem Südsee-Atoll lebt, ist eine Sozialethik ein sinnloses Unterfangen. Erst dadurch, dass der Mensch in Gesellschaft lebt, gibt es soziale Konfliktsituationen, gibt es die unabweisbare Aufgabe, diese Gesellschaft zu gestalten, gilt es die Fragen zu bedenken, wie und wodurch diese Gesellschaft ihre Mitglieder und deren natürlich-soziale Umwelt fördern oder beeinträchtigen kann. Spätestens im Bereich der Sozialethik wird offenkundig, dass die ethische Reflexion selbst ein sittlicher Sachverhalt ist und auf das sittliche Verhalten Einfluss hat. Gerade angesichts der zurückgehenden Bindekraft eingeübter Verhaltensweisen ist der Bedarf an ethischer Verständigung deutlich gestiegen.
1.2 Evangelische Sozialethik Evangelische Sozialethik steht grundsätzlich und immer wieder neu vor der Aufgabe, die für evangelische Frömmigkeit und Theologie grundlegenden Überzeugungen und Einsichten in Beziehung zu setzen zur sozialen Wirklichkeit und ihren Gestaltungsanforderungen. Sie geht vom Primat des Rechtfertigungsgeschehens aus, durch das Gott dem Menschen seine Liebe erweist. Die Rechtfertigung durch den Glauben befreit den Christen vom Zwang zur Selbsterlösung, gibt Freiheit von der Eigensucht und dem Selbstwiderspruch, schenkt ein neues Lebenszentrum. Dieser Rechtfertigungsglaube hat Folgen für die Lebensgestaltung. Er ist ja nicht vorrangig intellektuell, sondern zeigt sich in dem von der Liebe Gottes bestimmten Lebensgefühl. Er will die neugewordene Gemeinschaft mit Gott auch im Verhalten zu den anderen Menschen darstellen. Die Grundfrage evangelischer Sozialethik ist deshalb: wie sollen wir als Christen auf die politisch-staatliche Verfasstheit und die gesellschaftlichen Zustände so einwirken, dass hier unser Glaube an die Rechtfertigung des Sünders vor Gott zum Zuge kommt? Die evangelische Sozialethik muss einerseits eine wechselnde, aber je bestimmte kulturelle, staatliche, gesellschaftliche Lage wahrnehmen und darauf eingehen. Sie ist andererseits in die evangelische Theologie eingebunden, hat an deren Leitbegriffen und Überzeugungen Anteil. Soll über Grundtypen evangelischer Sozialethik geredet werden, so muss auch über Theologie geredet werden, denn mit den theologischen
1 Einleitung
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Leitgedanken fallen auch Entscheidungen für die Beurteilung konkreter sozialethischer Fragen. Mit dem Untergang des wilhelminischen Kaiserreiches 1918, mit der Gründung der ersten deutschen Republik in Weimar endete in Deutschland das Staatskirchentum. Dies war ein tiefgreifender Einschnitt für die sozialethische Orientierung der evangelischen Theologie. Der Rahmen für kirchliches Handeln und theologische Besinnung waren nicht mehr vorrangig durch den Staat gesetzt. Die Aufgabenzuweisung und die gesellschaftliche Definition der Kirche wurden nicht mehr vorrangig vom Staat vollzogen. Die Kirche musste nun selbst ihre gesellschaftliche Position formulieren. Die evangelische Sozialethik steht immer wieder vor der Alternative, in der Darstellung des Rechtfertigungsglaubens sich der vorfindlichen sozialen Wirklichkeit entweder anzupassen oder sich strikt von ihr zu scheiden, diese Wirklichkeit entweder für gut zu nehmen oder sie zu verteufeln, sie hinzunehmen oder sie völlig umgestalten zu wollen. Dies möchte ich exemplarisch ausführen an der kontroversen Diskussion zwischen der Zwei-Reiche-Lehre und der Königsherrschaft-Christi-Lehre. In diesen beiden Leitgedanken wurden in besonderer Weise sozialethische Reflexion und zeitgeschichtliche Zustandsbestimmung zusammengebunden.
1.3 Zwei-Reiche-Lehre gegen Königsherrschaft-Christi-Lehre Entgegen dem Augenschein sind beide sozialethischen Konzepte Kinder des 20. Jahrhunderts.³ Sie sind also vergleichsweise jung. Beide nehmen allerdings ganz alte Motive der Theologie und der religiösen Vorstellungswelt auf. Der totalitäre Anspruch des Nazi-Staates machte es für Kirche und Theologie zwingend, Position zu beziehen und diesen Anspruch zu beurteilen. Die Zwei-Reiche-Lehre und die KönigsherrschaftChristi-Lehre wehrten auf unterschiedliche Weise diesen Anspruch ab. Nach der Katastrophe von 1945 musste diese Katastrophe erklärt und bewertet werden. Neben die Beurteilungen, Schuldzuweisungen und Schuldbekenntnisse traten die Fragen der neuen politischen Verfasstheit Deutschlands, die Legitimität der öffentlichen Ordnung und die Stellung der Kirche und ihrer Botschaft in der staatlich-gesellschaftlichen Entwicklung. Hier musste die Sozialethik Antworten geben. Diese Antworten folgten den Leitgedanken der Zwei-Reiche-Lehre und der Königsherrschaft-ChristiLehre. Beiden Leitgedanken wohnt eine politische Signalwirkung inne. Zwei-ReicheLehre und Königsherrschaft-Christi-Lehre waren und sind bisweilen auch noch Programmformeln kontroverser politischer Gesinnung. Das Luthertum, seine Zwei-Rei-
Vgl. Hans-Walter Schütte, „Zwei-Reiche-Lehre und Königsherrschaft Christi,“ in Handbuch der christlichen Ethik, hg.v. A. Hertz / W. Korff / T. Rendtorff / H. Ringeling, 2 Bde, Freiburg: Herder / Gütersloh: G. Mohn, 1978, Bd. 1, 339 – 353.
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Sozialethische Motive der Zwei-Reiche-Lehre und der Königsherrschaft-Christi-Lehre
che-Lehre wurde als maßgeblich für das Zustandekommen obrigkeitsstaatlicher Gesinnung gewertet.Verkürzt lautete die These: Erst durch Luther konnte es Hitler geben. Die Obrigkeitsgläubigkeit wurde dem Luthertum angelastet, die demokratische Gesellschaftsgestaltung fürs Reformiertentum reklamiert. Und umgekehrt wurde der Königsherrschaft-Christi-Lehre, die in der ökumenischen Bewegung seit 1948 und im konziliaren Prozess der achtziger Jahre „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ leitend war und ist, blauäugiger Aktionismus und Theokratie bescheinigt. So wurden reformierter Veränderungswille und lutherischer Bewahrungswille gegeneinandergestellt, oder polemisch gesprochen: Weltbemächtigung und Weltverfallenheit stehen antagonistisch gegeneinander. Die Debatte ist heute ruhiger geworden, deshalb kann auch gelassener darüber geredet werden.
2 Darstellung der beiden Lehrtypen Wichtig für das Verstehen der beiden Leitgedanken ist es, die Motive und Impulse zu ermitteln, die zur Lehrbildung führten. Der Kontext für die Ausbildung beider Formeln ist das Feld des Politischen. Die tiefgreifende politische Veränderung nach 1918 führte krisenhaft zu einer totalitären Ausweitung des Politischen. Dazu mussten Theologie und Kirche Stellung nehmen. Angesichts des totalen Zugriffs auf den Menschen in den totalitären Parteiideologien wollen die beiden sozialethischen Leitgedanken der Totalität des Politischen Widerstand leisten und ein Gegenbild der menschlichen Welt zeichnen.
2.1 Die Zwei-Reiche-Lehre Die Zwei-Reiche-Lehre wurde im 20. Jahrhundert zum Kennzeichen lutherischer Theologie. Die Zwei-Reiche-Lehre wehrt den politischen Totalanspruch durch den Satz ab: Der Christ ist und bleibt Bürger zweier Reiche.
2.1.1 Ortsbestimmung Die Zwei-Reiche-Lehre wehrt den Totalitätsanspruch des Politischen ab, indem sie durch die Unterscheidung zwischen geistlichem und weltlichem Reich, zwischen Reich Gottes und Reich der Welt verhindert, dass die Einheit des Reiches als Ziel gedacht werden kann. Die Einheit Gottes legt sich in die Doppelheit der beiden Reiche aus; die Teilhabe an beiden Reichen, die Gott gewährt, ist eine Teilhabe der Unterschiedenheit. Der Christ ist und bleibt Bürger zweier Reiche. Gegenüber der alles verschlingenden Ausweitung des Politischen hatte die ZweiReiche-Lehre die Aufgabe, die Grenze des Politischen anzugeben und einen Maßstab für seine Beurteilung. In der aktuellen sozialethischen Diskussion nach dem 1. Weltkrieg fand historisierend ein Rückbezug auf die Theologie Luthers statt. Der Rückgang
2 Darstellung der beiden Lehrtypen
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auf die Theologie Martin Luthers wurde verbindliches Diskussionselement. Weil das Politische als Zentralkategorie menschlicher Wirklichkeit aufgefasst wurde, geriet die Zwei-Reiche-Lehre zum Kennzeichen der Theologie Martin Luthers.
2.1.2 Gedankengang bei Luther Luther wollte die Verquickung von Kirche und Welt, wie sie im Papsttum seiner Zeit vorlag, auflösen um der Reinheit der Kirche willen. Sein Anliegen war die Kirchenreform, nicht die Gesellschafts- oder Staatsreform. Für ihn war die politische Ethik kein akademisches Problem, sondern ein kirchenreformerisches. In seiner Schrift Von weltlicher Oberkeit (1523) unterschied Luther zwischen einem Reich Gottes zur linken Hand und einem Reich Gottes zur rechten Hand. Indem Luther dies tat, wehrte er ein dualistisches Verständnis ab. Gott ist der Herr beider Reiche. Ewiges und zeitliches Reich haben aber je eigene Merkzeichen und Ordnungen. Im Reich zur rechten Hand Gottes ist Christus Herrscher, es ist Christi Reich, in dem die Sprüche der Bergpredigt (Mt 5) gelten, in dem Wort und Sakrament zu Gnade und Sündenvergebung führen und in dem jeder Christ freiwillig und durchaus gleich alles Gute seinen Mitchristen tut. Die evangelische Botschaft von der sündenvergebenden Gnade Gottes regiert dieses Reich; das Gesetz ist in ihm nicht vonnöten. Und wenn alle welt rechte Christen, das ist, recht glewbigen weren, so were kehn furst, könig, herr, schwerd noch recht nott odder nütze. Denn wo zů sollts yhn? Die weyl sie den heyligen geyst ym hertzen haben, der sie leret unnd macht, das sie niemant unrecht thun, yderman lieben, von yderman gerne und frölich unrecht leyden, auch den todt. Wo eyttel unrecht leyden und eyttel recht thun ist, da ist keyn zanck, hadder, gericht, richter, straff, recht noch schwerdt nodt. Darumb ists unmüglich, das unter den Christen sollte welltlich schwerd und recht zů schaffen finden, Syntemal sie viel mehr thun von yhn selbs, denn alle recht unnd lere foddern mügen.⁴
Das weltliche Reich umfasst Staat, Ehe, Familie,Wirtschaft und so weiter. Dieses Reich zur linken Hand Gottes ist das Reich des Kaisers, in dem die Ordnung der Gerechtigkeit des Schwertes und der Strafe gilt, allerdings unter Berücksichtigung der Billigkeit. Hier ist Herrschaft und insofern Ungleichheit. Dass dieses weltliche Reich ohne Christus ist, meint nur, dass hier nicht die Gottesoffenbarung in Christus, sondern ein natürlich-vernünftiges Gesetz gilt, wie wir es in der goldenen Regel kennen: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“ (Mt 7,12) Die übliche moralische Richtschnur sind die Zehn Gebote. Das weltliche Reich dient dem geistlichen Reich dadurch, dass der Friede gefördert und so die Verkündigung des Evangeliums ermöglicht wird. Die Liebe soll in beiden Reichen zum Zuge kommen. Auch die Tätigkeit im weltlichen Reich, auch die treue Wahrnehmung der Berufs-
Martin Luther, Predigten und Schriften 1523, Bd. 11, Werke: Kritische Gesammtausgabe (= WA), Weimar: Böhlau, 1900, 249,36 – 250,8.
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pflichten ist Gottesdienst. Der Christ gehört in beide Reiche, so wie er zugleich Gerechter und Sünder ist. Luthers politische Ethik konnte sowohl im Sinne einer Betonung der Widerstandspflicht als auch im Sinne eines Untertanengehorsams weiterentwickelt werden. Diese gegensätzlichen Optionen waren vor dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 schon da. Luthers Rede ist voller Paradoxien; dies hielt die nachfolgende Zeit nicht aus.
2.1.3 Theologische Wurzeln Die Zwei-Reiche-Lehre formuliert die Widersprüchlichkeit des Lebensvollzug und des Gottesbezugs. Die Doppelstruktur der beiden Reiche wiederholt die Doppelstruktur von Gesetz und Evangelium, die Gottes Offenbarungswort kennzeichnet. Gesetz und Evangelium sind nicht einfach mit weltlichem Reich und geistlichem Reich identisch, sie begründen aber diese spannungsvolle Unterscheidung der beiden Reiche, in denen der Glaube sein soziales Leben begreifen lernt. Erkennen und Tun bleiben widersprüchlich. Gott ist offenbar und verborgen; der Mensch ist sündig und gerecht; Christus ist Menschensohn und Gottessohn, der Gekreuzigte und der Auferstandene. Die Einheit beider Reiche kann nicht auf den Begriff gebracht werden, auch wenn einzelne Synthesen möglich sind. Die lebensweltlichen Ordnungen und die durch sie geprägten Handlungen bleiben in der Sphäre des Endlichen, Begrenzten und Unvollendeten. Der Glaube, der seine eigene Gewissheit als durch Gottes Tun bewirkt erfährt, bleibt angefochtener Glaube und kann sich nur gebrochen in der Weltgestaltung darstellen. Die an der Zwei-Reiche-Lehre orientierte Sozialethik entfaltet Einsichten der Rechtfertigungslehre. Sie hat ihre theologische Basis im Rechtfertigungsgeschehen. Die Polarität im Leben jedes Christen wird hier sozialethisch ausgesprochen: So wie der Christ zugleich Gerechter und Sünder ist, so lebt er zugleich in der Sphäre vergänglicher Gestaltungen und ewiger göttlicher Gnadenzuwendung. Das Rechtfertigungsgeschehen ist in seinen sittlichen Konsequenzen so zu denken, dass eine menschliche Möglichkeiten überfordernde Leistung unnötig wird, weil Gott allem menschlichen Leisten voraus den Menschen als Person angenommen hat. Der Rechtfertigungsgedanke tritt zwischen sittliche Forderung und sittliches Tun in die Mitte, befreit von Überforderung und weiß das sittliche Gelingen als verdankt. Die Zwei-Reiche-Lehre artikuliert in sozialethischer Abdeckung die dialektische Erfahrung der Freiheit des Christen. Alles Tun, ob es die staatlich-gesellschaftliche Verfasstheit verändern oder erhalten will, ist doch immer im Widerspiel der beiden Reiche. Auch die Summe sittlich guten Tuns kann keinen Zustand des Heils heraufführen. Die Einheit beider Reiche bleibt verborgen. Die Wirklichkeit der Einheit bleibt innerhalb geschichtlicher Erfahrung unter der Zweiheit verborgen; es gibt keinen direkten Zugriff auf die Einheit Gottes und die Einheit seines Reiches.
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2.1.4 Gefahren Die Zwei-Reiche-Lehre will sowohl das Politische als auch das Religiöse begrenzen. Der Zwei-Reiche-Gedanke ist wesentlich durch die doppelte Tätigkeit des Unterscheidens und Beziehens geprägt. Wird eine der beiden Tätigkeiten vereinseitigt, so kommt es zu folgenschweren Fehldeutungen. Die Gefährdung der Zwei-Reiche-Lehre liegt einerseits in der falschen Beziehung beider Reiche aufeinander. Unter den Verlockungen der nationalsozialistischen Ideologie schwenkten Teile des Luthertums auf die völkische Nazi-Ideologie ein, belegten Volk und Führer direkt mit dem religiösen Prädikat göttlicher Offenbarung. Die Gefährdung liegt andererseits in einem dualistischen Auseinanderreißen der beiden Reiche, so dass die Gestaltung des weltlichen Reichs, der politischen Ordnung allein den dafür vermeintlich Verantwortlichen überlassen wird. Geistliches Reich und weltliches Reich werden zu relativ autonomen Größen. Im Rückzug auf das spirituelle Reich wird ein unausgesprochenes Einverständnis mit den Weltzuständen praktiziert. Hier hat die lutherische Frömmigkeit vielleicht die obrigkeitliche Gesinnung befördert. Der konservative Zug der ZweiReiche-Lehre besteht in ihrem Zutrauen in die politische Verfasstheit, die das Staatskirchentum geprägt hat. Die Vorherrschaft des Ordnungsgedankens und die Betonung des Berufsgedankens führten zu einer Sozialethik, die die Einpassung in vorfindliche Praxis betonte.
2.2 Die Lehre von der Königsherrschaft Christi Während die Zwei-Reiche-Lehre den politischen Totalanspruch durch den Satz abwehrte: Der Christ ist und bleibt Bürger zweier Reiche, antwortete die Königsherrschaft-Christi-Lehre mit dem Bekenntnis zur politischen Verbindlichkeit des christlichen Glaubenszeugnisses.⁵
2.2.1 Ortsbestimmung Der Öffentlichkeitsauftrag für die Kirche wird in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 als dem Christen aufgetragen bekannt. Die Erklärung der Barmer Bekenntnissynode hat grundlegenden Charakter für die nachfolgende Kirchen- und Theologiegeschichte. Die zweite Barmer These lautet: Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns
Vgl. Christian Walther, „Königsherrschaft Christi,“ Theologische Realenzyklopädie 19 (1990): 311– 323.
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frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.⁶
Der Christ soll demnach als Mitarbeiter Gottes dessen Werk der Versöhnung im Handeln für die Menschlichkeit des Menschen bezeugen. Die Königsherrschaft-Christi-Lehre wollte die Auslegung der Barmer Theologischen Erklärung sein und damit die Humanisierung des Staates im Sinne eines demokratischen Staates theologisch begründen. Sie sprach die Überzeugung aus, dass Herrschaft allein durch Gott und durch Gottes Handeln legitim begründet sei. Aber auch der Aspekt war wichtig, dass Christus der Herr der einen Kirche in deren faktischer Gespaltenheit ist. Dadurch wurde die Königsherrschaft-Christi-Lehre zur Theologie der Ökumenischen Bewegung.
2.2.2 Ausgestaltung der Barmer Theologischen Erklärung Barmen II thematisiert das Verhältnis von Glauben und Handeln. Gegen jede Privatisierung des Christlichen wird hier dem totalen Anspruch der nationalsozialistischen Ideologie der ebenfalls totale Anspruch des christlichen Glaubens entgegengesetzt. Es gibt keine Reduktion des Glaubens auf irgendeinen Privatbereich. Das freimachende Evangelium beansprucht das ganze Leben. Barmen II widerspricht der propagierten Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens. Kompromisslos wird dem Totalitätsanspruch des Staates der Totalitätsanspruch des Evangeliums entgegengesetzt. Jede Vermischung der einen göttlichen Herrschaft mit innerweltlichen Ordnungen oder Herrschaften soll verhindert werden. Mit dieser Lehre soll gerade der Privatheit der Religion, der Zurückdrängung des Evangeliums in einen beliebigen Sektor des Lebens gewehrt werden. Christus ist sowohl Herrscher über alles Geschaffene als auch Herrscher über die Geschichte. Die Lehre von der Königsherrschaft Christi nimmt die anschauliche Vorstellung vom Königtum Christi, um einen höchst abstrakten Gedanken zu entwickeln. Sie knüpft an alte theologische Motive an. Hier sind sozialethisches Programm und dogmatische Aussage innigst verwoben. Die Gemeinde bekennt Jesus Christus als den Herrn. Alle menschliche Herrschaft, gleich welcher Art sie sei, unterliegt dem letzten Urteil, dem richtenden oder verheißenden Urteil Gottes. Indem die unbeschränkte Souveränität Gottes formuliert wird, wird dem totalen Anspruch des Politischen die unüberbietbare Königsherrschaft Christi entgegengesetzt. Die Königsherrschaft Christi wird bekannt und bezeugt. Das Bekenntnis und das Zeugnis der christlichen Gemeinde erweist sich in der Nachfolge. Der Dienst in und an der Welt setzt die Zuwendung Gottes um. Diese Lehre ist handlungsorientiert, nicht ordnungsorientiert. Sie hat durchaus neuzeitlichen Charakter. Sie will keine Konzentration auf Personen,
Günther van Norden, Hg., Kirchenkampf im Rheinland. Die Entstehung der Bekennenden Kirche und die Theologische Erklärung von Barmen 1934, Köln: Rheinland-Verlag, 1984, 156.
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sondern will die Errichtung gerechter Strukturen. Dabei sollen die Weltverhältnisse Gleichnis des Gottesreiches werden.
2.2.3 Theologische Wurzeln Der Begriff der Königsherrschaft Christi wird dogmatisch durch das souveräne Handeln Gottes begründet. Die dialektische Theologie des Wortes Gottes liefert die dogmatische Basis für den sozialethischen Leitgedanken. Für diesen ist der Aspekt endzeitlicher-endgültiger Herrschaft maßgeblich. Die christliche Gemeinde bezeugt ihr Bekenntnis zur Herrschaft Gottes in Christus so, dass sie in der Nachfolge dieser Herrschaft zur Durchsetzung verhilft. Ihr Ziel ist dabei nicht die Christianisierung der Welt. Nicht durch parteipolitische Maßnahmen soll sie Verhältnisse schaffen, in denen christliche Werte und Normen verwirklicht sind. So war Karl Barth gegen die Gründung einer christlichen Partei im Nachkriegsdeutschland, also gegen die Gründung der CDU. Sondern Christen können ihren Dienst an der Welt nur im Weitersagen des Evangeliums ausrichten. Ihr Ziel ist die Analogie zu Christus als dem vollkommenen Menschen, der in die Gemeinschaft mit anderen Menschen getreten ist, damit sie wahre Menschen werden können. In Christus ist das Bild vorgegeben, dem der Mensch entsprechen soll und das durch seine Königsherrschaft reale allgemeine Geltung erlangt.
2.2.4 Schwierigkeiten Wegen der Selbstbegründetheit kann dieses Programm nur durch Gottes Handeln selbst realisiert werden. Die Königsherrschaft Christi lässt sich nicht in eine christliche Praxis umsetzen. Gehorsam, Solidarität, Nachfolge sind demnach nur Folgen des Handelns Gottes, auch wo sie als Forderungen im faktischen christlichen Leben begegnen. Der Christ bezeugt das souveräne Handeln Gottes. Mehr und anderes als dieses Zeugnis ist unmöglich. Das heiβt: Soll die Königsherrschaft-Christi-Lehre ethisch expliziert werden, so führt das in große Schwierigkeiten. Dogmatische Begründung und ethische Ausführung widersprechen sich. Die strenge Souveränität Gottes erlaubt nur ein Zusehen, wie Gottes Handeln sich in der Königsherrschaft Christi ausführt. Die Lehre von der Königsherrschaft Christi zielt auf Unmittelbarkeit und Universalität, sie will neuzeitliche Lebensverhältnisse wieder direkt an die biblische Botschaft binden, sie will aller Beschränkung des Glaubens auf Privatheit widersprechen, sie will die Verantwortung des Christen für die sozialen, staatlichen, kulturellen und ökonomischen Weltverhältnisse einschärfen, sie will die bessere Lehre sein. Ihr Mangel ist, dass sie auf Anwendung drängt, für diese Anwendung aber nur ihre eigenen Kategorien dulden kann, diese Kategorien aber nicht anwendungsfähig sind und somit die erforderliche Anwendung und Gestaltung die innere Logik der Lehre sprengt. Sie hebelt sich selbst aus.
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2.3 Ergebnis Beide Lehren setzen dem totalen Begriff des Politischen eine Grenze. Das tun sie sehr unterschiedlich. Die Zwei-Reiche-Lehre sagt: das Politische ist nicht alles, es ist und bleibt das Vorletzte; als Vorletztes hat es sein relatives Recht. Die KönigsherrschaftChristi-Lehre sagt: das Politische ist nichts Autonomes; es ist an Christus gebunden. Der Begriff der Königsherrschaft Christi beschreitet mittels des Analogieverhältnisses den Weg der Weltbemächtigung, indem er sich den Bereich des Politischen eingliedert und durch die Analogie zum Handeln Gottes zu gestalten sucht. Diese Weltbemächtigung sieht aber so aus, dass sie nicht in einem sozialethischen Programm detailliert formuliert werden könnte. Der Preis der Orientierung an der bedingungslosen Souveränität Gottes ist der, dass die sittliche Praxis des Christen mit dieser Souveränität nicht konkurrieren darf, dass sie deshalb in ein reines Folgeverhältnis gesetzt wird und dass daher allein die Objektivität der Geschichte als Raum göttlicher Taten als angemessen aufgefasst werden kann. Die Ächtung der frommen Subjektivität wird bezahlt mit dem Verlust eigener Weltgestaltung, da die menschliche Weltgestaltung allein die Folge göttlichen Handelns sein darf. Die Tendenz zur Weltbemächtigung wird konterkariert durch die Unfähigkeit, die angemessenen Regeln für diese Weltbemächtigung aufstellen zu können. Ziel und Mittel treten verhindernd auseinander. Bei der Zwei-Reich-Lehre ist die Gefahr umgekehrt, dass die Weltaneignung in der Eigengesetzlichkeit der Kulturbereiche Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und so weiter so eingespielt wird, dass die kritische Potenz des Gedankens verlorengeht. Bei Luther hat die Lehre von den zwei Reichen ihre kritische Spitze nicht gegen das weltliche Reich, sondern gegen die Kirche, die selber weltlich geworden ist. Ganz anders ist die Lage in diesem Jahrhundert, wo der Begriff des Politischen total geworden war oder zu werden drohte. Dort war die Unterscheidung dann nicht gegen die Ansprüche der Kirche, sondern gegen die Ansprüche der Welt gerichtet. Im einen wie im andern Fall kann aber die relative Selbständigkeit der Welt die Kritik zu einem ohnmächtigen Vorbehalt degradieren. Insgesamt scheint die Lehre von der Königsherrschaft Christi auf die extreme Bekenntnissituation, die Zwei-Reiche-Lehre dagegen auf den Alltag ausgerichtet zu sein. Obwohl die erstere die modernen Sozialverhältnisse ausdrücklich wahrnimmt, tendiert sie in ihrer Zielsetzung doch eher zur Rückkehr zu einfachen Verhältnissen. Obwohl die Zwei-Reiche-Lehre an ständisch-feudalen Verhältnissen orientiert ist, scheinen in ihr doch Motive auf, die heute hilfreich sind.
3 Ausblick Zu Luthers Zeiten waren die sozialen Verhältnisse noch vergleichsweise überschaubar. Die soziale Wirklichkeit wurde im Abendland durch das Neben- und Gegeneinander von Kaiser und Papst, von weltlichem und geistlichem Gemeinwesen bestimmt. Die
3 Ausblick
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Kirche prägte die Gesellschaft, die Obrigkeit war in ihrer Begründung und Zielsetzung von der Kirche abhängig. Die Christlichkeit der Gesellschaft war ebenso selbstverständlich wie die kirchliche Bindung der Obrigkeit. Die durch die Kirche vertretenen christlichen Werte waren gesamtgesellschaftlich unbestritten. Sie waren aufs engste verwoben mit einem Weltbild und einer Geschichtsvorstellung. Kirche und Staat stehen heute in Deutschland in einer selbstverständlichen Distanz nebeneinander. Die Gesellschaft ist keineswegs mehr kirchlich-christlich durchgeformt. Unter neuzeitlichen Bedingungen ist die Säkularisierung und Autonomie der Lebensverhältnisse, ist die Trennung von Kirche und Staat, ist die institutionelle Verselbständigung der verschiedenen Kulturbereiche selbstverständlich. Die Kirche wird keine Sozialordnung wiederherstellen können, wo sie alle Verhältnisse bestimmt. Sie wird den Glauben nur zur Geltung bringen können, wenn sie sich auf die neuen Verhältnisse einlässt. Dadurch dass der demokratische Rechtsstaat die politische Mitarbeit seiner Bürger, ihre Mitgestaltung der politischen Sphäre nicht nur duldet, sondern sie fördert und fordert, dadurch dass die Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung in differenzierten Bereichen vonstatten geht, sind für die evangelische Sozialethik die Themenstellungen sehr ausgeweitet worden. Sozialethik betrifft nicht mehr primär das Verhältnis von Kirche und Staat, sondern das viel weitere Feld sozialer Wirklichkeitsgestaltung. In der evangelischen Sozialethik muss der Weltbezug des Glaubens formuliert werden. Der Glaube will das, was er selbst als gut erfährt, weitergeben. Der Glaube will nicht als Gestimmtheit des Gemüts genossen sein, sondern will gemäß der Befreiungserfahrung das soziale und praktische Leben gestalten. Das ist nicht leicht. Die Christen finden sich in geprägten sozialen Umgebungen vor, die häufig durch ganz andere Werte und ganz andere Erfahrungen bestimmt sind.Wie können und wie sollen die Christen ihre Glaubenserfahrung in ihrem Zusammenleben untereinander und in ihrem Zusammenleben mit Nicht-Christen zur Geltung bringen? Die Gemeinschaft mit anderen Christen wird in der Kirche gestaltet. Die Gemeinschaft der Christen untereinander ist aber nicht die ganze Gesellschaft. Zu dieser Gesamtgesellschaft und zu deren institutioneller Verfasstheit im Staat müssen sich die Christen in Beziehung setzen, müssen sie zu gestalten suchen. Welches ist die Gestalt des Staates, welches ist die Formulierung des Rechts, die dem christlichen Glauben angemessen sind? Welchen Einfluss kann der Glaube auf Wirtschaft, Recht, Wissenschaft und anderes haben? Christlicher Glaube kann sich sowohl erkenntnismäßig in bestimmten Vorstellungen als auch handlungsmäßig in bestimmten Aktivitäten darstellen. Die Gemeinschaft mit Gott, die der Christ durch die Liebe Gottes begründet erfährt und in der er auf diese Liebe Gottes mit seiner Gottesliebe, mit seiner Liebe zu Gott antwortet, diese Gemeinschaft mit Gott prägt auch dem Leben des Christen mit seinen Mitmenschen das Siegel der Liebe auf. So wie nach der Seite der Vorstellung die Erlösung das spezifisch Christliche ist, so nach der Seite des Handelns die Liebe. Kirche und Theologie können nicht mehr alle Fragen zu den ihren machen, müssen die Dialektik von Arbeitsteilung und Ganzheitsbezug aushalten. Gerade indem sie ihre Teilstellung neben anderen Kulturbereichen akzeptieren, können sie den
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Blick für das Ganze schärfen. Indem sie den Bezug auf Gott haben, ist die Einheit der Wirklichkeit ihr Thema. Sie brauchen diese Einheit nicht herzustellen. Der Rechtfertigungsglaube hilft vor Selbstüberforderung. Der Blick aufs Ganze schafft Freiräume, erlaubt es, Konflikte, die uns alle bedrohen, zu benennen. Die Sozialethik bejaht Sachverstand und Arbeitsteilung, aber sie wendet sich entschieden gegen die Zerstückelung. Anderen Institutionen zerfällt die Wirklichkeit, sie sind zu einer Integration nicht fähig. Deshalb ist der Blick des Glaubens und Liebens unverzichtbar. Der Glaube kennt keine Patentrezepte für alle Lebensfragen, die Liebe ist keine Handlungsanweisung. Wohl aber gibt der Glaube die Kraft, vorurteilslos wahrzunehmen und auch konfliktträchtige Probleme anzusprechen. Er braucht keine Angst vor Gesichtsverlust zu haben, weil ihm die Selbstbehauptung abgenommen ist. Er kann Fragen aushalten. Er braucht nicht die schnellen Antworten, an denen heutzutage ja kein Mangel ist. Er eröffnet gegenüber der vorfindlichen Wirklichkeit einen Raum von Fragen, macht diese Wirklichkeit frag-würdig im doppelten Sinn, weil er aus der Gewissheit der göttlichen Zuwendung lebt. Der Glaube kann nicht den Sachverstand ersetzen, wohl aber kann er den Raum zum Dialog eröffnen und Zeichen der Hoffnung aufrichten. Evangelische Sozialethik ist die Reflexionsgestalt dieses Glaubens. Sie nimmt gesellschaftliche Wirklichkeit wahr und erörtert sie so, dass sie als von Gott des Fragens würdig zur Sprache gebracht wird.
Liebe Der Liebesbegriff ist einer der Zentralbegriffe im Selbstverständnis und in der Selbstdarstellung des christlichen Gottesbewusstseins. Er vermittelt zentral christliche Dogmatik und christliche Ethik, christliche Theologie und christliche Anthropologie. Sowohl in dogmatischer als auch in ethischer Hinsicht artikuliert der Liebesbegriff wesentliche Bestimmtheiten und Werthaltungen des christlichen Gottesbewusstseins. Er charakterisiert das Beziehungsgeflecht von Gott-Welt-MenschMitmensch. Die Liebe Gottes zu sich selbst und zur Welt, die Liebe Gottes zum Menschen und die Liebe des Menschen zu Gott sowie die Liebe des Menschen zur Welt und zum Mitmenschen wurden dabei traditionell miteinander verknüpft. Der Liebesbegriff wurde dazu genutzt, die trinitarische Gotteslehre, die christologische Versöhnungslehre, die eschatologische Erlösungslehre, aber auch Geschichtslehre, Tugendlehre und Schöpfungslehre zu entfalten. Nun soll nach der sittlich-religiösen Bedeutung der Liebe und nach der ethischtheologischen Tauglichkeit des Liebesbegriffs gefragt werden. Das Erschwerende einer solchen doppelten Fragestellung liegt im Sachverhalt, dass die sittlich-religiöse Bedeutung der Liebe sehr groß, die ethisch-theologische Tauglichkeit des Liebesbegriffs dagegen gering ist. Der lebensweltlichen Bedeutung entspricht nicht die begriffliche Ausarbeitung. Aus dieser Diskrepanz resultieren die vielen Schwierigkeiten, Verwirrungen und Misshelligkeiten, die durch die Jahrhunderte das Bemühen um diesen Themenbereich begleiten und kennzeichnen.¹ Die in der theologischen Diskussion geläufigen Begriffsformulierungen sind noch auf einen vorkritischen Erörterungsrahmen bezogen, der die kulturellen Umwälzungen seit der Aufklärung nicht angemessen berücksichtigt. Die unmittelbare Gegenwart des Gefühls und die Überzeugungskraft der Erfahrung werden nicht so begriffen, dass davon eine entsprechende theologisch-ethische Erschließungskraft ausginge.
1 Hinführung Der Liebesbegriff ist charakterisiert durch seine besondere Vermittlungsleistung, die er besonders bei den Überlegungen unter Beweis stellt, die auf die Vermittlung von Dogmatik und Ethik, von Erkenntnis und Tat, von Lehre und Praxis abzielen. Diese Vermittlungsleistung erbringt er gerade durch seinen unspezifischen Gebrauch in den verschiedensten Themenfeldern. Gilt es, die Fülle und den lebendigen Zusammenhang aller Lebensakte zu formulieren, so rückt der Liebesbegriff ins Zentrum.
Wer sich über die Geschichte des Liebesbegriffs informieren möchte, sei auf Helmut Kuhn, Liebe. Geschichte eines Begriffs, München: Kösel, 1975, und auf Helmut Kuhn, „Liebe,“ Theologische Realenzyklopädie 21 (1991): 121– 191, verwiesen. https://doi.org/10.1515/9783110745498-011
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Liebe
1.1 Beispiele aus dem deutschen lutherischen Pietismus In der theologisch-christlichen Tradition ist der Liebesgedanke für den Praxisbezug des christlichen Gottesbewusstseins markant. Dies lässt sich am deutschen lutherischen Pietismus belegen, der mit seinem auf Frömmigkeit, Erleuchtung und Wiedergeburt abzielenden Reformprogramm die praktisch-fromme Lebensgestaltung in den Vordergrund der theologischen Betrachtung stellte. Bei dieser Neugewichtung zentraler theologischer Begriffe kam gerade dem Liebesbegriff besondere Bedeutung zu.
1.1.1 Philipp Jakob Spener (1635 – 1705) Die enge innerliche Verknüpfung von Glaube und Liebe ist neben seiner Betonung der Erleuchtung dasjenige Moment seiner Lehre, worin Spener über die Orthodoxie erneuernd hinausging. Die Besonderheit des Spenerschen Liebesbegriffs besteht in dogmatischer Hinsicht darin, dass die Gottesliebe als vom lebendigen Glauben, der in der Wiedergeburt seinen Ursprungsort habe, unabtrennbar gedacht wird. Der lebendige rechtfertigende Glaube mit seinen drei Momenten von Erkenntnis, Beifall und persönlichem Vertrauen habe die Liebe als dankbare Hinwendung zu Gott unmittelbar bei sich. Mit der Verknüpfung von Rechtfertigung und Heiligung, vom Empfang des Verdienstes Christi und antwortender Selbsthingabe an Gott ist der Liebesbegriff in das Rechtfertigungsgeschehen eingebunden. Die Annahme des Verdienstes Christi sei kein primär intellektueller Akt, sondern dieses Licht der Erkenntnis entzünde notwendig auch eine Flamme lebendiger Liebe. Unter christologischem Gesichtspunkt ist für Spener die Unabtrennbarkeit der drei Ämter Christi wesentlich. Das hohepriesterliche Amt lässt sich vom königlichen und prophetischen nicht lösen. Für den Glaubenden sind darum Rechtfertigung und Heiligung, Annahme und dankende Erwiderung wie zwei Hände derselben Person. Für Spener ist der lebendige Glaube nicht ohne gute Werke. Der Liebesbegriff dient ihm dazu, der möglichen Vergesetzlichung, der möglichen kasuistischen Tendenz einer solchen Lehre entgegenzuwirken. Denn nicht nur sind ihm Rechtfertigung und Heiligung – ähnlich wie bei Luther – ein Lebensstand und nicht ein einmaliger Akt, sondern die die Heiligung tragende Gottesliebe ist für ihn als Gesinnung und Herzenszustand primär gegenüber den einzelnen Akten und Werken, die aus dieser Liebe hervorgehen. Die Hervorhebung der Liebe führte Spener zu häufigeren Erörterungen ihres Verhältnisses zum Glauben. Einerseits wollte Spener an dem Primat der Rechtfertigung festhalten; das bedeutet soteriologisch einen Vorrang des Glaubens. Andererseits wollte er die praktische Lebendigkeit des rechtfertigenden Glaubens durch den Wiedergeburtsgedanken unterstreichen; das bedeutet eine Aufwertung der Liebe. So konnte Spener Glaube und Liebe in verschiedenen Kontexten durchaus unterschiedlich gewichten: im Blick auf die Versöhnungstat Christi und ihre Aneignung gilt anderes als hinsichtlich des neuen Lebens der Wiedergeborenen; dogmatisch-soterio-
1 Hinführung
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logische Interessen stehen in einer gewissen Spannung zu ethisch-praktischen. Hinsichtlich der Rechtfertigung gab Spener dem Glauben Vorrang vor der Liebe:² der Glaube sei empfangend; er ermögliche allererst die Gottesliebe, die wirkend sei. Unter den Kennzeichen für die wahrhaft Wiedergeborenen hatte für Spener die Liebe einen vorzüglichen Platz.³ Dabei ist zu bedenken, dass für Spener die Wiedergeborenen „gantz anders geartet und gesinnet sind, als sonsten menschen von natur zu seyn pflegen, und sie etwa auch von sich selbs vor dem gewesen zu seyn, sich erinnern“⁴. Hier ist der Liebesbegriff fähig, alle anderen Kennzeichen in sich aufzunehmen. Bei den ethischen Überlegungen Speners, die dem verbreiteten Dreier-Schema von Pflichten gegen Gott, Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen den Nächsten folgen, steht die Liebe im Zentrum. Sie sei das Hauptgebot des Christen.⁵ Zu ihr bestehe eine allgemeine Verpflichtung.⁶ Sie sei „nechst dem glauben das hauptstück unseres Christentums“⁷. Die Pflichten gegen Gott fasste Spener in der Liebe gegen Gott zusammen. In der Gottesliebe fielen die an Gottes Willen orientierte Pflicht und die aus der neuen Gesinnung gespeiste Neigung zusammen. Alle Eigenliebe und aller mit der Eigenliebe verbundener Eigenwille seien umgeschmolzen in die Gottesliebe und den vollständigen Gehorsam gegen Gott. Der Gottesliebe, die als Grundtugend alle Pflichten gegen Gott erfüllen lasse, wurden damit alle anderen Tugenden zugeordnet.⁸ Die Pflichten gegen sich selbst entfaltete Spener durch die Tugend der ordentlichen Selbstliebe. In der Wiedergeburt sei die Eigenliebe, die nach den Glücksgütern dieser Welt leidenschaftlich verlange, geläutert worden zu einer wahren Schätzung
Vgl. Philipp Jakob Spener, Theologische Bedencken und andere Brieffliche Antworten, 4 Bde, Halle: Waisenhaus, 1700 – 1702, Bd. 1, 24– 25. Spener kannte für die Wiedergeburt, falls sich ein Christ im Prozess der Selbstprüfung ihrer vergewissern will, folgende untrügliche Kennzeichen: „(1) Das einige vertrauen auff Christum seine gerechtigkeit und verdienst aus denselben die seligkeit zu erlangen […] (2) Die reinigung des hertzens sowohl in der vergebung der sünden als kräfftiger schwächung deroselben herrschafft. […] (3) Die hertzliche liebe gegen GOtt um sein selbs und der von ihm empfangenen liebe willen […] (4) Der daraus fliessende hertzliche gehorsam begierde eyffer und fleiß nach GOttes gebotten das leben anzustellen. […] (5) Der trieb und würckung des heiligen Geistes deme folge geleistet wird und die daher entstehende früchten des geistes. […] (6) Eine hertzliche liebe zu allen menschen auch den jenigen von denen wir beleidigt worden und sonsten keine natürliche ursach zu ihrer liebe haben vornemlich da solche liebe immer hauptsächlich auff ihr geistliches und ewiges heil gehet daß wir solches ihnen gönnen davor beten nach vermögen dahin arbeiten über den erscheinenden mangel hertzliches erbarmen tragen. […] (7) Eine sonderliche liebe und zuneigung zu den kindern GOttes […] (8) Der sieg über die welt und dero ärgernüß […]. (9) Eine hertzliche begierde nicht eigentlich von dieser welt elend sondern von der sünde erlöset zu seyn“ (Spener, Theologische Bedencken, Bd. 4, 337– 338; vgl. auch Philipp Jakob Spener, Christliche Buß-Predigten, Frankfurt: Johann David Zunner, 1686, 381– 386). Spener, Theologische Bedencken, Bd. 2, 388. Vgl. Spener, Theologische Bedencken, Bd. 3, 196. Vgl. Spener, Theologische Bedencken, Bd. 2, 102. Spener, Theologische Bedencken, Bd. 1, 560. Vgl. Spener, Theologische Bedencken, Bd. 4, 197– 198.
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sowohl der Weltgüter als auch der Heilsgüter. Die ordentliche Selbstliebe suche Glück und Seligkeit des Wiedergeborenen in der Heiligung der Seele und in der Vereinigung mit Gott. Sie strebe nicht nach den Gütern dieser Welt, sondern nach denen der göttlichen Welt. Die in der ordentlichen Selbstliebe durchaus mitgedachte Selbstverleugnung,⁹ nämlich die Verleugnung des natürlich-sündlichen Strebens nach den Gütern dieser Welt, führe gerade zu einer Schätzung dieser Weltgüter und auch zu ihrem rechten Gebrauch. Spener redete nicht einer totalen Weltflucht das Wort, aber er sah den Wiedergeborenen von den Fesseln dieser Welt befreit; die dauernde Versuchung, die von den Weltgütern ausgehe, wurde von Spener nicht geleugnet. Die ordentliche Selbstliebe lasse auch eine Lösung des alten exegetischen Problems der Zuordnung und Abwägung zwischen Selbst- und Nächstenliebe zu.¹⁰ Die Pflichten gegen die anderen entfaltete Spener mittels der Grundtugend der Nächstenliebe, die er auf den unterschiedlichsten Anwendungsfeldern sehr genau spezifizierte. In seinen Überlegungen zum Kriegführen¹¹ argumentierte Spener vom Gesetz der Liebe her. Die Nächstenliebe bezog er hier nicht auf den Einzelmenschen, sondern auf die Menschheit. Von der Menschheit her ergebe sich die Grenze in der Forderung der Liebestätigkeit, die jeder Einzelne an den anderen richten könne.¹² Da im göttlichen Gebot Nächstenliebe und Selbstliebe gleichgesetzt seien, müsse auch bei der Eheschließung darauf geachtet werden, dass nicht nur das eigene Wohlsein, sondern auch die Glückseligkeit des andern angestrebt werde.¹³
1.1.2 August Hermann Francke (1663 – 1727) Das 1695 von Francke gegründete Hallesche Waisenhaus mit den dazugehörigen Erziehungseinrichtungen und die Theologische Fakultät der 1694 gegründeten Friedrichs-Universität zu Halle bildeten in der zweiten Generation die institutionelle Basis des Pietismus. Bei Francke trat die praktisch-erzieherische Bemühung um die Heiligung in den Vordergrund. Dies führte zu einer Pädagogisierung der Gottesliebe im Herzensgehorsam und zu einer Reglementierung der Nächstenliebe in karitativen Werken. Den Gedanken der Wiedergeburt stufte Francke zugunsten des Gedankens der Bekehrung herab. Bekehrungserlebnis und Rechtfertigungsglaube wurden von ihm so zusammengeschlossen, dass sie alle Gedanken und Handlungen für ein gottseliges Leben bestimmen. Der lebendige Glaube bestehe gerade darin, dass der Christ der in Jesus Christus aufscheinenden göttlichen Liebe so inne werde, dass sein Herz mit Gott und mit dem göttlichen Willen eins werde. Dieses Ergriffenwerden von Christus impliziere wesentlich die Abkehr von der Sünde. Werde die zum lebendigen Glauben Vgl. Spener, Theologische Bedencken (s. Anm. 2), Bd. 2, 406. 432; Bd. 4, 412. Vgl. Spener, Theologische Bedencken, Bd. 2, 270 – 271. Vgl. Spener, Theologische Bedencken, Bd. 1, 69 – 75. Vgl. Spener, Theologische Bedencken, Bd. 1, 70 – 71. Vgl. Spener, Theologische Bedencken, Bd. 2, 506.
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gehörende Erkenntnis gestört, so werde auch das das Herz und den Willen von innen gestaltende gläubige Gottesverhältnis gestört. Habe dagegen eine Erkenntnis für die willentliche Hinwendung zur göttlichen Liebe im lebendigen Glauben keinen Einfluss, so habe diese Erkenntnis für den Glauben auch keine wesentliche Bedeutung. Damit wurden theologische Aussagen, die sich nicht mittelbar oder unmittelbar auf Bekehrung und Wiedergeburt beziehen, in ihrer Bedeutung herabgestuft; dem Begriff der Häresie wurde der Boden entzogen, indem Häresie zu einer lebenspraktischen Verirrung in Sachen Frömmigkeit wurde. Francke formte durch ein normiertes Bekehrungserlebnis, das er an den Bußkampf band, einen einheitlichen Frömmigkeitstypus. Dabei unterschied Francke vier Stadien: 1. Mit der Gesetzespredigt von Gottes Zorn wird der Hörer in eine Krise gestürzt, die ihn aus der Sicherheit des religiösen Besitzes in den Zweifel an Gott führt. 2. Der so erschütterte Mensch wünscht fest, ein neues Leben in Gehorsam und Glauben gegen Gott zu beginnen. 3. Gott schenkt den Glauben, der mit der Vergebung der Sünden dem Bekehrungswillen zugleich die göttliche Liebe (das heiβt die Seligkeit der Gotteskindschaft) mitteilt. 4. Der Bekehrte strebt in fortdauerndem Kampf, den mit der Liebe vereinten Glauben immer mehr zum herrschenden, alleinigen Motiv des Willens und des Gefühls zu machen. Die einmalige Bekehrung schließt nach Francke die sittlich-fromme Aufgabe ein, in steter Selbstprüfung die Abwesenheit aller natürlichen und die Anwesenheit aller geistlichen Affekte sicherzustellen. Der Gnadenbegriff erfuhr eine über Spener hinausgehende Verschärfung dadurch, dass die Differenz zwischen altem und neuem Menschen diastatisch vertieft wurde. Das führte zu einer scharfen Abwertung aller Bereiche des natürlichen Lebens. Auf den Spuren des holländischen Präzisismus wurden Tanz und Theater rigoristisch abgelehnt sowie Trunk, Scherz und Kartenspiel zu Kennzeichen der Nichtwiedergeborenen erklärt. Zwar wahrte Francke den Primat der göttlichen Heilszueignung im Glauben mit der Versicherung, dass der Glaube nicht erzwungen werden könne und demgemäß die Wiedergeburt allein ein göttliches Werk sei.¹⁴ Doch legte Francke großes Gewicht auf den aneignenden oder verweigernden Willensentschluss des Menschen. Seine Methodisierung des Bekehrungserlebnisses zielte auf ein Herbeizwingen des Glaubens und ein regelhaftes Ingangsetzen der Heiligung. Den lebendigen Glauben, der das Herz mit Gott und dem göttlichen Willen eine, verstand Francke als Gottseligkeit, wie sie sich gerade nach der Zerrissenheit und der leidvollen Ungewissheit des Bußkampfes um so wonnevoller und beglückender einstelle. Die selige Empfindung der Liebe Gottes sei zugleich Antrieb zu einem gottgefälligen Leben, zu einer fortschreitenden Befestigung der eigenen Gesinnung und Tätigkeit in der von Gott gewollten Lebensordnung. Franckes methodisch verfasster Aktivismus zeigt sich nicht nur in seiner Einstellung zur Bekehrung, sondern auch in seinen pädagogischen Bemühungen um die
Vgl. August Nebe, Neue Quellen zu August Hermann Francke, Gütersloh: Bertelsmann, 1927, 14– 25.
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Gottes- und Nächstenliebe, die besonnen-unfrohe und asketische Züge hatten. Franckes pädagogische Bemühungen zielten auf wahre Gottseligkeit und christliche Klugheit. Gottseligkeit hielt er nur unter Brechung des Eigenwillens für erreichbar, indem mit der Überwindung der Selbstsucht ein Einsinken des menschlichen in den göttlichen Willen erfolgen konnte. Da Francke den Eigenwillen ohne Körperstrafen brechen wollte, richtete er eine lückenlose Überwachung der Kinder und Lehrer ein, um alle Anreize zur Sünde vorbeugend abhalten zu können. Das Aufkeimen der Sünde im Sinne eines Wirksamwerdens der natürlichen Strebungen und Leidenschaften sollte durch pausenlose Fremd- und Selbstkontrolle verhindert werden. Zur lückenlosen Fremdkontrolle bediente er sich auch der Bespitzelung der Schüler und der Lehrer untereinander. Zur Selbstkontrolle sollten die Schüler und Lehrer jeden Abend jeweils ihr Gewissen prüfen und den abgelaufenen Tag genauestens bedenken. Die christliche Klugheit bestand in Fleiß und Gehorsam, bestand darin, die von Gott geschenkte Zeit nicht durch irgendwelche läppischen Spielereien zu vergeuden. Der liebevollen Zuwendung zum Nächsten ging ein Abwägen, Bedenken und Sichentschließen voraus. Francke förderte mit seiner Pädagogik die Verbürgerlichung des Adels. Er stellte dem preußischen Staat tüchtige Verwaltungsbeamte und gehorsame Soldaten zur Verfügung (Friedrich Wilhelm I. akzeptierte nur Feldprediger aus Halle). Francke legte großen Wert auf die Früchte der Liebe als Kennzeichen lebendigen Glaubens.¹⁵ Gegen die orthodoxen Theologen, die ihm Irrlehre vorwarfen, führte Francke seine tatkräftige Fürsorge für die Armen und Verwahrlosten ins Feld; er hielt den orthodoxen Gegnern deren Versagen in der sozialen Frage vor. Gegen enthusiastisch gesonnene Kreise der Wetterau, die Franckes Pädagogisierung der Heilsaneignung und seine stark reglementierenden karitativen Bemühungen als Reformismus kritisierten, verteidigte sich Francke mit der Selbstcharakterisierung als Samariter. Für die Praxis der Nächstenliebe empfahl Francke das Zusammensein in kleinen Frömmigkeitsgruppen.¹⁶
1.1.3 Nikolaus Ludwig Reichsgraf von Zinzendorf und Pottendorf (1700 – 1760) Zinzendorfs Liebesbegriff war seit seinen Aufenthalten bei der Grafenfamilie ReussEbersdorf durch zwei Vorstellungskreise geprägt. Erstens war die Begegnung mit einer philadelphischen Gemeinschaft prägend. Philadelphia als letzte Epoche der Kirchengeschichte (vgl. Apk 3,7– 13) sollte die in den nachreformatorischen Konfessionskirchen zerstreuten wahren Kinder Gottes in der Brautgemeinde des Lammes Gottes (vgl. Apk 21,9) in überparteiischer Bruderliebe vereinen. Seit Herbst 1721 war Zinzendorf diesem ekklesiologischen Programm verpflichtet, das die Relativität der Konfessionen in das liebevolle Miteinander der sich im Glauben verbunden wissenden
Vgl. August Hermann Francke, Glauchisches Gedenck-Büchlein, Leipzig / Halle, 1693, 554; August Hermann Francke, Werke in Auswahl, hg.v. Erhard Peschke, Berlin: EVA, 1969, 289. Vgl. Francke, Gedenck-Büchlein, 313; Francke, Werke, 90.
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endzeitlichen Erwählten umsetzen wollte. Sein philadelphisches Gemeindekonzept stützte Zinzendorf theologisch durch seine Tropenlehre, wonach die verschiedenen Konfessionen als τρόποι παιδείας (Erziehungsweisen Gottes) unter Leugnung jeglichen exklusiven Wahrheitsanspruchs (1Kor 13,12) gerade in ihrer geschichtlichen Verschiedenheit legitimiert seien. Die Herrnhuter Brüdergemeine, die am 13. August 1727 in Zinzendorfs Patronatskirche Berthelsdorf aus verschiedenen konfessionellen Gruppen konstituiert wurde, sollte trotz ihrer Einbindung in die lutherische Landeskirche statutengemäß eine philadelphische Gemeinschaft sein: sie sollte „in beständiger Liebe mit allen Brüdern und Kindern Gottes in allen Religionen [sc. Konfessionen] stehen“¹⁷. Die Brüdergemeine schloss die drei Tropen der lutherischen, reformierten und mährischen Konfession in sich. Statt Union wurde gegenseitige Toleranz angestrebt, um die besonderen Gaben jeder Konfession zu fördern. Durch die Tropenlehre schützte Zinzendorf die Brüdergemeine nach außen vor dem Vorwurf, eine reichsrechtlich illegale vierte Konfession zu sein, und sicherte nach innen das philadelphische Gemeindekonzept. Zweitens war für Zinzendorfs Liebesbegriff die mittelalterliche Passions- und Brautmystik wichtig, die er in Ebersdorf in Gestalt einer Blut- und Wundenfrömmigkeit kennengelernt hatte. Zinzendorf übersetzte die lutherische Kreuzestheologie in die Sprachwelt der Braut- und Passionsmystik, um so die personal-existentielle Bedeutung des Kreuzes Christi für jeden Gläubigen auszudrücken; denn in dieser Passion teile sich die Liebe Gottes den Menschen als Versöhnung mit: das Kreuz offenbare die Sündhaftigkeit des Menschen, das Strafgericht Gottes und seine versöhnende Liebe. Dem durch die göttliche Liebe bestimmten Leben, wie es dem Bekehrten durch die „Blutsgnade“ in der „Minutenbekehrung“ ohne Bußkampf, den Jesus ja schon in exklusiver Stellvertretung am Kreuz geführt habe, geschenkt werde, billigte Zinzendorf christliche Normalität zu; die Sündhaftigkeit wirke nur latent als Versuchung und Gefährdung fort. Im Gegensatz zur asketischen Frömmigkeit des halleschen Pietismus, unter der Zinzendorf in seiner Pädagogiumszeit 1710 – 1716 sehr gelitten hatte, zeichnete sich die herrnhutische Frömmigkeit durch eine aus der Erlösung herrührende Freude und liebevolle Fröhlichkeit aus.
1.2 Reformatorische Grundlegung der Ethik Die drei skizzierten Hauptpositionen des deutschen lutherischen Pietismus lassen sowohl die Beziehungsvielfalt erkennen, in denen traditionell der theologische Liebesbegriff entfaltet wurde, als auch die prinzipielle Ambivalenz, mit der der Liebesgedanke im Protestantismus zu kämpfen hatte. Seit ihren Anfängen stand die reformatorische Theologie in dem doppelten Dilemma, wie sie erstens eine Grundlegung
Hans-Christoph Hahn / Hellmut Reichel, Hg., Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder. Quellen zur Geschichte der Brüder-Unität von 1722 bis 1760, Hamburg: Wittig, 1977, 75.
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der christlichen Ethik erreichen könne, ohne die Werkgerechtigkeit zu befördern (das ist den Rechtfertigungsglauben an den Rand zu rücken) oder das Tun des Guten gleichgültig werden zu lassen, und wie sie zweitens bei der materialen Ausgestaltung der Ethik die Verhaltensregeln der wahren Christen (Bergpredigt) mit den Anforderungen an ein Gemeinwesen, das äußerliche Daseinssicherung gegen Rechtsbrecher durchsetzen muss, in Übereinstimmung bringen könne. In der Confessio Augustana (CA) gibt es keinen Artikel De caritate. Die Grundlegung der evangelischen Ethik wird in CA 6 De nova oboedientia und besonders in CA 20 De fide et bonis operibus angesprochen. Diese Grundlegung in CA 20 geschieht in einem verwirrenden Doppelschritt. Einerseits wird der Vorwurf abgewehrt, die Protestanten lehrten den Verzicht auf alle guten Werke. Andererseits wird soteriologisch das Ungenügen der guten Werke bekräftigt und alle Heilserwartung in den Glauben als Zutrauen zu Gott gesetzt. Erst von diesem Zutrauen aus gebe es die guten Werke, diese dann aber umso eifriger und froher. Liebe heißt hier neben anderen Taten christlicher Glaubenspraxis „den Nächsten lieben“¹⁸, das heiβt ihm wohltun. In der Apologie der Konfession wird die Liebe als „Frucht des Geistes“¹⁹ verstanden. Luther begründete die christliche Ethik durch die Sequenz von Wort, Glaube und Liebe.²⁰ Er sah den Grund der christlichen Ethik in performativen Sätzen der zueignenden Freiheit der Liebe Gottes und seines vorausgehenden Wortes. So wie Luther durch das Rechtfertigungsgeschehen zwischen Person und Werk unterschied und die Person dem Werk vorordnete, so wies er den Glauben der Konstitution der Person zu²¹ und die Liebe (samt der Geistgabe) der Konstitution des Werkes²². Prägnant formulierte Luther den Vorrang des Glaubens vor der Liebe: „Also bleybt der glaub der thetter und die liebe bleybt die that.“²³ Die exzentrische Konstitution der menschlichen Person im Glauben verknüpfte Luther mit dem exzentrischen Beim-NächstenSein der Liebe.²⁴
Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen:Vandenhoeck & Ruprecht, 71976, 81,16 – 17 (= BSELK). BSELK 189,147. „Verbum dei omnium primum est, quod sequitur fides, fidem charitas, Charitas deinde facit omne bonum opus, quia non operatur malum, immo est plenitudo legis.“ Martin Luther, Schriften 1519/20, Bd. 6, Werke. Kritische Gesammtausgabe (= WA), Weimar: Böhlau, 1888, 514,19 – 21. Luthers Grundaussage ist: „fides facit personam“. Martin Luther, Disputationen 1535/38, Bd. 39,1, Werke. Kritische Gesammtausgabe (= WA), Weimar: Böhlau, 1926, 282,16. Vgl. „Wie wyr offt gesagt haben, glaub und liebe mus man also scheyden, das der glaub auff die person und die liebe auff die werck gericht sey. Der glaube vertilget die sund und macht die person angeneme und gerecht.Wenn aber die person angenem und gerecht worden ist, so wird yhr der heylige geyst und die liebe geben, das sie guts thut mit lust.“ Martin Luther, Fastenpostille 1525. Roths Festpostille 1527, Bd. 17,2, Werke. Kritische Gesammtausgabe (= WA), Weimar: Böhlau, 1927, 97,7– 11. Luther, Fastenpostille, 98,25. Vgl. „[…] eyn Christen mensch lebt nit ynn yhm selb, sondern ynn Christo und seynem nehstenn, ynn Christo durch den glauben, ym nehsten durch die liebe“. Martin Luther, Schriften 1520/21, Bd. 7, Werke. Kritische Gesammtausgabe (= WA), Weimar: Böhlau, 1897, 38,6 – 8.
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Luther verhandelte das Thema der guten Werke vorrangig soteriologisch, nicht ethisch. Er stellte die Werke antithetisch zum Glauben und bezog sie auf das Gericht. Die guten Werke könnten nicht als Leistungen gegen Gott ins Spiel gebracht werden, sie seien allein Folgen des Glaubens und Zeichen der Dankbarkeit für Gottes Werk im Glauben. Die guten Werke seien nur dadurch gut, dass sie im Glauben geschehen. Sie seien Folgen des Glaubens, so wie die Früchte zu einem Baum gehören.²⁵ In ethischer Hinsicht nutzte Luther den Liebesbegriff eher zurückhaltend. Während die Geltung des Liebesgebots für die individuelle Lebensführung der Glaubenden unzweifelhaft war, erörterte Luther die sozialethischen Fragen der Gemeinschaftsgestaltung im Rahmen seiner Zweireichelehre bzw. Zweiregimenterlehre. Die reformatorische Rechtfertigungslehre prägte auch den Erörterungsrahmen für die Ethik durch die Begriffsdualität von Gesetz und Evangelium. Da der Liebesbegriff auf der Seite des Evangeliums stand und der Gesetzes- bzw. Werkebegriff für die ethischen Erörterungen Vorrang hatte, wurde das Liebesgebot in seinem sittlichen Geltungsanspruch deutlich eingeschränkt. Die ethische Umsetzung in konkrete Verhaltensanweisungen blieb unscharf und spannungsvoll. Liebesbegriff und Gesetzesbegriff wurden nicht bei Luther, wohl aber bei Melanchthon und in den Bekenntnisschriften durch die Lehre vom tertius usus legis verknüpft, dass das Gesetz die Glaubenden auf ihrem Weg der Heiligung unterstütze. Nach Solida Declaratio VI stellt der primus usus legis die „disciplina externa et honestas“²⁶ her. Der Dekalog als geoffenbartes Gottesgesetz sei identisch mit dem natürlichen Gottesgesetz, das in die Herzen der Menschen geschrieben und zu dessen Durchführung die Obrigkeit eingesetzt sei. Der secundus usus legis diene der Sündenerkenntnis. Der tertius usus legis gebe den Bekehrten die Richtschnur ihres sittlichen Tuns; in ihm gelte das Gesetz der Liebe.
1.3 Moderne Anfragen Abgesehen von der grundlegenden theologischen Frage, wie Rechtfertigung und Heiligung in ein angemessenes Verhältnis gesetzt werden können, ist eine auf den Liebesgedanken aufbauende christliche Ethik heutzutage sowohl inhaltlichen als auch formalen Anfragen ausgesetzt. Auf der inhaltlichen Seite hat der tiefgreifende Wandel in Recht, Politik, Kultur und Gesellschaft die Identifikation der Liebe erschwert. Hier bedrohen die weitgehende Spezialisierung und Funktionalisierung aller Lebensakte und Lebensbereiche die integrative Leistungskraft der Liebe. Auf der
Vgl. Luthers Thesen De fide: „34. Fatemur opera bona fidem sequi debere, imo non debere, Sed sponte sequi, Sicut arbor bona non debet bonos fructus facere, Sed sponte facit. 35. Et sicut boni fructus non faciunt arborem bonam, Ita bona opera non iustificant personam. 36. Sed bona opera fiunt a persona iam ante iustificata per fidem, Sicut fructus boni fiunt ab arbore iam ante bona per naturam.“ Luther, Disputationen 1535/38 (s. Anm. 21), 46,28 – 34. BSELK (s. Anm. 18), 962,6 – 7.
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Liebe
formalen Seite ist die Tauglichkeit des Liebesbegriffs zum ethischen Prinzip fraglich geworden.²⁷ Hier muss der Liebesbegriff die Forderung nach Eindeutigkeit und Klarheit erfüllen. Auf der inhaltlichen Seite hat der Liebesbegriff durch den gesellschaftlichen Wandel an Bestimmungsschärfe verloren. Liebe begründet und fördert Gemeinschaft.²⁸ Doch was ist das für eine Gemeinschaft? Die Liebe wird heutzutage im Raum der Privatheit, des privaten Lebensglücks angesiedelt und wird hier auch gesucht. Sie hat sich mit einem biedermeierischen Lebensgefühl verwoben. Aus Politik, Wirtschaft und Kultur ist sie verbannt. Sie wird weitgehend auf Zweierbeziehungen und auf die familiäre Eltern-Kind-Beziehung eingeschränkt. Liebe ist primär mit privater Glückserfüllung im Kontext libidinösen Luststrebens assoziiert. Sie personalisiert das geschlechtliche Verlangen und stabilisiert die Gefühlslage. Befördert aber nicht gerade auch die Liebe die immer weitergehende Individualisierung der Lebensführung? Ist nicht die Liebe längst selbst ein Opfer der Individualisierung geworden?²⁹ Gibt es überhaupt noch verbindliche Maßstäbe für die Gestaltung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern? Gibt es noch anerkannte Lebensordnungen im Verhältnis der Generationen? Die Liebe wird für inkompetent gehalten, die Gemeinschaft von Großgruppen zu gestalten. Angesichts der verwirrenden Entscheidungsvielfalt scheinen guter Wille und liebevoller Umgang mit den anderen Menschen nicht mehr zur Gestaltung von Sozialität zu reichen. Das sachgerechte Tun ist gefordert, ein Handeln aus Sachkompetenz. Nicht mehr die Motive des sittlich Handelnden, sondern die Wirkungen seines Tuns sind in den Brennpunkt der ethischen Diskussion gerückt. Christliche Liebe wird häufig mit Selbstlosigkeit identifiziert. Dann wird sie zumeist scharf von der menschlichen Liebe unterschieden.³⁰ Diese inhaltliche Bestim-
Julius Müller erkannte allein dem Doppelgebot der Liebe das Prädikat eines christlichen Moralprinzips zu; nur das Doppelgebot der Liebe könne reale Einheit im sittlichen Handeln hervorbringen und umfasse die Ganzheit sittlichen Lebens. Vgl. Julius Müller, Die christliche Lehre von der Sünde, 2 Bde, Stuttgart: A. Heitz, 61877, Bd. 1, 141– 145. Albrecht Ritschl sah die sittliche Bemühung des einzelnen Christen, den Gemeinschaftszweck des Reiches Gottes zu realisieren, durch die Liebe zu Gott und zum Nächsten motiviert; die Liebe müsse das innerste Motiv sein bei allem Handeln in den konkreten Lebensordnungen und den konkreten Lebensberufen, in denen das allgemeine Ziel allein verwirklicht werden könne. Vgl. Albrecht Ritschl, Unterricht in der christlichen Religion, Bonn: Marcus, 1875, 4. Nach Friedrich Schleiermacher hat die Liebe „das Bestreben Gemeinschaft hervorzubringen“. Friedrich Schleiermacher, Philosophische und vermischte Schriften, Bd. III,2, Sämmtliche Werke, Berlin: G. Reimer, 1838, 375 (= SW III/2). Dies gelte in dreifacher Hinsicht. Erstens könne der Mensch als Geistwesen in Gemeinschaft treten mit anderen Menschen als Geistwesen. Diese Gemeinschaft sei freie wechselseitige Selbstdarstellung. Zweitens könne das Geistige in Gemeinschaft treten mit dem Sinnlichen im einzelnen Menschen; in dieser erziehenden Liebe werde das Geistige dem Sinnlichen angebildet. Drittens könne das Geistige im Menschen mittels des Sinnlichen in Gemeinschaft treten mit der Außenwelt, diese entsprechend gestalten und für das geistige Leben des Menschen einrichten. Vgl. Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990. Als Beispiel sei auf Søren Kierkegaard verwiesen, der natürliche oder menschliche Liebe radikal von christlicher Nächstenliebe trennte. Die romantische, auf Schönheit basierende Liebe ziele zwar
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mung und diese strikte Unterscheidung zwischen christianum und humanum macht Glanz und Elend dieses Liebesbegriffs aus. Die Selbstlosigkeit christlicher Liebe ist für Fehlentwicklungen anfällig, sie kann zu einem „altruistischen Egoismus“ oder zu einer „altruistischen Bemächtigung“ werden. Was man sich selbst als eigensüchtig und lustvoll versagt, das wird dem anderen zugebilligt, besonders dann, wenn es für einen selbst mit Verzicht verbunden ist. In diesem „altruistischen Egoismus“ sorgt jeweils der eine für die egoistischen Wünsche des anderen. Der Egoismus wird nicht direkt befriedigt, sondern nur über den altruistischen Umweg der Befriedigung des anderen. Selbstlosigkeit kann auch zur Bemächtigung des anderen werden. Wer des anderen Gutes oder Bestes will, kann seine liebende Fürsorge so praktizieren, dass dadurch alle Eigeninitiative des anderen zu eigenverantwortlichem Handeln erstickt wird. Die christliche Liebe steht im Verdacht, eine Angelegenheit der Schwäche zu sein, die die Härte des Lebenskampfes nicht aushalte und in die mollige Nische flüchte. Sie sei geneigt, alle Fehler mit dem Mantel der Vergebung zuzudecken. Sie habe keinen Aufklärungsimpuls, sondern sei die karitative Ausbesserungsanstalt für soziale Missstände. Die christliche Liebe beziehe nicht deutlich Position, sondern lasse die verschiedenen Ansprüche und Erwartungen in der Schwebe. Ihr Eingehen auf andere sei die Schwäche, ihnen Widerstand leisten zu können. Die Liebe diffamiere die natürliche Stärke.³¹ Von der inhaltlichen Seite ergibt sich deshalb die Forderung nach neuen Bestimmungen und Klärungen des Liebesbegriffs. Auf der formalen Seite sind in der ethischen Diskussion Leitgedanken in den Vordergrund getreten, die weniger die individuellen Handlungsmöglichkeiten und Verhaltensweisen, sondern stärker die institutionelle Verfasstheit und die sozialen Regelsysteme thematisieren. Nicht so sehr auf die Integration der Lebenssphären eines Handlungssubjekts und seiner Handlungsmotive wird geachtet, sondern auf die möglichst genaue Erfassung der Handlungsfolgen, die eine bestimmte Regelfassung nach sich zieht. Hier erhebt sich deshalb die Forderung nach einer größeren formalen
(anders als die Wollust) auf Ewigkeit, doch gründe sie Ewiges auf Zeitliches und hebe es dadurch auf. Vgl. Søren Kierkegaard, Entweder – Oder, Bd. 2, Gesammelte Werke, hg.v. Emanuel Hirsch / Hayo Gerdes, Düsseldorf / Köln: Diederichs, 1957, 22. Die christliche Nächstenliebe hingegen überwinde die Eigensucht und wolle auch beim andern dessen Eigensucht überwinden; sie suche allein das Wohl des Nächsten, ohne auf Gegenliebe zu hoffen. Sie sei damit Abbild der bedürfnislosen Liebe Gottes, mit der Gott von Ewigkeit her die Erlösung des Menschen will.Vgl. Søren Kierkegaard, Philosophische Brocken, Bd. 10, Gesammelte Werke, hg.v. Emanuel Hirsch / Hayo Gerdes, Düsseldorf / Köln: Diederichs, 1967, 22– 23. Friedrich Nietzsche griff die christliche Mitleidsethik und die Altruismusforderung der christlichen Nächstenliebe als Flucht vor dem eigenen kraftlosen Selbst heftig an. Er forderte eine an der Lebenskräftigkeit orientierte Neubewertung des Selbst. Nur das starke Selbst, das erst genommen habe, könne auch geben. Liebe sei ein amoralisches Grundphänomen des Lebens. Sie überschreite das Sosein und lasse gerade durch ihr Illusionsmoment die Möglichkeiten des Lebens entdecken. Vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral, Bd. 5, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Giorgio Colli / Mazzino Montinari, Berlin: De Gruyter, 1968, 2.
