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German Pages [380] Year 2015
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft
Herausgegeben von Gunilla Budde, Dieter Gosewinkel, Paul Nolte, Alexander Nützenadel, Hans-Peter Ullmann
Frühere Herausgeber Helmut Berding, Hans-Ulrich Wehler (1972–2011) und Jürgen Kocka (1972–2013)
Band 216
Vandenhoeck & Ruprecht
Hans-Jürgen Puhle
Protest, Parteien, Interventionsstaat Organisierte Politik und Demokratieprobleme im Wandel
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 2 Abbildungen und 5 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-0130 ISBN 978-3-647-37040-8
Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Gears © picture alliance / beyond © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de
Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Politische Akteure und Prozesse im Wandel Parlament, Parteien und Interessenverbände in Deutschland 1890–1914
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Transformationen des deutschen Konservatismus 1770–1980: Zehn Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Was kommt nach den ›catch-all parties‹? Parteien zwischen Modernisierung und Fragmentierung . . . . . . . . . . 66 Populismus: Form oder Inhalt? Protest oder Projekt? . . . . . . . . . . . . 91 Interessenverbände im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
Demokratisierung und Demokratiedefekte im Vergleich Demokratisierungsprobleme in Europa und Amerika . . . . . . . . . . . . 139 ›Embedded Democracy‹ und ›Defekte Demokratien‹: Probleme demokratischer Konsolidierung und ihrer Teilregime . . . . . . 161 Demokratisierung, Europäisierung, Modernisierung: Parteienentwicklungen in Südeuropa seit den 1970er Jahren . . . . . . . . 184
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Varianten europäischer Entwicklungsmuster Vom Wohlfahrtsausschuss zum Wohlfahrtsstaat: Bürokratisierung, Industrialisierung, Demokratisierung . . . . . . . . . . 203 Probleme der spanischen Modernisierung im 19. und 20. Jahrhundert . . 240 Nationalismus und Demokratie in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
Entwicklungswege in der atlantischen Welt Das atlantische Syndrom: Europa, Amerika und der ›Westen‹ . . . . . . . 291 Unabhängigkeit, Staatenbildung und gesellschaftliche Entwicklung in Nord- und Südamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Bauern, Widerstand und Politik in der außereuropäischen Welt . . . . . . 327 Die ›Konstruktion‹ neuer Sozialstaaten in der Auseinandersetzung mit alten Modellen: ›Pfadabhängigkeiten‹, Entscheidungen und Lernprozesse . . . . . . . . . 362 Verzeichnis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
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Einleitung Die in diesem Band versammelten Aufsätze über gesellschaftliche und politische Entwicklungen in Deutschland, West- und Südeuropa, Nordamerika und Lateinamerika beleuchten exemplarisch vier große Themenkomplexe, die der Autor seit den 1970er Jahren als Historiker und Politikwissenschaftler immer wieder, und meistens im Vergleich bearbeitet hat: – die Herausbildung moderner Interventionsstaatlichkeit und Massendemokratie; – die Entwicklung der gesellschaftlichen und politischen Energien, die darauf hinarbeiteten und daran mitwirkten; – die unterschiedlichen Wege, auf denen dies geschah, und insbesondere – Entwicklung und Wandel organisierter Politik und politischer Öffentlichkeit seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Dabei geht es um Versuche einer Annäherung an eine Gesellschaftsgeschichte der Politik zwischen zwei bedeutsamen Einschnitten (›thresholds‹) und qualita tiven Sprüngen, die etwa hundert Jahre auseinanderliegen: Der erste qualitative Sprung bestand in der Modernisierung und Ausweitung politischer Organisation sowie vermehrter Partizipation am Ende des 19. Jahrhunderts. Die zweite, ähnlich einschneidende Zäsur haben wir in den letzten Jahrzehnten rund um die Wende zum 21. Jahrhundert erlebt (deshalb mein Terminus: ›threshold 21‹); sie steht im Zeichen von Reorganisation und Restrukturierung politischer Interaktionen aufgrund von neuer Informationstechnologie, vermehrter Fragmentierung sowie transnationalen und globalen Vernetzungen und Entgrenzungen. Der erste Einschnitt führte zu einem Jahrhundert immer mehr ›organisierter Politik‹ (in der Regel bürokratisch organisierter Politik) und verschiedener Varianten eines vermehrt ›organisierten‹ Kapitalismus (oder wie immer wir dieses stärker zwischen Wirtschaft und Staat verklammerte Syndrom nennen wollen), die in der Form, wie wir sie kannten, offenbar inzwischen an ihr Ende gekommen sind. Der zweite, noch gegenwärtige Einschnitt scheint eine Epoche einzuleiten, die gekennzeichnet ist durch weniger (und auch weniger bürokratisch, oder gelegentlich ganz anders) organisierte Politik, bis hin zur ›lose verkoppelten Anarchie‹ (Lösche), im Extremfall, und das, was einige Autoren schon als ›unorganisierten‹ (disorganized) Kapitalismus bezeichnet haben. Beide Einschnitte hatten viel zu tun mit technologischen Neuerungen, im ersten Fall vor allem der Rotationspresse und der Verbesserung der Kommunikationswege für Menschen und Informationen, im zweiten mit den ›new campaign politics‹, der neuen IT und den sozialen Medien, aber auch mit institutionellen Veränderungen (Stich7
wort ›Demokratisierung‹) und mit Reaktionen bestimmter Interessenten auf bestimmte Politiken. Und beide Umorientierungen sind auch vermittelte Langzeitreaktionen auf die Folgen konkreter Wirtschaftskrisen gewesen: im ersten Fall auf die ›große Depression‹ der Bismarckzeit, die man nach dem Vorschlag von Hans Rosenberg vielleicht besser eine ›große Deflation‹ nennen sollte,1 im zweiten Fall auf die ›Stagflations‹krise seit den 1970er Jahren und deren spätere Verstärkungen durch aktuelle Finanz- und Institutionenkrisen, die sich in unterschiedlichen Teilen der Welt allerdings verschieden ausgewirkt haben. Ein erster größerer Themenbereich ist den Veränderungen der politischen Akteure und Prozesse gewidmet. Der Eröffnungsaufsatz über Parlament, Parteien und Interessenverbände im deutschen Kaiserreich (1970) ist der älteste Beitrag in diesem Band und zusammen mit dem folgenden Aufsatz über die Transformationen des deutschen Konservatismus derjenige, der noch am meisten die ersten Forschungsinteressen des Autors rund um die Dissertation über agrarische Interessenpolitik und preußischen Konservatismus im Kaiserreich spiegelt, aber auch darüber hinausgeht. Der Versuch, politische Parteien, Interessenverbände und neue Bewegungen gemeinsam und gezielt mit Blick auf den Stellenwert des Parlamentarismus in einem autoritären System zu analysieren, um die Felder und Grenzen für politische Polarisierung, Integration und ›Entwicklung‹ besser ausloten zu können, ist damals viel diskutiert worden. Der Beitrag spiegelt zwar im Einzelnen den Forschungsstand von 1970, der inzwischen in einigen Punkten zu ergänzen und zu korrigieren wäre, ist aber vom Zugriff her wohl noch nicht überholt und kann, auch im Sinne einer »rückschauenden Dokumentation« (Karin Hausen),2 gut einige der ersten Schritte verdeutlichen, die die historische Forschung in der empirischen Analyse des ersten oben erwähnten ›qualitativen Sprungs‹ sowie der Rezeption wichtiger dazu gehöriger Fragestellungen von Habermas’ ›Strukturwandel der Öffentlichkeit‹ gegangen ist.3 Der aktuelle Aufsatz über Interessenverbände im Wandel thematisiert gleichzeitig Kontraste, breitere Kontexte und weitere Entwicklungen. Der Beitrag zum deutschen Konservatismus versucht, die Perioden von rund zweihundert Jahren politischer Bewegungsgeschichte voneinander abzugrenzen und die wichtigsten Thesen umfangreicherer anderer Arbeiten (sowie eines Buch projekts, das nie zu Ende geschrieben wurde) zusammenzufassen. Es folgen zwei Aufsätze zu den Transformationstendenzen repräsentativer Demokratien. Der Beitrag zu der Frage, was nach den ›catch-all parties‹ kommt, resümiert Ergebnisse der neueren Parteienforschung und eigener langjähriger Forschungsprojekte, vor allem im Lichte der europäischen Parteienentwicklungen in älteren und neueren Demokratien und der Entwicklung der Parteien 1 Im Vorwort zur 2. Auflage: H. Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa (1967), Frankfurt 1976, S. XIII. 2 K. Hausen, Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2012, S. 11. 3 J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962.
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systeme an der Schwelle zum zweiten qualitativen Sprung rund um die letzte Jahrhundertwende. Der Aufsatz über Populismus ist einerseits der aktuellste und am meisten aktualisierte Beitrag dieses Bandes, und andererseits ein Dauerbrenner: Der Autor hat schon seit den späten 1960er Jahren über Populismus, Populismen und entsprechende Protestbewegungen und Regime gearbeitet, zunächst im nordamerikanischen und lateinamerikanischen Kontext, später auch vergleichend. Der Versuch einer Synthese, der zuerst 1983 erschienen ist,4 ist in der Folge aufgrund einschlägiger Nachfragen, konkreter Anlässe, neuer Be wegungen oder ›Wellen‹ populistischer Agitation (auch in Europa) sowie neuer Forschungskontroversen einige Male überarbeitet und immer wieder ergänzt worden. In die hier abgedruckte Fassung sind auch neue Aspekte zum kategorialen Stellenwert ›populistischer Demokratie‹ im Rahmen des ›threshold 21‹ eingegangen, also des gegenwärtigen zweiten qualitativen Sprungs der Transformation der Konstellationen und Bedingungen für die Betätigung politischer Akteure, auch in repräsentativen Demokratien. Die These ist, dass nicht nur die Entwicklungen und Krisenszenarien im gegenwärtigen Jahrzehnt in vielen Ländern besonders reich an ›populistischen Momenten‹ (Goodwyn) sind und entsprechende Bewegungen für eine Zeit in Blüte stehen, sondern dass es auch aus strukturellen Gründen kaum noch realistische demokratische Alternativen zur ›populistischen Demokratie‹ zu geben scheint. Eng verbunden mit den Problemen der politischen Akteure und Prozesse ist ein weiterer größerer Themenbereich, in dem es um den Wandel politischer Systeme und die Entwicklung moderner Interventions- und Sozialstaatlichkeit geht, aber auch um Regimewechsel und Transformations- und Demokratisierungsprozesse. Den letzteren ist der zweite Abschnitt dieses Bandes gewidmet, in dem einige besonders interessante und charakteristische Ergebnisse der neueren Transformationsforschung und der Projekte, an denen der Autor beteiligt war (und deren Ergebnisse meist auf englisch oder spanisch vorliegen), resümiert werden. Diese beziehen sich insbesondere auf Lateinamerika (Wilson Center) und Südeuropa (Spanien/Portugal-Verbund bei der Reimers-Stiftung, ›The New Southern Europe‹ beim SSRC/ACLS, New York) sowie kontinentübergreifend auf konzeptionelle Fragen (›Defekte Demokratien‹, ›Political Intermediation‹ im Comparative National Elections Project, CNEP) und inzwischen auch weltweite Indikatorenbildung (z. B. Bertelsmann Transformation Index).5 Hier sind nacheinander insbesondere die wesentlichen Probleme der Regimeübergänge (transitions), der Konsolidierung der neuen Demokratien, ihrer gesellschaftlichen ›Einbettung‹ und ihrer Teilregime sowie ihrer Defizienzen und ›Defekte‹, und schließlich Fragen nach der unterschiedlichen ›Qualität‹ von Demokratien 4 H. J. Puhle, Was ist Populismus?, in: Politik und Kultur, Jg. 10,1, 1983, S. 22–43, mit größerer Breitenwirkung abgedruckt in: H. Dubiel (Hg.), Populismus und Aufklärung, Frankfurt 1986, S. 12–32. 5 Ausführlicher: H. J. Puhle, Memories of Juan Linz: A Great Inspiration, in: H. E. Chehabi (Hg.), Juan J. Linz. Scholar, Teacher, Friend, Cambridge, MA 2014, S. 303–307.
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abgehandelt worden. Die Beiträge über Demokratisierungsprobleme in Europa und Amerika und über ›Embedded Democracy‹ und defekte Demokratien spiegeln diese Schritte. Der dritte Aufsatz dieses Abschnitts über Parteienentwicklungen im sich demokratisierenden Südeuropa ergänzt gleichzeitig die neueren Befunde zu ›party change‹ im Lichte des zweiten ›threshold‹ um einige wichtige und situationsspezifische Aspekte, z. B. den des ominösen und gelegentlich hilfreichen ›leapfrogging‹-Syndroms (i. e. des Überspringens bestimmter Entwicklungsstadien, die ältere Parteien anderswo durchlaufen haben). Um die sehr unterschiedlichen Prozesse der Entwicklung leistungsfähiger Staatlichkeit, des Wandels der Staatsfunktionen und der Entstehung moderner Interventions- und Sozialstaaten in Deutschland und Westeuropa mit neuen Verwaltungs-, Steuerungs- und Kontrollproblemen geht es in dem Beitrag ›Vom Wohlfahrtsausschuss zum Wohlfahrtsstaat‹. Dieser Aufsatz, der Anfang der 1970er Jahre geschrieben wurde, reflektiert auch die intensiven Debatten der Zeit über Funktion und Rolle des Staates im ›Spätkapitalismus‹, die Planungseuphorie, die diversen Varianten der ›Technokratiediskussion‹ sowie die Sorge, dass die Freiheitsräume einzelner und gesellschaftlicher Gruppen allzu sehr in die Räderwerke verselbständigter staatlicher Bürokratien geraten könnten.6 Der Autor hofft immer noch, dass sich die These, dass in vielen Fällen die Exekutivbürokratie wahrscheinlich praktisch nicht mehr kontrolliert werden kann, vielleicht am Ende doch als etwas überzogen erweist, hat dafür aber auch in den letzten Jahrzehnten nicht allzu viel neue Evidenz gefunden. Der Beitrag hat mich längere Zeit beschäftigt und auch Weichen gestellt für bestimmte Forschungsfragen und Interpretationslinien weiterführender Arbeiten, u. a. über die Entstehung der großen Systeme des staatlichen Agrarinterventionismus in Westeuropa und Nordamerika unter dem Druck der Interessenten, die Debatten zum ›organisierten Kapitalismus‹ und die Probleme der ›different trajec tories into modernity‹, der unterschiedlichen Entwicklungswege einzelner Gesellschaften in die Moderne.7 Die letzten beiden Abschnitte des Bandes, die dieser Aufsatz einleitet, über Varianten europäischer Entwicklungsmuster und Entwicklungswege in der atlantischen Welt sind den Prozessen von state and nation building, den Stufen entwicklungs- und reformpolitischer Strategien sowie vor allem den zentralen Charakteristika dieser unterschiedlichen Entwicklungswege in die Moderne gewidmet. Im europäischen Kontext werden dabei, außer den ›ususal suspects‹, auch die besonderen Probleme der spanischen Modernisierung im 19. und 20. Jahrhundert diskutiert. Der Beitrag zum Verhältnis von Nationalismus und 6 Dieser Aspekt des Räderwerks hat auch die Auswahl der Umschlagfotografie dieses Bandes mit motiviert. 7 Vgl. u. a. H. J. Puhle, Politische Agrarbewegungen in kapitalistischen Industriegesellschaften. Deutschland, USA und Frankreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 1975; ders., Historische Konzepte des entwickelten Industriekapitalismus. ›Organisierter Kapitalismus‹ und ›Korporatismus‹, in: GG, Jg. 10, 1984, S. 165–184. Zu den ›different trajectories‹ vgl. die entsprechenden Beiträge in diesem Band.