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Schärfe des Liebesbegriffs. Weil der Liebesbegriff nur schwer in Regeln für das Tun umgesetzt werden kann, scheint er zum ethischen Prinzip untauglich zu sein.
2 Konstitution Der Gebrauch des Wortes „Liebe“ gibt erste Hinweise auf die Bestimmung des Liebesbegriffs. Der Blick ins Wörterbuch belehrt, dass mit Liebe „die innige zuneigung eines wesens zu einem andern“³² gemeint ist. Die Liebe ist in der Welt der Emotionen und Affekte, der Gefühle und Leidenschaften beheimatet. Sie hat ihre Eigentümlichkeit darin, dass sie nicht mit der Innigkeit des Beisichselbstseins zufrieden ist, sondern den Bereich des Mitseins gestalten will. Das wusste schon Luther: „Liebe aber heisset auf deudsch (wie jedermann weis) nichts andres, denn von hertzen einem günstig und hold sein und alle gute und freundschafft erbieten und erzeigen.“³³ In der Liebe neigt sich eine Person zu einer anderen hin und hat Freude daran, dieser vom Eigenen zu geben; sie verbindet ihr eigenes Glück und Wohlbefinden mit dem der anderen Person; sie ist um der anderen Person willen bereit, Schmerz und Leid auf sich zu nehmen; sie will in der Wechselseitigkeit des Wohltuns das erfüllte ,Zwischen‘ erfahren. „Die Liebe ist der stetige Wille, welcher eine andere geistige, also gleichartige Person zur Erreichung ihrer eigentlichen höchsten Bestimmung fördert, und zwar so, dass der Liebende daran seinen eigenen Endzweck verfolgt.“³⁴ Die Liebe ist von Lustgefühl begleitet, sie ist Vergnügen. Die Erhöhung des eigenen Lebensgefühls stammt aus dem Wohlergehen eines anderen. „Die Bereitschaft aus eines andern Glück ein merckliches Vergnügen zu schöpfen ist die Liebe.“³⁵ Das Glück des anderen vermittele so viel Vergnügen wie das eigene Wohlbefinden, das Wohltun so viel wie das Wohlsein.³⁶ In diesem Sinne sind die Werke der Liebe das Tun, das das Wohlbefinden des anderen erhöht und dadurch steigernd auf das eigene Wohlbefinden zurückwirkt. Wird die Liebe als wesentlicher, lustvoller und unaufhebbarer Trieb des Mitseins mit anderen verstanden, als Gefühl des Zwischen, das in der Freude am andern auch die Freude und die Gegenwart des Beisichselbstseins erhöht, so ist die Konstitutionsfrage dadurch auch schon vorläufig beantwortet: Die Liebe gehört zum Grund-
Jakob Grimm / Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, München: dtv, 21984, 917. Martin Luther, Predigten 1532, Bd. 36, Werke. Kritische Gesammtausgabe (= WA), Weimar: Böhlau, 1909, 358,11– 13. Ritschl, Unterricht (s. Anm. 27), 10. Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Bd. I,2, Gesammelte Werke, hg.v. Jean École / Israel Gottlieb Canz, Hildesheim: Olms, 1983, § 449, hier 276. Vgl. Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zur Beförderung ihrer Glückseeligkeit, Bd. I,4, Gesammelte Werke, hg.v. Jean École / Israel Gottlieb Canz, Hildesheim: Olms, 1976, § 774– 777, hier 545 – 547.
2 Konstitution
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bestand menschlicher personaler Existenz. Es ist keine personale Existenz denkbar ohne Liebe. Menschen ohne Liebe gibt es nicht, wohl aber kann dieser bildbare und gebildete Trieb sehr unterschiedliche Gestaltungen erfahren, auf die die Frömmigkeit großen Einfluss hat.
2.1 Theonome Liebesbegründung Die biblische Tradition ist gerade am Zustandekommen der Liebe interessiert. Die Liebe ist hier keineswegs nur ein menschlich-natürliches Phänomen, sondern angemessen verstanden werden kann sie nur von ihrer religiösen Basis her. Die menschliche Gottesliebe steht im Zeitalter des Atheismus im Verdacht projektiver Selbstliebe oder neurotischer Selbstentfremdung. Doch auch wenn die Frage der Realität Gottes beiseite gesetzt wird, bleibt angesichts der qualitativen Differenz zwischen Gott und Mensch die Frage, wie die menschliche Hinwendung zu Gott überhaupt zustande kommt und welche Motive sie hat. In biblischer Tradition ist die menschliche Liebe zu Gott und zum Nächsten jeweils die Antwort auf die vorauslaufende Zuwendung Gottes.
2.1.1 Gottesliebe Im alttestamentlichen Traditionsblock von Dtn 6 (schema jisrael) ist das Gebot der Gottesliebe angeschlossen an die Aussage des exklusiven Gottesverhältnisses Jahwes zu Israel (vgl. Dtn 6,4– 5). Jahwes Liebe zu seinem Volk hat hier entsprechend seiner grundlegenden Errettungstat stark die Züge von Barmherzigkeit, die der Starke gegenüber dem Schwachen übt. Die menschliche Gottesliebe wird als Antwort auf die Zuwendung und den exklusiven Beziehungsanspruch Jahwes gefordert. Diesen Beziehungsanspruch habe Jahwe selbst durch eine Rettungstat erworben. Die Befreiung Israels aus dem Knechtshause Ägypten und die daraus resultierende Sonderbeziehung Jahwes zu Israel ist der Mittelpunkt der alttestamentlichen Geschichtstheologie: Diese Erwählungstat und das Festhalten Jahwes an seiner Beziehung zu Israel, auch wenn seine Treue durch menschliche Untreue konterkariert wurde, charakterisiert Jahwes Liebe zu seinem Volk. Jahwes Liebe gilt dem Volk und erst vermittelst des Volkes auch den einzelnen Volksangehörigen. Diese Liebe ist eifersüchtig (Ex 20,5). Jahwe duldet keine anderen Götter neben sich. Die Monolatrie-Forderung ist die Kehrseite des liebevollen Heilshandelns Jahwes; und umgekehrt ist seine Liebe Element seines Herrschaftsanspruches. Dass die Forderung der Gottesliebe mit Dienst und Furcht verknüpft ist, gibt einen Hinweis auf die Art dieser Liebe. Es ist die Liebe des Herrschers, der an seinem Erwerb festhält und der von dem, dem er sich zugewandt hat, die Erfüllung der ihm geschuldeten Verpflichtung verlangt. Im Hinweis auf die Liebe Jahwes klingt aber das Motiv überströmender Fülle an, durch die die gebieterische Verpflichtung an ihr Ziel kommt, durch die Jahwe in seiner Treue und Barmherzigkeit auch dann zum Volk Israel steht, wenn dieses sich von ihm abwendet.
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Die Aussage der Liebe Jahwes meint die Fülle der Zuwendung, die auch die Missachtung der Beziehung seitens des Volkes langmütig erträgt. Die durch diese Liebe gestiftete Beziehung zwischen Jahwe und Israel wird in einem ersten Vorstellungskreis durch das Rechtsinstitut des Bundes beschrieben. Hier wird stärker der Herrschaftsanspruch und die mit der Rechtsbeziehung verbundene Verpflichtung betont. Der zweite Vorstellungskreis, wonach Israel als Sohn (Ex 4,22; Hos 11,1) oder als Braut bzw. Ehefrau Jahwes bezeichnet wird (so verschiedentlich bei den vorexilischen und exilischen Propheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel), nutzt die Sphäre zwischenmenschlicher Liebesbeziehungen zur Beschreibung der Volk-GottBeziehung. Hier leuchtet die emotionale Seite, die beglückende Zuwendung Jahwes und seine sinnstiftende Gegenwart heller auf. In solcher Bildrede kann dann auch der früheren Liebe Israels zu Jahwe gedacht werden (vgl. Jer 2,2), um mit der Erinnerung an das damalige Glück die Forderung nach gegenwärtigem Sinneswandel zu legitimieren. Die Gottesliebe gewinnt so die Kraft, mehr als Dankbarkeit für Geschenke eines übermächtigen Gegenübers zu sein, nämlich zur integrativen Mitte des Selbst zu werden.
2.1.2 Nächstenliebe Das liebende Mitsein ist das wahre Beisichselbstsein. Dies zeigt sich nicht nur in der Gottesliebe, sondern auch in der Nächstenliebe. Das alttestamentliche Gebot der Nächstenliebe³⁷ steht im Heiligkeitsgesetz und lautet: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin Jahwe.“ (Lev 19,18b). Durch die vorangehenden sozialen Verhaltensmaßregeln (Lev 19,16 – 18a) ist es eindeutig, dass hier mit dem Nächsten der Volksgenosse gemeint ist. Die nachgestellten begründenden Aussagesätze „Ich bin Jahwe“ weisen diese Gebote als theonom aus: Die Liebe zum Nächsten, als Forderung wohlgemerkt, resultiert aus der exklusiven erwählenden Zuwendung Jahwes zum Volk Israel. Der Nächste gehört mit zur Innenbeziehung Volk-Jahwe.Was für das Ganze gilt, soll nämlich auch für die Teile gelten. Jahwe als Herr dieses Volkes fordert von den Mitgliedern seines Volkes ein Verhalten untereinander, das dem Willen und der Zuwendung Jahwes entspricht. Die Innenbeziehung des Volkes soll die Bindung an Jahwe spiegeln. Beide Aspekte sind wichtig: sowohl die religiöse Durchdringung des Alltagslebens als auch die Erhaltung des göttlichen Besitzes, der durch innere Zwietracht zwischen den Mitgliedern des Volkes zerrüttet würde. Das Gebot der Nächstenliebe zu den anderen Mitgliedern des erwählten Volkes Israel ist ausgesprochenermaßen ein Gottesgebot, das heißt, es kann verstanden werden als die Kehrseite des Gebots der Gottesliebe: Gerade dadurch, dass Jahwe das ganze Volk Israel liebt, sind alle Mitglieder dieses Volkes untereinander zu einem bestimmten Verhalten verbun-
Vgl. Hans-Peter Mathys, Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Untersuchungen zum alttestamentlichen Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18), Orbis Biblicus et Orientalis 71, Fribourg: Universitätsverlag / Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1986.
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den. Die Einzelnen haben ja keine private Beziehung zu Jahwe, sondern nur das Volk als Ganzes. Nur gemeinsam haben sie an der Erwählung teil. Deshalb müssen die Einzelnen ihre Lebensführung und ihre sozialen Verhältnisse danach einrichten, was für das Ganze gilt. Insofern gehört die Nächstenliebe zur Bewahrung und zum Schutz der gemeinsamen Erwählung. So weit, könnte man sagen, hat das alttestamentliche Gebot der Nächstenliebe eigentlich nichts Überraschendes. Stände dieses Gebot allein, ließe sich durchaus ein Volksegoismus vermuten. Eine neue, darüber hinausgehende Bedeutung erfährt dieses Gebot aber durch die Ergänzung, dass auch der Fremdling, der Beisasse, derjenige, der nicht zum Volk Israel gehört, aber mit den Israeliten zusammenwohnt und -lebt, dass auch dieser in das Gebot der Nächstenliebe einbezogen wird. „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin Jahwe, euer Gott.“ (Lev 19,33 – 34). Auffällig ist hier der begründende Nachsatz, in dem die Israeliten an ihre eigene Fremdlingszeit in Ägypten erinnert werden. Dieser begründende Nachsatz präzisiert denjenigen Gebotsteil, in dem es heißt „wie dich selbst“. Ein Fremdling gewesen zu sein, gehörte wesentlich zur geschichtlichen Erinnerung Israels. Indem Israel sich selbst liebt, das heiβt indem es seine eigene Geschichte bejaht und annimmt, erwächst ihm auch das Muster seines Verhaltens zu denjenigen, die jetzt in derselben Situation sind, in der es damals war. Dieser begründende Nachsatz gibt also zugleich einen Hinweis darauf, wie die beiden Gebotsteile aufeinander zu beziehen sind. Die Erinnerung an das Heilshandeln Jahwes, die für Israels Existenz konstitutiv ist, schließt die Verpflichtung zu einem angemessenen Verhalten ein. Das Heiligkeitsgesetz legitimiert die Forderung der Fremdenliebe aus einer bestimmten Eigenerfahrung Israels.
2.1.3 Jesuanische Verknüpfung von Gottes- und Nächstenliebe Die christlichen Erfahrungen mit der Liebe sind von der personalen Botschaft und vom Verhalten Jesu, von seinem Leben und seiner Lehre inspiriert. Für Jesu ganzes Leben, auch für sein Verhalten zu den Mitmenschen war seine Gottesliebe zentral. In den Evangelien nehmen die Berichte über Jesu Gottes- und Menschenliebe einen prominenten Platz ein. In seinem Doppelgebot der Liebe (vgl. Mk 12,28 – 34) verbindet Jesus das Gebot der Gottesliebe (Dtn 6,4– 5) mit dem Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18). In dieser Reihung sind die beiden Gebote nur locker verknüpft. Durch das Voranstehen hat das Gebot der Gottesliebe einen relativen Vorrang, den auch die explizite Betonung der Gleichrangigkeit kaum beseitigen kann. Worin besteht das Besondere des jesuanischen Doppelgebots? Dass Jesus die Gebote von Gottesliebe und Nächstenliebe verbindet, ist es nicht, denn diese Kombination ist schon im damaligen rabbinischen Judentum bezeugt. Das Besondere ist die Aussage, dass das Doppelgebot die Summe des Gesetzes und damit die Liebe zugleich die Erfüllung des Gesetzes ist. Dies wird in
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der synoptischen Parallele in Mt 22,34– 40 ausgesprochen: „In diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“ (Mt 22,40) Jesus bündelt das Gesetz in einem Doppelgebot. Dadurch verwandelt er den Charakter des gesamten Gesetzes. Dessen Zentrum wird nun ins Scheinwerferlicht gestellt, alle anderen Forderungen treten zurück in den Halbschatten. An diesem zentralen Anliegen entscheidet sich alles. Damit wird die Gesetzesforderung auf die Spitze getrieben, der Weg der Verinnerlichung gewiesen. Die betonte Heraushebung der Gottes- und Nächstenliebe setzt die Gewichte neu: die Einzelregelungen werden wieder als Einzelregelungen eingestuft, die der Art und dem Geist der Gesamtbeziehung nachgeordnet sind. „Gesetz und Propheten“, das heiβt die gesamte Tradition des israelitisch-jüdischen Glaubens muss auf dieses Doppelgebot hin und von ihm aus betrachtet werden. Das jesuanische Doppelgebot bringt den Liebesgedanken nicht auf eine einheitliche Formulierung. Das ist ein Mangel, weil dadurch der Einheitsgrund der Liebe und die innige Verwobenheit ihrer Gestaltungen abgeblendet wird.³⁸ Jesu Botschaft von der Nähe des Gottesreiches, die gerade die liebevolle Zuwendung Gottes in den Vordergrund stellt, macht diese Liebe schon in der Art ihrer Verkündigung erfahrbar. Diese Nähe Gottes sprengt alle natürliche Binnensolidarität und gibt der Liebe eine neue Qualität. Die von Gott getragene Liebe kann sogar die Gestalt der Feindesliebe annehmen.
2.2 Liebesforderung In den Geboten von Gottesliebe, Nächstenliebe und Feindesliebe wird Liebe gefordert! Auch Jesus hält beim Doppelgebot der Liebe am Modus der Forderung fest. Doch lässt sich Liebe gebieten? Liebe ist ja keine Handlung, keine Tat, keine der Willkür unterworfene Willensbestimmung. Liebe ist keine Freiheitsgesetzen verpflichtete Befindlichkeit oder Einstellung des Menschen. Sie gehört zur affektiven Herzensbildung und ist eine Gesinnung, die zu Handlungen antreibt und ihre Richtung bestimmt. Kant bejahte das biblische Gebieten der Liebe. Pathologische Liebe (Sympathie und Neigung) könne nicht geboten werden,³⁹ sei auch auf Gott wegen seiner Unsinnlichkeit nicht anwendbar. Die pathologische Liebe werde also durch das Gebieten
Schleiermacher bemängelte den Gebotscharakter, weil sich Liebe als Gesinnung nicht gebieten lasse. Er bemängelte ferner, dass Gottes- und Nächstenliebe getrennt seien. Beides sei dem Ziel der Heiligung unangemessen, denn „dieses ist kein anderes als ein in seinem ganzen Zusammenhang die Kraft und Reinheit der Gesinnung darstellender Wandel“. Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2 Bde, Berlin: G. Reimer, 21830/31, §112,5, hier Bd. 2, 250. In Joh 15,12 weise Jesus durch „die Vergleichung mit seiner erlösenden Liebe“ (251) auf die angemessene Darstellungsform hin. Vgl. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Bd. 6, Gesammelte Schriften. Akademieausgabe, hg.v. der Königlich Preuβischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: G. Reimer, 1907, 402,22– 26. 449,18 – 20.
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gerade ausgeschlossen, und deshalb sei die praktische Liebe gemeint, das heiβt die Achtung für das Pflichtgesetz als alleinige Willenstriebfeder. Gott lieben, heißt in dieser Bedeutung, seine Gebote gerne thun; den Nächsten lieben, heißt, alle Pflicht gegen ihn gerne ausüben. Das Gebot aber, daß dieses zur Regel macht, kann auch nicht diese Gesinnung in pflichtmäßigen Handlungen zu haben, sondern blos darnach zu streben gebieten. […] Jenes Gesetz aller Gesetze stellt also, wie alle moralische Vorschrift des Evangelii, die sittliche Gesinnung in ihrer ganzen Vollkommenheit dar, so wie sie als ein Ideal der Heiligkeit von keinem Geschöpfe erreichbar, dennoch das Urbild ist, welchem wir uns zu nähern und in einem ununterbrochenen, aber unendlichen Progressus gleich zu werden streben sollen.⁴⁰
Kant sieht Pflichterfüllung, Wohltun und Menschenliebe in eins: Wenn es also heißt: du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst, so heißt das nicht: du sollst unmittelbar (zuerst) lieben und vermittelst dieser Liebe (nachher) wohlthun, sondern: thue deinem Nebenmenschen wohl, und dieses Wohlthun wird Menschenliebe (als Fertigkeit der Neigung zum Wohlthun überhaupt) in dir bewirken.⁴¹
Kant schätzte die Liebe auch als subjektives Motiv; die Liebe mit der ihr innewohnenden Freude lasse die Pflicht gerne tun. Bei der Pflichtbefolgung, das heiβt bei der subjektiven Handlungsdisposition „ist doch die Liebe, als freie Aufnahme des Willens eines Andern unter seine Maximen, ein unentbehrliches Ergänzungsstück der Unvollkommenheit der menschlichen Natur“⁴². In seiner Frühschrift Der Geist des Christentums und sein Schicksal verwarf Hegel das Kantische Verständnis des biblischen Doppelgebotes der Liebe. Er unterschied die uneigentliche Aussageform des Gebietens vom lebendig-geistvollen Wesen des Gemeinten: [D]ie Liebe selbst spricht kein Sollen aus; sie ist kein einer Besonderheit entgegengesetztes Allgemeines; nicht eine Einheit des Begriffs, sondern Einigkeit des Geistes, Göttlichkeit; Gott lieben ist sich im All des Lebens schrankenlos im Unendlichen fühlen; […] – und liebe deinen Nächsten als dich selbst, heißt nicht ihn so sehr lieben, als sich selbst; denn sich selbst lieben ist ein Wort ohne Sinn; sondern liebe ihn, als der du ist [sic!]; ein Gefühl des gleichen, nicht mächtigeren, nicht schwächeren Lebens.⁴³
Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Bd. 5, Gesammelte Schriften. Akademieausgabe, hg.v. der Königlich Preuβischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: G. Reimer, 1908, 83,12– 27. Kant, Metaphysik der Sitten (s. Anm. 39), 402,16 – 21. Immanuel Kant, „Das Ende aller Dinge,“ in Schriften nach 1781, Bd. 8, Gesammelte Schriften. Akademieausgabe, hg.v. der Königlich Preuβischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: G. Reimer, 1912, 325 – 339, 338,2– 5. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Theologische Jugendschriften, hg.v. Herman Nohl, Tübingen: Mohr, 1907, 296. Das Vereinigtsein durch Liebe, „diese lebendige Harmonie von Menschen, ihre Gemeinschaft in Gott, nennt Jesus das Königreich Gottes“ (321).
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Für Hegel war selbstverständlich, dass „in der Liebe aller Gedanke von Pflichten wegfällt“⁴⁴. Er bejahte den Neigungscharakter der Liebe dahin, dass „Gesetz und Neigung nicht mehr verschieden sind“⁴⁵. Die beschränkten Tugenden bedürfen der versöhnenden und integrierenden Liebe als ihrer lebendigen, alle Beschränkungen aufhebenden Mitte.⁴⁶ In der Religion ist nach Hegel die Liebe nicht nur subjektive Empfindung, sondern zugleich objektives Bild und Vorstellung. Kants und Hegels Argumente für und wider den Gebotscharakter liegen nicht auf derselben Ebene. Um der Autonomie und vernünftigen Allgemeinheit des menschlichen Wollens willen hebt Kant die Differenz der gebotenen Liebe zu den natürlichen Neigungen hervor, dagegen will Hegel gerade die integrative Ursprünglichkeit und Geistigkeit der Liebe betonen. Das Gebieten der Liebe kann nur den Sinn haben, den immer schon vorhandenen Trieb des Mitseins zu befördern und ihm eine angemessene Gestalt zu geben. Im Gebot der Nächstenliebe wird ja das faktische Vorhandensein der Selbstliebe vorausgesetzt. Dass es überhaupt Liebe gibt, ist gerade auch für das Gebieten Anlass und Prämisse. Durch das Liebesgebot soll Liebe nicht allererst erzeugt oder hervorgerufen werden. Nicht das Dass der Liebe ist Gegenstand des Gebietens, sondern das Wie. Nur wie die immer schon vorhandene Liebe entwickelt werden und wie diese Liebe im Konzert der Neigungen und Affekte, die teilweise auf eine ganz andere Gestaltung des Mitseins hindrängen, zum Zuge kommen soll, das wird mittels der Gebote geregelt. Wird die Gottesliebe geboten, so wird damit eine Gottesbeziehung ausgeschlossen, die von Furcht und Strafe bestimmt ist. In der von Liebe bestimmten Gottesbeziehung ist Gott kein drohendes Gegenüber, kein zu besänftigendes Außen, das durch Sicherungspraktiken ruhiggestellt werden muss. Nicht äußerliche Handlungen der Strafabwendung und der Existenzsicherung sind mehr nötig; Vertrauen prägt die Gottesbeziehung; der liebende Gott hat immer schon die Sorge für die geliebten Menschen übernommen. Für das Verstehen und die Darstellung dieser Gottesbeziehung ist deshalb der Weg von der Liebe zum Glauben ebenso wichtig wie der umgekehrte vom Glauben zum Lieben. Wird die Nächstenliebe oder gar die Feindesliebe geboten, so sind damit Hass, Verachtung, Unterwerfungswille, Herrschaftsstreben und Zerstörungswut ausgeschlossen. Das von Nächstenliebe geprägte Mitsein sieht den anderen ebenfalls und genauso als Selbst. Dadurch gewinnt auch das eigene Selbst eine höhere Qualität. Das Wir wird zu einer differenzierten Einheit. Alle behandeln sich selbst und behandeln die anderen als personales Selbst. Dadurch ist nicht nur der Selbstbezug, sondern auch die wechselseitige Zuwendung von liebevoller Personalität geprägt. Dieses Mitsein kann nur auf der Basis der Freiwilligkeit, nicht mit Zwang herbeigeführt werden. Deshalb sind Gesellschaften, in denen die Liebe regiert, gekennzeichnet
Hegel, Jugendschriften (s. Anm. 43), 267. Hegel, Jugendschriften, 268. Vgl. Hegel, Jugendschriften, 295.
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durch dezentrale Strukturen und durch höhere Leistungsfähigkeit, weil Zwangseinrichtungen minimiert werden können. Beratung und Aufklärung tritt an die Stelle von Zwang. Liebe ist nie fertig. Sie hat teil an der Entwicklung und Bildung personalen Lebens. Für diesen Reifungsprozess ist wichtig, dass Liebe von anderen erfahren wird, dass Erfahrungen damit gemacht werden, wie Mitsein gestaltet werden kann und wie solches Mitsein auf das Selbstsein einwirkt. Die Liebe muss auch Bejahung der eigenen Person einschließen, um andere bejahen zu können. Die menschliche Liebe ist nicht das genaue Abbild der göttlichen Liebe.⁴⁷ Die menschliche Liebe ist nicht interesselos, sondern steckt voller Absichten für die gar nicht bedürfnislosen Menschen. Sie ist vernünftig und muss die sittlichen Einschränkungen der Mitwelt beachten. Gute Werke sind für sie nicht heteronom geboten, sie sind ihr eigenstes Anliegen. Liebe geht aber im Tun der Werke nicht auf. In allem Gelingen und Misslingen behält sie einen Überschuss von lebendiger Möglichkeit gegenüber der Wirklichkeit. Sie ist spontan; sie ist in ihrem Zustandekommen und ihrer Wirksamkeit nicht an ein Ensemble von Voraussetzungen gebunden. Sie ist unableitbar und ursprünglich.
3 Die Struktur der Liebe Der Mensch ist nicht mit sich selbst identisch. Er ist ein in vielfacher Hinsicht unfertiges, bedürftiges und unstetes Lebewesen. Er ist weder in völliger Übereinstimmung mit sich selbst, noch mit den Mitmenschen, noch mit der Natur. Der Mensch ist zum Werden verurteilt. Er kann gar nicht beharren. Er muss sein Selbstverhältnis und sein Verhältnis zu den Mitmenschen entwickeln, dem jeweiligen Erfahrungsstand anpassen. Was leitet ihn dabei? Wie wird er mit den Erfahrungen des Misslingens und der Schuld fertig? Was gibt ihm die Kraft zu immer neuen Lebensakten der Bildung und Darstellung und Gestaltung? Die Liebe ist diese Kraft. Sie ist bildbar und bildend. Sie ist das erfüllte Zwischen. Sie ist die innerste Kraft des Lebens sowohl nach der
Demgegenüber versteht Karl Barth die menschliche Nächstenliebe streng in Analogie zur Liebe Gottes, die in der Offenbarung erkennbar sei. Die Liebe Gottes schaffe selbstwerthafte Gemeinschaft. Sie sei spontan und voraussetzungslos, interesselos und selbstgegründet, ihm in Ewigkeit wesentlich, bedürfnislos gegenüber seinem Gegenstand, freies Geschenk; im Überströmen seiner Liebe bleibe Gott nicht in seiner Selbstgenügsamkeit.Vgl. Karl Barth, Die Lehre von Gott, Bd. II,1, Die kirchliche Dogmatik, Zürich: Theologischer Verlag, 1940, 310 – 316. Die menschliche Nächstenliebe, die der Liebe Gottes und der christlichen Gottesliebe entspricht, sei der Dienst, dem Mitmenschen die Zuwendung Gottes zu der in Christus erwählten Menschheit und die darauf antwortende Gottesliebe der Gemeinde zu bezeugen. Vgl. Karl Barth, Die Lehre von der Versöhnung, Bd. IV,2, Die kirchliche Dogmatik, Zürich: Theologischer Verlag, 1955, 910 – 936. Alle menschliche Liebe in ihrem freien Tun als „Hingabe des Einen an den Anderen ohne Interesse, ohne Absicht, ohne Zweck“ (854) bilde gleichnishaft das ursprüngliche und urbildliche Lieben Gottes ab, sei deshalb Liebe aus Gott. Die hingebende Liebe korreliere in der christlichen Lebensbewegung dem empfangenden Glauben (vgl. 829).
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Seite der differenzierenden Selbstwerdung als auch nach der Seite des vereinigenden Mitseins.⁴⁸
3.1 Die erhebende Liebe (eros) Von der Liebe muss schön, muss begeistert, muss überschwänglich geredet werden. Sie versagt sich der nüchternen Kalkulation, dem pfennigfuchserischen Lebensgefühl. Sie scheint deshalb etwas für Schwärmer zu sein. Gerade dieses Vielgesichtige und Schwebende der Liebe begegnet in prägnanter Weise in Platons Symposion. ⁴⁹ Hier lässt sich die anagogische Liebesstruktur studieren. Die Liebe ist hier das Movens, das die von ihr ergriffenen Menschen von der natürlichen Sinnenfreude bis zur Schau der ewigen Ideen hinaufführt. Eros ist die dämonische Mittlergestalt zwischen Menschen und Göttern, zwischen Endlichem und Unendlichem, zwischen Sterblichem und Unsterblichem. Er symbolisiert das Streben nach dem Guten und Schönen. Durch seine Herkunft wird mythisch sein Wesen erläutert. Sein Vater ist der göttliche Poros (= Weg), der Sohn der göttlichen Metis (= Einfall); seine Mutter ist Penia (= Armut). Beim Geburtsfest für Aphrodite steht Penia an der Tür in der Hoffnung, es möge von der Festtafel etwas für sie abfallen. Poros nun, berauscht vom Nektar, denn Wein gab es noch nicht, ging in den Garten des Zeus hinaus, und schwer und müde wie er war, schlief er ein. Penia nun, die ihrer Dürftigkeit wegen den Anschlag faßte, ein Kind mit Poros zu erzeugen, legte sich zu ihm und empfing den Eros.⁵⁰
Er begleitet Aphrodite, die Schönheit. Von der Mutter hat er die Dürftigkeit, vom Vater die Keckheit, das Einsichtsstreben. Die erläuternde Aussage, dass der Philosoph als Liebhaber der Weisheit zwischen Weisheit und Unweisheit schwebt, erschließt das Wesen der Liebe: Der Stufenweg der Liebe ist der Weg der Philosophie. Die Liebe findet ihre Erfüllung in der lieblosen Glückseligkeit der Götter; das Weisheitsstreben des Philosophen findet seine Erfüllung in der interesselosen Er In seiner Schrift Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre sah Johann Gottlieb Fichte in der Liebe das Zentrum des Lebens: „das Leben ist Liebe, und die ganze Form und Kraft des Lebens besteht in der Liebe und entsteht aus der Liebe.“ Johann Gottlieb Fichte, Sämmtliche Werke, Bd. 5, hg.v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin: Veit, 1845, 401– 402. Indem Fichte in der Liebe nicht nur Vereinigungs-, sondern auch Trennungskraft erkannte, fasste er sie als idealreales Grundprinzip: „Die Liebe theilet das an sich todte Sein gleichsam in ein zweimaliges Sein, dasselbe vor sich selbst hinstellend, – und macht es dadurch zu einem Ich oder Selbst, das sich anschaut und von sich weiß; in welcher Ichheit die Wurzel alles Lebens ruhet.Wiederum vereiniget und verbindet innigst die Liebe das getheilte Ich, das ohne Liebe nur kalt und ohne alles Interesse sich anschauen würde. Diese letztere Einheit, in der dadurch nicht aufgehobenen, sondern ewig bleibenden Zweiheit, ist nun eben das Leben“ (402). Die Liebe gibt dem wahrhaftigen Leben Ganzheit und Seligkeit. Platon, Symposion, 172a–223d (= Platon, Werke in acht Bänden griechisch und deutsch, Bd. 3, hg.v. Gunther Eigler, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1974, 209 – 393). Platon, Symposion, 203b (= Werke, Bd. 3, 317).
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kenntnis der unvergänglichen und unwandelbaren Ideen. In der Sphäre der Sterblichen ist auch die Erkenntnis etwas Sterbliches, etwas Wandelbares, das sich immer wieder erneuern muss, sowohl individuell (Erinnerung) als auch sozial (Belehrung der Jungen durch die Alten). Die Liebe erzeugt mit der Generationenfolge auch die Tradition der Erkenntnis. Doch sie führt eben über diese Unsterblichkeit, die nur Iteration und Prolongation, eine auf Dauer gestellte Zeitfüllung ist, auch hinaus zur Ewigkeit der Ideen, in deren Vollkommenheit die Liebe untergeht. Die platonische Liebe ist etwas Mittleres, ein Schweben zwischen Ungleichartigem. Sie hat vektoralen Charakter. Sie ist die Triebfeder der Höherentwicklung vom Einzelnen zum Allgemeinen, vom Natürlichen zum Vernünftigen, vom Wandelbaren zum Unwandelbaren, vom Teil zum Ganzen. Doch die platonische Liebe verzehrt sich in ihrem Mittlerdienst. Sie geht mit ihrer Vollendung zugrunde. Sie führt hinauf und erübrigt sich damit. Der Welt der Ideen gehört sie nicht zu. Sie bewegt die wandelbare Welt auf ihr Ziel hin und muss doch mit dem Endlichen vergehen. In der platonischen Liebe wird also eine Vermittlung gedacht, die nicht auf eine Integration oder Aufhebung der zu vermittelnden Elemente, sondern auf eine Überführung und Ausgrenzung hinausläuft, ganz gleich, wie wichtig der Weg bewertet wird. Dass das Absolute lieben könnte, ist undenkbar. Diese Konzeption ist solitär ausgerichtet. Sie kennt keine Gemeinschaft von Gleichartigen, keine adäquate Kommunikation von Ewigem und Zeitlichem, keine vernünftige Wechselwirkung der Liebenden. Sie vernachlässigt die soziale Dimension.
3.2 Die wechselseitige Liebe (philia) Die Freundschaftslehre des Aristoteles, wie sie in seiner Nikomachischen Ethik vorliegt, ist eine Mischung aus systematischer Abhandlung und assoziativer Reihung von Einzelfeststellungen.⁵¹ Liebe ist Wohlwollen, freies auf Wechselseitigkeit abzielendes Wohlwollen. Freundschaft (philia) ist zwar keine Tüchtigkeit (Tugend), aber ein notwendiger Bestandteil des menschlichen Glücks. Nur die von Tugend geprägte und von ihr getragene Freundschaft ist wahre Freundschaft. Nur in ihr nimmt jeder den anderen um seiner selbst willen wahr und geht um des anderen willen auf ihn ein. Nur sie ist eine Beziehung freier Wechselwirkung, eine Beziehung, in der jeder als Zweck an sich zur Geltung kommt und in der nicht auf außerhalb liegende Zwecke hingeschielt wird. In den beiden anderen Freundschaftsarten, die durch Vergnügen bzw. Eigennutz geprägt sind, wird der Beziehungspartner instrumentalisiert. Er ist nur soweit und solange interessant, als er bestimmte Leistungen erbringt. Nur wenn sich beide Menschen – Aristoteles hat wie Platon bei Freundschaft und Liebe jeweils eine Beziehung zwischen Männern vor Augen – im selben tugendhaften
Vgl. Aristoteles, Ethica Nicomachea, 1155a–1172a (= Aristoteles, Nikomachische Ethik, Bd. 6, Werke in deutscher Übersetzung, hg.v. Franz Dirlmeier, Berlin: Akademie-Verlag, 51969, 170 – 216).
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Wohlwollen begegnen, dieses ihr Wohlwollen sich gegenseitig erklären und über längeren Zeitraum häufig miteinander reden, so dass Vertrauen wachsen kann, nur dann entsteht eine von freiem Selbstbewusstsein geprägte freie Wechselbeziehung. Die tugendhafte Freundschaft ist eine Beziehung freier Solidarität, die die anderen beiden Freundschaftsarten nicht nur in sittlicher Hinsicht weit überragt, sondern Nutzen und Vergnügen auch integriert.⁵² Die Tugendfreundschaft lebt aus der vernünftigen Selbstliebe. Durch diesen Begriff der philautia will Aristoteles sowohl die Motivation als auch die Struktur der wahren Freundschaft, des freien Wohlwollens, der wechselseitigen Solidarität erhellen. Philia und philautia setzt Aristoteles in ein gegenseitiges Begründungsverhältnis. Auf Gemeinschaft ausgerichtete Vernunft und sittlich entwickeltes Selbstbewusstsein werden hier verschränkt.⁵³ Gerade durch die Verschränkung von Tugendfreundschaft und Selbstliebe entdeckt Aristoteles nicht nur die Vernünftigkeit beider, sondern er sichert die Selbstliebe vor einer solipsistischen Borniertheit, indem er ihr den Kommunikationsraum der Freundschaft öffnet, und er bewahrt die Freundschaft vor angestrengten und außengeleiteten Tugendbemühungen, indem er sie in den Triebfedern des Selbst verankert. Die Freundschaft sei für das sittliche Leben eines Menschen notwendig, weil das intendierte vernünftige Glück durch die freie Wechselwirkung, durch die bessere Erkenntnis und differenziertere Formierung des eigenen Selbst, die das „alter ego“ herbeiführt, vervollkommnet wird.⁵⁴ Wie sieht die theologische Seite der Aristotelischen Freundschaftslehre aus? Lässt sich die Konzeption einer freien Mitteilung, eines bereitwilligen Gebenkönnens, einer gleichwertigen Wechselwirkung mit dem anderen Selbst auch auf das Verständnis der Gottesliebe anwenden? Dies verneint Aristoteles. „Denn Freundschaft, so sagen wir, ist da, wo es Gegenliebe gibt. Bei der Freundschaft mit Gott aber ist kein Raum für Gegenliebe noch überhaupt für Liebe. Denn es wäre absurd, wenn jemand behauptete, er liebe den Zeus.“⁵⁵ Aristoteles lehnt die philia als Verstehensmuster für die Beziehung zwischen Gott und Mensch ab, denn sein Gottesbegriff ist der der reinen Suisuffizienz, der völligen Selbstgenügsamkeit.⁵⁶ Aristoteles denkt die Beziehung der autarken göttlichen Lebensfülle⁵⁷ zum bedürftigen sterblichen Menschen vektoral, es
Vgl. Aristoteles, Ethica Nicomachea (s. Anm. 51), 1156b,7– 32. Vgl. Aristoteles, Ethica Nicomachea, 1166a,1– 1166b,2. Vgl. Aristoteles, Ethica Nicomachea, 1169b,28 – 1170a,4. Aristoteles, Magna Moralia, 1208b,28 – 31 (= Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 8, hg.v. Franz Dirlmeier, Berlin: Akademie-Verlag, 21966, 76). Vgl. „Es wäre ja spaßhaft, wollte man der Gottheit vorwerfen, das Wiedergeliebtwerden entspreche nicht dem wie sie (von uns) geliebt wird – oder in dem Verhältnis zwischen Gebieter und Gehorchendem. Denn Geliebtwerden, nicht Lieben steht dem Gebietenden zu oder ein Lieben auf andere Weise.“ Aristoteles, Eudemische Ethik, 1238b,27– 30 (= Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 7, hg.v. Franz Dirlmeier, Berlin: Akademie-Verlag, 1962, 74). Vgl. „Denn nicht in dem Sinn (wie der Mensch) ist der Gott glücklich, sondern sein Glück ist höheren Ranges, so daß der Gegenstand seines Denkens kein anderer sein kann als er selbst. Der Grund
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ist das Verhältnis des selbstmächtigen Herrn zum ohnmächtigen Knecht. Gott habe alle Lebensmomente brechungslos in sich, er sei prinzipiell immanent.⁵⁸ Die radikale Autarkie Gottes, sein solitäres Beisichselbstsein schließe jede Wechselbeziehung zwischen Unendlichem und Endlichem aus. Freiheit und Freundschaft passen nicht zum Gottesbegriff. Andererseits könne sich der Mensch nur dialogisch in der Selbsttranszendierung zum alter ego erkennen, weil die Freiheit erst im Wechsel von Aufruf und Aufrufsantwort Gestalt gewinnt. Der spekulative Solipsismus der Aristotelischen Theologie tritt damit in Widerspruch zur philia als politisch-ethischem Grundbegriff: Freundschaft und Liebe sind nur menschliche Glückseligkeitsarten; dem Weisen und seinem Gott sind sie fremd. Indem Aristoteles zugleich die freie Wechselwirkung sittlicher Subjekte und die transzendierende Gottesschau der Vernunft festhält, entzieht er dem Philosophen die Freiheit von Freundschaft und Liebe.
3.3. Die verdankte Liebe (agape) Der im Neuen Testament dominierende agape-Begriff ist triangulär. Gott, Mensch und Mitmensch werden hier zusammengedacht und unlösbar verwoben. Und unter dem Gesichtspunkt der neuen Schöpfung wird auch der kosmologische Aspekt in dieses Beziehungsgeflecht mit hineingenommen.
3.3.1 Paulinische Liebestheologie Paulus vertritt keine anagogische Konzeption der Liebe, sondern eine präsentische. Die Liebe ist die Gegenwart göttlichen Heils und göttlicher Wirksamkeit im Menschen. Die Vermittlung wird nicht als eine noch zu leistende oder im Gang befindliche gedacht, sondern als schon vollzogene und jeweils präsente. Die Liebe ist Teilhabe am göttlichen Leben, weil sie Wirksamkeit Gottes im Menschen ist. Damit wird von Paulus der Einheitsgrund von Gottes- und Nächstenliebe ins Licht gestellt; es ist die Liebe Gottes zum Menschen. Gott, der von Platon bzw. Aristoteles als das interesselose, lieblose, in sich ruhende Sein bzw. als der unbewegte Beweger gedacht wurde, wird von Paulus in Anknüpfung an alttestamentliche Vorstellungen („Eifersucht“) als liebend beschrieben: Gott hat sich den Menschen in Liebe zugewandt (vgl. Röm 5,5b–9; 8,31– 39). Die Liebe ist Merkmal des neuen Seins als einer von Gott erschlossenen Wirklichkeit, deren Erfüllung nicht erst zu erreichen oder anzustreben ist. Die Erlösten haben dadurch, dass sie der Seinssphäre Christi zugehören, teil an der in ihm wirksamen Liebe Gottes zu den Menschen. Dadurch sind die Erlösten auch zur Nächstenliebe befreit. Paulus versteht die Liebe als die Erfüllung des Gesetzes (vgl. Röm davon ist, daß für uns das Glück eine Bezogenheit nach außen hat, für Gott aber gilt, daß er selbst allein sein eigenes Glück ist.“ Aristoteles, Eudemische Ethik, 1245b,16 – 19 (= Werke, Bd. 7, 94). Vgl. „Der Gott […] ist das ewige, beste Lebewesen, so dass Leben und stetige Fortdauer dem Gott zukommt“. Aristoteles, Metaphysik, 1072b,18 – 30.
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13,10; Gal 5,14); dabei hat er die Wechselseitigkeit der innergemeindlichen Nächstenliebe durchaus im Blick: „Seid niemand etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebet; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt.“ (Röm 13,8). Höchst aussagestark und begeisternd ist der Hymnus 1Kor 13, der bei kirchlichen Trauungen häufig verlesen wird. Vers 1– 3: Ohne Liebe sind alle die im Urchristentum so hochgeschätzten Gaben nichts. Vers 4– 7: Die Liebe steht in schneidendem Gegensatz zur Existenzweise des nicht von Christus geprägten Menschen (acht Negationen); sie bestimmt die konkrete Alltäglichkeit des Christen (Vielzahl von Verbalsätzen). Vers 8 – 13: Die Unvergänglichkeit der Liebe macht sie allen anderen hervorragenden Gaben wie Zungenreden und Weissagen überlegen. Die syntaktische Subjektstellung der Liebe in den Aufzählungen unterstreicht, dass sie für Paulus eine göttliche Macht ist. Sie ist die höchste Lebendigkeit des von Christus befreiten Menschen. Warum ist die Liebe die größte in der Trias, durch die Paulus das neue Sein in Christus beschreibt? Die Eingeschränktheit des Glaubens und des Hoffens ist der Abstand von der Erfüllung: Der Glaube ist noch nicht Schauen; er weist über sich hinaus, er intendiert seine Überführung in einen Erfüllungszustand, die Zukunft vollendet ihn. Die Hoffnung ist aus der Gegenwart auf die Zukunft verwiesen, die das jetzt noch Ausstehende wirklich werden lässt. Die Liebe dagegen ist Erfüllung. Indem Paulus ihre Unvergänglichkeit herausstreicht, bezeichnet er ihre Überlegenheit: Sie gehört nicht nur der Gegenwart an, sondern verwandelt diese Gegenwart in Ewigkeit, enthüllt die Ewigkeitsdimension der Gegenwart. Sie gehört auch zum Zustand der Vollendung.
3.3.2 Johanneische Liebestheologie In den synoptischen Berichten ist bei aller inhaltlichen Entgrenzung der Liebesforderung die Struktur des Liebesgebots einlinig. Es ist ein Verhalten vom Ich zum Du. Die Liebeshandlung wird nur punktuell aufgefasst, das Ich ist fertig, das Du ist ein Außen, Gottes- und Menschenliebe stehen nebeneinander. Dagegen zeigt der johanneische Christus die Wechselseitigkeit der Liebe, die Dimension des Leidens und das Ineinssein von Gottes- und Menschenliebe. Bei Johannes⁵⁹ wird das Gebot der Nächstenliebe prinzipiell von der durch Jesus gestifteten Gemeinschaft her formuliert: „Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebet, gleichwie ich euch liebe.“ (Joh 15,12). Jesus bezieht seinen Standort im Zwischen („einander“). Das Gebot der Nächstenliebe zielt auf die Wechselbeziehung. Die in Christus gegründete Wechselbeziehung selbst ist Blickpunkt und gedanklicher Drehpunkt der johanneischen Gemeindeliebe. Aufschlussreich ist die konstruktive Ortsbestimmung des johanneischen Liebesgebots innerhalb des Evangeliums. Das Liebesgebot nimmt bei Johannes nämlich die
Vgl. Hermann Timm, Geist der Liebe. Die Ursprungsgeschichte der religiösen Anthropotheologie (Johannismus), Gütersloh: G. Mohn, 1978.
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Stelle der Leidensweissagungen bei den Synoptikern ein. Bei den Synoptikern ist das Kreuz Station eines Weges, den Jesus sehenden Auges, das heiβt nicht ausgeliefert an ein Verhängnis, sondern gewollt als Bestandteil seiner Botschaft, gegangen ist. Die höhere Notwendigkeit des Kreuzes ergibt sich aus Gottes unerforschlichem Plan, wie er aus dem Alten Testament abgelesen werden könne. Bei Johannes dagegen wird das Geschick Jesu vom Liebesgedanken her gedeutet: Jesu Leiden und Tod erhalten ihren Sinn um der österlich-gemeindlichen Freundschaft willen. „Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“ (Joh 15,13). Der Logos muss sich von seiner selbsthaften Erscheinung trennen, um im Füreinander und Miteinander des Geistes universal zu werden. Die totale Schwäche hebt den vereinsamenden Zwang zur Selbstbegründung auf und stiftet Vielheit. Das Kreuz Jesu, das die abgründig-bedrängende Warum-Frage des Sterbenmüssens jedes Menschen religiös aufs äußerste zuspitzt, wird von Johannes gedeutet als Moment der Logosliebe, die den höchsten Gegensatz von Tod und Leben versöhnt: „Es ist vollbracht!“ (Joh 19,30). In der Geschwisterliebe der Gemeinde wird der Logos als dauernd dableibend gedacht: Die Nächstenliebe wird so zum Spiegelbild der Gottesliebe; beide gründen einheitlich in der Liebe Gottes. Alles sind nur Momente der Liebe, die zum Movens der Vermittlung von Gott und Mensch geworden ist. Die Singularität der Gottessohnschaft des Logos wird in die Universalität der Kindschaft aller überführt, indem Gott als die Liebe identifiziert wird (vgl. 1Joh 4,7– 21). Die Tiefendimension der gemeinsamen Gotteskindschaft gibt der alltäglichen Praxis der Geschwisterliebe eine selbsttragende Verlässlichkeit und ein sympathetisches Einverständnis. Die Reichweite der johanneischen Geschwisterliebe ist allerdings eingeschränkt: sie ist ohne Feindesliebe. Die böse Welt bleibt außen vor und hat in der Gemeinde nichts zu suchen. Dadurch bekommt das johanneische Liebesverständnis einen esoterischen und praxisfernen Zug.⁶⁰
3.4 Unmittelbare Vermittlung Der Blick in die Philosophie- und Theologiegeschichte belehrt über unterschiedliche begriffliche Erfassungen der Liebe. Er erlaubt eine präzisere Beschreibung der Strukturen, die für bestimmte Gestaltungen und Aspekte der Liebe wesentlich sind. Während Platon im eros-Begriff den Bildungstrieb und die Bildbarkeit der Liebe
Hegel sah die urchristliche Gemeinde durch die Liebe konstituiert, wobei die gläubige Vereinigung in Gott allerdings die Aussonderung von anderen Menschen und die Binnenbeschränkung auf das Bewusstsein gegenseitiger Liebe implizierte, ohne dass dieser allgemeine Geist sich in bestimmten Formen lebendiger Vereinigung konkretisiert hätte; das Urchristentum sei also durch den Widerspruch geprägt, dass die Liebe einerseits durch die große Anzahl der Liebenden gleichsam überdehnt und andererseits durch die Scheu vor allen lebendigen Formen untätig in der Beschränkung auf sich selbst gehalten wurde. Vgl. Hegel, Jugendschriften (s. Anm. 43), 322– 323. 330.
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hervorhebt, die Liebe als ein gerichtetes Streben zur Schau der Ideen versteht, betont Aristoteles im philia-Begriff die vernünftige Wechselseitigkeit des durch die Liebe gestifteten Zwischen. Für beide ist die Liebe etwas durchaus Ursprüngliches. Aristoteles beschreibt die Sozialität, die durch Liebe gestiftet und in der Liebe erhalten wird, Platon dagegen die Bildungskraft der Liebe, die die Liebenden antreibt auf dem Weg zur humanen Vollendung. Im biblischen agape-Begriff werden die religiösen Erfahrungen und die theologischen Deutungen angegeben, die das fromme Selbst nicht nur zum Aufbau liebevoller Gemeinschaft mit anderen Frommen, sondern auch zum Übergang in die Welt treiben. Die Liebe ist ein Modus des Innen, das im Außen das Mitsein mit anderem Innen erfahren und darstellen will. Das Beisichselbstsein der Person, das innige Einssein mit sich selbst reißt sich in der Liebe von sich selbst los, um sich im anderen zu finden. Dabei wird das Du als eigenes Selbst wahrgenommen und mit ihm gemeinsam eine Sphäre des Wir gestaltet. Dieses Wir ist das von der Liebe erfüllte Zwischen, in welchem jedes Selbst reicher zu sich zurückkehrt, weil es im anderen ein anderes Selbst findet, das ebenfalls im Zwischen von Ich und Wir lebt. Die Liebe ist die unmittelbar im Zwischen wirksame Vermittlung. Das von der Liebe gestiftete Mitsein wirkt selbststeuernd auf die Entwicklung und Gestaltung der Liebe ein.
4 Das Tun der Liebe Aus der Vielzahl der von der Liebe bestimmten Lebensakte werden unter ethischem Aspekt diejenigen ermittelt und untersucht, die für die Gestaltung der menschlichen Lebensführung wesentlich sind. Damit wird die Aufmerksamkeit auf die Frage gelenkt, welche sittliche Bedeutung die Liebe für das Gelingen der menschlichen Lebensführung hat und welche Erkenntnisleistung der Liebesbegriff für die ethische Reflexion erbringt.
4.1 Ethiktyp Eine Ethik, die die Liebe in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellt, hat stark beschreibenden Charakter. Eine solche Ethik zeichnet vorrangig Lebensprozesse nach. Sie kann sich dabei auf Phänomene der Wirklichkeit berufen. Sie hat nicht die ganze Last des Seins und Werdens zu tragen, sondern kann über weite Strecken beobachten und zusehen, was passiert bzw. was schon geschehen ist und immer wieder geschieht. Eine solche Ethik hat primär die Aufgabe der Aufklärung. Sie erhellt Motivkonstellationen und erkundet Verwicklungen. Ihre Fähigkeit zu rubrizierenden Verhaltensanweisungen und immer gültigen Handlungsregeln ist allerdings gering. Eine solche Ethik ist am konkreten Leben, seiner Verfasstheit und seinen Bedürfnissen orientiert. Sie nimmt die Vielfalt der Wirklichkeit wahr. Sie bearbeitet diese Vielfalt nicht durch Reduktionsstrategien, sondern sie will die Herausforderungen und Wandlungen des
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gesellschaftlich-individuellen Lebens mit offenen Augen wahrnehmen und mit wachem Sinn für das Nötige gestalten. Eine solche Ethik stellt Beispiele dar und ermutigt zur eigenständigen Urteilsbildung. Sie reagiert auf die Undeutlichkeit und innere Gegenläufigkeit der Lebenswirklichkeit nicht durch Abgrenzung, sondern durch die behutsame und geduldige Suche nach dem immer wieder Lebensförderlichen. Eine Ethik, die die Liebe in den Mittelpunkt stellt, ist von der Überzeugung getragen, dass die Liebe das letzte Wort hat. Eine solche Ethik nimmt die Offenheit und Gestaltungsbedürftigkeit des Lebens als Geschenk wahr, nicht als quälende Aufgabe, die mittels moralischer Appelle eher hinterherhechelnd bewältigt werden muss. Ihr Geltungsanspruch ist damit nicht auf die Insel der Seligen eingeschränkt. Eine solche Ethik braucht sich nicht des Illusionismus zeihen zu lassen. Sie nimmt nur die Bosheit und das Übel dieser Welt auf als das, was sie sind: zerstörerisch und vergänglich. Sie traut der Liebe die Kraft zu, die Negation auszuhalten und durch die Trennung hindurch Einheit herzustellen. Sie sieht in der Liebe die schöpferische und bewahrende Kraft, die sich gegen Bosheit und Übel allgemein durchsetzen wird. Eine Ethik, die die Liebe in den Mittelpunkt stellt, hat traditionell eine Nähe zur Tugendlehre. Dies macht auf konzeptionelle Schwierigkeiten aufmerksam. Tugend und Laster sind sittliche Grundhaltungen einer handelnden Person. Sie qualifizieren vorrangig die Person, nicht die Handlungen (das ist das Thema der Pflichtenlehre) und auch nicht die Handlungsergebnisse (das ist das Thema der Güterlehre). Tugend und Laster sind einzelne besondere Charakterdispositionen, die das Verhalten eines Menschen durch die Art der Motivation steuern.⁶¹ Entsprechend der Vielzahl von Charakterdispositionen kann auch von einer Vielzahl von Tugenden und Lastern geredet werden. Die Tugend als die dem Guten förderliche Gesamtverfasstheit der handelnden Person wird ethisch mit den Handlungen und Handlungsergebnissen verknüpft, indem diese als Folgen der Tugend begriffen werden. Die Tugendlehre war in einer primär natürlich verfassten Welt hilfreich und ausreichend. Sie regulierte die natürliche Ausstattung des Menschen hinsichtlich seiner Handlungsmotive dadurch, dass bestimmte Motive wie Furcht, Feigheit, Neid, Jähzorn ausgeschlossen und andere wie Mut, Tapferkeit, Besonnenheit gestärkt werden, damit die zerstörerischen oder selbstzerstörerischen Impulse nicht zum Zuge kommen. Die Moralbildung war früher exemplarisch an Geschichten von Personen ausgerichtet. Jähzorn und dessen negative Folgen wurden beispielsweise mit dem Verweis auf Alexander geächtet, der in einem Trinkgelage in aufbrausender Wut den eigenen Freund tötete und sich selbst damit um ein hohes Gut brachte, dessen von ihm selbst herbeigeführten Verlust er bei klarem Kopf sehr betrauerte; folglich müssen Jähzorn und Trunksucht durch sittliche Anstrengungen (Askese) bekämpft werden. Platon lehrte entsprechend der dreifachen Seelenaktivität die drei ordnenden Grundtugenden Besonnenheit (für den elementaren Triebbereich), Tapferkeit (für den Mutbereich) und Weisheit / Einsicht (für den herrschenden Vernunftbereich); die Gerechtigkeit bringe gemäß der Idee des Guten die drei Grundtugenden in ihr angemessen-natürliches Verhältnis und stelle die Harmonie der Seelenkräfte her (vgl. Politeia).
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Die Überzeugungskraft und die ethische Leistungsfähigkeit der Tugendlehre sind rückläufig, weil die soziale und individuelle Verfasstheit der Personen immer weniger von den natürlichen Bezügen geprägt ist. Der Raum sittlicher Selbstverständlichkeit und Unmittelbarkeit schrumpft. Die Überschaubarkeit und Festigkeit des sittlichen Erfahrungsraums nimmt ab, seine Gestaltungsbedürftigkeit nimmt zu. Die Tugendlehre verliert an Kompetenz und Eindeutigkeit, weil die Tugendfolgen immer schwieriger zu identifizieren sind. Die Tugendlehre gibt keine Anleitung, welche institutionelle Strukturen für die soziale und individuelle Lebensgestaltung aufgebaut werden müssen. Eine Ethik, die die Liebe in den Mittelpunkt stellt, sollte im Stil einer kritischen Ethik ausgeführt werden, die empirische und normative Gesichtspunkte aufeinander bezieht. Eine solche Ethik wird die wissenschaftliche Untersuchung von Konfliktsituationen und die Aufklärung sittlicher Motivationslagen miteinander verknüpfen. Sie wird die Wahrnehmung von Entwicklungsprozessen zusammenbringen mit der sittlichen Kraft und Verbindlichkeit, die der Liebe innewohnen.
4.2 Die Vernunft der Liebe Indem die Liebe zum ethischen Prinzip erhoben wird, rücken Motivation und Disposition des sittlichen Subjekts ins Zentrum der ethischen Überlegungen. Ist das aber verträglich mit der nötigen Sachkompetenz? Lassen sich heutzutage noch Entscheidungen treffen, ohne die materialen Handlungsfolgen angemessen berücksichtigt zu haben? Eine reine Motivationsethik der Liebe ist ohne angemessene Handlungssteuerung, weil die Folgenabschätzung unverzichtbar ist. Umgekehrt ist eine reine Verantwortungsethik der Vernunft ohne angemessene Handlungsantriebe, weil die Regelhaftigkeit und Folgenabschätzung allein nicht zureichend sind und ihrerseits Handlungsantriebe nur beurteilen, nicht aber schaffen können. Beide ethische Konzeptionen basieren auf Einseitigkeiten. Liebe und Vernunft stehen sich nicht äußerlich gegenüber; sie sind aufeinander verwiesen und suchen die gegenseitige Ergänzung. Die Liebe muss leibhaftes Verhalten selegieren. Sie ist ein gebildeter Trieb, ein konstitutives Moment im Selbstbildungsprozess jeder Person. Die Liebe speist sich aus den Grundmotiven des Lebensprozesses. Deshalb ist sie nicht so leicht von Kraftlosigkeit bedroht, eher von Missbildung und Fehlentwicklung. Sie wird ja ihren Schatten, den Hass, nie los; denn Liebe gibt es nicht, ohne dass auch Hass potentiell da ist. Der Hass ist der Bewährungsfall, in welchem die Liebe ihre Kraft gewinnt.⁶² Die Herkunft aus der libido bleibt in der Liebe gegenwärtig; das verursacht oft Wirrnisse In seiner Schrift Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit schreibt Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: „Denn jedes Wesen kann nur in seinem Gegentheil offenbar werden, Liebe nur in Haß, Einheit in Streit.“ Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Sämmtliche Werke, Bd. I,7, hg.v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart / Augsburg: Cotta, 1860, 373.
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und Qualen. Die unter dem Stichwort der reinen Liebe betriebene Immaterialisierung der Liebe ist ein Bemühen, das in die Irre führt. Das Besondere der Liebe ist ja, dass sie ein natürliches Phänomen ist, das menschliches Leben von der Geburt an begleitet. Und die von der Geburt an erfahrene Zuwendung ist ja durchaus leiblicher Art. Doch mit der Veränderung der Leiblichkeit und mit dem Wachsen der sozialen Beziehungen wächst auch die Liebe. Die natürliche Liebe ist nie nur natürlich, sie ist immer auch der Bildbarkeit des Geistes, dem Aus-sich-Herausgehen und Beim-andern-Sein, erschlossen. Denn Liebende sind im Geist verbunden; dieser Geist wird aber in der Leiblichkeit dargestellt. Liebe gibt der Leiblichkeit Geist. Die zahlreichen Gegenläufigkeiten und Spannungen in den menschlichen Bedürfnissen und Lebensplänen führen oft zu schmerzvollen Auseinandersetzungen. Dabei respektieren Liebende die anderen Personen als Selbstzweck. Liebende behandeln andere Menschen nicht wie Sachen, setzen andere Menschen nicht nur als Mittel ein, um irgendwelche Zwecke zu erreichen. Liebende lassen es auch nicht zu, dass sie selbst von anderen nur wie Sachen oder Mittel behandelt werden. Liebende behandeln die anderen Menschen so, wie diese sich selbst behandeln müssten und wie diese uns behandeln müssten, wenn sie vernünftige an der Würde orientierte Menschen wären. Liebende unternehmen deshalb alles, um die Reziprozität der Beziehung zu erreichen. Ihr Tun ist darauf gerichtet, die Würde der anderen, falls sie von diesen aufgegeben worden ist, wiederherzustellen. Liebende sind darauf aus, die Partizipation aller an den Entscheidungen und den Gütern der Gemeinschaft zu erreichen. Liebende zielen in ihrem Tun auf das Gedeihen der Gemeinschaft, auf das Offenhalten der Zukunft für alle Mitglieder. Gerade weil die Liebe erfüllte Gegenwart ist, müssen Liebende nicht alle Lebensmöglichkeiten in diese Gegenwart hineinreißen und verzehren. Augustin wagte den Satz: „Dilige, et quod vis fac!“⁶³ Augustin wusste allerdings, dass die Liebe beim postlapsarischen Menschen nicht intakt ist. Doch wird hier die überraschende Regellosigkeit der Liebe angesprochen. Es ist eine äußerliche Regellosigkeit. Die Liebe kann sich über alle ökonomischen, sozialen, nationalen, religiösen Schranken hinwegsetzen. Sie ist sich ihrer eigenen Intentionen und ihres eigenen Tuns sicher. Deshalb ist sie von äußeren Reglementierungen befreit. Das besagt aber nicht, dass sie innerlich regellos wäre. Liebe ist keine blinde Leidenschaft. Sie ist sich gegen alle konventionellen und kultischen Regeln gewiss, dass sie mit dem göttlichen Wollen übereinstimmt und das Leben gelingen lässt. Ihre Regelhaftigkeit ist derjenigen eines Kompasses vergleichbar, dessen Nadel durch das Kraftfeld seine Ausrichtung erhält. Die Liebe ist in hohem Maße der Individualisierung fähig. Sie nimmt das je Eigene wahr und kann angemessen damit umgehen. Sie stellt sich auf die jeweilige Situation ein. Insofern verhält sie sich zur Allgemeinheit des Gesetzes kritisch. Das Gesetz wird
Augustinus, In Epistolam Joannis ad Parthos tractatus decem, VII 8; Patrologiae cursus completes. Series Latina, Bd. 35, hg.v. Jacques-Paul Migne, Paris: Migne, 1845, 2033.
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mit seiner Forderung nach Allgemeinheit oft zu einem Fremden, dem das IndividuellEigene geopfert werden muss. Demgegenüber hat die Liebe Verständnis für Besonderheit. Sie heißt Besonderheit gut, solange diese sich nicht in privater Borniertheit apart setzt. An Borniertheit muss auch die Liebe zerbrechen. Deshalb sind Liebende in ihrer Liebe bedroht und angefochten. Beim Gebot der Nächstenliebe ist immer wieder die Frage verhandelt worden: Wer ist mein Nächster? Diese Frage hat zunächst den Sinn, den Anspruch des Liebesgebots abzuwehren. Wenn sich nicht ausmachen lässt, wer der Nächste ist, kann der sittlichen Forderung ausgewichen werden. Ferner kann die Frage auch auf den Konflikt hindeuten, dass mehrere Menschen berechtigte sittliche Ansprüche haben, die nicht gleichzeitig erfüllt werden können. Dann muss eine Entscheidung zwischen diesen Ansprüchen getroffen werden. Dies sprengt zumeist den individualethischen Verständnisrahmen des Liebesgebots. Der Geltungsbezug auf die Menschheit statt auf den einzelnen kann eine wichtige Entscheidungshilfe bereitstellen. Schließlich bleibt die Analogie von Selbstliebe und Nächstenliebe auslegungsbedürftig: Meint das vieldeutige „wie“ eine gleichmäßige Verteilung? Meint es Nächstenliebe statt Selbstliebe? Ist es eine Handlungsanweisung? Wie das Gebot der Nächstenliebe als Handlungsanleitung zu verstehen ist, hat Jesus in zwei Richtungen schärfer formuliert. In der Bergpredigt steigert er das Gebot der Nächstenliebe zu dem der Feindesliebe (vgl. Mt 5,43 – 48). Ohne auf die grundsätzlichen Interpretationsprobleme und Deutungsansätze der Bergpredigt näher einzugehen, ist die hier ausgesprochene Radikalisierung doch deutlich. Jesus thematisiert nicht das alltägliche Zusammenleben innerhalb der Gemeinschaft des Volkes, nicht die Störung und Schädigung dieser Gemeinschaft durch ein egoistisches Verhalten auf Kosten des anderen, sondern das bereits zerstörte und von Hass bestimmte Verhältnis zwischen Feinden, das wieder erneuert werden soll. Was kann in einer Situation des Hasses getan werden? Soll der Hass durch Gefügigkeit und Stillhalten überwunden werden? Fordert Jesus einen sittlichen Quietismus? Mt 5,39 scheint das nahezulegen: „Ihr sollt nicht widerstreben dem Übel“. An die Stelle der Vergeltung setzt Jesus den Verzicht auf Widerstand gegen das Übel. Einbußen an Eigentum und Ehre sollen hingenommen werden. Dürfen also die eigenen berechtigten Rechtstitel nicht verteidigt werden? Dieses Gebot der Bergpredigt hat zu größten Interpretationsbemühungen geführt. Bedeutet es nicht den Verzicht auf die Rechtsordnung? Luther argumentierte mit der Nächstenliebe, um obrigkeitlichen Zwang zur Aufrechterhaltung der Rechtsordnung zu legitimieren; nicht also für sich selbst, wohl aber für die anderen dürfe und müsse der Christ den Übeltätern in den Arm fallen.⁶⁴ Doch kann dieses Gebot der Bergpredigt auch so gedeutet werden, dass das Wechselspiel der Vergeltung, des Hasses, aufgesprengt werden soll. Christen sollen ein Tun in Gang setzen, das die Wiederherstellung der Gemeinschaft im Sinn hat. Auf Hass
Vgl. Martin Luther, Predigten und Schriften 1523, Bd. 11, Werke. Kritische Gesammtausgabe (= WA), Weimar: Böhlau, 1900, 252– 253.
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antworten Christen nicht mit Hass, auf Zerstörung nicht mit Vergeltung. Wohl aber wehren sie entschieden alle Bedrohungen und Angriffe mit eigenen Aktionen ab, in denen die Fehlhaltung der anderen mitbedacht und ihr Widerspruch gegen den göttlichen Willen nicht akzeptiert wird. Christen behandeln auch ihre Feinde so, wie es deren Gottebenbildlichkeit, Würde und Vernunft entspricht; sie ergreifen Maßnahmen, die diese beim anderen wiederherstellen. Es ist also keine prinzipielle Hinnahme des Bösen, sondern eine Überwindung der Reaktionsweisen, die selbst vom Schatten des Bösen geprägt sind. Liebe kann auf Eigenes verzichten, wenn dadurch neue Gemeinschaft ermöglicht wird. „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibt die Furcht aus“ (1Joh 4,18). Sie ist immer auf das Lebensfördernde aus. Liebende wollen den Hass auch durch einseitige Erneuerungsaktion überwinden. Jesus begründet dies mit der Analogie zur Vollkommenheit Gottes, der auch einseitig auf den Menschen zugegangen ist und zugeht. In seinem Gleichnis vom barmherzigen, das heiβt liebevollen, Samariter (vgl. Lk 10,29 – 37) liefert Jesus eine authentische Verstehensanleitung für das Gebot der Nächstenliebe. Nur beiläufig sei bemerkt, dass Jesus beim Priester und Leviten eine Frömmigkeit an den Pranger stellt, für die die eigene Reinheit, die eigene Gesetzesbefolgung wichtiger ist als die Zuwendung zum Hilfebedürftigen. Der Samariter hilft, obwohl im religiös-ethischen Sinne der Verwundete nicht sein Nächster ist. Für den Samariter ist Nächstenliebe gleich Fremdenliebe. Er hilft spontan, impulsiv, weil er einen Blick für das in der Situation Notwendige hat. Er stellt keine sittlich-moralischen Betrachtungen an, stellt nicht den Fall und das dazugehörige Gebot fest, versagt sich kasuistische Rubrizierungen, wägt nicht Nutzen gegen Mühen, Fremdanspruch gegen Selbstanspruch. Aber er liebt den Verwundeten auch nicht statt sich selbst. Der Samariter lässt ihm das zukommen, was er braucht, ein Dach über dem Kopf, Pflege und Essen. Das alles kauft er, indem er seine Hilfe an den Wirt delegiert. Er selbst zieht weiter, geht seinen Geschäften nach und kontrolliert auf dem Rückweg nur, ob noch weitere Hilfe Not tut. Er will keinen Dank, übernimmt aber auch keine Lebensbetreuung. Nach geleisteter Hilfe und Wiederherstellung gehen beide getrennt ihren Lebensweg weiter. Die Selbstliebe ist hier nicht als solipsistischer Egoismus gemeint, den es bei sich selbst abzustreifen gilt, der aber dem anderen zugewiesen und bei ihm bejaht wird; es ist also kein spiegelverkehrter Egoismus gemeint. Vielmehr gibt die Selbstliebe den Verstehenshorizont, der das Verhältnis zum anderen prägt. Das „wie“ dient nicht zur Angabe eines formalen Vergleichs, ist nicht das Scharnier einer reinen Projektion vom eigenen Selbst weg auf den anderen zu; sondern dieses „wie“ zielt auf die Sphäre vernünftiger Allgemeinheit, in der das eigene Selbst und der Nächste, der Fremdling, gemeinsam einbegriffen sind. Entsprechend dem eigenen Selbstverhältnis wird auch beim anderen eine solche Selbstbeziehung angenommen; dieser wird ebenfalls als Selbst behandelt. Die Liebe stellt Gemeinschaft her. Ihre Gestaltungskraft besteht darin, dass sie soziale, politische, wirtschaftliche und religiöse Verhältnisse herstellen will, die der intendierten Gemeinschaft entsprechen und diese fördern. Die Liebe zielt nicht direkt
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auf einzelne Taten, sie ist hinsichtlich der materialen Gestaltung sehr variabel. Sie fördert ein soziales Klima, wo Menschen sich entfalten können. Sie ist die Kraft, die die ihr gemäße Gemeinschaft herstellt und weiterentwickelt. Dabei fängt sie nie bei Null an; denn Liebende gibt es und gab es immer schon. Doch sind diese Liebenden sehr verschieden. Sie wachsen in der Liebe und in ihren Lebenserfahrungen und bilden entsprechend die Gemeinschaft weiter. Die Liebe will die optimale Entwicklung und Entfaltung aller Beteiligten. Sie will den Schutz der Schwachen, den Ausgleich für Benachteiligungen. Sie ist keineswegs nur situativ und leidet durch die Verrechtlichung von Beziehungen keinen Schaden; vielmehr fördert und stützt sie das Recht.⁶⁵ Ihre Kraft gestaltet nicht nur individuelle Lebensverhältnisse, sondern auch soziale Institutionen und Strukturen. Die Liebe zielt auf die Herstellung gesellschaftlicher und staatlicher Ordnungen, die eine humane vernünftige Lebensführung und ein gedeihliches Miteinander fördern und schützen. Die Liebe kommt nicht durch Gegenliebe zustande, wohl aber will sie und erhofft sie Gegenliebe. Sie intendiert eine Wechselbeziehung, auch wenn sie zunächst einsinnig ist. Indem sie einsinnig die Reziprozität von Vernunft und Würde praktiziert, eröffnet sie neue Gemeinschaft. Die Liebe ist kraftvoll, mutig und zukunftsoffen, hat Phantasie zum Ungewöhnlichen. Sie hat keine Angst, sondern Gewissheit und Zuversicht. Sie fängt Rückschläge auf und lebt nicht vom Erfolg. Dadurch wirkt sie sowohl ein Reicherwerden des eigenen als auch der anderen Leben. Denn die Liebe als Lebenskraft ist nicht statisch, sondern wirkt prozessual; sie ist nicht einlinig, sondern eröffnet Wechselseitigkeit. Die Liebe ist nicht primär auf Erfolg aus. Sie erwartet keine Belohnung. Das ist ihre Stärke. Gerade indem sie keine Gegenleistung erwartet, gerade indem sie bedingungslos Vorleistungen erbringt, kann sie festgefahrene Situationen aufbrechen. Sie hat darin und damit Erfolg, dass sie keine Belohnung erwartet. Ihre Belohnung stellt sich gerade durch ihren Verzicht auf Belohnung ein. Die Liebe ist absque intuitu praemii, non sine praemio. ⁶⁶ Sie ist ein erfülltes Zwischen, das Belohnung nicht braucht, aber bekommt, das die eigene Unfertigkeit und Endlichkeit akzeptiert aus der Erfahrung der göttlichen Zuwendung.
Vgl. SW III/2 (s. Anm. 28), 374. Vgl. Kuhn, Liebe (s. Anm. 1), 124. 159 – 160. Im Anschluss an Bernhard von Clairvaux, De diligendo Deo,VII 17; Patrologiae cursus completes. Series Latina, Bd. 182, hg.v. Jacques-Paul Migne, Paris: Migne, 1879, 984.
Zur wirtschaftsethischen Bedeutung des christlichen Menschenbildes Die kapitalistischen Marktgesellschaften Westeuropas sind nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Zentralverwaltungsgesellschaften Osteuropas in einer ambivalenten Situation. Der Sieg der marktorientierten Wirtschaftsordnung macht deren Überlegenheit zu einer unbezweifelbaren Selbstverständlichkeit, zugleich aber treten interne Fehlentwicklungen und Spannungen schärfer hervor und verliert das stabilisierende politisch-soziale Rahmengefüge seine Bindekraft. Tiefgreifende Auseinandersetzungen beispielsweise in Deutschland darum, wie Staatsverschuldung und Massenarbeitslosigkeit zu bewältigen, wie Sozialstaatlichkeit und globale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, wie wirtschaftliche Effizienz und Umweltverträglichkeit zu vermitteln, wie Eigenverantwortung und Gemeinwohl zu stärken seien, warten auf politische Lösungen. Der aus der gegenwärtigen wirtschaftlich-sozialen Krisenlage entspringende Orientierungsbedarf artikuliert sich in verstärkten Bemühungen, wirtschaftsethische Prinzipien für eine lebensförderliche Konfliktlösung zu formulieren.
1 Zur Unverzichtbarkeit der Wirtschaftsethik Die Forderung nach wirtschaftsethischer Orientierung steht allerdings in deutlicher Spannung zum Selbstverständnis der vorherrschenden marktorientierten Wirtschaftswissenschaft. Wirtschaftsethische Überlegungen überhaupt, besonders aber solche von theologischer Seite, werden in wirtschaftspolitischen Diskussionszusammenhängen als außerordentlich voraussetzungsreich und wirklichkeitsfremd beargwöhnt. Nicht nur die These, dass die christliche Anthropologie für die Wirtschaftsethik bedeutsam sei, hat keine selbstverständliche Geltung, sondern schon die Annahme, dass die Wirtschaftsethik für die angemessene Gestaltung der Wirtschaft eine unverzichtbare Perspektive beibringe, wird seitens der Wirtschaftswissenschaft häufig bestritten. Die Wirtschaftswissenschaft behauptet für die Wirtschaftsprozesse Eigenwirklichkeit und Eigengesetzlichkeit. Diese Grundannahme eines autonomen Wirklichkeitsgebiets der Wirtschaft hat geschichtlich maßgeblich zur Befreiung der Wirtschaftsprozesse aus den Fesseln feudaler Sozialordnungen beigetragen. Sie wendete sich gegen die Indienstnahme der Wirtschaft für politische Zwecke und eröffnete damit zugleich ein gesellschaftliches Feld individuellen Freiheitshandelns. Die Selbststeuerung der Wirtschaftsprozesse wurde besonders durch die Autoren des klassischen und des neoklassischen Wirtschaftsliberalismus herausgestellt. Die Autoren des klassischen Wirtschaftsliberalismus (besonders Adam Smith, David Ricardo) gingen von drei anthropologischen Prämissen aus, nämlich dass erstens jeder Mensch Interesse am Eigenwohl, also Selbstliebe habe, dass zweitens jeder Mensch die Freiheit habe, Verträge mit anderen zu schließen, und dass drittens jeder Mensch https://doi.org/10.1515/9783110745498-012
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Recht auf Eigentum und dessen Schutz habe. Basierend auf diesen Prämissen entwickelten diese Autoren eine Theorie der den Wirtschaftskreislauf bestimmenden Arbeitsteilung, des auf den Gleichgewichtspreis hinzielenden Marktpreismechanismus und des auf den Arbeitskosten beruhenden Realwerts. Die Autoren des neoklassischen Wirtschaftsliberalismus (besonders William Stanley Jevons, Carl Menger, Leon Walras und Alfred Marshall) verknüpften mit der klassischen Gleichgewichtstheorie des Tauschmarkts die Marginaltheorie des Nutzens. Sie erklärten die Preisbildung nicht mehr durch die erbrachte Arbeitsleistung der Verkäufer, sondern durch die Nutzenerwartung der Käufer. Durch die Grenznutzentheorie wurden die Größe des Nutzens, mithin auch die subjektiven Bedürfnislagen mathematisch erfasst und dadurch die Prognosefähigkeit erhöht. Die Grenznutzentheorie basiert auf dem Sättigungsgesetz und dem Ausgleichsgesetz. Nach dem Sättigungsgesetz nimmt bei einem beliebig teilbaren Gut der Genuss (Nutzen) mit zunehmendem Verbrauch ab: Der Nutzen eines Einzelguts wird als Grenznutzen gemäß dem Preis der letzten noch begehrten Verbrauchseinheit definiert. Nach dem Ausgleichsgesetz erfolgt bei einem Güterbündel die Berücksichtigung der Einzelgüter (wie bei kommunizierenden Röhren) gemäß der Angleichung der einzelnen Nutzenerwartungen auf dasselbe Höhenniveau: Der maximale Gesamtnutzen einer Vielzahl von Gütern wird durch das gleich hohe Grenznutzenniveau der Einzelgüter definiert. Der historische Rückblick zeigt, dass die Wirtschaftswissenschaft sich immer stärker am Wissenschaftsideal der Naturwissenschaft orientiert hat. Waren wirtschaftswissenschaftliche Beobachtungen und Überlegungen zunächst im Bereich der praktischen Philosophie beheimatet und in den Rahmen einer politischen Ökonomie eingebettet, so ist heute das Konzept einer wertfreien empirischen Wissenschaft in einzelwirtschaftlicher Perspektive leitend. Die gegenwärtig zu beobachtende Konjunktur der Wirtschaftsethik weist darauf hin, dass das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Wirtschaftswissenschaft schwindet. Nicht die Fähigkeit, wirtschaftliche Sachlagen zu erfassen und zu analysieren, wird der Wirtschaftswissenschaft abgesprochen, sondern ihre Fähigkeit in Zweifel gezogen, die richtigen Ratschläge für eine allgemeine Wohlstandsentwicklung zu geben. Die Auskünfte der verschiedenen Schulen der Wirtschaftswissenschaft sind zu unterschiedlich und in vielen Fällen durch die Nähe zu bestimmten Gruppen des Wirtschaftsprozesses zu interessegeleitet, als dass von der Wirtschaftswissenschaft so unparteiliche und unwidersprechliche Ergebnisse erwartet werden dürften wie beispielsweise von der Astronomie. Die Wirtschaftswissenschaft hat wohl die Effektivität der Produktionsstrukturen gewaltig gesteigert, nicht aber die Gerechtigkeitsansprüche bei Verbrauch und gesellschaftlicher Teilhabe erfüllt. Die Untersuchungen der Wohlfahrtsökonomik haben gezeigt, dass wirtschaftlich-soziale Gerechtigkeit sich nicht mit Naturgesetzlichkeit aus eigengesetzlich organisierten Wirtschaftsprozessen einstellen wird. Das Insistieren auf der Autonomie der Wirtschaft kann den Sachverhalt nicht überspielen, dass die geltenden und praktizierten Ordnungsregeln der Wirtschaft weitreichend auf die politische, soziale und individuelle Lebensgestaltung ausstrah-
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len und ihrerseits von bestimmten sittlich-religiösen Grundüberzeugungen getragen werden. Der Streit um ordnungspolitische und sozialpolitische Regelungen kann moralische Argumente und die Frage nach dem leitenden Menschenbild nicht ausblenden. Die zu treffenden Regelungen müssen hinsichtlich ihrer moralischen Vorzugswürdigkeit befragt und verantwortet werden. Die These, die Autonomie der Wirtschaft werde auch die beste Ordnung in allen anderen Wirklichkeitsbereichen schaffen und gleichsam ohne moralische Entscheidungen das Gelingen des sozialen und individuellen Lebens am besten fördern, lockt zwar mit der Aussicht, der Angreifbarkeit moralischer Appelle nicht ausgesetzt und des mühsamen Geschäfts moralischer Argumentationen nicht bedürftig zu sein, doch überspielt sie ihre eigene anthropologische und ethische Voraussetzungshaftigkeit. Die Wirtschaft ist gerade als Gestaltungsraum menschlicher Freiheit in die Kulturentwicklung und die daraus resultierenden Verpflichtungen eingebunden. Die Wirtschaft ist kein naturgesetzlich determiniertes Geschehen, sondern durch menschliche Freiheitsentscheidungen geprägt. Nach welchen Maximen und für welche Ziele Herstellung und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen erfolgen, gehört zum menschlichen Freiheitswollen. Die wirtschaftlichen Tätigkeiten sind in ihrer Zielsetzung und sozialen Koordination menschliche Freiheitsakte, für die sittliche Verantwortung übernommen werden muss. Wird nun anerkannt, dass für die Gestaltung der Wirtschaftsprozesse Einschätzungen zum menschlichen Freiheitsgebrauch unabdingbar sind, so ist damit das Gespräch zwischen Wirtschaftswissenschaft, Ethik und Theologie unausweichlich eröffnet.
2 Zum Leitbild des homo oeconomicus Die an einzelwirtschaftlichen marktförmigen Prozessen orientierte ökonomische Theoriebildung braucht methodisch ein abstraktes Menschenbild. Das menschliche Handeln wird auf Tauschaktionen fokussiert, die durch den elementaren Sachverhalt der Knappheit von Gütern veranlasst sind. Die für die Tauschaktionen wesentliche Freiheit der Akteure wird als Wahlfreiheit der Verbraucher und der Produzenten in bestimmten Marktprozessen verstanden. Um eine Prognoseformulierung zu ermöglichen, muss die große Vielfalt von Motiven, die die Entscheidungsfindung bestimmen können, stark eingeschränkt werden. Die autonomen Wirtschaftsakteure werden bezüglich ihrer Erkenntnistätigkeit auf das Ermitteln optimaler Zweck-Mittel-Relationen und bezüglich ihrer Willensbestimmung auf das Streben nach dem wohlverstandenen Eigennutzen reduziert. Da einerseits alle Nutzenfaktoren in einer konkreten Entscheidungssituation sich nicht vollständig und abschließend übersehen und sich folglich keine letztlich eindeutigen Entscheidungslagen präparieren lassen, da andererseits eine Selbstlähmung der Wirtschaftsakteure durch diese nicht restlos zu beseitigende Unübersichtlichkeit aber vermieden werden muss, wird die Rationalität wirtschaftlicher Entscheidungsfindung genauer gefasst als Extremierungsverhalten, das heiβt als Maximierung des
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Nutzens und Minimierung der Kosten. Die Leitfigur dieser eingeschränkten Rationalität ist die lernfähige, sorgfältig und nachhaltig nutzenmaximierende Wirtschaftsperson. Gegen die Kurzzeitigkeit aktueller Marktvorteile und einmaliger Nutzengewinne wird hier das den langfristigen Nutzen sichernde Wirtschaften dem Prinzip der Rationalität eingepflanzt. Jede Nutzenentscheidung innerhalb der Marktprozesse ist die freie Entscheidung der autonom agierenden Wirtschaftspersonen. Trotz des eigenzentrierten Nutzenstrebens und der monadischen Nutzen-Kosten-Rationalität des homo oeconomicus stellt sich gemäß der Voraussetzung der marktorientierten Wirtschaftswissenschaft auch ein für alle Akteure optimales Gesamtergebnis ungewollt ein. Gerade indem jeder einzelne optimal für sich sorge, ergebe sich für die Gesamtheit eine allgemeine Wohlstandsverbesserung. Dieses positive Gesamtergebnis werfe ein mildes Licht auf die teilweise moralisch minderwertigen individuellen Handlungsmotive. Der Eigennutz sei die wertvollste und wirkmächtigste Triebfeder für das Gemeinwohl. Das Leitbild des rational-eigennützigen homo oeconomicus ist wissenschaftlich zumeist als Arbeitshypothese gemeint. Und doch wird dieses methodisch präparierte Leitbild unter der Hand zum nachahmenswerten allgemeinen kulturellen Verhaltensmuster. Indem die marktorientierte Wirtschaftswissenschaft durch ihre Theoriebildung und Politikberatung zu einer gewaltigen Produktivitätssteigerung beigetragen hat, scheint das Leitbild des homo oeconomicus auf das gesamte gesellschaftliche und individuelle Handeln anwendbar zu sein. Doch werden dabei die immanenten Gegenläufigkeiten dieses Leitbildes verkannt, die zerstörerische Konsequenzen für die Wirtschafts- und Sozialordnung haben. Es zeigt sich nämlich, dass die Wirtschaftsprozesse auf Verhaltensmustern aufruhen, die von der kapitalistischen Wirtschaft gerade selbst nicht erzeugt, die vielmehr von ihr tendenziell zerstört werden. Die immanenten Selbstzerstörungstendenzen lassen sich beispielhaft an der Eigennutzmaxime beobachten. Die moralische Problematik einer freien Interaktion, die den beteiligten Individuen ein vom Eigennutz bestimmtes Verhalten zumisst, wird in der Problemfigur „Gefangenendilemma“ formuliert: Individuell vermeintlich sinnvolles von Eigennutz bestimmtes Verhalten erweist sich als schädlich für die Gruppe und damit auch für die einzelnen Gruppenmitglieder. Diese Problemfigur knüpft an die gerichtliche Kronzeugenregel an, wonach Tateingeständnis und Benennung der Mittäter zu Strafminderung oder Straffreiheit führen. Nun wird angenommen, dass keiner der isoliert inhaftierten Beschuldigten weiß, ob nicht andere Gruppenmitglieder diese Kronzeugenregel zum eigenen Nutzen für sich in Anspruch nehmen werden. Wird diese Regelung nun gemäß der Eigennutzmaxime von allen Gruppenmitgliedern zum eigenen Vorteil geübt, so schädigen sie sich selbst und die Gruppe. Das intendierte Eigennutzverhalten wird über die Gruppenschädigung zur Selbstschädigung. Im wirtschaftlichen Bereich lässt sich dieses Gefangenendilemma besonders bei Forschungskooperationen beobachten, wo die einzelnen Vertragspartner in der Versuchung stehen, kostengünstig auf die Ergebnisse der anderen Partner zu warten und
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ohne eigene Anstrengung sich deren Leistungen zunutze zu machen. Ähnliches ließe sich zum Phänomen „Trittbrettfahrer“ ausführen. Die Eigennutzmaxime zeitigt große Auswirkungen auch auf die Vertragstreue, indem diese zu einem disponiblen Verhaltenselement wird. Lohnt sich die Vertragstreue, oder bringt der Vertragsbruch größeren Nutzen? Sobald jeder der Vertragspartner sich diese Frage hinsichtlich der Zuverlässigkeit des anderen stellen muss, aber diese Frage wegen seiner ungenauen Kenntnis des Nutzenkalküls der anderen nicht definitiv beantworten kann, gehört der Verdacht der Unzuverlässigkeit zum Geschäft. Der Verdacht auf möglichen Vertragsbruch allerdings treibt die Transaktionskosten in die Höhe. Je geringer die Vertrauenswürdigkeit des Vertragspartners ist, desto umfänglicher müssen die Sicherungsmaßnahmen sein, die den Vertragsbruch verhindern helfen sollen. Indem die Eigennutzmaxime die moralische Verbindlichkeit des Vertragstreuegebots unterminiert, kommt es zu Kostensteigerungen und somit wirtschaftlichen Schäden. Die Störanfälligkeit bzw. Zerbrechlichkeit freier Interaktion macht deutlich – und das gilt besonders für die auf Vertragsfreiheit beruhende Wettbewerbswirtschaft –, dass sittliches Verhalten und moralische Wertsetzungen für die Wirtschaftsprozesse grundlegend sind. Dieses sittliche Verhalten wird aber durch die ökonomischen Leitbilder nicht aufgebaut, sondern gefährdet. Werden sittliche Verhaltensweisen zu Elementen des Nutzenkalküls, so müssen extrinsische Überwachungsregelungen installiert werden, die aber wirksamen Schutz beispielsweise gegen Korruption oder Steuerbetrug nicht oder kaum gewähren können. Im Zusammenspiel mit der monadischen Erkenntnisperspektive führt die Eigennutzmaxime zu solipsistischen Tendenzen. Die Vergesellschaftung der Individuen wird nur als Aggregation, nicht als Gemeinschaft gedacht. Die einzelnen Individuen überschreiten in ihren Tauschaktionen nicht den Horizont nebeneinander existierender Willenssubjekte, die bei ihren eigenen Willensbestimmungen verharren und ihre Willkürfreiheit nicht in einen gemeinschaftlichen Freiheitswillen überführen. Wird das monadische Eigennutzstreben zum moralischen Muster, so befördert es die Bauchnabelschau und macht blind für die gesellschaftlichen Außenwirkungen der Wirtschaftsprozesse und deren Rückwirkungen dann auf die Wirtschaftsprozesse selbst.
3 Zur konzeptionellen Bedeutung des christlichen Menschenbildes Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Gottesbewusstseins leistet einen inhaltlich qualifizierten Beitrag, um die diagnostischen und programmatischen Leitbegriffe der Wirtschaftsethik zu formulieren. Der christliche Glaube weiß sich durch die befreiende Zuwendung Gottes zu einer verantwortlichen Gestaltung des persönlichen und sozialen Lebens aufgerufen. Dieser zusprechende Ruf der Freiheit begründet die unantastbare Würde des Menschen. Die theologische Anthropologie stellt
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die geschöpfliche Verfasstheit des Menschen im Sinne endlicher Freiheit ins Zentrum. Wird der Mensch als geschöpflich-endliches Freiheitswesen aufgefasst, so sind damit Aussagen zu seiner Leibhaftigkeit im Rahmen der natürlichen Weltordnung impliziert. Da Freiheit nur in interpersonaler Anerkennung realisiert werden kann, muss programmatisch eine soziale Ordnung angestrebt werden, in der personale Individualität und identitätsstiftende Gemeinschaft einander fördern. Die theologische Wirtschaftsethik steht vor der Grundaufgabe, die durch geschichtliche Erfahrungen und theologische Reflexion geprägte Perspektivität des christlichen Glaubens fruchtbar zu machen für eine auf allgemeine Geltung abzielende vernünftige Moral. Der christliche Glaube ist selbstkritisch und zu immer neuen Gestaltungen drängend. Indem der christliche Glaube darauf vertraut, im Voraussein Gottes geborgen zu sein, ist er nicht festgelegt auf immer neue Bestätigungen seiner selbst, sondern kann und muss sich immer neu überschreiten. Glauben ist im Werden, nicht im Sein und Haben. Er ist nicht die ritualisierte Einpassung in eine fertige Welt, sondern die Wahrnehmung der Wirklichkeit als einer sich wandelnden und zu gestaltenden. Der christliche Glaube ist eine Lebenskraft, die sich nie in einer erreichten Gestalt erschöpft, sondern die immer weiterdrängt. Deshalb steht er wirtschaftsethisch nicht auf der Seite der Beharrung, sondern der Offenheit für neue Entwicklungen und Ordnungen. Auch wenn das christliche Glaubensbewusstsein die Fehlbarkeit und auch die Bosheit menschlichen Wollens nicht leugnet, unterstützt es doch das Wagnis des Neuen, sofern dieses Wagnis von Zuwendung und Zukunftseröffnung, von verantwortlichem Freiheitssinn und solidarischem Gerechtigkeitssinn getragen ist. Das christliche Menschenbild stellt die christliche Weltgestaltung in das Licht persönlicher Verantwortung und sozialer Verpflichtung.
3.1 Verantwortlicher Freiheitssinn Das christliche Menschenbild ist freiheitsorientiert: Freie Sachwalter Gottes sollen und dürfen die Menschen sein. Die Freiheit, zu der Menschen vor Gott aufgerufen sind, schließt die sittliche Verantwortlichkeit ein. Der christliche Freiheitssinn zeigt sich in der Unvertretbarkeit des Glaubensbewusstseins und in der Weltgewiesenheit dieses Gottesbewusstseins. Die christliche Glaubensüberzeugung bejaht die freie Interaktion von Menschen, bei der die eigenständige Willensbildung mit verantwortungsbejahendem Gemeinsinn verknüpft ist. Freiheit ist der sittliche Grundakt, in welchem ichhafter Wille sich selbst ergreift und die Sphäre seiner Wirksamkeit aufbaut. Die individuellen Freiheitsvollzüge müssen institutionell abgesichert und sozial vermittelt werden. Die individuelle Willkürfreiheit tendiert zur gesellschaftlichen Ungleichheit. Doch bedroht die geschichtlich gewachsene und verfestigte gesellschaftliche Ungleichheit auch das Realwerden individueller Freiheit und die allgemeine Teilnahme an den Wirt-
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schaftsprozessen, damit letztlich aber auch die Leistungsfähigkeit der marktförmigen Tauschoperationen. Statt eines abstrakten monadischen Freiheitsverständnisses, dem ein atomistisches Gesellschaftsverständnis korreliert, impliziert das christliche Menschenbild ein Freiheitsverständnis gegenseitiger Anerkennung. Reale Freiheit gibt es nur in der sich reziprok mitteilenden und garantierenden Anerkennung. Diese Anerkennung muss in der Vielheit sozialer Gruppeninteressen und in der Allgemeinheit staatlich-demokratischer Regelbildung leitend sein. Dieses Freiheitsverständnis gegenseitiger Anerkennung wird vom christlichen Gebot der Nächstenliebe (vgl. Mt 22,39; Mk 12,31; Lk 10,27, wo jeweils Lev 19,18 zitiert wird) hell beleuchtet, das den elementaren Lebensimpuls der Selbstliebe zusammenschließt mit dem Impuls, die anderen Menschen als gleichverfasste Personen wahrzunehmen und zu behandeln. Indem dieses geschieht, wird die Selbstwahrnehmung neu qualifiziert, und aus dieser Qualifizierung erwächst eine neue Praxis verantwortlicher Freiheit.
3.2 Solidarischer Gerechtigkeitssinn Das christliche Menschenbild fordert und fördert nachdrücklich die Solidarität des Miteinanders. Da Menschen in ihrer natürlichen Ausstattung mit Begabungen, Fähigkeiten und Kräften unterschiedlich sind, müssen sie ihr Miteinander bewusst gestalten. Soll diese Gestaltung im Sinne von geschwisterlicher Zuwendung und Gleichheit erfolgen, so enthält das die Verpflichtung zu einer Unterstützung der Schwachen und einer sozialen Beanspruchung der Starken. Der christliche Glaube zielt auf eine Gerechtigkeit der gesellschaftlichen Ordnung, in der sich alle umfassend und angemessen an den Interaktionen beteiligen können. Der Gedanke der Gemeinschaftlichkeit meint ethisch die soziale Horizontausdehnung auf die Schwachen, Alten und Fernen. Dieser Aspekt thematisiert auch die soziale Verpflichtung der Wirtschaftenden für diejenigen, die nicht am Wirtschaftsprozess in gleicher Weise aktiv teilnehmen können. Die Gerechtigkeitsidee, die Freiheit und Gleichheit zu vereinigen sucht, kann im Blick auf die Verteilung der Güter in einem Gemeinwesen ausgeführt werden sowohl nach dem Motto „Jedem das Seine“ im Sinne der distributiven (zuteilenden) Gerechtigkeit als auch nach dem Motto „Jedem das Gleiche“ im Sinne der kommutativen (eintauschenden, erwidernden) Gerechtigkeit. Die iustitia distributiva ist die öffentlich-soziale Verteilungsgerechtigkeit, die bestimmt, welche Leistungen der einzelne für das Gemeinwesen und umgekehrt das Gemeinwesen für den einzelnen zu erbringen habe. Die iustitia commutativa als individuelle Tauschgerechtigkeit gibt an, wie Leistung und Gegenleistung bei einzelvertraglichen Beziehungen äquivalent sind. Innerhalb der Sozialordnung müssen beide Gerechtigkeitsperspektiven angemessen berücksichtigt werden. Die symmetrische Wechselseitigkeit der Tauschbeziehungen (do ut des) muss aus theologischer Sicht für das Gedeihen des sozialen und individuellen Lebens korrigiert
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werden durch die partielle Asymmetrie von Solidarbeziehungen. Die stärkste Fassung dieser Solidarbeziehung begegnet in Jesu Gebot der Feindesliebe (vgl. Mt 5,43 – 45), das alle natürlichen oder religiösen Differenzmaximen in der Liebe Gottes überwunden sieht. Der christliche Glaube lebt nach Paulus aus der einigenden Kraft Christi (vgl. Gal 3,28). Die asymmetrische Zuwendung in Barmherzigkeit, die sich im Einstehen der Stärkeren für die Schwächeren zeigt und an die Stelle des Tauschs auch das Geschenk setzen kann, befreit alle Beteiligten aber nicht von der Aufgabe, symmetrische Beziehungen anzustreben. Eine wesentliche Zielsetzung für den individuellen Bildungsprozess und die gesellschaftliche Entwicklung ist die Förderung einer gemeinschaftsbezogenen Lebensgestaltung, die in liebender Verantwortungsübernahme Freiheit und Solidarität verknüpft.
4 Zu Gestaltungsimpulsen des christlichen Menschenbildes In den marktwirtschaftlich verfassten Industriegesellschaften mit ihrem demokratischen Rechtssystem sind die Ansprüche an freiheitliche und solidarische Ordnungsregelungen hoch. Bürgerliche Freiheitsrechte, politische Mitentscheidungsrechte und soziale Beteiligungsrechte sind die unausgesprochene Basis der sozialen Interaktionen. Die Offenheit der Gesellschaftsverfasstheit macht eine immer neue Bestimmung dessen nötig, was als gerechte und angemessene Verteilung von persönlicher Freiheit, wirtschaftlichem Wohlstand und politischer Mitsprache für alle Gesellschaftsmitglieder gelten soll. Das christliche Menschenbild hat für die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wichtige Impulse gegeben. Die freie marktförmige Wirtschaftstätigkeit wurde verknüpft mit sozialstaatlichen Sicherungen, die das individuelle Freiheitshandeln in die Erfordernisse einer Solidargemeinschaft einbinden. Angesichts neuer Anforderungen durch kulturelle, demographische, politische und soziale Umbrüche bedarf die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung einer strukturellen Weiterentwicklung. Um die Massenarbeitslosigkeit und die daraus resultierende Massenverarmung abbauen, die vielfältigen politischen Integrationsanforderungen erfüllen, der finanziellen Bedrohung der sozialstaatlichen Sicherung entgegentreten, den ungebremsten Naturverbrauch zügeln und die globale Konkurrenzsituation meistern zu können, muss die Soziale Marktwirtschaft erneut an Gerechtigkeit, Solidarität und Verantwortlichkeit orientiert werden. Beispielhaft will ich auf die Themen Eigentumsordnung, Soziale Sicherung, Umweltschutz und Arbeitskultur knapp eingehen.
4.1 Eigentumsordnung Der Schutz des Eigentums ist durch das Dekalogverbot „Du sollst nicht stehlen!“ (Dtn 5,19; Ex 20,15) vielen Generationen immer wieder eingeprägt worden. Dieses Verbot
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sanktioniert nicht eine bestimmte Eigentumsordnung, sondern das Institut des Eigentums. Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, wie sie im deutschen Grundgesetz festgeschrieben ist, will den Machtcharakter des Eigentums eindämmen. In den gegenwärtigen Einkommens- und Eigentumsentwicklungen stecken insofern große politisch-soziale Gefahren, als die Vergrößerung der schon bestehenden Disparitäten, das immer weitere Aufgehen der Schere zwischen Arm und Reich, bereits in der Grundstruktur des technologiegestützten Wirtschaftens immanent angelegt ist. Denn innerhalb der Produktionsprozesse wird die Bedeutung des benötigten Sachkapitals immer größer (vgl. automatisierte Industrieproduktion) und folglich die Frage, wer die Verfügungsrechte über das Produktivkapital und dessen Erträge hat, immer wichtiger. Deshalb muss ein möglichst großer Teil der Bevölkerung im allgemeinen und der Arbeitnehmerschaft im besonderen am Produktivkapital beteiligt werden. Bei der Arbeitnehmerschaft könnte das über Investivlöhne geschehen. Das hätte für die Unternehmen den Vorteil, die Kapitalbeschaffungskosten senken und die Arbeitsmotivation der Mitarbeiter verbessern zu können. Dass dadurch die scharfen Trennlinien zwischen Kapitalgebern und Arbeitnehmern verunklart würden, dürfte zwar zu Schwierigkeiten im Verhalten der Tarifparteien führen, sollte aber einen Gewinn an Transparenz und Machtkontrolle bringen.
4.2 Soziale Sicherung Zahlreiche biblische Aussagen zielen auf den Schutz der Armen, damit deren Lebensgrundlage nicht beschädigt und deren Notlage nicht von den Stärkeren ausgenutzt werde (vgl. Zinsverbot, Mundraub, Pfandverbot, Entlohnungsgebot). In der Christentumsgeschichte sind die karitativen Aktivitäten, die der christliche Glaube wesentlich motiviert, sehr verschieden organisiert worden. In der heutigen freiheitlich-sozialen Demokratie gibt es sowohl wirtschaftsrechtliche wie sozialrechtliche Sicherungen. Für die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft, durch deren Produktivität ja die sozialen Sicherungssysteme erbracht werden müssen, sind das Einhalten der Wettbewerbsregeln und die die Macht der Einzelunternehmen begrenzende Offenheit der Märkte bedeutsam. Die soziale Sicherung sollte so organisiert sein, dass die Eigenverantwortung im wünschenswerten Umfang wahrgenommen werden kann. Die Förderung der Familien, die Gleichstellung der Frauen und die Zukunftssicherung der Jugendlichen sind für das Gedeihen einer solidarischen Gesellschaft wichtig.
4.3 Umweltschutz Das christliche Menschenbild impliziert auch Impulse für den bewahrenden Umgang mit den natürlichen Grundlagen menschlichen Lebens. Der biblische Auftrag zur Herrschaft über die Erde (vgl. Gen 1,28) meint nicht die Beauftragung zur zerstörerischen Ausbeutung, sondern zur Kultivierung der Erde. Die Menschheit ist den bioti-
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schen Prozessen unterworfen. Die konstitutive Leiblichkeit des Menschen muss in der Art und Anlage eines nachhaltigen Wirtschaftens beachtet werden. Der Gedanke der Geschöpflichkeit erinnert daran, dass die Wirklichkeit der Welt und des Menschen nicht autark, sondern durch Gott konstituiert ist. Die natürlichen Lebenszusammenhänge müssen in der Verantwortung für die geschöpfliche Mitwelt wahrgenommen und respektiert werden. Zur langfristigen Sicherung der natürlichen Lebensbedingungen müssen der Ressourcenverbrauch und die Umweltbelastungen deutlich eingeschränkt und die Wirtschaftsabläufe besser in die natürlichen Prozesse eingebunden werden.
4.4 Arbeitskultur Das christliche Menschenbild hat die Wertschätzung der Arbeit sehr befördert. Paulus forderte dazu auf, für den eigenen Lebensunterhalt durch körperliche handwerkliche Arbeit zu sorgen (vgl. Eph 4,28), und bestritt denen, die nicht arbeiten wollen, das Lebensrecht (vgl. 2Thess 3,10). Das Christentum bewirkte eine völlig neue Hochschätzung der handwerklich-körperlichen Arbeit und gab dadurch wichtige Impulse für die Kulturbemühungen. Durch die Reformation wurde die unterschiedliche religiöse Wertung von weltlicher und geistlicher Sphäre aufgehoben, wurden alle Berufsstände als religiös gleichwertig beurteilt. Der weltliche Beruf zum Nutzen des Nächsten wurde als Gottesdienst verstanden. Die moderne Arbeitswelt ist durch diese christlichen Impulse stark geprägt worden. Gerade indem das christliche Menschenbild auf die Vielfalt menschlicher Gemeinschaftsbezüge und Freiheitstätigkeiten hinweist, motiviert es die Bereitschaft zu einem neuen Arbeitsverständnis. Zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit sind politische Maßnahmen zur Förderung des Strukturwandels, der Selbständigwerdung, der Arbeitsteilung und der Ausbildungsqualifizierung durchaus erfolgversprechend. Wichtig ist dabei nicht nur eine Verbesserung der Erwerbsarbeit, sondern auch eine stärkere Berücksichtigung der freien gesellschaftlichen Initiativen. Dadurch würde die Kulturleistung der Arbeit in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Dimension besser wirksam und die Fragmentierung der Lebenssphären vermindert. Die von mir kurz angesprochenen sehr konfliktträchtigen Beispiele zeigen, dass das christliche Menschenbild wichtige Gestaltungsimpulse für die soziale Ordnung der Wirtschaftstätigkeit einschließt. Diese Impulse, die sowohl in den von den Kirchen unmittelbar zu verantwortenden Entscheidungen als auch im öffentlichen Diskurs der politischen Entscheidungsprozesse zur Geltung gebracht sein wollen, sind an der Würde des Menschen konkret orientiert.
Schleiermachers naturrechtliche Überlegungen zur Vertragslehre (1796/97) Wilhelm Diltheys epochemachendes Werk Leben Schleiermachers ¹ hat die Wahrnehmung und Darstellung der Entwicklung des jungen Schleiermacher auf Dauer geprägt. Die enorme von Dilthey verarbeitete Materialfülle, die reiche Präsentation bisher unveröffentlichter Quellenstücke, der Kenntnisreichtum des kulturellen und literarischen Umfeldes, die Meisterschaft der Einfühlung und des dichtenden Nachvollzugs – alles in allem die Plastizität und Tiefenschärfe des Bildes, welches Dilthey hier vom jungen Schleiermacher zeichnete, gaben diesem Werk in Verbindung mit seiner originellen hermeneutischen Konzeption die philosophiegeschichtliche Bedeutung eines Meilensteines. Die nachfolgende wissenschaftliche Schleiermacher-Forschung konnte sich der Prägekraft dieses Werkes nicht entziehen. Bestätigung und Bestreitung – beide waren ihm verpflichtet. Erst das Erschließen und Bereitstellen neuer Quellenstücke kann auch der Interpretation neue Felder eröffnen und zu einer modifizierten oder korrigierten Bewertung der bislang schon bekannten Quellen führen. Diltheys breite Darstellung der ethischen und theologischen Überlegungen Schleiermachers hat dessen politisch-naturrechtliche Interessen fast ganz verdeckt. Dabei richtete Schleiermacher, als er im September 1796 das Amt des reformierten Krankenhauspfarrers an der Berliner Charité übernommen hatte, seine wissenschaftliche Aufmerksamkeit vorzüglich auf politisch-naturrechtliche Fragen. Er trug sich im Herbst 1796 mit dem Plan, in der Berlinischen Monatsschrift eine Abhandlung zur naturrechtlichen Vertragstheorie zu veröffentlichen. Dieser Publikationsplan zerschlug sich dadurch, dass diese Zeitschrift ihr Erscheinen einstellte.² Neben anderen, von Dilthey nicht publizierten Überlegungen zu Rechtsfragen³ haben sich in Schleiermachers Nachlass zwei Quellenstücke erhalten, in denen Schleiermacher Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers. Erster Band, Berlin: G. Reimer, 1870. Eine Anspielung in einem bisher unveröffentlichten Brief von Schleiermachers Onkel Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch muss wohl auf Schleiermachers Studien und Publikationspläne zur Vertragslehre bezogen werden. Dieser Brief ist ebenso wie Schleiermachers Manuskripte zur Vertragslehre im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR im Schleiermacher-Nachlass (= SN) archiviert. Am 30. Oktober 1796 schrieb Stubenrauch aus Landsberg (Warthe) an Schleiermacher in Berlin: „Daß aber durch Endigung der Berl[inischen] Mon[ats]Schrift ihnen ein solcher Queerstrich gemacht worden, bedaure ich sehr, dächte aber doch, daß – um in Ihrem Bilde fortzufahren – es ein unbehagliches Nest seyn müßte, wo nur ein Wirtshaus anzutreffen – Sie also gewiß auch leicht Gelegenheit finden werden, Ihre Ausarbeitung in eine andre Zeitschrift einrücken zu laßen – ich hoffe daher auch sehr stark, daß Sie sich durch jenes kleine Hinderniß nicht sogleich werden haben abschrecken lassen.“ (SN 397, Bl. 16r) Diese Briefstelle wurde mir durch meine beiden Kollegen der Berliner Schleiermacher-Forschungsstelle, Drs. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, mitgeteilt. Die Aphorismen Nr. 1, 2, 4, 5 und 6 in Schleiermachers Manuskript „Vermischte Gedanken und Einfälle“ (SN 142), von Dilthey als „Erstes wissenschaftliches Tagebuch“ bezeichnet, beschäftigen sich mit staatsrechtlichen, kirchenrechtlichen und sexualrechtlichen Themen. Außerdem gehört noch das Manuskript „Zum Armen Wesen“ (SN 227) in diesen Gedankenkreis. https://doi.org/10.1515/9783110745498-013
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seine Studien und Vorarbeiten zu seiner geplanten kritischen Vertragslehre niedergelegt hat.⁴ Dilthey hat in seinem Leben Schleiermachers diesen Notizen nur eine knappe Darstellung gewidmet⁵ und in den „Denkmalen der inneren Entwicklung Schleiermachers“ daraus Auszüge veröffentlicht.⁶ Die überlieferten Nachlassstücke enthalten aber Überlegungen Schleiermachers, die durchaus eine nähere Betrachtung und Würdigung lohnend machen. In ihnen geht er nämlich der grundsätzlichen Frage nach, worauf die Verbindlichkeit der Verträge und damit das Recht basiere, andere Menschen zu vereinbarten positiven Leistungen zwingen zu können. Diltheys nur oberflächliche Beschreibung, die keines der Schleiermacherschen Argumente darstellt und prüft, ist wohl deshalb so knapp, weil die naturrechtlichen Überlegungen für Dilthey allenfalls ein marginales Interesse beanspruchen können: schon in Schleiermachers Ansatz stecke der Grundirrtum der damaligen Naturrechtstheorien, ihren Ausgang von isolierten, willkürlichen Individuen nehmen zu wollen. Und so läuft Diltheys Referat ausgesprochenermaßen auf die Behauptung hinaus, die von Schleiermacher übernommene Aufgabe einer prinzipiellen Legitimation des Zwangsrechts sei im naturrechtlichen Argumentationsrahmen unlösbar.⁷ Da Diltheys Zurückhaltung gegenüber den Schleiermacherschen Überlegungen zur Vertragslehre offensichtlich von seinem abwertenden systematischen Qualitätsurteil abhängig ist, diese Zurückhaltung aber zu einer Unterbelichtung des für Schleiermacher durchaus
Sowohl Schleiermachers Notizen und Exzerpte als auch sein „Entwurf zur Abhandlung über die Vertragslehre“ werden unter der Nachlass-Nummer SN 132 im Zentralen Akademie-Archiv aufbewahrt (vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Schriften aus der Berliner Zeit 1796 – 1799, Bd. I,2, Kritische Gesamtausgabe. 1. Abteilung: Schriften und Entwürfe, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York: De Gruyter, 1984, 51– 74). Vgl. Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers. Erster Band: 1768 – 1807, Bd. 1,1, hg.v. Martin Redeker, Berlin: De Gruyter, 31970, 222– 223. Wilhelm Dilthey hat die „Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers, erläutert durch kritische Untersuchungen“ als Anhang zu seiner Schrift Leben Schleiermachers (s. Anm. 1) nur in der 1. Auflage mit eigener Seitenzählung („Studien zum Naturrecht“, 69 – 71) veröffentlicht. „Die Frage nach den Grundlagen des Rechts hatte damals durch das Landrecht, das auf dem Naturrecht beruhte, und durch die französische Revolution das höchste Interesse erlangt; die verschiedenen Entwürfe des Naturrechts drängten sich. So versucht sich auch Schleiermacher an der Lösung der Frage nach dem Ursprung des Zwangsrechts. Und zwar bedient er sich wieder seines Verfahrens, aus dem Ansatz des Problems und der Kritik der vorhandenen Lösungen seine eigene Antwort zu entwickeln. Doch enthält schon dieser Ansatz die irrige Voraussetzung des gesamten damaligen Naturrechts in sich: isolierte, mit völliger Willkür ausgestattete Individuen, zwischen denen ein Zwangsrecht entspringen soll. Als ursprünglich gänzlich frei, hätten sich diese Individuen nur selbst binden können. Schleiermacher zeigt nun zwar mit durchdringendem Scharfsinn, wie keiner bisherigen Theorie die Darlegung dieses Vorgangs gelang, wie sie alle eben die Verbindlichkeit der Verträge voraussetzen, um deren Erklärung es sich handelt. Aber er durchblickt noch nicht, wie dieser Zirkel für jeden, der den irrigen Ansatz des Naturrechts festhält, unentrinnbar ist. Auch hier wieder, wie in anderen Arbeiten seiner früheren Zeit, erscheint er in der Aufdeckung der Schwächen einer Ansicht siegreich, verfolgt aber die Ursachen dieser Schwächen nicht weit genug rückwärts. Demgemäß bemüht er sich in seiner eigenen Theorie nur um die Lösung einer unter den von ihm angenommenen Voraussetzungen nicht lösbaren Aufgabe“ (Dilthey, Leben Schleiermachers, ed. Redeker, 222).
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wichtigen politisch-rechtlichen Interessenfeldes führt, so ist eine Überprüfung des Diltheyschen Verdikts geboten. Die Nachlassstücke mit ihren fragmentarischen, zum Teil jedoch detaillierten Gedankengängen erlauben eine solche Überprüfung. Auf Grund der Argumente, die Schleiermacher bei seiner Kritik verschiedener ihm vorliegender Theorien des Vertragsrechts (besonders beschäftigt er sich mit Hufeland⁸, Mendelssohn⁹ und Schmalz¹⁰) vorbringt, und auf Grund der Argumente, die er in zwei Thesenreihen¹¹ zur Formulierung seiner eigenen Position entwickelt, lassen sich die Grundzüge seiner Vertragslehre rekonstruieren. Ein Vertrag ist nach Schleiermacher eine Übereinkunft zwischen zwei Personen, zwischen dem Versprechenden (Promittenten) und dem Genehmiger (Akzeptanten oder Promissar). „Durch einen Vertrag d. h. eine von einem andern genehmigte Willenserklärung soll eine vorher bloß moralisch mögliche Handlung in Bezug auf den Genehmiger moralisch nothwendig werden.“¹² Durch diese Definition sind einige wesentliche Elemente des Vertragsbegriffs eindeutig festgesetzt: dass der Vertrag eine zumindest zweiseitige Angelegenheit ist; dass er in der Darstellung einer Willensbestimmung besteht, die vom Vertragspartner verstanden und angenommen wird; dass er der Handlung, die in der Willensbestimmung intendiert ist, eine andere Qualität gibt. Doch diese Definition ist nicht das Resultat einer durchgeführten verästelten Theoriebildung, sie ist nicht das Ergebnis einer detaillierten Diskussion, das alle deren Differenzierungen in sich aufgenommen hätte, sondern sie ist der Ausgangspunkt für eine solche Theoriebildung. Dementsprechend lässt diese Definition einige wichtige Begriffselemente in der Schwebe. Diese Unbestimmtheit entspricht ihrem Theoriestatus. Sie spricht (allerdings verdeckt) alle die Fragen an, auf die eine ausgeführte Vertragslehre überzeugende Antworten wird geben müssen. Ein erster Fragenkreis ist mit Schleiermachers Formulierung „soll […] werden“ verbunden: der Grund der hier geforderten Notwendigkeit ist selbst unbestimmt. Lässt sich dieses „soll […] werden“ in ein „wird“ überführen? Wenn diese Frage überhaupt bejaht werden muss, treten dann dazu gewisse Bedingungen auf? In dieser Formulierung spricht Schleiermacher die Frage an, worin die Verbindlichkeit des Vertrages gründe. Weshalb kann der Promittent zur Einhaltung seines förmlich gegebenen und angenommenen Versprechens gezwungen werden? Weshalb kann ihm verwehrt werden, seine Zusage zurückzunehmen? Worauf kann sich der Promissar bei seiner Forderung berufen, der Promittent müsse bei seiner Willenserklärung bleiben und er müsse, falls er zur Erfüllung der versprochenen Leistungen gezwungen werde, diesen
Vgl. SN 132, Bl. 4r–7v. 11r zu Gottlieb Hufeland, Lehrsätze des Naturrechts und der damit verbundenen Wissenschaften, Jena: Cunos Erben, 21795. Vgl. SN 132, Bl. 11v–14r zu Moses Mendelssohn, Jerusalem, oder über religiöse Macht und Judentum, Berlin: Maurer, 1783, 29 – 56.Vgl.Wilhelm Dilthey / Ludwig Jonas, Hg., Schleiermachers Leben in Briefen, Bd. 4, Berlin: G. Reimer, 1863, 40. Vgl. SN 132, Bl. 9v–10v zu Theodor Schmalz, Das reine Naturrecht, Königsberg: Nicolovius, 1792. Vgl. SN 132, Bl. 2r–3v. 9r+v. SN 132, Bl. 2r.
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Zwang als rechtens erdulden? Eine Theorie der Verträge muss deren Verbindlichkeit so erklären, dass sie in ihrer Erklärung nicht wiederum auf einen schon vorhandenen Vertrag (den Gesellschaftsvertrag) zurückgreift, dessen Verbindlichkeit sie selbstverständlich voraussetzt; sie würde dadurch das Problem nur zurückverlagern, aber nicht lösen. Eine überzeugende Lösung muss also auf jeden Fall die Figur des Zirkelschlusses vermeiden. Zu diesem ersten Problemkreis des Grundes der Verbindlichkeit gehört auch die Frage der Unveränderlichkeit der Verträge, die gleichsam der temporale Aspekt der Verbindlichkeit ist. Ein zweiter Fragenkreis verbirgt sich in Schleiermachers Wendung „moralisch nothwendig“: die Art der hier geforderten Notwendigkeit muss genauer bestimmt werden. Da der Vertrag dem Promittenten eine positive Zwangspflicht (das ist die Verpflichtung zu positiven Leistungen, deren Erbringung der Promissar rechtens erzwingen kann) auferlegen soll, so muss gezeigt werden, wie durch eine willkürliche Handlung etwas Mögliches in etwas Notwendiges verwandelt werden könne. Durch das Beiwort „moralisch“ scheint Schleiermacher diese Art der Verbindlichkeit genauer bestimmen zu wollen. Doch kann er damit nicht mehr als eine freiheitsgesetzliche Notwendigkeit im Gegensatz zu einer naturgesetzlichen meinen. Damit ist aber die Antwort noch völlig offengelassen, wie die hier intendierte vertragsrechtliche Notwendigkeit sich zur sittlichen Notwendigkeit des moralischen Gesetzes verhalte. Wie können in der Rechtssphäre Willkürlichkeit und Notwendigkeit zusammengedacht werden? Wie partizipiert die willkürlich-rechtliche Verbindlichkeit an der sittlichen Verbindlichkeit und worin unterscheiden sich beide? Neben diesem Themenbereich des Verhältnisses von Recht und Sittlichkeit kann die Frage nach der Art der Verbindlichkeit auch dahin konkretisiert werden, dass gefragt wird, welches dasjenige Element des Vertrages sei, das letztlich die Verbindlichkeit des Vertrages sicherstelle, das seine Gültigkeit verbürge und durch das beide Vertragspartner sich auch einer zwangsweisen Einhaltung desselben unterwürfen. Ein dritter Fragenkreis steckt in dem Begriffselement „Willenserklärung“. Die wesentliche Zweiseitigkeit jedes Vertrages provoziert ein Erkenntnisproblem. Die Gültigkeit des Vertrages ist an die evidente Erkennbarkeit der Willenserklärung des Promittenten gebunden. Die Willenserklärung ist die sinnenfällige Darstellung der innerlichen Willensbestimmung: diese Darstellung muss intersubjektiv eindeutig vermittelbar sein, sonst könnte sich der Promittent immer mit dem Hinweis, sein Versprechen sei falsch aufgefasst worden oder er habe es damit nicht ernst gemeint, aus jedem Vertrag wieder zurückziehen. Die nötige Eindeutigkeit der Willensartikulation und die nötige Evidenz der Wahrnehmung derselben verweisen jeden Vertrag auf eine vorvertragliche Erkenntnisgemeinschaft. Zu diesem dritten Problemfeld kann auch die Frage nach den wesentlichen und unverzichtbaren Elementen eines Vertrages gerechnet werden. Trägt man die verstreuten kritischen und thetischen Bemerkungen Schleiermachers zum ersten Problemfeld, zur Frage nach dem Grund der Verbindlichkeit von Verträgen bzw. nach dem Grund eines positiven Zwangsrechts zusammen, so wird in Umrissen eine transzendentalphilosophische Antwort erkennbar. Ein negatives
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Zwangsrecht ist ihm selbstverständlich. Hier nimmt Schleiermacher den naturrechtlichen Grundsatz auf, dass jeder seine Handlungssphäre vor fremden Übergriffen schützen dürfe und müsse. Doch dieses defensiv-limitierende Recht ist ja etwas ganz anderes als das offensiv-reale Verfügungsrecht, jemand anderen zu bestimmten Leistungen zwingen zu dürfen, oder als die positive Zwangspflicht, notwendig eine bestimmte Leistung erbringen zu müssen und im Unterlassungsfall dazu gezwungen werden zu dürfen. Die Konstitutionsfrage des Zwangsrechts wird sich nur dann befriedigend aus Prinzipien beantworten lassen, wenn es gelingt, das offensiv-reale Verfügungsrecht, bestimmte Leistungen eines anderen erzwingen zu dürfen, an das limitative Schutzrecht, bestimmte Übergriffe eines andern abwehren zu dürfen, anzuknüpfen. Zwei transzendentale Begründungsversuche lehnt Schleiermacher als unzureichend ab. Hufelands Argumentation,¹³ der das Zwangsrecht aus dem Recht
Gottlieb Hufeland gibt in seinem Kompendium Lehrsätze des Naturrechts (s. Anm. 8) eine breitangelegte Übersicht über das Naturrecht, das Staatsrecht und das bürgerliche Recht jeweils in ihrer Grundlegung, Entwicklung und Unterteilung. Schleiermacher kennt die meisten der von ihm besprochenen Autoren (außer Mendelssohn, Schmalz und Kant) wahrscheinlich nur durch die Hinweise und Kurzreferate Hufelands. Hufeland handelt das Vertragsrecht (§ 257– 327) als dritten Unterpunkt zum „Allgemeinen hypothetischen Naturrecht“ (§ 211– 332) ab. Der Vertragsschluss ist für Hufeland deshalb ein sittliches Erfordernis, weil natürlicherweise kein Mensch Rechte über andere Personen ohne deren Einwilligung hat (§ 257– 258). Rechte auf Personen, deren Güter, Kräfte, Leistungen und Handlungen könne man nur vertraglich erwerben, nicht aber sich ursprünglich zueignen. Das Sittengesetz bestimme nur die Form des Rechts, dessen Materie hänge allein von der Willkür der Personen ab (§ 24). Jede Person könne also willkürlich Rechte erwerben oder aufgeben. „Dies Aufgeben und Erwerben geschieht durch Festsetzung neuer Maximen, die ich jetzt durch meine Willkhür den übrigen sittlichen Regeln an die Seite setze.“ (§ 260) Hufeland begründet die Möglichkeit, unveränderliche Maximen willkürlich festzusetzen aus der vom Sittengesetz freigelassenen Autonomie: Diese ohne Zeitbegrenzung gültigen willkürlichen Maximen werden den aus dem Sittengesetz fließenden Regeln beigeordnet. Willensänderungen seien deshalb unerlaubt (§ 270). Wenn mehrere Personen sich darüber verständigen, dass sie ihre Handlungen durch koordinierte Maximen gesetzlich regeln wollen (§ 262), so treten sie nach Hufeland in einen Vertragszustand: Dazu müssen sie zeichenhafte Darstellungen ihrer Willensbestimmungen geben (§ 263 – 264), sie müssen ihren Willen wahrhaftig erklären (§ 269). Zu einem Vertrag gehört das Versprechen des Promittenten, das heiβt die „Einwilligung, daß ein andrer eins meiner Güter künftig zu den seinen rechnen dürfe“ (§ 265), und die Annahme dieses Versprechens durch den Promissar, „daß er das versprochene Gut als das seinige ansehen wolle“ (§ 266). Der Vertrag als ein „angenommenes Versprechen“ ist also eine „gegenseitige Einwilligung (consensus reciprocus)“ (§ 267). Durch den Vertrag entsage der Promittent seinem Recht an dem versprochenen Gut und gliedere es gleichsam aus seinen Gütern aus, während der Promissar dieses Gut nun zu den seinigen rechne (§ 271). „Alles, was jemand zu seinen Gütern rechnet, darf er sich durch Zwang erhalten; folglich auch das durch den Vertrag erworbene Gut.“ (§ 272) Promissar könne jeder sein, der Einsicht in seine Zwecke und der eine willkürliche Selbstbestimmung habe (§ 274). Promittent könne jeder sein, der Vermögen und Wille zur Weggabe eigener Güter habe und der außerdem einem Zwang unterworfen werden könne (§ 275). Gegenstand von Verträgen könne das Nicht-Unmögliche und das Nicht-Verbotene sein (§ 276). „Bey allen diesen Versprechen ist die gewisse Erwartung der Handlung oder die Bestimmung der Handlungen andrer das Gut, das der Rechthabende durch Zwang schützt; er zwingt also den Pflichttragenden, die Handlung zu thun.“ (§ 290) „Der Versprechende muß alles halten, was er versprochen hat, und dazu kann ihn der Rechthabende zwingen.“ (§ 291) Im
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zum Schutz eines Guts, das hier als Erwartung bestimmt sei, herleite, führe nur auf die Frage, wie die Erwartung als Gut habe erworben werden können,¹⁴ sei also nur eine Problemverlagerung, aber keine Problemlösung. Auch die von Schmalz vorgetragene Begründung des Zwangsrechts aus der Idee der Selbstzweckheit überzeuge nicht, weil Schmalz die Leistung als schon erbracht und damit den Vertrag als bereits vollzogen voraussetzen müsse, damit sein Begründungsargument überhaupt in Kraft gesetzt werden könne.¹⁵ Eine empirische Begründung – Garve und Pufendorf argumentieren aus dem Nutzenbedürfnis der Gesellschaft – genügt auf keinen Fall den Theorieansprüchen Schleiermachers. Schleiermachers eigene transzendentale Begründung des Zwangsrechts zielt auf eine Verknüpfung der Natursphäre mit der Freiheitssphäre; „zwingen heißt einen Menschen als Naturding behandeln, woher komt also mein Recht ihn in diesem Fall als Naturding anzusehn.“¹⁶ Schleiermachers Argumentation basiert auf dem Handlungsbegriff, in dem die Freiheits- und die Natursphäre als ursprünglich verschränkt gedacht werden. So ist jede Willensbestimmung zugleich noumenale Freiheitstat und sinnlich wahrnehmbare Begebenheit der Körperwelt. Indem Schleiermacher die Willensbestimmung als Handlung deutet, ist die in der Freiheitstat involvierte Begebenheit ihrem Wesen nach vollständig da. Die Realisierung der Willensbestimmung in der Sinnenwelt ist nämlich nur „körperlicher Mechanismus oder symbolische Darstellung.“¹⁷ Mit der Willenserklärung ist die Kausalität des Promittenten festgelegt. Die symbolische Darstellung bringt keinen Zuwachs an Verbindlichkeit; sie versinnlicht nur den Rechtscharakter der Willenserklärung, bewirkt ihn aber nicht. Die körperlichmechanische Realisierung der Willenserklärung ist ein reiner Umsetzungsprozess der bereits vollzogenen Determination, ein reiner Explikationsprozess ohne Eigencharakter. Die Willensbestimmung als Handlung ist auch eine sinnlich-natürliche Erscheinung, die von anderen Menschen (wie jedes andere Phänomen) als Mittel benutzt werden kann und darf. Wenn nun jemand eine Willenserklärung abgegeben hat und ein anderer sie bereits als Mittel verwendet, der Promittent aber den realisierenden Mechanismus nicht folgen lässt, so annulliert der Promittent eine Handlung des Promissars und blockiert damit dessen Kausalität. Hier wird Schleiermachers Grundsatz der Vertragslehre wirksam: „Ich darf jeden zwingen, welcher mich hindern will meine Causalität in der Sinnenwelt zu gebrauchen.“¹⁸ Durch diesen Grundsatz kann Schleiermacher das offensiv-verfügende Zwangsrecht aus den limitativ-defensiven Naturrechtsprinzipien ableiten. Ihm gelingt so die Eingliederung des Vertrags-
Naturstand sei alles Zwangsrecht und alle Verbindlichkeit auf das wirklich Versprochene als die konkrete Vertragsmaterie eingeschränkt; es gebe keine besonderen Arten von Verträgen, die allgemeine Gesetze mit darin implizierten Zwangsrechten begründeten (§ 293). Vgl. SN 132, Bl. 5v. Vgl. SN 132, Bl. 6r. SN 132, Bl. 5v. SN 132, Bl. 2v; Dilthey, „Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers“ (s. Anm. 6), 70. SN 132, Bl. 3r; Dilthey, „Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers“, 70.
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rechts in das allgemeine Naturrecht. Denn indem der Promittent seine Willenserklärung, die der Promissar bereits in sein Handlungssystem integriert hat, nicht erfüllt, verhindert er die Wirksamkeit des Promissars und verneint in diesem Punkt dessen Personalität. „Ich darf ihn [sc. den Promittenten] also zwingen, ich darf ihn in Absicht auf diese einmal in die Sinnenwelt übergegangene Thätigkeit als eine ins Stoken gerathene Maschine ansehn deren Gang ich nachhelfen darf.“¹⁹ Schleiermachers transzendentale Deduktion des Zwangsrechts ist ganz auf den Handlungsbegriff ausgerichtet. Sie hilft der Unzulänglichkeit der Erwartungstheorie auf und stellt gleichsam eine Weiterentwicklung dieser Theorie dar. Die Erwartungstheorie beschreibt nämlich nur die Verbindlichkeitsstruktur eines Vertrages, begründet sie aber nicht. Die im Promissar erregte Erwartung, dass die und die Handlung geschehen würde, könnte allenfalls dann der Grund des Zwangsrechts sein, wenn die Verbindlichkeit und Unveränderlichkeit der Verträge schon zweifelsfrei wäre. Denn es werden ja vielerlei Erwartungen immer wieder erregt, ohne dass damit eine Erfüllungsverpflichtung verbunden wäre. Die Auskunft, ein vertragliches Versprechen errege eben eine qualifizierte Erwartung des Promissars, setzt gerade das zu Ermittelnde voraus, dass nämlich die Verträge unveränderlich seien. Gegen diese Voraussetzung könnte man behaupten, dass eine solche Erwartung eben töricht sei, weil die Verträge nicht auf Dauer verbindlich seien, – und dann wäre die Konstitutionsfrage wieder da! Die Erwartungstheorie kann die Gegenposition, die die Nichterfüllung eines Vertragsversprechens auf Grund einer neuen Willensbestimmung gerade als Beleg für die Veränderlichkeit der Verträge und des sie tragenden Willens interpretiert, nicht widerlegen.²⁰ Diesen Mangel kann Schleiermacher durch seinen Rekurs auf die Handlungstheorie abstellen. Ihm gelingt der Nachweis, dass Vertragsänderungen oder Unterlassungen von Seiten des Promittenten ein abzuwehrender Eingriff in die Kausalitätssphäre des Promissars sind. Die Erwartungstheorie hat darin ihr Wahrheitsmoment, dass auch sie auf den Handlungsbegriff angelegt ist und durch ihn erschlossen werden kann. Auch für sie ist die Willenserklärung des Promittenten Teil eines Handlungsgeflechts, welches durch die Willensänderung zerrissen würde, welches aber nicht zerrissen werden darf und wo also ein Zwangsrecht zum Schutz dieser Handlungen statt hat.²¹ Schleiermacher führt das Zwangsrecht und die Verbindlichkeit von Verträgen auf die für menschliche Persönlichkeit elementare Handlungsfreiheit zurück. Das zweite Problemfeld, die Frage der Modalität der Verbindlichkeit wird von Schleiermacher nur kritisch, nicht aber thetisch-affirmativ behandelt. Hier ist das Fragmentarische seiner Überlegungen augenfällig. Schleiermacher weist wohl das Unzureichende anderer Vertragslehren (Hufeland, Mendelssohn, Hobbes, Feder) nach, doch kann seine eigene Argumentation nur ansatzweise aus seinen sonstigen
SN 132, Bl. 3r; Dilthey, „Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers“ (s. Anm. 6), 71. Vgl. SN 132, Bl. 2r. Vgl. SN 132, Bl. 3v; „Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers“, 71.