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Demokratie in Europa thematisiert neben den Ergebnissen langer Debatten der vergleichenden Nationalismusforschung zum einen die unterschiedlichen gesellschaftlichen Voraussetzungen, Organisationsformen und Programmatiken von Staatsbildung und nationalistischer Mobilisierung in zahlreichen euro päischen Ländern und versucht zum anderen, insbesondere die Vielfalt der ›staatenlosen‹, ›peripheren‹ und Minderheits-Nationalismen in Osteuropa wie West- und Südeuropa typologisch zu ordnen sowie, auch im Blick auf die neueren postkommunistischen Nationalismen in Osteuropa, die gängige These zu differenzieren, dass ›Nationalismus‹ in der Regel Demokratisierungsprozesse mehr stört als vorantreibt. Die vier Beiträge des letzten Abschnitts greifen über Europa hinaus in die atlantische Welt, die hier nicht nur, wie meistens, als ›Wertegemeinschaft‹ verstanden wird, sondern sozusagen auch als Konstitutionsgemeinschaft, mit gemeinsamen (ebenso wie nicht-gemeinsamen) Wurzeln und geteilten Erfahrungen in komplexen interaktiven Entwicklungsprozessen, die allerdings auch wichtige Unterschiede, Ungleichheiten und Konflikte (und jede Menge Gewalt) produziert haben. Der Aufsatz über das ›Atlantische Syndrom‹ versucht, in Vergleich, Interaktions- und Beziehungsgeschichte das Dreieck Europa – Nordamerika – Lateinamerika in einer Langzeitperspektive auch relational zu ordnen, dabei die Eigenarten der jeweiligen Entwicklungen herauszuarbeiten und die Frage nicht zu vergessen, ob und inwieweit es den einen Pol der vielbeschworenen Dichotomie von ›the West and the rest‹, nämlich ›the West‹, denn tat sächlich gegeben hat. Spätestens hier hat der Autor übrigens bemerkt, dass es dringend nötig ist, an dieser Frage weiterzuarbeiten: Um auch einen klareren Blick auf den anderen Pol, ›the rest‹, zu bekommen, werden die Entwicklungswege nichtwestlicher Gesellschaften noch genauer zu untersuchen sein. Der etwas ältere Beitrag über Unabhängigkeit, Staatenbildung und gesellschaftliche Entwicklung in Nord- und Südamerika kann einen Teil des Arguments noch weiter differenzieren. Aus einer anderen Perspektive, aber mit vielen Bezügen und Querverbindungen zu den diskutierten Problematiken von Populismus, Revolutionen, Entwicklungsstrategien und Demokratisierung, diskutiert der Aufsatz über B auern, Widerstand und Politik in der außereuropäischen Welt zentrale Fragen von Protest, politischer Mobilisierung und organisierter Politik. Der letzte Beitrag zur ›Konstruktion‹ neuer Sozialstaaten in der Auseinandersetzung mit alten Modellen untersucht die Prozesse der Proliferation von Sozialstaatlichkeit aus ihrem europäisch-westlichen Ursprungsgebiet in den Rest der Welt besonders im Hinblick auf die dahinterstehenden selektiven (und inzwischen durchaus reziproken) transkontinentalen Lernprozesse und das Verhältnis von ansatzweise vorgeprägten ›Pfadabhängigkeiten‹ und politischen Entscheidungen (›agency‹). Die hier abgedruckten Aufsätze folgen einer Reihe großer Linien oder roter Fäden, die oben angedeutet worden sind. Es gibt kontinuierliche Erkenntnisinteressen und deutliche Sequenzen festgehaltener und neuer Forschungsfragen. Und es gibt eine weitere charakteristische Kontinuität: Mit Ausnahme 11
der ersten beiden sind alle Beiträge vergleichend angelegt. Das gilt auch für die große Mehrheit anderer, hier nicht berücksichtigter Arbeiten. Der historische und sozialwissenschaftliche Vergleich ist über die Jahre zu einer Art Markenzeichen des Autors geworden. Er hat ihn praktiziert und relativ früh schon propagiert, auch weil er davon überzeugt war (und ist), dass im genau fokussierten und von expliziten analytischen Fragen (und deren theoretischen und paradigmatischen Vordersätzen) geleiteten Vergleich ermittelte Erkenntnisse genauer, balancierter, trennschärfer, oft besser verallgemeinerbar und durchweg belastbarer sein können als monographisch ermittelte.8 Der vorliegende Band kann auch als ein Plädoyer für den Nutzen des historischen und sozialwissenschaftlichen Vergleichs gelesen werden. Dabei ist eine deutliche Ausweitung der Vergleichsräume und der Interak tions- und Beziehungsräume zu verzeichnen: Am Anfang standen Deutschland und Westeuropa, die USA kamen bald hinzu, später dann Lateinamerika und Südeuropa. Am Ende gibt es weltweite oder regional ›geclusterte‹ Vergleiche, vor allem in der Demokratieforschung, in Analysen von Konzeptproliferation oder ›political intermediation‹: vom Kaiserreich zur Globalisierung, oder plakativer ausgedrückt: von Januschau bis Cochabamba. ›Richtige‹ Globalgeschichte ist das noch nicht (sie ist ohnehin selten), aber doch einiges an ›entangled history‹ on the move. Und noch ein zweites fällt auf: Es gibt über die Zeit hin, und besonders in jüngster Zeit, leichte Veränderungen der Perspektive: ›Europa‹ wird stärker relativiert.9 Dies entspricht auch deutlichen Tendenzen in der breiteren Forschungslandschaft. Größere methodische ›Brüche‹ oder Umorientierungen sind dagegen eher nicht zu verzeichnen. Der Autor hat sich durchweg sowohl als Historiker als auch als Politikwissenschaftler verstanden, und je nach institutioneller Einbindung und Forschungskontext ist zu unterschiedlichen Zeiten mal das eine und mal das andere stärker betont worden. In beiden Disziplinen war der Forschungsansatz meist der einer ›altmodischen‹, aber immer wieder spannenden und aufregenden Weberianischen ›Konstellationsanalyse‹ mit gezielten (und hoffentlich immer hinreichend umsichtigen) Fragestellungen, eklektischen paradigmatischen Kombinationen und auf der Suche nach dem jeweils angemessenen MethodenMix, oft in der Mischung qualitativer und quantitativer Zugänge und Ermittlungen und mit Blick auf Institutionen und ›harte Daten‹ ebenso wie auf die Intentionen, Aktionen und Verhaltensweisen der beteiligten Akteure und deren vielfältige Vermittlungen. Dabei lernt man immer mehr, soziale Phänomene, die Durkheim ›wie Dinge‹ behandelt wissen wollte (comme des choses), also Insti8 Vgl. H. J. Puhle, Politische Agrarbewegungen, sowie ders., Theorien in der Praxis des vergleichenden Historikers, in: J. Kocka u. T. Nipperdey (Hg.), Theorie und Erzählung in der Geschichte (Theorie der Geschichte 3), München 1979, S. 119–136. 9 Vgl. auch H. J. Puhle, Zwischen Eurozentrismus, Universalismus und Provinz. Das atlantische Europa in Krise und Globalisierung, in: T. Ertl u. a. (Hg.), Europa als Weltregion. Zentrum, Modell oder Provinz?, Wien 2014, S. 51–65.
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tutionen, Organisationen, Vergesellschaftungen aller Art (wie Staat, Partei, Gewerkschaft, Bewegung, Bürokratie, Gruppe, Klasse, Nation, etc.) nicht statisch, sondern als Prozesse zu betrachten, die sozusagen ihre Konstitutionsgenese und weitere Vorgeschichte immer mitschleppen und reflektieren und sich ständig neu in verändertem Kontext verorten. Historisches Training hilft hier ungemein, selbst wenn man gelegentlich auch survey research betreibt und Variablen konstruiert. Ich entsinne mich einer denkwürdigen Nachtsitzung beim (höchst kontroversen) Entwerfen eines großen Fragebogens zu Beginn unserer Demokratisierungsstudien in Südeuropa Anfang der 1980er Jahre, als Juan Linz aus konkretem Anlass Erinnerungen an Stein Rokkan beschwor und wir uns dann völlig einig darin waren, dass alle systematischen Sozialwissenschaftler eigentlich (und am besten immer) auch Historiker sein sollten. Ein Sammelband mit ausgewählten Aufsätzen desselben Autors aus fünf Jahrzehnten ist immer ein gewisses Wagnis. Nicht nur, weil die Beiträge in Form, Duktus und Stil nicht immer einheitlich sind: Hier werden sie mit der Zeit weniger episch, Detailwürdigung, Satzverschachtelungen und Anmerkungsdichte nehmen ab, die Schneisen im Dickicht der Dinge, die Kontraste der Beleuchtung, skizzenhafte Zuspitzungen nehmen zu. Offenbar wächst mit den Jahren die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge nicht allzu komplex auszudrücken, zumindest ein wenig. Das Problem ist vielmehr die Auswahl der Beiträge. Da aus Platzgründen nur ein ganz geringer Teil der in Frage kommenden Aufsätze berücksichtigt werden kann, hängt – zumal bei einem Autor mit relativ weit gespannten Interessen – alles davon ab, welchen Fragen und Argumentationssträngen man bei der Zusammenstellung der Beiträge den Vorrang einräumen will. Ich hoffe, die hier nach langer Abwägung (und einigen alternativen Entwürfen) getroffene Auswahl und die oben erläuterten Überlegungen, die zu ihr geführt haben, leuchten auch den Lesern ein und können ihr I nteresse finden. Auch auf der Basis dieser Auswahlkriterien konnte vieles nicht mehr berücksichtigt werden, was durchaus noch dazu ›gepasst‹ hätte, z. B. Aufsätze über Preußen als Vorbild für Entwicklungsdiktaturen, über die Mythen der ›new nation‹ USA, über ›Führung‹ (leadership) in der Demokratie, über Erinnerungskultur nach Regimewechseln, oder zum historischen Vergleich. Es waren Prioritäten zu setzen. Die Aufsätze sind, abgesehen von formalen Angleichungen und vereinzelten kleinen Korrekturen, bewusst nicht überarbeitet worden. Der diskutierte Forschungsstand entspricht dem jeweiligen ersten Publikationsdatum, das nur in wenigen Fällen relativ ›zeitnah‹ zum Erscheinen dieses Bandes liegt. In einigen Texten sind vereinzelte aktuelle Hinweise in eckigen Klammern hinzugefügt worden. Den in den Beiträgen referierten Forschungsstand im Kontext dieses Bandes zu aktualisieren, empfahl sich nicht und wäre in einigen Fällen auch nicht möglich gewesen, ohne den ganzen Beitrag neu zu schreiben. Die Aufsätze stehen für die Entwicklung der Argumente in ihrer Zeit. Sie wurden geschrieben, um zur Diskussion und zur Weiterarbeit über die Probleme anzuregen. Dasselbe erhoffe ich mir von dem vorliegenden Band. Die Debatten und die gemeinsame Arbeit gehen weiter. 13
Meine dankbare Erinnerung gilt den zahlreichen Kollegen, Freunden, Mitstreitern, Diskussionspartnern, Widersachern und Studenten (alle samt -innen), die im Laufe der Jahre an irgendeinem Punkt mit der Entstehung und Diskussion der hier versammelten Aufsätze zu tun gehabt und mir in der einen oder anderen Weise geholfen haben. Einige von ihnen sind in den letzten Jahren gestorben und fehlen uns heute sehr: Friedrich Katz, Guillermo O’Donnell, Klaus Tenfelde, Albert O. Hirschman, Juan J. Linz, Hans-Ulrich Wehler und Gerhard A. Ritter. Mein aktueller und ganz konkreter Dank im Zusammenhang der Arbeit an dem vorliegenden Band gebührt den Herausgebern und der Herausgeberin der ›Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft‹ (der älteren wie der jüngeren Generation) für ihre Bereitschaft, ihre zahlreichen Anregungen und ihre Geduld, sowie Daniel Sander vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für vielfältige operative Hilfen.
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Politische Akteure und Prozesse im Wandel
Parlament, Parteien und Interessenverbände in Deutschland 1890–1914*
Die Lebensfragen der deutschen Politik vor 1914 wurden nicht im Parlament und auch nicht in erster Linie von Parteien und Interessenverbänden entschieden, sondern vor allem in den formellen und informellen, zivilen und militärischen, in der Regel von Preußen her beherrschten Gremien der Reichsleitung um den Monarchen und den Reichskanzler,1 in teilweise enger Koordination mit den außerpreußischen Regierungen und begleitet von mehr oder weniger stark ausgeprägten und wirksamen Appellen an die Öffentlichkeit. Dennoch vermögen gerade eine genauere Betrachtung der jeweiligen Konstellationen von Parteien und pressure groups und eine Analyse der Veränderung des Stellenwertes der parlamentarischen Verhandlungen im politischen Prozess, vor allem im Reich, aber auch in Preußen, zur Erhellung einiger zentraler Knotenpunkte des kontinuierlichen politischen Transformationsprozesses beizutragen, der die Zeit zwischen Bismarcks Entlassung und dem Kriegsausbruch beherrscht. Dieser Bereich der politisch relevanten Interaktion der polarisierten gesellschaftlichen Kräfte im Lande spiegelt wie kein anderer Sektor der Politik die entscheidenden Probleme der Epoche wider, die eng verzahnt sind mit den stufenweisen Auswirkungen jenes allgemeinen Prozesses, der charakterisiert ist durch die Sprengung der herkömmlichen Beziehungen und Institutionen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik durch die Wachstumsraten der Industrie.
I Die Industrialisierung und ihre Folgeerscheinungen sind es auch gewesen, die zu einer neuen Verortung der sozialen Konflikte geführt haben. Das traditionelle Spannungsverhältnis zwischen einer emanzipationsträchtigen, dynamischen Gesellschaft und einem den status quo von Herrschaft und Besitz sichernden Staat, das die Kategorien der liberalen Problemstellung des 19. Jahrhunderts be* Zuerst erschienen in: M. Stürmer (Hg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870–1914, Düsseldorf 1970, S. 340–377. 1 Vgl. J. C. G. Röhl, Germany without Bismarck, The Crisis of Government in the Second Reich, 1890–1900, London 1967. Es wäre eine lohnende und reizvolle Aufgabe, die Ergebnisse dieser eindringlichen Studie in Beziehung zu setzen zur Analyse der sozialen Triebkräfte der Epoche.