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Thesen erschlossen werden. „Wie kann es eine selbst übernommene Zwangspflicht ursprünglich geben? (Denn alle im bürgerlichen Zustand übernommenen Zwangspflichten fließen doch aus dem ersten Contrakt.).“²² Wie kann der Promittent sich selbst durch eine willkürliche Handlung eine Zwangspflicht auferlegen und der Promissar durch eben diese Handlung ein Zwangsrecht erwerben? Im vorbürgerlichen Zustand kann die Verbindlichkeit nicht als das Resultat einer vorausgegangenen Übereinkunft gleichsam von außen angeeignet werden. Die Modalität der Verbindlichkeit muss aus der Struktur des Vertragsverhältnisses erhoben werden. Unzulänglich sind nach Schleiermacher die Theorien, die die positiv-willkürliche Zwangspflicht durch eine Rückbindung an die Sittenlehre legitimieren wollen. „Hufeland sagt: es geschehe durch Aufnahme einer Maxime, welche den sittlichen Regeln beigesellt wird.“²³ Doch dieser Annahme einer willkürlichen Erweiterung des sittlichen Regelsystems, diesem Konzept einer gleichsam willkürlich-produktiven sittlichen Autonomie hält Schleiermacher entgegen: „a.) kein Gesez kann gemacht werden. b.) kein Mensch kann zum Richter darüber gesezt werden.“²⁴ In dieser doppelten Zurückweisung dringt Schleiermacher auf eine strikte Trennung von Sittlichkeit und Recht. Denn mit seinem ersten Kritikpunkt will er die exklusive Eigenart des moralischen Gesetzes bewahrt wissen vor Eintragungen aus der Rechtslehre; mit seinem zweiten Kritikpunkt will er das Recht vor einer Überforderung durch eine zu extensive Grenzziehung schützen: Recht hat es nicht wie die Sittlichkeit mit Gesinnungen, sondern mit intersubjektiv wahrnehmbaren, wirksamen und überprüfbaren Handlungen zu tun. „Mendelssohn sagt: es würde nicht geschehen können, wenn nicht schon vorher eine Gewissenspflicht das nemliche zu thun da gewesen wäre.“²⁵ Mendelssohns Behauptung, dass die Verbindlichkeit der positiven Zwangspflicht aus der Verbindlichkeit der sittlichen Persönlichkeit herrühre, widerlegt Schleiermacher durch den Hinweis, dass sich aus der Persönlichkeitsidee vielleicht die Modalität der sittlichen Pflicht, nicht aber die der Rechtspflicht ergebe. Unzulänglich sind nach Schleiermacher auch die empirischen Theorien, die die Genesis der Zwangspflicht und damit die Modalität der Verbindlichkeit zum Beispiel aus der Erwartung (Feder) oder aus dem ursprünglichen Friedensbedürfnis der Sozialität (Hobbes) erklären. „Daher ist man auch noch nicht darüber einig 1.) welches das eigentlich bindende Moment des Vertrages sei 2.) wie der Beweis zu führen sei daß dies da gewesen.“²⁶ Schleiermachers eigene Theorie zur Modalität der Verbindlichkeit wird man weder in einer Rückbindung des Zwangsrechts beziehungsweise der Zwangspflicht an die Sittlichkeit noch in einer Beschränkung auf empirische Behauptungen suchen dürfen. Schleiermacher wird auch dieses Thema der Vertragslehre vom Handlungsbegriff aus entwickeln und es damit rein immanent in den Grenzen des Rechtsbegriffs
SN 132, Bl. 6r. SN 132, Bl. 6r. SN 132, Bl. 1v; vgl. auch Bl. 4r. SN 132, Bl. 6r. SN 132, Bl. 1v.
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festmachen. Die Struktur des Vertrages setzt auch die Modalität der Verbindlichkeit fest. Nicht eine willkürlich-freiwillige Handlung lässt isoliert die Zwangspflicht entstehen, nicht die willkürliche Willensbestimmung des Promittenten wandelt allein durch sich eine mögliche in eine notwendige Handlung, sondern die wesentliche Intersubjektivität des Vertrages bestimmt die Modalität seiner Verbindlichkeit. Ein Mensch für sich allein könnte sich keine Zwangspflicht auferlegen. Erst dadurch, dass er durch seine Willenserklärung sich selbst als Mittel in die Handlungssphäre des Promissars eingliedert, bekommt die von ihm inaugurierte Handlung den Charakter einer Zwangspflicht. So wie überhaupt die Interaktion von handelnden Subjekten die Rechtssphäre konstituiert, so lässt die in der Vertragsstruktur beschlossene Verschränkung der Handlungssphären den Zwangscharakter der Verbindlichkeit entstehen. Weder der Promittent oder der Promissar je für sich, noch eine einlinig gedachte Beziehung beider, sondern allein ihr Wechselverhältnis geben dem Versprechen und seiner Genehmigung die Qualität einer durch Zwang zu sichernden Verbindlichkeit. Diese Schleiermachersche Theorie schließt auch eine Antwort auf die Frage ein: „welches ist denn nun eigentlich das bindende Moment des Paktums, nach welchem keine Retraktation mehr möglich ist. […] Meine Erklärung fällt wie die Kantische aus: Die Willenserklärung muß mit der Acceptation verbunden gedacht werden.“²⁷ Schleiermachers Antwort, die sich an Kants Erklärung in dessen damals druckfrischer Schrift Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre orientiert,²⁸ legt alles Gewicht auf die Intersubjektivität des Vertrages. Erst die förmlich festgestellte, wechselseitig anerkannte Verschränkung der Handlungssphären gibt dem Vertrag seine Gültigkeit und setzt die damit verbundene Verbindlichkeit in Kraft. Das dritte Problemfeld, die Frage der allgemein-evidenten Erkenntnismöglichkeit von Willenserklärungen bearbeitet Schleiermacher durch seine Theorie gesellschaftskonstitutiver Zeichen. Die Intersubjektivität der Verträge schließt die Erkenntnisproblematik ein, dass die Vertragspartner des wechselseitigen Verstehens ihrer Absichten und Erklärungen völlig gewiss sein können müssen. Dies führt auf eine besondere Hermeneutik. Vor der wirklichen Ausübung des Zwangsrechts gegen den Promittenten muss ja sichergestellt sein, dass dessen Willenserklärung auch tatsächlich vorhanden gewesen ist und in ihrer Intention richtig verstanden wurde. „Es fragt sich also: giebt es verständliche und für allgemein anzunehmende Zeichen einer Willensbestimmung? Ich antworte: es muß dergleichen geben, weil darauf die Anerkennung der Personalität beruht.“²⁹ Das Postulat allgemeiner Zeichen formuliert
SN 132, Bl. 6r+v. Vgl. dazu: „Aber weder durch den besonderen Willen des Promittenten, noch den des Promissars (als Acceptanten) geht das Seine des ersteren zu dem letzteren über, sondern nur durch den vereinigten Willen beider, mithin so fern beider Wille zugleich declarirt wird“ (Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Bd. 6, Gesammelte Schriften. Akademieausgabe, hg.v. der Preuβischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: G. Reimer, 1907, 272,11– 14). SN 132, Bl. 6v.
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eine Wirklichkeitsbedingung der Personalität. Der für Schleiermachers Anthropologie und Ethik zentrale Begriff der Personalität, der die Integration von Körperlichem und Seelischem, von Rezeptivem und Spontanem, von Theoretischem und Sittlichem leisten soll, wird hier vom Willensbegriff her konstruiert. Der Wille ist das Prinzip der Personalität des Menschen. Das bedeutet erstens, dass der menschliche Körper mit seinen organischen Kräften nur insoweit der Person zugerechnet wird, als er mit dem Willen unmittelbar verknüpft gedacht wird. Hört er auf, dem Willen dienstbar zu sein, das heiβt, hört er auf, Willensbestimmungen darzustellen, so verliert er allen personalen Charakter und wird ein Stück Natur.³⁰ Das bedeutet für Schleiermacher zweitens, dass das menschliche Vorstellungsvermögen mit seinen intellektuellen Kräften nur insoweit personal gedacht werden kann, als es mit dem Willen unmittelbar verknüpft ist. Hören seine Äußerungen auf, vom Willen abhängig und durch ihn geprägt zu sein, so wird es zu einem Stück Natur und verliert allen Freiheitscharakter. Sowohl der mechanischen Naturgesetzen gehorchende Körper als auch das psychologischen Naturgesetzen gehorchende Vorstellungsvermögen sind ohne Verknüpfung mit dem Willen bloße Naturdinge und können deshalb von anderen Personen als Mittel zu beliebigen Zwecken gebraucht werden, weil sie allen Personalitätscharakter verloren haben, der allein sittliches Handeln erfordert. Nur die Willensbestimmung und das von ihr Abhängige hat personalen Freiheitscharakter, alles andere ist Naturgegebenheit. Diese Aussage hat für Schleiermacher nur eine indirekt-ausgrenzende Bedeutung. Beim Umgang mit anderen Menschen müsse zunächst deren Personalität unterstellt werden. Nicht sie müssten den Beweis ihrer Personalität antreten, sondern ich müsse den Beweis ihrer Nichtpersonalität erbringen. Die Beweislast falle also demjenigen zu, der die naturale Unfreiheit dem anderen zuschreiben wolle. Zunächst muss nach Schleiermacher davon ausgegangen werden, dass jeder Mensch mit seinen Lebensäußerungen eine Person ist: „Weil aber im Allgemeinen die äußre Person mit der innern verbunden ist so darf ich nichts als bloße Naturbegebenheit ansehn, wovon ich nicht weiß, daß es mit der Willensbestimmung nicht zusammenhängt.“³¹ Wenn bei erfolgter Willenserklärung die betreffenden Tätigkeiten des Körpers bzw. des Vorstellungsvermögens nicht nachfolgen, so können beide als Naturdinge behandelt werden, das heiβt, andere Personen können sie sich als Mittel zu ihren eigenen Zwecken zunutze machen.³² Genau an diesem Punkt stellt sich die Erkenntnisfrage neu. Die Untätigkeit dieser Instrumente ist nämlich ein sicheres Indiz für die Nichtpersonalität nur dann, wenn die Willenserklärung vorab (das heiβt unabhängig von diesen Instrumenten der Willensdarstellung und deren Tätigkeit vorausgehend) erkannt werden kann. Könnte die Willenserklärung nur durch die Instrumente (Körper und Vorstellungsvermögen) erkannt werden, so müsste es immer ungewiss bleiben, ob die Untätigkeit der In-
Vgl. SN 132, Bl. 9r; „Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers“ (s. Anm. 6), 70. SN 132, Bl. 9r+v; „Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers“, 70. Vgl. SN 132, Bl. 9v; „Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers“, 70.
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strumente daher kommt, dass auf die erfolgte Willenserklärung keine Realisierung folgt, oder ob diese Untätigkeit auf dem Unterbleiben einer Willensbestimmung beruht. Ja, diese prinzipielle Ungewissheit könnte dahin gedeutet werden, dass die ganze Voraussetzung eines Willens überhaupt leer sei, dass die die Personalität verbürgende Annahme, es gebe einen Sittlichkeit fordernden und von Sittlichkeit geprägten Willen, in dem sich die Freiheitsidee realisiere, ganz unerweislich und unbegründet sei. Träfe diese Deutung zu, dann würde jeder Mensch den Vorteil wahrzunehmen suchen, die anderen sich wie Naturdinge zuzueignen und dadurch als Mittel zunutze zu machen. Deshalb ist es von höchster Wichtigkeit, die Willenserklärung für sich zweifelsfrei feststellen und verstehen zu können. Jeder sieht sich also genöthigt zu streben nach verständlichen Zeichen seines Willens, und die praktische Vernunft postulirt hier also eine ursprüngliche allen übrigen zum Grunde liegende Gesellschaft, nemlich die Gemeinschaft der Zeichen. Dies ist aber ein ganz anderes Postulat als die ethischen, denn die Vernunft macht es auch wirklich, sie zeigt uns daß sie die so noch nirgends ausgestorbene oder aufgehobene Gesellschaft wirklich gestiftet hat, eine Gesellschaft die aller Kulturverschiedenheit, allen Kriegen und aller Bosheit trozt, denn selbst der boshafte Wortbetrüger führt seine Hinterlist so aus daß er die anerkannte Bedeutung der eingeführten Zeichen gelten läßt und nur durch künstliche Zweideutigkeit seinem MitContrahenten die Schuld einer verfehlten Auslegung aufzuheften sucht. Das Daseyn dieser Gemeinschaft ist sehr leicht zu beweisen.³³
Schleiermacher unterscheidet drei verschiedene Arten von allgemein anerkannten und verständlichen Zeichen: positive, negative und feierliche. Positive Zeichen symbolisieren eine Willenserklärung, indem sie bei Vertragsschluss eine Handlung vorwegnehmen, die nur unter Voraussetzung des als gewollt erklärten Zustandes möglich ist.³⁴ Negative Zeichen symbolisieren eine Willenserklärung, die nicht wie bei den positiven Zeichen auf den Vollzug einer Handlung, sondern vielmehr auf das Unterlassen einer Handlung geht; die negativen Zeichen symbolisieren so, dass hier eine Handlung ausgeführt wird, die das Nichteinhalten der angekündigten Unterlassung per se konterkarierte, das heiβt durch die jede Abänderung der Willenserklärung den Promittenten teuer zu stehen käme.³⁵ Die feierlichen Zeichen unterstreichen die Ernsthaftigkeit der Willenserklärung, die sie durch die Inanspruchnahme Dritter symbolisieren; dabei werden solche Zeugen angerufen, die den Promittenten für einen Scherz oder für Hinterhältigkeit strafen würden. Doch zielen diese Zeichen der Solennität nicht auf die objektive Überwachung der Vertragsparteien, sondern auf die
SN 132, Bl. 6v-7r. Vgl. dazu: „z. B. man aß gemeinschaftlich zum Zeichen der erneuerten Freundschaft, man opferte gemeinschaftlich zum Zeichen daß man einerlei Götter und einerlei Wunsch habe“ (SN 132, Bl. 7r). Vgl. dazu: „signa pacis: z. B. Oelzweig statt der Waffe führen, mit Musik kommen und nicht in der Stille zum spioniren, die Friedenspfeife rauchen als Symbol der Unthätigkeit“ (SN 132, Bl. 7r).
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subjektive Betonung der Treue und Ernstwilligkeit.³⁶ Für alle drei Arten von allgemeinen Zeichen konstatiert Schleiermacher (anders als für die Wortsprache, bei der es keine ursprünglich-gesetzmäßige Verknüpfung des Bezeichneten mit dem Zeichen gebe) eine „a priori sich ergebende Hermeneutik“. Jene Zeichen sind alle symbolisch d. h. sie zeigen das intellektuelle an durch Darstellung des ihm correspondirenden sinnlichen. Das sinnliche Unvermögen zu schaden zeigt an das intellektuelle, nemlich die Abneigung. Der sinnliche Besiz der Freundschaft zeigt an den intellektuellen nemlich die Aussöhnung. Die sinnliche Ueberwältigung durch die gemeinschaftliche Kraft aller derer, die ein Interesse an der Treue haben, zeigt an die intellektuelle Ueberwältigung des Gemüths durch Wahrheit.³⁷
Die Akzeptationstheorie, die das unveränderlich Bindende eines Vertrages in die Dokumentation des Versprechens durch die Annahmeerklärung des Promissars setzt und damit die Akzeptation einseitig überbewertet,³⁸ hat darin ihr Wahrheitsmoment, dass sie auf den intersubjektiven Charakter und die Erkenntnisbedingungen eines Vertrages aufmerksam macht. Nur wenn die Willenserklärung des Promittenten durch allgemeinverständliche Zeichen zweifelsfrei kommuniziert und festgestellt werden kann, vermag ein Zwangsrecht erworben und dargetan werden.³⁹ Der systematisierende Durchgang durch Schleiermachers Theorieskizzen fördert einen wichtigen eigenständigen Beitrag zur Prinzipiendiskussion der naturrechtlichen Vertragslehre zutage. Die Nähe zu Kantischen Überlegungen und Argumentationen ist unverkennbar. Doch ebenso markant ist die Selbständigkeit und Stringenz, mit der Schleiermacher seine Vertragslehre vom Handlungsbegriff her aufbaut.
Vgl. dazu: „Hieher gehört auch bei Theistischen Völkern der Eid, welcher im Fetischismus ursprünglich nur Verpfändung war, und vielleicht auch in neuern Zeiten der Handschlag der ursprünglich Symbol der Tradition war. Hieher die verschiednen Formeln“ (SN 132, Bl. 7v). SN 132, Bl. 7v. Vgl. dazu: „Die Acceptation kann auch der Grund einer entstehenden Zwangsverbindlichkeit nicht seyn, denn sie enthält nur die Erklärung daß der andre meinen Willen wiße, daß er ihn billige, daß er zur Erfüllung desselben beitragen wolle“ (SN 132, Bl. 2v). Vgl. SN 132, Bl. 3v; „Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers“ (s. Anm. 6), 71.
Friedensstiftende Impulse von Schleiermachers Religionstheorie In der menschheitlichen Geschichte hat sich in vielfältigen sozialen Konstellationen gezeigt, dass Religion im Blick auf Friedensstiftung und Konfliktbeförderung doppelgesichtig ist. Dies gilt insbesondere für die institutionell hochkomplex organisierten monotheistischen Religionen. Zwar formulieren viele Religionen eine interne Friedenspflicht oder wünschen eine allgemeine Friedensstiftung, doch widerstreitet dieser Hochschätzung des Friedens häufig die Konstitutionsstruktur von Religion. Da zum Vollzug von Religion immer eine subjektive Verbindlichkeit gehört, die auf soziale Anerkennung zielt und die dabei ihren qualifizierenden Charakter, aus der Begegnung mit dem Absoluten zu stammen, geltend macht, so trägt dieses Bestreben nach allgemeiner Durchsetzung des Wahrheitsanspruchs und der Lebensgestaltung ein gewaltiges Konfliktpotential in sich. Je größer die soziale Gestaltungskraft einer Religion ist und je entschiedener der Verpflichtungscharakter der Absolutheitserfahrung genommen wird, desto höher ist der Gefährdungsgrad, dass aggressive Einstellungen das religiöse und gesamtgesellschaftliche Handeln zerstörerisch beeinflussen. Zudem werden religiöse Traditionsbestände häufig für andere Konfliktmotive unterstützend in Anspruch genommen und instrumentalisiert. Warum ist das so? Woher stammt die ambivalente Wirksamkeit der Religion? Lässt sich die Religion auch so verstehen, dass deren friedensstiftende Motive gestärkt und deren zerstörerische Impulse zurückgedämmt werden? In drei Schritten werde ich diese Leitfrage zu beantworten suchen. Zunächst werde ich knapp einige kommunikative Grundtendenzen der Religion schildern und in ihre politisch-sozialen Kontexte einzeichnen. Sodann werde ich Schleiermachers Konstitutionstheorie der Religion kurz darstellen. Schließlich werde ich auf die besondere Bestimmtheit der Religionstheorie Schleiermachers im Blick auf ihre friedensstiftenden Faktoren eingehen.
1 Kommunikative Grundtendenzen der Religion Ich beginne mit meiner Schilderung wichtiger Züge der religiösen Kommunikation, indem ich zunächst eine Definition des Religionsbegriffs gebe.
1.1 Der Begriff der Religion Religion ist sinnstiftende Wahrnehmung von Erfahrung im Horizont des Absoluten. Religion thematisiert nicht nur die äußere Erfahrungswelt, wie sie als Natur oder als Geschichte begegnet, sondern auch die innere Erfahrungswelt des eigenen Erlebens, Wünschens und Wollens. Religion geht von konkreten Beständen der Welterfahrung und Selbsterfahrung aus, sie zielt auf die sinnstiftende Vergegenwärtigung von https://doi.org/10.1515/9783110745498-014
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Wirklichkeit in ihrer durch das Absolute eröffneten Erfahrbarkeit. In der Religion sind Absolutheitserfahrung, Welterfahrung und Selbsterfahrung zusammengehörig. Religiöses Bewusstsein setzt immer beim Konkreten an und nimmt dieses als Erscheinungsort des Transzendenten und Absoluten. Ganzheitlicher universaler Sinn erschließt sich am Einzelnen. Lebendiges religiöses Bewusstsein gibt es nicht ohne subjektive Betroffenheit. Religion meint Betroffensein durch das, was uns unabweisbar angeht und bestimmt. Das religiöse Bewusstsein bezieht absoluten und bedingten Sinn wechselseitig aufeinander. In religiösen Sinndeutungen kommt die Transzendenz in der endlichen Erfahrung so zur Sprache, dass die Unendlichkeit, Ganzheit, Ewigkeit und Notwendigkeit der Wirklichkeit gerade im Blick auf die Endlichkeit, Partikularität, Zeitlichkeit und Kontingenz der Welt aufscheint und umgekehrt.
1.2 Die gegenwärtige Lage der Religion Die gegenwärtige religiöse Lage im Spannungsbogen von negativer und positiver Religionsfreiheit, von radikaler Religionsbestreitung und exklusiver Religionsdurchsetzung ist weltweit durch die gegenläufigen Tendenzen einer zumeist individualistischen Verschleifung und einer zumeist fundamentalistischen Profilierung bestimmt. Diese Tendenzen, die sich in den großen Weltreligionen schon lange beobachten lassen, haben auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts an Schärfe nicht abgenommen. In den westlichen Industriegesellschaften breitet sich eine skeptische Zurückhaltung gegenüber der institutionalisierten Religion weiter aus. Dabei stehen Motive der radikalen Religionskritik, wie sie im 19. und 20. Jahrhundert formuliert worden sind, unausgesprochen im Hintergrund. Diese radikale Religionskritik ist mehr als die Bestreitung einer bestimmten Gottesvorstellung oder einer bestimmten Offenbarungsbehauptung, sie bestreitet die Sinnhaftigkeit von Frömmigkeit überhaupt. Die anthropologische Religionskritik von Feuerbach, die soziologische Religionskritik von Marx oder die psychologische Religionskritik von Freud zielen jeweils darauf, bestimmte Gestalten und Funktionen als charakteristisch für die Religion zu identifizieren und diese Gestalten und Funktionen dann als tilgbar oder als ersetzbar durch andere soziale oder psychische Instanzen zu behaupten. Demnach sei jede Frömmigkeit eine Krankheit der Seele oder des Geistes, sei wunschträumende Verblendung oder vertröstendes Unterdrückungsinstrument oder alles dieses zusammen. Träfe diese Diagnose zu, so müssten von Frömmigkeit befallene Menschen und Menschengruppen durch pädagogische oder psychiatrische Heilmaßnahmen behandelt werden. Auch wenn die radikale Religionskritik sich politisch und rechtlich weithin nicht durchsetzen konnte, kann sie doch in Gestalt von Funktionalisierungsvermutungen in vielen Diskussionen den Generalverdacht gegen Religion markieren. Die negative Fassung der Religionsfreiheit als Freiheit von der Religion liegt auf dieser Linie.
1 Kommunikative Grundtendenzen der Religion
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Die kritisch-distanzierte Außensicht auf die Religion ist in den westlichen Industriestaaten zumeist mit einer zunehmenden Liberalisierung der Innensicht verbunden. Exklusivitätsanspruch und Missionsbestreben sind zugunsten eines schiedlichen Nebeneinanders zurückgenommen beziehungsweise gemindert worden. Die Historisierung des religiösen Bewusstseins, die Individualisierung der Lebensführung, die Mobilität der Lebenspraxis und die arbeitsteilige Differenzierung der Lebenswelten begünstigen ein soziales Klima, in welchem konfessionelle Fixierungen aufgelöst und religiöse Gestaltungskraft begrenzt werden. Den kulturdiagnostischen Aussagen, das wissenschaftlich-technisch bestimmte Bewusstsein des modernen Menschen sei mit Religion unvereinbar und Religion sei in einem unaufhaltsamen Niedergang zum Verschwinden bestimmt, stehen Beobachtungen der jüngsten Zeitgeschichte entgegen. Die Gesellschaftsformationen des sogenannten realen Sozialismus, der seine religionskritischen Implikationen auch gesellschaftsorganisatorisch umgesetzt hatte, haben sich im Wettbewerb der Gesellschaften nicht behaupten können. Dabei dürfte ein nicht unerheblicher Faktor des Scheiterns die bewusste Verneinung und Bekämpfung aller Religion gewesen sein. Insofern kann die Beendigung des realsozialistischen Experiments auch als Widerlegung der These genommen werden, dass der Verzicht auf religiöses Bewusstsein gesellschaftlich produktiv und wünschenswert sei. In den politischen und kulturellen Großkonflikten werden religiöse Überzeugungen, Traditionen und Werthaltungen in einer verwirrenden Gemengelage von den unterschiedlichsten Parteien aus den verschiedensten Motiven herangezogen und als Legitimationsinstanzen in Stellung gebracht. Dass Religion erhebliche gesellschaftliche Kräfte freisetzen kann, spielt gegenwärtig in der islamischen Welt eine große Rolle. Die tradierte Religion in ihren fundamentalistischen Gestalten wird als Bollwerk gegen die westliche Lebenswelt, gegen Säkularismus, Kapitalismus, Individualismus in Anspruch genommen. Militant ausgetragene gesellschaftliche Prozesse in vielen Ländern stellen global verschärft nicht nur die Frage nach den Selbstbegrenzungsfähigkeiten von Religion, sondern auch nach deren Friedensimpulsen.
1.3 Soziale Verknüpfung der Religion Religion hat viele Ausdrucksgestalten und Darstellungen, viele Gebräuche und Lehrmeinungen, viele Rituale und Institutionen, viele gesellschaftliche Vernetzungen und Entwicklungen. Neben den öffentlich dargestellten Frömmigkeitsgestalten, die von institutionalisierten Religionsgemeinschaften praktiziert werden, stehen private Frömmigkeitsgestalten, die von einzelnen Menschen in sehr unterschiedlichen Bereichen geübt werden, sowie eng gebundene Frömmigkeitsgestalten, die von kleinen Gruppen bei geringem Außenkontakt in eigenen Darstellungswelten gepflegt werden. Diese so unterschiedlichen Frömmigkeitsgestalten sind in höchst unterschiedlicher Weise mit der modernen Gesellschaftsentwicklung verflochten. Die Gestaltungsfaktoren der modernen Lebenswelt sind die wissenschaftliche Welterklärung,
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die technisch-industrielle Weltgestaltung, die organisatorisch-soziale Daseinsvorsorge und die arbeitsteilige Erwerbswirtschaft. Wohnwelt und Arbeitswelt sind räumlich und funktional auseinandergetreten. Die Bedarfswirtschaft ist der Erwerbswirtschaft gewichen. Die Durchführung der vielfältigen Arbeitstätigkeiten ist nicht mehr auf religiöse Ordnung und Rahmung angewiesen. Die moderne Grundströmung programmatischer Autonomie hat oft gegen die Bestrebungen der institutionalisierten Religion einen tiefgreifenden und langfristigen Wandlungsprozess der religiösen Lebensgestaltung und der theologischen Überlieferung in Gang gesetzt. Der Kulturwandel greift tief in die dogmatisch-ethische Lehrbildung und in die religiös geprägte Lebenspraxis ein. Religion äußert sich in den verschiedensten gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Lagen. Auch in vermeintlich religionslosen Gesellschaften ist sie vielfältig präsent. Seit den zerstörerischen Wirkungen der Konfessionskriege in Europa gibt es ein politisches Bestreben, die Wirkungssphäre der Religion zu beschränken. In den westlichen Industrieländern hat der Staat seine religiöse Neutralität erklärt und einen Pluralismus institutionalisierter öffentlicher Religion etabliert. Die menschenrechtliche Formulierung der Religionsfreiheit hat eine friedensstiftende Intention. Daraus ergeben sich neue intensive Anforderungen an das Gespräch zwischen den Religionen und an die politischen Regelanforderungen für die Religionen. Der interreligiöse Dialog, das Gespräch zwischen leitenden Vertretern der bevölkerungsstarken Religionsgesellschaften soll die externe Friedensfähigkeit der institutionalisierten Religion stärken.
2 Schleiermachers Konstitutionstheorie der Religion Angesichts der Grundambivalenz von Religion leistet Schleiermacher in seiner Religionstheorie einen wichtigen Beitrag, der die friedensstiftenden Motive der Religion genauer profiliert. Schleiermacher zeigt in einer grundlegenden Analyse, dass religiöse Erfahrung wesentlich auf friedliche und vielfältige Kommunikation angelegt ist.
2.1 Die Selbständigkeit der Religion Schleiermachers Überlegungen zur Religion sind von der Überzeugung getragen, dass die Religion eine selbständige Lebenskraft, eine für das menschliche Leben individuell wesentliche und sozial unverzichtbare Gestaltungskraft ist. Die Berechtigung der Religion besteht nicht in ihren Leistungen für Erkennen und Handeln, sondern gründet in ihr selbst; die Religion ist strikt selbstsubstitutiv. Religiöse Gewissheit lässt sich nicht aus Formeln und fremden Beschreibungen erzeugen, lässt sich nicht künstlich zusammenstückeln. Die Selbständigkeit der Religion wird von Schleiermacher negativ und positiv erläutert. Schleiermachers negative These lautet: Die Religion darf nicht metaphysisch
2 Schleiermachers Konstitutionstheorie der Religion
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oder moralisch, nicht als transzendentes Erkenntnissystem und nicht als disziplinierender Verhaltenskodex konzipiert werden. Schleiermachers positive These lautet: Religion ist Anschauen und Fühlen des Unendlichen (Reden), ist das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit (Glaubenslehre). Im religiösen Sinn sind Anschauung und Gefühl im Moment ihrer Erregung eins. Alle echten religiösen Anschauungen und Gefühle müssen aus einem solchen Augenblick des Einsseins stammen. Die Religion speist sich allein aus diesem Innewerden lebendiger Einheit, wo Sinn und Gegenstand noch nicht getrennt sind. Für diesen religiösen Lebensmoment kann es keinen Ersatz geben.
2.2 Die dialektische Grundspannung der Religion Die Konstitution der Religion impliziert ihre Gefährdung. Die Erfahrung der Absolutheit drängt zur Fixierung und damit zur Verendlichung. Die Absolutheit wird in die Strukturen endlichen Bewusstseins eingepasst. Die für alles Bewusstsein konstitutive Reflexion ergreift auch den religiösen Einheitsmoment. Indem Sinn und Gegenstand auseinandertreten, treten auch Anschauung und Gefühl auseinander. Jede Darstellung unterliegt den Gesetzen der Entzweiung, der Begrenzung und Entgegensetzung. Damit verfällt die Religion einer eigenen Dialektik. Sie will das Unendliche darstellen, sie will ihre Richtung aufs Universum, auf Totalität und Einheit artikulieren, und sie muss sich gegen ihren Inhalt den formalen Gesetzen des Endlichen, des Ausgrenzenden und des Differenten unterwerfen. Das Absolute muss relativ werden, auch wenn es gegen die Relativität abgesetzt wird. In der Religion ist deshalb der ewige Widerstreit zwischen ihrem Inhalt und der diesem Inhalt unangemessenen Form. Das Unendliche, sobald es ausgesagt werden soll, verwandelt sich in der Darstellung in ein Endliches. Dagegen wiederum geht der Protest der Religion. Sie sucht den Inhalt gegen die Form festzuhalten und kann es doch nicht, will sie nicht sprachlos werden. So muss die Religion stets beides sein: Behauptung und Widerruf. Die Religion muss den Prozess ihrer eigenen Fehlleistung thematisieren und darstellen; eine Theorie der Religion muss diese innere Dialektik auch begreifen; beides versucht Schleiermacher. Wird die dialektische Grundspannung missachtet und die verendlichte Absolutheit gleichwohl mit absoluter Geltung sozial vertreten, so drohen fundamentale Fehlentwicklungen, intern und extern. Diese sind aber nicht unabwendbar. Vielmehr sieht Schleiermacher bereits in der Konstitution der Religion das Gegenmittel gegen diese Vereinseitigung angelegt. Diese dem Wesen der Absolutheit entsprechende Gestaltung der Religion ist die Vergemeinschaftung der Frommen.
2.3 Die Geselligkeit der Religion Die Vergemeinschaftung der Frommen ist nicht nur human, sondern religiös begründet. Religion ist nämlich unendlich viel reicher, als dass sie sich je in einzelnen
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Frommen und deren eigentümlicher perspektivischer Anschauung realisieren könnte. Kein einzelner kann die Religion erschöpfen. Die unbegrenzte Mannigfaltigkeit der Anschauungen und Sichtweisen bewirkt eine selbstverständliche Selbstbescheidung und ein freundliches Annehmen des Andersartigen. Daraus ergeben sich ein Verlangen nach gegenseitiger Mitteilung und eine selbstverständliche Toleranz. Religiöse Gemeinschaft gründet in Ergänzung und Kritik. Gegenüber der überströmenden Fülle des Unendlichen spüren die Frommen immer ihr Ungenügen und streben deshalb nach Ergänzung, indem sie andere Anschauungen des Unendlichen sich mitteilen lassen. Das Ungenügen jedes einzelnen gegenüber dem Unendlichen treibt zu Prüfung und Begutachtung durch andere. Um der Freiheit und Reinheit der Frömmigkeit willen bedarf jeder Fromme der wechselseitigen Mitteilung. Nur in dieser wechselseitigen Mitteilung gibt es eine Prüfung und Legitimation der je eigenen Anschauungen und Erfahrungen. Nicht der Missionstrieb leitet das Gespräch, sondern das Bedürfnis nach frommer Selbstvergewisserung, der Zweifel, der sich aus dem Bewusstsein der Unendlichkeit des Absoluten, dem Ausgeliefertsein an das Unendliche und der prinzipiellen Unausschöpflichkeit seiner Mitteilungen speist. Wechselseitige Mitteilung steht im Zeichen einer vielfältigen Frömmigkeit, die konfessionelle Gegensätze überschreitet.
3 Friedensstiftende Motive in Schleiermachers Religionstheorie Religion prägt das Miteinander in einer Gesellschaft. Schleiermacher hebt die friedensstiftende Gestaltungskraft gerade dadurch hervor, dass er die religiöse Mitteilungsgemeinschaft nicht durch Missionstrieb und Exklusivitätsanspruch, sondern durch Bereitschaft zur Selbstkorrektur und durch Wunsch nach Ergänzung bestimmt sieht.
3.1 Die Kulturbedeutung der Religion Auch wenn Religion eine wesentliche und unverzichtbare Sphäre menschlicher Kultur ist, so lehnt Schleiermacher doch alle Ansprüche auf eine imperiale Dominanz der Religion über die anderen Kultursphären ab. Gegenüber allen Religionstheorien, die den Vorrang der Religion für die Prägung der Kultur einer Gesellschaft behaupten, nimmt Schleiermacher in seiner Vier-Felder-Sozialtheorie eine Begrenzung der Religion vor. Er rechnet mit einer Pluralität von Kulturfaktoren, die für das Gedeihen jeder entwickelten Gesellschaft wesentlich und unverzichtbar sind. Diese vier Kultursphären müssen selbständig organisiert werden. Ihre institutionellen Ausprägungen bestimmen die gesellschaftlichen Interaktionen. Keine dieser vier Kultursphären darf die andere dominieren; alle vier müssen so verfasst sein, dass sie mit den anderen kommunizieren können und dabei ihre eigenen Wesensmerkmale entfalten können. So wie Schleiermacher den Herrschaftsanspruch des Staats über die Religion zu-
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rückweist, so verzichtet er auch auf Herrschaftsansprüche der Religion über Staat, Wissenschaft und Wirtschaft.
3.2 Die Wertschätzung der positiven Religionen Schleiermacher wirbt für die geschichtliche Konkretion gelebter und tradierter Religion, er wirbt für die positiven Religionen. Wie jede unendliche Kraft muss auch die Religion sich in eigentümlichen Gestalten konkretisieren. Deshalb wendet sich Schleiermacher entschieden gegen die in der Aufklärung so beliebte natürliche Religion, die zur Individualisierung nicht fähig ist. Das Positive birgt zwar die Gefahr der Erstarrung, wenn es sich absolut gesetzt und die alleinige Offenbarung des Universums zu sein beansprucht. Doch der religiöse Geist bringt solche Verkrustungen immer wieder in den Fluss der Begeisterung. Leben gibt es nur als einzelnes Leben. Das religiöse Leben ist konkret. Zur Anregung individueller Frömmigkeit befürwortet Schleiermacher deshalb die kirchenorganisatorische Bildung von Personalgemeinden statt der üblichen Parochialgemeinden. Aus der Wertschätzung der positiven Religionen ergibt sich für Schleiermacher die Ablehnung aller Exklusivitätsansprüche einer positiven Religion, die strikte Zügelung aller Missionsveranstaltungen im Sinne äußerer Vergrößerung, die Ablehnung aller Uniformierung, aber auch aller Vermischung. Jede positive Religion muss ihre eigene geschichtliche Entwicklung nehmen. Deutlich zu unterscheiden ist die rechtlich-gesellschaftliche Stellung im Nebeneinander der Religionen und die religiöse Einwirkung aufeinander. Schleiermachers politische Forderung an den Staat, die Religionen (beispielsweise Christentum und Judentum) rechtlich gleich zu behandeln, zielt theologisch nicht auf eine indifferente Frömmigkeit im Verhältnis zwischen den Religionen, sondern will gerade die je eigenständige Lebendigkeit der Religionen unterstützen. Jede Religion muss ihre Entwicklungsfähigkeit beweisen und erhalten. Für das Christentum reklamiert Schleiermacher insbesondere die Idee der Freiheit. Die Freiheit jeder Frömmigkeit muss nicht gegen die positive christliche Religion erkämpft werden, sondern sie ist deren eigener Geist, der schon in ihren Ursprüngen diese unbeschränkte Freiheit anerkannt hat. Das Christentum ist Religion der Religion. Indem im Christentum die Religion reflexiv ist, wird die Kritik der Religion zu einem religiösen Akt. In der christlichen Religion wird die Religion selbst thematisiert. In dieser religiösen Reflexivität gründet die Aussage, dass das Christentum durch keine Höherentwicklung der Religion mehr überboten werde. Der christliche Glaube ist einfach und anspruchsvoll zugleich. Er will das ganze Leben in allen Bezügen zu allen Zeiten und an allen Orten prägen. Einzelne heilige Orte und einzelne heilige Stunden genügen ihm nicht. Die Frömmigkeit, die göttliche Kraft, die Irrungen und das Kräftigerwerden des Glaubens sind sein Gegenstand. Der christliche Glaube sieht sich in einem geschichtlichen Prozess.
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3.3 Die Geschichtlichkeit der positiven Religionen Schleiermacher erörtert die Entwicklungsfähigkeit der positiven Religionen vorrangig im Blick auf das Christentum. In der Geschichte des Christentums hat die interne Auseinandersetzung um die angemessene Selbstorganisation der Religion eine lange Geschichte. Seit der Reformation im 16. Jahrhundert besteht der Dauerkonflikt exklusiver Wahrheitsansprüche widerstreitender Konfessionsparteien, teilweise in einer Gesellschaft. Seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert wurden Lebensverhältnisse ausgebildet, die durch das Heraustreten aus traditionellen Bindungen und das Streben nach Autonomie bestimmt sind. Der geschichtliche Ursprung des Christentums wird nicht zur unveränderlichen Normgestalt der Religion oder der christlichen Frömmigkeit gesetzt, sondern dieser Ursprung, der keine exklusive Wahrung verlangt und die religiösen Äußerungen nicht absolut bindet, dieser Ursprung ist wegen der Unendlichkeit der Religion auf weitere Entfaltung und Variabilität angelegt. Der Bezug auf den Ursprung ist nicht normativ ausgrenzend, sondern auf Erfüllung und Entwicklung angelegt. Der Ursprungsbezug ermöglicht gerade die weitere lebendige Geschichte des Christentums. Der Ursprungsbezug bewährt sich darin, dass er die Erfüllung der Religion in einem universalen Sinne freisetzt. Die neuzeitlichen konfessionellen und kulturellen Vielfaltserfahrungen der durch das Christentum geprägten Kulturwelt lassen es nicht zu, die Vielfaltsdeutungen der Antike zu wiederholen. Der Absolutheitsanspruch des Christentums und anderer gegenwärtiger Religionen erfordert eine neue Stufe der Reflexion auf die mit diesem Absolutheitsanspruch verträgliche Vielfaltserfahrung. Diesen neuen Anforderungen an die Theologie hat Schleiermacher in seiner Dogmatik Der christliche Glaube Rechnung getragen. Gerade durch die Selbstbindung dieser Dogmatik an die evangelische Kirche gibt Schleiermacher einen wichtigen friedensstiftenden Impuls. Entgegen dem kriegerischen Konfessionalismus der reformatorischen und gegenreformatorischen Kirchentümer gelingt es Schleiermacher, indem er die legitime Verschiedenheit der römischen und der reformatorischen Kirchen begrifflich fassen und als mit dem Wesen des Christentums verträglich erweisen kann, die zerstörerische Polemik zu beenden und die Bildungen konfessioneller Wahrheitsansprüche, ohne sie zu vergleichgültigen, mit ihren je eigenen Glaubensstärken und Strukturschwächen in eine groß angelegte Entwicklungsgeschichte des Christentums einzuzeichnen.
4 Schluss Schleiermacher hat seine Religionstheorie vorrangig am Christentum entwickelt und entfaltet. Für die konfessionellen Konflikte innerhalb des abendländischen Christentums hat er friedensstiftende Strategien formuliert. Was er für die christlichen Konfessionen formuliert, gilt in einem weiteren Sinn auch für die positiven Religionen.
4 Schluss
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Schleiermachers Religionstheorie ist geeignet, den Horizont des Christentums zu überschreiten und Impulse für ein friedliches Nebeneinander und anregendes Miteinander der positiven Religionen zu geben. Gerade die Anerkennung der Vielfalt, die Bereitschaft zur Selbstkorrektur, die Neugierde auf ergänzende Mitteilung sind wichtige Motive für die Entwicklungsfähigkeit der Religionen in lebendiger Inspiration.
Schleiermachers Theorie der Geselligkeit Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768 – 1834) war der bedeutendste deutschsprachige protestantische Theologe des 19. Jahrhunderts. Er hatte als Universitätsprofessor, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, Gemeindeprediger und Publizist eine große Wirksamkeit. Friedrich Schleiermacher war ein Virtuose der Geselligkeit und hat sich mit diesem Thema sein Leben lang in ganz unterschiedlichen sozialen Feldern und theoretischen Perspektiven beschäftigt. Geselligkeit, das Miteinander von Menschen an einem Ort ohne äußeren Zwang und Zweck mit dem Ziel einer anregenden Kommunikation für alle Anwesenden, hat für Schleiermacher praktisch und theoretisch eine prominente Bedeutung. Schleiermacher war nicht nur praktisch an vielfältigen Formen von Geselligkeit beteiligt, sondern leistete auch wichtige Beiträge zur vornehmlich ethisch ausgerichteten Theorie der Geselligkeit. Praktisch lässt sich ein weiter Bogen von seiner Jugend ins reife Alter schlagen: sehr unterschiedliche Geselligkeitserfahrungen machte Schleiermacher in seiner Herrnhuter Erziehung in Niesky und Barby, in seiner Studentenzeit in Halle an der Saale, in seiner Hauslehrerstelle im Dohnaschen Schlobitten, in seiner reformierten Predigerstelle am Berliner Charité-Krankenhaus, in seiner Professur in Halle, in seinen vielgestaltigen beruflichen, familiären und sozialen Lebensbezügen in Berlin ab 1808. Theoretisch lässt sich für das Thema der Geselligkeit eine Vielzahl von Erörterungskontexten angeben: Schleiermacher behandelt die Geselligkeit in der Ethik, in der Theologie, in der Pädagogik, in der Staatslehre. Besonders zwei Grundgestalten von Geselligkeit haben ihn praktisch und theoretisch immer wieder beschäftigt: die freie Geselligkeit und die fromme Geselligkeit. Die freie Geselligkeit ist ethisch ein Grundelement humaner Lebensführung. Die fromme Geselligkeit erhält ihre spezifische Struktur und Motivation aus der Erfahrung des Absoluten. Beide Geselligkeitsgestalten hat Schleiermacher in seinen wissenschaftlichen Überlegungen aus verschiedenen Perspektiven untersucht.
1 Freie Geselligkeit Auf seinem Lebensweg hat Schleiermacher die schöne und freie Geselligkeit erstmals im ostpreußischen Schloss Schlobitten kennen gelernt, wo er 1790 – 1793 Hauslehrer bei der gräflichen Familie Dohna war. „Im fremden Hause ging der Sinn mir auf für schönes gemeinschaftliches Dasein, ich sah wie Freiheit erst veredelt und recht gestaltet die zarten Geheimniße der Menschheit, die dem Ungeweihten immer dunkel bleiben, der sie nur als Bande der Natur verehrt.“¹
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Schriften aus der Berliner Zeit 1800 – 1802, Bd. I/3, Kritische https://doi.org/10.1515/9783110745498-015
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Schleiermachers Theorie der Geselligkeit
Schleiermachers Wechsel nach Berlin erweiterte dann seine Geselligkeitserfahrungen. Er trat in die neue Welt der Berliner Salons ein. Im März 1794 wurde Schleiermacher wohl von Alexander zu Dohna (1771– 1831) in den Salon der Henriette Herz eingeführt. Damit nahm er teil an einer neuen Art von freier Geselligkeit. Salons hatten sich in Berlin seit den 1780er Jahren vornehmlich in jüdischen Häusern gebildet. In diesen Salons wurde das bisherige Privileg des Adels, eine Gesellschaft zu geben, vom Bürgertum übernommen und inhaltlich neu gefüllt. Das Verbindende einer solchen Geselligkeit war die Bildung und nicht mehr der Stand. An die Stelle der höfischen Gastmähler und Tanzbälle traten bürgerliche Literaturzirkel, Lesestunden und Diskussionsrunden. Die Beköstigung war einfach: es wurde Tee getrunken; gesucht wurde die geistige Anregung im offenen Austausch der Ansichten. Der Zugang zu den Salons stand allen Freunden des Hauses und eingeführten Besuchern offen. Gemeinsam sollte Geselligkeit gestaltet werden. Henriette Herz geborene de Lemos (1764– 1847) führte seit 1784 parallel zur wissenschaftlich-aufklärerischen Geselligkeit ihres Mannes, des Arztes und Kant-Schülers Markus Herz (1747– 1803), einen eigenen literarisch-künstlerischen Salon. In diesem Salon trafen sich Bürgerliche und Adlige, Christen und Juden, Kirchenleute und Freigeister, Literaten und Beamte. Die Berliner Predigerzeit ab 1796 brachte für Schleiermacher über die Salon-Bekanntschaft hinaus eine enge Freundschaft mit Henriette Herz und zudem mit dem Eintritt in den Frühromantikerkreis um Friedrich Schlegel eine Fülle neuer Beziehungen.
1.1 Prinzipien freier Geselligkeit Schleiermacher suchte die freie Geselligkeit, die er in den Berliner Salons erfahren hatte, auch zu begreifen und für sie zu werben.Wohl im Herbst 1798 begann er mit der Ausarbeitung der Abhandlung „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“, deren erster Teil ohne Namensnennung in zwei Lieferungen im Januar und Februar 1799 in der Zeitschrift Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks erschienen, deren Abschluss aber ausblieb.² In dieser Abhandlung, an deren Zustandekommen Henriette Herz eifrig Anteil genommen hat, sucht Schleiermacher die Geselligkeitserfahrungen, die er in den Berliner Salons und im Frühromantikerkreis gesammelt hat, theoretisch zu verarbeiten und zur Zeichnung eines Ideals von Geselligkeit zu nutzen. Wie Recht und Sittlichkeit bedarf die Geselligkeit nicht nur der praktischen Kunstfertigkeit, sondern über alles schätzenswerte Virtuosentum hinaus auch einer Gesamtausgabe. 1. Abteilung: Schriften und Entwürfe, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York: De Gruyter, 1988, 44,9 – 12 (= KGA I/3). Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Schriften aus der Berliner Zeit 1796 – 1799, Bd. I/2, Kritische Gesamtausgabe. 1. Abteilung: Schriften und Entwürfe, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York: De Gruyter, 1984, L–LIII. 163 – 184 (= KGA I/2).
1 Freie Geselligkeit
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angemessenen Theorie. Die Praxis braucht die unterstützende Theorie, deren begriffliche Erfassung des Gegenstands es erlaubt, angemessene Regeln für die Gestaltung von Geselligkeit zu formulieren. Jeder muss in seinem geselligen Verhalten sein eigener Gesetzgeber sein, schädliche Konstellationen des gemeinsamen Umgangs abzuwenden und das Wohl des Miteinanders zu fördern suchen. Freie Geselligkeit gelingt besser oder schlechter, je höher und gleichmäßiger Bildung und Kenntnisse der Anwesenden sind. Das Geselligkeitsideal, wie es Schleiermacher zeichnet, auch wirklich zu realisieren und die aufgestellten Gebote zu befolgen, ist entsprechend den Anlässen einer Zusammenkunft unterschiedlich verbindlich. Werden Menschen nur durch Zufall oder durch den Willen eines Einzelnen zusammengeführt, so ist die Verbindlichkeit geringer, eine gemeinschaftliche Sphäre zu etablieren und innerhalb ihrer sich mitzuteilen, als bei einer von allen gewollten Zusammenkunft. Bei Zufallsgruppen besteht keine moralische Verbindlichkeit zu einheitlicher Geselligkeit. Bei Einladung durch einen Einzelnen trägt dieser die besondere Verantwortung für die Zusammenstellung der Teilnehmer. Die Teilnehmerzahl, die Kant strikt zwischen drei und neun ansetzt, zwischen der Zahl der Grazien und der Zahl der Musen, ist nach Schleiermacher nicht äußerlich bestimmbar, sondern von den Teilnehmenden abhängig. Je größer die Teilnehmerzahl, desto schwerer ist die Ermittlung des Gemeinsamen, desto stärker wirken zentrifugale Kräfte, die eine Geselligkeit in mehrere kleinere Gruppen zerteilen. Schleiermachers Abhandlung ist sehr gedrängt formuliert und durch eine wechselnde Terminologie nicht immer klar in ihren Aussagen. Die Abhandlung, die nur fragmentarisch vorliegt, ist methodisch an Fichtes Wissenschaftslehre und Sittenlehre orientiert. Dies alles erschwert das Verständnis. Ich werde mich bemühen, Schleiermachers Anliegen und Aussagen mit eigenen Worten zu formulieren.
1.1.1 Eigenwert Schleiermacher eröffnet seine Abhandlung „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“ mit der Feststellung, wie bedeutsam die freie Geselligkeit für die Entfaltung gebildeter Humanität ist. Nach Schleiermacher ist die Kultivierung freier Geselligkeit von moralischer Dringlichkeit und humanem Interesse. Freie, durch keinen äußern Zweck gebundene und bestimmte Geselligkeit wird von allen gebildeten Menschen als eins ihrer ersten und edelsten Bedürfnisse laut gefordert. Wer nur zwischen den Sorgen des häuslichen und den Geschäften des bürgerlichen Lebens hin und her geworfen wird, nähert sich, je treuer er diesen Weg wiederholt, nur um desto langsamer dem höheren Ziele des menschlichen Daseins.³
Häuslich-familiäres und bürgerlich-berufliches Dasein sind zu eingegrenzt und einseitig, um einer Person die Vielfalt menschlichen Lebens bekannt zu machen. Freie
KGA I/2 (s. Anm. 2), 165,2– 7.
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Schleiermachers Theorie der Geselligkeit
Geselligkeit wird um so wichtiger, je geregelter und festgesetzter die beruflich-bürgerliche Tätigkeitssphäre und je geordneter und zahlenmäßig beschränkter das häuslich-familiäre Leben ist. Jede Person bedarf dann einer Kommunikation, die ihr möglichst reiche und vielgestaltige Anschauungen davon gibt, wie Menschheit sich gestalten kann. Nur dadurch, dass fremde Situationen und Charaktere erkannt und nachbarlich werden, erhält jede Person die Anregungen zur weiteren Entwicklung ihrer eigenen Humanität. Dies geschieht im freien Miteinander vernünftiger Menschen, die in ihrem Umgang sich gegenseitig bilden. Freie Geselligkeit hat ihren Zweck in sich selbst. Sie besteht und wird praktiziert allein um ihrer selbst willen. Sie ist in sich selbst vollendet. Schleiermacher will mit seiner Abhandlung eine Auffassung des menschlichen Miteinanders zurückweisen, die alle Geselligkeit vornehmlich unter dem Gesichtspunkt des eigenen Vorteils und des eigenen gesellschaftlichen Erfolgs betrachtet. Eine solche Auffassung vertrat beispielweise Adolph von Knigge in seinen Empfehlungen zur guten Lebensart und zum richtigen Benehmen. Dessen Druckschrift Ueber den Umgang mit Menschen ⁴ eilte damals von Auflage zu Auflage und von Raubdruck zu Raubdruck. Schleiermacher missbilligt, dass Knigge seine Verhaltensregeln an äußeren Gewinnzielen orientiert und die Geselligkeit nicht um ihrer selbst willen ehrt. Er setzt Knigge eine Geselligkeitstheorie entgegen, die zugleich Individualität und Sozialität, ego und alter ego fördernd im Blick hat.
1.1.2 Freiheit Schleiermacher stellt ins Zentrum seiner Abhandlung das Prinzip der Freiheit. Freie Personen sollen an einem Ort eine freie Gemeinschaft bilden und unterhalten, an der alle Anwesenden ohne jeglichen Zwang teilnehmen. Schleiermacher beleuchtet hell die Freiheit der Geselligkeit, die gesellige Freiheit von beruflichen und häuslichen Zwängen, die Freiheit für individuelle Persönlichkeitsäußerung und soziale Vielfalt. Er will das Miteinander befreien von den Zwängen des Konventionellen und den ermüdenden Wiederholungen der beruflichen Anpassungen. Freie Geselligkeit, diese nennt Schleiermacher hier eine „Gesellschaft“⁵, ist nicht auf die gemeinsame Erfüllung eines äußeren Zwecks ausgerichtet. Die Freiheit der bei einer Geselligkeit anwesenden Personen soll allein ihr Verhalten und Handeln bestimmen. In der Freiheit gilt kein anderes Gesetz als das, welches jede Person sich selbst gibt und durch das sie ihre Kräfte harmonisch bildet. Freie Geselligkeit meint sowohl die Freiheit der Gestaltung des Miteinanders mehrerer Personen als auch die Freiheit der bei der Geselligkeit anwesenden Personen. Damit diese doppelte Freiheit gelingt und die erstrebte Geselligkeitskultur erreicht wird, müssen die Anwesenden einer Zusammenkunft bestimmte Prinzipien und
Adolph von Knigge, Ueber den Umgang mit Menschen, Hannover: Schmidt, 1788. KGA I/2 (s. Anm. 2), 168,17.
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Regeln beachten. Nur wer seine gesellige Tätigkeit formt und gestaltet, nur wer zum Gelingen der Geselligkeit seinen Beitrag zu leisten bereit ist, kann die Freiheit auch real und konkret werden lassen. Die wichtigen Gesichtspunkte und leitenden Prinzipien freier Geselligkeit will Schleiermacher formulieren.
1.1.3 Wechselwirkung Freie Geselligkeit ist die wechselseitige Einwirkung mehrerer Personen aufeinander ohne Einseitigkeit. Eine Person kann, wenn sie die Freiheit der anderen Person achtet, nur so auf diese andere Person einwirken, dass sie deren eigene freie Tätigkeit anzuregen sucht. Diese angeregte Person muss ihrerseits so antworten, dass sie sich gegenüber der ersten Person ebenfalls in Freiheit anregend verhält. Freie Anregung folgt auf freie Anregung. Die Wechselwirkung zwischen den freien Personen gibt der freien Geselligkeit ihre Struktur. Dieses Prinzip der Wechselwirkung nennt Schleiermacher „das formelle Gesetz der geselligen Thätigkeit: Alles soll Wechselwirkung seyn“⁶. Genauere Ausführungen zum formellen Gesetz der geselligen Tätigkeit liegen nicht vor. Die durchgängige Wechselwirkung kann in der freien Geselligkeit nicht auf einen bestimmten Zweck, auf eine einzelne gemeinschaftliche Handlung gerichtet sein. Dies führte sonst zu einer Außenbestimmung nach objektiven Regeln.
1.1.4 Selbstmitteilung Soll die Einwirkung auf eine freie Person deren Tätigkeit anregen, so muss ihr dazu ein Gegenstand präsentiert werden. Dieser Gegenstand kann nichts anderes als die Tätigkeit des Anregenden sein. Eine Person kann eine andere Person in Freiheit nur so zur Tätigkeit auffordern, dass die auffordernde Person ihre eigenen Ansichten und Gedanken mitteilt. Freie Mitteilung der Empfindungen, Gedanken und Vorstellungen macht also die Wechselwirkung aus, die nicht nach außen gerichtet ist, sondern in sich selbst zurückgeht und darin ihre Vollendung hat. Die Wechselwirkung umfasst Form und Zweck, Struktur und Materie geselliger Tätigkeit. Jeder Anwesende muss so tätig sein, dass in Freiheit die Tätigkeit der übrigen Anwesenden angeregt wird. Aufforderung und Antwort zielen wechselseitig auf Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung. Nur die Personen selber sollen sich anregen. Deshalb müssen sie sich selber mitteilen. Der Gegenstand, der tätig als Anregung dargeboten wird, kann jeweils nur die eigene Tätigkeit, genauer die Mitteilung der eigenen Gedanken sein. Dieses Prinzip freier Selbstmitteilung nennt Schleiermacher das materielle Prinzip der geselligen Tätigkeit: „Alle sollen zu einem freien Gedankenspiel angeregt werden durch die Mittheilung des meinigen.“⁷ Dieses Prinzip wollte
KGA I/2 (s. Anm. 2), 170,12– 13. KGA I/2, 170,13 – 15.
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Schleiermachers Theorie der Geselligkeit
Schleiermacher darstellen im Gegeneinander von scheinhaftem und wesenhaftem Wohlbehagen, von Konventionalität und freier Humanität, Buchstabe und Geist. Genauere Ausführungen liegen nicht vor.
1.1.5 Selbstbegrenzung Mit der Feststellung von Form und Stoff ist der Begriff freier Geselligkeit noch nicht vollständig bestimmt. Der Begriff muss noch konkretisiert werden auf die mannigfaltigen Konstellationen, die angesichts der je spezifischen Prägung der beteiligten Personen zustande kommen können. Bei einer geselligen Zusammenkunft müssen alle Anwesenden, die alle in ihrer Freiheit angesprochen werden sollen, auch alle ihren Beitrag zur wechselseitigen Kommunikation leisten können. Die gesellige Tätigkeit jedes Anwesenden muss deshalb ein bestimmtes Quantum beachten, damit das Miteinander einer Personengruppe als Ganzheit gestaltbar bleibt. Dies nennt Schleiermacher das quantitative Gesetz geselliger Tätigkeit: „deine gesellige Thätigkeit soll sich immer innerhalb der Schranken halten, in denen allein eine bestimmte Gesellschaft als ein Ganzes bestehen kann.“⁸ Wegen seiner Endlichkeit hat jeder Mensch eine nur ihm eigentümliche Lebenssphäre des Denkens, Handelns und Empfindens. Diese Lebenssphäre stimmt mit den Lebenssphären anderer Menschen nicht völlig überein. In einer auf Teilnahme aller Anwesenden angelegten Geselligkeit muss das Bemühen leitend sein, die eigene Mitteilung so zu bestimmen und an einer gemeinschaftlichen Sphäre zu orientieren, dass alle mit eigenen Mitteilungen darauf antworten können. Dieses quantitative Gesetz erörtert Schleiermacher ausführlich unter dem Leitbegriff der Schicklichkeit. Das Gebot der Schicklichkeit fordert, „daß nichts angeregt werden soll, was nicht in die gemeinschaftliche Sphäre Aller gehört.“⁹
1.2 Gefährdungen der Geselligkeit Die Aufgabe, freie Geselligkeit so zu gestalten, dass alle Anwesenden am Geschehen wechselseitiger Mitteilung teilnehmen können und dabei niemand dominant oder unterdrückt wird, ist nicht leicht zu erfüllen. Sein Ideal, das die Gefährdungen der Geselligkeit überwindet, zeichnet Schleiermacher, indem er den doppelten inneren Widerstreit zwischen den Individualitätsimpulsen der Personen und den Erfordernissen der Gemeinschaft bearbeitet.¹⁰
KGA I/2 (s. Anm. 2), 171,5 – 8. KGA I/2, 171,30 – 31. Vgl. KGA I/2, 172,1– 176,16 (Gewandtheit). 176,17– 180,21 (Feinheit).
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1.2.1 Struktur Freie Geselligkeit zielt auf Entfaltung von Individualität; doch um des Bestands der Geselligkeit willen soll jeder Teilnehmer Teile seiner Individualität unterdrücken. Gegen diesen Widerspruch zwischen Selbsttätigkeit und Selbstbeschränkung, zwischen Mitteilung des eigenen individuellen Charakters und Annahme des Charakters der Geselligkeit werden häufig zwei einseitige Maximen formuliert. Entweder wird die Maxime empfohlen, die eigene Individualität auf jeden Fall ungezügelt zum Zuge zu bringen, oder es wird die Maxime angeraten, die eigene Individualität zu verleugnen und sich auf eine durchschnittliche Mitteilung einzustellen. Beide Maximen zerstören die freie Geselligkeit, weil die erste Maxime Tyrannei und die zweite Maxime Leerheit bewirkt. Schleiermacher löst den Widerspruch durch das Gebot der Gewandtheit auf. Da der Charakter einer Geselligkeit durch den behandelten Stoff (Kunst, Literatur, Philosophie, Neuigkeiten und so weiter) und der Charakter einer Person durch deren Gedankenbildung (witzig, still, lebhaft) bestimmt ist, muss der Stoff der Geselligkeit („Ton“) für die Mitteilungen aller leitend sein, jeder aber in dieser Sphäre seine individuelle Denkweise („Manier“) frei entfalten können. Wenn ein Stoff der Geselligkeit in offen dargebotenen Denkweisen sehr unterschiedlich behandelt wird, so ist das der Geselligkeit und den Einzelnen förderlich. Ihre gesellige Gewandtheit beweisen die Anwesenden dadurch, dass sie elastisch auf die gerade aktuellen Gesprächsgegenstände eingehen und ihre Eigentümlichkeit auch noch bei den fremdesten Stoffen aufleuchten lassen.
1.2.2 Inhalt Die Geselligkeit bedarf einer gemeinschaftlichen Sphäre, die frei von allen bürgerlichen Verhältnissen sein soll; um die Sphäre zu finden, kann aber nur vom ersten Erscheinungsbild der Anwesenden ausgegangen werden, welches vornehmlich von deren bürgerlichen Verhältnissen geprägt wird. Gegen diesen Widerspruch zwischen Ausgangspunkt und Ziel der Geselligkeit werden häufig zwei einseitige Maximen formuliert. Entweder wird die Maxime empfohlen, aus den bürgerlich-beruflichen Umständen der Anwesenden die gemeinschaftliche Sphäre aufzusuchen. Oder es wird die andere Maxime angeraten, jeder Anwesende solle in die Gestaltung des Zusammenseins dasjenige allgemein Interessierende einbringen, was er am besten kann. Beide Maximen verhindern freie Geselligkeit, weil die erste Maxime die Anwesenden an die bürgerlichen Bindungen fesselt und die zweite Maxime durch ungezügeltes Virtuosentum zur Vereinzelung der Anwesenden führt. Schleiermacher löst den Widerspruch durch das Gebot der Feinheit auf. Die gemeinschaftliche Sphäre einer konkreten Geselligkeit wird dadurch gefunden, dass die Grenzbestimmungen des kleinsten und des größten Gemeinschaftlichen im Blick sind und nun zwischen diesen beiden Grenzpunkten das angemessene Gemeinschaftliche immer genauer bestimmt wird. Die Feinheit erweist sich in der leichten Beweglichkeit zwischen den Grenzen des geselligen Stoffs.
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Schleiermachers Theorie der Geselligkeit
1.2.3 Gesprächsmodus Gewandtheit und Feinheit sind allerdings selbst gefährdet. Einseitige Gewandtheit, die ja die Stoffgrenzen strikt festhält, führt zu geselliger Pedanterie. Einseitige Feinheit, die den Charakter der Geselligkeit immer genauer zu finden sucht, führt zu arroganter Überfliegerei. Schleiermacher wehrt die Gefährdungen dadurch ab, dass er Behutsamkeit im Gebrauch beider empfiehlt. Die auf Variation ausgerichtete Feinheit bewahrt dann die erforderliche Stabilität der gemeinschaftlichen Sphäre, wenn behutsam vom Kleinsten zum Größten vorangeschritten wird. Die auf Stabilität ausgerichtete Gewandtheit gewinnt dann die wünschenswerte Variation der gemeinschaftlichen Sphäre, wenn in die Gesprächsbeiträge hintergründige Hinweise auf andere Gedankenfelder eingestreut sind. In Anspielungen beispielsweise wird auf eine Idee in einer anderen Sphäre verwiesen; Ironie macht einen ernsthaften Ausdruck durchscheinend für einen Scherz. Behutsam eingesetzt können sie geeignete Mittel sein, um die gesellige Tätigkeit zu beleben.
1.3 Geselligkeit als Grundform sittlichen Lebens In Schleiermachers Ethik, wie sie in seinen Hallenser und Berliner Universitätsvorlesungen und in seinen Berliner Akademievorträgen vorliegt, wird die Geselligkeit als eine Grundform sittlichen Lebens dargestellt. In der freien Geselligkeit bilden Menschen sich selbst in der wechselseitigen Selbstmitteilung. Durch die freien Mitteilungen anderer kann jede Person beobachten, welche natürliche Ausstattung und sittliche Gestaltungskraft zum Menschsein gehört. Durch die eigenen Selbstmitteilungen kann jeder in den Antworten der anderen feststellen, wie die eigene Persönlichkeit in ihrer Eigentümlichkeit beurteilt wird. Die freie Geselligkeit hat eine Tendenz zur Freundschaft. Und umgekehrt stiftet die Freundschaft Geselligkeit. Beiden ist die wechselseitige Selbstmitteilung gemein, die in der Freundschaft an das Gefühl und in der Geselligkeit an die Beobachtung gerichtet ist. Die freie Geselligkeit ist Darstellung des Individuell-Eigentümlichen und hat deshalb eine enge Verwandtschaft mit der Kunst. In den geselligen Tätigkeiten wird die Grundidee des Menschen dargestellt. Dies geschieht ganz in der Perspektive der Individualität. Freie Geselligkeit gewinnt nur dann eine eigene Organisation, wenn sie vom Staat getrennt ist. Sie darf sich nicht an äußeren Kennzeichen des Standes festmachen. Die unterschiedlichen Bildungsstufen, die prinzipiell denselben Wert für die Geselligkeit haben, beeinflussen nur deren gemeinschaftliche Sphäre (den „Ton“). Die Geselligkeit ist zunächst und ursprünglich eine häusliche Veranstaltung, für deren Verlauf und Gelingen der Hausherr als Gastgeber und Wirt eine besondere Verantwortung hat. Wird die freie Geselligkeit zu einer Veranstaltung des öffentlichen Lebens, so sind die Gefahren der Einseitigkeit und des Mangels an Beziehungen übermächtig. Das Gelingen freier Geselligkeit ist an eine entwickelte Eigentümlichkeit der Teilnehmenden gebunden.
1 Freie Geselligkeit
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Freie Geselligkeit ist eine Grundform sittlichen Lebens. Schleiermacher unterscheidet vier vollkommene sittliche Formen entsprechend den elementaren sittlichen Leistungen, die im Kulturprozess erbracht werden müssen. Die menschheitliche Kulturentwicklung zielt darauf, den Gegensatz von Natur und Vernunft zu überwinden. Dies geschieht durch vernünftiges Handeln. Das vernünftige sittliche Handeln kann unterschieden werden im Blick auf sein Ergebnis und im Blick auf seinen Charakter. Das vernünftige sittliche Handeln hat ein doppeltes Ergebnis: Durch vernünftiges veränderndes („organisierendes“) Handeln wird die Natur einerseits so bearbeitet, dass sie die Vernunft nicht zerstört, sondern unterstützt (beispielsweise Urbarmachung von Sümpfen). Durch vernünftiges darstellendes („symbolisierendes“) Handeln wird die Natur andererseits so geprägt, dass sie zu einem Zeichen der Vernunft wird (beispielsweise Gestaltung eines Gartens). Das vernünftige sittliche Handeln hat einen doppelten Charakter: Es ist einerseits in allen menschlichen Personen identisch. Es ist andererseits durch die Individualität der Personen eigentümlich geprägt. Durch diese doppelte Perspektive des vernünftigen sittlichen Handelns gewinnt Schleiermacher die vier elementaren Handlungsfelder mit den sittlichen Gemeinschaftsformen der Wirtschaft („identisches Organisieren“), der Geselligkeit („eigentümliches Organisieren“), der Wissenschaft („identisches Symbolisieren“) und der Religion („eigentümliches Symbolisieren“). Die jeweils für diese Gemeinschaftsformen zuständigen Institutionen sind der Staat, das Haus, die Akademie, die Kirche. Die sittlichen Forderungen an das Individuum sind eingebettet in die Gemeinschaftsformen, in denen die Sittlichkeit immer schon präsent ist. Das sittliche Leben des Individuums hat immer schon das geschichtliche Gewordensein objektiver Vernunft zur Voraussetzung. Die Gemeinschaftsformen können als höherrangige Individualitäten aufgefasst werden, die durch die entsprechenden Naturbedingungen und Traditionen eigentümlich geprägt sind. Der Staat, der die Subsistenz der Bürger ökonomisch sichern soll und keine Vollkommenheit menschlichen Lebens erreichen kann, ist für Schleiermacher auf das Handlungsfeld gemeinsamer Naturbeherrschung eingegrenzt. Der Staat darf die anderen Gemeinschaftsformen nicht dominieren. Diese sind dem inhaltlichen Zugriff des Staats entzogen; er hat nur für ihren Unterhalt zu sorgen. Zwar ist der Staat in seiner ökonomischen Aufgabenstellung auf die natürliche Einheit des Volkes bezogen, doch muss er durch allgemeinen Verkehr und allgemeinen Frieden das Überschreiten der Volksgrenze in den anderen Gemeinschaftsformen ermöglichen und begünstigen. Die Erziehung muss nach Schleiermacher die Edukanden tüchtig machen für diese sittlichen Gemeinschaftsformen. Dazu muss die Erziehung in doppelter Richtung tätig werden. Zum einen sollen die Edukanden ihre natürlichen Anlagen entwickeln, zum anderen sollen sie sich in die sittlichen Gemeinschaftsformen bildend hineinleben. Indem die Erziehung die Naturentwicklung befördert und in die sittlichen Institutionen hineinführt, ist sie selbst Bestandteil der allgemeinen Pflicht. Weil die Pädagogik mit der konkreten Gesamtgestalt des sittlichen Lebens verknüpft ist,
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Schleiermachers Theorie der Geselligkeit
kann sie nicht allgemeingültig formuliert, sondern muss sie jeweils auf die Eigentümlichkeit der je vorhandenen Gemeinschaftsformen bezogen werden.
1.4 Anregende Rätselworte Für das Gedeihen freier Geselligkeit sind die Gesprächsbeiträge der Anwesenden wichtig. Diese Gesprächsbeiträge sollen beleben und neue Gedankenverbindungen anregen. Ich möchte gerne einige kleine Texte anführen, die Schleiermachers Verständnis freier Geselligkeit und sein Engagement für freie Geselligkeit beispielhaft illustrieren. Die „Charaden“, die Schleiermacher während geselliger Zusammenkünfte zu Gehör brachte, sind scherzhafte Rätselworte, die den Anwesenden eine gemeinsame Aufgabe stellen, deren Auflösung dann aber auch ein Impuls für weitere Gespräche ist. Die Rätselworte wollen die gesellige Tätigkeit der Anwesenden direkt und indirekt anregen. Rätselworte verlangen nach Auflösung; sie laden aber auch dazu ein, von der Auflösung rückwärts gelesen zu werden und der Art der verschlüsselten Andeutung nachzudenken. Dadurch geben sie Anregungen zu neuen Gedankenverbindungen. Ich zitiere vier Charaden, in denen jeweils ein zusammengesetztes Wort durch andeutende Beschreibung seiner Bestandteile geraten werden soll: Wol dem Jüngling dessen erstes so sein zweites ist Daß er auch des reichsten Ganzen gern dabei vergißt Wol dem Mädchen die als erstes zu dem zweiten Vielbewundert auch das Ganze kann begleiten.¹¹
[Brautschatz]
Stehn wie das erste sagt wird sehr gesucht Des Zweiten Ruhm begehren wol fast Alle Das Ganze wird von Vielen gar verflucht Und hat es wer: so hofft man daß er falle.¹²
[Hochmut]
Die Gluth der Sonne macht das erste zart Die Glut des Feuers macht das zweite hart Das Ganze faßt was neue Glut Ergießt in braver Männer Blut.¹³
[Weinglas]
Das erste borgt nur Licht, das zweit ist nicht die Wahrheit Doch bringt das Ganz uns oft in Finsternissen Klarheit.¹⁴
[Mondschein]
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Schriften aus der Stolper Zeit 1802 – 1804, Bd. I/4, Kritische Gesamtausgabe. 1. Abteilung: Schriften und Entwürfe, hg.v. Eilert Herms / Günter Meckenstock / Michael Pietsch, Berlin / New York: De Gruyter, 2002, 23,16 – 19 (= KGA I/4). KGA I/4, 24,1– 4. KGA I/4, 24,15 – 18. KGA I/4, 26,12– 13.
2 Fromme Geselligkeit
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2 Fromme Geselligkeit Schleiermachers klassische Bedeutung für die evangelische Theologie und Kirche hat einen wichtigen Grund in seiner neuen Fundierung des Kirchenbegriffs und in seiner Hochschätzung frommer Geselligkeit. Schleiermacher ist zum Kirchenvater des 19. Jahrhunderts geworden auch und gerade wegen seiner neuen Zuwendung zur Kirche. Er hat die fromme Geselligkeit in ein helles Licht gestellt. Dies lässt sich an seinem Erstlingswerk Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern zeigen. Seine theologische Begründung und organisatorische Gestaltung der Kirche setzte völlig neue Impulse frei. Schleiermacher verhält sich kritisch sowohl gegenüber der orthodox-dogmatischen Kirchenauffassung als eines religiösen Heilinstituts als auch gegenüber der aufklärerisch-ethischen Kirchenauffassung als eines moralischen Erziehungsinstituts. Die Erfahrungen frommer Geselligkeit in den Herrnhutischen Internaten Niesky und Barby haben Schleiermachers Verständnis von Frömmigkeit und Kirche stark bestimmt. In seinen 1799 anonym publizierten Reden Über die Religion will er zu einer neuen Betrachtung ganz „vom Mittelpunkt der Sache aus“¹⁵ führen. Auf die Geselligkeit geht Schleiermacher in seiner vierten Rede „Über das Gesellige in der Religion oder über Kirche und Priestertum“¹⁶ ausführlich ein. Wie schon bei den Darlegungen zum Wesen der Religion in der zweiten Rede nimmt Schleiermacher die polemische Kritik der aufgeklärten Zeitgenossen gegen die Gemeinschaft der Frommen in der Kirche so auf, dass er sie bestätigt und zugleich als haltlos erweist. Er bestätigt die Kritik an bestimmten Zügen institutionalisierter Frömmigkeit und zeigt zugleich, dass diese Urteile am wahren Wesen der Religion und Kirche völlig vorbeigehen. Die fromme Geselligkeit muss aus ihren innersten Motiven gesehen und verstanden werden.
2.1 Konstitution Schleiermacher entwickelt den Kirchenbegriff konsequent aus dem Religionsbegriff. Der Kirchenbegriff ist Implikat und Interpretament des Religionsbegriffs. Erst die Kirche gibt der Religion die wünschenswerte und erforderliche Konkretion. Fromme Geselligkeit ist nicht nur ein natürlich-humanes, sondern sie ist auch ein religiöses Anliegen. „Ist die Religion einmal, so muß sie nothwendig auch gesellig sein: es liegt in der Natur des Menschen nicht nur, sondern auch ganz vorzüglich in der ihrigen.“¹⁷ Die gesellige Hinwendung zu anderen Frommen ist ein Impuls, der für die Religion nicht sekundär ist; sondern dieser Impuls ist selbst religiös und für die
KGA I/2 (s. Anm. 2), 267,13. KGA I/2, 266 – 292. KGA I/2, 267,16 – 18.
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Frömmigkeit wesentlich. Nicht nur weil Menschen gesellig sind, üben sie dann auch eine gesellige Frömmigkeit; sondern die Religion selbst ist es, die zur frommen Geselligkeit hintreibt, die diese Geselligkeit stiftet. Zwei religiöse Motive benennt Schleiermacher für die Vergesellschaftung der Frommen. Diese beiden Motive sind miteinander verknüpft und führen zu einer Geselligkeit, wo die Teilnehmer abwechselnd Redner und Hörer sind. Es redet der, der eigene fromme Gefühle hat und sie durch die Mitteilung in ihrer Angemessenheit kontrollieren will; es hört der, der seine eigenen ergänzen will.
2.1.1 Ergänzung Wegen der überströmenden Fülle des Unendlichen spüren die Frommen immer ihr eigenes Ungenügen und streben deshalb nach Ergänzung, indem sie die Mitteilung anderer Anschauungen des Universums zu hören verlangen. Die Unendlichkeit der Religion ist es gerade, die Redner und Hörer zueinander treibt und die Gemeinschaft der Frommen stiftet. Bei keiner Art zu denken und zu empfinden hat der Mensch ein so lebhaftes Gefühl von seiner gänzlichen Unfähigkeit ihren Gegenstand jemals zu erschöpfen, als bei der Religion. Sein Sinn für sie ist nicht so bald aufgegangen, als er auch ihre Unendlichkeit und seine Schranken fühlt; er ist sich bewußt nur einen kleinen Theil von ihr zu umspannen, und was er nicht unmittelbar erreichen kann, will er wenigstens durch ein fremdes Medium wahrnehmen.¹⁸
Die Unendlichkeit der Religion treibt die Frommen zur wechselseitigen Mitteilung. Religion ist unendlich viel reicher, als dass sie sich je in einzelnen Frommen und deren eigentümlicher perspektivischer Anschauung realisieren könnte. Kein einzelner kann die Religion erschöpfen. Daher resultiert die Toleranz der Frommen. Die unbegrenzte Mannigfaltigkeit der frommen Anschauungen bewirkt Selbstbescheidung und freundliches Annehmen des Andersartigen. Daraus ergeben sich ein Verlangen nach gegenseitiger Mitteilung und eine selbstverständliche Toleranz.
2.1.2 Prüfung Das Ungenügen der einzelnen Frommen gegenüber dem Unendlichen treibt zu Prüfung und Begutachtung durch andere. Um der Freiheit und Reinheit der Frömmigkeit willen bedarf jeder Fromme der wechselseitigen Mitteilung. Nur in dieser wechselseitigen Mitteilung gibt es eine Prüfung und Legitimation der je eigenen Anschauungen und Erfahrungen. Nicht der Geltungs- oder Missionstrieb ist dabei leitend, sondern das Bedürfnis nach frommer Selbstvergewisserung, der Zweifel, der sich aus dem Bewusstsein der Unendlichkeit des Absoluten, dem Ausgeliefertsein an das Unendliche und der prinzipiellen Unausschöpflichkeit seiner Mitteilungen speist.
KGA I/2 (s. Anm. 2), 268,4– 11.
2 Fromme Geselligkeit
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Gerade in der Empfänglichkeit seiner Anschauungen und Gefühle möchte der Fromme prüfen, wem er sich passiv hingibt; „da drängt es ihn zu wißen, ob es keine fremde und unwürdige Gewalt sei, der er weichen muß.“¹⁹ So haben der Selbstzweifel und die Selbstkritik auch eine religiöse Wurzel. Die Religion dringt auf eine Vergewisserung ihrer eigenen Reinheit. Dadurch impliziert sie die immer neue kritische Prüfung, ob die eigene fromme Gestimmtheit auch lauter sei oder von fremden Motiven verunstaltet.
2.2 Charakter Schleiermacher schildert die fromme Geselligkeit der wahren Kirche. Wie für die freie Geselligkeit gilt auch für die fromme Geselligkeit das Merkmal der Wechselseitigkeit. Die Frommen teilen sich ihre Anschauungen und Gefühle des Unendlichen wechselseitig mit. Reden und Hören sind ihnen unentbehrlich.²⁰ Der Stil der Mitteilung und die Art der Geselligkeit haben ein eigentümliches Gepräge. Weil Religion „Sinn und Geschmak fürs Unendliche“²¹ bzw. „Anschauung und Gefühl“ des Universums²² ist, erhält die fromme Geselligkeit einen Charakter, der sie von der freien Geselligkeit wiederum auch markant abhebt. Dieser Gegenstand kann nicht in der Manier leichter oder scherzhafter Wechselrede, in der schnellen Abfolge treffender Einfälle dargestellt werden, sondern nur in Begeisterung und großem Stil. Religiöse Mitteilung geschieht authentisch nur in direkter Rede. Bücher können nur Notbehelf sein. Rednerisch wollen die Frommen ihr Innerstes im Erfülltsein vom Unendlichen darstellen; dies erfordert einen eigentümlichen Stil der Mitteilung in einer besonderen Versammlung. Das Unendliche verlangt eine Darstellung in Ehrfurcht und heiliger Scheu, in Begeisterung und großem Gedankenflug, in Würde und Kraft, die alles überhaupt den Redenden zur Verfügung Stehende heranzieht. Die Wechselrede in kleiner Münze, wo jede Frage sogleich eine Antwort erhält, ist göttlichen Dingen unangemessen. Die größtmögliche Fülle und Pracht rednerischer Darstellung verlangt die Religion nicht als äußeren Schmuck, sondern als schwaches Zeichen ihrer innerlichen Lebensfülle. Dieser große Stil rednerischer Darstellung der Erfahrung des Unendlichen, der Gefühle, Anschauungen, Ansichten und Reflexionen, verlangt eine eigene Art der Geselligkeit. Die Frommen kommen zusammen zu einem „reichen schwelgerischen Leben“²³ aus dem inneren Antrieb, mitzuteilen und zu empfangen, wie jedem das Unendliche begegnet. In der wahren Kirche gilt völlige Freiheit und Gleichheit: „es ist freie Regung des Geistes, Gefühl der herzlichsten Einigkeit Jedes mit Allen und der
KGA I/2 (s. Anm. 2), 267,32– 33. Vgl. KGA I/2, 268,13 – 14. KGA I/2, 212,32. KGA I/2, 211,33. KGA I/2, 269,14.
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Schleiermachers Theorie der Geselligkeit
vollkommensten Gleichheit, gemeinschaftliche Vernichtung jedes Zuerst und Zulezt und aller irdischen Ordnung.“²⁴ Jeder stellt seine Anschauung des Unendlichen hin; die anderen folgen „seiner begeisterten Rede“²⁵. Wie ein Chor bestätigen die anderen seine Divinationen und Visionen, seine Deutungen und Erneuerungen. So wie alle Künste der beweglich verwehenden Rede unterstützend beistehen können, so kann besonders die Musik mit ihren Klängen und Gesängen die heiligen Mysterien feiern. Die fromme Geselligkeit knüpft ein himmlisches Band zwischen den Frommen; sie ist „das vollendetste Resultat der menschlichen Geselligkeit“.²⁶ Die üblichen Vorwürfe gegen die religiöse Geselligkeit sind hier unberechtigt. Weder gibt es einen Unterschied zwischen Priestern und Laien noch einen Geist sektiererischer Spaltungen noch einen ausschweifenden Missionstrieb mit Bekehrungssucht. Das „Princip der religiösen Geselligkeit“²⁷ ist von dem allen frei. Jeder ist mal Priester und mal Laie entsprechend seinem Reden und Hören. Jeder ist mit allen verbunden in der unteilbaren Welt der Religion, für die allein „unbeschränkte Universalität des Sinnes“²⁸ die ursprüngliche Bedingung ist. Die gegenseitige Mitteilung ist in der Unendlichkeit der Religion und ihrer unerschöpflichen Lebendigkeit wesentlich verankert. In der wahren Kirche wird die Freiheit der gegenseitigen religiösen Mitteilung gesichert gegen alle heteronome beziehungsweise heterogene Autorität. Die wahre Kirche ist auf authentische gegenseitige Mitteilung und authentische Geselligkeit angewiesen. Den religiösen Sinn sieht Schleiermacher zeitgenössisch nur in kleinen Gemeinschaften sich lebendig äußern. Hier denkt er wohl an die Herrnhuter Brüdergemeine.²⁹
2.3 Institutionalisierung Schleiermacher unterscheidet wahre Kirche und institutionelle Kirche; doch setzt er beide nicht diastatisch gegeneinander. Institutionalisierte Kirchlichkeit ist nach seinem Urteil reformfähig. Deshalb kann Schleiermacher die Großkirche zugleich ablehnen und annehmen. Einerseits ist die institutionelle Großkirche in einem verachtenden Sinn die Gemeinschaft der der Religion Unfähigen, der vielen, die keinen lebendigen religiösen Sinn haben, sondern aus anderen Motiven an der Kirche teilnehmen. Andererseits ist die Großkirche in einem erbaulichen Sinn die Verbindung der Fähigen mit den noch wenig Entwickelten, mit denen, die noch auf dem Wege zur Religion sind. Die Großkirche, in der Fähige und Unfähige gemischt sind, wird von Schleiermacher als Bildungseinrichtung akzeptiert. Kirchenreform muss darauf ab-
KGA I/2 (s. Anm. 2), 269,19 – 22. KGA I/2, 269,26. KGA I/2, 270,9. KGA I/2, 272,23 – 24. KGA I/2, 271,19. Vgl. KGA I/2, 273,35 – 38.
3 Verknüpfungen
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zielen, die Kirche als Bildungsinstitut zu organisieren. Die verfasste Kirche ist die „Anstalt für die Lehrlinge in der Religion“³⁰. Deshalb müssen die Lehrlinge sich ihren Meister, der ein Virtuose der Religion sein sollte, selber wählen. Die Parochialgemeinden müssen also durch Personalgemeinden ersetzt werden. Die wichtigste Forderung zur Kirchenreform ist die Abschaffung des Staatskirchentums. Der Staat hat die Kirche als „äußere Religionsgesellschaft“ in seinen Dienst genommen, um Moral, Treue und Wahrhaftigkeit der Bürger zu verbessern. Die Unterwerfung unter die Autorität des Staats hat die Kirche in eine geschlossene Verbindung mit festen Innen- und Außengrenzen verwandelt.³¹ Diese „Quelle alles Verderbens“³² verhindert das freie Bei-sich-sein der Frommen. Schleiermacher verlangt die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat.³³ Von den Fortschritten der Technik erhofft er sich eine Verminderung des lähmenden Arbeitsdrucks und eine Belebung frommer Lebensgestaltung.
3 Verknüpfungen Freie Geselligkeit und fromme Geselligkeit haben nach Schleiermacher ihren gemeinsamen Ursprung in der Familie. Beide Geselligkeitsarten sind ebenso wie die anderen elementaren Handlungsfelder im familiären Beisammensein, im häuslichen Miteinander angelegt. Beide Geselligkeitsarten gehen in den festlichen Versammlungen der Familie ineinander über. Diese innere Verwandtschaft und Verwandlungsfähigkeit hat Schleiermacher selbst literarisch dargestellt. Im Dezember 1805 schrieb Schleiermacher, damals Professor und Prediger in Halle, die kleine Schrift Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch. Hier folgt Schleiermacher noch einmal seinen künstlerischen Neigungen und schildert die familiär-freie Geselligkeit eines Heiligabends im zeitgenössischen Bürgertum. Zum Vorbild nahm sich er das Haus des Musikers Johann Friedrich Reichardt auf dem Giebichenstein, die „Herberge der Romantik“. Eine Familie feiert den Heiligen Abend erzählend, singend und musizierend gemeinsam mit Freunden. Das Weihnachtsfest wird in den Gesprächen, Erzählungen und Reden unterschiedlich beleuchtet und gedeutet. Die Geselligkeit wird schließlich transparent für die Frage, was das Wesentliche am Christentum sei und woher es seinen Ursprung habe. Freie Geselligkeit in familiärem Kreis geht thematisch und stilistisch über in eine fromme Geselligkeit. In den Reden der drei Männer Leonhardt, Ernst und Eduard skizziert Schleiermacher drei typische theologische Auffassungen. Leonhardt vertritt die Position der radikalen historischen Kritik, Ernst die der Erfahrungstheologie und Eduard die der
KGA I/2 (s. Anm. 2), 278,21. Vgl. KGA I/2, 278,18 – 284,21. KGA I/2, 281,9. Vgl. KGA I/2, 287,3 – 4.
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Schleiermachers Theorie der Geselligkeit
spekulativen Geschichtstheologie. Dabei kommen Themen und Thesen vorgreifend zur Sprache, die für die christologischen Debatten des 19. Jahrhunderts prägend wurden. Schleiermachers eigene Auffassung lässt sich keiner der drei Positionen zuordnen. Alle drei weisen auf Aspekte des Schleiermacherschen Denkens hin. Durch die Zuordnung zur Geselligkeit des gesamten Abends wird deutlich, dass der christliche Glaube mehr ist als der Ausdruck der Theologie, als die reflektierte Darstellung der Frömmigkeit. Die drei Reden formulieren nur die rationalen Deutungen der Weihnachtserfahrungen. Die Gemeinschaft ist über die theologischen Kontroversen hinaus und besteht durch sie hindurch fort. Das Kind Sophie drückt einfach die unmittelbare Weihnachtsfreude aus. Zuletzt kommt Joseph, der wieder zur Unmittelbarkeit nach den reflektierten Darlegungen der drei Männer zurücklenkt. Er weigert sich, einen reflektierten Beitrag zu liefern: „Alle Formen sind mir zu steif, und alles Reden zu langweilig und kalt. Der sprachlose Gegenstand verlangt oder erzeugt auch mir eine sprachlose Freude, die meinige kann wie ein Kind nur lächeln und jauchzen.“³⁴ Allein die Musik und das Singen sind dem kindlichen Sinn des Weihnachtsfestes angemessen; „laßt uns heiter sein und etwas Frommes und Fröhliches singen.“³⁵
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Schriften aus der Hallenser Zeit 1804 – 1807, Bd. I/5, Kritische Gesamtausgabe. 1. Abteilung: Schriften und Entwürfe, hg.v. Hermann Patsch, Berlin / New York: De Gruyter, 1995, 97,22– 24 (= KGA I/5). KGA I/5, 98,12.
III. Philosophie
Religion und Geschichte bei Johann Gottlieb Fichte Religion und Geschichte sind zwei Themenfelder, die für die Außenwirkung von Johann Gottlieb Fichte (1762– 1814) hervorragende Bedeutung hatten. Der Atheismusstreit 1799 und die Reden an die deutsche Nation ¹ haben das populäre Fichtebild geprägt. Damit wurde Fichte eine besondere Stellung in der Auseinandersetzung um die neuzeitliche Darstellung des religiösen Bewusstseins, aber auch ein vorzüglicher Impuls für die Erneuerung des politisch-gesellschaftlichen Lebens unter dem Leitgedanken nationaler Freiheit zugeschrieben. In der denkerischen Entwicklung und der philosophischen Reflexion Fichtes sind die beiden Themenfelder Religion und Geschichte durchaus unterschiedlich präsent. Auffälligerweise bildete Fichte erst ziemlich spät eine Geschichtslehre aus. Sein Bemühen um die Geschichtslehre begann erst in seiner Berliner Zeit, als er nach Jahren des Schweigens wieder mit Vorträgen der Wissenschaftslehre an die Öffentlichkeit trat. Um deren konsistente und evidente Darstellung war er seit der erstmaligen Konzeption 1793/94 lebenslang bemüht. Von ihr liegen eine Vielzahl zumeist nachgelassener Fassungen vor.² Nach vertiefter Anstrengung hielt er die Wissenschaftslehre für vollständig ausgearbeitet und beanspruchte, damit die Wissenschaft in ihren Grundsätzen vollendet zu haben.³ Diese Überzeugung und dieser Anspruch waren begleitet von der latenten Frage nach der politisch-kulturellen Gestaltungskraft der Wissenschaftslehre. Als sein Zutrauen in deren Selbstdurchsetzungskraft schwand, rückte das Christentum, dessen kirchlicher Gestalt er weiterhin distanziert gegenüber stand, in den Vordergrund seiner späten geschichtsphilosophischen Überlegungen.⁴ Literarische Äußerungen zur Religionsthematik brachten gleich zwiefach eine Weichenstellung für Fichtes Lebensweg. Durch die anonym publizierte Erstlingsschrift Versuch einer Critik aller Offenbarung ⁵ wurde Fichte schlagartig berühmt, weil das Publikum diese Schrift zunächst für die lang erwartete Religionsschrift Kants hielt. Durch den Atheismusstreit verlor Fichte 1799 seine so glänzend ausgeübte Jenenser Professur; er musste seinen Berufsweg in Berlin noch einmal neu beginnen. Beide Ereignisse stehen zur Wissenschaftslehre in keiner direkten Beziehung. Die Erstlingsschrift der Offenbarungskritik ist noch ganz im Geiste Kants geschrieben; damals hatte Fichte die Idee der Wissenschaftslehre noch nicht gefasst. Während der
Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation, Berlin: Realschulbuchhandlung, 1808. Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg.v. Reinhard Lauth / Hans Jacob / Hans Gliwitzky, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1962 ff. Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Briefe 1801 – 1805, Bd. III/5, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 3. Reihe: Briefe, hg.v. Hans Gliwitzky / Reinhard Lauth, Stuttgart / Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1982, 222– 223. Zu Fichtes Verständnis von Christentum, Kirche und Theologie während seiner Berliner Zeit vgl. Hans-Walter Schütte, Lagarde und Fichte: Die verborgenen spekulativen Voraussetzungen des Christentumverständnisses Paul de Lagardes, Gütersloh: G. Mohn, 1965, 67– 123. Johann Gottlieb Fichte, Versuch einer Critik aller Offenbarung, Königsberg: Hartung, 1792. https://doi.org/10.1515/9783110745498-017
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Religion und Geschichte bei Johann Gottlieb Fichte
Jenenser Zeit waren die Überlegungen zum Gottesbegriff und zum Religionsbegriff eher spärlich. Dieser Zurückhaltung in der expliziten Erörterung der Religionsthematik steht aber eine große implizite Religiosität des philosophischen Bemühens Fichtes gegenüber. Nicht von ungefähr legte Fichte seine populäreren Vorträge in Jena und in Berlin auf den Sonntag zur Gottesdienstzeit. Das war Demonstration und religiöser Anspruch. Im publizitätsträchtigen Atheismusstreit hatte Fichte wichtige Grundfragen der Verknüpfung von Wissenschaftslehre und Religionslehre noch nicht ausgearbeitet. Deshalb setzte der Atheismusstreit noch einmal einen Reflexionsschub in Gang. Die Letztbegründung von Wissen und die Selbstidentifizierung von Subjektivität trieb Fichte in der Formulierung seiner Theorie des Absoluten immer weiter voran. Nicht die Synthetisierung vorhandener Mannigfaltigkeit, sondern die Ursprungseinheit von Denken und Sein, von sittlicher und sinnlicher Welt ist Fichtes erkenntnistheoretisches Zentralanliegen. Die Schwäche der limitativen Dialektik der Jenenser Zeit, dass sie nämlich weder den Anstoß des Nicht-Ich plausibel machen noch die Spaltung von Ich und Nicht-Ich durch den Einschub immer neuer Syntheseglieder an ein Ende bringen kann, sollte durch die Theorie des Absoluten überwunden werden. Die Themenfelder Religion und Geschichte haben einen starken Realbezug zum Leben Fichtes. Sie sind mit bestimmten Lebenskrisen verbunden: die Religionsthematik mit dem Atheismusstreit, die Geschichtsthematik mit der Erfahrung der Abständigkeit der Wissenschaftslehre zum Zeitgeist. Im folgenden will ich zunächst wichtige religionsphilosophische Motive des Atheismusstreits darstellen, um sodann auf die Geschichtslehre zu sprechen zu kommen, wie sie nach dem Vollendungsanspruch Fichtes 1804 vorgetragen wurde.
1 Hans-Walter Schütte hat in seiner Studie Religionskritik und Religionsbegründung ⁶ darauf hingewiesen, dass die im Umkreis der Kantischen Philosophie formulierte Religionskritik selbst religionsbegründende Funktion hat. Im Unternehmen der Kritik greifen Reduktion der vorfindlichen religiösen Formationen zugunsten der vernünftigen Tätigkeit und vergewissernde Begründung der Vernunfttätigkeit in der religiösen Überzeugung ineinander. Die Kritik der Religion ist demgemäß nicht eine Kritik dogmatischer Bücher, sondern eine Kritik des religiösen Bewusstseins.⁷ Fichte bewegte sich zunächst in Kantischen Bahnen. Die Moralisierung der Religion war sein Anliegen. Dabei sah er seine Überlegungen mit den Aussagen und Intentionen des Christentums durchaus in Übereinstimmung, indem er biblische
Norbert Schiffers / Hans-Walter Schütte, Zur Theorie der Religion, Freiburg: Herder, 1973, 95 – 135. Vgl. Immanuel Kant, Critik der reinen Vernunft: Zweyte hin und wieder verbesserte Auflage, Riga: Hartknoch, 1787, XXVII.
Religion und Geschichte bei Johann Gottlieb Fichte
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Begriffe durch eine moralisch-vernünftige Interpretation in ihrer wahren Bedeutung erschloss. Die christliche Religion müsse und könne vernünftig interpretiert werden. Dies war ein erster Schritt über die Dichotomie von natürlicher und positiver Religion hinaus, wie sie in Aufklärung und Neologie üblich war. Das geschichtlich gewordene Christentum war prinzipiell der vernünftigen Kategorisierung fähig. Doch waren die aufklärerischen Einstellungen mit ihrer Hochschätzung der vernünftig-natürlichen Religion bei Fichte noch wirksam. Das Themenfeld der Religion hatte für Fichte bei einem ausgeprägten Distanzbewusstsein gegenüber der dogmatischen Kirchlichkeit und einem starken Engagement für das Freimaurertum in der Jenenser Zeit nur nachrangige Bedeutung. Durch den Atheismusstreit ist Fichtes damals noch gar nicht systematisch ausformulierte Gotteslehre zum vorzüglichen literarischen Streitfall geworden. Der Atheismusstreit hat dann nicht nur Fichtes akademische Wirksamkeit in Jena beendet, sondern auch sein Verhältnis zur literarischen Öffentlichkeit nachhaltig gestört. Nach dem Ende seiner Rechtfertigungs- und Erläuterungsbemühungen brach Fichtes ungeheure literarische Produktivität zusammen. Sein Zutrauen in die Zeitgenossenschaft war zerbrochen. In seinen Schriften zum Atheismusstreit⁸ ist Religion für Fichte nur im Zusammenhang mit Moralität denkbar. Dabei ist der Gottesgedanke für den Religionsbegriff zentral. Nicht das Phänomen geschichtlicher Frömmigkeit und deren Entwicklung, sondern die transzendentalphilosophische Theorie des Absoluten und die Erfordernisse einer an der praktischen Freiheit orientierten Philosophie leiten Fichtes Überlegungen. Religion und Moralität gehen beide auf das Übersinnliche, die Moralität im Tun, die Religion im Glauben.⁹ Religion ohne Moralität ist Aberglaube. Moralität und Religion sind so verwoben, dass die moralische Gesinnung die Religion notwendig erzeugt.¹⁰ Nicht ein allwissendes und allmächtiges Wesen verpflichte den Menschen als endliches Vernunftwesen auf das Pflichtgebot, sondern die Gewissheit des Pflichtgebotes führe zur Erkenntnis des moralischen Weltregenten. „Erzeuge nur in dir die pflichtmässige Gesinnung, und du wirst Gott erkennen“¹¹. Alle Gewissheit gründet in der sittlichen Gewissheit und der konkreten Freiheitspraxis des Pflichtgebots. Der Wirklichkeitssinn ist selbst ein sittliches Phänomen. Dadurch wird der Moralismus zum Weltprinzip. „Unsere Welt ist das versinnlichte Materiale unserer Pflicht“¹². Nur so kann die Autonomie des Ich universal etabliert werden. Fichtes Akosmismus¹³ ist die religiöse Formulierung seines reinen Moralismus. Die übersinnliche Ordnung und der Gottesglaube sind die Grundevidenz für alle
Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Zur Religionsphilosophie, Bd. 5, Sämmtliche Werke, hg.v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin: De Gruyter, 1971, 175 – 396 (= SW 5). Vgl. SW 5, 209. Vgl. SW 5, 370 – 371. SW 5, 210. SW 5, 185. Vgl. SW 5, 269.
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sinnliche Gewissheit. Die Weltgewissheit ist ganz von der sittlichen Gottesgewissheit abhängig, die Sinnenwelt allein Medium des sittlichen Tuns.¹⁴ Die im Gewissen konkretisierte Pflicht hat für das einzelne Subjekt hinsichtlich des absoluten Vernunftzwecks allerdings die Gestalt des Strebens, weil die Folgen des sittlichen Tuns für den endlichen Willen prinzipiell kein Motiv sein dürfen.¹⁵ Der sittliche pflichtmotivierte Wille dürfe sich nur selber wollen, doch werde die Tat notwendig auf einen Vernunftzweck bezogen. Religion fällt nicht mit Moralität zusammen. Moralität ist nämlich hinsichtlich des letzten Vernunftzwecks defizitär. Der Zusammenhang des sittlichen Pflichttuns mit dem absoluten Vernunftzweck ist der Einsicht und dem Wollen verschlossen und muss um der Sinnhaftigkeit willen geglaubt werden. Der „notwendige Zweck des Menschen bei seinem Gehorsam gegen das Pflichtgebot“¹⁶ ist der systematisch-philosophische Ort des religiösen Glaubens. Religion hat primär Unterstützungsfunktion für die Moralität. Die Bestimmung des Wollens durch das Gewissen verbürgt der Glaube. Die Kraft der endlichen Vernunftwesen reicht nämlich nur bis zur Willensbestimmung. Die Folgen des Wollens und Tuns sind unverfügbar. Sie werden als gut und dem Vernunftzweck gemäß und förderlich geglaubt.¹⁷ Die übersinnliche Ordnung garantiert für den Glauben die Tatfolgen als Beiträge zum Vernunftzweck. Der Glaube wurzelt in der Gewissheit des Pflichtgebots, doch ordnet er überschießend die sittlichen Subjekte und ihre Taten der übersinnlichen Welt zu. Der religiöse Glaube ist ausschließlich an das konkrete sittliche Wollen und Tun gebunden. Der Glaube verbürgt die objektive Zweckhaftigkeit und Sinnhaftigkeit des sittlichen Wollens. Der im Wollen nur erstrebte absolute Vernunftzweck wird als real gefördert geglaubt. Als Kulturideal formuliert Fichte die völlige Autonomie des Vernunftwesens, die Beseitigung aller Heteronomie, die Selbstgenügsamkeit der Vernunft; diese Selbstgenügsamkeit sei Seligkeit.¹⁸ Fichtes kritischer Impuls gegenüber dem traditionellen Gottesbegriff speist sich sowohl aus intellektuellen als auch aus sittlichen Motiven. Fichte sprengt die Verklammerung von Weltbegriff und Gottesbegriff, wie sie im kosmologischen Gottesbeweis vorgenommen wird, als beiden Begriffsinhalten inadäquat auf. Wegen der kritischen Eingrenzung der Kausalitätskategorie und wegen der Unbedingtheit der Freiheit bestreitet Fichte die traditionelle Schöpfungslehre von der creatio ex nihilo und der Organisation der Welt.¹⁹ Den traditionellen Gottesbegriff sieht Fichte als Unterstützer von Dogmatismus und Eudämonismus.²⁰ Weil er den Gottesbegriff radikal vom Prädikat der Unendlichkeit her denkt, destruiert er die Prädikate der Sub-
Vgl. SW 5 (s. Anm. 8), 211– 212. Vgl. SW 5, 391– 392. SW 5, 387. Vgl. SW 5, 364– 365. Vgl. SW 5, 205 – 206. Vgl. SW 5, 180. Vgl. SW 5, 217.
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stantialität und der Persönlichkeit Gottes.²¹ Positiv leitet ihn das Bemühen, die moralische Gesinnung in einer intellektuell unangreifbaren Gestalt zu formulieren. Fichte denkt Gott als Garanten der endlichen Moralität. Den Gottesbegriff sieht er vom sittlichen Gefühl abhängig und durch dieses vermittelt.²² Im Gottesbegriff werde das Einheitsbedürfnis des Verstandes gestillt. Nur wenn das sittliche Gefühl schwach sei, begebe es sich in die Abhängigkeit vom Begriff. Ansonsten präge das selbständige Gefühl den Begriff. Die sittliche Gewissheit gehe allein auf die Prädikate der moralischen Weltregierung als ordo ordinans. Erst in der von der Moralität abstrahierenden Reflexion entstehe der Einheitsbegriff der moralischen Prädikate.²³ Dieser Einheitsbegriff als logisches Subjekt bringe keine reelle Erweiterung der Gotteserkenntnis, keine objektive Verbindung in einem reellen Objekt, sondern nur eine künstliche Verknüpfung der reellen Prädikate. Nur die moralischen Prädikate des Gottesbegriffs seien durch sittliche Gewissheit und innere Wahrnehmung gedeckt. Das logische Subjekt sei nur logisches Substrat dieser Prädikate. „Gott ist nichts, als das notwendig anzunehmende Schaffen, Erhalten, Regieren selbst.“²⁴ Der Gottesbegriff sei durch keine Existentialprädikate, sondern nur durch Handlungsprädikate bestimmbar.²⁵ Fichte fasst das absolute Prinzip rein aktual. Deshalb schließt er alle sinnlichen Prädikate und Eigenschaften aus dem Gottesbegriff aus. Gott sei allein „Regent der übersinnlichen Welt“²⁶. Fichte sieht sich dabei durchaus in Übereinstimmung mit dem christlichen Glauben. Das zeigt Fichte am Gottesbegriff ²⁷ und an den Begriffen Wiedergeburt, Ertötung des Fleisches, Absterben der Welt, Leben im Himmel²⁸. Für Fichte ist der Gottesbegriff kein konsistenter Begriff der theoretischen Vernunft, sondern an die apodiktische Gültigkeit des moralischen Vernunftgesetzes (Sittengesetzes) gebunden. Eine philosophische Theologie lasse sich nur unter Bezugnahme auf die im Sittengesetz ausgewiesene Freiheit entwickeln. Fichte lehnt für den Gottesbegriff jedes Beweisverfahren ab, weil durch die Struktur des Beweises der zu beweisende Begriff immer den Modus der Vermitteltheit behält.²⁹ Allein Unmittelbarkeit ist dem Gottesglauben und seinem Gegenstand angemessen. Der Glaube an Gott ist das unmittelbar Gewisse, ist das erste alles Wissens.³⁰ Dagegen wären bei einem Gottesbeweis Form und Inhalt einander völlig unangemessen. Fichte stellt die Gottesgewissheit im Sinne der moralischen Weltordnung an die Spitze aller Weltgewissheit im Sinne objektiver
Vgl. SW 5 (s. Anm. 8), 264– 265. Vgl. SW 5, 208. Vgl. SW 5, 367. SW 5, 369. Vgl. SW 5, 261. SW 5, 220. Vgl. SW 5, 223. Vgl. SW 5, 213.230. Vgl. SW 5, 267– 268. Vgl. SW 5, 187– 188.
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Erkenntnis. Der Glaube an die moralische Weltordnung ist für ihn der Grund aller Gewissheit. Die Frage der Letztbegründung des Wissens und die Formulierung der damit verbundenen Gottesthematik trieb Fichte nach dem Atheismusstreit im Bemühen um eine Lehre vom Absoluten voran. In der Wissenschaftslehre 1801/2³¹ bleibt in der intellektuellen Anschauung des absoluten, sich selbst reflektierenden Wissens der Grund als Nichtwissen undurchdringbar. Demgegenüber wird dieser absolute Grund im zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre 1804 als das göttliche Leben, als „esse in mero actu“³², als „in sich geschlossenes Singulum des unmittelbaren lebendigen Seyns“³³ formuliert. Diese höchste Einheitseinsicht wird in der intellektuellen Anschauung so aufgefasst, dass sich das Wissen als Darstellung der Sich-Erscheinung dieses göttlichen Lebens weiß. Das Wissen ist Bild. Das unterscheidende „als“ ist das konstruktive Relationsprinzip des Wissens. Das Wissen ist nach Fichte das Bild, in welchem das göttliche Sein sich als sich selbst erscheinend darstellt. Den Überschritt vom Sein zum Dasein, der faktisch immer schon vollzogen ist, kann genetisch nicht durchdrungen werden, weil das Wissen an die Relationalität gebunden ist. Reines göttliches Sein und reflexives Dasein sind verschmolzen in der Liebe Gottes. Diese Liebe begründet alle Evidenz und ist der identische Ruhepunkt der Reflexion. In ihr ist das göttliche Sein da; in ihr sind Vernunft und Realität eins. So hat es Fichte in der 1806 in Berlin gehaltenen und publizierten Vortragsreihe Die Anweisung zum seligen Leben ³⁴ erneut dargelegt. Bereits in den Atheismusschriften ist Fichtes Wahrnehmung der Geschichte im religiösen Zusammenhang durchaus gestuft. So stellt er in Lessingscher Traditionslinie hinsichtlich der Legitimation religiöser Sätze die strikte Andersartigkeit fest. Nicht das Historische, sondern nur das Metaphysische mache selig.³⁵ So räumt er hinsichtlich der Konstitution von Religion der Geschichtlichkeit eine fundamentale Bedeutung ein. Religion und Sittlichkeit bekommen nämlich dadurch eine geschichtliche Komponente, dass die jeweils pflichtmäßige gegenwärtige Gesinnung, der konkrete Gewissensspruch Vergangenes voraussetzt und Zukünftiges postuliert. Der Gewissensspruch ist auf die geschichtliche Lage im intelligiblen Vernunftsystem bezogen. Das Pflichtgebot deckt die konkrete Lage der Vernunftwelt nicht. Deshalb muss angenommen werden, dass diese Lage als Wirkung des absoluten Prinzips von diesem geordnet und auf den Vernunftzweck berechnet sei, ferner dass die Wirk-
Johann Gottlieb Fichte, Nachgelassene Schriften 1800 – 1803, Bd. II/6, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 2. Reihe: Nachgelassene Schriften, hg.v. Hans Gliwitzky / Reinhard Lauth, Stuttgart / Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1983, 129 – 324. Johann Gottlieb Fichte, Nachgelassene Schriften 1804, Bd. II/8, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. II. Reihe: Nachgelassene Schriften, hg.v. Hans Gliwitzky / Reinhard Lauth, Stuttgart / Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1985, 229. Fichte, Nachgelassene Schriften 1804 (s. Anm. 32), 243. SW 5 (s. Anm. 8), 397– 580. Vgl. SW 5, 485.
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samkeit der menschlichen Willensbestimmung der Beförderung des Vernunftzwecks diene.³⁶ Die Geschichtlichkeit wird hier als Vorgeprägtheit des Lebens durch die Vergangenheit und Unverfügbarkeit des Lebens im Horizont der Zukunft formuliert. Diese Geschichtlichkeit macht das überschießende Moment der Religion über die Moralität aus. Das Phänomen der Geschichtlichkeit begegnet auch bei der Selbstwahrnehmung der Wissenschaftslehre, wie sie von Fichte im Gefolge des Atheismusstreites und besonders mit der vermeintlichen Vollendung 1804 artikuliert wurde. Dieses Phänomen begegnet in der Frage, wie und unter welchen Bedingungen es überhaupt zur Ausarbeitung der Wissenschaftslehre kommen kann. Die Kontingenz der Formulierung der Wissenschaftslehre suchte Fichte durch eine genetische Selbstableitung zu bewältigen. Dieses Phänomen begegnet auch in der Frage, wie die Aneignung beziehungsweise Nichtaneignung der Wissenschaftslehre durch die Zeitgenossenschaft zu begreifen ist und wie die höchste Einsicht vom göttlichen Vernunftleben in der Sphäre sittlicher Tätigkeit wirkmächtig umgesetzt werden kann. Dies führte Fichte zur Konstruktion von Geschichtsepochen. Fichtes denkerische Anstrengung hinsichtlich der Geschichte ist durch dieses Fragebündel veranlasst und geprägt. In diesem Überlegungsfeld sind Selbstbeurteilung der Wissenschaftslehre, Religions- und Intersubjektivitätsthematik sowie historischer Entwicklungsgedanke verzahnt.
2 In der deutschen Aufklärung des 18. Jahrhunderts wurde die natürlich-allgemeine Religion und die geschichtliche Entwicklung der Lehrbildung zugunsten des Autonomiestrebens gegen die konfessionell-dogmatische Kirchlichkeit ins Feld geführt. Die Geschichtlichkeit der Kulturphänomene wurde dabei so wahrgenommen und bearbeitet, dass der Fortschrittsgedanke, der Gedanke der Perfektibilität, das chaotische Potential der Geschichtsmannigfaltigkeit bändigte. Die Zuwendung zur Geschichte, die gegenüber dem dogmatischen konfessionellen Kirchenglauben kritischen Charakter hat, wurde getragen von der Überzeugung, dass die geschichtliche Mannigfaltigkeit Vergegenwärtigung der ungeschichtlichen Vernunft sei, dass die Geschichtlichkeit der Frömmigkeit auf die vernünftig-natürliche Allgemeinheit hin verstanden werden müsse. Dadurch ist die Aufklärung doppelgesichtig. In ihr wurde sowohl historisches Bewusstsein erstmals formuliert als auch völlig ahistorisch die zeitlose Vernunft zur Protagonistin des Autonomiestrebens. Das Phänomen der Geschichtlichkeit erwies sich über einen langen Zeitraum hin als ausgesprochen sperrig beziehungsweise unzugänglich für die Fichteschen transzendentalphilosophischen Überlegungen. Dafür dürfte die strikte Unterscheidung von Reflexion und Leben maßgeblich sein. Die empirische Verankerung der Ge-
Vgl. SW 5 (s. Anm. 8), 365 – 366.
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schichtsschreibung und Geschichtsbetrachtung weckte nicht Fichtes philosophisches Interesse. Zwar ist er für politische Phänomene durchaus aufgeschlossen,³⁷ aber doch nur als Phänomene der Freiheitsrealisierung, als Feld naturrechtlicher Realitäten. Im Zusammenhang mit der vertieften Ausarbeitung der Wissenschaftslehre 1804 formulierte Fichte auch erstmals eine Geschichtslehre. Dabei dürfte seine Erfahrung mit der eigenen Zeitgenossenschaft wirksam gewesen sein. Die Realisierung der Freiheit war offensichtlich nicht allein an die Evidenz der Wissenschaftslehre gebunden. Deshalb ist Fichtes Epochenbewusstsein schwankend. Das Thema der Geschichte war für Fichte zunächst im Modus der Ablehnung präsent. So berichtet Friedrich Schlegel am 30. September 1796 brieflich von einer Äußerung Fichtes: „Er wolle lieber Erbsen zählen als Geschichte studieren“³⁸. Diese Aussage reizte den jungen Schleiermacher, kurz nachdem er Fichte 1799 persönlich in Berlin kennengelernt hatte, zu der Umkehraussage: „Ein echter Historiker könnte wohl sagen, er wollte lieber Erbsen zählen, als sich mit der Transzendentalphilosophie abgeben.“³⁹ Geschichte und Religion sind zwei Themenfelder, bei denen in besonderer Weise die Verhältnisbestimmung von Leben und Reflexion dringlich wird. Geschichtserzählung und Frömmigkeit dienen der unmittelbaren Selbstverständigung über Ursprung und Ziel des Lebens, sind ursprüngliche Lebensdeutungen, die gegenwärtiges Leben entweder unter den Gesichtspunkt der Herkunft oder unter den Gesichtspunkt des Gehaltenseins stellen. Die philosophische Reflexion sonderte Fichte zunächst von diesen Phänomenen ab. Philosophie und Leben sind bei ihm – wie er es auch als Theorie aufstellt – ganz getrennt, seine natürliche Denkart hat nichts Außerordentliches, und so fehlt ihm, so lange er sich auf dem gemeinen Standpunct befindet, alles was ihn für mich zu einem interessanten Gegenstand machen könnte. […] Lehrreich ist er nicht; denn detaillirte Kenntnisse scheint er in andern Wissenschaften nicht zu haben, (auch in der Philosophie nicht einmal, insofern es Kenntnisse darin giebt,) sondern nur allgemeine Uebersichten, wie unser einer sie auch hat. Das ist übrigens sehr schade, weil er eine ganz herrliche Gabe hat, sich klar zu machen, und der größte Dialektiker ist den ich kenne.⁴⁰
Fichtes Desinteresse an einer Geschichtslehre dürfte sowohl aus seiner anfänglichen Überzeugung von der Geschichtsmächtigkeit der in der Wissenschaftslehre formulierten Evidenz als auch von seiner Trennung von Empirie und Transzendentalphi-
Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die Französische Revolution, Danzig: Troschel, 1793. Friedrich Schlegel, Neue philosophische Schriften, hg.v. Josef Körner, Frankfurt: Schulte-Bulmke, 1935, 16. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Schriften aus der Berliner Zeit 1800 – 1802, Bd. I/3, Kritische Gesamtausgabe. 1. Abteilung: Schriften und Entwürfe, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York: De Gruyter, 1988, 298,6 – 7. Aus Schleiermacher’s Leben: In Briefen, Bd. 4, hg.v. Ludwig Jonas / Wilhelm Dilthey, Berlin: G. Reimer, 1863, 53.
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losophie herrühren. Leben und Reflexion sind ihm streng geschieden. Um der sittlichen Gleichwertigkeit aller Menschen, um der Entlastung der bloß zuschauenden Wissenschaft von allem Realisierungsdruck und um der Befreiung des unmittelbaren Lebens vom toten Formelwesen willen schärfte er den Unterschied beider Sphären ein. Wegen des sittlichen Freiheitscharakters des Philosophierens konnte er aber auch gegen jeglichen Intellektualismus ihre Verwobenheit betonen. „Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist: denn ein philosophisches System ist nicht ein todter Hausrath, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat.“⁴¹ Genau dies gab Fichte seine Selbstgewissheit. Er war ein Prophet des Moralismus, des moralischen Appells. Fichtes ganzes Interesse galt der vernünftigen Freiheit. Hier war ihm die Anerkennung unendlich wichtig. Fichte hat erstmalig in seinen 1804/5 in Berlin gehaltenen und 1806 dort publizierten populäreren Vorträgen Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters ⁴² das Thema der Geschichte ausführlich aufgegriffen und abgehandelt. Die Unendlichkeit der Erfahrungswelt und die Fünffachheit der konstruktiven Vernunfttätigkeit geben seiner Themenbehandlung ihr besonderes Gepräge. Die Grundzüge waren motiviert durch das Bemühen einer Standortbestimmung der Wissenschaftslehre in der zeitgenössischen Kultur. Die Wissenschaftslehre ist der Zielpunkt des geschichtlichen Prozesses. Fichtes Irritation über die Ablehnung und Widersprüche, die die Wissenschaftslehre erfuhr, suchte er durch eine Theorie der zeitgenössischen Ungleichzeitigkeit aufzuarbeiten. Ein unabweisbares Problem war und blieb aber für Fichte die Frage, wie das Zustandekommen und Herkommen der Wahrheitseinsicht innerhalb des Geschichtsprozesses zu begreifen sei. Die Unableitbarkeit von Freiheit musste als Konstituens der geschichtlichen Entwicklung begriffen werden. In der Genese des eigenen Wahrheitsbewusstseins war die Wahrnehmung und Vergegenwärtigung der eigenen Individualität ein unverzichtbarer Merkposten. Der konstruktive Zugriff auf die Geschichte und der ahistorische Umgang mit den Quellen ist trotz erhellender Detailbeobachtungen unübersehbar. Schleiermacher bescheinigte in einer polemisch-ironischen Rezension der Grundzüge ⁴³ Fichte zusammengesuchte und ausgesuchte Einfälle, die recht gesucht seyn wollten, und zauberisches Aufbauen, des Zeitalters wenigstens, aus mancherley Gedanken, nur nicht aus der durchaus
Johann Gottlieb Fichte, Werke 1797 – 1798, Bd. I/4, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 1. Reihe: Werke, hg.v. Hans Gliwitzky / Reinhard Lauth, Stuttgart / Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1970, 195,15 – 18. Johann Gottlieb Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, Bd. 7, Sämmtliche Werke, hg.v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin: De Gruyter, 1971, 1– 256 (= SW 7); Johann Gottlieb Fichte, Werke 1801 – 1806, Bd. I/8, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 1. Reihe: Werke, hg.v. Hans Gliwitzky / Reinhard Lauth, Stuttgart / Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1991, 189 – 396. Vgl. Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1807, Jg. 4, Bd. 1, Nr. 18 – 20, 137– 160 (= JALZ).
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klaren historischen Anschauung, und eigenliebige Betrachtung des eigenen Werthes, und Scheu vor der Mühsamkeit des Empirischen⁴⁴.
Schleiermacher macht sich wiederholt lustig über Fichtes strenge Entgegensetzung des apriorisch deduzierten Weltplans mit seinen wahren Grundzügen der Geschichte einerseits und den aposteriorisch aufgefassten Erläuterungen aus der empirischen Geschichte andererseits.⁴⁵ Der Hass gegen die Naturphilosophie und das kirchliche Christentum treibe Fichte zu einer „höchst treulosen Darstellung“⁴⁶. Das von Fichte favorisierte johanneische Christentum ohne Versöhnungsgedanken sei nicht quellengemäß. Schleiermacher verurteilt Fichtes Schonung des Katholizismus zuungunsten des Protestantismus. Geschichte ist für Fichte die Entwicklung der Menschheit zu vernünftiger Freiheit.⁴⁷ Da Fichte seine Wissenschaftslehre als vollendete Theorie der vernünftigen Freiheit versteht, ist mit der Formulierung der Wissenschaftslehre zugleich in prinzipieller Hinsicht das Ziel der Geschichte erreicht. Die Lebensverhältnisse müssen nach den formulierten Einsichten der Wissenschaftslehre gestaltet werden. Daraus resultiert Fichtes Epochenbewusstsein. Seine Wissenschaftslehre versteht das Selbstbewusstsein als „das eine, äußere, kräftige, lebendige und selbständige Dasein Gottes“⁴⁸. Für die Fichtesche Geschichtskonstruktion ist das Epochenbewusstsein ein wichtiger Impuls. In den Grundzügen überlagern sich ein zweigliedriges Geschichtsschema und ein fünfgliedriges. Diesen beiden Schemata liegen unterschiedliche Prinzipien zugrunde. Das zweigliedrige Geschichtsschema ist an der Erscheinung des Christentums als der Zeitenwende orientiert, das fünfgliedrige Schema an der freien Vernunftrealisation und ihrer endgültigen Artikulation in der Wissenschaftslehre. Das fünfgliedrige Strukturschema, mit dem Fichte 1804 in der Wissenschaftslehre die Bewusstseinsformationen gliedert, dient ihm hier zur Gliederung des Geschichtsverlaufs. Die apriorisch konstruierten Geschichtsepochen stellt Fichte unter religiöse Leitbegriffe: Unschuld, Sünde beziehungsweise Sündhaftigkeit, Rechtfertigung, Heiligung. Geschichte ist für Fichte Freiheitstat. Geschichte ist für ihn immer bezogen auf Vernunft, nur dass die Vernunft, soll die Ambivalenz der Gegenwart verstanden werden, zunächst als Instinkt wirksam sein muss: ein Beginnen von Vernunft in der Zeit ist nicht denkbar. Dann wäre die Frage nach dem Vorher nicht vernünftig beantwortbar. Vernunft muss immer vorausgesetzt werden. Hier wiederholen sich die Notwendigkeiten der Antinomien. Da die Gegenwart aber auch noch nicht völlig
JALZ (s. Anm. 43), 160. Vgl. JALZ, 143.146 – 147.149. JALZ, 156. Vgl. SW 7 (s. Anm. 42), 7. SW 7, 188.
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vernünftig ist, muss eine Entwicklung zur vollkommenen Vernunftherrschaft postuliert werden. Dadurch dass die Geschichte für Fichte Freiheitstat ist, ist sie allerdings auch kontingent. Sie ist nicht ableitbar. Sie ist insofern analog der Unableitbarkeit der Empirie, der Natur. In der Empirie ist das Erkennen an das Experiment gewiesen. So gilt in der Geschichte die Beobachtung und das Verstehenwollen, die Phantasie, das Hineinkriechen in den anderen Kontext. So wie Fichte gegen Schelling und die Naturphilosophie darauf insistiert hat, dass Natur sich nicht deduzieren lasse, so muss von der Unverfügbarkeit geschichtlich gewordener Freiheitstat gelten, dass sie ebenfalls nicht deduzierbar ist. Dies ist der Ort der Hoffnung und Erwartung. Fichtes Geschichtskonstruktion bekommt den Charakter eines moralischen Appells. Freiheit bedeutet für ihn Unabhängigkeit von der Natur, bedeutet aber auch Begegnung mit den Ansprüchen anderer Vernunftwesen, bedeutet gegenseitige Anerkennung, bedeutet schließlich Bezogenheit auf den Willen Gottes. Die Wahrnehmung und Beurteilung des Phänomens Christentum ist für Fichte in seiner Berliner Zeit verzahnt mit seinem Bemühen, die Geschichtlichkeit menschlichen Lebens und Wissens zu begreifen. Die Christentumsthematik tritt für ihn erst in den Vordergrund, als die Geschichtsthematik drängend wird. Für Fichte ist die Lehre Jesu mit den Einsichten der Wissenschaftslehre sachlich identisch. Jesus habe die Wahrheit in der Gestalt der Religion ausgesprochen.⁴⁹ Für Fichte ist die Wahrheit der Religion allein und ausschließlich an den Inhalt der Lehre gebunden. Jesus ist ihm „Verkündiger“⁵⁰, nicht Versöhner oder Entsündiger⁵¹. Fichte vertritt keine exklusive, sondern eine inklusive universale Christologie. Der in der Wahrheit lebende Mensch sei in der Freiheit des wesentlichen Lebensvollzuges das Dasein des Absoluten.⁵² Jesus habe Autorität und Bedeutung nur als Verkündiger des von ihm Verkündigten, nicht durch seine Person. Der Verkündiger tritt für Fichte ganz hinter die Verkündigung zurück.⁵³ Das Bewusstsein von der Vollendung der Wissenschaftslehre 1804 kontrastierte mit dem Schwinden der Freiheitsrealisierungen. Die autokratische Entwicklung in Frankreich zur Kaiserkrönung Napoleons 1804, die Auflösung des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation 1806 und die Niederlage Preußens im selben Jahr bedeuten tiefe Einschnitte im politischen Leben. Fichte wurde der Mahner zur Erneuerung, zum Aufbruch der deutschen Nation in eine vollgültige Gestalt des Vernunftlebens.
Vgl. SW 5 (s. Anm. 8), 483 – 484; SW 7 (s. Anm. 42), 98. SW 7, 606. Vgl. SW 7, 190. Vgl. SW 7, 88. Vgl. SW 7, 104.
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Mit der Ausarbeitung der Staatslehre von 1813⁵⁴ erfolgte noch einmal eine stärkere Wandlung der Geschichtslehre Fichtes. Ein solches Urteil legt auch das bisher publizierte Nachlassmaterial aus dem Umkreis der Staatslehre nahe⁵⁵. Dabei wandelt sich nicht sein methodischer Umgang mit den Quellen, auch nicht sein inhaltlicher Bezug auf die Quellen. Vielmehr lässt sich ein Wandel in den Prinzipien der Geschichtskonstruktion und der Selbsteinschätzung der Wissenschaftslehre beobachten. Fichte konzipierte seine Geschichtsphilosophie nun christologisch und seine Christologie geschichtsphilosophisch. In der Christologie bündelte er die geschichtliche Bedeutung des Selbstverständnisses Jesu für alles menschliche Selbstverständnis inklusive Welt- und Gottesverständnis. Dabei war ihm Jesu Geschäft der Reichsgründung konstitutiv. Die Erfüllung christlicher Kirchlichkeit in der Reichswerdung entlastete Fichtes Wissenschaftslehre vom Realisierungsdruck und erlaubte ihm eine scharfe Kritik der modernen Staatsauffassung und -praxis. Der Protestantismus erfährt von ihm nun eine große Wertschätzung als wahrhaft katholisch, verständig und philosophisch. Während Fichte 1804 die Formulierung der Wissenschaftslehre als die Zeitenwende in der Kulturgeschichte des Wissens begriff, sich selbst also in die Stelle des Neuerers einsetzte, verlagerte er 1813 die Zeitenwende in das Erscheinen Jesu: in Jesus sei das Wahrheitsbewusstsein erstmals ungebrochen in die geschichtliche Wirklichkeit eingetreten. Fichte stufte nun seine eigene Bedeutung herab. Die neue Zeit beginnt für ihn nicht mehr mit der Wissenschaftslehre, sondern mit Jesus von Nazareth. Die Wissenschaftslehre wird nun nicht mehr als Konstruktionspunkt der Geschichte, sondern als Folgegestalt des christlichen frommen Bewusstseins verstanden. In der Staatslehre von 1813 ist das zweigliedrige Geschichtsschema zum Sieg gekommen. Die alte und neue Welt werden unterschieden durch die Veränderung des Gottes- und Selbstverständnisses. „Die alte Welt hatte zum lezten Principe einen mit absoluter Willkühr das gesellschaftliche Verhältniß der Menschen ordnenden Gott“⁵⁶. Die neue Welt ist charakterisiert durch die sittliche Gesetzgebung Gottes. Das Christentum ist nun das „Princip der neuen Geschichte“⁵⁷. Entsprechend ist Jesus „Grundund Einheitspunkt der Geschichte, zu welchem alles Vorhergegangene sich als Vorbereitung und alles Künftige sich als Entwickelung verhält“⁵⁸. Während in den Grundzügen und in der Anweisung die Wissenschaftslehre zwar faktisch, nicht aber prinzipiell in der Wirkungsgeschichte Jesu steht, hat 1813 die Lehre Jesu auch prinzipielle Priorität vor der Wissenschaftslehre. Jesus ist das Urbild, das die Realisation
Johann Gottlieb Fichte, Die Staatslehre oder über das Verhältniß des Urstaates zum Vernunftreiche, In Zur Rechts- und Sittenlehre. Zweiter Band, Bd. 4, Sämmtliche Werke, hg.v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin: De Gruyter, 1971, 367– 600 (= SW 4). Vgl. SW 7 (s. Anm. 42), 546 – 613, und Günter Meckenstock, Das Schema der Fünffachheit in J.G. Fichtes Schriften der Jahre 1804 – 1806, Dissertation Göttingen (masch.), 1974, 59 – 84. SW 4 (s. Anm. 54), 521. SW 4, 522. SW 4, 550.
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des sittlich-frommen Selbstvollzugs ermöglicht. Demgemäß ist auch die Wissenschaftslehre als Theorie dieses Selbstvollzuges eine Folge der Erscheinung des Absoluten in Jesus. Die Wissenschaftslehre ist der wissenschaftliche Begriff ⁵⁹ des vorausgehenden Christentums. In einer temporalen Ausdehnung der Zeitenwende nimmt Fichte die Wirkmächtigkeit des Christentums in Anspruch für die Überwindung des modernen Staates zugunsten einer vernünftigen Theokratie. Fichte hat einen bedeutenden Beitrag für die Formulierung des frommen Bewusstseins unter den Bedingungen der Autonomie geleistet, indem er die traditionelle Gottesvorstellung einer scharfen Kritik unterzog, indem er zugleich durch eine Theorie des Absoluten den Rahmen für eine spekulative Selbstverständigung des frommen Bewusstseins bereitstellte. Das fromme Bewusstsein sollte so vor der Sprachlosigkeit bewahrt werden. Durch die Umformulierung der dogmatisch-metaphysischen in eine transzendental-geschichtliche Heilslehre beschritt Fichte einen neuen Weg, Sittlichkeit und Frömmigkeit, Autonomie und Gehaltensein, Erfahrungsorientierung und Transzendierungsimpulse zu verbinden. Fichtes Argumente und Appelle waren mehr nach ihrer religionskritischen als nach ihrer religionsbegründenden Seite und mehr nach ihrer gesellschaftsbegründenden als nach ihrer gesellschaftskritischen Seite wirkungsvoll.
Vgl. SW 4 (s. Anm. 54), 530.
Beobachtungen zur Methodik in Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre Johann Gottlieb Fichtes 1794/95 erschienene Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre ¹ ist ein Dokument konzentrierter Reflexion, systematischer Konstruktion und einschneidender Problemreduktion. In großer Kühnheit und Radikalität wird die gesamte Wirklichkeit in ihren Erfahrungsstrukturen abgeleitet aus der Selbstevidenz des Ich. Die Grundakte der Ichheit werden durch verschiedene Operationen analysiert. Fichte ist von der Überzeugung getragen: „Das Wesen des Ich besteht in seiner Thätigkeit“.² Das Setzen des Ich durch sich selbst ist „reine Thätigkeit desselben“.³ Mit dieser Grundüberzeugung, wie sie sich auch in seinem ersten Grundsatz niederschlägt, formuliert Fichte das Programm der Moderne. Nicht mehr die Ruhe ist der vollkommene Seinszustand, sondern die Tätigkeit. Aktualität und Aktuosität rücken ins Zentrum des Wirklichkeitsverständnisses. Die Naturwissenschaften und die Kulturwissenschaften sind seit der Aufklärung den Weg der Dynamisierung der Welt und des Selbst gegangen. Und Fichte ist einer ihrer wirkmächtigen Förderer. Eines der Merkmale neuzeitlicher Wissenschaftsentwicklung ist die Zunahme an Methodisierung der Untersuchungen und an methodologischer Rechenschaft. In dieser Hinsicht ist die Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre durchaus bemerkenswert. Die Beobachtungen, wie Fichte seine philosophischen Wahrheitsansprüche methodisch formuliert und rechtfertigt, lassen sich unter drei Gesichtspunkten bündeln: Wege zur Verständigung, Wege zur Überzeugung und Wege zur Selbstwahrnehmung.
1 Wege zur Verständigung Wie alle, die etwas, zumal etwas Neues mitteilen wollen, sieht sich Fichte vor der Aufgabe, mit seinen Hörern beziehungsweise Lesern zu einer Verständigung zu kommen. Die Vorurteile der Leser müssen überwunden, ihr Interesse geweckt, ihre Bereitschaft zum Mitdenken gestärkt werden. Dazu macht Fichte Ansprüche an seine Leser geltend, gibt ihnen aber auch programmatische Orientierungshilfen.
Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, Bd. I/2, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 1. Reihe: Werke, hg.v. Hans Jacob / Reinhard Lauth, Stuttgart / Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1965, 251– 451. Diese Textedition wird im Folgenden unter Angabe des Kürzels GA I/2 benutzt. Hervorhebungen des Quellentextes werden bei der Zitation nicht eigens ausgewiesen. GA I/2, 405,30. GA I/2, 259,3. https://doi.org/10.1515/9783110745498-018
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Beobachtungen zur Methodik in Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre
1.1 Anforderungen an die Leser Die Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre stellt hohe Anforderungen an ihre Leser, an deren Auffassungsgabe und gedankliche Mitarbeit. In seiner Vorrede zur Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, die erst im Sommer 1795 erschien und bereits auf Rezensionen der ersten Lieferung reagiert, fordert Fichte vom Leser „das Vermögen der Freiheit der innern Anschauung“.⁴ Fichte sieht die Einwände gegen die Wissenschaftslehre darin begründet, dass die Leser die aufgestellte Idee nicht erfassen und festhalten könnten. Die Wissenschaftslehre könne nur mit Geist verstanden werden; die reine Aufnahme des Buchstabens reiche nicht. Ihre Grundideen müssen „in jedem, der sie studirt, durch die schaffende Einbildungskraft selbst hervorgebracht werden“.⁵ Gerade weil die Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre nach der Maxime ausgearbeitet worden sei, „eine feste Terminologie […] so viel möglich zu vermeiden“⁶, müsse der Sinn der einzelnen Ausführungen immer vom Ganzen her gesucht werden. Man wird aus dem Zusammenhange erklären, und sich erst eine Uebersicht des Ganzen verschaffen müssen, ehe man sich einen einzelnen Satz scharf bestimmt; eine Methode, die freilich den guten Willen voraussezt, dem Systeme Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen, nicht die Absicht, nur Fehler an ihm zu finden.⁷
Gerade weil die Wissenschaftslehre auf einer umfassenden Einsicht beruhe und er selbst bei seiner bisherigen dreimaligen Durcharbeitung jeweils umfangreiche Einzelkorrekturen vorgenommen habe, sei das wohlwollende Mitdenken des Lesers vonnöten. Fichte beansprucht für die Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre die Unumstößlichkeit der Grundsätze und räumt zugleich die Flexibilität und Vervollkommnungsbedürftigkeit der Darstellung seines Systems ein.⁸ Diese doppelte Grundeinschätzung bedeutet nach der Seite der Darstellung, dass Fichte die Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre nicht für die vollkommene Darstellung der Wissenschaftslehre hält. Angesichts der eingestandenen Unvollkommenheit, ja Mangelhaftigkeit der Darstellung versichert Fichte ausdrücklich, dass er an der Darstellung seines Systems arbeiten werde. Und das tat er auch. In immer neuen Anläufen suchte er die Vollständigkeit der Prinzipien und die Vollkommenheit der Darstellung zu erlangen. Mehrfach wähnte er das Ziel erreicht. Das Eingeständnis von Darstellungsmängeln in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre schränkt aber nach der Seite der Grundsätze nicht Fichtes Über-
GA I/2 (s. Anm. 1), 253,12. GA I/2, 415,10 – 11. GA I/2, 252,19 – 21. GA I/2, 252,25 – 29. Vgl. GA I/2, 254,5 – 15.