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stimmte und auch der bisher einzigen grundlegenden Analyse des Verhältnisses von Interessenverbänden und Parteien in Deutschland vor 1914 zum Ansatz gedient hat,2 wich nach Bismarcks Abgang in zunehmendem Maße neuen, anders verlaufenden politischen Kraftfeldern, die bestimmt sind vom Kampf zweier Lager der Gesellschaft um die Staatsmacht und vom Werben der in grundlegenden gesellschaftspolitischen Fragen zunehmend neutral sich verhaltenden Träger der Staatsmacht um die Unterstützung beider Lager für die von ihnen initiierte Politik des (von Bismarck pragmatisch und von Caprivi intentional kalkulierten, später grundsatzlosen) Ausgleichs3 und der Kompensationen. Die Zielsetzung der beiden Gruppierungen kann – idealtypisch vergröbert – mit den Termini: Demokratisierung und status quo umschrieben werden. Ihr harter Kern waren auf der einen Seite die um Teilhabe an und Integration in Staat und Gesellschaft kämpfende organisierte Arbeiterschaft und auf der anderen Seite die Kräfte um ›Thron und Altar‹, vor allem das preußische Landjunkertum und Militär, die untere und mittlere Verwaltungsbürokratie im Lande, sowie Vertreter der Großindustrie, deren grundsätzlicher consensus in sozialpolitischen Fragen durch die oberflächlichen und hochgradig ideologisierten Debatten um ›Agrar- oder Industriestaat‹ nur sporadisch verdeckt wurde. Das Drängen der Arbeiterschaft nach Emanzipation und die militante Entschlossenheit der Besitzenden zur Besitzstandswahrung mit allen Mitteln bis hin zum verkappten Staatssozialismus auf bestimmten Sektoren4 und der Bereitschaft zu Staatsstreich und präventiver Konterrevolution5 markieren in Hinsicht auf die Gesellschaft die beiden politischen Grundkonstanten des Vierteljahrhunderts vor dem Ersten Weltkrieg. Es ging dabei jedoch nicht, wie etwa in der ersten Phase der Französischen Revolution von 1789, in erster Linie um eine Anpassung der überholten politischen an die ökonomischen Herrschaftsverhältnisse bis hin zur angestrebten Kongruenz, sondern eher um die Abstimmung und Koordination von zwei postrevolutionären Prozessen, wenn es erlaubt ist, dem Einbruch der Industrialisierung und dem Ansatz der im Innern noch unfertigen Reichsgründung revolutionäre Impulse zu unterstellen. Staatsmacht und Regierung gerieten dabei zwischen die Fronten. Außer Caprivi und Miquel, die beide, der eine gegen die äußerste Rechte, der andere gegen die äußerste Linke, feste Vorstellungen über den gezielten Einsatz der Staatsmacht im Konflikt der gesellschaftlichen Kräfte hatten, beschränkten sich die Regierenden – einschließlich des sprunghaften und inkonsequenten Monarchen – in 2 T. Nipperdey, Interessenverbände und Parteien in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, in: PVS, Jg. 2, 1961, S. 262–280, bes. 262, jetzt auch in: H.-U. Wehler (Hg.), Moderne Deutsche Sozialgeschichte, Köln 1966, S. 369–388, bes. 369. 3 Vgl. W. Sauer, Das Problem des deutschen Nationalstaats, in: ebd., S. 407–436, bes. 433. 4 So im ›Antrag Kanitz‹ zur Errichtung eines staatlichen Außenhandelsmonopols für Getreide. SBR 142 (1894/5), 2. Anl. Bd., Nr. 211; vgl. auch A. Gerschenkron, Bread and Democracy in Germany, Berkeley 1943, S. 51–81. 5 Vgl. die Episode vom »Leutnant und zehn Mann«, SBR 259, 898 (29.I.1910), E. v. OldenburgJanuschau, Erinnerungen, Leipzig 1936, S. 110.
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der Regel auf reaktive Verhaltensweisen, gegen die Linke konsequent defensiv, der Rechten gegenüber weitgehend affirmativ,6 in einer Zeit, in der dem Staat eine gesellschaftspolitische Führungsrolle zugewachsen war, der er sich nicht mehr entziehen konnte. Die rapide Bevölkerungsvermehrung und die allmähliche Umkehrung des Verhältnisses von Land- und Stadtbevölkerung,7 die Verdoppelung bis Verdreifachung der Zahl der unselbständig Erwerbstätigen und der preußischen und Reichsbeamten sowie die Verzehnfachung des Haushaltsvolumens des Reichs zwischen 1872 und 19138 weisen zurück auf die vom Industrialisierungsprozess bedingte und ihm parallel laufende Zunahme der Funktionen einer sich immer mehr rationalisierenden staatlichen Verwaltung9 zum Zwecke einer koordinierenden Kanalisierung der gesellschaftlichen Triebkräfte und der vermehrten Intervention im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Dieser unabweisbare Funktionszuwachs im staatlichen Bereich stellt die dritte allgemeine Grundkonstante jenes ›Zugs der Zeit‹ zur Ausweitung des Spektrums der Politik dar, der im Wilhelminischen Reich noch manifester als zur Bismarckzeit zutage trat. Die zentralen Probleme des politischen Prozesses in Deutschland zwischen 1890 und 1914 erwachsen zu einem großen Teil aus den erwähnten Grund konstanten: Die erhebliche Zunahme der Gesetzgebungstätigkeit, die insbesondere der Reichstag auf den Gebieten der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik ausübte, bedingte ein verstärktes Interesse der Regierung einerseits am Parlament und an möglichst ›billig‹ austauschbaren parlamentarischen Koa litions partnern, andererseits aber auch an einem großen Potential an Möglichkeiten zur Umgehung oder Manipulation des Parlaments und der in ihm vertretenen Parteien. Diese versuchten ihrerseits zu einem großen Teil, sich gegen die ihnen angesonnene politische Kaltstellung durch eine bewusst vorangetriebene und verstärkte Verwurzelung in der Öffentlichkeit rückzuversichern, deren Stellenwert für den politischen Prozess immer bedeutsamer wurde. Die Herausbildung von agitatorisch tätigen Massenorganisationen, die gegenseitige Durchdringung von Parteien und Interessenverbänden mit der Folge zunehmender Flügelbildung und allmählicher Verapparatung der Parteien und die weitgehend organisierte 6 Dass der Handlungsspielraum der Regierung gegenüber den Kräften der Rechten bereits weitgehend eingeengt war, kommt bezeichnend in der Tatsache zum Ausdruck, dass es zwar 1878, 1887, 1893 und 1906 Reichstagsauflösungen gegen links, aber keine gegen rechts gegeben hat, worauf schon G. A. Ritter, Historisches Lesebuch 2, 1871–1914, Frankfurt 1967, S. 19 f. hingewiesen hat. 7 1871 verteilten sich die 41 Mio. Ew. des Dt. Reichs zu 63,9 % auf das Land und zu 36,1 % auf die Städte; 1925 (62,3 Mio. Ew.) 35,6 % auf das Land und 64,4 % auf die Städte. Stat. Jb. Dt. Reich 1914, S. 14–15; D. Petzina, Materialien zum sozialen und wirtschaftlichen Wandel in Deutschland seit dem Ende des 19. Jh., in: VfZ, Jg. 17, 1969, S. 308–338. 8 Von rund 350 Mio. M auf 3,5 Mrd. M. Ein Teil davon hat seine Ursache in der ›Verreich lichung‹ vormals preußischer Etatposten. 9 Vgl. E. Pikart, Die Rolle der Parteien im deutschen konstitutionellen System vor 1914, in: ZfP, Jg. 9, 1962, S. 12–32, bes. 13.
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Ausweitung des Bereichs der politischen Öffentlichkeit mittels Presse und anderer Agitationsformen begleiten als kontinuierliche Erscheinungsformen einer breit angelegten Demokratisierungswelle die beiden Haupttendenzen zur Fortbildung des preußisch-deutschen Konstitutionalismus, die die Jahre nach der Jahrhundertwende weitgehend beherrschten: Auf der einen Seite das Verlangen nach parlamentarischer Ministerverantwortlichkeit und Parlamentarisierung, erschwert durch den institutionellen Dualismus von Preußen und Reich sowie verschiedene Entwicklungstempi der Parlamentarisierung in den deutschen Einzelstaaten, und andererseits die teils von der Regierung, teils von den gesellschaftlichen Gruppen durch Appelle an die Öffentlichkeit geförderte Tendenz zur außer- und antiparlamentarischen Demokratisierung unter Umgehung repräsentativer ›corps intermédiaires‹, sei es im Sinne direkter, plebiszitär artikulierter Demokratie oder im Sinne eines manipulativen, bonapartistischen Cäsarismus. Die Kräftekonstellationen von Parlament, Parteien und Verbänden zueinander, gegenüber der Reichsleitung und der Öffentlichkeit lassen bereits vor dem Ersten Weltkrieg jene eklatanten Veränderungen des politischen Stils10 und die Transformationstendenzen des politischen Systems hervortreten, die nicht zuletzt konstitutiv für die institutionellen Irrtümer und den Untergang der Weimarer Republik geworden sind.
II Die Rolle der Parteien und Interessengruppen in der deutschen Politik der NachBismarck-Zeit ist vor allem gekennzeichnet durch den gelungenen Versuch des ersten Reichskanzlers, die traditionellen bürgerlichen Parteien der Konservativen und Liberalen zu bloßen Agenten wirtschafts- und sozialpolitischer Interessenwahrung zu degradieren und sie durch periodisch erzwungene Wechsel zwischen Gouvernementalismus und einer weder institutionalisierten noch eigentlich ›legitimen‹ Opposition zu spalten oder an den Rand des Zerfalls zu treiben. Auf der anderen Seite waren den Parteien in den hochpolitisierten Verbänden der Besitzenden, die die programmatischen wie technischen Konsequenzen aus der Einführung des allgemeinen, gleichen Reichstagswahlrechts wesentlich eher zogen als die Honoratiorenparteien älteren Typs, Konkurrenten um Einfluss und Macht erstanden, die erst in dem Maße allmählich zu Partnern wurden, in dem die parteipolitischen Fronten in Bewegung gerieten. Trotz der prinzipiell noch möglichen Unterscheidung aufgrund von Intention und Form personeller Patronage – die die Verbände, allerdings mit einer Reihe von Ausnahmen, in der 10 Zum Problem des politischen Stils und der political culture vgl. S. Verba, Comparative Political Culture, in: L. Pye u. S. Verba (Hg.), Political Culture and Political Development, Princeton 1965, S. 512–560; H. J. Puhle, Politischer Stil, in: H. H. Röhring u. K. Sontheimer (Hg.), Handbuch des Deutschen Parlamentarismus, München 1970, S. 398–401.
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Regel nicht direkt, sondern über die Parteien übten – waren Parteien und Interessengruppen als Interventoren im politischen Prozess grundsätzlich gleichwertig. Die Gründung verbandspolitisch orientierter ›Überfraktionen‹ im Reichstag seit 187811 und die zunehmende organisatorische und personelle Verfilzung von Parteien und pressure groups, die besonders durch die Anforderungen der Wahlkämpfe und der arbeitsteiligen Spezialisierung der parlamentarischen Arbeit gefördert wurde, lassen darüber hinaus jene Ansätze zur Analyse fragwürdig erscheinen, deren Typologie – teilweise in einer missverstandenen Bentley-Nachfolge12 – auf eine kategoriale Zuordnung der Parteien zur parlamentarischen Politik und der Interessengruppen zur ›Gesellschaft‹ hinausläuft.13 Die funktionale Reduktion des Stellenwerts der deutschen Parteien im politischen Prozess vor 1890, wie sie überdies auch in den repressiven Maßnahmen gegen Sozialdemokraten und Zentrum zum Ausdruck kam, und die Inflation der Verbandspolitik insbesondere nach 1890 sowie beider Überführung in neuerlich polarisierte Aktionseinheiten im Zuge einer merklichen ›Repolitisierung‹ der zuvor überdimensional ›ökonomisierten‹ Politik in den Jahren nach 1902 verlangen exaktere historisch-konkrete E rklärungsmodelle. Das Spektrum der pressure groups im Wilhelminischen Reich ist bunt und vielschichtig. Es umfasst um die Jahrhundertwende vornehmlich Organisatio nen der Besitzenden in drei Generationen, die auch drei verschiedene Typen und Funktionsweisen von Interessenvertretung ausgeprägt hatten, deren Übergänge ineinander zum Teil fließend sind: 1. Zur ersten Gruppe sind diejenigen freien Assoziationen, Vereine und Verbände zu rechnen, die gegen Ende des Jahrhunderts schon zu Gliederungen staatlich privilegierter Selbstverwaltungskörperschaften, meistens in Gestalt von Kammern oder Korporationen geworden waren, die sich auch dann, wenn sie Regierung und Verwaltung widersprachen, als Partner der Staatsmacht verstehen mussten und die die Interessen ihrer besonderen Produktionszweige nur noch im Rahmen der Regierungspolitik, aber nicht mehr gegen sie vertreten konnten. Dazu gehören vor allem die nach 1809 ins Leben gerufenen landwirtschaftlichen Vereine in ihren Zusammenschlüssen zu Zentralvereinen, Landwirtschaftsräten und anderen Dachverbänden wie dem preußischen Landesökonomiekollegium von 1842, dem auf den Kongreß der Norddeutschen Landwirte (1868) zurückgehenden Deutschen Landwirtschaftsrat (1872) und schließlich den Landwirtschaftskammern14 einerseits und im Bereich der gewerblichen Wirtschaft andererseits den seit den vierziger Jahren bestehenden, in der Regel durch staatlichen 11 Z. B. in den ›Wirtschaftlichen Vereinigungen‹. 12 Vgl. R. Breitling, Pressure Groups, in HSW 1956, 8, S. 528–534; A. F. Bentley, The Process of Government. A Study of Social Pressure, Evanston, o. J. (1908), und die Übersicht bei W. Hirsch-Weber, Politik als Interessenkonflikt, Stuttgart 1969. 13 Vgl. G. Schulz, Über Entstehung und Formen von Interessengruppen in Deutschland seit Beginn der Industrialisierung, in: PVS, Jg. 2, 1961, S. 127. 14 In Preußen durch Gesetz v. 30.06.1894 errichtet; in Oldenburg und Anhalt 1900; in Braunschweig, Hessen, Baden, Sachsen 1906.