1 Wege zur Verständigung
227
zeugung ein, hier mit diesem Werk die Prinzipien für eine Philosophie von wissenschaftlicher Evidenz aufgestellt zu haben. Die Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre will Grund und Umfang der Prinzipien angeben und auch „die Art, wie auf jenen weiter aufgebaut werden muß“⁹. Fichte hält seine Argumentationen für stringent; seine Darlegungen seien klar und verständlich. Was vollkommen klar gedacht worden ist, ist verständlich: und ich bin mir bewußt, alles vollkommen klar gedacht zu haben, so daß ich jede Behauptung zu jedem beliebigen Grade der Klarheit erheben wollte, wenn mir Zeit, und Raum genug gegeben ist.¹⁰
Die Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre sei nicht in allen Einzelheiten, besonders nicht zur Abwehr aller Missverständnisse, ausformuliert, sondern wolle das Selbstdenken des Lesers anregen. Ja, noch mehr, der Leser muss Verlangen haben: „Die Wissenschaftslehre soll sich überhaupt nicht aufdringen, sondern sie soll Bedürfniß seyn, wie sie es ihrem Verfasser war.“¹¹ Diese hohen Ansprüche Fichtes an seine Leser mögen zwar in dem Sinne wirkungsvoll sein, dass Fichte sich gegenüber zu hohen Ansprüchen der Leser schützt und selbst entlastet. Doch bleibt angesichts der ungeheueren Evidenzverheißungen die Frage unabweisbar, welche Wege Fichte zum Nachvollzug seiner Einsichten zeige. Und diese Wege sind vielgestaltig.
1.2 Programmbegriffe Fichte stellt die Wissenschaftslehre zwischen Idealismus und Realismus. Diese philosophischen Grundpositionen lehnt er beide ab. Er profiliert sein eigenes Anliegen durch häufige Seitenblicke auf diese Alternative.¹² Fichte sichert die Eigenständigkeit der Wissenschaftslehre, indem er die traditionellen Gestalten von Idealismus und Realismus als dogmatisch und beider Dogmatismus als mangelhaft gegenüber dem Kritizismus aufdeckt. Fichte zielt auf die Vereinigung von Idealismus und Realismus in einem Ideal-Realismus oder Real-Idealismus.¹³ Als letzten Grund alles Bewußtseins gibt Fichte „eine Wechselwirkung des Ich mit sich selbst vermittelst eines von verschiednen Seiten zu betrachtenden Nicht-Ich“¹⁴ an. Diese zirkuläre Grundstruktur könne der endliche Geist nicht verlassen und dürfe es vernünftigerweise auch nicht wollen.¹⁵ Fichte entdeckt auch im Begriff des Dings an sich gerade diese antagonistische Grundstruktur, die allem endlichen Geist zugrunde liegt und alles Philoso GA I/2 (s. Anm. 1), 252,12– 13. GA I/2, 253,19 – 22. GA I/2, 253,27 I. Vgl. z. B. GA I/2, 328,12– 27. Vgl. GA I/2, 412,29 – 30. GA I/2, 413,17– 19. Vgl. GA I/2, 413,19 – 21.
228
Beobachtungen zur Methodik in Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre
phieren antreibt. Fichte will so die Begriffe durchsichtig machen für die Ich-Tätigkeit, die sich in ihnen formuliert. Fichte versteht die Wissenschaftslehre immer und ausschließlich im Sinne einer transzendentalen Wissenschaft, die „nicht über das Ich hinausgehen kann“¹⁶. Ohne transzendent zu werden, trägt die Wissenschaftslehre dem Sachverhalt Rechnung, dass wir etwas in uns finden, „das nur durch etwas ausser uns sich vollständig erklären läßt“¹⁷. Der realistische Zug der Wissenschaftslehre zeigt sich darin, dass das Ich in seinem Dasein als abhängig von einer entgegengesetzten Kraft verstanden wird,¹⁸ über die allerdings keine wissensunabhängige Aussage getroffen werden könne. Der idealistische Zug der Wissenschaftslehre zeigt sich darin, dass die produktive Einbildungskraft zur Erzeugerin der die Realität verbürgenden Anschauung eingesetzt wird. Die Wissenschaftslehre zielt auf die Vereinigung von Anschauung und Gefühl im praktischen Ich, denn die Realität kann allein geglaubt werden.¹⁹ „Die Anschauung sieht, aber sie ist leer; das Gefühl bezieht sich auf Realität, aber es ist blind.“²⁰ Fichtes Wissenschaftslehre will „ächter durchgeführter Kriticismus“²¹ sein. Damit stellt er sich nicht nur historisch in die Traditionslinie der Transzendentalphilosophie (Kant, Descartes), sondern beansprucht auch die Unverzichtbarkeit und konstitutive Leistungskraft der Selbstreflexion. Die Begrenzung des Wissens soll zugleich eine Sicherung desselben gegen den Skeptizismus sein. Gegen Salomon Maimon verteidigt Fichte die Wahrheitsfähigkeit der Einbildungskraft dadurch, dass deren Beurteilung als Täuschung zu einer Aufhebung des Bewusstseins und des Ich führe und somit auf die widersprüchliche Abstraktion vom Abstrahierenden hinauslaufe.²² Gegen Karl Leonhard Reinhold lehnt Fichte einen primär theoretischen Kritizismus ab. Der Vorstellungsbegriff tauge nicht zum Prinzip. Fichte treibt die Entwicklung voran, der praktischen Philosophie den Vorrang vor der theoretischen zu sichern. Trotz seiner immensen Reflexionsbemühungen ist Fichte vom Vorrang der praktischen Vernunft überzeugt – überzeugt, „daß die Vernunft an sich blos praktisch sey, und daß sie erst in der Anwendung ihrer Gesetze auf ein sie einschränkendes NichtIch theoretisch werde“²³. Also erst, indem die praktische Vernunft sich an ihrer Hemmung abarbeitet, kommt es auch zu einer theoretischen Wirklichkeitserfassung der Vernunft. Über das Wesen der Dinge spricht aber allein die praktische Vernunft. Im theoretischen Theile der Wissenschaftslehre ist es uns lediglich um das Erkennen zu thun, hier [sc. im praktischen Teil] um das Erkannte. Dort fragen wir: wie wird etwas gesezt, angeschaut,
GA I/2 (s. Anm. 1), 385,18 – 19. GA I/2, 416,19 – 20. Vgl. GA I/2, 411,29. Vgl. GA I/2, 429,19 – 26. GA I/2, 443,23 – 24. GA I/2, 254,17. Vgl. GA I/2, 368,25 – 369,10. GA I/2, 286,18 – 20.
2 Wege zur Überzeugung
229
gedacht, u. s. f. hier: was wird gesezt? Wenn daher die Wissenschaftslehre doch eine Metaphysik, als vermeinte Wissenschaft der Dinge an sich haben sollte, und eine solche von ihr gefordert würde, so müßte sie an ihren praktischen Theil verweisen. Dieser allein redet, wie sich immer näher ergeben wird, von einer ursprünglichen Realität; und wenn die Wissenschaftslehre gefragt werden sollte: Wie sind denn nun die Dinge an sich beschaffen? so könnte sie nicht anders antworten als: So, wie wir sie machen sollen.²⁴
2 Wege zur Überzeugung Fichte muss seine Hörer beziehungsweise Leser nicht nur orientieren, sondern auch von der Wahrheit seiner Aussagen überzeugen. Dazu muss ein Ausgangspunkt gefunden werden, dem keiner seine Zustimmung verweigern kann und der ein tragfähiges Fundament für die gesamte Argumentation ist. Die Gedankenführung muss schlüssig sein, sie muss sich auf ausgewiesene Verfahrensregeln stützen.
2.1 Anfang Um eine Basis und einen festen Ausgangspunkt für seine Argumentation zu gewinnen, sucht Fichte zunächst Bewusstseinsfakten auf, über deren Geltung überall Einvernehmen besteht und die auch vom Skeptizismus nicht bestritten werden. Fichte sieht diese Konsenspunkte in den Grundsätzen der formalen Logik. Alle vernünftigen Wesen, die überhaupt rational behaupten und argumentieren, benutzen immer schon diese Regeln. Fichte analysiert die logischen Grundsätze unter der Leitfrage, was vorausgesetzt werden muss, damit überhaupt solche Gesetze, wie sie von den logischen Grundsätzen formuliert sind, zustande kommen und wirksam werden können. Fichte gibt also der transzendentalen Leitperspektive verstärkt einen methodischen Zuschnitt. Für seinen Beginn sucht Fichte eine Tatsache des empirischen Bewusstseins auf, die von jedem Menschen zugestanden wird. Dies ist der logische Identitätssatz ‚A ist A‘. Fichte untersucht diesen Satz darauf, welche Tathandlung, die nie Bestandteil des empirischen Bewusstseins werden kann, sich in dieser Tatsache ausspricht. Die Analyse konzentriert Fichte auf den notwendigen Zusammenhang zwischen den beiden A. Diesen notwendigen Zusammenhang behauptet Fichte als „im Ich, und durch das Ich gesezt“²⁵. An dieser Stelle führt Fichte das Ich ein, denn das Ich ist es, welches im obigen Satze urtheilt, und zwar nach X, als einem Gesetze, urtheilt; welches mithin dem Ich gegeben, und da es schlechthin und ohne allen weiteren Grund aufgestellt wird, dem Ich durch das Ich selbst gegeben seyn muß.²⁶
GA I/2 (s. Anm. 1), 416,8 – 17. GA I/2, 257,12. GA I/2, 257,12– 15.
230
Beobachtungen zur Methodik in Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre
Nach dieser entscheidenden Weichenstellung wird dann das Ich als die Instanz herausgearbeitet, die den gesamten Erkenntnis- und Aussagenzusammenhang trägt. „Es ist demnach Erklärungsgrund aller Thatsachen des empirischen Bewußtseyns, daß vor allem Setzen im Ich vorher das Ich selbst gesezt sey.“²⁷ Im Gegenzug wird das Ich erklärt als diejenige Instanz, die allein im Sich-selbst-Setzen besteht. „Dasjenige dessen Seyn (Wesen) blos darin besteht, daß es sich selbst als seyend, sezt, ist das Ich, als absolutes Subjekt.“²⁸ Fichte ist sich der Zirkularität seines Verfahrens durchaus bewusst. Die Regeln der Reflexion, mittels deren der nichtempirische und allem empirischen Bewusstsein zugrundeliegende Grundsatz aufgespürt und formuliert wird, werden als gültig vorausgesetzt, wobei deren Gültigkeit doch erst aus dem ersten Grundsatz erwiesen werden muss.²⁹ Erstaunlicherweise meint Fichte, mit dem freien Eingeständnis der Zirkularität sei zugleich deren Legitimität dargetan. „Da er [sc. der Zirkel] nun unvermeidlich, und frei zugestanden ist, so darf man auch bei Aufstellung des höchsten Grundsatzes auf alle Gesetze der allgemeinen Logik sich berufen.“³⁰ Fichte behauptet, durch Abstraktion von den empirischen Bewusstseinsfakten zum reinen Bewusstsein durchstoßen zu können. Dies führt zum Widerspruch, dass einerseits das reine Bewusstsein nie unmittelbar wissensfähig sein und dass andererseits der erste Grundsatz der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre dieses reine Bewusstsein beschreiben soll. Dieser Widerspruch lässt sich nur durch ein gewandeltes Verständnis des absoluten Ich vermeiden. Und einen solchen Wandel scheint Fichte auch im Sinn zu haben. Die höchste Einheit werde nämlich im Fortgang der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre gefunden werden „nicht als etwas, das ist, sondern als etwas, das durch uns hervorgebracht werden soll, aber nicht kann.“³¹ Der Ich-Begriff wird im Erkenntnisprozess der Wissenschaftslehre angereichert. Im praktischen Teil wird das absolute Ich verstanden als die Idee des Ich, die seiner praktischen unendlichen Forderung nothwendig zu Grunde gelegt werden muß, die aber für unser Bewußtseyn unerreichbar ist, und daher in demselben nie unmittelbar, (wohl aber mittelbar in der philosophischen Reflexion) vorkommen kann.³²
An dieser Stelle wird die Idee des absoluten Ich transzendental von der unendlichen praktischen Forderung abgeleitet. Im Rückblick bekommt der erste Grundsatz dadurch eine andere Wertung. Und damit wird die Frage an Fichte dringlich, wie sich die im ersten Grundsatz ausgesprochene Einheit der ursprünglichen Tathandlung des Ich
GA I/2 (s. Anm. 1), 258,18 – 20. GA I/2, 259,23 – 24. Vgl. GA I/2, 255,22– 27. GA I/2, 256,1– 4. GA I/2, 264,2– 3. GA I/2, 409,22– 25.
2 Wege zur Überzeugung
231
verhält zu derjenigen höchsten Einheit, die in allem praktischen Streben als Ziel anvisiert, aber nicht erreicht wird. Hier bleibt Fichte undeutlich.
2.2 Systematische Schlüssigkeit Aus dem ersten Grundsatz sieht Fichte sich befugt, ein System anzunehmen. Im ersten Grundsatz formuliert Fichte die Evidenzbasis seines Systems, im zweiten Grundsatz die zu lösende Aufgabe und im dritten Grundsatz den Lösungsweg. Die Aufgabe kann auch als Widerstreit zwischen der Unendlichkeit und der Endlichkeit des Ich beschrieben werden: Es sollen das Ich von § 1 und das Ich von § 2 miteinander vereinigt werden. Den Grundwiderstreit im Ich zwischen Ich und Nicht-Ich bearbeitet Fichte, indem beide zur wechselseitigen Einschränkung als teilbar gesetzt werden. Fichte versteht die Quantitabilität von Ich und Nicht-Ich als gegenseitige Beschränkbarkeit.³³ Diese gegenseitige Beschränkbarkeit fasst er in zwei Sätze. Der Satz „das Ich sezt sich selbst, als beschränkt durch das Nicht-Ich“³⁴ ist der Hauptsatz des theoretischen Teils der Wissenschaftslehre, der die Möglichkeit und den Modus der Realität des Nicht-Ich für das Ich aufstellt. Der Satz „Das Ich sezt das Nicht-Ich, als beschränkt durch das Ich“³⁵ ist der Hauptsatz des praktischen Teils der Wissenschaftslehre, der die näheren Bedingungen angibt, wie das Ich auf die gesetzte Realität des Nicht-Ich einwirken kann. Obwohl das praktische Vermögen das theoretische allererst ermögliche, begründe die Denkbarkeit des theoretischen Hauptsatzes die des praktischen; deshalb müsse die systematische Analyse mit dem theoretischen Teil beginnen. Der theoretische Teil erörtert die Kausalität des Nicht-Ich auf das Ich als Wechselbestimmung von Ich und Nicht-Ich und synthetisiert deren Entgegensetzungen mittels der produktiven Einbildungskraft, die Unendlichkeit und Begrenzung vereinigt. Merkmal des Endlichen ist, dass es „durchgängig durcheinander bestimmbar“³⁶ ist. Das Unendliche dagegen ist das Unbestimmbare. Beides vereinigt die Einbildungskraft. Dieser Wechsel des Ich in und mit sich selbst, da es sich endlich, und unendlich zugleich sezt – ein Wechsel, der gleichsam in einem Widerstreit mit sich selbst besteht, und dadurch sich selbst reproducirt, indem das Ich unvereinbares vereinigen will, jezt das unendliche in die Form des endlichen aufzunehmen versucht, jezt, zurückgetrieben, es wieder ausser derselben sezt, und in dem nemlichen Momente abermals es in die Form der Endlichkeit aufzunehmen versucht – ist das Vermögen der Einbildungskraft.³⁷
Vgl. GA I/2 (s. Anm. 1), 285,8. GA I/2, 285,29 – 30. GA I/2, 285,11. GA I/2, 358,5. GA I/2, 359,7– 14.
232
Beobachtungen zur Methodik in Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre
Die Einbildungskraft ist triadisch nach Thesis, Antithesis und Synthesis strukturiert³⁸ und bestimmt dadurch das Ineinander von Endlichkeit und Unendlichkeit. Fichte formuliert als Ergebnis des theoretischen Teils, dass das vorstellende Ich oder die Intelligenz zwar Einheit besitze und unter notwendigen Gesetzen stehe, dass es aber nicht identisch sei mit dem sich selbst schlechthin setzenden und durch sich gesetzten Ich. Das vorstellende Ich ist hinsichtlich seiner Modalität autonom, aber hinsichtlich seiner eigenen Faktizität von einem Anstoß abhängig. Dass die Vorstellungssphäre überhaupt ist, kann das Ich sich nicht zurechnen. Gerade die Unverzichtbarkeit des Anstoßes erweist das vorstellende Ich (die Intelligenz) als abhängig vom unbestimmten und unbestimmbaren Nicht-Ich.³⁹ Aber die Abhängigkeit des Ich, als Intelligenz, soll aufgehoben werden, und dies ist nur unter der Bedingung denkbar, daß das Ich jenes bis jezt unbekannte Nicht-Ich, dem der Anstoß beigemessen ist, durch welchen das Ich zur Intelligenz wird, durch sich selbst bestimme. Auf diese Weise würde das vorzustellende Nicht-Ich unmittelbar, das vorstellende Ich aber mittelbar, vermittelst jener Bestimmung, durch das absolute Ich bestimmt.⁴⁰
Der praktische Teil erörtert die Kausalität des Ich auf das Nicht-Ich. Das absolute Ich soll ursächlich das Nicht-Ich als den letzten Grund aller Vorstellungen bewirken.⁴¹ Hier stellt sich folgender Widerspruch ein: Es ist gefordert eine Kausalität des Ich auf das Nicht-Ich; entgegen dieser geforderten Kausalität muss aber das Nicht-Ich schlechthin entgegengesetzt bleiben, weil mit dem Nicht-Ich auch das Ich aufgehoben würde.⁴² Der Widerspruch lässt sich auch formulieren als der Widerspruch zwischen der Unendlichkeit des Ich und seiner Endlichkeit. In seiner objektiven Tätigkeit ist das Ich endlich; in seiner in sich selbst zurückgehenden Tätigkeit ist das Ich unendlich.⁴³ Der Begriff des unendlichen Strebens scheint den Widerspruch zu lösen, ist aber genau genommen nur eine Problemanzeige. Im Streben wird nämlich die unendliche Kausalität des Ich negiert, und doch muss diese unendliche Kausalität wegen der Identität des Ich angenommen werden. In einem genetischen Verfahren will Fichte zeigen, dass das Streben nach absoluter Kausalität die von einem widerstrebenden Nicht-Ich bestimmte Kausalität begründet. Das absolute Ich müsse in seinem reinen Sich-selbst-Setzen die Möglichkeit dafür schaffen, dass es einem fremden Setzen gegenüber offen ist,⁴⁴ weil einerseits die notwendige Reflexion des Ich sein Herausgehen aus sich selbst und andererseits die Forderung nach Ausfüllen der Unendlichkeit sein Streben nach Kausalität begründe; beides wurzele im absoluten Sein des Ich.⁴⁵ Bliebe
Vgl. GA I/2 (s. Anm. 1), 359,15 – 27. Vgl. GA I/2, 387,1– 4. GA I/2, 387,20 – 25. Vgl. GA I/2, 388,21– 23. Vgl. GA I/2, 391,16 – 28. Vgl. GA I/2, 393,3 – 25. Vgl. GA I/2, 405,12– 18. Vgl. GA I/2, 408,26 – 33.
2 Wege zur Überzeugung
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das Ich ein reines Sich-Setzen, so wäre es auch in sich völlig geschlossen. Dadurch, dass es sich setzt als durch sich gesetzt, wird es offen für die Möglichkeit einer Fremdeinwirkung. Der Antagonismus zwischen der Selbstreflexion des Als und dem Trieb nach erfüllter Unendlichkeit treibt das praktische Ich unermüdlich an. Fichte vertritt den Wissenschaftsbegriff einer zirkulären Selbstbestätigung und Vollendung; „jede Wissenschaft ist beschlossen, deren Grundsaz erschöpft ist; der Grundsaz aber ist erschöpft, wenn man im Gange der Untersuchung auf denselben zurükkommt.“⁴⁶ Fichte sieht die Richtigkeit seines Systems gerade durch dessen Zirkularität erwiesen. Das in der Analyse Gefundene lässt sich nur durch die Voraussetzung erklären, die Voraussetzung lässt sich nur durch das in der Analyse Gefundene erklären.
2.3 Methodische Klarheit Fichte übt in seinen drei Teilen jeweils ein unterschiedliches Verfahren. Um seine Grundsätze aufzustellen, nutzt er die abstrahierende Reflexion. Die konstruktive Ausführung seines gesamten Systems⁴⁷ will Fichte durch ein antithetisch-synthetisches Verfahren bewerkstelligen,⁴⁸ das er faktisch aber nur im theoretischen Teil anwendet. Dabei wird immer neu das Entgegengesetzte aufgespürt, das in den Synthesen enthalten ist, bis schließlich Entgegengesetzte erreicht werden, „die sich nicht weiter vollkommen verbinden lassen, und dadurch in das Gebiet des praktischen Theils übergehen“⁴⁹. Im praktischen Teil wechselt Fichte zu genetischen Deduktionen.
2.3.1 Abstrahierendes Verfahren In seinem Prinzipienteil verfährt Fichte bei der Ermittlung seiner drei Grundsätze, die weder abgeleitet noch bewiesen werden können,⁵⁰ auf die Weise, dass er von einer unumstrittenen Tatsache des empirischen Bewusstseins ausgeht und durch abstrahierende Reflexion alle diejenigen Momente an diesen allgemein geltenden Sätzen abstreift, die empirischer Natur sind. Auf diese Weise will er das „im empirischen Bewußtseyn gegebne reine Bewußtseyn“⁵¹ ermitteln.
GA I/2 (s. Anm. 1), 362,14– 16. Vgl. GA I/2, 276,8 – 12. Vgl. GA I/2, 273,31– 274,8. GA I/2, 275,31– 33. Vgl. GA I/2, 264,11– 12. GA I/2, 263,17– 18.
234
Beobachtungen zur Methodik in Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre
2.3.2 Antithetisch-synthetisches Verfahren Im theoretischen Teil rekonstruiert Fichte die Antithesen und Synthesen, die im Grundwiderstreit von Ich und Nicht-Ich formal beschlossen liegen. Beim antithetischsynthetischen Verfahren sucht die freie Reflexion des Philosophen analytisch die Antithesen, die auf die vorgängigen synthetischen Handlungen des Ich verweisen.⁵² Die analytische Reflexion produziert nicht, sondern findet den gesuchten unbekannten synthetischen Begriff im Rückschluss von der analysierten Antithese aus.⁵³ „Die Handlungen, welche aufgestellt werden, sind synthetisch; die Reflexion aber, welche sie aufstellt, ist analytisch.“⁵⁴ Fichte geht bei seinem analytisch-synthetischen Verfahren den Weg einer immer neuen Mediatisierung.⁵⁵ Das unmittelbare Aufeinandertreffen von entgegengesetztem Ich und Nicht-Ich muss vermieden werden. Bei allen Mittelgliedern, die als Synthesepunkte eingeschoben werden, zeigt aber eine genauere Analyse, dass es doch noch einen Punkt gibt, wo Ich und Nicht-Ich unmittelbar zusammentreffen. Um das zu verhindern, wird am Grenzpunkt ein weiteres Mittelglied eingeschoben. Da sich auch hier erneut ein Berührungspunkt ausmachen lässt, ist eine weitere Vermittlung nötig. Und so würde es in’s unendliche fortgehen, wenn nicht durch einen absoluten Machtspruch der Vernunft, den nicht etwa der Philosoph thut, sondern den er nur aufzeigt – durch Den: es soll, da das Nicht-Ich mit dem Ich auf keine Art sich vereinigen läßt, überhaupt kein Nicht-Ich seyn, der Knoten zwar nicht gelös’t, aber zerschnitten würde.⁵⁶
Aus der Unabschließbarkeit der theoretischen Vermittlung gewinnt Fichte den Übergang in den praktischen Teil.
2.3.3 Genetisches Verfahren Beim Übergang vom theoretischen zum praktischen Teil nimmt Fichte einen Methodenwechsel vor, der weniger die Art seiner einzelnen Argumentationsgänge, als den Aufbau seiner Konstruktion betrifft. Fichte versichert zwar ausdrücklich, dass weiterhin sein antithetisch-synthetisches Verfahren mit dem Nebeneinander von Leitkategorien anwendbar sei und auch zu einem sicheren Ergebnis führe; doch wolle er einen kürzeren Weg gehen, indem er zunächst eine Hauptantithese aufsuche und daran die anderen anknüpfe.⁵⁷ Im genetischen Verfahren werden die Antithesen in eine Rangordnung gebracht und die niederen aus der höheren deduziert. Das Durch schematisiert die Konstruktion.
Vgl. GA I/2 (s. Anm. 1), 284,7– 10. Vgl. GA I/2, 284,19 – 24 und 288,2– 9. GA I/2, 284,30 – 32. Vgl. GA I/2, 300,20 – 301,7. GA I/2, 301,3 – 7. Vgl. GA I/2, 385,26 – 386,9.
3 Wege zur Selbstwahrnehmung
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3 Wege zur Selbstwahrnehmung Jedes methodisch geregelte Erkenntnisbemühen muss auch Auskunft geben über sein Verhältnis zu seinem Gegenstand. Besonders von einem Philosophiekonzept wie demjenigen Fichtes, das die kritische Reflexion zu einem Konstruktionsprinzip macht, muss Rechenschaft über die eigene Leistungskraft und die Grenzen des eigenen Unternehmens erwartet werden können. Fichte unterscheidet deutlich zwischen der kunstvoll-freien philosophischen Reflexionstätigkeit, durch die die Struktur der Ichheit nach ihren entgegengesetzten Merkmalen aufgesucht, aber nicht gemacht wird,⁵⁸ und der ursprünglichen Ichtätigkeit, die diese Struktur elementar bestimmt. In der philosophischen Reihe soll zum Bewusstsein erhoben werden, was in der ursprünglichen Reihe der Ich-Handlungen geschieht.⁵⁹ Diejenigen Tätigkeiten, die in der Wissenschaftslehre deduziert werden, sind also solche, die jeder immer schon vorgenommen hat. Es sind also zwei Reihen zu unterscheiden, die Reihe der Vernunft, die notwendig abläuft, und die Reihe der Freiheit, die den ursprünglichen Gang noch einmal reproduziert. Dabei wird ein Ich, das willkürlich gesetzt wird, in einem Experiment auf den Weg gebracht, der schon gegangen worden ist. Die Untersuchung ist dann erfolgreich abgeschlossen, wenn das beobachtete Ich den Punkt erreicht, „auf welchem jezt der Zuschauer steht“⁶⁰, und so der Kreis geschlossen wird. Durch seine kunstvoll-freie Reflexionstätigkeit lässt der Philosoph Bewusstseinsfakten entstehen, die die ursprünglich-spontanen Fakten des Geistes erfassen sollen. Fichte vertritt also eine Korrespondenztheorie der Wahrheit. Er zielt auf die Korrespondenz zwischen den künstlich erzeugten Bewusstseinsfakten des Philosophen und den ursprünglichen Bewusstseinsfakten allgemeiner Vernunft.⁶¹ Jeder problematisch aufgestellte Satz mit allen seinen deduktiv gewonnenen Näherbestimmungen muss danach als „ein ursprünglich in unserm Geiste vorkommendes Faktum“⁶² erwiesen werden. Und umgekehrt will Fichte so die Faktizität eines Faktums begreifend aufweisen.⁶³ Indem Fichte die praktisch-freie Vernunft ins Zentrum seiner Rekonstruktion rückt, stellt sich eine Schwierigkeit ein, die er nicht angemessen wahrnimmt. Die Wissenschaftslehre ist selbst ein Ereignis in der praktisch-vernünftigen Ereignisreihe. Die Wissenschaftslehre greift mit ihrer freien Konstruktion selbst ein in die praktische Vernunfttätigkeit. Die praktische Vernunft ist bildbar und hat eine eigene Geschichte. Diese Geschichte samt ihrer Irrtümer und Abwege muss begriffen werden. Und in diese
Vgl. GA I/2 (s. Anm. 1), 283,26 – 284,6. Vgl. GA I/2, 364,34– 36. GA I/2, 420,27. Vgl. GA I/2, 363,1– 17. GA I/2, 362,35. Vgl. GA I/2, 363,30 – 31.
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Beobachtungen zur Methodik in Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre
Geschichte muss sich jede philosophische Äußerung, die ja immer auch eine moralische Seite hat, einordnen. Die Wissenschaftslehre ist faktisch nicht nur Beobachterin, sondern Gestalterin der Vernunft. In seinem berühmten Satz: „Die Wissenschaftslehre soll seyn eine pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes“⁶⁴ macht Fichte auf die ursprüngliche Dynamik der Vernunfttätigkeit aufmerksam, bedenkt aber nicht seinen eigenen Ort darin. Zwar ist richtig, dass die philosophischen Konstruktionen und Deduktionen nicht identisch sind mit den ursprünglichen Geistestätigkeiten. Doch wird durch solche Konstruktionen die Geisteslage selbst verändert. Die Freiheit und Kulturfähigkeit des Geistes muss selbst in das System aufgenommen und dessen geschichtliche Bedeutung begriffen werden. Daran mangelt es der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre noch. Eine ausgewiesene Selbstableitung der Wissenschaftslehre gibt es in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre nicht.
GA I/2 (s. Anm. 1), 365,4– 5.
Protestantismustheorien im Deutschen Idealismus Die für eigenständiges vernünftiges Denken und Tun werbende Aufklärung gewann im Verlaufe des 18. Jahrhunderts in Deutschland auch auf die theologischen Diskussionen dominierenden Einfluss. Die polemischen Abgrenzungen der reformatorischen Konfessionskirchen und die internen Auseinandersetzungen dogmatischer Schulen und praktischer Frömmigkeitsstile wurden wachsend von den aufklärerischen Fragestellungen überformt. Die aufklärerischen Impulse, die kirchlichen und theologischen Angelegenheiten vor den Richterstuhl der Vernunft zu ziehen, bestimmte zunehmend auch die Anhänger überlieferter Kirchlichkeit in der Art ihrer Gegnerschaft.
1 Problemlagen Die Aufklärung markiert eine Grenzlinie. Die Kirchentümer mit ihren konfessionellen Glaubenslehren wurden wegen ihrer aus der Vernunft nicht ableitbaren, autoritativ gesetzten Wahrheitsansprüche kritisiert und in ihrer geschichtlichen Wandelbarkeit erkannt. Die gegeneinanderstehenden und teilweise blutig ausgetragenen Wahrheitsansprüche der Konfessionskirchen wurden auf einen allgemeinen Phänomenbereich Religion bezogen und an der Vernunft gemessen. Die Partikularität erschien nicht nur als politischer und sozialer Mangel, sondern auch als Defizit an Vernunft und Evidenz. Die Kirchenkritik der Aufklärung führte nicht nur frontal zur Bestreitung bestimmter Aussagen und Lehrzusammenhänge, sondern auch im Seitenblick zu einer Ermittlung des genetischen Gewordenseins. Angesichts dieser Relativierung der konfessionellen Glaubenssätze wurde die Frage nach dem identitätsstiftenden Prinzip dringlich, das die neuen Fragestellungen mit den tradierten Gewissheiten vermitteln und Perspektiven für die Zukunft aufzeigen konnte. Der Streit um das identitätsstiftende Prinzip galt der Feststellung der konstitutiven Überzeugungen und Anfangsmotive, die bei aller kritischen Abstoßung überholter Lehrsätze für das Selbstverständnis protestantischer Frömmigkeit unverzichtbar bleiben mussten. Wegen des landesherrlichen Kirchenregiments in den evangelischen Territorien, wie es 1555 und 1648 reichsrechtlich sanktioniert worden war, hatte die staatliche Religionspolitik nachhaltigen Einfluss auf die theologischen Diskussionslagen. Gefördert durch eine tolerante Religionspolitik konnte in Brandenburg-Preußen ein moderater Rationalismus breiten Einfluss gewinnen. Der Thronwechsel 1786 von Friedrich II. zu Friedrich Wilhelm II. brachte staatliche Restriktionsmaßnahmen auf religionspolitischem Gebiet: Das am 9. Juli 1788 erlassene „Edict, die Religions-Verfassung in den Preußischen Staaten betreffend“, üblicherweise benannt nach dem für das Geistliche Departement zuständigen Minister Johann Christoph Wöllner (1732– 1800), verpflichtete die drei staatlich geschützten Konfessionskirchen auf die Beibehaltung ihres alten Lehrbegriffs, verwarf alle aufklärerischen Neuerungen und https://doi.org/10.1515/9783110745498-019
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Protestantismustheorien im Deutschen Idealismus
schärfte bei Bejahung der inneren Gewissensfreiheit eine strikte Lehrbindung der Prediger ein.¹ Dieses Religionsedikt, das eine Flut von Streitschriften über die Befugnisse der Regierung in Glaubensdingen hervorrief, wurde ergänzt durch ein „Erneuertes Censur-Edict für die Preußischen Staaten exclusive Schlesien“² vom 19. Dezember 1788. Die weiterhin andauernden literarischen Auseinandersetzungen um die Aufklärung veranlassten am 9. April 1794 eine nochmalige Einschärfung und inhaltliche Näherbestimmung des preußischen Religionsedikts.³ Erst nach dem Thronwechsel im November 1797 von Friedrich Wilhelm II. zu Friedrich Wilhelm III. wurde durch die Kabinettsorder vom 12. Januar 1798 das Religionsedikt abgeschafft. Das Religionsedikt machte die protestantische Glaubens- und Gewissensfreiheit zum politischen und theologischen Problem. Die Frage der Verbindlichkeit der symbolischen Bücher gewann höchste Bedeutung, indem theologische Einstellungen und Beurteilungen direkte praktisch-politische Konsequenzen hatten. Die von der preußischen Regierung vorgenommene Einschränkung der Publikationsfreiheit fand auch die Missbilligung derjenigen, die keine Anhänger des antikirchlichen Rationalismus waren, wohl aber für eine Verbesserung der kirchlichen Lehre eintraten. Die Rückbesinnung auf die Reformation als Bollwerk gegen den Rationalismus ließ die Frage, wie die Überzeugungen und Lehren der Reformation zu beurteilen und was denn das eigentümlich Protestantische sei, zu einem grundsätzlichen Problem werden. Die Frage nach dem Prinzip des Protestantismus (oder: nach dem protestantischen Prinzip) setzt voraus, dass die Lehrbildungen der Reformation, wie sie in den Bekenntnisschriften niedergelegt sind, in Bejahung und Bestreitung keine selbstverständliche Geltung mehr haben. Die Kritik an bestimmten kirchlichen Lehrsätzen führte teilweise zu einer Rückbesinnung auf die Anfänge und die wesentlichen Motive der Reformation, um ein mehr oder minder explizites Abstandsbewusstsein gegenüber den Konfessionskirchen, das nicht nur in der Außenwahrnehmung bei den Religionskritikern, sondern positiv oder negativ auch in der Binnenwahrnehmung der Theologen wirksam war, zu überwinden. Die Frage nach dem protestantischen Prinzip ist die Frage nach der Selbstidentifikation der evangelischen Theologie. Eine literarische Kontroverse der Jahre 1800/ 1801 hat die Diskussion um das eigentümliche Prinzip des Protestantismus vermutlich in Gang gesetzt. Der Dresdner Oberhofprediger Franz Volkmar Reinhard (1753 – 1812) empfahl in seiner am 31. Oktober 1800 gehaltenen Reformationspredigt nachdrücklich Luthers Theologie und behauptete, dass sich die protestantische Kirche auf der Erneuerung des Rechtfertigungsglaubens gründe und dass der Lehrsatz von der freien
Vgl. Dirk Kemper, Hg., Mißbrauchte Aufklärung?: Schriften zum preußischen Religionsedikt vom 9. Juli 1788. 118 Schriften auf 202 Mikrofiches, Begleitband, Hildesheim: Olms, 1996, 226 – 234, besonders §§ 6 – 8. Kemper, Mißbrauchte Aufklärung?, 235 – 243. Vgl. „Neues Religionsedikt der Königl. Preußischen Lande [= Umständliche Anweisung für die Evangelisch-Lutherischen Prediger in Königl. Preussischen Landen zur gewissenhaften und zweckmässigen Führung ihres Amts],“ in Kemper, Mißbrauchte Aufklärung? (s. Anm. 1), 244– 258.
1 Problemlagen
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Gnade Gottes in Christus das Zentrum der protestantischen Lehre sei.⁴ Diese in Sachsen auf Staatskosten gedruckte und an die Theologenschaft verteilte Predigt rief einen heftigen literarischen Streit hervor.⁵ Der Altdorfer Theologieprofessor Johann Philipp Gabler (1753 – 1826) setzte die These dagegen, dass das höchste protestantische Prinzip die evangelische Freiheit in Glaubensdingen sei, während die Rechtfertigungslehre, die von Luther polemisch gegen den Ablass formuliert worden sei, nur eine geschichtlich bedingte Geltung habe.⁶ Der Protestantismus sei allerdings nicht nur durch die menschliche Autoritätsfreiheit, sondern auch durch die Anerkennung der Heiligen Schrift in ihrem göttlichen Ansehen und ihrer regelhaften Auslegung charakterisiert. Seine doppelte Frontstellung gegen wortgläubige Traditionalisten und vernunftgläubige Rationalisten fasste Gabler in dem Satz zusammen: „Unabhängigkeit von aller menschliche Autorität in Glaubenssachen, und Freiheit der Bibelerklärung nach richtigen Auslegungsregeln ist also die Basis der protestantischen Religion und Kirche.“⁷ Gabler forderte die Publikationsfreiheit gelehrter Religionsuntersuchungen und lehnte eine alleinige Schiedsgerichtsbefugnis der Vernunft ab.⁸ Die Unterscheidung von formalem und materialem Prinzip des Protestantismus hat vermutlich 1816 Schleiermachers Berliner Kollege Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780 – 1849) in seinem Lehrbuch der christlichen Dogmatik in die theologische Diskussion eingeführt,⁹ indem er den Protestantismus durch ein doppeltes Prinzip charakterisiert: Das Princip des Protestantismus als Erscheinung (materiales Princip) ist die Lehre von der freyen Gnade Gottes in Christo und der Rechtfertigung durch den Glauben. Die Darstellungs- und Auf-
Franz Volkmar Reinhard, „Wie sehr die protestantische Kirche Ursache habe, es nie zu vergessen, sie sei ihr Dasein vornehmlich der Erneuerung des Lehrsatzes von der freien Gnade Gottes in Christo schuldig,“ in Predigten im Jahre 1800, bei dem kurfürstlich-sächsischen evangelischen Hofgottesdienste zu Dresden gehalten, Bd. 2, Amberg / Sulzbach: Seidel, 1801, 270 – 295. Vgl. Paul Gabriel, „Der Streit um Reinhards Reformationsfestpredigt vom Jahre 1800,“ Zeitschrift für Kirchengeschichte 41 (1922): 94– 131. Vgl. Johann Philipp Gabler, „Nachtrag des Herausgebers zur Rezension von D. Fr. Reinhards Predigt am Gedächtnistage der Kirchenverbesserung 1800,“ Neuestes theologisches Journal 7 [= Journal für theologische Literatur 1] (1801): 538 – 579, bes. 569 – 570. Johann Philipp Gabler, „Ueber die Gränzen der Kirchengewalt Protestantischer Consistorien und Kirchenvorsteher über die Religionslehrer in Glaubenssachen,“ Neuestes theologisches Journal 7 [= Journal für theologische Literatur 1] (1801): 449 – 531, 457. Vgl. Gabler, Gränzen der Kirchengewalt, 465. 473. Emanuel Hirsch vermutet, dass Karl Gottlieb Bretschneider (1776 – 1848), ein rationaler Supranaturalist, der die Dogmatik als systematische und prüfende Darstellung der lutherischen Glaubensaussagen, wie sie durch die Bekenntnisschrift sanktioniert sind, versteht, mit seiner Schrift Handbuch der Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche (2 Bde, Leipzig: Barth, 1814/18) der Urheber der „Lehre von den zwei Prinzipien des Protestantismus“ (Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, 5 Bde, Gütersloh: G. Mohn, 51975, Bd. 5, 63) sei. Gegen Hirschs historische Anfangsbestimmung spricht, dass Bretschneider zwar die alten philosophischen Schulbegriffe Form und Materie aufnimmt, diese aber nicht auf die Heilige Schrift und die Rechtfertigungslehre bezieht.
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fassungsweise wie beym Christenthum überhaupt, ethisch-dogmatisch, eigenthümlich aber ist ihm die Kritik. Das formale (subjektive, erzeugende) Princip ist Selbständigkeit, Wahrheitsliebe, Regsamkeit des Gewissens, sittlicher Ernst. In ästhetischer Hinsicht ist die Andacht und Resignation vorherrschend.¹⁰
Die Unterscheidung von formalem und materialem Prinzip, durch die de Wette die motivierende Befindlichkeit des Subjekts (formales Prinzip) vom konstruktiven Zentrum des objektiven Lehrgehalts (materiales Prinzip) abhebt, wurde in der weiteren theologischen Diskussion zumeist als Nebeneinander von Schriftprinzip (Erkenntnisprinzip, principium cognoscendi) und Rechtfertigungsprinzip (Materialprinzip, principium essendi) verstanden.¹¹ Die Diskussion um das protestantische Prinzip hat die Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts begleitet.¹² Das theoretische Bemühen um den Protestantismus bekommt eine radikale Vertiefung, wenn das geschichtliche Gewordensein der eigenen Kulturlage wahrgenommen und in die Theoriebildung aufgenommen wird. Diese Selbstwahrnehmung kennzeichnet den Überschritt von der Aufklärung zum Deutschen Idealismus. In den philosophischen Konzeptionen des Deutschen Idealismus am Ausgang des 18. Jahrhunderts und im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden kritische Impulse der Aufklärung mit konstruktiven Impulsen vornehmlich der Geschichtsphilosophie verschmolzen. Die unübersehbaren geschichtlich-kulturellen Umbrüche gegen Ende des 18. Jahrhunderts drängten zu neuen Formulierungen der gesellschaftlichen und kirchlich-theologischen Leitideen. Dies soll an Kant, Fichte und Hegel dargestellt werden. In den philosophischen Diskussionen des Deutschen Idealismus wurden vornehmlich die kulturell-politischen Einflüsse des Protestantismus thematisiert, die aus den staatskirchlichen institutionellen Regelungen herrührten. Dadurch, dass der Protestantismus die Heilige Schrift ins Zentrum der Frömmigkeit gerückt hatte, waren
Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Dogmatik der evangelischen-lutherischen Kirche nach den symbolischen Büchern und den älteren Dogmatikern. Zum Gebrauch akademischer Vorlesungen, Bd. 2, Lehrbuch der christlichen Dogmatik, in ihrer historischen Entwickelung dargestellt, Berlin: Realschulbuchhandlung, 1816, § 20.42. August Detlev Christian Twesten hat in seinen Vorlesungen über die Dogmatik der EvangelischLutherischen Kirche (2 Bde, Hamburg: Perthes, 1826) de Wettes Charakterisierung von „Princip und Charakter des Protestantismus“ genauer ausgeführt und dabei der Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip die später übliche Prägung gegeben (vgl. Bd. 1, 277– 285). Vgl. beispielsweise Isaak August Dorner, „Ueber das innere Verhältniß des formalen und materialen Princips unsrer Kirche zu einander,“ Theologische Mitarbeiten 4 (1841): 1– 80; Carl Beck, „Das Princip des Protestantismus: Anfrage in einem Schreiben an D. Ullmann,“ Theologische Studien und Kritiken 24 (1851): 408 – 411; Albrecht Ritschl, „Ueber die beiden Principien des Protestantismus: Antwort auf eine 25 Jahre alte Frage,“ Zeitschrift für Kirchengeschichte 1 (1876/77): 397– 413. Eine Darstellung der Diskussion um das Prinzip des Protestantismus findet sich bei Christine Axt-Piscalar, Der Grund des Glaubens: Eine theologiegeschichtliche Untersuchung zum Verhältnis von Glaube und Trinität in der Theologie Isaak August Dorners, Beiträge zur Historischen Theologie 79, Tübingen: MohrSiebeck, 1990, 7– 27.
2 Autoritätsmacht
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das Lesen und Verstehen der Bibel, damit aber auch die Etablierung von Bildungseinrichtungen und die Formulierung von Verstehensregeln vorzüglich wichtig. Das Schriftprinzip, das wegen seiner theologischen Autoritätsfunktion und seiner bildungspraktischen Wirkmacht beachtet werden musste, drängte zu einer kritischen Hermeneutik. Das Spannungsgeflecht von Autorität und Gewissensfreiheit wurde hinsichtlich der restriktiven oder emanzipativen Impulse untersucht, die dem Protestantismus für die Gestaltung der Sozialität zugemessen wurden.
2 Autoritätsmacht Immanuel Kant (1724– 1804) hat mit seinen vernunftkritischen Schriften im Themengebiet der Ethik ebenso tiefgreifende Umwälzungen hervorgerufen wie in dem der Metaphysik. Die in seiner Vernunftkritik formulierten Leitideen und die dort entwickelte Methodik wandte Kant auch auf die Religionsthematik an. Das brachte ihn in Konflikt mit der staatlichen Zensur. Als Kant 1793 in Jena außerhalb Preußens seine vierteilige Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ¹³, deren Titel zugleich Programm und konfliktvermindernde Selbstbegrenzung ist, einschließlich des von der preußischen Zensur bereits abgelehnten zweiten Teils erscheinen ließ, erhielt er durch die Kabinettsordre vom 1. Oktober 1794 einen scharfen Verweis, und erklärte er König Friedrich Wilhelm II. einen Publikationsverzicht zu Religionsthemen.¹⁴ In Kants Religionsschrift ist der Protestantismus das selbstverständliche Gegenüber, das aber in den typisierten Aussagen zum Kirchenglauben nicht besonders hervortritt. Kant geht in seiner Interpretation der Ekklesiologie, wonach die Kirche ein „ethisches gemeines Wesen unter der göttlichen moralischen Gesetzgebung“¹⁵ sei und der Realisierung des guten Prinzips auf Erden diene, eher beiläufig auf den Protestantismus ein. In Anwendung der Kategorientafel sieht Kant die wahre Kirche quantitativ durch Einheit und Allgemeinheit (gegen konfessionelle Spaltung), qualitativ durch Lauterkeit als rein moralisch motivierter Vereinigung (gegen Aberglauben und Schwärmerei), relational durch innere und äußere Freiheit (gegen Hierarchie) und modal durch Unveränderlichkeit der Konstitution bestimmt.¹⁶ Die Kirche müsse eine durchaus andere Verfassung als das politische Gemeinwesen haben. Sie sei weder monarchisch noch aristokratisch noch demokratisch. Vielmehr sollte sie am ehesten einer Hausgenossenschaft oder Familie vergleichbar sein, wo alle untereinander „in
Vgl. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Bd. 6, Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe, Berlin: G. Reimer, 21914, 1– 202 (= GS 6). Vgl. Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, Bd. 7, Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe, Berlin: G. Reimer, 21917, 1– 115, 6 – 10. GS 6, 101,7– 8. Vgl. GS 6, 101– 102.
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eine freiwillige, allgemeine und fortdauernde Herzensvereinigung treten“¹⁷. Die Entwicklung der Religion ziele auf die Etablierung des Reiches Gottes. Angesichts der sinnlich-intellektuellen Verfasstheit des Menschen sei der statutarisch-doktrinale Kirchenglaube nicht nur ein zu überwindendes Beiwerk des wahren Religionsglaubens, sondern ein dauerndes Beförderungsmittel des authentischen Vernunftglaubens. Dadurch, dass Kant den in Statuten gefassten Kirchenglaube als Mittel wertet, den reinen moralischen Vernunftglauben zu fördern, verliert seine Stellung zu traditionellen kirchlichen Lehraussagen die von manchen Zeitgenossen gewünschte Eindeutigkeit der Ablehnung. Für Kant ist die kritisch-sichtende vernünftige Interpretation kirchlicher Lehrsätze ein sinnvolles Unternehmen, um mit Hilfe einer Antinomie den Übergang vom geschichtlich-doktrinalen Kirchenglauben zum authentisch-reinen Religionsglauben verständlich zu machen und voranzubringen. Kants kritische Prüfung und Umbildung wurde als Zerstörung christlicher Theologie oder auch als deren reinigende Umformulierung eingeschätzt. Kant betont den Vorrang der moralischen Vernunftreligion vor der sie unterstützenden Kirchenlehre, die ja der Gelehrten „als Ausleger und Aufbewahrer bedarf“ ¹⁸. Zum Missstand werde die Ordnung von Religion und geschichtlich bedingter Kirche, wenn die Überordnung der natürlichen Religion bestritten wird und der Offenbarungsglaube einen Vorrang erhalte. Der Dienst der Kirche in der Unterstützung des guten Prinzips werde dann verkehrt in eine Beherrschung ihrer Mitglieder, weil bestimmte Sätze weder durch die Vernunft beglaubigt noch die Heilige Schrift ohne Gelehrsamkeit verstanden werden könnten. Kant äußert eine Hochschätzung des Christentums und verurteilt dessen konfessionelle Spaltung. Bei Kants Hochschätzung der Heiligen Schrift und seiner Geringschätzung des statutarischen Kirchenglaubens ist vorrangig, dass die christliche Kirche als geschichtliche Äußerung des wahren moralischen Glaubens (Religionsglaubens) und als ethisches Gemeinwesen verstanden werden kann Kant akzeptiert das faktische Vorhandensein des statutarischen Kirchenglaubens, der vom allgemeinen Vernunftglauben her zu interpretieren sei, aber er verwahrt sich gegen die Absolutsetzung der moralisch indifferenten Handlungen gottesdienstlicher Kultübungen. In der Heiligen Schrift, die Kant der Tradition vorzieht, sieht er den Glücksfall, dass ein solches zu Händen gekommenes Buch neben seinen Statuten aus Glaubensgesetzen zugleich die reinste moralische Religionslehre mit Vollständigkeit enthält, die mit jenen (als Vehikeln ihrer Introduction) in die beste Harmonie gebracht werden kann, in welchem Falle es sowohl des dadurch zu erreichenden Zwecks halber, als wegen der Schwierigkeit, sich den Ursprung einer
GS 6 (s. Anm. 13), 102,27—28. GS 6, 165,5.
3 Bildungsmacht
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solchen durch dasselbe vorangegangenen Erleuchtung des Menschengeschlechts nach natürlichen Gesetzen begreiflich zu machen, das Ansehen gleich einer Offenbarung behaupten kann.¹⁹
Kant verwahrt sich gegen den Allgemeinheitsanspruch einer geschichtlich besonderen Kirchengemeinschaft, weil deren besonderer Offenbarungsglaube „als historisch nimmermehr von jedermann gefordert werden kann“²⁰. Er bestreitet damit auch die Legitimität der in den partikularen Kirchengesellschaften üblicherweise vollzogenen Ausgrenzungen der Ungläubigen, Irrgläubigen und Ketzer. Kant lehnt jeglichen selbstbehaglichen Konfessionalismus ab und dringt auf die verpflichtende ethische Allgemeinheit der Kirche. Kant kritisiert am römischen Katholizismus die verfehlte politische Verfassungsausrichtung der Kirche im Papsttum. Dadurch werde gegen die Freiheit verstoßen. Indem Kant die konfessionellen Selbstbezeichnungen als katholisch und protestantisch einfach wörtlich nimmt, bricht er die konfessionelle Frontstellung auf; er beobachtet „manche rühmliche Beispiele von protestantischen Katholiken und dagegen noch mehrere anstößige von erzkatholischen Protestanten“²¹. Da der Katholizismus für seinen Kirchenglauben Allgemeinverbindlichkeit beanspruche und der Protestantismus sich gegen solche Ansprüche verwahre (und dafür das Panier der Freiheit hochhalten müsse), so seien protestantische Katholiken auf dem Weg der Erweiterung der Denkfreiheit, während katholische Protestanten diese Denkfreiheit einzuschränken trachteten. Kant sah den Protestantismus primär als Autoritätsmacht, dessen Ansprüche auf Reglementierung der wissenschaftlichen Erkenntnis er zurückwies. Die religiöse Bindung sittlicher Lebenspraxis stellte Kant gegen die konfessionellen Kirchentümer unter die Leitidee der Kirche als moralisch-freier Gesellschaft. Am konfessionellen Protestantismus kritisierte er den Widerstand gegen das aufklärerische moralische Verständnis der Religion.
3 Bildungsmacht Johann Gottlieb Fichte (1762– 1814) sah den Protestantismus vornehmlich als geschichtliche Bildungsmacht – mit positiven und negativen Wirkungen. Die Erneuerung des Bildungswesens sei von Inkonsequenzen und neuen autoritären Beschränkungen begleitet gewesen. In seiner 1793 anonym publizierten, stark beachteten Schrift Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die Französische Revolution entwickelte Fichte einen ethisch orientierten Kirchenbegriff, der in undeutlicher Spannung zum nor-
GS 6 (s. Anm. 13), 107,18 – 25. GS 6, 108,24– 25. GS 6, 109,11– 13.
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Protestantismustheorien im Deutschen Idealismus
mativen Bezug auf die konfessionellen Kirchentümer steht.²² Die Einheit, Allgemeinheit und Unveränderlichkeit der Wahrheit führe zum Glauben an die eine unsichtbare Kirche, in der alle vernünftigen Geister in gleichem einsichtigen Glauben direkt vereinigt seien. Weil die Menschen sich hinsichtlich aller Gegenstände wechselseitig der Übereinstimmung ihres Denkens zu vergewissern suchten, bestehe ein Hang, die unsichtbare Kirche zu einer sichtbaren zu machen und „jene Idee in der Sinnenwelt wirklich darzustellen; nicht bloß zu glauben, daß der andere Glaube, wie Er, sondern auch, insoweit das irgend möglich ist, es zu wissen“ ²³. Gemäß dem Gründungsvertrag der sichtbaren Kirche müssten sich die Kirchenmitglieder wechselseitig wahrhaftig bekennen, was sie jeweils glauben, um so zur Einmütigkeit in den Glaubenssätzen zu kommen. Unter naturrechtlichem Gesichtspunkt gelte die Freiheit des Glaubens und des Gewissens jedes Menschen gegenüber der Kirche.²⁴ Eine Verwicklung kommt nach Fichte dadurch zustande, dass zwischen den Kirchenmitgliedern eine feste Bekenntnisformulierung vereinbart wird. Deren Vorgegebenheit stoße sich mit der Verpflichtung zur Aufrichtigkeit des jeweiligen Bekenntnisses. Ein Widerspruch könne nur vermieden werden, wenn erstens angenommen werde, dass das faktisch vorgegebene Glaubensbekenntnis zweifellos die reine Wahrheit ausspreche, welche jeder bei seiner Wahrheitssuche notwendig finden müsse, und wenn zweitens angenommen werde, dass jeder Mensch bei gutem Willen und wacher Aufmerksamkeit diese Überzeugung in sich hervorbringen könne.²⁵ In der römisch-katholischen Kirche sieht Fichte den Prototyp der sichtbaren konfessionellen Kirche. Hier sei die Glaubenspflicht und der exklusive Wahrheitsanspruch gegeben, hier würden mit Autorität Glaubensgesetze erlassen, hier sei konsequenterweise das innere Richteramt Gottes zu einem Richteramt der Kirche veräußerlicht, hier seien, um die Herzensreinheit an äußeren Zeichen feststellen zu können, dem Willen und dem Verstand harte Auflagen gemacht.²⁶ Die römische konfessionelle Autoritätskirche nimmt Fichte in einer negativen Fixierung, die die ethische Begründung der Kirche ausblendet, zum Maßstab dessen, was sichtbare Kirche ist und sein muss. Den strengen konfessionellen Kirchenbegriff reserviert Fichte für den römischen Katholizismus. Da die protestantischen Gemeinden kein untrügliches bischöfliches Richteramt kennten, sollten sie sich selber auch nicht als konfessionelle Kirchen verstehen.²⁷
Johann Gottlieb Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die Französische Revolution. Erster Theil: Zur Beurtheilung ihrer Rechtmäßigkeit, Bd. I/1, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 1. Reihe: Werke, hg.v. Hans Jacob / Reinhard Lauth, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1964, 203 – 404, bes. 370 – 403 (= GA I/1). GA I/1, 372,12– 15. Vgl. GA I/1, 384,21– 24. Vgl. GA I/1, 373,19 – 26. Vgl. GA I/1, 375 – 376. Vgl. GA I/1, 390,15 – 17.
3 Bildungsmacht
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Die lutherische und die reformierte Kirche hält Fichte für durchaus inkonsequent. Die kirchliche Autorität werde bestritten und zugleich durch die symbolischen Bücher beziehungsweise das Schriftprinzip wieder eingeführt.²⁸ Denjenigen, die auf die symbolischen Bücher verpflichten wollten, mangele es an Einsicht. Entweder müsste zum gröbsten Katholizismus übergegangen werden, oder es müsste der freien Forschung des Geistes Raum gegeben werden, dann seien die Gemeinden Lehranstalten im Sinne der Vernunft und des freien Geistes. Die Reformatoren waren die erklärtesten Freigeister; und vielen würdigen Männern hat es geschienen, daß der Protestantismus überhaupt nichts als Freigeisterei sey, d. h., daß der Protestant alles von sich weisen müsse, wovon er sich nicht selbst überzeugen könne. Da ich wünsche, daß sie consequent wären, so möchte ich wohl, daß es so wäre.²⁹
Gegen den konfessionellen Protestantismus erinnert Fichte an die Reformation, die die autoritäre konfessionsfixierte Kirche letztlich vernichtet habe.³⁰ Fichte, der starke freimaurerische Interessen und Verbindungen hatte, lag während seiner Jenenser Lehrtätigkeit häufiger im Streit mit amtlichen Vertretern des konfessionellen Protestantismus. Der Atheismusstreit brachte scharfe literarischtheologische Kontroversen und die Amtsenthebung. Fichtes Vorrangstellung unter den Verfechtern der Transzendentalphilosophie ging im Streit mit Reinhold und Schelling verloren. Deshalb ist Fichtes 1804 geäußerte messianische Selbsteinschätzung, die Wissenschaftslehre in eine vollkommene Prinzipienfassung gebracht und damit ein neues Zeitalter der Wissenschaft eröffnet zu haben, nicht frei von Kränkung und Irritation. Die Vorrede der öffentlichen Vorlesungen Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (gehalten im Winter 1804/05 in Berlin, publiziert 1806) endet mit einer Publikumsbeschimpfung: „Ich habe darum, bei der Herausgabe dieser Schrift, dem Publikum nichts weiter zu sagen, als daß ich ihm nichts zu sagen habe.“³¹ Fichte begreift den Protestantismus als wirkmächtigen Bildungsimpuls, der die Genese der zeitgenössischen Kulturlage maßgeblich geprägt habe. Fichte beurteilt seine Zeitgenossenschaft als das dritte Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit, über das hinaus die Wissenschaftslehre ins vierte Zeitalter der anhebenden Rechtfertigung führe. Aus dem Gegensatz von Vernunftinstinkt und Vernunftwissenschaft konstruiert Fichte apriorisch die Abfolge von fünf Zeitaltern (Unschuld, anhebende Sünde, vollendete Sündhaftigkeit, anhebende Rechtfertigung, vollendete Rechtfertigung) für den Entwicklungsgang der Menschheit zum Ziel allseitiger vernünftiger Freiheit.³²
Vgl. GA I/1 (s. Anm. 22), 381– 382. GA I/1, 391 Anm. Vgl. GA I/1, 367,16 – 19. Johann Gottlieb Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, Bd. I/8, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 1. Reihe: Werke, hg.v. Hans Gliwitzky / Reinhard Lauth, Stuttgart / Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1991, 141– 398, 191,7– 9 (= GA I/8). Vgl. GA I/8, 201,7– 23.
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Protestantismustheorien im Deutschen Idealismus
Das zeitgenössische dritte Zeitalter ist für Fichte das Zeitalter des Buchstabens, das die wahre Wissenschaft, wie sie Fichte in seiner Wissenschaftslehre vorträgt, abwehrt und sich gegen deren Geist verschließt. Das Zeitalter des Buchstabens verweigere jeden spekulativen Gedanken und berufe sich allein auf eine geistlose Sinneswahrnehmung. Bei der geschichtlichen Etablierung dieses Zeitalters sei der Protestantismus maßgeblich beteiligt gewesen. Die Reformation hat nach Fichte die elementare Fehlentwicklung des Christentums nicht behoben, die daraus resultiere, dass der ursprüngliche Antagonismus zwischen der paulinischen und johanneischen Denkschule zugunsten des Paulinismus und seines vernünftelnden Raisonnements entschieden worden und dadurch die vorchristliche Vorstellung von einem willkürlich handelnden Gott erhalten geblieben sei. Den Konfessionskirchen wirft Fichte vor, die Widersprüche des Paulinismus zu perpetuieren. Die Reformation habe die autoritären Strukturen nicht zugunsten des vom Johanneismus geübten geistvollen Begreifens und Selbstdenkens verändert, sondern nur das Objekt des unbegreiflichen Kirchenglaubens korrigiert, „indem sie die Unfehlbarkeit der mündlichen Tradition, und der Concilien-Satzungen, verwarf, und nur auf der des geschriebenen Wortes bestand.“³³ Fichte sieht im reformatorischen Schriftprinzip sola scriptura den entscheidenden Impuls zur unbedingten Wertschätzung des Buchstabens. Lediglich durch diese vom Protestantismus angeregte Sorge für das Christenthum, auf dem Wege der Bibel, hat der Buchstabe den hohen, und allgemeinen Werth erhalten, den er seitdem hat; er wurde das fast unentbehrliche Mittel zur Seeligkeit, und ohne Lesen zu können, konnte man nicht länger füglich ein Christ seyn, noch in einem christlich-protestantischen Staate geduldet werden. Daher nun die herrschenden Begriffe über Volks-Erziehung; daher die Allgemeinheit des Lesens, und Schreibens.³⁴
Im Zuge der weiteren geschichtlichen Entwicklung sei dann das Mittel zum Zweck geworden. Die säkularisierende Aufklärung habe die religiösen Bezüge der Lesekultur getilgt, der ursprünglich religiöse Zweck der Bildung sei vergessen worden. In seinem System der Sittenlehre von 1812 untersucht Fichte die Bedeutung der Kirche für die Sittlichkeit und die Anforderungen, die an kirchliche Symbole zu stellen sind. Fichte begreift die Kirche als die moralisch gebotene Instanz, die die Wechselwirkung zwischen den sittlichen Subjekten dadurch befördert, dass sie ein „gemeinschaftliches sittliches Grundbewußtsein“³⁵ in Analogie zum sinnlichen Grundbewusstsein schafft. Da jedes sittliche Subjekt in seinem Lebenskreis nicht nur durch Taten, sondern auch durch Worte und Impulse des Begreifens auf die sittliche Willensbildung aller einzuwirken sich bemühen solle, sei für diese wechselseitige Mit GA I/8 (s. Anm. 31), 273,4– 6. GA I/8, 273,30 – 36. Johann Gottlieb Fichte, „Das System der Sittenlehre.Vorgetragen von Ostern bis Michaelis 1812,“ In Vermischte Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 11, Sämmtliche Werke, hg.v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin: De Gruyter, 1971, 102– 118, 103 (= SW 11).
3 Bildungsmacht
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teilung ein gemeinschaftliches sittliches Grundbewusstsein vonnöten, mittels dessen im wechselseitigen Gespräch jede Person die anderen zu den geforderten Begriffsbildungen veranlassen könne. Zur Abkürzung des Mitteilungsverfahrens müssten, weil nicht alle immer neu das moralische Prinzip aus der Wurzel herleiten könnten, bestimmte Einigungspunkte formuliert werden, die sich in länger andauernder Wechselwirkung bewährt hätten. Diese kontinuierliche Wechselwirkung müsse im kulturgeschichtlichen Gedächtnis der Menschheit niedergelegt werden. Einverständnisse über das Handeln würden in der Sitte tradiert und im staatlichen Gesetz ausgesprochen. Einverständnisse über die Einsicht würden im Symbol niedergelegt und in der Kirche sozial aufbewahrt.³⁶ Wegen der Perfektibilität der menschlichen Einsichten im Kommunikationsprozess der Individuen und Generationen muss nach Fichte auch das Symbol als verbesserungsfähig gedacht werden. In diesem Sinne sei die Frage nach der verpflichtenden Kraft des Symbols zu behandeln, ob der sittliche Wille in der Kommunikationsgemeinschaft an das Symbol gebunden sei. Das Symbol ist nach Fichte keine Anweisung für konkretes Tun, sondern formuliert eine Gesinnung, nämlich die verpflichtende Bezogenheit des Menschen auf das übersinnlich Erhabene. Da das Einverständnis aller für das Symbol, das durch genialische Offenbarungen zustande komme, konstitutiv sei, seien die faktischen Symbole der geschichtlichen Kirchengesellschaften nur Notsymbole, an die die wissenschaftlichen Untersuchungen mit dem Ziel einer Weiterentwicklung des formulierten Symbols anknüpfen könnten. Im Notsymbol sei die Offenbarung, die an einzelne Individuen ergangen sei, nicht adäquat formuliert, weil diese Individuen sich selbst dem Begreifenshorizont ihrer Zeitgenossen anpassen müssten. Die vom historischen Gedächtnis innerhalb der Kirchengesellschaften aufbewahrten geschichtlichen Einzelheiten, die teilweise auch in Notsymbole aufgenommen worden seien, seien nur insofern bedeutungsvoll, als sie mit dem Autoritätsglauben zugleich die sittliche Erkenntnis beförderten. Fichte gibt der Vernunft und der von ihr geleiteten Philosophie das höchste Richteramt in allen Glaubenssachen. Der auf ein Notsymbol fixierte Autoritätsglaube könne die Legitimitätsfrage zwar abweisen, aber nicht zum Verstummen bringen. Umgekehrt bleibe die Philosophie an die Kirche gebunden. Zur Kirchenmitgliedschaft bestehe eine allgemeine moralische Verpflichtung, die auch für die Philosophen gelte. Alle Philosophie darum, obwohl sie in Absicht der Form weghebt durchaus über alle Kirche, geht dennoch ihrem faktischen Sein nach aus von der Kirche und ihrem Prinzip, der Offenbarung. Der Philosoph ist darum und bleibt Mitglied der Kirche, denn er ist im Schoße der Kirche notwendig erzeugt, und von ihr ausgegangen.³⁷
Vgl. SW 11 (s. Anm. 35), 104. SW 11, 115.
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Protestantismustheorien im Deutschen Idealismus
Das Symbol verpflichte nicht auf wörtliche Weitergabe, erlaube aber auch keine direkte Bestreitung, sondern sei der Ausgangspunkt für die wissenschaftlichen Untersuchungen des gebildeten Publikums innerhalb der Kirche. Auch wenn der Hauptzweck der Kirche die direkte prägende Einwirkung auf die innere Überzeugung aller, auch der ungelehrten, Kirchenmitglieder sei, habe die historische Überlieferung der anfänglichen Offenbarung einer bestimmten Kirchengesellschaft, habe das historische Studium für das gelehrte Publikum insofern doch größere Bedeutung, als hier ein kritisches Prinzip zur Prüfung der geschichtlichen Weiterentwicklungen des Symbols vorliege. Fichte versteht das protestantische Schriftprinzip als kritisches Korrektiv gegenüber den jeweilig zeitgenössischen Symbolformulierungen. Eine Verpflichtung wiederum auf die reformatorische Interpretation des Symbols widerspräche dem reformatorischen Prinzip. Eine letztgültige Interpretation des Symbols könne es nicht geben. Das reformatorische Prinzip erfordere immer neue historische Erforschung der Anfangsurkunden und eine entsprechende immer neue interpretatorische Bemühung um die Formulierung des Symbols. Schon in seinen Reden an die deutsche Nation (gehalten im Winter 1807/08 in Berlin, publiziert 1808) hatte Fichte Luthers zukunftsweisenden Impuls für die „Freiheit der Kinder Gottes“ in das Lob zusammengefasst: „Er ist hierin das Vorbild aller künftigen Zeitalter geworden“³⁸. In seiner 1813 gehaltenen Vorlesung über Geschichtsphilosophie verstärkte Fichte seinen affirmativen Bezug auf das Christentum und speziell auch auf den Protestantismus.³⁹ Die Zeitenwende von alter und neuer Welt datierte er nun in die Wirksamkeit Jesu Christi. Dem Protestantismus, der von der innigen Verwandtschaft zwischen Reformation und moderner Philosophie geprägt sei, sprach Fichte nun Katholizität zu. Verstand in Anwendung auf das Christenthum, und Protestantismus ist ganz dasselbe; daher der moderne Philosoph und Gelehrte nothwendig ein Protestant ist. Die Protestanten sind die wahren katholischen; denn sie tragen das Princip der Gemeingültigkeit, Allgemeinheit in sich.⁴⁰
Im Christentum wird Gott nach Fichte nicht als willkürlicher Herrscher vorgestellt, der als unbegreiflicher Beginner von Natur und Geschichte mit Zwangsgewalt die Dinge reguliere und ein gegebenes Sein ordne, sondern als willkürloser Gewährer der Freiheit. Das Christentum sei auf Werden bezogen, nicht auf Sein. Das durch „das Evangelium der Freiheit und Gleichheit“⁴¹ konstituierte Christentum sei für Einsicht Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation, Bd. 7, Sämmtliche Werke, hg.v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin: Veit, 1846, 257– 499, 350 (= SW 7). Die im Jahr 1813 unter dem Titel Vorträge verschiedenen Inhalts aus der angewendeten Philosophie gehaltene Vorlesung wurde von Fichtes Sohn Immanuel Hermann Fichte erstmalig 1820 unter dem Titel Die Staatslehre veröffentlicht (Berlin: Reimer), dann erneut in Sämmtliche Werke, Bd. 4, Berlin: Veit, 1845 (= SW 4), 367– 600, und ergänzt in SW 7, 597– 613. SW 7, 609. SW 4, 523.