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Zwang gegründeten Korporationen der Kaufmannschaften und vor allem den Handelskammern, die ihren Zusammenschluss im Deutschen Handelstag (1861) gefunden hatten.15 Typologisch gehören auch die erst verhältnismäßig spät durch Gesetz von 1897 begründeten Handwerkskammern und ihre Vorläufer in den Gewerbekammern einiger deutscher Staaten sowie gewerbliche Zentralverbände und die früheren Handwerkervereine16 zu dieser Gruppe von partnerschaftlich-korporativer und daher nur begrenzt politisch wirkungsmächtiger Interessentenorganisation, deren gemeinsame Kennzeichen der doppelte, gegenläufige Informationsfluss zwischen staatlicher Bürokratie und der Vertretung des artikulierten Gruppeninteresses sowie die Versuche sind, bei wichtigen wirtschaftspolitischen Entscheidungen eine Abstimmung der Interessen ex ante zu erreichen. Im politischen Kräftefeld nach 1890 war das Gewicht der Gruppen dieses ersten Typs der Interessenvertretung von neueren Verbandsgründungen, deren personelle Zusammensetzung sich zum Teil mit der der älteren Gremien deckte,17 erheblich zurückgedrängt worden, trotz ihres bleibenden, wenn auch verminderten Einflusses auf der Verwaltungsebene.18 2. Zur zweiten Gruppe von Interessenverbänden gehören jene Organisationen, die sich gegen Ende der sechziger und vor allem Anfang der siebziger Jahre zur Eindämmung des wirtschaftlichen Liberalismus und zur Durchsetzung einer schutzzöllnerischen Politik zusammengefunden hatten, mit der 15 Zur Geschichte der Handelskammern vgl. W. Fischer, Unternehmerschaft, Selbstverwaltung und Staat. Die Handelskammern in der deutschen Wirtschafts- und Staatsverfassung des 19. Jhs., Berlin 1964, und die Regionalstudie von K. van Eyll, Die Geschichte einer Handelskammer, dargestellt am Beispiel der Handelskammer Essen, 1840–1900, Köln 1964. 16 Vgl. H. E. Krueger, Historische und kritische Untersuchungen über die freien Interessenvertretungen von Industrie, Handel und Gewerbe in Deutschland, Sch. Jb., Jg. 32, 1908, S. 1581–1614, sowie das Verzeichnis der im Dt. Reich bestehenden Vereine gewerblicher Unternehmer zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen, hg. v. RdI, Berlin 1903. 17 Vgl. die Korrespondenz in den Akten des preuß. Min. f. Landwirtschaft etc., DZA II, Rep. 87 B Nr. 3 B Landw. Vereine, und in den Akten des Geh. Zivilkabinetts, DZA II, Rep. 89 H XXIV Gen 62, Landwirtschaftskammern. Die ›Eroberung‹ des Deutschen Handelstags durch den Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller ab 1876 und später den CVDI spiegelt ebenso wie die personelle Infiltration des Bundes der Landwirte in die Zentralvereine, ostelbischen Landwirtschaftskammern, das Landesökonomiekollegium und den Deutschen Landwirtschaftsrat die Kontinuität der von den älteren Gremien vertretenen Interessen wider, zu deren Trägern jeweils die sektoral stärksten Verbände wurden. 18 Vgl. anlässlich der Kartelldiskussionen in den Handelskammern (1881) die Verlautbarung Boettichers, die Kammern als »Organe der Staatsverwaltung« sollten sich »jedes Urteils darüber enthalten, wie sie sich aus dem ihnen bekannt gewordenen Tatsachen das Gesamtbild der Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse denken«, sowie diverse schikanöse Einzelmaßnahmen in: SBR 66, 5,1, 1881/2 v. 16. XII. 1881, S. 443 und SBAH 131, 14,3, 1882, v. 7.III. 1882, S. 724 f. Vgl. H. Nussbaum, Unternehmer gegen Monopole, Berlin 1966, 36 ff. Bleibende Bedeutung gewannen die halbstaatlichen Korporationen als Rekrutierungs gremien für Funktionäre und Manager der späteren pressure groups; der langjährige CVDI-Geschäftsführer H. A. Bueck z. B. begann seine Karriere 1866 als Generalsekretär des Landw. Zentralvereins für Litauen und Masuren.
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ausdrücklich erklärten Zielsetzung, politischen und parlamentarischen Druck ausüben zu wollen. An der Wiege dieser ersten pressure proups im engeren Sinn standen vor allem die Eisen- und Stahlindustrie und die Textilindustrie, neben anderen Organisationen im Verein zur Wahrung der gemeinsamen Interessen im Rheinland und Westfalen (Langnamverein, 1871) und vor allem im Centralverband Deutscher Industrieller, der 1876 unter dem Vorsitz Kardorffs gegründet worden war;19 es gehörten aber auch Vertreter der getreidebauenden ostelbischen Großlandwirtschaft dazu, die endgültig aufgehört hatte, Exportwirtschaft zu sein und der die seit Beginn der Agrarkrise im Jahre 1873 kontinuierlich fallenden Getreidepreise erheblich zu schaffen machten.20 Gemeinsam mit einer Reihe Industrieller gründeten sie 1876 die Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer, um »die Ideen und Grundsätze einer gemeinnützigen, auf christlicher Grundlage beruhenden Volkswirtschaft im Volke zu verbreiten und in der Gesetzgebung zum Ausdruck zu bringen«.21 Die Stoßrichtung ihrer politischen Tätigkeit zugunsten einer Einschränkung des wirtschaftlichen Liberalismus ging vor allem gegen Regierung und Verwaltung, bezog aber das Parlament als einen entscheidenden Ort wirtschaftspolitischer Gesetzgebung erstmals in größerem Stil mit ein. Zu dieser zweiten Gruppe gehören dem Typ nach auch der Bund der Industriellen (BdI) und der regional zunehmend einflussreiche Verband sächsischer Industrieller unter der Führung Stresemanns,22 die 1895 bzw. 1902 zur Vertretung der Interessen der exportintensiven, verarbeitenden und Fertigungsindustrie, die sich vom CVDI vernachlässigt fühlte, gegründet worden waren,23 19 Zur Vorgeschichte, insb. der Gründung des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller im Westen (1873), vgl. H. Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht, Köln 1966, S. 341 ff., 359 ff., 387 ff., sowie J. Winschuh, Der Verein mit dem langen Namen, Berlin 1932; H. A. Bueck, Der Centralverband Deutscher Industrieller, 3 Bde., Berlin 1901 ff.; für die spätere Zeit: H. Kaelble, Industrielle Interessenpolitik in der Wilhelminischen Gesellschaft (CVDI 1895–1914), Berlin 1967. 20 Genaue Preisstatistiken in: U. Teichmann, Politik der Agrarpreisstützung. Marktbeeinflussung als Teil des Agrarinterventionismus in Deutschland, Köln 1955, S. 114 ff.; H. Rosenberg, Zur sozialen Funktion der Agrarpolitik im Zweiten Reich, in: Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt 1969, S. 51–80. 21 Statut der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer, zit. W.v. Altrock, Agrar. Bewegung, in: HSt I, Jena 1924 4, S. 73; vgl. F. Stephan, Die zwanzigjährige Tätigkeit der Steuerund Wirtschaftsreformer, Berlin 1900. 22 Vgl. D. Warren, Jr., The Red Kingdom of Saxony: Lobbying Grounds for Gustav Stresemann, 1901–1909, The Hague 1964; zur Vorgeschichte F. Miethke, Die organisatorische Zusammenfassung der sächsischen Industrie bis zur Gründung des Verbandes sächsischer Industrieller, in: Veröfftl. d. Verb. sächs. Industrieller, Heft L, 1927. 23 Zum BdI vgl. W. Wendlandt, Die zehnjährige Tätigkeit des Bundes der Industriellen, in: Jahresbericht 1904/5, Berlin 1906; Nussbaum, Unternehmer. Zur Fülle der spezialisierten Zusammenschlüsse vgl. die Liste im Anhang bei Nussbaum, S. 226–239, sowie R. Liefmann, Die Unternehmerverbände (Kartelle, Konventionen), Freiburg 1897; Handbuch wirtsch. Vereine u. Verbände des Dt. Reiches, hg. v. Hansabund, Berlin 1913; W. Kuhlemann, Die Berufsvereine, Jena 1908.
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sowie die zunächst miteinander konkurrierenden, erst 1913 fusionierten re gionalen und zentralen Arbeitgeberverbände der beiden großen Industriesektoren24 und eine ganze Reihe spezialisierter Vertretungen von gewerblichen und industriellen Produzenteninteressen. Auch die fränkischen und die katholischen Bauernvereine in Westfalen und im Rheinland können diesem Typus von pressure group als Sonderformen zugerechnet werden. 3. Der dritte Typ des Interessenverbandes im Wilhelminischen Reich ist vor allem charakterisiert durch seinen Appell an die Öffentlichkeit, die direkte und massive propagandistische Intervention bei den Parlamentswahlen und die zunehmende organisatorische und auch personelle Verfilzung mit den politischen Parteien sowie der Verbände untereinander. Der Prototyp dieser Kategorie und zugleich auch die wirkungsmächtigste, am straffsten organisierte und stärkste Organisation ist der Bund der Landwirte (BdL), der 1893 als oppositioneller Kampfverband gegen den Abbau der Schutzzölle im Zuge der Caprivischen Handelsvertragspolitik und mit dem Ziel gegründet wurde, möglichst langfristige institutionelle Sicherungen der ostelbischen Getreideproduzenten gegen die Folgen einer langandauernden strukturellen Fehlentwicklung und aktueller Konjunkturschwankungen durchzusetzen.25 Wie der Bund der Landwirte waren auch die anderen Verbände, die in den 1890er Jahren und nach der Jahrhundertwende ins Leben traten, Produkte des sozialpolitischen Treibhausklimas des Wilhelminismus, so der Bayerische Bauernbund,26 der Deutsch-Natio nale Handlungsgehilfenverband,27 die Gruppen der Mittelstandsbewegung28 wie auch die liberalen Gegenbewegungen im Handelsvertragsverein (1900), im 24 Als angesichts der Crimmitschauer Streiks vom Sommer 1903 offenbar geworden war, dass die älteren Arbeitgeberverbände (1878 Anhalt, 1896 Sachsen) mit harten Arbeitskämpfen nicht im Sinne der Unternehmer fertig wurden, gründete der CVDI am 8.I.1904 die Hauptstelle Deutscher Arbeitgeberverbände; die Verbände der Fertigungsindustrie riefen daraufhin den Verein Deutscher Arbeitgeberverbände ins Leben (23. VI. 1904). Beide fusionierten 1913 zur Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Vgl. Warren, Saxony, 40 ff.; R. Leckebusch, Entstehung und Wandlungen der Zielsetzungen, der Struktur und der Wirkungen von Arbeitgeberverbänden, Berlin 1966; G. Kessler, Die deutschen Arbeitgeberverbände (VSP 124), Leipzig 1907. 25 Vgl. H. J. Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im Wilhel minischen Reich (1893–1914). Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte und der Deutsch-Konservativen Partei, Hannover 1967. Zur Vorgeschichte: S. R. Tirrell, German Agrarian Politics after Bismarck’s Fall. The Formation of the Farmers’ League, New York 1951. 26 Die Ambivalenz populistischer und bes. agrarischer Bewegungen zwischen Demokratie und Reaktion tritt in der Geschichte des BBB wesentlich deutlich zutage als bei dem interessenpolitisch und ideologisch weitaus stärker festgelegten BdL. 27 Vgl. I. Hamel, Völkischer Verband und nationale Gewerkschaft. Der DHV 1893–1933, Frankfurt 1967. 28 Gemeint sind hier weniger die mitgliederstarken Verbände des neuen Mittelstandes (1911 über 800.000 in 62 Verbänden), deren politische Interessen weitgehend von den liberalen Parteien und vom Hansabund wahrgenommen wurden, als vielmehr die Organisationen des alten Mittelstands, z. B. der Bund der Handwerker, Zentralverband Dt. Kaufleute
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Hansabund29 und Deutschen Bauernbund (1909). Eine Sonderform dieses dritten Typus stellen die reinen Agitationsvereine dar, allen voran die ideologische ›Holding Company‹30 des Alldeutschen Verbandes (1890), der Deutsche Kriegerbund, die Kolonialgesellschaft (1882/87), der Ostmarkenverein (HKT), der Deutsche Flottenverein (1898), der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie (1904) und viele andere.31 Nicht erfasst von dieser groben Typisierung werden die jenigen Verbände, deren Ziel die Emanzipation der Unterprivilegierten war, in erster Linie die Organisationen der Arbeitnehmer, vor allem die Zentralvereine der Freien Gewerkschaften32 sowie auch – mit Einschränkungen – der Volksverein für das katholische Deutschland als Basisorganisation der Zentrumspartei33 und der im akademischen Raum beheimatete Verein für Sozialpolitik.34 Das Spektrum der politischen Parteien ist nicht ganz so vielfältig wie das der pressure groups, dennoch weist es selbst dann, wenn man die kleinen Minderheitsgruppen in Preußen (Polen, Welfen, Dänen), die Elsässer sowie Anti semiten und Mittelständler, die sich kurzfristig als Parteien konstituierten, ebenso beiseitelässt wie die regionalen Sonderformen in manchen Einzelstaaten,35 auch in der Beschränkung auf die sechs wichtigsten Gruppen eine erhebliche Spannweite auf: Der Begriff der politischen Partei umfasst dabei von der schlagkräftig organisierten und trotz der beginnenden Auseinandersetzungen um die Agrarfrage und den Revisionismus ideologisch noch monolithischen SPD auf der einen bis hin zum schwach organisierten Honoratiorenclub der und Gewerbetreibender, die Mittelstandsvereinigungen in Hannover, Bayern, Sachsen und im Rheinland 1903–1905 und die Reichsdeutsche Mittelstandsvereinigung v. 1911. Vgl. M. Biermer, Mittelstandsbewegung, in: HSt VI, 19103, S. 740 ff. 29 Vgl. die Berichte von W. Bergius, Der Handelsvertragsverein. Ein Rückblick auf die ersten drei Jahre seiner Tätigkeit, Berlin 1903, und J. Riesser, Der Hansabund, Jena 1912. 30 E. Kehr, Soziale und finanzielle Grundlagen der Tirpitzschen Flottenpropaganda, in: ders., Der Primat der Innenpolitik (hg. v. H.-U. Wehler), Berlin 1965, 144. 31 Vgl. A. Kruck, Geschichte des Alldeutschen Verbandes, 1890–1939, Wiesbaden 1954; M. S. Wertheimer, The Pan-German League, 1890–1914, New York 1924; K. Saul, Der ›Deutsche Kriegerbund‹. Zur innenpolitischen Funktion eines ›nationalen‹ Verbandes im kaiserlichen Deutschland, in: MGM, Jg. 2, 1969, S. 95–159; A. Galos u. a., Die Hakatisten. Der Deutsche Ostmarkenverein 1894–1934, Berlin 1966; E. Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894–1901, Berlin 1930, und die Beiträge in: D. Fricke u. a. (Hg.), Die bürgerlichen Parteien in Deutschland. Handbuch der Geschichte der bürgerlichen Parteien und anderer bürgerlicher Interessenorganisationen vom Vormärz bis zum Jahre 1945, 2 Bde., Leipzig 1968 u. 1970. 32 Vgl. G. A. Ritter, Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich, Berlin19632. Dort auch weitere Verweise. 33 Vgl. E. Ritter, Die katholisch-soziale Bewegung Deutschlands im 19. Jh. und der Volks verein, Köln 1954. 34 Dazu D. Lindenlaub, Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik, Beihefte 52/3 VSWG, Wiesbaden 1967. 35 Über die wichtigste der regionalen Parteien informiert die Studie von K. Simon, Die württembergischen Demokraten. Ihre Stellung und Arbeit im Parteien- und Verfassungssystem in Württemberg und im Deutschen Reich 1890–1920, Stuttgart 1969.
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Freikonservativen Partei auf der anderen Seite so heterogene Gebilde wie die demokratisch strukturierten linksliberalen Teilgruppen,36 die autoritären Agrarkonservativen, das mühsam zusammengehaltene Konglomerat der National liberalen Partei und die Konfessionspartei des Zentrums, die es nach dem Ende des die Parteieinheit konsolidierenden Kulturkampfes schwer hatte, für den politischen Alltag eine programmatische Linie zu finden.37
III Die Interaktion von Parteien und Interessengruppen im letzten Vierteljahr hundert vor dem Ersten Weltkrieg muss unverständlich bleiben ohne einen Blick auf das politische Bezugssystem der handelnden Gruppen, das zum einen charakterisiert ist durch den Dualismus der Institutionen zwischen Preußen und dem Reich: in Preußen das Dreiklassenwahlrecht und ein kollegial orga nisiertes Staatsministerium als Relikt absolutistischer Zeiten, im Reich das allgemeine, gleiche Wahlrecht für den Reichstag und der Primat des Reichskanzlers und der preußischen Staatsregierung im Bundesrat. In beiden Fällen entzogen zum anderen die Beamtenherrschaft in den auswärtigen Angelegenheiten, das Fehlen der parlamentarischen Ministerverantwortlichkeit und die preußische Kriegsverfassung wichtige politische Grundsatzentscheidungen dem Parlament und damit einer verantwortlichen öffentlichen Einwirkung. Die Verfassung des Bismarckreichs hatte eine unübersehbare Tendenz, Parteien und andere gesellschaftliche Gruppierungen zum eigentlichen ›politischen Betrieb‹ nicht zuzulassen und ihnen, zumal angesichts des Mitwirkungsrechts des Reichstags an Finanz- und Zollgesetzen, als Kompensation in gewissen Grenzen Einfluss auf den wirtschaftlich-sozialen Bereich einzuräumen. Otto Hintze hat dies schon 1911 kritisiert,38 und die Riehl hat es auf die bekannte Formel gebracht, Bismarck habe die Parteien vergesellschaftet, um die Gesellschaft verstaatlichen zu können. Diese Tendenz hatte zudem besonders seit B eginn des 36 Die Deutsch-Freisinnige Partei (1884–1893), später ab 1910 die Fortschrittliche Volkspartei, von 1893–1910 vor allem die Freisinnige Volkspartei und die Sezessionisten in der Frei sinnigen Vereinigung sowie die DVP im süddeutschen Raum. 37 Von allen bürgerlichen Parteien konnte das Zentrum die interne Fraktionierung am besten kompensieren durch die integrative Wirkung des einheitlichen katholischen Milieus. Vgl. dazu den Ansatz von M. R. Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur: Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: W. Abel u. a. (Hg.), Wirtschaft, Geschichte, Wirtschaftsgeschichte, Fs. f. F. Lütge, Stuttgart 1966, S. 371–393, dessen Konti nuitätsthese allerdings im Einzelnen der Korrektur bedürfte. 38 Das monarchische Prinzip (1911), in: O. Hintze, Staat und Verfassung, Göttingen 1962, S. 378; M. Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland (1918), in: ders., Ges. Politische Schriften, Tübingen 1971, S. 306–443. Vgl. S. Neumann, Die deutschen Parteien, Berlin 1932, S. 18 ff.; W. Conze, Die deutschen Parteien in der Staatsverfassung vor 1933, in: E. Matthias u. R. Morsey (Hg.), Das Ende der Parteien 1933, Düsseldorf 1960, S. 2–28.
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Umschwungs in der Zollpolitik in den siebziger Jahren den stärkeren Verbänden, besonders dem Centralverband Deutscher Industrieller und der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer, qua Sachverstand, persönlichen Beziehungen, Organisation und Informationsvorsprung bereits ein Übergewicht gegenüber den Parteien in jenen Fragen eingeräumt, die wirtschaftspolitisch interessant waren. In der Zeit nach 1890, als der Kaiser, Eulenburg und Bülow in dem schon von Caprivi nicht mehr ausgefüllten Machtvakuum ihr ›persönliches Regiment‹ errichteten,39 mit einem starken Bedürfnis nach charismatisch-cäsaristischer und plebiszitärer Absicherung, wurde jene Tendenz noch verstärkt: Denn dieses ›persönliche Regiment‹ vor 1900 lenkte nicht nur die Interessen jener, die in dieser »fast anarchisch anmutenden Verwirrung politischer Kompetenzen und realer Macht«40 noch regierten, eher in die Bahnen eines weitgehend objektlosen Imperialismus und martialisch-bramarbasierender Weltmachtgesten als in die Niederungen der Wirtschaftspolitik, die vornehmlich den protektionistisch gesonnenen Interessenten überlassen blieb. Das Bedürfnis der Herrschenden nach plebiszitärer Akklamation vergrößerte auch den machtpolitischen Stellenwert des »politischen Massenmarkts« (Rosenberg) und seiner ideologisch-demagogischen Steuerung, in der – mit Ausnahme der durch die übersteigerte Sozialistenfurcht der bürgerlichen Schichten isolierten SPD – nicht die Parteien, sondern die jüngeren Verbände wie der Bund der Landwirte oder der Alldeutsche Verband Meister waren. Hinzu kam, dass nach dem Zerfall des konservativ-nationalliberalen Kartells im Reichstag 1890 die Regierung darauf angewiesen war, sich zur Verabschiedung ihrer Gesetzesvorlagen wechselnder parlamentarischer Mehrheiten zu versichern, deren Kern – mit Ausnahme des kurzlebigen Bülow-Blocks von Konservativen und Liberalen aller Schattierungen zwischen 1907 und 1909 – in der Folge von der Zentrumspartei gebildet wurde, die in wirtschaftspolitischen Fragen keineswegs eindeutig festgelegt, sondern durchaus für die Einflüsse anderer Gruppen offen war. Generell brachten die neunziger Jahre und die Jahre nach der Jahrhundertwende eine rapide Zunahme organisierter Interessenpolitik: zum einen aufgrund der seit 1890 andauernden Krise des Regierungssystems an dessen Spitze; zum anderen, weil die Auswirkungen der seit den siebziger Jahren andauernden wirtschaftlichen Deflation und der krisenhaften Konjunkturlagen um 1890 die Solidarisierung der Interessenten in neuen Organisationsgründungen beschleunigten.41 Zum dritten verstärkten die großen politischen Kontroversfra39 Dazu jetzt vor allem Röhl, Germany. 40 M. Stürmer, Machtgefüge und Verbandsentwicklung in Deutschland, in: NPL, Jg. 14, 1969, S. 490–507, hier: 490. 41 Vgl. die Arbeiten von H. Rosenberg, Wirtschaftskonjunktur, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa 1873–1896, in: Wehler (Hg.), Mod. dt. Sozialgeschichte, S. 225–253; ders., Große Depression und Bismarckzeit, Berlin 1967, und: Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt 1969. Außerdem I. N. Lambi, Die Organisation der industriellen Schutzzollinteressenten, in: K. E. Born (Hg.), Mod. dt. Wirtschaftsgeschichte, Köln 1966, S. 296–308; K. W. Hardach,
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gen zwischen 1890 und 1914 trotz aller ideologischen Uniformierungstendenzen im Rahmen eines völkischen Nationalismus und diverser uneinheitlicher Bestrebungen zur ›Sammlung‹ der ›patriotischen‹ Gruppen gegen die Sozial demokratie42 die Tendenz zur Polarisierung der politischen Kräfte primär nach Interessengesichtspunkten.43 Die teilweise offenbar noch umstrittene Frage, ob die Hauptstoßrichtung der politischen Verbandsaktivität auf Regierung und Verwaltung, auf das Parlament oder in die Öffentlichkeit zielte,44 weist dabei zurück auf einen nuancenreichen, aber unübersehbaren Verschiebungsprozess der Konstellationselemente der political culture des von Bismarck hinterlassenen Reiches: War die Interventionspraxis der Verbände in den späten siebziger und in den achtziger Jahren vornehmlich durch die stille Kontaktpflege des Centralverbandes Deutscher Industrieller zu den Spitzen der Regierung und zur Bürokratie charakterisiert, so überwogen in der Zeit nach 1890 die parlamentarische Tätigkeit und die laute öffentliche Agitation der neueren Verbände im Gefolge des Bundes der Landwirte. Dazu beigetragen hatten nicht nur die Mechanismen des allgemeinen, gleichen Reichstagswahlrechts, die allmählich und immer stärker auch die kompliziertesten wirtschaftspolitischen Sachverhalte (wie etwa das international umstrittene Problem des Bimetallismus) aus der parlamentarischen Auseinandersetzung in die Öffentlichkeit der Wahlkämpfe trugen und die den wohlorganisierten Verbänden nahelegten, Foren permanenter, direkter Agitation und Diskussion zu etablieren, die auch nach 1902 bestehen blieben, als mit dem Zolltarifkompromiss der Primat der Wirtschaftspolitik (vor allem aufgrund des Endes der radikalen Opposition des Bundes der Landwirte) wieder reduziert wurde zugunsten anderer, vornehmlich sozial- und verfassungspolitischer Probleme. Eine andere, sehr wesentliche Ursache der Ausweitung des Bereichs politischer Öffentlichkeit lag in den nach plebiszitärer Rückversicherung verlangenden cäsaristischen Praktiken der Bismarckschen Politik einer kontinuierlichen Staatsstreichdrohung.45 Nach dem Sturz des Kanzlers, der das mobilisierte und Die Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren bei der Einführung der Eisen- und Getreidezölle in Deutschland 1879, Berlin 1967, und die grundlegenden Studien von H. Böhme, Deutschlands Weg, und Wehler, Bismarck und der Imperialismus, Köln 1969; für die spätere Zeit: Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik, und: Primat, sowie Puhle, Agrarische Interessenpolitik. 42 Zur Kontroverse über die Sammlungspolitik vgl. Kehr, Schlachtflottenbau, S. 172, 266 f.; Puhle, Agrar. Interessenpolitik, S. 158 ff. Die Hamburger Dissertation von Dirk Stegmann konnte hier noch nicht berücksichtigt werden [D. Stegmann, Die Erben Bismarcks, Köln 1970]. 43 Vgl. die Ausführungen von Rosenberg, Böhme, Wehler, Kehr, Kaelble, Puhle. 44 U. a. gestellt von W. Fischer, Staatsverwaltung und Interessenverbände im Deutschen Reich 1871–1914, in: C. Böhret u. D. Grosser (Hg.), Interdependenzen von Politik und Wirtschaft, Fs. f. G. v. Eynern, Berlin 1967, S. 431–456, hier 437 ff. 45 Vgl. Sauer, Nationalstaat, S. 407–436, bes. 426 ff.; M. Stürmer, Staatsstreichgedanken im Bismarckreich, in: HZ, Bd. 209, 1969, S. 566–615; ders., Konservatismus und Revolution in Bismarcks Politik, in: ders. (Hg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870– 1918, Düsseldorf 1970, S. 143–167. Ferner J. C. G. Röhl, Staatsstreichplan oder Staatsstreichbereitschaft? Bismarcks Politik in der Entlassungskrise, in: HZ, Bd. 203, 1966, S. 610–624.
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zum Teil akklamationsbereite demokratische Potential planvoll zu dosieren und zu manipulieren verstanden hatte, blieben die freigesetzten plebiszitären Energien zunächst sich selbst überlassen; die Objektseite des Cäsarismus verselbständigte sich, bis sie neu strukturiert wurde in der Polarisierung der beiden Fronten der Gesellschaft. So kam in den neunziger Jahren alles zusammen: Die Hinterlassenschaft eines Cäsarismus ohne Cäsar, das Machtvakuum an der Spitze und die Richtungslosigkeit der Regierungspolitik zwischen den sich zunehmend organisierenden Fronten von rechts und von links, die ›Ökonomisierung‹ des politischen Tageskampfes und eng damit verknüpft die Bildung der agitatorisch tätigen Verbände der dritten Stufe, das demokratische Reichstagswahlrecht und der Föderalismus mit den unvermeidlichen Entwicklungsdivergenzen zwischen den Einzelstaaten, die die Innenstruktur der Parteien historisch vorgeprägt hatten, aber nicht die der Verbände. Wie, von wem, mit welchen Zielsetzungen und mit welcher Zukunftsperspek tive konnten die Möglichkeiten des dergestalt vorgeprägten politischen Bezugssystems des Wilhelminischen Deutschland überhaupt noch konkret ausgefüllt werden?
IV Der Versuch, das Spektrum organisierter Interessen und deren Einfluss auf die Politik der Parlamente und Regierungen in Deutschland vor 1914 im Sinne eines strukturellen (d. h. den Gesamtzeitraum umgreifenden) Idealtyps zu beschreiben, der freilich der permanenten Modifikation und Kritik durch das konkrete Material unterliegt, muss notgedrungen zu einer Revision der bekannten These von einer allmählichen Parlamentarisierung des konstitutionellen Systems nach der Jahrhundertwende und besonders seit der Herbstkrise von 190846 führen. Die beiden Prozesse der Vermehrung der Zuständigkeiten und des Einflusses des Reichstags auf der einen und der Demokratisierung des ö ffentlichen Lebens auf der anderen Seite waren weder deckungsgleich noch förderten sie einander direkt; es handelt sich vielmehr um gegenläufige Prozesse, deren Beziehungen lediglich vermittelt sind. Wenn man auch im institutionellen Bereich Ansätze zur Parlamentarisierung wahrnehmen kann, so wurden diese im Ergebnis nicht nur neutralisiert, sondern ausgeschaltet durch die vehement antiparlamentarischen Inhalte der Demokratisierungstendenzen im Bereich der political culture: Erstens: Ohne Zweifel vergrößerte sich das institutionelle Gewicht des Reichstags vor 1914 erheblich, sowohl gegenüber der Reichsleitung als auch gegenüber 46 Vgl. W. Frauendienst, Demokratisierung des deutschen Konstitutionalismus in der Zeit Wilhelms II., in: ZfGS, Bd. 113, 1957, S. 721 ff. Wesentlich vorsichtiger U. Bermbach, Vor formen parlamentarischer Kabinettsbildung in Deutschland, Köln 1967, S. 18–22.