4 Freiheitsmacht
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und Vernunft erschlossen. Jeder Christ solle für sich selbst den Willen Gottes begreifen und diesen so verstandenen Willen durch die Freiheit wirklich werden lassen. Um das Himmelreich zu befördern, müsse das freie Subjekt den selbstsüchtigen Eigenwillen aufgeben und sich dem Willen Gottes anheimgeben. Für Fichte ist die religiöse Überzeugung mit einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung korreliert. Das Himmelreich sei mit dem Reich des Rechts identisch; der dem Christentum adäquate Staat sei ein Staat der Freiheit. Doch sei nach dem Untergang des Heidentums der mit der heidnischen Religion innig verwobene Zwangsstaat zunächst übergangsweise erhalten geblieben, indem das Christentum den Aberglauben assimilierte. Die Reformation habe eine markante Wende des Christentums gebracht, eine Wandlung der christlichen Kirche in ihrem Verhältnis zu sich und damit auch in der Ausgestaltung des Staats. Der freie Verstandesgebrauch, der im Humanismus an weltlichen Dingen geübt worden sei, ohne dass die religiösen Dinge davon betroffen gewesen wären, sei nun auf die Kirche selbst angewandt worden. Indem die Reformation die normierende Kraft der Tradition und der kirchlichen Satzungen bestritten und die der biblischen Aussagen ins Zentrum gerückt habe, sei die autoritative Auslegung der ursprünglichen Glaubensdokumente weggefallen und dadurch der Verstand in die Position des Schriftenerklärers eingesetzt worden.⁴² Die so in Gang gesetzte Aufklärung habe Staat und Kirche auseinandertreten lassen und befördere die eigenständige freiheitliche Entwicklung des Staats. Die Kirche unterstütze mit ihrer vernünftigen Offenbarungseinsicht die Gesellschaftsprozesse, durch die die Zwangsmaßnahmen des Staates schließlich auf Grund der freien Zustimmung zur christlichen Überzeugung nicht mehr gebraucht und damit überflüssig würden. Mit der Ausbreitung des christlich inspirierten Verfassungsstaates werde schließlich Friede und Zusammenleben in der gesamten Menschheit verwirklicht.⁴³ Fichte billigte dem Protestantismus in wachsendem Maße eine freiheitsfördernde und friedensstiftende Kraft zur Entwicklung einer moralischen Gesellschaft zu. Nicht spannungslos zur Vernunft, aber doch erschlossen für die Vernunft konnte er die Bildungsmacht des Protestantismus als Prägekraft geschichtlicher Freiheitsentwicklung würdigen.
4 Freiheitsmacht Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) verstand den Protestantismus als geschichtliche Freiheitsmacht. In den vielfältigen Analysen des Werdeganges und der Verfasstheit neuzeitlicher Kultur hob Hegel immer wieder die Bedeutung des Protestantismus für die geschichtliche Realisierung der Freiheit hervor, indem die von Lu-
Vgl. SW 4 (s. Anm. 39), 595. Vgl. SW 4, 600.
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ther initiierte Reformation zu einer umfassenden Neugestaltung des Christentums und der kirchlich-christlich geprägten Gesellschaft geführt habe. Die Einschätzung des Protestantismus als Freiheitsmacht begegnet bereits in den frühen Studien Hegels. Die Anwendung der Freiheitsidee auf die Konstitution und das religiöse Verständnis der Kirche ist für Hegel die Geburtsstunde der protestantischen Freiheit. Luther hat im Anfang seines grossen Werks zwar an eine freie allgemeine Kirchenversammlung appellirt, aber dann erst war der grosse Grundsaz der protestantischen Freiheit, das Palladium ihrer Kirche gefunden, als man den Beitritt, die Erscheinung auf einem Koncilium verwarf, nicht deswegen, weil man zum voraus versichert seyn konnte, seine Sache dort zu verlieren, sondern weil es der Natur der religiösen Meinungen widerspreche, daß über sie durch StimmenMehrheit entschieden werden könne; daß jeder das Recht habe, für sich darüber eins zu werden, was sein Glauben sei.⁴⁴
Seine Hochschätzung dieser protestantischen Freiheit verband Hegel mit einer Kritik an der konfessionell-orthodoxen Lehrbildung. In seinen thematisch weitgespannten Berliner Vorlesungen seit 1818 ist Hegel in mannigfaltigen Zusammenhängen auch auf Reformation und Protestantismus eingegangen. Die Reformation Luthers habe die Fahne der Freiheit des individuellen Geistes in der substantiellen Wahrheit der Religion aufgerichtet.⁴⁵ Indem dieses Prinzip in die Wirklichkeit der Welt hineingebildet und in Sittlichkeit, Recht, Eigentum und Staatsverfassung realisiert werde, würden religiöse Subjektivität, staatlich-gesellschaftliche Allgemeinheit und philosophisch-theologische Wahrheit versöhnt. „So wird zuletzt das Princip des religiösen und des sittlichen Gewissens ein und dasselbe, in dem protestantischen Gewissen – der freie Geist in seiner Vernünftigkeit und Wahrheit sich wissend.“⁴⁶ Im Protestantismus seien Religion und Sittlichkeit, Heiligkeit und Rechtschaffenheit vereinigt. Hier habe der göttliche Geist die Wirklichkeit der Welt durchdrungen und erfülle die Gestalten der Sittlichkeit. Die integrative Kraft des Protestantismus werde im Kontrast zur Französischen Revolution deutlich: Es ist nur für eine Thorheit neuerer Zeit zu achten, ein System verdorbener Sittlichkeit, deren Staatsverfassung und Gesetzgebung ohne Veränderung der Religion umzuändem, eine Revolution ohne eine Reformation gemacht zu haben⁴⁷.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Frühe Schriften I, Bd. 1, Gesammelte Werke. Akademie-Ausgabe, hg.v. Friedhelm Nicolin / Gisela Schüler, Hamburg: Meiner, 1989, 330,5 – 12. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Bd. 1, Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe, hg.v. Hermann Glockner, Stuttgart / Bad Cannstatt: Frommann, 1928, 524. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), Bd. 20, Gesammelte Werke. Akademie-Ausgabe, hg.v. Wolfgang Bonsiepen / Hans-Christian Lucas, Hamburg: Meiner, 1992, § 552, 541,2– 5 (= GW 20). GW 20, 536,29 – 537,1.
4 Freiheitsmacht
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Hegel sah in der Reformation eine epochale Wendung für die Rückkehr des Menschen zu sich selbst. Mit der Reformation ende die mittelalterliche und beginne die neuzeitliche Kultur.⁴⁸ Auf Entzweiung und Jenseitigkeit sei eine neue Zuwendung zum irdischen Leben gefolgt. Luther habe in seiner Person die Schrecknisse des Mittelalters durchschritten und dadurch eine neue Zeit heraufgeführt. „Erst mit Luther begann die Freiheit des Geistes, im Kerne: und hatte diese Form, sich im Kerne zu halten.“⁴⁹ Dies ist nach Hegel die epochale Bedeutung und zugleich die Begrenzung der Reformation. Das subjektive Prinzip, dass der Mensch selber denken, wissen und tätig sein müsse, dass er Vernunft und Phantasie gebrauchen müsse, markiert den „Beginn der Versöhnung des Menschen mit sich selbst“⁵⁰. Das Prinzip der Subjektivität werde in der Reformation religiös bewährt, indem die menschliche Geistigkeit und Selbständigkeit in Beziehung zu Gott gesetzt und von ihm her geheiligt werde. Das Subjektive sei nicht mehr das Sündige; das Subjektive sei erlaubt, allerdings noch nicht in sich und aus sich selbst legitim. Die Reformation hatte nach Hegel eine grundlegende Bedeutung sowohl für das sittliche Leben als auch für das Erkennen. Im sittlichen Leben seien Ehe, Arbeit und gesellschaftliche Verantwortung zu wichtigen Gütern geworden. Dadurch stehe die Sittlichkeit der Ehe gegen die Heiligkeit des ehelosen Standes, die Sittlichkeit der Vermögensund Erwerbstätigkeit gegen die Heiligkeit der Armut und ihres Müßiggangs, die Sittlichkeit des dem Rechte des Staates gewidmeten Gehorsams gegen die Heiligkeit des pflicht- und rechtlosen Gehorsams, der Knechtschaft des Gewissens.⁵¹
Die Reformation habe der mönchischen Entsagung entsagt. Auf der Seite der Erkenntnis hat nach Hegel die Reformation den Menschen im Gottesverhältnis von aller entfremdenden Äußerlichkeit befreit und zu sich selbst gebracht. Indem in der reformatorischen Glaubenslehre die innerste Präsenz des Menschen in seinem Gottesverhältnis gefordert werde, „ist hier das Princip der Subjectivität, der reinen Beziehung auf mich, die Freiheit, nicht nur anerkannt: sondern es ist schlechthin gefordert, daß es nur darauf ankomme im Cultus, in der Religion.“⁵² Die reformatorische Glaubenslehre dränge darauf, dass der Mensch ganz und vollständig im Gewissen bei sich und bei Gott sei. Aus der Selbstbeziehung und der Gottesbeziehung sei alle Äußerlichkeit verbannt. Indem die Glaubenden in ihrem Gottesverhältnis unvertretbar und damit unaufhebbar zurechnungsfähig seien, werde das Laientum beseitigt und die allgemeine Priesterschaft etabliert. Die Scheidewand
Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Bd. 19, Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe, hg.v. Hermann Glockner, Stuttgart / Bad Cannstatt: Frommann, 1928, 253 – 262 (= JA 19). JA 19, 254. JA 19, 255. GW 20 (s. Anm. 46), 535,28 – 33. JA 19, 256.
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Protestantismustheorien im Deutschen Idealismus
zwischen Laien und Klerikern sei aufgehoben worden, weil Gottes Geist in den Herzen aller Menschen wirken könne. Die Bibelübersetzung gehört nach Hegel notwendig zur Reformation. Da die Sprache die elementare Objektivation im Bewusstsein sei, befreie das in der eigenen Sprache erfolgende Denken das Innerste des Menschen und gebe der subjektiven Freiheit Bestand. Deshalb habe die Reformation die sprachliche Entfremdung beim Beten und Wissenschafttreiben beseitigt. Nach der inhaltlichen Seite des Glaubens habe die Reformation eine Trennung von Philosophie und Theologie durchgesetzt. Der spekulative Gedanke, der durch die alexandrinische Theologie in die katholische Glaubenslehre Eingang gefunden hatte, sei abgeschnitten und der spekulative Gottesbegriff, indem sein Inhalt historisch genommen wurde, entleert worden. Alle spekulative Anreicherung der kirchlichen Lehrinhalte sei beiseite gesetzt worden. Die Bewahrheitung der Glaubensvorstellungen erfolge allein im Herzen. Die Lehre, bei der äußerlich begonnen werden müsse, erhalte Sinn nur durch die frommen Gemütsregungen, die dadurch ausgelöst würden. Nur indem der Inhalt der religiösen Aussagen einen erbaulichen Gebrauch erlaube und die Heiligung des Gemüts befördere, werde seine Wahrheit ausgewiesen. „Es ist kein weiterer Gebrauch vom Inhalte zu machen, als daß das Gemüth erbaut, erweckt werde zur Zuversicht, Freudigkeit, Buße, Bekehrung, zur Erwekung des Processes des Gemüths in sich selbst.“⁵³ Der Inhalt der christlichen Lehre werde allein durch den Heiligen Geist als wesentlich bestätigt, indem die Wahrheit des Evangeliums nur in dessen erbaulichen Wirkungen bestehe. Im Denken dieses Inhalts bleibe der Geist in einer abstrakten Einheit mit sich selbst. Hegel sieht im Protestantismus die religiös-sittliche Kraft der Innerlichkeit, die gewusst und zu der verpflichtet werde. Das Denken beginne im Protestantismus bei sich selbst. Zu diesem Sichdenken seien alle verpflichtet. „Das protestantische Princip ist, daß im Christenthum die Innerlichkeit allgemein als Denken zum Bewußtseyn komme, als worauf jeder Anspruch habe; ja das Denken ist eines Jeden Pflicht, Alles darauf basirt“⁵⁴. Der Protestantismus binde den Glauben an das Denken; er fordere, „daß der Mensch nur glaube, was er wisse“⁵⁵. Durch das Gewissen, das dem Protestantismus heilig und unantastbar sei, werde die subjektive Freiheit dem Wissen, Wollen und Glauben eingestiftet. In der Reformation ist nach Hegel der Geist zu sich selbst gekommen. Das protestantische Prinzip der selbstdenkenden Subjektivität ist für die gesamte Neuzeit prägend geworden. Es ist ein großer Eigensinn, der Eigensinn, der dem Menschen Ehre macht, nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist, – und dieser Ei-
JA 19 (s. Anm. 48), 260 – 261. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, Bd. 15, Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe, hg.v. Hermann Glockner, Stuttgart / Bad Cannstatt: Frommann, 1928, 262. JA 19, 331.
5 Ausblick
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gensinn ist das Charakteristische der neuen Zeit, ohnehin das eigenthümliche Princip des Protestantismus. Was Luther als Glauben im Gefühl und im Zeugniß des Geistes begonnen, es ist dasselbe, was der weiterhin gereifte Geist im Begriffe zu fassen, und so in der Gegenwart sich zu befreien, und dadurch in ihr sich zu finden bestrebt ist.⁵⁶
Für Hegel ist das protestantische Prinzip der Schlüssel zum Verstehen der Neuzeit. Indem durch die Reformation das Prinzip der Subjektivität in die Religion aufgenommen worden sei, habe dieses Prinzip höchste Anerkennung erhalten, denn die freie Geistigkeit des Subjekts verehre Gott im Geist. Doch sei das Prinzip der Subjektivität in der Reformation auf religiöse Gegenstände beschränkt und alles andere als unwesentlich beiseite gesetzt worden. Da der Geist sich in seinem ganzen Eigentum habe behaupten und alle Wirklichkeit aneignen wollen, sei in der weiteren Geschichte des neuzeitlichen Geistes eine reale Erweiterung des Prinzips und eine sittlich-fromme Formung der gesamten Wirklichkeit erfolgt. Der Protestantismus realisiert sich nach Hegel in den neuzeitlichen, Freiheit eröffnenden und Freiheit gestaltenden Wirklichkeitsformationen.
5 Ausblick Für Kant, Fichte und Hegel war der Protestantismus eine Kulturmacht, die seitens der philosophischen Reflexion Analyse, Kritik und Deutung herausforderte. Die Befreiung des philosophischen Geistes aus der Vormundschaft kirchlich-konfessioneller Festlegungen führte die Frage nach den geschichtlichen Entwicklungsbedingungen von Vernunft und Freiheit herauf. Die Einschätzungen des Protestantismus als Autoritätsmacht (Kant), Bildungsmacht (Fichte) und Freiheitsmacht (Hegel) spiegeln das wachsende Interesse der philosophischen Reflexion an den geschichtlichen Werdeprozessen wider. Dieses philosophische Begreifen des Deutschen Idealismus entdeckte das protestantische Prinzip der selbstgewissen Subjektivität gerade auch in Kulturlagen und Gesellschaftsformationen, die sich aus kirchlicher Bindung gelöst hatten, und kontrastierte dadurch das geschichtsmächtige protestantische Prinzip mit dem in konfessionellen Kirchentümern verfestigten Protestantismus. Diese Analysen stellten an die Theologie die Frage, wie protestantisch denn der kirchlich verfasste oder kirchlich orientierte Protestantismus sei.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Bd. 7, Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe, hg.v. Hermann Glockner, Stuttgart / Bad Cannstatt: Frommann, 1928, 36.
Schleiermachers Auseinandersetzung mit Fichte Schleiermacher¹ hatte kein Fichte-Erlebnis. Er war nie ein offener und eindeutiger Parteigänger Johann Gottlieb Fichtes. Und doch hatte er besonders zu Beginn seiner literarischen Karriere mit dem Ruf zu kämpfen, ein Fichtianer zu sein². Dieser Ruf begleitete ihn lange. Resultierte diese Schulzuschreibung teilweise auch aus polemisch-taktischen Motiven literarischer Gegner, so ist die Frage nach konzeptionellen Anhaltspunkten dadurch noch nicht erledigt. Schleiermachers persönliches wie sachliches Verhältnis zu Fichte ist mehrdeutig und provoziert das Bemühen um eine genauere Verhältnisbestimmung. Dagegen ist das Fehlen einer echten Wechselbeziehung, Fichtes Desinteresse, ja seine augenfällige Nichtbeachtung Schleiermachers durchaus bemerkenswert. Die gebrochen-verwirrende Verquickung von konzeptionellem Beeindrucktsein und persönlicher Distanz ließ die Forschung zu sehr verschiedenen Gewichtungen und Beurteilungen des Einflusses Fichtes auf Schleiermacher kommen. Gerade die drei poetisierenden Frühschriften, in denen Schleiermacher seine Neukonzeption von Religion und Sittlichkeit vorträgt, lassen den Vermutungen großen Spielraum. Hatte Fichte, wie Emanuel Hirsch behauptet,³ eine zentrale Bedeutung für die Ausbildung Zitatnachweise und Belegverweise ohne Angabe des Autors beziehen sich auf Friedrich Schleiermacher. Schleiermacher hat zu jedem Zeitpunkt seine Selbständigkeit verteidigt. Als er 1800 für einen Fichtianer gehalten wurde, war seine eigene Stellungnahme zu Fichte die des einschränkenden Lobs. Fichtes „Tugendlehre verdient allerdings gar sehr, daß man sie studirt, – dieß schließt aber nicht aus, daß sehr viel dagegen zu sagen wäre. Du siehst, wenn mir kein größeres Unglück droht als das Verfichten, so steht es noch gut genug um mich. […] Fichte muß ich zwar achten, aber liebenswürdig ist er mir nie erschienen. Dazu gehört, wie Du weißt, für uns etwas mehr, als daß man (ein), wenn auch der größte speculative Philosoph sey“ (Aus Schleiennacher’s Leben. In Briefen, hg.v. Ludwig Jonas / Wilhelm Dilthey, Bd. 1– 2, Berlin: G. Reimer, 21860, Bd. 3 – 4, Berlin: G. Reimer, 1861/63 [= Briefe], Bd. 4, 74– 75). „Nur wenige Sachkundige werden heut noch leugnen, daß Fichte für Schleiermacher das philosophische Schicksal geworden ist. Er wird ihm in der ersten Berlinischen Zeit der philosophische Lehrmeister, aber ein von Anfang an nie geliebter und schließlich geradezu gehaßter Lehrmeister. Von 1799 an gehen Studium und Kritik Fichtes im Aneignen, Lernen, Abstoßen, Bekämpfen, Umbilden, Gegenbilden nebeneinander her, und das bis tief in die Erarbeitung der eignen Dialektik hinein. Das Verhältnis, an sich schon kaum entwirrbar, wird dadurch noch dunkler, daß der größere Teil dieser Auseinandersetzung sich verschwiegen oder in schwer deutbaren namenlosen Seitenbemerkungen abgespielt hat. Geist und Art der beiden Männer ist dazu so verschieden, daß Forscher, die den einen lieben, dem andern meist nur mühsam etwas abgewinnen, und umgekehrt. Man wird daher über Sinn und Umfang der Einwirkung Fichtes auf Schleiermacher noch lange nicht auf Einigkeit des Urteils rechnen können“ (Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, 5 Bde, Gütersloh: G. Mohn, 41968, Bd. 4, 504). Rudolf Haym (vgl. Die Romantische Schule, hg.v. Oskar Walzel, Berlin: Weidmann, 41920, 592– 595) und viele andere (z. B. Georg Wehrung) interpretieren bis heute (vgl. Kurt Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik, Weimar: Böhlau / Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1986, 288 Anm. 1) Schleiermacher von Fichte her. https://doi.org/10.1515/9783110745498-020
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Schleiermachers Auseinandersetzung mit Fichte
des Schleiermacherschen Welt- und Selbstverständnisses? Oder war Schleiermacher, wie Wilhelm Dilthey meint,⁴ ein origineller Eklektizist, der aus Kant, Platon, Aristoteles, Spinoza, Fichte, Friedrich Schlegel, Schelling und Jacobi schöpfte und dessen Eklektizismus geprägt war durch eine Kombination von Fichtescher Transzendentalphilosphie und religiös-spinozistischem Realismus? Oder lässt sich der Einfluss eines dieser Autoren⁵ jeweils zentral herausstellen? Oder war Schleiermacher ein selbständiger Kopf, der, wie Eilert Herms urteilt,⁶ seine sachliche Eigenständigkeit rechtens behauptete – im doppelten Sinne? Die Untersuchung dieses widersprüchlich gezeichneten Feldes der Wissenschaft stößt durch die Quellenlage auf erhebliche Schwierigkeiten. Die Texte, die eine direkte literarische Auseinandersetzung Schleiermachers mit Fichte belegen, sind nicht zahlreich: die Rezension von 1800 über Fichtes Bestimmung des Menschen, diejenige von 1807 über Fichtes Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, die einschlägigen Passagen in den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), dazu Notate im vierten und fünften Gedankenheft 1800 – 1803. Aus diesen Quellen kann Schleiermachers Stellung zur Ethik Fichtes ziemlich genau, nur andeutungsweise aber die zur Wissenschaftslehre Fichtes erhoben werden. Gerade diese Beziehung ist aber für die zu gewinnende Einschätzung maßgeblich. Die Andeutungen der Quellen provozieren die Vermutungen der Interpreten. Durch die nur indirekte Aussagekraft der Schleiermacherschen Texte droht die in Rede stehende Untersuchung, besonders wenn sie auf die poetisierenden Frühschriften beschränkt wird, sich im Kreis zu drehen. Die Interpretation der Reden und der Monologen soll Antwort auf die Frage nach der Bedeutung Fichtes geben; sie hängt ihrerseits aber genau von der Beant-
Vgl. Wilhelm Dilthey, 1768 – 1802, Bd. 1,1, Leben Schleiermachers, hg.v. Martin Redeker, Berlin: De Gruyter / Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 31970, 313 – 314. 333. 360. 374. Vgl. Gunter Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1984, 9 – 90. Herms, der „eine äußerst zurückhaltende Bewertung des Einflusses Fichtes auf Schleiermacher“ (Eilert Herms, Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, Gütersloh: G. Mohn, 1974, 252) empfiehlt, sieht Schleiermachers Verhältnis zu Fichte in Parallelität zu dem Friedrich Schlegels und durch diesen geprägt. „Die parallele Mischung von Fichtezustimmung und -kritik bei Schlegel und Schleiermacher läßt sich bis ins wörtliche Detail hinein verfolgen“ (253). Im Gegensatz zur persönlichen Schätzung Fichtes durch Friedrich Schlegel sei Schleiermacher gegenüber Fichte immer distanziert gewesen. Herms summiert seine Beobachtungen: „Nirgendwo verstand Schleiermacher sich als Fichtes Schüler. Man wird zugeben müssen, daß er keiner ist. Das Verhältnis zu ihm ist ein wesentlich durch Schlegel vermitteltes und Schleiermachers Selbständigkeitsbewußtsein Fichte gegenüber sachlich wohl begründet. Die Theorie des unmittelbar erschlossenen Selbstbewußtseins hatte er sich unabhängig von Fichte in der Auseinandersetzung mit Jacobi erarbeitet. Seit Halle davon überzeugt, daß jedenfalls eine Theorie der Subjektivität die Ethik begründen müsse, war von daher eine grundlegende Gemeinsamkeit seiner Ethik mit der Fichteschen gegeben. Aber die negativen Auswirkungen von Fichtes abstrakter Theorie des Selbstbewußtseins auf dessen Ethik blieben ihm nicht verborgen. Persönliche Abneigung hat ihn nicht daran gehindert, Übereinstimmung und Differenz genau zu verzeichnen“ (255 – 256). Die Belege, die Herms beibringt, stützen nicht immer seine Interpretation.
1 Biographische Linien
257
wortung dieser Frage ab. Im folgenden möchte ich in zwei Längsschnitten die persönliche und wissenschaftliche Entwicklung der Beziehung Schleiermachers zu Fichte ins Licht zu stellen suchen, um dann in einem Querschnitt die Themenfelder der Auseinandersetzung näher zu beleuchten. Dabei ziele ich nicht auf einen systematischen Vergleich der beiden Konzeptionen, sondern nur auf die Erhellung der Schleiermacher leitenden Denkmotive. Ich werde nicht erörtern, ob Schleiermacher jeweils Fichte richtig verstanden hat.
1 Biographische Linien Schleiermachers eingehendere Beschäftigung mit Fichte reicht zurück in die Anfänge seiner Amtszeit als reformierter Prediger an der Berliner Charité. Davor finden sich nur sporadische Berührungen.⁷ Fichtes anonyme Religionsschrift Versuch einer Critik aller Offenbarung, die ihn 1792 im literarischen Deutschland schlagartig berühmt gemacht hatte, weil sie für die langerwartete Religionsschrift Kants gehalten worden war, hat Schleiermacher wohl 1793 gelesen, aber nicht eingehend untersucht und beurteilt.⁸ Fichtes Berufung nach Jena im Frühjahr 1794, sein kometenhafter akademischer Aufstieg und seine enorme literarische Produktivität zogen auch Schleiermachers Aufmerksamkeit auf sich. Die praktisch-philosophischen Abhandlungen Fichtes standen für ihn zunächst im Vordergrund.⁹ Schleiermachers Bekanntwerden mit In Schleiermachers vornehmlich ethisch orientierten Jugendschriften 1787 – 1796 (Bd. I/1, Kritische Gesamtausgabe. 1. Abteilung: Schriften und Entwürfe, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York: De Gruyter, 1983 [= KGA I/1]) taucht der Name Fichtes nicht auf. Die frühesten Briefzeugnisse stammen vom Dezember 1792, wo Schleiermacher von seinem Vater auf Fichtes anonymen Versuch einer Critic aller Offenbarung (Königsberg: Hartung, 1792; Johann Gottlieb Fichte, Werke 1791 – 1794, Bd. I/1, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 1. Reihe: Werke, hg.v. Hans Jacob / Reinhard Lauth, Stuttgart / Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1964, 17– 123 [= GA I/1]) hingewiesen und um seine Stellungnahme gebeten worden war. Schleiermachers Vater hielt gegen Kants Dementi an dessen Autorschaft fest (vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Briefwechsel 1774 – 1796, Bd. V/1, Kritische Gesamtausgabe. 5. Abteilung: Briefwechsel und biographische Dokumente, hg.v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin / New York: De Gruyter, 1985, Nr. 202,79 – 87 [= KGA V/1]). Schleiermachers Freund Duisburg berichtete gleichzeitig von Fichtes Anwesenheit in Danzig (vgl. KGAV/1, Nr. 204,47– 48). Im April 1793 mahnte Schleiermachers Vater noch einmal die Stellungnahme Schleiermachers zu Fichtes Offenbarungskritik an (vgl. KGA V/1, Nr. 215,62– 66). Aus Schleiermachers Antwort an den Vater vom Mai 1793 ist zu entnehmen, dass er diese Religionsschrift Fichtes wohl gelesen hatte, zu einer Beurteilung aber wegen der Ausleihe des Buches sich nicht imstande fühlte (vgl. KGA V/1, Nr. 216,25 – 28). In seinen Notizen zur Vertragslehre ist Fichte ein noch durch Hufeland vermittelter Gesprächspartner (vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Schriften aus der Berliner Zeit 1796 – 1799, Bd. I/2, Kritische Gesamtausgabe. 1. Abteilung: Schriften und Entwürfe, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York: De Gruyter, 1984, 58 [= KGA I/2]), doch werden dessen naturrechtliche Überlegungen als so beachtenswert eingestuft, dass Schleiermacher sich zur Lektüre von Fichtes anonymem Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die Französische Revolution (Danzig: Troschel, 1793; GA I/1, 201– 404) verpflichtet sah (vgl. KGA I/1, 59). Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre
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Schleiermachers Auseinandersetzung mit Fichte
Friedrich Schlegel im August 1797 bedeutete nicht den Beginn,¹⁰ wohl aber eine Intensivierung des Fichte-Studiums. Sie begannen zusammen „zu Fichtisiren“¹¹. Der Plan, einen „Aufsatz über Kant und Fichte“¹² zu schreiben, kam 1799 nur reduziert in Gestalt der Schleiermacherschen Rezension¹³ von Kants Anthropologie zur Ausführung. Die Fichte-Lektüre des Sommers 1798 sollte für die gemeinsam zu leistende Umgestaltung der Ethik genutzt werden.¹⁴ Fichte war in den Diskussionen des Frühromantikerkreises durchaus präsent.¹⁵ Sein mit einem sittlichen Urteil verbundener philosophischer Rigorismus stieß auf Schleiermachers sich verschärfende Ablehnung.¹⁶ Der Atheismusstreit führte im Frühjahr 1799 zur Entlassung Fichtes aus seiner Jenenser Professur. Anfang Juli 1799 kam Fichte privat ohne Familie für fünf Monate
(Leipzig: Gabler, 1794/95; Werke 1793 – 1795, Bd. I/2, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 1. Reihe: Werke, hg.v. Hans Jacob / Reinhard Lauth, Stuttgart / Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1965, 249 – 451) hat Schleiermacher zu dieser Zeit vermutlich noch nicht zur Kenntnis genommen, wohl aber dessen Abhandlung Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache von 1795 (Werke 1794 – 1796, Bd. I/3, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 1. Reihe: Werke, hg.v. Hans Jacob / Reinhard Lauth, Stuttgart / Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1966, 97– 127). Friedrich Schlegel berichtete am 26. August 1797 aus Berlin an Friedrich Immanuel Niethammer: „Die Philosophie liegt freylich hier im Argen. Doch habe ich einen Prediger Schleyermacher gefunden, der Fichtes Schriften studirt und das [Philosophische] Journal mit einem andern Interesse als dem der Neugier und Persönlichkeit liest“ (Friedrich Schlegel, Die Periode des Athenäums: 25. Juli 1797 – Ende August 1799, Bd. 24, Kritische Ausgabe seiner Werke, hg.v. Raymond Immerwahr, Paderborn u. a.: Schöningh / Thomas, 1985, 12). Schlegel, Die Periode des Athenäums, 24. Ebd. Vgl. Athenaeum 2 (1799), 300 – 306; KGA I/2 (s. Anm. 9), 365 – 369. Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Briefwechsel 1796 – 1798, Bd. V/2, Kritische Gesamtausgabe. 5. Abteilung: Briefwechsel und biographische Dokumente, hg.v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin / New York: De Gruyter, 1988, Nr. 483,16 – 46 (= KGA V/2). Vgl. KGA V/2, Nr. 459,22– 24. Mitte Juli 1798 bestätigte Friedrich Schlegel beiläufig, wie wichtig für ihn Fichte war. Es schrieb an Schleiermacher: „Nun muß ich Dir noch das Räthsel lösen, daß Du mich befruchten sollst. Was für mich so unerschöpflich fruchtbar an Dir ist, das ist, daß Du existirst. Als Objekt würdest Du mir für die Menschheit seyn, was mir Goethe und Fichte für die Poesie und die Philosophie waren“ (KGA V/2, Nr. 485,31– 35). Den nur Argumente akzeptierenden und sittlich qualifizierenden Verstehensanspruch in Fichtes Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre von 1797 (vgl. Johann Gottlieb Fichte, Werke 1797 – 1798, Bd. I/4, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 1. Reihe: Werke, hg.v. Hans Gliwitzky / Reinhard Lauth, Stuttgart / Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1970, 185 – 186 [= GA I/4]) rügte Schleiermacher als sittliche Anmaßung (vgl. KGA I/2, 12. 112. 119). Schleiermachers Widerspruch artikulierte sich schließlich 1803 (vgl. Briefe [s. Anm. 2], Bd. 3, 353) in epigrammatischer Gestaltung (vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Schriften aus der Berliner Zeit 1800 – 1802, Bd. I/3, Kritische Gesamtausgabe. 1. Abteilung: Schriften und Entwürfe, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York: De Gruyter, 1988, 326 [= KGA I/3] sowie Hermann Patsch, Alle Menschen sind Künstler: Friedrich Schleiermachers poetische Versuche, Schleiermacher-Archiv 2, Berlin / New York: De Gruyter, 1986, 192) dieses 1797 erstmals formulierten Gedankens.
1 Biographische Linien
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nach Berlin, um einen neuen Wohnsitz zu suchen. Schleiermacher lernte ihn, vermittelt durch Friedrich Schlegel, sehr bald kennen. Das persönliche Verhältnis stand von Anfang an unter keinem günstigen Stern. Charakter und intellektuelle Interessen beider waren zu verschieden. Mit der Rolle des bewundernden Schülers konnte sich Schleiermacher zu keinem Moment anfreunden. Sein latentes Unterlegenheitsgefühl, seine Furcht vor Nichtachtung ließ ihn auf Fichtes Reserviertheit empfindlich reagieren. Die Freundschaft beider zu Friedrich Schlegel komplizierte die Beziehung. Schleiermachers Bemühen um anerkannte Selbständigkeit, seine Rücksichtnahme auf Friedrich Schlegel und seine ambivalente philosophische Beurteilung Fichtes werden durch zahlreiche private Briefäußerungen dokumentiert. Als Fichte im März 1800 endgültig mit seiner Familie nach Berlin übergesiedelt war, dauerte der persönliche Kontakt noch bis Oktober 1800. Dann bewog der Streit um das Zeitschriftenprojekt der jungen Generation Schleiermacher zum Abbruch der einseitigen Beziehung. Mit Schleiermachers Weggang nach Stolpe im Mai 1802 liefen auch räumlich die Lebenswege beider auseinander, um sich erst nach der Niederlage Preußens in Berlin im Jahr 1807 wieder zu kreuzen. Schleiermachers Stellung hatte sich zu einer schroffen Ablehnung Fichtes verschärft. Beide erhielten im Herbst 1807 eine Berufung an die neu zu errichtende Berliner Universität. Bei deren organisatorischen Gestaltung und bei der Besetzung des Faches Philosophie trat ihre unterschiedliche Konzeption deutlich zutage. Schleiermacher suchte seit 1808 erfolglos, Henrich Steffens als zweiten Philosophen neben Fichte zu platzieren.¹⁷ Fichte wurde 1810 der erste ernannte Dekan der Philosophischen Fakultät, Schleiermacher der der Theologischen Fakultät.¹⁸ Im Senat trugen sie ihre Kontroversen aus. Als Mitglied der Akademie der Wissenschaften hielt Schleiermacher ab Sommersemester 1811 seine Vorlesungen über Dialektik genau in der Stunde, in der Fichte seine Wissenschaftslehre vortrug.¹⁹ In seiner Rektoratsrede Über die einzig mögliche Störung der akademischen Freiheit ²⁰ sagte Fichte, der der erste gewählte Rektor war, am 19. Oktober 1811 den studentischen Ehrenhändeln (Duellen) und Landsmannschaften den Kampf an. Damit trat er in direkten Gegensatz zu Schleiermacher, der in seiner Reformschrift Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn (Berlin 1808) diese studentischen Sitten gebilligt hatte und auch im Senat entsprechend agierte. Bei zwei Disziplinarfällen, in die der jüdische Student Brogi verwickelt war, hatte Fichte im Senat keine Mehrheit
Vgl. Briefe (s. Anm. 2), Bd. 4, 145. Vgl. Max Lenz, Gründung und Ausbau, Bd. 1, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Halle: Buchhandlung des Waisenhauses, 1910, 279. Vgl. Carl Friedrich Georg Henrici, D. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen, Berlin: Hertz, 1889, 158. Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Zur Politik und Moral, Bd. 6, Sämmtliche Werke, hg.v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin: Veit, 1845, 448 – 476.
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Schleiermachers Auseinandersetzung mit Fichte
und bat deshalb die Regierung um seine Entlassung.²¹ Schleiermacher als Haupt der Mehrheitsfraktion hatte trotz einiger Blessuren gesiegt. Der schneidende Gegensatz blieb bis zum Tode Fichtes 1814 bestehen.
2 Literarische Wegzeichen Schleiermachers Stellung zu Fichte ist der eines Kometen vergleichbar, der an einem Stern mit großer Masse vorbeifliegt, sich von ihm nicht einfangen und zum Planeten machen lässt und sich dann immer weiter von ihm entfernt. Zur Zeit der poetisierenden Frühschriften ist Schleiermacher am stärksten im Kraftfeld Fichtes, um dann fortschreitend zu immer schrofferen und ablehnenderen Urteilen über ihn zu kommen. Diese Entwicklung möchte ich knapp verdeutlichen, indem ich die einschlägigen Schriften vorstelle. Schleiermachers theologischen, philologischen und kirchenpolitischen Schriften sowie seine Predigten übergehe ich. Was kannte Schleiermacher von Fichte? Was waren seine Quellen? Trotz der persönlichen Bekanntschaft und Begegnungen hat Schleiermacher wohl keine philosophischen Gespräche mit Fichte geführt. Ebenso hat er wohl nie eine der philosophischen Vorlesungen, die Fichte privat in Berlin gehalten hat, besucht.²² Seine Kenntnisse sind also vornehmlich literarischer Art. Aber auch Berichte von Seiten Dritter (besonders Friedrich Schlegels) dürften als Quelle für Schleiermachers Kenntnisse und Beurteilungen in Betracht zu ziehen sein. Höchst verwirrend und schwebend ist die Quellenlage dadurch, dass Schleiermacher Fichte in einer Lebensphase begegnete, wo durch den Frühromantikerkreis sehr viele Anregungen an ihn kamen, wo er die verschiedensten Autoren las und an der Symphilosophie Friedrich Schlegels intensiv Anteil nahm. Die im Frühromantikerkreis umlaufenden Thesen Fichtes waren ihrerseits schon durch deren neue Sicht überformt. Auch hier galt der hermeneutische Überbietungsanspruch; danach konnten und wollten die Frühromantiker Fichte besser verstehen, als er sich selbst verstand. Die nicht literarisch dokumentierte Entwicklung Fichtes nach 1800 ist Schleiermacher verborgen geblieben. Schleiermachers Gesprächspartner ist also der Jenenser Fichte und der Fichte der populären Schriften. Mit Fichtes spekulativem Zentralstück, der Wissenschaftslehre, hat sich Schleiermacher literarisch nicht auseinandergesetzt; hier finden sich Äußerungen kritischer Art nur in seinen posthum veröffentlichten Vorlesungen zur Dialektik.
Vgl. Lenz, Gründung und Ausbau (s. Anm. 18), 410 – 431, sowie Fichte im Gespräch. Berichte der Zeitgenossen, Bd. 4, hg.v. Erich Fuchs, Specula I,4, Stuttgart / Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1987, 376 ff. Emanuel Hirsch behauptet aufgrund weniger Andeutungen Schleiermachers Hörerschaft in Fichtes Vortrag der Wissenschaftslehre 1802 und zieht daraus weitreichende interpretatorische Folgerungen (vgl. Hirsch, Geschichte [s. Anm. 3], Bd. 4, 563 – 564).
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Schleiermachers erste Publikationen der Jahre 1798 – 1803 sind voller Anspielungen und versteckter Hinweise auf Fichte. Schon in seinen im Athenaeum veröffentlichten Fragmenten finden sich deutliche Anklänge an Fichtes Ichlehre.²³ Sein Versuch einer Theorie des geselligen Betragens vom Jahresanfang 1799 stellte in Anwendung Fichtescher Begriffskonstruktion zur Korrektur Fichtescher Ethik die freie Geselligkeit als wesentliches sittliches Tätigkeitsfeld dar.²⁴ In seinen im Sommer 1799 erschienenen Reden Über die Religion erwähnte Schleiermacher Fichte keinmal. Die Ambiguität der verborgenen Präsenz Fichtes drückte aber den Ausführungen Schleiermachers zur Konstitution der Religion ihren Stempel auf. Fichte war Wegbereiter und Stolperstein zugleich, Schleiermachers Abgrenzung gegenüber dem Kantisch-Fichteschen Idealismus setzt dessen Grundeinsichten gerade voraus; seine grundsätzliche Neuorientierung gegen Fichtes Transzendentalphilosophie bedient sich modifizierend derer Grundbegriffe. Die Grundlegung des empirischen Bewusstseins durch die doppelte Ichtätigkeit des theoretischen Erkennens und praktischen Handelns übernimmt Schleiermacher vereinfachend von Fichte.Vernünftiges Erkennen und Handeln haben für Schleiermacher ihre unbestreitbare eigene Legitimität und sind durch die transzendentale Vernunftkritik in ihr Recht eingesetzt worden. Sie bedürfen keiner religiösen Begründung oder auch nur Unterstützung. Im Gegenzug verwahrt sich Schleiermacher gegen alle Usurpationen der Metaphysik und Moral im Bereich der Religion. Fichte ist für ihn der vorschnell-frevlerische Aktivist, der gegenwärtige Prometheus, der die Beziehungen zum Unendlichen allein auf Metaphysik und Moral beschränken will.²⁵ Doch lasse sich aus Metaphysik und Moral über die Idee des Urwesens und des personifizierten Guten keine Religion gewinnen.²⁶ Fichtes Transzendentalphilosophie zerstöre ungewollt aber unvermeidlich die Einheit und Realität des Lebens; sie endige, indem sie Selbsttätigkeit und Selbstreflexion verabsolutiere, in der solipsistischen Wüste.²⁷ Dagegen stellt Schleiermacher den höheren Realismus, den die Religion im Anschauen des Universums erhält.
Vgl. z. B. KGA I/2 (s. Anm. 9), 148 (Fragment Nr. 338). Vgl. KGA I/2, 163 – 184. Schleiermachers Geselligkeitsbegriff, der von der Voraussetzung absoluter Selbsttätigkeit aus durch das dreifache (formelle, materielle, quantitative) Gesetz der geselligen Tätigkeit entfaltet werden sollte, zielt auf eine quantitativ-limitative Vermittlung der Tätigkeitssubjekte. Vgl. dazu: „Spekulazion und Praxis haben zu wollen ohne Religion, ist verwegener Übermuth, es ist freche Feindschaft gegen die Götter, es ist der unheilige Sinn des Prometheus der feigherzig stahl, was er in ruhiger Sicherheit hätte fordern und erwarten können“ (KGA I/2, 212). Schleiermachers Polemik gegen Fichte korreliert seiner Lobeserhebung Spinozas, der für den höheren lebensvollen Realismus steht. Vgl. auch Briefe (s. Anm. 2), Bd. 4, 74– 75. Vgl. dazu: „Und wie wird es dem Triumph der Spekulation ergeben, dem vollendeten und gerundeten Idealismus, wenn Religion ihm nicht das Gegengewicht hält, und ihn einen höhern Realismus ahnden läßt als den, welchen er so kühn und mit so vollem Recht sich unterordnet? Er wird das Universum vernichten, indem er es zu bilden scheint, er wird es herabwürdigen zu einer bloßen Allegorie, zu einem nichtigen Schattenbilde unserer eignen Beschränktheit“ (KGA I/2, 213).
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Schleiermachers Auseinandersetzung mit Fichte
Schleiermachers Ausführungen zur Konstitution der Religion bleiben unscharf und gegenläufig.Weder treten seine Grundeinsichten deutlich hervor, noch können sie in ein zusammenstimmendes Lehrgefüge gebracht werden. Die Kombination von Gefühl und Anschauung des Universums zur Bestimmung der Religion bündelt unterschiedliche Motive. Durch den Gefühlsbegriff will Schleiermacher die Nichtintentionalität der religiösen Universumspräsenz, durch den Anschauungsbegriff deren Realität, durch beide die Passivität der Konstitution menschlicher Ichheit artikulieren. Dem Fichteschen Begriff der intellektuellen Anschauung stellt er den Begriff der Anschauung des Universums, den Korrelationsbegriff der Selbstanschauung²⁸, entgegen. Anschauung meint unmittelbares Außen im Innern, Gefühl die Innenseite dieser inneren Außenbeziehung. Schleiermacher will den nichtintentionalen Charakter der passiv-religiösen Universumsbeziehung durch den Gefühlsbegriff, deren nichtsolipsistischen Charakter durch den Anschauungsbegriff ausdrücken. Der Passivitätscharakter ist allerdings der empirischen Anschauung eigentümlich, nicht der von Fichte formulierten intellektuellen Anschauung, die als je aktuelle Selbstbeziehung, als unmittelbare Selbstvergegenwärtigung der Grundleistungen der Ichheit der Differenz von empfangendem Subjekt und empfangenem Objekt vorausliegt. Durch den Passivitätscharakter der religiösen Universumsbeziehung bekommt aber das Universum durch den Anschauungsbegriff Gegenstandscharakter, der die Verendlichung des Universums herbeiführt und damit alle Verwicklungen, denen Schleiermacher im Gefolge der Vernunftkritik entrinnen will. Bei der ziemlich vermittlungslosen Nebenordnung der Religion neben Metaphysik und Moral wird zwar die Selbständigkeit der Religion durch Provinzialisierung der Subjektivität erreicht; die Subjektivität wird aber nicht als vermittelte Einheit begriffen, die Religion nicht als Einheitsmoment in dieser Vermittlung. Die für Religion reklamierte Lebenseinheit steht als Motiv unverbunden neben dem der Selbständigkeit. Wie sich handelnde, erkennende und fühlend-anschauende Beziehung aufs Universum miteinander vertragen, was ihre Differenzierung sowohl für den Gegenstandsbegriff des Universums als auch für den Subjektsbegriff der menschlichen Ichheit bedeuten, wie aktive und passive Subjektivitätskonstitution zusammengedacht werden können, bleibt unerörtert. Latent deutet sich hier schon der Konflikt an zwischen einer umfassenden Deutung der Religion im Sinne der Letztbegründung und Ganzheit (inhaltliche Seite der Universumsanschauung, passive Konstitution) und ihrer unterscheidenden Deutung im Sinne einer spezifischen Lebensartikulation (formale Seite der Universumsanschauung, Religion als Darstellungssphäre, eine Lebensgestalt neben anderen). In den Monologen, seiner „Neujahrsgabe“ vom Januar 1800, vollzog Schleiermacher seine Auseinandersetzung mit Fichte unter dem Individualitätsaspekt. Nicht die Selbstanschauung der allgemeinen vernünftigen Ichheit, sondern die des individuell gebildeten Ich ist hier das Thema. Die Einheit von Philosophie und Leben wird gegen
Vgl. KGA I/2 (s. Anm. 9), 127.
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Fichte eingefordert. Das individuelle Ich ist das sittliche Ich, das gerade durch seine besondere Bildung seinen unverwechselbaren Beitrag leistet zur Darstellung des Unendlichen im Endlichen. Die Monologen basieren auf der Fichteschen Freiheitslehre innerer Selbsttätigkeit, modifizieren sie aber durch den Gedanken der Selbstwerdung. Die Bindung der Freiheit an das Sittengesetz heben sie auf. Vernünftige Allgemeinheit überführen sie in individuelle Geistigkeit. Schleiermachers sittliches Individuum ist durchaus gemeinschaftsbezogen. Schleiermachers Rezension von Fichtes im Januar 1800 publizierter Schrift Die Bestimmung des Menschen ist formal eine Nachbildung der dreiteilig aufgebauten Fichteschen Schrift. So wie Fichte einen monologisierenden und dialogisierenden Wunschdenker fingiert, so fingiert Schleiermacher parodierend einen monologisierenden und dialogisierenden Wunschleser, der sich selbst den „Unphilosophen oder Naturphilosophen“²⁹ zurechnet. Diese Rezension spiegelt Schleiermachers schwebende Stellung zu Fichte augenfällig ab. Nur durch die ironisch-gebrochene Fiktion des fragenden und geistbelehrten Wunschlesers kann Schleiermacher seine Vorbehalte ausdrücken. Fichtes Selbstdenker sei sittlich und religiös zu unbestimmt.³⁰ Da die menschliche Bestimmung nicht von außen komme, sondern durch und für die Vernunft im höchsten Gut gemacht werde, sei der Buchtitel und die Ausgangsfrage für eine Philosophie der Freiheit unangemessen.³¹ Da der Moralismus notwendig und zureichend zum Unendlichen hinführe, sei zusätzlich der beschrittene Weg, der vom naturdinglichen Alltagsrealismus über den theoretischen Idealismus zum Gewissen führe, für eine Moralitätsphilosophie zweckwidrig.³² In seinen Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde fertigte Schleiermacher „Fichte’s Ehetheorie“³³ knapp ab. Ähnlich wie bei den anderen beiden poetischen Frühschriften wird auch hier das Maß der Anknüpfung und Gemeinsamkeit überlagert vom Bemühen um Abgrenzung und eigene Profilierung. Während Fichte die Liebe als natürlich-vernünftige Selbsthingabe radikal feminisiert und dem männlichen Geschlechtstrieb kontrastiert,³⁴ fasst Schleiermacher sie personalitätsbezogen³⁵ und verknüpft sie mit der individualitätsbezogenen Freundschaft als wesentliches Motiv der sittlichen Selbstwerdung. Das selbst- hingebende Bestreben des / der Liebenden, primär die / den Geliebten zu befriedigen, konstatiert Schleiermacher bei sich selbst;³⁶ er widerspricht damit der Fichteschen strikten Differenzsetzung von KGA I/3 (s. Anm. 16), 243. Vgl. KGA I/3, 245. Vgl. KGA I/3, 240 – 242. Vgl. KGA I/3, 242– 243. KGA I/3, 162. Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Das System der Sittenlehre, Jena / Leipzig: Gabler, 1798, 443 – 450; Johann Gottlieb Fichte, Werke 1798 – 1799, Bd. I/5, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 1. Reihe: Werke, hg.v. Hans Gliwitzky / Reinhard Lauth, Stuttgart / Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1977, 287– 291. Vgl. KGA I/3, 135 – 136 (Gedanken IV, Nr. 14). Vgl. KGA I/3, 135.
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Schleiermachers Auseinandersetzung mit Fichte
aktivem natürlich-unvernünftigem männlichem und passivem natürlich-vernünftigem weiblichem Geschlechtsverhalten, seiner Einschränkung der personalen Selbsthingabe auf das weibliche Geschlechtsverhalten, seiner aktivistischen Bestimmung des männlichen Geschlechtsverhaltens. Die erotische Beziehung hat für Schleiermacher volle sittliche Legitimität. Die Gleichwertigkeit und persönliche Entfaltung der Liebenden und die psychosomatische Ganzheit sind ihm wesentliche Gesichtspunkte der Geschlechterliebe. In der zweiten Jahreshälfte 1802 sammelte Schleiermacher Notizen zu einem Dialog über Fichte.³⁷ Außerdem trug er sich 1803 mit Gedanken „zu einer Komödie auf Fichte, die aber schwerlich fertig und nie gedruckt werden wird“³⁸. Diese nicht realisierten Pläne sind wohl Seitenwerke seiner 1803 publizierten Schrift Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, in der Schleiermacher die antiken und die modernen Sittenlehren hinsichtlich ihrer Prinzipien, Begriffe und Systemgestalt auf ihre innere Konsistenz prüft.³⁹ Fichtes Sittenlehre wird von ihm als derjenigen Kants gleichartig⁴⁰ und unter den neuzeitlichen hervorragend⁴¹ eingestuft. Erstens sei Fichte ein Sittenlehrer des Handelns und Tätigseins, nicht einer des Genießens. Seine Ethik gehöre zu den Vollkommenheitssystemen und nicht zu den Glückseligkeitssystemen.⁴² Seine am Pflichtbegriff orientierte Ethik sei stoisierend.⁴³ Fichte nehme einen zwiefachen Trieb an, den natürlichen und den vernünftig-sittlichen. Er kenne ein Übergehen aus dem einen in den andern. Alles Sittliche sei ihm gleichartig dadurch, dass es in eine Reihe gesetzt werde. Zweitens gehöre Fichte auf die Seite der begrenzenden und nicht der produzierenden Sittenlehre.⁴⁴ Darunter leide die Eindeutigkeit der sittlichen Grundsätze sehr. Fälle von Pflichtbefolgung müssten nicht gesucht, sondern nur als sich darbietend vollbracht werden. Der sittliche Trieb wähle aus dem sich durch den Naturtrieb Darbietenden das aus, was ihm formal angemessen sei.⁴⁵ Die Unterlassung der sittlichen Tätigkeit werde nicht als widersittlich beurteilt.⁴⁶ Das Nichtwahrnehmen einer Pflicht, durch das eine sittliche Lücke entsteht, werde bei Fichte gar nicht als verschuldete Schwäche erörtert, sondern der mangelnden Dar-
Vgl. KGA I/3 (s. Anm. 16), 320. 322 (Gedanken V, Nr. 150. 155). Briefe (s. Anm. 2) Bd. 1, 370. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Philosophische und vermischte Schriften, Bd. III/1, Sämmtliche Werke, Berlin: Reimer, 1846, 1– 344 (= SW III/l). Vgl. SW III/l, 207. Fichte sei „folgerechter und genauer“ (274) als Kant; er verrate im einzelnen „die bessere Tendenz“ (279). In Fichte beurteilte Schleiermacher „den vorzüglichsten der heutigen Sittenlehrer“ (SW III/1, 293; vgl. 307). Bei Fichtes „Sittenlehre, welche weiter als andere zurückgeht in ihren Ableitungen“ (296), sei der Unzusammenhang dann um so augenfälliger (vgl. 279. 296). Vgl. SW III/1, 39. Vgl. SW III/l, 45 – 46. 54. 94– 95. 155. 227. 265. Vgl. SW III/1, 52. Vgl. SW III/1 54– 55. Vgl. SW III/1, 96.
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bietung des Naturtriebes zugeschrieben.⁴⁷ Schleiermacher resümiert, dass Fichte die von ihm geforderte und ethisch notwendige „Einheit des menschlichen Thuns und Strebens“⁴⁸ nicht gefunden habe. Das Gebiet des Sittlichen sei in seinem Umfang reduziert auf die Beherrschung der Natur.⁴⁹ Die Zielsetzung der Sittlichkeit, die erstrebte Unabhängigkeit des Ich sei ethisch überschwänglich⁵⁰ und laufe auf die Selbstaufhebung des Ich hinaus.⁵¹ Fichte habe vorbildliche Bedeutung für die Aufgabenformulierung einer systematischen Verortung der Ethik, einer stringenten Einordnung in eine restlos überzeugende philosophische Grundwissenschaft. Fichtes nicht linear-deduktives, sondern zirkulär-interdependentes Systemprogramm der Wissenschaftslehre könne strukturell das Fundierungsbedürfnis der Ethik erfüllen.⁵² Schleiermacher bejaht die Fichtesche Aufgabenformulierung und lehnt dessen Realisierungsprogramm ab. Aber nicht nur gegen Fichtes Wissenschaftslehre richtet sich seine Skepsis; vielmehr trifft auch dessen Ableitung der Ethik aus der Wissenschaftslehre das Verdikt des Ungenügens.⁵³ Fichte könne nicht voraussetzungslos seine Sittenlehre aus dem höchsten Grundsatz der Selbsttätigkeit entwickeln, sondern sei einer Ergänzung in bezug auf den Gehalt bedürftig.⁵⁴ Seine Untersuchung der Fichteschen Verknüpfung der Ethik mit der philosophischen Grundwissenschaft summiert Schleiermacher dahin, dass sie „für unhaltbar und wie nicht vorhanden anzusehen“⁵⁵ sei.
Vgl. SW III/1 (s. Anm. 39), 99. SW III/1, 105. Vgl. SW III/1, 293. Vgl. SW III/1, 94. Vgl. SW III/1, 32. Das Bestreben nach wissenschaftlicher Fundierung der Ethik „kann seine Ruhe nirgend anders finden, als in der Bildung einer – wenn hier nicht ein höherer Name nöthig ist – Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften. Diese nun darf selbst nicht wiederum wie jene einzelnen Wissenschaften auf einem obersten Grundsaz beruhen; sondern nur als ein Ganzes, in welchem jedes der Anfang sein kann, und alles Einzelne gegenseitig einander bestimmend nur auf dem Ganzen beruht, ist sie zu denken, und so daß sie nur angenommen oder verworfen, nicht aber begründet und bewiesen werden kann. Eine solche höchste und allgemeinste Erkenntniß würde mit Recht Wissenschaftslehre genannt, ein Name, welcher dem der Philosophie unstreitig weit vorzuziehen ist, und dessen Erfindung leicht für ein größeres Verdienst zu halten ist, als das unter diesem Namen zuerst aufgestellte System. Denn ob dieses die Sache selbst gefunden habe, ist noch zu bestreiten, so lange es nicht in einer ungetrennten Darstellung bis zu den Gründen aller wissenschaftlichen Aufgaben und den Methoden ihrer Auflösung herabgeführt ist. Jene aber hält, wodurch allein schon zur Erreichung des lezten Endzwekkes nicht wenig gewonnen ist, die Aufmerksamkeit immer auf das höchste Ziel des menschlichen Wissens gerichtet“ (SW III/1, 18). Vgl. SW III/1, 20 – 32. Vgl. SW III/1, 101. SW III/1, 32.
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Schleiermachers Auseinandersetzung mit Fichte
In der 2. Auflage seiner Reden 1806 unterzog Schleiermacher seine Ausführungen zur Konstitutionsthematik der Religion einer grundlegenden Revision.⁵⁶ Diese konzeptionelle Änderung ist auch für sein Verhältnis zu Fichte belangvoll. Die gewandelte philosophische Diskussionslage macht sich darin bemerkbar, dass Schellings spekulative Naturwissenschaft Fichtes Transzendentalphilosophie als theoretische Spitzenwissenschaft abgelöst hat.⁵⁷ Schleiermacher differenziert die Lebensaspekte, als deren Mischgestalt die Religion fälschlich häufig erscheine, im Sinne seiner eigenen vierfachen Systematik: Handeln in sittliches Leben und Kunst, Wissen in Physik und Ethik.⁵⁸ Fichtes Idealismus hat keine epochale Bedeutung mehr. Die Warnung vor dessen Realitätslosigkeit bleibt bestehen. Fichte ist prima vista kein vorzüglicher Gesprächspartner mehr, dafür aber latent durchaus wirkmächtig. Er verfällt einer schärferen Kritik, indem seine höchste spekulative Einheit als gegenüber der Religion vorletzte entdeckt wird.⁵⁹ Die Selbstbewusstseinskonzeption Fichtes treibt Schleiermacher zu den Überbietungsansprüchen der Religion. Schleiermachers Religionsbegriff ist nun ersichtlich doppelsinnig. Einerseits steht im Medium des Gefühls die Religion neben Handeln und Wissen, andererseits steht im Medium von Anschauung und Gefühl die Religion über diesen beiden anderen Selbstbewusstseinsformationen. Zwar ist der Gefühlsbegriff für die Wesensbestimmung der Religion eindeutig vorrangig; damit soll den erkenntniskritischen Bedenken gegen den Anschauungsbegriff Rechnung getragen werden. Doch taucht in markanten Aussagen auch weiterhin der Anschauungsbegriff auf, der in sich spannungsvoll ist: er tritt auf die Seite der wissenschaftlichen Welterkenntnis,⁶⁰ charakterisiert aber doch in Verknüpfung mit dem Gefühlsbegriff weiterhin die ursprüngliche Einheit der Religion.⁶¹ Soll Schleiermacher keine Unachtsamkeit und Nachlässigkeit unterstellt werden, so muss die Doppelgleisigkeit der Wesensbestimmung auf konzeptionelle Motive hindeuten. Bei der Verknüpfung von Anschauungs- und Gefühlsbegriff zielt Schleiermacher in umfassender Deutung der Religion auf deren Höchstgeltung, die die anderen Gemütsvermögen unter sich befasst und deshalb eigenständig explizierbar sein muss. Im Gefühlsbegriff artikuliert er in differenzierender Deutung der Religion deren relative Autonomie, die die passive unmittelbare Einheit von Universum und Gemüt neben deren aktive durch die Bewusstseinsstruktur geprägte Einheit stellt.
In der Zueignung an seinen schwedischen Freund Carl Gustaf von Brinkman spricht Schleiermacher die terminologische, die stilistische und auch die darstellungsmäßige (das heißt sachliche) Überarbeitungsbedürftigkeit der ersten Auslage seiner Reden aus. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Über die Religion: Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Zweite Ausgabe, Berlin: Realschulbuchhandlung, 1806, 58. Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, 45 – 52. Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, 67– 68. Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, 65. 76. Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, 74.
2 Literarische Wegzeichen
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In der ausführlichen Rezension⁶² von Fichtes Popularschrift Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters ist die allseitige Polemik Schleiermachers kaum verdeckt.⁶³ Schleiermacher bemängelt hauptsächlich den unübersehbar konstruktiven und rhetorisch-appellativen Charakter der Fichteschen Ausführungen, deren Verfahren und Geschichtsbegriff, die Zeitalterkonstruktion und die Hypothese des Normalvolkes. Schleiermacher attestiert Fichte zusammengesuchte und ausgesuchte Einfälle, die recht gesucht seyn wollten, und zauberisches Aufbauen, des Zeitalters wenigstens, aus mancherley Gedanken, nur nicht aus der durchaus klaren historischen Anschauung, und eigenliebige Betrachtung des eigenen Werthes, und Scheu vor der Mühsamkeit des Empirischen.⁶⁴
Schleiermacher macht sich wiederholt lustig über Fichtes strenge Entgegensetzung des apriorisch deduzierten Weltplans mit seinen wahren Grundzügen der Geschichte gegenüber den aposteriorisch aufgefassten Erläuterungen aus der empirischen Geschichte.⁶⁵ Besonders Fichtes Schilderung der Christentumsgeschichte findet Schleiermacher skandalös.⁶⁶ Schleiermacher hält den bei Fichte beobachteten doppelten Hass gegen die Naturphilosophie⁶⁷ und das kirchliche Christentum für „besonders wegen der höchst treulosen Darstellung merkwürdig“⁶⁸. Das von Fichte favorisierte johanneische Christentum ohne Versöhnungsgedanken sei ohne jede Eigenart und halte keiner kritischen Betrachtung der Quellen stand. Fichte bekämpfe ein Zerrbild von Theologie und Kirche mit längst stumpf gewordenen und verbrauchten Waffen. Schleiermacher verurteilt Fichtes Schonung des Katholizismus zuungunsten des Protestantismus. In der 2. Auflage der Monologen (1810) nahm Schleiermacher nicht nur eine stilistische Überarbeitung in „Kleinigkeiten“, sondern auch einige programmatische „Aenderungen“⁶⁹ vor. Dabei ist im Blick auf Fichte kennzeichnend, dass diese Änderungen durchweg der Distanzierung dienen. Die hochgestimmte Selbstgewissheit, mit der Schleiermacher das höhere Leben des Geistes als Freiheit und Unendlichkeit der inneren Selbsttätigkeit schildert, der Körperwelt strikt entgegenstellt und den verpflichtenden sozialen Normen vorordnet, ermäßigt er nun, indem er die absolute
Vgl. Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1807, Jg. 4, Bd. 1, Nr. 18 – 20, 137– 160 (= JALZ). Vgl. dazu: „Fichte ist mir durch die Grundzüge, wenn ich das rechte Wort gebrauchen soll, so ekelhaft geworden, daß ich die anderen Blätter des Kleeblatts [sc. Die Anweisung zum seligen Leben sowie Über das Wesen des Gelehrten und seine Erscheinungen im Gebiete der Freiheit] gar nicht einmal lesen mag“ (Briefe [s. Anm. 2], Bd. 4, 133). JALZ, 160. Vgl. JALZ, 143. 146 – 147. 149. Vgl. JALZ, 154– 155. Vgl. JALZ, 157. 159. Vgl. JALZ, 156. Friedrich Schleiermacher, Monologen: Eine Neujahrsgabe. Zweite Ausgabe, Berlin: Realschulbuchhandlung, 1810, IV (Vorrede).
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Schleiermachers Auseinandersetzung mit Fichte
sittlich-geistige Individualität in die Sphäre der physischen, sozialen und moralischen Wechselwirkung hineinbindet.⁷⁰ In seinen 1811 erstmals gehaltenen Vorlesungen über Dialektik, die im folgenden vornehmlich in der Gestalt von 1814 herangezogen werden,⁷¹ führte Schleiermacher die Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre zumeist implizit. Es lässt sich nur schwer im einzelnen ausmachen, inwieweit Schleiermachers Dialektik, die zwischen einer systematischen und instrumentellen Konzeption oszilliert, durch die bewusste Auseinandersetzung mit Fichte geprägt ist. Philosophie ist dem Ideal der Wissenschaft verpflichtet; sie ist auf dem Wege,Wissenschaft zu werden. Die Dialektik gibt die Regeln an, wie Fortschritte auf diesem Wege erzielt werden können. Sie regelt den Prozess der Überführung unvollkommenen, das heißt strittigen Wissens in vollkommenes allgemeingültiges Wissen. Dabei verfährt sie konstruktiv und kritisch. Wissen ist nach Schleiermacher gekennzeichnet durch logische Notwendigkeit und metaphysische Realität. Damit der dialektische Gedankenprozess „Sicherheit des Erfolgs“⁷² haben kann, sind gemeinsame Kombinationsregeln und ein diese begründendes ursprüngliches transzendentales Wissen vorausgesetzt. Die dialektische Kunst kommt an ihr Ziel und vollendet sich „in der Construction des Organismus des Wissens, und in so fern ist sie Wissenschaftslehre, wie es die ausdrükklich so genannte nicht geworden ist, indem diese Wissenschaftswissenschaft sein wollte“⁷³. Philosophie als Wissenschaft ist erst etabliert, wenn die Totalität der Erkenntnisgegenstände von der Totalität der Erkenntnissubjekte in intersubjektiv eindeutigen Erkenntnisakten erfasst wird. Für Schleiermacher ist dies ein offener unabschließbarer Entwicklungsprozess, in dem das reale Wissen im Streit der verschiedenen Auffassungen auf seine konstitutiven Wissensakte hin durchgeklärt wird. Er ist unabschließbar, weil das Absolute als Grund und Grenze nie erreicht werden kann. Die absolute Einheit des Seins und die absolute Mannigfaltigkeit des Erscheinens sind nicht wissensfähig, da weder begriffs- noch urteilsfähig, aber sie „sind die transzendentalen Wurzeln alles Denkens und also auch alles Wissens“⁷⁴. Damit lehnt Schleiermacher den Geltungsanspruch der Fichteschen Wissenschaftslehre, die Wissenschaft vom Wissen zu sein, als hypertroph ab.⁷⁵ Schleiermacher hat von Anfang an die individuelle Wissensproduktion und die daraus sich ergebende Wissensvermittlung im Auge. Gleichmäßigkeit der Produktion stellt die intersubjektive Gültigkeit sicher.⁷⁶ Indem Schleiermacher den
Vgl. Schleiermacher, Monologen (s. Anm. 69), 12. 28. Ludwig Jonas hat seiner Edition der Dialektik (Friedrich Schleiermacher, Dialektik, Bd. III/4,2, Sämmtliche Werke, hg.v. Ludwig Jonas, Berlin: Reimer, 1839 [= SW III/4,2]) die nachgelassenen Ausarbeitungen der Vorlesung aus dem Jahr 1814 zugrundegelegt. Die Schleiermacherschen Leitsätze hat er durch eine fortlaufende Paragraphenzählung erfasst. SW III/4,2, 18 (§ 46). SW III/4,2, 19 – 20 (§ 47). SW III/4,2, 92 (§ 165). Vgl. SW III/4,2, 10 – 11 (§§ 21. 23). Vgl. SW III/4,2, 47 (§ 91).
3 Hauptzüge der Auseinandersetzung
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Philosophen als denkendes Individuum in den Blick nimmt, schärft er seine Irrtumsfähigkeit gegen zu weit gehende wissenschaftliche Prätentionen ein.⁷⁷ Schleiermacher lehnt eine deduzierende Philosophiegestalt aus einem höchsten Grundsatz ab,⁷⁸ desgleichen die Welterkenntnis aus einem bloß positiven Ich und einem bloß negativen Nicht-Ich.⁷⁹ Schleiermachers Stellung zu Fichte entwickelte sich von einer differenzierten Beachtung zu einer eindeutigen Ablehnung, die Merkmale einer negativen Fixierung hat.
3 Hauptzüge der Auseinandersetzung Nach den beiden Längsschnitten zur persönlichen und wissenschaftlichen Entwicklung wende ich mich nun dem Querschnitt durch die Themenfelder zu. Die Auseinandersetzung Schleiermachers mit Fichte kann nicht so begriffen werden, dass er säuberlich präpariert bestimmte Thesen übernommen,⁸⁰ andere verworfen,⁸¹ wieder andere modifiziert habe.Vielmehr waren für ihn, wohl stark durch Friedrich Schlegel vermittelt und überformt, die großen Tendenzen der Fichteschen Philosophie wichtig, die sich durchaus mit eigenen Anliegen treffen und diese verstärken konnten. Wie schon bei Kant, so musste Schleiermacher auch bei Fichte feststellen, dass die Ausführung hinter dem Programm zurückblieb. Von Fichte aus ließ sich trefflich gegen Fichte argumentieren, um ein individuelles sittlich-religiöses Lebensverständnis auf der Basis der Vernunftkritik zu errichten. Schleiermacher las Fichte unter dem Aspekt der eigenen Zentralfragen, die auf die Ganzheit, die Realität, die Individualität und die Geschichtlichkeit des Lebens sowie die Vollständigkeit des Systems zielen.