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den Einzelstaaten. Dazu trugen die generelle Ausweitung des Bereichs legislativer Kompetenzen im Gefolge der Expansion staatlicher Interventionszwänge und die Verlagerung eines großen Teils des preußischen Haushaltsvolumens in den Reichsetat47 ebenso bei wie die Orientierungs- und Machtlosigkeit der Regierungen vor 1900, der auch danach noch andauernde Mangel an Koordination zwischen Kanzler, Kaiser und Reichsämtern, die zunehmende Machtlosigkeit des Bundesrats und der Rückgang des föderalen Prinzips,48 das allmähliche Schwinden jeder Erfolgschance einer Revolution von oben und nicht zuletzt die von der Regierung erstrebte Disziplinierung und Entpolitisierung der Beamten, die sich aus dem Parlament zurückzogen.49 Ebenso kann nicht bestritten werden, dass auch die durch die Verschiedenheit der Wahlsysteme bedingten institutionellen Reservate der außerpreußischen Einzelstaaten allmählich eingedämmt wurden: Württemberg, Baden und Bayern konzedierten 1904 bzw. 1906 das gleiche Wahlrecht,50 und die 13jährigen Wahlrechtsmanipulationen im Königreich Sachsen endeten 1909 mit einer der größten politischen Fehlspekulationen der Kartellparteien: Selbst das neue plutokratische und ständische Pluralwahlrecht zur Zweiten Kammer51 bot keine Sicherung mehr gegen den ›Ruck nach links‹, der sich 1912 auch im Reichstag vollzog. Der »rote 21. Oktober«52 brach die monopolartige traditionelle Vormachtstellung der agrarischen Mittelstandskonservativen nicht zuletzt unter tätiger Mithilfe ›linker‹ Nationalliberaler um Stresemanns Industriellenverband und dank der Tatsache, dass es in Sachsen kein Zentrum gab, das den Konservativen, wie im Reich so oft, zu Hilfe hätte kommen können.53 47 Der Etat des RdI betrug 1890: 8 Mio. M, 1914: 108 Mio. Die Hamburger Dissertation von P. C. Witt war für den Verf. nicht erreichbar [P. C. Witt, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches von 1903 bis 1913, Lübeck 1970]. 48 Vgl. E. Deuerlein, Der Bundesratsausschuß für die auswärtigen Angelegenheiten 1870–1918, Regensburg 1955. 49 J. C. G. Röhl, Beamtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland, in: Stürmer, Das kaiserl. Deutschland, S. 287–311, sowie: H. Horn, Der Kampf um den Bau des Mittellandkanals, Köln 1964, S. 64 ff.; Richtlinien des preuß. Staatsministeriums für die Wahlen von 1898, in: Puhle, Agrar. Interessenpolitik, S. 331. 50 Zur Entwicklung in Bayern: K. Bosl, Gesellschaft und Politik in Bayern vor dem Ende der Monarchie, in: Zs. bayr. Landesgeschichte, Jg. 18, 1965, S. 1–31; für Baden vgl. den Ausblick bei L. Gall, Der Liberalismus als regierende Partei, Wiesbaden 1968, S. 492 ff.; für Württemberg: Simon, Demokraten. 51 1896 war in Sachsen das gleiche Wahlrecht durch das Dreiklassenwahlrecht ersetzt worden. Für einige große Kommunen wurde ein Fünf-Klassen-Wahlrecht eingeführt (Leipzig 1894, Chemnitz 1904, Dresden 1905). – Die Wahlrechtsreform von 1909 (mit 72:5 Stimmen in der Zweiten Kammer angenommen) sah ein Pluralwahlrecht mit bis zu vier nach Einkommen und der Wahrnehmung öffentlicher Ämter gestaffelten Stimmen vor. Vgl. A. Pache, Geschichte des sächsischen Landtagswahlrechts von 1831–1907, Dresden 1907, sowie Sächs. Gesetzblatt v. 1909, S. 339–349. 52 Deutsche Industriezeitung Nr. 44 v. 30 X. 1909, S. 535 f. 53 Die SPD errang (bei einfacher Zählung) mehr als 50 % der Stimmen, 8 % in der höchsten Stimmklasse (4), 26 % in der zweithöchsten. Die Zahl der Sitze stieg auf 25 (1907: 1); NL 29 (31),
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In Preußen büßte das kollegiale Staatsministerium allmählich seine zuvor im Hinblick auf die Bundesratsinstruktionen und die Drohung mit dem Staatsstreich höchst bedeutsame politische Rolle immer mehr ein, zuerst aufgrund der seit Caprivi einsetzenden Führungslosigkeit und der gescheiterten Opposition gegen den Kaiser vor 1897,54 dann auch durch die zunehmende ›Staatssekretarisierung‹55 und vor allem durch die Verlagerung wichtiger Funktionen auf die Reichsbehörden. Der dadurch geschaffene Freiraum für Ansätze zur Parlamentarisierung wurde in Preußen jedoch nicht nur durch die Bremsfunktion der hochkonservativen Notabelnkammer des Herrenhauses eingeschränkt, sondern vor allem durch den Umstand, dass die vom Wahlrecht abgesicherten und relativ konstanten konservativen Mehrheiten beider Konfessionen im Abgeordnetenhaus die Vorrechte von Hof und Regierung respektierten, weil diese ihren Interessen nicht zuwiderhandelten, zumal die interessenpolitisch brisanteren Probleme an diesem Ort weniger zur Debatte standen. Zweitens: Die Zunahme des institutionellen Gewichts des Reichstags ließ jedoch keine gesamtpolitische Richtung erkennen. Weit entfernt von der »Morgendämmerung eines parlamentarischen Ministeriums nach englischer Art«, die Friedrich Naumann mit dem Bülow-Block heraufziehen sah,56 ließ der Mangel eines Zwangs in die Verantwortung den bürgerlichen Parteien weitgehend die Freiheit, ihre Politik im Halbdunkel zu lassen. Die auch im vorparlamen tarischen Konstitutionalismus dennoch »grundlegende Erfahrung eines Dualismus von Mehrheit und Minderheit«57 blieb für sie in ihrem Inhalt – aktiv oder passiv – austauschbar, punktuelle legislatorische Koalitionsbildung für oder gegen die Regierung ohne personelle oder vitale Konsequenzen. Es gab eigentlich keine Politik des Parlaments gegenüber der Regierung. Eher war das Parlament ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Antagonismen von Emanzipations- und Abwehrbewegungen, die alles überschatteten. Das organi sierte soziale und gesellschaftspolitische Umfeld dieser Auseinandersetzung bildet die eigentlich charakteristische Konstante dieser Epoche. Demgegenüber war die mit schwacher oder lässiger Hand geführte Regierungspolitik kurzfristig zur Anpassung bereit und veränderlich. Die Regierung akzeptierte zwischen 1890 und 1912 zahllose Abänderungen ihrer Vorlagen, die ihr von wechselnden Dt. Kons. 29 (47), Linksliberale 8 (3). Über das Ende der fast unumschränkten parlamen tarischen Machtstellung des konservativen Parteiführers Paul Mehnert vgl. R. Martin, Deutsche Machthaber, Berlin 1910, S. 517–519. 54 Vgl. Röhl, Germany, S. 85 ff., 118 ff.; E. Klein, Funktion u. Bedeutung des pr. Staatsministeriums, in: Jb. Gesch. Mittel- u. Ostdeutschlands, Jg. 9/10, 1961, S. 195–261. 55 D. h. die Ernennung von Reichs-Staatssekretären zu preußischen Staatsministern ›ohne Portefeuille‹. 56 Naumann am 15. XII. 1907, zit. n. T. Heuss, Friedrich Naumann, Der Mann, das Werk, die Zeit, Stuttgart 1949, S. 248. Vgl. auch F. Naumann, Demokratie und Kaisertum, Berlin 19042, S. 228 ff. 57 Bermbach, Kabinettsbildung, S. 20; auch: Pikart, Parteien, S. 21 f.
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Parlamentsmehrheiten aufgezwungen wurden. Sie versuchte dabei, den ›Linken‹ zu geben, was ihr unvermeidlich schien, ohne die ›Rechten‹ vital zu treffen, zum Beispiel zog sie den Zedlitz-Trützschlerschen Schulgesetzentwurf in Preußen zurück, nahm die Ablehnung von Umsturz- und Zuchthausvorlagen schließlich hin und ermöglichte außer den Miquelschen Steuerreformen und der bescheidenen Modifizierung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen die wohldosierte, eher patriarchalisch motivierte Posadowskysche Sozialgesetzgebung58 ebenso wie das Reichsvereinsgesetz von 1908. Die Konzessionen an die Rechten, vor allem die Konservativen, den Bund der Landwirte und Teile der Nationalliberalen und des Zentrums waren allerdings wesentlich umfangreicher. Mochte auch Einigkeit herrschen über die zentrale Machtfrage, eine wirksame Wahlrechtsreform in Preußen zu verhindern, und über die Politik der Flottenrüstung (zumindest mit dem industriellen Flügel der Rechtsparteien): die erhebliche Verzögerung des Projekts zum Bau des Mittellandkanals, das Börsengesetz von 1896, den ab geänderten Zolltarif von 1902 und die Entschärfung der Reichsfinanzreform von 190959 musste die Regierung hinnehmen. Der Bruch des Bülow-Blocks und damit der Sturz des Reichskanzlers, der sich ohne Not an dieses ›Überkartell‹ gebunden hatte, waren ebenso auch Erfolge der Agitation und Intrigen von rechts wie vorher der Sturz Caprivis, des um sozialen Ausgleich bemühten Mannes »ohne Halm und Ar«, Marschalls oder Boettichers. Die Ratifikation der letzten Caprivischen Handelsverträge (erstmals auch mit den Stimmen der Sozialdemokraten) gleichzeitig mit der Formierung der agrarischen Opposition im Bund der Landwirte und das Reichstagswahlergebnis von 1912 markieren in innenpolitischer Hinsicht deutlich einen 18jährigen Zeitraum der Konzessionen vornehmlich an die Verbände und Parteien der Besitzenden. Eine Zäsur innerhalb dieser Periode bedeutet der Zolltarifkompromiss von 1902. Er war einer der größten politischen Erfolge der organisierten Agrarier,60 der es den Konservativen ermöglichte, für die nächsten zehn Jahre die Rolle der radikalen wirtschaftspolitischen Opposition dauerhaft mit der einer halb saturierten, in jeder Hinsicht staatserhaltenden ›Regierungspartei‹ in wechselnden Mehrheitsbündnissen zu vertauschen und damit das bisherige Monopol des Zentrums auf diese Rolle der permanenten Bereitschaft zur Unter58 Dazu die Kontroverse zwischen K. E. Born, Staat und Sozialpolitik seit Bismarcks Sturz, Wiesbaden 1957, S. 250, und G. A. Ritter, Arbeiterbewegung, S. 19 f. 59 Das neue Bündnis von Deutsch-Konservativen, Reichspartei, Wirtschaftl. Vereinigung und Zentrum, der spätere ›schwarz-blaue Block‹, bewilligte der Regierung in den Ab stimmungen von Mai-Juli 1909 zwar die Steuern in voller Höhe, jedoch in einer völlig anderen Zusammensetzung als die Regierungsvorlage vorsah (u. a. ohne die projektierten Erbschafts- und Besitzsteuern). Vgl. die von der SPD herausgegebene Dokumentation: Die Finanzreform von 1909 und die Parteien des Reichstags, Berlin 1910. 60 Vgl. Korr. BdL, Nr. 13 v. 12. II. 1907, und Puhle, Agrar. Interessenpolitik, S. 238 ff. Die neuen Zollsätze nach dem Antrag Kardorff, gegen den der BdL formal bis zuletzt agitierte, ba sierten eindeutig auf den Vorschlägen der Agrarier und lagen erheblich über den Sätzen der Regierungsvorlage.
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stützung der Regierung zu brechen. Das Ende der agrarischen Opposition war die erste Voraussetzung für den späteren Bülow-Block. Das entscheidende Vorrücken des Reichstags gegenüber der Regierung in den letzten beiden Vorkriegsjahren, wie es vor allem in der Konzession einer Verfassung für Elsass-Lothringen, der Veränderung der Geschäftsordnung des Reichstags, in der Diskussion um den Wehrbeitrag und besonders deutlich im ersten ausdrücklichen, wenn auch institutionell folgenlosen parlamentarischen Misstrauensvotum anlässlich des Zaberner Zwischenfalls zum Ausdruck kam, ist weitgehend auf die Verschiebung der Fronten bei den Wahlen von 1912 zurückzuführen, aus denen die SPD als stärkste Partei hervorgegangen war und in denen die anderen Parteien Verluste erlitten hatten.61 Zu diesem Wahlergebnis hatten nicht zuletzt eine Reihe von Wahl- und Stichwahlbündnissen, vor allem zwischen der SPD und den Linksliberalen beigetragen.62 Erst der Linksruck von 1912 brachte ohne Zweifel im institutionellen Bereich erheblich verstärkte Ansätze zur Parlamentarisierung, die es erlauben, von einer gewissen Kontinuität bis hin zu den vom Kriegsverlauf erzwungenen Verfassungsreformen, der ersten parlamentarischen Mehrheitsbildung im Juli 1917, der Reform des preußischen Wahlrechts, zum Interfraktionellen Ausschuss und zur Weimarer Koalition zu sprechen.63 Auf der anderen Seite nötigt aber nicht erst die weitere Geschichte der Weimarer Republik, sondern bereits eine genauere Analyse der Parteien und Verbände vor 1914 zu der Erkenntnis, dass die Parlamentarisierungstendenzen nach 1912 im Gesamtprozess der politischen Systemveränderung die schwächere Linie, die rezessive Komponente repräsen tieren, deren Wirkungsmacht von relativ kurzer Dauer bleiben sollte. Drittens: Die parlamentarischen Gruppen im Kaiserreich waren außerstande, die teils durch den Rückzug der Regierung, teils durch sozioökonomische Entwicklungszwänge entstandenen Machtvakua dauerhaft auszufüllen. Die Ursachen dieses Mangels an politischer Vitalität und Führungsenergie sind vielschichtig, weisen jedoch alle zurück auf den Transformationsprozess der Parteien und der anderen gesellschaftlichen Gruppen im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung, die Ausweitung politischer Öffentlichkeit und sozialer Partizipation und die mörderischen Kämpfe zwischen Emanzipations- und Abwehrbewegungen, in deren Verlauf die alten Parteien trotz der Kontinuität ihres sozialen Einzugsbereiches weitgehend aufgerieben oder zumindest in ihrer politischen Substanz zerstört wurden, die Arbeiterbewegung ihr angesammeltes Machtpotential am Ende nicht konsequent – oder gar revolutionär – einsetzen konnte 61 SPD 110 Sitze gegenüber 53 Ende 1911, FVP 42 (50), NL 45 (52), Z 91 (102), RP 16 (26), Dt. Kons. 43 (60). Einzelheiten in: A. Blaustein, Die Reichstagswahlen 1912, in: Die Parteien, ZfP 1912, S. 352–380, 364. 62 Vgl. J. Bertram, Die Wahlen zum Deutschen Reichstag vom Jahre 1912, Düsseldorf 1964. Schon 1903 hatte es bei den preuß. Landtagswahlen vereinzelte Abkommen zwischen SPD und Linksliberalen gegeben. 63 Dazu vor allem Bermbach, Kabinettsbildung.
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und aus denen die Phalanx der neu formierten völkisch-nationalen Abwehrbewegungen – alles in allem – fürs erste siegreich hervorging.64 Die gemeinsamen Erscheinungsformen dieses Prozesses wurden unter anderem deutlich in der seit Anfang der 1890er Jahre rapide zunehmenden Ideologisierung des politischen Alltags auf dem Hintergrund der aus aktuellem Anlass wirtschaftlich, interessen- und verbandspolitisch65 vermittelten Zuspitzung der Klassengegensätze, im Heraufkommen reiner Agitationsverbände, dem Wirrwarr der ›Interpellationen‹ von Parlamentskandidaten durch die Verbände vor der Nominierung,66 dem Emporschnellen der Zeitungsauflagen,67 einer Vielfalt neuer Agitationsformen und -techniken zur Mobilisierung der Massen68 und einer sehr hohen Wahlbeteiligung.69 Die permanente Wahl- und Zwischenwahlagitation, die von den besser organisierten Parteien und Verbänden planvoll und zielbewusst eingesetzt wurde,70 erforderte vor allem Geld und 64 Trotz der Verschiedenheit im Tempo industriellen Wachstums weist die italienische Entwicklung vor 1914 strukturelle Ähnlichkeiten auf im Hinblick auf die fehlende revolutionäre Alternative des Sozialismus und die Bedeutung der neuen Formierung eines prä faschistischen Nationalismus. Vgl. A. Gerschenkron, Notes on the Rate of Industrial Growth in Italy, 1881–1913, in: ders., Economic Backwardness in Historical Perspective, Cambridge, MA 1962, S. 72–89; ders., The Industrial Development of Italy. A Debate with Rosario Romeo, in: Continuity in History and other Essays, Cambridge, MA 1968, S. 98–127. 65 Zur Bedeutung des neuen Typs des ›Verbandsmenschen‹: F. Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik, Berlin 1906, S. 381. 66 Dieser Mechanismus implizierte einerseits die ›Deklarationspflicht‹ des Kandidaten und andererseits die Kontrolle seines parlamentarischen Abstimmungsverhaltens durch die ihn stützenden Gruppen, auf deren Programme oder Ziele er sich (in der Regel schriftlich) hatte verpflichten müssen. 67 Insbes. auch die Gründung von Massenblättern, z. B. steigen die Auflagen der Berliner Morgenpost zwischen 1895 und 1914 von 160.000 auf 400.000; des agrarkonservativen ›BdL‹ von 180.000 auf 250.000; des Berliner Tageblatts von 64.000 auf 230.000, des Vorwärts von 48.000 auf 160.000. Der Berliner Lokalanzeiger hatte 1902 eine Auflage von 235.000, die ›Flotte‹ 1904: 285.000; die Auflagenhöhe der katholischen und Zentrumspresse betrug 1912 insgesamt 2,6 Mio. (446 Zeitungen); die Auflagen der ›seriösen‹ liberalen oder freikonservativen Blätter lag teilweise weit unter 50.000 (Tägl. Rundschau 48.000, Berliner Neue Nachrichten 12.000, Dt. Zeitung 14.000, Post 6.000). Die konservative Deutsche Tages zeitung (im Besitz des BdL) hatte eine Auflage von 22.000; die Auflage der Kreuzzeitung ging zurück von 9.500 auf 8.500. Vgl. H. Heenemann, Die Auflagenhöhe der Deutschen Zeitungen, Diss. Leipzig 1929, S. 74 ff.; Martin, Deutsche Machthaber, S. 532; Morsey, Zentrumspartei, S. 48. 68 Über die Vermehrung der Zahl der Versammlungen, Unterschriftensammlungen, die Vielfalt und Auflagenhöhe der Flugblätter, Wanderrednertourneen, Schulungskurse und Aktivitäten der Basisorganisationen oder Vertrauensmänner vgl. die Angaben bei Puhle, E. Ritter, Schilling, Fricke (Handbuch) und Bertram. 69 Die Reichstagswahlbeteiligung betrug 1871: 50,7 %; 1874: 60,8; 1877: 60,3; 1878: 63,1; 1881: 56,1; 1884: 60,3; 1887: 77,2; 1890: 71,2; 1893: 72,2; 1898: 67,7; 1903: 75,8; 1907: 84,3 und 1912: 84,5 %. 70 Vgl. z. B. die Übersicht über den Rhythmus der Wahlagitation des BdL bei Puhle, Agrar. Interessenpolitik, S. 324 f.
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Disziplin. Die enorm ansteigenden Wahlkampfkosten71 verstärkten die Interven tionsmöglichkeiten finanzkräftiger Verbände und Individuen in den Prozess der innerparteilichen Kandidatenauswahl und ihren Einfluss auf die Inhalte der Agitation.72 Die vom Konkurrenzkampf der politischen Gruppen erzwungene Disziplin schlug sich nicht nur in der Wirksamkeit der Stichwahlabkommen zwischen den Parteien und der Organisation sachverständiger parlamentarischer Hilfsdienste nieder, sondern wirkte sich vor allem auf die organisatorische Struktur insbesondere der bürgerlichen Parteien aus:73 Jetzt zählte nicht mehr in erster Linie die Zielsetzung und die Redlichkeit des politischen Programms, sondern allenfalls dessen Werbewirksamkeit, mehr noch die taktische und technische Effizienz, mit einem Wort: Organisation. Die allmähliche Ablösung der losen Komitee-Verfassung durch die Bildung lokaler und zentraler Wahl- und Hauptvereine, die Ausweitung der Jugend- und Frauenarbeit, die zunehmende Bedeutung und der Ausbau bürokratischer Parteiapparate,74 wenn auch meistens unter der politischen Führung der Berliner Fraktionen,75 und das Einrücken vitaler, meistens bürgerlicher Berufspolitiker in die von den Honoratioren geräumten parlamentarischen Stellungen76 sind ebenso charakteristische Erscheinungen dieses allgemeinen Wandlungsprozesses wie bestimmte zahlenmäßige Größenordnungen im Verhältnis der wichtigsten politischen Gruppen zueinander: Außer der SPD und dem Volksverein für das Katholische Deutschland77 hatte keine der politisch bedeutsamen Massenorganisationen ohne korporative Mitgliedschaft vor 1914 über 350.000 Mitglieder;78 das ordentliche Haushaltsvolumen der drei größten politischen Organisationszentralen: SPD, Volksverein und Bund der Landwirte, zentrierte sich um die Jahrhundertwende relativ einheitlich um eine halbe Million Mark und stieg bis 1910, weniger einheitlich, 71 Rund gerechnet verzehnfachten sich die Wahlkampfkosten zwischen 1880 und 1912. Nähere Angaben bei T. Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918, Düsseldorf 1961, S. 91, und vor allem Bertram, Reichstagswahlen, S. 190–193. 72 Das gilt vor allem für den BdL, die Industrieverbände, den Hansabund und die nationalen Agitationsvereine. 73 Eine Ausnahme macht lediglich die Freikonservative Partei, an der diese Entwicklung vorüberzugehen schien. Die SPD war bereits seit 1890 auch nach außen hin straff durch organisiert. 74 Vgl. Nipperdey, Organisation, S. 42 ff., 86 ff., 176 ff. 75 Auch die verstärkt als Akklamationsveranstaltungen durchgeführten Parteitage wurden vorwiegend von den Fraktionen beschickt. Die Partei- oder Delegiertentage der bürgerlichen Parteien, die ihre traditionelle Funktion als Beschlussgremien der Parteiprogramme zunehmend verloren (da die Programme immer unwichtiger wurden), hatten vor 1914 in der Regel keinen direkten Einfluss auf die Zusammensetzung der Parteileitungen (meistens ›Ausschüsse‹ genannt). 76 Die Diätenregelung von 1906 auch im Reichstag trug diesem Prozess Rechnung. 77 Die SPD hatte 1913 1.086.000 Mitgl. (1906: 384.000), der VVKD 1914: 805.000 (1891: 109.000). 78 Der BdL hatte 1913: 330.000 Mitgl.; die Zahl der individuellen Mitglieder im Flottenverein betrug 333.000 (780.000 korporative Mitglieder); NL Partei 330.000, Reichsverb. gegen die Sozialdemokratie 221.500. Der relativ unpolitische Evangelische Bund (510.000) kann hier außer Betracht bleiben.
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höchstens bis zur Millionengrenze an.79 Was die örtlichen Basisorganisationen (wenn man von Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen absieht) angeht, so hielten in den Siedlungszentren die rund 5000 Ortsvereine der SPD (1913) die Spitze vor den rund 4000 Ortsgruppen des Flottenvereins. Die Zahl der Grundorganisationen der beiden großen liberalen Parteien stieg von je ca. 400 in den neunziger Jahren auf je ca. 2000 im Jahre 1914.80 Lediglich solche Verbände, die ihren Rückhalt vor allem auf dem Lande hatten wie der Bund der Landwirte (Durchschnittsdichte: 10 Mitglieder pro Ortsgruppe) und der deutsche Kriegerbund/Kyffhäuserverband (Durchschnittsdichte: 100) erreichten rund 30.000 Basiseinheiten. Eine stärkere Auffächerung an der Basis im Lande wiesen nur noch die nach dem Organisationsprinzip der Vertrauensleute aufgebauten Verbände, zum Beispiel der katholische Volksverein auf.81 Viertens: Die Konsequenzen des umfassenden Transformationsprozesses der politischen Gruppen wiesen allerdings im Einzelnen durchaus verschiedene Akzente auf: Die Organisationen der Arbeiterbewegung auf der linken Seite des Spektrums organisierter Interessen, die SPD und die mitgliederstarken (und notwendigerweise finanzkräftigen) Zentralverbände der Freien Gewerkschaften82 blieben von der eigentlichen »Infiltration in die Machtträger«83 weitgehend ausgeschlossen. Ihnen blieb der Einfluss in der Öffentlichkeit und allenfalls in den Parlamenten, vor allem im Reichstag, wo die SPD-Mandate – mit der Ausnahme der von den Rechtsparteien auf einer Woge imperialistischer Ideologie gewonnenen »Hottentotten-Wahlen« von 190784 – kontinuierlich anstiegen. Die politisch isolierte Klassenpartei der Arbeitnehmerschaft war bereits bei ihrer Wiederzulassung nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes im Jahre 1890 die erste und größte straff durchorganisierte und dank ihrer wirt79 Genauere Angaben bei G. A. Ritter, Arbeiterbewegung, S. 228 f., E. Ritter, Katholisch-soziale Bewegung, S. 232 f., Puhle, Agrar. Interessenpolitik, S. 46 f. Die offiziellen Angaben können allerdings nur die Bedeutung von Richtwerten haben, da bei den bürgerlichen Gruppen nicht immer ersichtlich ist, inwieweit die Gewinne aus dem Vertrieb von Druckschriften und aus den ausgegliederten Betrieben mitberücksichtigt sind. 80 Nationalliberale 2207, Fortschr. VP 1700. 81 Vgl. E. Ritter, Kath.-soziale Bewegung, S. 228 ff. 82 Die Zentralverbände, in denen sich die älteren, nach 1884 entstandenen gewerkschaftlichen Fachvereine nach dem Vorbild der großen zentralisierten Industrieverbände zusammengeschlossen hatten, und die seit 1890 die Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands (später ADGB) bildeten, steigerten ihre Mitgliederzahl von 277.659 (1891) auf 2.511.137 (1914). Demgegenüber hatten die Christlichen Gewerkschaften 1911 rund 350.000, die linksliberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine nur noch etwas über 100.000, die ›gelben‹ Gewerkschaften (›Wirtschaftsfriedliche Vereine‹) trotz der Förderung durch nationalliberale Unternehmer nach 1907 zwischen 160.000 und 230.000. ›Unabhängige‹ Gruppen kamen auf nahezu 800.000. 83 K. Loewenstein, Verfassungslehre, Tübingen 1959, S. 378. 84 Vgl. D. Fricke, Der deutsche Imperialismus und die Reichstagswahlen von 1907, in: ZfG, Jg. 9, 1961, S. 538–576.
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schaftlichen Eigenbetriebe auch finanziell unabhängige Massenorganisation in Deutschland. Ihre Organisationsstruktur, gekennzeichnet einerseits durch eine in formaler Hinsicht demokratische Kompetenzverteilung der Parteiorgane und Mechanismen der Willensbildung von unten nach oben,85 und andererseits durch eine stabile bürokratische Funktionärselite, nahmen sich die späteren agrarisch-konservativen und katholischen Massenorganisationen unverhohlen zum Vorbild.86 Das Verhältnis zwischen der Partei und den sozialistischen Gewerkschaften war generell eine Beziehung arbeitsteiliger Kooperation: Im Gegensatz zu den sozialistischen Gewerkschaften in England, die sich 1900 das Labour Represen tation Committee (LRC) und 1906 die daraus hervorgehende Labour Party als parlamentarische Vertretung ihrer gewerkschaftlichen Interessen erst schufen und bis in die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts die Politik der Arbeiterpartei entscheidend mitbestimmen,87 überließen die jüngeren, durchweg in der Disziplin der Partei sozialistisch orientierten deutschen Gewerkschaften seit dem Parteitag von Köln (1893) den Bereich der allgemeinen Politik der SPD und beschränkten sich im grossen und ganzen auf die Sozialpolitik und Tarifauseinandersetzungen. Die pragmatische Politik der personell eng mit der Partei verflochtenen und ebenfalls hochbürokratisierten Gewerkschaften wurde allerdings zu einem der entscheidenden Faktoren im Streit um den Kurs der Partei zwischen Kautskyanis mus, Revisionismus und Revolution.88 Ebenso wie die Verfassungswirklichkeit der außerpreußischen Einzelstaaten und die Diskussion um die Agrarfrage be85 Auf deren Verkehrung in der Realität hat bereits R. Michels hingewiesen: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Leipzig 1911. Der Einfluss von Parteileitung und Gewerkschaften auf die Kandidatenaufstellung wird allerdings (im Gegensatz zum Einfluss auf den politischen Kurs der Partei) oft übertrieben dargestellt. Vgl. Nipperdey, Organisation, S. 375, und vor allem E. Matthias u. E. Pikart (Hg.), Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898–1918, Bd. I, Düsseldorf 1966, S. LXIX ff., LXXIX ff. Ferner: G. A. Ritter, Arbeiterbewegung; G. Roth, The Social Democrats in Imperial Germany, Totowa, NJ 1963; P. Nettl, The German Social Democratic Party 1890–1914 as a political model, in: Past & Present 30, 1965, S. 65–95, bes. 76 ff., 83 ff., 90 f. 86 Vgl. den Gründungsaufruf des BdL (»unter die Sozialdemokraten gehen«) zuerst in: Landwirtschaftliche Tierzucht, Bunzlau, v. 21. XII. 1891, O. v. Kiesenwetter, Zehn Jahre wirtschaftspolitischen Kampfes, Berlin 1903, S. 14 f. Die Zahl der hauptamtlichen Funktionäre (ohne Berücksichtigung der angeschlossenen Betriebe) erreichte vor 1912 bei der SPD, dem BdL und dem VVKD Rekordgrößen zwischen 200 und 300. Die Zentralverbände der sozialistischen Gewerkschaften hatten zusammen vor 1914 rund 3.000 hauptamtliche Funktionäre. 87 G. A. Ritter, Zur Geschichte der britischen Labour Party 1900–1918, in: K. D. Bracher u. a. (Hg.), Die moderne Demokratie und ihr Recht, Fs. f. G. Leibholz, Tübingen 1966, Bd. I, S. 393–440. 88 Auf diese grundlegenden Auseinandersetzungen kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. vor allem die Schriften von K. Kautsky, E. Bernstein, E. David, Rosa Luxemburg; ferner: E. Matthias, Kautsky und der Kautskyanismus, in: Marxismusstudien 2, 1957, S. 172 ff.; Nettl, German Social Democracy, S. 72 ff., 78 ff., 90 f.