3.1 Lebensganzheit Das Verhältnis von Leben und Reflexion hat schon früh die Rezeption Fichtescher Überlegungen durch Schleiermacher, für den die Ganzheit des Lebens zentral war, modifiziert. Bei diesem Themenfeld verschränken sich sachliche und persönliche Gesichtspunkte. Hier melden sich die vorreflexiven Einstellungen und Wertschätzungen der je verschiedenen Charaktere und Talente zu Wort. Fichtes Ablehnung des kirchlichen Christentums und sein tätiges Engagement für die Freimaurerei stieß auf Schleiermachers religiöse Antipathie. Indem Schleiermacher die Verknüpfung von
Vgl. SW III/4,2 (s. Anm. 71), 193 – 194 (§ 246). Vgl. SW III/4,2, 35 – 36 (§§ 77– 78). Vgl. SW III/4,2, 129 – 130 (§ 196,2). Vgl. z. B. Schleiermachers Zustimmung zu Fichtes Systemprogramm. Vgl. z. B. Schleiermachers Polemik gegen „Fichtes Anstoß“ (KGA I/3 [s. Anm. 16], 297).
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Schleiermachers Auseinandersetzung mit Fichte
unmittelbarem Alltagsverhalten und vernünftig-kritischer Reflexion philosophisch einforderte, zeigte sich genau diese Verknüpfung lebenspraktisch wirksam.⁸² Schleiermacher fasste Fichtes Differenzsetzung⁸³ als Beeinträchtigung der Lebenskultur und Vereinseitigung der Philosophie auf.⁸⁴ Schleiermacher hatte die Lebensganzheit des Philosophen im Blick. Er wollte Kunst, Geselligkeit und Frömmigkeit nicht einer reflexionslosen Dumpfheit überlassen. Die Vermittlung der Philosophie zum Alltagsverhalten, die er bei Fichte nur im Appell sah, wollte er durch ein Geflecht kultureller Wechseleinwirkungen erreichen.
3.2 Realität Den Begriff der intellektuellen Anschauung, den Fichte sowohl unter dem Aktuositätsaspekt als auch dem Begründungsaspekt des Bewusstseins fasste, ordnete
Schleiermacher schrieb am 4. Januar 1800 an Brinkman: Fichte „habe ich freilich kennen gelernt: er hat mich nicht sehr afficirt. Philosophie und Leben sind bei ihm – wie er es auch als Theorie aufstellt – ganz getrennt, seine natürliche Denkart hat nichts Außerordentliches, und so fehlt ihm, so lange er sich auf dem gemeinen Standpunct befindet, alles was ihn für mich zu einem interessanten Gegenstand machen könnte. Ehe er kam, hatte ich die Idee, über seine Philosophie mit ihm zu reden, und ihm meine Meinung zu eröffnen, daß er mir mit seiner Art, den gemeinen Standpunct vom philosophischen zu sondern, nicht recht zu gehen scheine. Diese Segel habe ich aber bald eingezogen; da ich seh’ wie eingefleischt er in der natürlichen Denkart ist, und da ich innerhalb seiner Philosophie nichts an derselben auszusezen habe, das Bewundern aber für mich kein Gegenstand des Gesprächs ist, und es außerhalb derselben keine andern als die ganz gewönlichen Berührungspuncte gab, so sind wir einander nicht sehr nahe gekommen. Lehrreich ist er nicht; denn detaillirte Kenntnisse scheint er in andern Wissenschaften nicht zu haben, (auch in der Philosophie nicht einmal, insofern es Kenntnisse darin giebt,) sondern nur allgemeine Uebersichten, wie unser einer sie auch hat. Das ist übrigens sehr schade, weil er eine ganz herrliche Gabe hat, sich klar zu machen, und der größte Dialektiker ist den ich kenne. So sind mir auch eben keine originelle Ansichten und Combinationen vorgekommen, wie er denn überhaupt an Wiz und Fantasie Mangel leidet. Ueberdies habe ich ihm zulezt abgemerkt, daß er ein beinahe passionirter Freimaurer ist, und früher schon bin ich gewahr worden, daß er nothdürftig Eitelkeit besizt, und gar gern Parteien macht, unterstüzt und regiert, – und was solche Wahrnehmungen auf mich für einen Eindruck machen können, weißt Du ohngefähr“ (Briefe [s. Anm. 2], Bd. 4, 53). Fichtes Verhältnisbestimmung von Reflexion und Leben war doppelsinnig und kontextabhängig. Einerseits um der sittlichen Gleichwertigkeit aller Menschen, um der Entlastung der bloß zuschauenden Wissenschaft von allem Realisierungsdruck und um der Befreiung des unmittelbaren Lebens vom toten Formelwesen willen schärfte er den Unterschied beider Sphären ein, andererseits wegen des sittlichen Freiheitscharakters des Philosophierens betonte er gegen jeglichen Intellektualismus ihre Verwobenheit. „Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist: denn ein philosophisches System ist nicht ein todter Hausrath, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat“ (GA I/4 [s. Anm. 16], 195). Vgl. dazu: „Es ist die Beschränktheit der Philosophie beides zu trennen[;] ihr Leben ist todt ohne Reflexion und ihre Philosophie ist ein lebloses Gemälde wenn sie erst das Licht des Lebens verlöschen müßen um durch den engen Raum der Abstraktion ihr inneres abzubilden“ (KGA I/2 [s. Anm. 9], 127).
3 Hauptzüge der Auseinandersetzung
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Schleiermacher allein der Idealität des absoluten Ich zu. Deshalb sah er Fichtes Wissenschaftslehre sowohl in einen transzendentalen Solipsismus als auch in einen haltlosen Aktivismus münden. Kontrastierend konzipierte er die Anschauung des Universums und die Selbstanschauung als Wechselbegriffe. Die Universumsanschauung soll den höheren Realismus, die Selbstanschauung die sittlich-geistige Individualität gewährleisten. Im Universumsbegriff, der Welt und Selbst umfasst, denkt Schleiermacher die Präsenz des Unendlichen im Endlichen. Die Religion ist die Mittlerin zwischen den antagonistischen und dualistischen Tendenzen der zeitgenössischen Realitätsauffassung.⁸⁵ Natur und Menschheit sind Stufen der individuierenden Offenbarung des Universums im Endlichen. Die religiöse Ursprungserfahrung wird in der Religion zu Anschauung und Gefühl des Unendlichen, die beide Gegenstand des Wissens werden können.
3.3 Individualität Schleiermacher bemängelte Fichtes abstrahierende Konzentration auf die allgemeine ichhafte Vernunft. Er forderte die Ergänzung durch Liebe und Phantasie.⁸⁶ Dass Fichte nicht nur an einem allgemeinen gesetzlichen Zustand der Sittlichkeit orientiert war, streifte Schleiermacher in einer Beobachtung seiner Grundlinien, die er aber gleich wieder abwertete.⁸⁷ Er billigte Fichte zu, dass er als einziger Moderner die Fragen der konkreten Lebensgestaltung wie Ehe- und Familienwahl überhaupt erwähnt und der Eigentümlichkeit der Individualität zugestellt habe.⁸⁸ Fichtes Berufsgedanke, der mit der notwendigen Reihung der Pflichten die sittliche Individualität formuliere, sei aber nicht ausreichend, weil die Vernünftigkeit des Menschen ja gerade die Gleichartigkeit, die Aufhebung der Besonderheit bedeute.⁸⁹ Fichtes Sittenlehre erreiche nur vergesellschaftete, das heißt rechtliche Sittlichkeit.⁹⁰ Gerade beim Individualitätsthema meinte Schleiermacher sich Friedrich Heinrich Jacobi nahe.⁹¹
3.4 Geschichtlichkeit Durch seine Liebe zu den antiken Schriftstellern war Schleiermacher der geschichtlichen Welt offen zugewandt. Das Verhältnis von Vernunft und Geschichte hat
Vgl. KGA I/2 (s. Anm. 9), 209. Vgl. SW III/1 (s. Anm. 39), 100. Vgl. SW III/1, 66. Vgl. SW III/1, 110. Vgl. SW III/1, 61– 62. Vgl. SW III/1, 63. Vgl. Briefe (s. Anm. 2), Bd. 4, 73.
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Schleiermachers Auseinandersetzung mit Fichte
Schleiermacher pointiert in seinem V. Gedankenheft ins Visier genommen. Aus Friedrich Schlegels Mund hatte Schleiermacher vermutlich von Fichtes Satz gehört, er wolle lieber Erbsen zählen als Geschichte studieren. Diese pointierte Gegensatzbildung kehrt Schleiermacher in ihr Gegenteil um und wendet sie gegen Fichte. „Ein ächter Historiker könnte wol sagen er wollte lieber Erbsen zählen als sich mit der Transcendentalphilosophie abgeben.“⁹² In diesem Sinn kritisierte Schleiermacher dann 1806/07 die sophistische Künstlichkeit der Fichteschen Zeitalterkonstruktion. Dabei würdigte er nicht das treibende Motiv, nämlich Fichtes Bewusstsein der epochalen Bedeutung der Wissenschaftslehre. Deshalb liegt alle Kraft Fichtes auf dem Appell zum Überschritt von der durch haltlose Verstandestätigkeit bestimmten Gegenwart in die durch wissenschaftliche Vernunftpraxis bestimmte Zukunft. Schleiermacher vermutete eine Selbstüberschätzung des Eigenwertes bei Fichte,⁹³ doch banalisierte er damit das prophetische Moment. Er verlor über dem gewalttätigkonstruktiven Verfahren das Wahrheitsmoment der Fichteschen Zeitalterkonstruktion aus den Augen, das darin liegt, dass jede Gegenwart sich von der Vergangenheit erinnernd löst und für die Zukunft öffnet. Dies muss keine Geschichtsklitterung sein, sondern kann der Identifizierung der Bausteine der eigenen Selbstwerdung dienen.
3.5 Vollständigkeit des Systems Ein wichtiger Kritikpunkt Schleiermachers gegen Fichte ist das Fehlen einer Physik bei ihm.⁹⁴ Schleiermacher dachte möglicherweise 1802 an eine gegenseitige Ergänzung von Fichte und Schelling. 1807 in seiner Rezension stellte er Fichtes Defizienz in einem ironischen Monitum fest: er wünsche sich Ausführungen Fichtes zur Physik, nicht zur Ethik und zur Religionslehre.⁹⁵ Dabei hatte er offensichtlich, ohne Fichtes Vorbehalt gegen jede spekulative Konstruktion der Empirie zu berücksichtigen, eine spekulative Naturwissenschaft im Auge, wie sie Henrich Steffens in seiner Schrift Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft (Berlin: Realschulbuchhandlung, 1806) entwickelt hatte.
KGA I/3 (s. Anm. 16), 298. Vgl. JALZ (s. Anm. 62), 160. Dieses Monitum findet sich schon im V. Gedankenheft, Nr. 149: „Aus dem Idealismus sind Zwei verschiedne Theorien ausgegangen. Die Fichtesche welcher durch die ganze Anlage und Gesinnung keine Physik möglich ist, und die Schellingsche welcher auf eben die Art keine Ethik möglich ist. Zu beweisen ist demnach daß auch die Physik des lezten und die Ethik des ersten schlecht und leer sein muß, ohnerachtet der Bewundernswürdigkeit der Zurüstungen“ (KGA I/3, 320). Schleiermacher mahnt für die Darstellung der Physik aus dem Lichte der Vernunftwissenschaft ein besseres Ergebnis an als Fichtes misslingendes Bemühen um die Geschichte, weil seine „historische Kunst den Profanen die Geschichte offenbar nicht aufschließt“ (JALZ, 160), weil Sittlichkeit sich allein nicht verstehen könne und weil Religion bei der hier geübten „so frechen leichtsinnigen Handlungweise“ (ebd.) übel leiden müsse.
3 Hauptzüge der Auseinandersetzung
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So wie Schleiermacher nie Kantianer, aber die Auseinandersetzung mit Kant für die Formulierung seiner eigenen Philosophie von prägender Bedeutung war, so empfing er von Fichte in transzendentalphilosophischer und ethischer Hinsicht wichtige Anstöße. Fichte war nicht Vorbild für einen Nachahmer, sondern Anreger für einen Selbstdenker bei der Formulierung der wichtigen Aufgaben und Fragestellungen. Schleiermacher begegnete ihm als Werdender, nicht als Fertiger. Dabei folgte er demselben Muster, das sich auch in seiner Auseinandersetzung mit Kant, eingeschränkt auch mit Spinoza beobachten lässt. Schleiermacher rezipierte diese Autoren so, dass er die ihm wichtigen Grundeinsichten aufgriff und gegenüber den Ausarbeitungen des Autors verbesserte. Er war immer ein Lernender, der die Prinzipien konsequent und kritisch auch gegen den Lehrer handhabte.
Schleiermachers frühe Spinoza-Studien Ist Schleiermacher ein Spinozist? Diese Frage hat schon die Zeitgenossen Schleiermachers bewegt. Dabei ging es nicht um eine abwägende und genau unterscheidende Beurteilung, sondern um eine schablonenhafte Zuordnung und Parteinahme. Die Frage entsprang keinem wissenschaftlichen, sondern einem polemischen Interesse. Eine solche auf Zustimmung oder Bestreitung ausgehende Fragehaltung lässt die genaueren Konturen, was Schleiermacher an Spinoza fasziniert und wie er sich mit ihm auseinandergesetzt hat, nicht hervortreten. Die Behauptung, Schleiermacher sei Spinozist, war eine Kampfformel gegen Schleiermachers Verständnis von Religion und Theologie. Auch die Theologie- und Philosophiegeschichtsschreibung hat sich damit beschäftigt, in welchem Umfang und in welcher Art Schleiermacher Impulse von Spinoza empfangen hat. Indem der Einfluss Spinozas untersucht wurde, sollte häufig die weltanschauliche Ausrichtung der Theologie und Religionsphilosophie Schleiermachers festgelegt werden. Die Ergebnisse dieser Forschungen und Diskussionen sind durchaus kontrovers.¹ Dabei helfen die frühen Spinoza-Studien, die aus dem Nachlass Schleiermachers ediert worden sind, die Lage besser zu beurteilen, an deren Mehrdeutigkeit Schleiermacher selbst nicht unschuldig ist.
1 Signale Im Sommer 1799 veröffentlichte Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768 – 1834), damals reformierter Prediger am Berliner Charité-Krankenhaus und Mitglied des Berliner Frühromantikerkreises, anonym sein erstes Hauptwerk Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. ² Dieses Erstlingswerk gewann trotz seiner situativen Prägung klassische Bedeutung für ein über die Aufklärung hinausführendes Religionsverständnis. Es begleitete in Zustimmung und Anfeindung Schleiermachers literarischen Lebensweg.³
Vgl. Gunter Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1984, 82– 85. Die Erstausgabe von 1799 ist in Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Schriften aus der Berliner Zeit 1796 – 1799, Bd. I/2, Kritische Gesamtausgabe. 1. Abteilung: Schriften und Entwürfe, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York: De Gruyter, 1984, 185 – 326 (= KGA I/2), die Letztausgabe von 1831 mit den Varianten der 2. und 3. Ausgabe in Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Über die Religion: (2.–) 4. Auflage. Monologen: (2.–)4. Auflage, Bd. I/12, Kritische Gesamtausgabe. 1. Abteilung: Schriften und Entwürfe, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York: De Gruyter, 1995, 1– 321 (= KGA I/12), kritisch ediert. Die Aufnahme der Reden ist in KGA I/2, LX–LXXVIII, und KGA I/12, XXVI–LXII, sowie neu in Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1999), https://doi.org/10.1515/9783110745498-021
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Schleiermachers frühe Spinoza-Studien
Eine Stelle der Reden hat immer wieder die Aufmerksamkeit der Leser auf sich gezogen. Schleiermacher nennt einen Namen. Das ist um so auffälliger, weil er ansonsten damit sehr sparsam ist. Schleiermacher preist in der fundamentalen zweiten Rede, die dem Begriff der Religion gewidmet ist, namentlich Spinoza! Opfert mit mir ehrerbietig eine Loke den Manen des heiligen verstoßenen Spinosa! Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein Anfang und Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe, in heiliger Unschuld und tiefer Demuth spiegelte er sich in der ewigen Welt, und sah zu wie auch Er ihr liebenswürdigster Spiegel war; voller Religion war Er und voll heiligen Geistes; und darum steht Er auch da, allein und unerreicht, Meister in seiner Kunst, aber erhaben über die profane Zunft, ohne Jünger und ohne Bürgerrecht.⁴
Dieser Lobpreis, den Schleiermacher bis zur Letztfassung der Reden mit keiner Silbe veränderte, hat Bekenntnischarakter. Schleiermacher, der die Religion als Anschauung und Gefühl des Universums⁵ bestimmt und damit von Metaphysik und Moral absetzt, stellt Spinoza in einen leuchtenden Kontrast zu Fichtes Wissenschaftslehre, die Schleiermacher ohne Namensnennung verurteilt, weil sie das Universum vernichte und die Endlichkeit verabsolutiere⁶. Gerade den vermeintlich irreligiösen Spinoza schildert Schleiermacher als eine Lichtgestalt der Religion.⁷ In Spinoza sieht Schleiermacher einen monistischen Realismus, der allein den Gefahren von Bewusstseinszerrissenheit, Selbstverlust und Realitätsverlust zu wehren scheint. Doch preist Schleiermacher nicht nur den höheren Realismus Spinozas, sondern er rechtfertigt auch dessen Theologie. Bei der Erörterung, welche Bedeutung dem Gottesbegriff für die Religion zukomme, bestreitet Schleiermacher, der den Religionsbegriff nicht durch den Gottesbegriff konstituiert sieht, den exklusiven Geltungsanspruch des personalistischen Gottesbegriffs. Namentlich und beispielhaft – dies ist die zweite brisante Namensnennung Spinozas – verteidigt Schleiermacher den unpersonalistischen Gottesbegriff Spinozas.
hg.v. Günter Meckenstock, de Gruyter Studienbuch, Berlin / New York: De Gruyter, 1999, 12– 52, dargestellt. KGA I/2 (s. Anm. 2), 213,26 – 33. Vgl. KGA I/2, 211,32– 34. Vgl. KGA I/2, 213,20 – 26. Vgl. dazu Konrad Cramer, „‚Anschauung des Universums‘: Schleiermacher und Spinoza,“ in 200 Jahre „Reden über die Religion“: Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft Halle 14.–17. März 1999, hg.v. Ulrich Barth / Claus-Dieter Osthövener, Schleiermacher-Archiv 19, Berlin / New York: De Gruyter, 2000, 118 – 141. In der 2. Auflage der Reden ergänzt Schieiermacher die Lobeserhebung Spinozas dadurch, dass er den früh verstorbenen Friedrich von Hardenberg (Novalis) als Repräsentanten der neuen Kunst namentlich nennt. Spinoza und Novalis stehen nun für das Neuwerden der Religion. An Novalis „schauet die Kraft der Begeisterung und der Besonnenheit eines frommen Gemüths, und bekennt, wenn die Philosophen werden religiös sein und Gott suchen wie Spinoza, und die Künstler fromm sein und Christum lieben wie Novalis, dann wird die große Auferstehung gefeiert werden für beide Welten.“ (KGA I/12 [s. Anm. 2], 58,21– 25).
1 Signale
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Schleiermacher will an Spinoza zeigen, dass Frömmigkeit sowohl unter dem Leitgedanken der personalen Freiheit als auch unter dem Leitgedanken gesetzmäßiger Ordnung dargestellt werden könne. Die im Gefühl beheimatete Frömmigkeit sei gerade hinsichtlich der begrifflichen Darstellung durchaus variabel. Sollte nicht Spinoza eben so weit über einem frommen Römer stehen, als Lukrez über einem Gözendiener? Aber das ist die alte Inkonsequenz, das ist das schwarze Zeichen der Unbildung, daß sie die am weitesten verwerfen, die auf einer Stufe mit ihnen stehen, nur auf einem andern Punkt derselben! welche von diesen Anschauungen des Universums ein Mensch sich zueignet, das hängt ab von seinem Sinn fürs Universum, das ist der eigentliche Maßstab seiner Religiosität, ob er zu seiner Anschauung einen Gott hat, das hängt ab von der Richtung seiner Fantasie. In der Religion wird das Universum angeschaut, es wird gesezt als ursprünglich handelnd auf den Menschen. Hängt nun Eure Fantasie an dem Bewußtsein Eurer Freiheit so daß sie es nicht überwinden kann dasjenige was sie als ursprünglich wirkend denken soll anders als in der Form eines freien Wesens zu denken; wohl, so wird sie den Geist des Universums personifiziren und Ihr werdet einen Gott haben; hängt sie am Verstande, so daß es Euch immer klar vor Augen steht, Freiheit habe nur Sinn im Einzelnen und fürs Einzelne; wohl, so werdet Ihr eine Welt haben und keinen Gott. Ihr, hoffe ich, werdet es für keine Lästerung halten, daß Glaube an Gott abhängt von der Richtung der Fantasie; Ihr werdet wißen daß Fantasie das höchste und ursprünglichste ist im Menschen, und außer ihr alles nur Reflexion über sie; Ihr werdet es wißen daß Eure Fantasie es ist, welche für Euch die Welt erschaft, und daß Ihr keinen Gott haben könnt ohne Welt.⁸
Diese Erwähnung Spinozas zugunsten einer unpersonalistischen Gottesauffassung bringt gegenüber dem Lobpreis, bei dem Spinoza für eine Grundrichtung der Wirklichkeitsauffassung steht, einen neuen Akzent. Schleiermacher beansprucht Spinoza für eine Art der Religion, die ohne den personalistischen Gottesbegriff auskommt, die durch den Inhärenzgedanken Gottesidee und Weltidee zusammenzieht, die den personalistischen Gottesbegriff erklärtermaßen zugunsten eines kosmisch-deterministischen verabschiedet hat. In Spinoza symbolisiert Schleiermacher seine eigenen kritischen Anliegen gegen die personalistische Gottesvorstellung. Die Lobeserhebung Spinozas war gewagt. Schleiermacher sah sich dem Verdacht ausgesetzt, ein Spinozist beziehungsweise Pantheist zu sein.⁹ Da der Spinozismus als irreligiös und unsittlich galt, theologischer Atheismus und moralischer Fatalismus nach verbreiteter Einschätzung unvereinbar mit den Pflichten eines öffentlich bestellten Predigers waren, drohte im äußersten Fall die Amtsenthebung.
KGA I/2 (s. Anm. 2), 245,9 – 30. Exemplarisch hat Schleiermachers Examinator und Förderer Friedrich Samuel Gottfried Sack wohl Anfang 1801 den Pantheismusvorwurf gegenüber Schleiermacher formuliert (vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Briefwechsel 1801 – 1802, Bd. V/5, Kritische Gesamtausgabe. 5. Abteilung: Briefwechsel und biographische Dokumente, hg.v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin / New York: De Gruyter, 1999, Nr. 1005 [= KGA V/5] sowie Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, hg.v. Ludwig Jonas / Wilhelm Dilthey Bd. 1– 2, Berlin: G. Reimer, 21860; Bd. 3 – 4, Berlin: G. Reimer, 1861/63, Bd. 3, 276 – 278 [= Briefe]). In seiner Antwort auf Sacks wohl erst im Mai 1801 erhaltenen Brief gibt Schleiermacher eine Selbstauslegung der Reden (vgl. KGA V/5, Nr. 1065, sowie Briefe, Bd. 3, 282– 286).
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Schleiermachers frühe Spinoza-Studien
Der Pantheismusvorwurf, der als diffamierende Kampfformel eingesetzt werden konnte, begleitete Schleiermacher lebenslang. Der Bonner Philosophieprofessor Johann Ferdinand Delbrück (1772– 1848) beispielsweise griff 1826 Schleiermacher ohne Namensnennung als „Spinoza’s Jünger“¹⁰ an. Gegen diesen Vorwurf verteidigte sich Schleiermacher öffentlich und privat.¹¹
Johann Friedrich Ferdinand Delbrück, Philipp Melanchthon, der Glaubenslehrer: Eine Streitschrift, Bonn: Marcus, 1826, 124. Delbrück zitiert zweimal die Reden, die er in der zweiten Auflage 1806 nachweist, als Dokument des Spinozismus und Pantheismus. In der zeitgenössischen Theologie fehle es nicht an Versuchen, „die Satzungen verhängnißlehriger Schulweisheit mit den kirchlichen künstlich zu verflechten, um sie mit einem heiligen Scheine zu umkleiden“ (78). Die Lehre Spinozas gewinne gerade durch die Leugnung eines postmortalen Lebens Zustimmung. „Wie viele Menschen giebt es, denen der Glaube an ein Leben nach dem Tode und einen Zustand der Vergeltung verhaßt ist, weil sie dadurch sich und andere, wie im Genusse, so im Gebrauche, des irdischen Daseyns gestört und gehemmt sehn. Entschlaget euch dieses Glaubens, sagt Spinoza’s Jünger; denn freylich ist der Karakter eines religiösen Lebens die Unsterblichkeit, aber nicht eine solche, wie ihr sie euch einbildet“ (123 – 124). Delbrück bescheinigt der Spinozaschen Lehre eine einnehmende Geschmeidigkeit, „Allen Alles zu werden. Offenbar nämlich hegt sie ein epikurisches Element, wodurch sie die Sinnlichkeit, ein stoisches wodurch sie die Vernunft besticht, ein ungöttisches, wodurch sie die Irdischgesinnten, ein frommes, wodurch sie die Himmlischgesinnten lockt.“ (127). Zum Beleg zitiert Delbrück Schleiermachers skandalträchtige Lobeserhebung Spinozas mit dem Hinweis, „daß jener namhafte Ungenannte in einer Anwandlung korybantischer Begeisterung kein Bedenken trägt, den Spinoza unter die Heiligen zu versetzen“ (ebd.). In einem Brief vom 22. September 1826, der als „Zugabe“ zu den drei Sendschreiben von Karl Heinrich Sack, Karl Immanuel Nitzsch und Friedrich Lücke veröffentlicht wurde, stellte Schleiermacher fest, er hätte „wol Ursache genug, mich über den guten Delbrück zu beklagen, nicht nur daß er mich ohne allen Grund und gegen alles billig vorauszusetzende einen Spinozisten nennt, sondern noch mehr, daß er ohnerachtet seiner persönlichen Kenntniß von mir sich so ausdrückt, daß seine Leser werden glauben müßen, er halte mich für einen der schlechtesten und verächtlichsten Jünger Spinozas.“ („Erklärung des Herrn Dr. Schleiermacher über die ihn betreffenden Stellen der Streitschrift. Aus einem Briefe an einen Freund am Rhein,“ in Karl Heinrich Sack / Karl Immanuel Nitzsch / Friedrich Lücke, Ueber das Ansehen der heiligen Schrift und ihr Verhältniß zur Glaubensregel in der protestantischen und in der alten Kirche: Drei theologische Sendschreiben an Herrn Professor D. Delbrück in Beziehung auf dessen Streitschrift: Phil. Melanchthon, der Glaubenslehrer. Nebst einer brieflichen Zugabe des Herrn D. Schleiermacher über die ihn betreffenden Stellen der Streitschrift, Bonn: Weber, 1827, 213 – 216, hier 215). Delbrück habe die 3. Auflage der Reden ignoriert und für seine Spinozismus- und Pantheismusvorwürfe aus Schleiermachers sonstigen Schriften keinen Nachweis beigebracht. Die moralischen und politischen Insinuationen hält Schleiermacher für unverantwortlich, schreibt sie aber nicht bösem Willen, sondern der „Leidenschaft des wohlgemeinten Eifers“ (216) zu. Am 2. Januar 1827 schrieb Schleiermacher privat an Delbrück: „Ich habe den Spinoza seit ich ihn zuerst gelesen, und das ist nun fünfundreißig Jahre her, aufrichtig bewundert und geliebt, aber sein Anhänger bin ich auch nicht einen einzigen Augenblick gewesen; und sowol mit seiner Verherrlichung in den Reden, als mit der bekannten Stelle in der Einleitung zu meiner Glaubenslehre hat es genau die Bewandniß, welche Lücke und Twesten angeben.“ (Briefe [s. Anm. 9], Bd. 4, 375; vgl. Friedrich Lücke, „Sendschreiben an Delbrück,“ in Sack / Nitzsch / Lücke, Ueber das Ansehen der heiligen Schrift, 110 – 114, und August Detlev Christian Twesten, Vorlesungen über die Dogmatik der Evangelisch-Lutherischen Kirche, nach dem Compendium des Herrn Dr. W. M. L. de Wette, 2 Bde, Hamburg: Perthes, 1826, Bd. 1, 255 – 256 Anm.). Das Pantheismus-Thema behandelte Schleiermacher in der in obiger Briefstelle erwähnten Dogmatik
2 Rekonstruktionen
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Die beiden prononcierten Erwähnungen Spinozas in den Reden sind Signale mit einem hohen Symbolwert, aber einem gar nicht so hohen Orientierungswert. Sie stellen nämlich Schleiermachers Stellung zu Spinoza keineswegs in ein klares Licht. Deshalb ist ein Blick auf Schleiermachers frühe Spinoza-Studien erhellend.
2 Rekonstruktionen Schleiermacher erinnert sich hier, allerdings mit einer nicht ganz genauen Zeitangabe, seiner frühen Spinoza-Studien, die er im Winterhalbjahr 1793/94 intensiv betrieben hatte. Schleiermacher war damals Schulamtskandidat am Gedikeschen Seminar in Berlin. Als er im April 1794 Berlin verließ und auf eine Hilfspredigerstelle nach Landsberg an der Warthe wechselte, gab er seinem Freund, Geldborger und Anreger Carl Gustav von Brinckmann die ausgeliehenen Bücher zurück und schrieb: Die Jakobischen Sachen erfolgen; ich war im Begrif sie Dir Morgen früh zu bringen, und will mir auch nicht den Weg, sondern nur die Last sparen. Daß ich sie so lange behalten wird Dich nicht sehr wundern, wenn ich Dir sage daß ich dabei förmlich den Spinoza studirt habe.¹²
Diese Spinoza-Studien hat Schleiermacher in zwei Manuskripten niedergelegt, die im Nachlass erhalten sind. Schleiermacher stand im Winterhalbjahr 1793/94 keine Spinoza-Ausgabe zur Verfügung. Er betrieb kein direktes Quellenstudium, sondern machte sich mit Spinozas Philosophie vertraut mittels der Darstellung, die Friedrich Heinrich Jacobi in seinem 1785 erstmals und 1789 vermehrt erschienenen Buch Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn ¹³ gibt. So konnte Schleiermacher die maßgeblichen Spinoza-Texte nicht fortlaufend lesen und untersuchen. Vielmehr standen ihm nur die ausführlichen Spinoza-Zitate zur Verfügung, die Jacobi als Belegstellen aus Spinozas Ethica, Epistolae, Cogitata metaphysica und Tractatus de intellectus emendatione abdruckt. Schleiermacher begleitet die jacobische Darstellung
Über den christlichen Glauben knapp und distanzierend (vgl. Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2 Bde, Berlin: G. Reimer, 1821/22, Bd. 1, § 15,5; in der 2. Auflage, Berlin: G. Reimer, 1830/31, Bd. 1, § 8 Zusatz). Öffentlich ging Schleiermacher auf Delbrücks Verdächtigungen noch einmal 1829 in seinem ersten Sendschreiben Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, an Dr. Lücke ein (vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, Bd. I/10, Kritische Gesamtausgabe. 1. Abteilung: Schriften und Entwürfe, hg.v. Hans-Friedrich Traulsen, Berlin / New York: De Gruyter, 1990, 328,3 – 335,11). Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Briefwechsel 1774 – 1796, Bd. V/1, Kritische Gesamtausgabe. 5. Abteilung: Briefwechsel und biographische Dokumente, hg.v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin / New York: De Gruyter, 1985, Nr. 256,1– 4 (= KGA V/1). Friedrich Heinrich Jacobi, Werke, hg.v. Friedrich Köppen / Friedrich Roth, 6 Bde, Leipzig: Fleischer, 1812– 1825, Bd. 4/1– 2 (1819).
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Schleiermachers frühe Spinoza-Studien
kritisch und zeichnet gegen das Spinoza-Bild Jacobis teilweise neue Linien. Schon aus diesem Grunde verdienen Schleiermachers frühe Spinoza-Studien besondere Aufmerksamkeit und die Erinnerung der hermeneutischen Wissenschaft. Sie sind eine philologisch-kritische Meisterleistung, weil Schleiermacher die Grundgedanken und Intentionen Spinozas auf Grund der ausgewählten Spinoza-Zitate teilweise gegen Jacobis Spinoza-Darstellung rekonstruiert. Schleiermacher war erstmals im Sommer 1787¹⁴ mit dem heftigen literarischen Streit zwischen Jacobi und Moses Mendelssohn in Berührung gekommen, der sich 1785 an Jacobis Bericht entzündete, Lessing habe sich zu Spinozas hen kai pan bekannt. Jacobi sah in Spinozas System Rationalismus, Fatalismus und Atheismus vereint. Mit seiner philosophischen Ablehnung verband Jacobi eine persönliche Hochschätzung Spinozas.¹⁵ Damals während seiner Hallenser Studienzeit und im philosophischen Gespräch mit Johann August Eberhard hatte Schleiermacher der Philosophie Spinozas kein eigenständiges Interesse entgegengebracht. Doch die Auseinandersetzung mit der kritischen Philosophie Kants und die intensiven Bemühungen um die Grundlagen einer deterministischen Ethik führten Schleiermacher 1793/94 zu einem intensiven Studium der Philosophie Spinozas. Das Manuskript Spinozismus ¹⁶ hat den Charakter einer Materialsammlung und eines Gedankenheftes. Es vereint Exzerpte mit Kommentaren, Beobachtungen und Arbeitsanweisungen. Das Manuskript ist unsystematisch. Häufig wird der Blickwinkel gewechselt. Die Darstellung fremder Behauptungen, deren Interpretation durch andere und Schleiermachers eigene Überlegungen zu diesen beiden sind vermengt. Das Manuskript ist zweigeteilt. Zunächst bietet es eine Abschrift der 44 Paragraphen, in denen Jacobi die Lehre Spinozas zusammenfasst.¹⁷ Dieser erste Teil schließt mit einer Arbeitsanweisung, wie im Blick auf eine eigenständige Darstellung Spinozas zu verfahren sei.¹⁸ Der zweite Teil¹⁹ enthält unter der Überschrift „Ueber einzelne Stellen aus den Briefen II. Ausgabe“ Exzerpte zu bestimmten Aspekten der Lehre Spinozas. Bei diesen Exzerpten von Einzelstellen folgt Schleiermacher zwar dem Duktus Jacobis, doch zeigen seine Anmerkungen, dass er dieses Buch nicht zum erstenmal liest.²⁰ Die erste Lektüre scheint oberflächlich gewesen zu sein, vielleicht auch länger zurückzuliegen, denn es finden sich Bemerkungen, die auf neue Lektüre hindeuten, so sein Überraschtwerden²¹ oder sein Bestätigtwerden²². Seine Exzerpte Vgl. KGA V/1 (s. Anm. 12), Nr. 80, 48 – 52. Vgl. Jacobi, Werke (s. Anm. 13), Bd. 4/2, 245. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Jugendschriften 1787 – 1796, Bd. I/1, Kritische Gesamtausgabe. 1. Abteilung: Schriften und Entwürfe, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin / New York: De Gruyter, 1983, 513– 558 (= KGA I/1). Vgl. KGA I/1, 513 – 523. Vgl. KGA I/1, 523 – 524. Vgl. KGA I/1, 525 – 558. Vgl. KGA I/1, 526,13 – 14. Vgl. KGA I/1, 554,30 – 555,7. Vgl. KGA I/1, 557,13 – 15.
2 Rekonstruktionen
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begleitet Schleiermacher jeweils mit eigenen kommentierenden Anmerkungen, in denen er auch Arbeitsanweisungen und Querverweise notiert. Hier ist auch der Ort für zwei Exkurse, nämlich zu den Begriffen Person beziehungsweise Personalität²³ und zum principium individui ²⁴. In seinem Exkurs zur Personalitätsthematik beschäftigt sich Schleiermacher hauptsächlich mit der Lehre Kants. Schleiermacher will die kritische Scheidung von theoretischer und praktischer Vernunft konsequent durchführen und so dem kritischen Geist gegen Kants Inkonsistenzen zum Sieg verhelfen. Er will den ethischen Begriff der Person vom epistemologischen Begriff strikt unterschieden wissen. Auch nehme Kant unausgewiesen die phänomenologische und die noumenologische Gültigkeit des Personenbegriffs an. Bei Kant lasse sich der Vorrang der praktischen Sphäre für die Konzeption von theoretischen Begriffen deutlich zeigen. Das zweite Manuskript Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems ²⁵ hat den Charakter einer (allerdings fragmentarischen) Abhandlung.²⁶ Es erörtert ausführlich Spinozas Umbildung des traditionellen Gottesbegriffs. Es stellt die Lehre Spinozas im Vergleich mit Leibniz und Kant dar. Das Instrument des Vergleichs ist nicht originell, sondern wird schon von Jacobi gehandhabt. Jacobi vergleicht Spinoza primär mit Leibniz und deutet in thetischen Entgegensetzungen seine eigene Position an. Der Bezug auf Leibniz als weltanschaulich unverdächtige Autorität dient als Schutzschild gegen den Atheismus-Verdacht. Schleiermacher verhält sich hier unparteiisch. Sein Vergleich von Spinoza mit Leibniz ist stark durch die Gesichtspunkte und Themen Jacobis präformiert. Schleiermacher hält Spinozas Lehre in wesentlichen Punkten mit der Leibnizschen Monadologie für verträglich. Gegen Leibniz spreche die Vielzahl seiner Annahmen und die komplizierte Ausführung. Während der Vergleich Spinozas mit Leibniz im Pantheismus-Streit die Regel ist, zieht Schleiermacher zusätzlich die Philosophie Kants heran und nutzt sie als Folie, um die Behauptungen Spinozas zu profilieren und zu prüfen. Schleiermacher verfolgt hermeneutisch das Ziel, von einer zentralen Grundthese her Spinozas Lehre auch in ihren zunächst abwegig scheinenden Aussagen zu rekonstruieren. Schleiermacher verfolgt sachlich das Ziel, Gesichtspunkte für seine eigene, über die Vernunftkritik Kants hinausgehende Lehre zu gewinnen und allen Dogmatismus zu beseitigen. Schleiermachers Stellung zu Spinoza wurde historiographisch zumeist auf Grund dieses Textes beurteilt. Die beiden Spinoza-Manuskripte sind einander nicht im Sinne einer Abfolge zugeordnet, so als wäre die Abhandlung nach der Materialsammlung geschrieben. Sondern beide Manuskripte sind hinsichtlich ihrer Entstehung miteinander verzahnt. Im zweiten Teil des Manuskriptes Spinozismus bezieht sich Schleiermacher aus-
Vgl. KGA I/1 (s. Anm. 16), 538,32– 545,28. Vgl. KGA I/1, 547,30 – 554,16. KGA I/1, 561– 582. Dieses Manuskript wurde bereits 1839 in Friedrich Schleiermacher, Geschichte der Philosophie, Bd. III/4,1, Sämmtliche Werke, hg.v. Heinrich Ritter, Berlin: G. Reimer, 1839, 283 – 311, als Anhang ediert. Ritter datierte das Manuskript in die Zeit vor 1802 (vgl. 10 – 11).
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Schleiermachers frühe Spinoza-Studien
drücklich auf die Kurze Darstellung zurück.²⁷ Im Manuskript Kurze Darstellung formuliert er einen Arbeitsauftrag,²⁸ den er im Manuskript Spinozismus dann ausführt.²⁹ Vermutlich hat Schleiermacher zunächst die 44 Paragraphen Jacobis abgeschrieben und auf dieser Basis seine Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems angefertigt. Darauf hat er sich erneut Einzelpassagen des Jacobi-Buches zugewandt und hier die Exkurse zur Personalitäts- und Individuationsthematik eingeschaltet.
3 Themenfelder Im Manuskript Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems zeichnet Schleiermacher die Hauptlinien der Theologie und Kosmologie Spinozas. Im Manuskript Spinozismus behandelt er in Exkursen die Personalitäts- und Individualitätsthematik.
3.1 Gotteslehre Schleiermacher will Spinozas Theologie von innen heraus nach ihren Motiven und Intentionen rekonstruieren. Er sucht deshalb den Zentralpunkt für die Polemik und Thetik Spinozas. Aus der Polemik lasse sich die Thetik nicht allein erklären. Spinoza nehme nämlich eine mittlere Position zwischen Theismus und Atheismus ein.³⁰ Schleiermacher sieht Spinozas Theologie polemisch in doppelter Frontstellung. Spinozas Theologie ist einerseits polemisch gegen die theistische Lehre von den Eigenschaften Gottes, andererseits gegen eine Schöpfungslehre, die die Schöpfung als creatio ex nihilo denkt. Wegen der Unendlichkeit Gottes polemisiert Spinoza gegen die theistische Eigenschaftslehre, die Gott Willen und Verstand zuschreibt. Spinoza denke Gott nicht im Sinne eines ens perfectissimum und auch nicht in Korrelation zur besten aller Welten. Statt einer radikalen Leugnung des Unendlichen nehme Spinoza eine Prädikation Gottes allein durch die Existenz vor.³¹ Die Lehre von der creatio ex nihilo sei ein Ungedanke, weil es keine Wirkung ohne Ursache und keine völlige Ungleichartigkeit der Kausalglieder geben könne. Folglich könne das Endliche nicht außerhalb des Unendlichen geschaffen sein. Mit dem Grundsatz „ex nihilo nihil“³² und der Bestreitung der creatio ex nihilo sei aber noch nicht entschieden, ob das Endliche autark oder dem Unendlichen inhärent sei. Die Autarkie wiederum könne entweder zur aristotelischen Auffassung vom primum movens oder zur Leugnung des Unendlichen führen. Dass Spinoza sich für die These
Vgl. KGA I/1 (s. Anm. 16), 557,13 – 15. Vgl. KGA I/1, 574,27– 28. Vgl. den Exkurs zum Individualitätsprinzip KGA I/1, 547,30 – 554,16. Vgl. KGA I/1, 563,23 – 32. Vgl. KGA I/1, 567,4. KGA I/1, 570,2.
3 Themenfelder
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entscheidet, das Endliche sei dem Unendlichen inhärent, kann Schleiermacher nur aus der kosmologischen Behauptung verstehen: „es ist unmöglich daß die endlichen Dinge für sich bestehn können“³³. Schleiermacher sieht Spinozas Theologie thetisch in Abhängigkeit von der Kosmologie. Die Insuffizienz des Weltbegriffs treibe zur Ausbildung der Gotteslehre. Deren Ausarbeitung dürfe ihre Genese und Motivation nicht verdecken. Die Theologie sei darauf zu beschränken, dass die Welterfahrung in zureichender Weise deutbar werde. Die spekulativen Grenzen der Theologie ergeben sich also aus ihrer Funktion für die Kosmologie. Für Schleiermacher ist die „Idee von dem Fluß der endlichen Dinge, deren jedem für sich betrachtet keine Existenz zukomt“³⁴, das organisierende und motivierende Zentrum der Lehre Spinozas: Von hier aus lassen sich die Behauptungen Spinozas systemgenetisch erschließen sowohl im Blick auf die Theologie als auch auf die Kosmologie. Die Zentralidee ist der hermeneutische Schlüssel für den theologischen Hauptsatz, der das Verhältnis von Endlichem und Unendlichem ausspricht: „Es muß ein Unendliches geben, innerhalb dessen alles endliche ist“³⁵. Die kosmologische Zentralidee vom Fluss der endlichen Dinge gibt dem theologischen Hauptsatz seinen Realgrund. Die Welterfahrung führt zur Gottesidee. Schleiermacher fasst Spinozas Theologie in drei affirmativen Lehrsätzen zusammen. Der erste Lehrsatz formuliert Spinozas Wesenslehre. Gott als dem wahrhaft Existierenden wird Einheit und Unendlichkeit prädiziert. „Der Sinnenwelt liegt ein einiges untheilbares Seyn zum Grunde, und dies eine existirende ist also unendlich“³⁶. Diese Prädikation ergibt sich aus der kosmologischen Zentralidee. Der erste theologische Lehrsatz abstrahiert nur scheinbar von allem Endlichen; in Wahrheit ist hier die Existenzlosigkeit (der Fluss) der einzelnen endlichen Dinge mitgedacht. Das Wesen Gottes ist seine Existenz. Er hat nicht Sein, sondern ist Sein. Er ist kein allgemeines Ding. Deus non est in genere. Für Gott gibt es keinen übergeordneten Gattungsbegriff. Allerdings lasse sich auch nur uneigentlich von Gott als unum oder unicum reden.³⁷ Der zweite Lehrsatz beinhaltet Spinozas Attributenlehre. Auch hier entdeckt Schleiermacher die Wirksamkeit der Kosmologie, indem die beiden elementaren Weltattribute Ausdehnung und Denken auf Gott bezogen werden. „Dies Unendliche hat kein anderes Wesen als die Existenz. Ausdehnung und Denken, absolut betrachtet sind seine Attribute“³⁸. Dem unvorstellbaren absoluten Stoff als Wesen des Unendlichen können Ausdehnung und Denken nicht prädiziert werden. Die Weltattribute werden wegen des Verhältnisses mittelbarer Inhärenz in einem uneigentlichen Sinn zur Kennzeichnung des wahrhaft Existierenden verwendet. Durch die Übertragung auf
KGA I/1 (s. Anm. 16), 564, 17. KGA I/1, 564,23 – 24. KGA I/1, 564,21– 22. KGA I/1, 571,6 – 7. Vgl. KGA I/1, 568,12– 14. KGA I/1, 572,16 – 17.
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Gott solle gerade die Dichotomie der Welt verhindert und ihre Einheit gesichert werden. Schleiermacher kritisiert an Spinozas Attributenlehre deren objektivierenden Charakter. Dadurch werde ein kritisches Begreifen des Endlichen gehemmt. Die beiden Gottesattribute seien eine Objektivierung der beiden Erkenntnisstämme, die Schleiermacher erstaunlicherweise als Raumanschauung und Zeitempfindung spezifiziert. Durch Schleiermachers kritische Transformation unter dem Einfluss Kants werden die Attribute Gottes zu Attributen des erkennenden Subjekts. Der dritte Lehrsatz thematisiert die Gott-Welt-Beziehung. Für Spinoza seien Endliches und Unendliches wesentlich und nicht nur akzidentiell verknüpft. Das wandelbare Endliche stehe zum wahrhaft existierenden Unendlichen „in dem Verhältniß einer mittelbaren Inhärenz“³⁹. Das Endliche habe sein Wesen im Unendlichen. Die vorhandene Welt werde als Darstellung Gottes begriffen und sei damit im strengen Sinne notwendig.⁴⁰ Gegen Mendelssohns Interpretation, dass das Unendliche nur die kollektive Einheit des Endlichen im betrachtenden Subjekt sei, versteht Schleiermacher den Inhärenzgedanken Spinozas so, dass gerade die Realitäthaftigkeit des Absoluten festgestellt werden soll. Schleiermacher interpretiert analog zur Attributenlehre auch den Inhärenzgedanken dahin, dass er ihn für eine kritische Erkenntnistheorie öffnet und stärker die phänomenale Seite herausarbeitet. Spinozas Gottesbegriff hat das paradoxe Gepräge von Weltgeschiedenheit und Weltverbundenheit. Nach der Seite des Gehalts muss der Gottesbegriff als „die unvorstellbare Materie“⁴¹, nach der Seite der Form als das Unbedingte prädiziert werden, „welches nicht außerhalb der Reihe sondern nur in dem ganzen Inbegrif derselben zu finden ist“⁴². Mit dem Gehalt ist die Weltunterschiedenheit Gottes bezeichnet, mit der Form die Weltverbundenheit. Das unendliche Wesen kann nicht die Prädikate der endlichen Dinge haben, weil ihm sonst kein Sein zukäme. Deshalb ist es nach seinem Gehalt von allem Endlichen abgesondert und exklusiv das eigentlich Existierende. Aber nach seiner Form ist es der Inbegriff der Reihe des Endlichen. So muss Spinoza immer beides aussagen: es habe keine als auch alle Vorstellungen in sich, keine Bewegung und alle Bewegung. Die Ambiguität des Spinozanischen Gottesbegriffs stammt aus einem doppelten Erklärungsbedürfnis. Nemlich von dem Bedürfniß getrieben den lezten Grund der endlichen Dinge zu finden findet Spinoza ein Unendliches dessen Essenz die bloße Existenz ist; von dem Saz gestossen daß der lezte Grund der endlichen Dinge nicht außerhalb derselben seyn darf, entdekt er nun daß jenes Unendliche nicht das ganze, vollkommene unendliche ist, sondern daß zu jener Essenz die endlichen Dinge in dem Verhältniß der Inhärenz wenigstens mittelbar stehen müssen.⁴³
KGA I/1 (s. Anm. 16), 573,6. Vgl. KGA I/1, 533,34– 534,7. KGA I/1, 567,9. KGA I/1, 567,12– 13. KGA I/1, 567,20 – 26.
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Beide Erklärungsbedürfnisse ergeben sich aus dem Kausalitätsprinzip. Einerseits muss der unendliche Regress bei der Bedingungserforschung gestoppt werden, wenn die Welt Einheit gewinnen soll. Das Kausalitätsprinzip verlangt nach einer Außenbegründung und damit nach der Differenzsetzung von Gott und Welt. Andererseits verbietet die Wirksamkeit des Kausalitätsprinzips eine totale Diastase. Die Wirksamkeit des Kausalitätsprinzips wird mit Hilfe seiner selbst erklärt und erfordert ein auf das Endliche bezogenes Unendliches.
3.2 Kosmologie Seine fragmentarische Darstellung der Kosmologie Spinozas konzentriert Schleiermacher auf das Verhältnis von Ausgedehntem und Denkendem, die als „unzertrennlich verbunden“⁴⁴ gedacht werden. Bei allen Dingen kommen beide immer gleichzeitig vor und nie als abhängig vom anderen. Schleiermacher weist Jacobis Behauptung zurück, dass bei Spinoza ein Primat der Ausdehnung vor dem Denken bestehe. Stattdessen ermittelt Schleiermacher als Lehre Spinozas die prinzipielle Gleichrangigkeit und wechselseitige Verbundenheit von Denken und Ausdehnung.
3.3 Individuationsprinzip Die Begegnung mit Spinoza bringt für Schleiermacher die phänomenologische Ausarbeitung des Individuationsprinzips. In seinem Exkurs nimmt Schleiermacher einen genauen Vergleich von Spinoza und Kant vor. Schleiermacher fingiert einen Spinoza, der in einem Monolog die Wahrnehmungstheorie Kants angreift und widerlegt. Schleiermacher erörtert das Individuationsprinzip im Sinne einer kritischen Wahrnehmungstheorie phänomenologisch, nicht noumenologisch. Schleiermacher erkennt, dass durch Kants Vernunftkritik der Individuumsbegriff seine Basis in der rationalen Psychologie verloren hat. Kant könne die Pluralität von substantiellen Individuen auf Grund seiner epistemologischen Restriktion nicht deduzieren. Auch der Rückgang auf die synthetische Einbildungskraft als principium individuationis sei zu unbestimmt. Die Zuordnung von pluralen noumenischen Substanzen zu phänomenalen substantiellen Individuen bleibe rätselhaft. Anders als Leibniz, der in seiner Monadologie eine Pluralität von noumenischen Substanzen annehme, gehe Spinoza vom Axiom einer singulären noumenischen Substanz aus. Doch dieses Axiom gestatte ihm durchaus, bestimmten Wahrnehmungsgegenständen Beharrlichkeit und somit Substantialität zuzuschreiben. Die Pluralität von phänomenischen substantiellen Individuen vertrage sich durchaus mit der Singularität der noumenischen Substanz. Auch wenn Spinoza autarke substan-
KGA I/1 (s. Anm. 16), 577,32.
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Schleiermachers frühe Spinoza-Studien
tielle Individuen leugne,⁴⁵ gehe er doch dem objektiven Grund der phänomenischen Individuation nach. Von der einen göttlichen Substanz mit ihren Attributen und Modi aus gewinne Spinoza einen Individualitätsbegriff, der dem Individuum als Synthesispunkt wechselnder Modifikationen nur eine relative Stabilität gebe und die Offenheit für Veränderung, vergleichbar der Unfertigkeit des menschlichen Körpers,⁴⁶ aufnehme. Als subjektiven Grund der Gegenstandsindividuation führt Schleiermacher im Namen Spinozas zwei Prinzipien an: zum einen die Objektunterscheidung gemäß den Wahrnehmungsarten, zum andern diejenige nach ihrer Raumzeitlichkeit. Diejenigen Objekte werden als selbständige Wahrnehmungsgegenstände identifiziert, die durch eigene gesetzmäßige Veränderungsketten unterscheidbar sind. Schleiermacher kommt zu dem Ergebnis, dass Spinozas Lehre die subjektive und objektive Konstitution individueller phänomenischer Gegenstände besser verständlich mache als Kant und Leibniz. Schleiermachers eigene Fragestellung ist allerdings unübersehbar durch die kritische Philosophie Kants veranlasst und ausgerichtet. Schleiermacher verfolgt ein doppeltes Anliegen, nämlich einen Mangel der kantischen Philosophie zu bezeichnen und zu beheben und zugleich Spinoza gegen den Jacobischen Vorwurf zu rechtfertigen, der Spinozismus leugne Individuation und damit auch sittliche Individualität. Hier wird das sittliche Interesse deutlich, dem die theoretische Absicherung dient. Ließen sich aus Spinozas Lehre keine phänomenischen Individuen begreifen, so verlöre jede an sittlicher persönlicher Verantwortung orientierte Ethik ihre Basis. Denn wie und auf was sollte das sittliche Subjekt handeln, wenn es keine differenzierte natürliche Welt gäbe? Die Konsequenzen für die Freiheitsthematik sind hier offenkundig. Mit seiner von Spinoza beförderten kritischen Wahrnehmungstheorie sichert Schleiermacher seinen an Kant orientierten Freiheitsbegriff der Inauguration einer Zustandsreihe phänomenologisch ab.
4 Leitlinien Schleiermachers erste Begegnung mit Spinoza war auf theologische und kosmologische Fragestellungen konzentriert. Spinozas Lehre wird als eine Reformulierung der Theologie im Dienste der Kosmologie verstanden. Die Kosmologie sei das organisierende Zentrum des Spinozaschen Systems. Die Begegnung hatte fundamentalen Charakter hinsichtlich der Grundbegriffe, die für die theoretische und praktische Sphäre gemeinsam konstitutiv sind. Es ging um die Prinzipien des Wirklichkeitsverständnisses. Schleiermacher nutzt Spinozas Argumente für eigene Einsichten im
Vgl. KGA I/1 (s. Anm. 16), 550,29 – 35. Vgl. KGA I/1, 551,14– 552, 2.
4 Leitlinien
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Medium des Gedankenexperiments ‚wenn wäre – so müsste‘.⁴⁷ Er ist von Spinozas selbständigem Ansatz, radikaler Konsequenz und systematischer Geschlossenheit beeindruckt; er ist von Spinozas undogmatischer Haltung und humaner Wärme angezogen. Schleiermacher betrachtet Spinoza mit Augen, die durch die Auseinandersetzung mit Kant kritisch geschärft sind.⁴⁸ Schleiermacher findet in Spinoza Gedankenmotive, die eine Fortentwicklung der kritischen Vernunftlehre ermöglichen. Er ist sich der Rückständigkeit Spinozas in einigen Punkten durchaus bewusst. Doch die andere Frontstellung, in der Spinoza steht, bringt für die Theologie eine schärfere Gedankenbildung. Schleiermacher sieht in Spinozas Lehre eine kritische Potenz, um Kants Philosophie zu korrigieren und weiterzuentwickeln. Dieses gilt besonders für Spinozas Bestreitung einer extramundanen Ursache des Endlichen. Schleiermacher bemängelt an Kant, dass dieser ein „außerweltliches Ding als Ursach der Verstandeswelt“⁴⁹ annimmt. Mit Hilfe Spinozas will Schleiermacher Kant vom letzten Rest des alten Dogmatismus befreien. Schleiermacher kritisiert, dass Kant Verstandeskategorien auf Vernunftsätze (Ideen) anwendet und damit ihren Geltungsbereich überschreitet. Gegen Kants Rückbindung aller phänomenalen Individuen an zugrundeliegende Noumena sprächen Verdoppelung und Manipulierbarkeit. Schleiermacher will durch Spinozas Inhärenzgedanken die Kantsche Dichotomie von Sinnenwelt und Verstandeswelt überwinden. Schleiermacher verteidigt Spinoza gegen den Vorwurf, er sei ein Vertreter des Fatalismus. Terminologisch gelte, dass Spinozas Lehre vollkommener und ausgeführter Determinismus sei.⁵⁰ Spinoza und Leibniz seien hier gar nicht weit auseinander. Sachlich gelte, dass der Determinismus die ausgedehnten und die denkenden Dinge dem Kausalnexus unterwerfe. Auch die denkenden Dinge seien wandelbar.⁵¹ Diese Ausweitung des Determinismus zeige sich darin, wie Spinoza Theologie und Kosmologie verklammere. Schleiermacher versteht Spinozas universalen Determinismus als einen Idealrealismus in nuce. Damit könne Spinoza für die Vermittlung von theoretischer und praktischer Vernunft in Anspruch genommen werden. Das Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft müsse auf die Verknüpfung von phänomenaler und noumenaler Wirklichkeit bezogen werden. Der Primat des sittlichen Interesses und die
Vgl. KGA I/1 (s. Anm. 16), 526,18 – 527,5. Zum Kontext der frühen Spinoza-Studien Schleiermachers vgl. Günter Meckenstock, Deterministische Ethik und kritische Theologie: Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza 1789 – 1794, Schleiermacher-Archiv 5, Berlin / New York: De Gruyter, 1988, sowie Julia A. Lamm, The Living God: Schleiermacher’s Theological Appropriation of Spinoza, University Park: Pennsylvania State University Press, 1996, 13 – 56. KGA I/1, 570,34. Vgl. KGA I/1, 532,6 – 9. Vgl. KGA I/1, 525,14– 15.
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Autonomie der praktischen Vernunft dürften nicht dazu führen, dass theoretische Fragen hinsichtlich der Konstitution von Gegenständen und von Handlungsrealisierungen ausgeblendet werden.Von Spinoza will sich Schleiermacher Argumente an die Hand geben lassen für seine eigene Suche nach der Einheit der Vernunft. Der Universumsbegriff, den Schleiermacher dann in der Erstauflage der Reden ins Zentrum rückt, knüpft besonders an Spinozas Inhärenzgedanken an. Während der traditionelle Gottesbegriff auf eine Pluralität von Noumena bezogen ist, schließt der Universumsbegriff die noumenale und phänomenale Sphäre zusammen. Er impliziert die Vermittlung beider Sphären. Das Endliche ist Organ des Unendlichen.
Bibliographie Günter Meckenstock 1 Selbständige Publikationen als Autor 1. 2. 3.
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Das Schema der Fünffachheit in J. G. Fichtes Schriften der Jahre 1804 – 1806, Theologische Dissertation Göttingen, 1974 (maschinenschriftlich). Vernünftige Einheit: Eine Untersuchung zur Wissenschaftslehre Fichtes, Frankfurt am Main/Bern/New York: Lang, 1983. Deterministische Ethik und kritische Theologie: Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza 1789 – 1794, Schleiermacher-Archiv 5, Berlin/New York: De Gruyter, 1988. Schleiermachers Bibliothek: Bearbeitung des faksimilierten Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer. Im Anhang eine Liste der nichtliterarischen Rechnungsnotizen der Hauptbücher Reimer, Schleiermacher-Archiv 10, Berlin/New York: De Gruyter, 1993. Wirtschaftsethik, Berlin/New York: De Gruyter, 1997. Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, Zweite, erweiterte und verbesserte Auflage, in Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, I. Abteilung: Schriften und Entwürfe, Bd. 15: Register zur I. Abteilung, Berlin/New York: De Gruyter, 2005, 637 – 912. Das Christentum – Werden im Konflikt: Selbstwahrnehmung für das Gespräch der Religionen, Berlin/New York: De Gruyter, 2008.
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Bibliographie Günter Meckenstock
33. „Johann Gottlieb Fichte,“ in Dictionary of German Biography, Bd. 3, München: Saur, 2002, 321 – 322. 34. „Johann Gottlieb Fichte,“ in Biographische Enzyklopädie der deutschsprachigen Aufklärung, München: Saur, 2002, 86 – 87. 35. „Die Aufnahme der ‚Reden‘ in Schleiermachers Zeitgenossenschaft,“ in „Welche unendliche Fülle offenbart sich da …“: Die Wirkungsgeschichte von Schleiermachers „Reden über die Religion,“ Papers read at the Symposium of the Theological Faculty Tilburg, Tilburg 15 April 1999, hg. v. Nico F. M. Schreurs, Studies in Theology and Religion 7, Assen: Koninklijke Van Gorcum, 2003, 1 – 22. 36. „Wirtschaft/Wirtschaftsethik VI (Ethisch),“ in Theologische Realenzyklopädie, Bd. 36, Berlin/New York: De Gruyter, 2004, 170 – 179. 37. „[Schleiermachers Theorie der Geselligkeit],“ Kirisutokyo Kenkyu/Studies in Christianity 67 (2006), 13 – 30 [ins Japanische übersetzt von Makoto Mizutani]. 38. „[Friedensstiftende Impulse in Schleiermachers Religionstheorie],“ Kirisutokyo Kenkyu/Studies in Christianity 68 (2006), 63 – 71 [ins Japanische übersetzt von Kenji Kawashima]. 39. „Schleiermachers klassische Bedeutung: Eine Einführung,“ in SchleiermacherTag 2005, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006, 5 – 8. 40. „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit: Denkmotive der Aufklärung,“ in Auferstehung: Ringvorlesung der Theologischen Fakultät Kiel, hg. v. Philipp David/Hartmut Rosenau, Münster: Lit, 2009, 143 – 165. 41. „Kalendarium der überlieferten Predigttermine Schleiermachers,“ in Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, Dritte Abteilung: Predigten, Bd. 1: Predigten Erste bis Vierte Sammlung, Berlin/Boston: De Gruyter, 2012, 769 – 1034. 42. „Schleiermacher-Forschungsstelle und Kritische Schleiermacher-Gesamtausgabe in Kiel,“ in Christiana Albertina: Forschungen und Berichte aus der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel, Heft 80, Neumünster/Hamburg: Wachholtz, 2015, 56 – 77. 43. „Söhne und Väter: Georg Forster (1754 – 1794), Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834),“ in Berlins wilde Energien: Porträts aus der Leibnizschen Wissenschaftsakademie, hg. v. Stephan Leibfried/Christoph Markschies/Ernst Osterkamp/ Günter Stock, Berlin/Boston: De Gruyter, 2015, 90 – 115. 480. 44. „Zeitgeschichtliche Bezüge in Schleiermachers Predigten 1808 – 1810,“ in Wissenschaft, Kirche, Staat und Politik: Schleiermacher im preußischen Reformprozess, hg. v. Andreas Arndt/Simon Gerber/Sarah Schmidt, Berlin/Boston: De Gruyter, 2019, 257 – 275. 328 – 329.
Einzeleditionen als Bandherausgeber
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3 Einzeleditionen als Bandherausgeber von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe 1. 2. 3. 4.
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I. Abteilung: Schriften und Entwürfe, Bd. 1: Jugendschriften 1787 – 1796, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York: De Gruyter, 1983. I. Abteilung: Schriften und Entwürfe, Bd. 2: Schriften aus der Berliner Zeit 1796 – 1799, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York: De Gruyter, 1984. I. Abteilung: Schriften und Entwürfe, Bd. 3: Schriften aus der Berliner Zeit 1800 – 1802, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York: De Gruyter, 1988. I. Abteilung: Schriften und Entwürfe, Bd. 12: Über die Religion: (2.–)4. Auflage. Monologen: (2.–) 4. Auflage, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York: De Gruyter, 1995. I. Abteilung: Schriften und Entwürfe, Bd. 9: Kirchenpolitische Schriften, hg. v. Günter Meckenstock unter Mitwirkung von Hans-Friedrich Traulsen, Berlin/New York: De Gruyter, 1995. I. Abteilung: Schriften und Entwürfe, Bd. 4: Schriften aus der Stolper Zeit (1802 – 1804), hg. v. Eilert Herms/Günter Meckenstock/Michael Pietsch, Berlin/New York: De Gruyter, 2002. III. Abteilung: Predigten, Bd. 1: Predigten Erste bis Vierte Sammlung (1801 – 1820) mit den Varianten der Neuauflagen (1806 – 1826), im Anhang: Kalendarium der überlieferten Predigttermine Schleiermachers (1790 – 1834), hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/Boston: De Gruyter, 2012. III. Abteilung: Predigten, Bd. 3: Predigten 1790 – 1808, im Anhang: Vier agendarische Texte zum Gottesdienst (1720 – 1829), hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/ Boston: De Gruyter, 2013. III. Abteilung: Predigten, Bd. 2: Predigten Fünfte bis Siebente Sammlung (1826 – 1833), im Anhang: Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für evangelische Gemeinen (Berlin 1829), hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/Boston: De Gruyter, 2015. III. Abteilung: Predigten, Bd. 14: Predigten 1833 – 1834. Einzelstücke. Addenda und Corrigenda zur III. Abteilung, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/Boston: De Gruyter, 2017. III. Abteilung: Predigten, Bd. 15: Register zur III. Abteilung, hg. v. Günter Meckenstock/Brinja Bauer/Ralph Brucker/Britta Andrea Marie Kunz/Michael Pietsch/Dirk Schmid/Patrick Weiland, Berlin/Boston: De Gruyter, 2018. IV. Abteilung: Übersetzungen, Bd. 1: Hugo (Hugh) Blairs Predigten: Aus dem Englischen übersetzt. Vierter Band (1795). Fünfter Band (1802). Mit Synopse der Übersetzungsvorlagen, hg. v. Günter Meckenstock in Verbindung mit Anette Hagan, Berlin/Boston: De Gruyter, 2019. IV. Abteilung: Übersetzungen, Bd. 2: Joseph Fawcett, Predigten: Aus dem Englischen übersetzt (1798) – Mungo Park, Reisen im Innern von Afrika: Aus dem Englischen (Berlin 1799). Mit Synopse der Übersetzungsvorlagen, hg. v. Günter Meckenstock in Verbindung mit Anette Hagan, Berlin/Boston: De Gruyter, 2020.
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Bibliographie Günter Meckenstock
4 Weitere Einzeleditionen Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, hg. v. Günter Meckenstock in Verbindung mit Joachim Ringleben, Theologische Bibliothek Töpelmann 51, Berlin/New York: De Gruyter, 1991. 2. Friedrich Schleiermacher, Über die Religion: Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York: Walter De Gruyter, 1999. 3. Friedrich Schleiermacher, Über die Religion: Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York: Walter De Gruyter, 2001. 4. Schleiermacher-Tag 2005: Eine Vortragsreihe, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Jg. 2006, I. Philologisch-Historische Klasse, Nr. 4, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006.
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5 Mitherausgeberschaft von Reihen und Zeitschriften 1.
Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte/Journal for the History of Modern Theology, Jg. 1 – 10, Berlin/New York: De Gruyter, 1994 – 2003. (Gemeinsam mit Richard Crouter und Friedrich Wilhelm Graf). 2. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, Berlin/New York/Boston: De Gruyter, 1994 – 2020. (Gemeinsam mit Hermann Fischer, Gerhard Ebeling, Heinz Kimmerle, Kurt-Victor Selge; ab 1997 mit Hermann Fischer, Ulrich Barth, Konrad Cramer, Kurt-Victor Selge; ab 2011 geschäftsführend mit Andreas Arndt, Ulrich Barth, Lutz Käppel, Notger Slenczka; ab 2014 geschäftsführend mit Andreas Arndt, Jörg Dierken, Lutz Käppel, Notger Slenczka). 3. Schleiermacher-Archiv, Bd. 16 – 28, Berlin/New York/Boston: De Gruyter, 1996 – 2020. (Gemeinsam mit Hermann Fischer, Gerhard Ebeling, Heinz Kimmerle, Kurt-Victor Selge; ab 1997 mit Hermann Fischer, Ulrich Barth, Konrad Cramer, Kurt-Victor Selge; ab 2011 mit Andreas Arndt, Ulrich Barth, Lutz Käppel, Notger Slenczka; ab 2014 mit Andreas Arndt, Jörg Dierken, Lutz Käppel, Notger Slenczka).
6 Sonstiges Jährlicher Bericht der Arbeitsstelle Kiel über den Fortgang der Kritischen Schleiermacher-Gesamtausgabe, in Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, 1991 – 2017.