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stärkte die Gewerkschaftspolitik die Tendenzen zu einer reformistischen Politik in der Partei gegen den Entwicklungsdogmatismus der Kautskyaner. Bezeichnend dafür ist zum Beispiel der teilweise unter dem Eindruck der sächsischen Arbeitskämpfe von 1903 und der ersten russischen Revolution89 gefasste Beschluss des Parteivorstandes von 1905/6, den Massenstreik zwar als politisches Kampfmittel zu propagieren, ihn aber im wesentlichen nur defensiv und im Einvernehmen mit den Gewerkschaften einzusetzen. Die Wahlbündnisse mit den Liberalen von 1912 und die parlamentarische Mitarbeit an schrittweise vorgenommenen Reformen innerhalb des bestehenden Systems, die sich in den letzten beiden Vorkriegsjahren ankündigte, deuten darüber hinaus an, dass sich der Vorbildmechanismus der 1890er Jahre umgekehrt hatte: Die vormals ›politischste‹ Partei zeigte Tendenzen, sich nun ihrerseits in der Wahrnehmung kurzfristiger Zielsetzungen teilweise dem beherrschenden politischen Stil der bürgerlichen Gruppen anzugleichen. Die allgemeine Tendenz des zunehmenden Einflusses der Verbände auf die Politik der Parteien wirkte sich so auf dem linken Flügel mäßigend aus und führte zu einer stärkeren Akzentuierung pragmatischer Elemente gegenüber dem Impetus der Theorie. Die Allianz der Zentrumspartei mit dem Volksverein für das katholische Deutschland, der als einziger bürgerlicher Massenverband grundsätzlich den sozio-ökonomischen Entwicklungsprozess der Zeit akzeptierte, war enger, aber der Volksverein blieb wesentlich eine in der Praxis autoritär von oben nach unten organisierte Hilfsorganisation der Partei. Vom Zentrum lässt sich sagen, dass diese Partei von allen am stärksten von ihrer agitatorisch tätigen Massenorganisation profitierte und am allerwenigsten von ihr verformt oder verändert wurde. Der Volksverein hat ebenso wenig wie die christlichen Gewerkschaften einen entscheidenden Einfluss auf die Formulierung der Zentrumspolitik gewinnen können, die zudem auch dem Druck der katholischen Bauernvereine, individueller industrieller Interessenten und vor allem kirchlicher Institutionen ausgesetzt war. Der »politischen Volkshochschule« der Mönchen-Gladbacher kommt zwar neben der (im Gegensatz zur Gesamtpartei) zunehmend modern und schlagkräftig organisierten rheinischen Regionalorganisation der Partei90 ein großes Verdienst daran zu, dass sich im sogenannten ›Zentrumsstreit‹ seit der Jahrhundertwende endgültig die Kölner Richtung um J. Bachem und Trimborn durchsetzen konnte gegen die katholischen Agrarkonservativen im Trierer Raum und in Schlesien91 und gegen die restaurative, berufsständische Opposi89 Dazu E. Heilmann, Geschichte der Arbeiterbewegung in Chemnitz und im Erzgebirge, Chemnitz 1912; R. W. Reichard, The German Working Class and the Russian Revolution of 1905, in: JCEA, Jg. 13, 1953, S. 136–153; D. Fricke, Der Aufschwung der Massenkämpfe der deutschen Arbeiterklasse unter dem Einfluß der russischen Revolution von 1905, in: ZfG, Jg. 5, 1957, 771–790. 90 Vgl. dazu R. Morsey, Die Zentrumspartei in Rheinland und Westfalen, in: W. Först (Hg.), Politik und Landschaft, Köln 1969, S. 9–50, bes. 18 ff. 91 Repräsentiert vor allem durch die Gruppe um den Breslauer Kardinal Kopp.
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tion der rheinischen Bauernvereine.92 Andererseits bewirkte der Zwang zum innerparteilichen Interessenausgleich, der die Einheit und Handlungsfähigkeit der Reichstagsfraktion beeinträchtigte und den Durchbruch zur überkonfessionellen Massenpartei mit verhindern half, dass auch innerhalb des siegreichen Kölner Flügels – von Kompromissen abgesehen – die konsequenten sozialpolitischen Konzeptionen, wie sie die christlichen Gewerkschaften und der Volksverein vertraten, nicht die Oberhand gewannen.93 In seinem parlamentarischen Koalitionsverhalten erwies sich das Zentrum zudem bis 1912 generell im Kern als so konservativ, wie es seiner Struktur nach immer gewesen war. Die Linksliberalen, das heißt die beiden freisinnigen Gruppen, zu denen 1903 noch die aus mittelständischer Tradition kommenden National-Sozialen um Friedrich Naumann stießen, und die süddeutsche DVP, 1910 in der Fortschrittlichen Volkspartei zusammengeschlossen, waren am wenigsten in die Querverbindungen zu den Verbänden einbezogen. Ihre eigenen Verbandsgründungen in bäuerlichen und Angestellten-Bereichen blieben relativ unscheinbar,94 und die Attraktion der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine für die Arbeiterschaft nahm ab. Das Wahlbündnis mit der SPD bei den Reichstagswahlen von 1912, ein schwacher Ersatz für die seit 1905 erfolglos propagierte Mitte-LinksKoalition »von Bassermann bis Bebel«, eine Art reziproker Sammlung gegen die Konservativen beider Konfessionen auf der einen Seite und andererseits die Absprachen mit den Nationalliberalen gegen die SPD bei den preußischen Landtagswahlen 1913 in reduzierter Fortsetzung des Bülow-Blocks, die teils aus Einsicht in die Realitäten des preußischen Wahlrechts, teils unter dem Druck der »großen Geldsammelorganisation des Hansabundes«95 zustande gekommen waren, verdeutlichten das Dilemma des Linksliberalismus vor 1914, nicht 92 Vgl. das Oberdörffersche Programm v. Juni 1894 in: Kölner Correspondenz 7, 1894, S. 114 ff., und die Stellungnahmen des Frhrn. v. Loë in der ›Rheinischen Volksstimme‹. Höhe punkte der Auseinandersetzungen zwischen Rheinischem Bauernverein und Zentrumspartei brachten die Wahlen von 1898, das Einschwenken der 1900 gegründeten Vereinigung der christlichen deutschen Bauernvereine auf die zollpolitischen Forderungen des BdL (denen sich bei der Abstimmung über den Antrag Kardorff im Reichstag 1902 sogar die Mehrheit der Zentrumsparlamentarier anschloss) und die Kontroverse Schreiner-Spee nach 1901. Erst 1903 setzte die Partei sich durch. Vgl. K. Müller, Zentrumspartei und agra rische Bewegung im Rheinland 1882–1903, in: K. Repgen u. S. Skalweit (Hg.), Spiegel der Geschichte, Fs. f. M. Braubach, Münster 1964, S. 828–857. 93 Vgl. vor allem Morsey, Zentrumspartei, S. 33–52; J. K. Zeender, German Catholics and the Concept of an Interconfessional Party, 1900–1922, in: JCEA, Jg. 23, 1964, S. 424–439 und E. Ritter, Kath.-soziale Bewegung, S. 108 ff., 129 ff., 228 ff., 280 ff., 313 ff. 94 Das gilt insbes. auch für die sog. ›Schutzvereine‹, z. B. den Schutzverband gegen agrarische Übergriffe, den Abwehrverein gegen den Antisemitismus oder den Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens; auf dem Agrarsektor in den 1890er Jahren den Schutzverein mecklenburgischer Landwirte und den Kösliner Bauernverein Nord-Ost, die am Widerstand des BdL scheiterten; vgl. auch den Reichsverband liberaler Arbeiter und Angestellten (1912) sowie andere nach 1910 auf Initiative von Anton Erkelenz unternommene Versuche zur Organisation evangelischer Arbeitervereine, Werkmeister- und Unterbeamtenverbände. 95 L. Frank, Die bürgerlichen Parteien des Deutschen Reichstags, Stuttgart 1911, S. 86.
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so sehr im Kreuzfeuer der Verbände, wohl aber ständig vor der Entscheidung zwischen der Koalition mit dem stärksten demokratischen Potential zur konsequenten Durchsetzung der theoretisch verfochtenen Parlamentarisierungsbestrebungen und dem Bündnis mit den traditionellen bürgerlichen Partnern zur Wahrung gemeinsamer Interessen.96 Von zentraler Bedeutung für die Verformung des politischen Systems vor 1914 waren die Verbände der Rechten und ihre Einwirkung auf Konservative und Nationalliberale. Erst hier, auf der rechten Seite des politischen Spektrums, wird das ganze Ausmaß der eingetretenen Veränderungen sichtbar: Schon 1890 waren die Positionen der jeweiligen Gruppierungen gegenüber Revolution und Parlament, ›legitimer‹ Autorität und Verfassung längst nicht mehr die entscheidenden Kriterien zur Definition des Unterschieds zwischen Konservativen und Liberalen gewesen wie noch zu Anfang der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Bismarcksche Einigungspolitik, die Existenz von zwei starken neuen Parteien, die nacheinander von der Regierung in die Rolle des ›Reichsfeindes‹ gedrängt wurden (Zentrum und SPD), und zuletzt vor allem die koalitionspolitischen Folgen des Übergangs der Regierungspolitik vom Freihandel zum Schutzzoll, verbunden mit dem Heraufkommen der Interessenverbände der zweiten Stufe nach 1875, hatten die politischen Fronten bereits wesentlich verschoben. Schon der Kartellreichstag vor 1890 hatte deutlich werden lassen, dass sich nicht mehr die Frage stellte: konservativ oder liberal, sondern: ›national‹ oder nicht. – Auch hatte der Terminus ›national‹ seit dem Ende der siebziger Jahre allmählich aufgehört, Kampfruf und Schlagwort der Liberalen gegen Rechts, gegen die Konservativen, zu sein und war zunehmend zum Motto der Rechten gegen den gefürchteten ›Umsturz‹ aus dem Lager der Sozialisten, Ultramontanen und Linksliberalen geworden.97 Erst die Politik der Nachfolger Bismarcks und die Intervention der neuen Verbände nach 1890 bringt die erneute Polarisierung der politischen Kräfte ans Ende. Die früheren Gegensätze zwischen Konservativen und Rechtsliberalen wurden eingeebnet, aber neue Kontroversen führten zu neuen Kriterien der Differenzierung: In sozialpolitischer Hinsicht bildeten Konservative und Nationalliberale, Agrarier und Industrieverbände sowie die Vielzahl der ›nationalen‹ Agitations vereine gegenüber den Emanzipationsforderungen der Arbeiterbewegung – trotz mancher ›Unterschiede im Tempo‹ – eine relativ einheitliche Abwehrfront, die ihren ideologischen consensus nach vereinzelten Ansätzen98 spät und folgen96 Vgl. vor allem J. J. Sheehan, The Career of Lujo Brentano, Chicago 1966, S. 134 ff., 155 ff. Ferner: F. Naumann, Demokratie und Kaisertum; G. Seeber, Zwischen Bebel und Bismarck. Zur Geschichte des Linksliberalismus in Deutschland 1871–1893, Berlin 1965; L. Elm, Zur Geschichte des Linksliberalismus in der Frühepoche des deutschen Imperialismus, 1897/8–1907, Berlin 1968; K. Simon, Demokraten. 97 Eine ausführliche Untersuchung dieser Zusammenhänge steht derzeit noch aus. 98 Z. B. im 1904 gegründeten Reichsverband gegen die Sozialdemokratie, an dem Alldeutsche, Hakatisten, Kolonialgesellschaft, Liberale und Konservative ebenso beteiligt waren wie der BdL und zeitweise der CVDI.
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los in der Gründung des ›Kartells der schaffenden Stände‹ (1913) manifestierte, an dem sich CVDI, BdL und die Reichsdeutsche Mittelstandsvereinigung beteiligten.99 In den Fragen der Wirtschaftspolitik bestand dagegen (im Gegensatz zur Situation von 1876), zumal angesichts der jetzigen Divergenz der zoll-, handels- und verkehrspolitischen Interessen keineswegs Einigkeit; allenfalls ließen sich zeitweise, nach dem vertrauten und verteufelten »do ut des-Prinzip«, Kompromisse finden zwischen dem agrarischen und dem industriellen Lager, deren Dualismus im Mit- und Gegeneinander die Parteien und Verbände der ›nationalen‹ Rechten vor 1914 entscheidend geprägt hat. Die mittel›ständischen‹ Interessen fielen in diesem Rahmen als selbständige politische Kraft vor 1914 nicht ins Gewicht. Auf der einen Seite wurden die zahlenmäßig starken Verbände des ›neuen‹ Mittelstandes, i. e. vor allem der Angestelltenschaft,100 erst nach 1910 – und auch dann nur kurzfristig – in stärkerem Maße politisch mobilisiert.101 Die Reaktion des ›alten‹ Mittelstandes selbstän diger oder ehemals selbständiger Handwerker und Einzelhändler andererseits auf die Folgen der Industrialisierung102 gewann zwar nach programmatischen Anfängen in der christlich-sozialen Bewegung und bei den Konservativen Anfang der 1890er Jahre zunehmend Gestalt in einer Reihe von (vor 1914 politisch relativ einflusslosen) Verbänden;103 sie wurde aber zunächst ebenso wie der militante Antisemitismus (der gewissermaßen das unaufgeklärte, negativ ideologisierte Potential der Mittelstandsagitation darstellt)104 politisch und ideologisch kanalisiert vom Bund der Landwirte, der sich, obwohl er den ›Mittelstand‹ kei-
99 Dazu Kaelble, Centralverband, S. 226–232, und Puhle, Agrar. Interessenpolitik, S. 162–164. 100 Im Jahre 1911 waren über 800.000 Angestellte in 62 Verbänden organisiert. 101 Bes. zur Beratung des Angestelltenversicherungsgesetzes 1911. Vgl. J. Kocka, Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847–1914, Stuttgart 1969, S. 513 ff., 536 ff., sowie E. Lederer, Die Privatangestellten in der modernen Wirtschaftsordnung, Tübingen 1912. Zu den Unterscheidungskriterien zwischen ›altem‹ und ›neuem‹ Mittelstand sowie Abgrenzungen vgl. u. a. G. Schmoller, Was verstehen wir unter dem Mittelstand?, Göttingen 1897; J. Wernicke, Mittelstandsbewegung, HSt 19254, Bd. VI, S. 594–602; ders., Kapitalismus und Mittelstandspolitik, Jena 1922, S. 92 ff.; F. Marbach, Theorie des Mittelstandes, Bern 1942; T. Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, Stuttgart 1932; E. Grünberg, Der Mittelstand in der kapitalistischen Gesellschaft, Leipzig 1932. 102 Vor allem gegen Gewerbefreiheit, Konsumvereine und Warenhäuser. Vgl. H. Lebovics, ›Agrarians‹ versus ›Industrializers‹. Social Conservative Resistance to Industrialism and Capitalism in late 19th Century Germany, in: IRSH, Jg. 12, 1967, S. 31–65. Zur Gesamt problematik demnächst die Studie von H. A. Winkler [Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus, Köln 1972]. 103 Der 1893 gegründete DHV hatte 1907 10.000 Mitglieder. Vgl. die in Anm. 28 aufgeführten Verbände. 104 Vgl. P. W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt 1959; K. Wawrzinek, Die Entstehung der deutschen Antisemitenparteien, 1873–1890, Berlin 1927; M. Broszat, Die antisemitische Bewegung im wilhelminischen Deutschland, Ms. Diss. Köln 1953, und Puhle, Agrar. Interessenpolitik, S. 111–140, 298–302.
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neswegs repräsentierte, unter Verschleierung der sozialen Tatsachen, aber im vollen Bewusstsein der Werbewirksamkeit des Schlagworts,105 zum Wortführer der Mittelstandsbewegung vor 1914 machte und den mittelständischen Zweig der Abwehrorganisationen von rechts vorerst ins agrarische Lager integrierte.106 Der »Agrarier sanftgemute Schar« (Frank Wedekind) ist allem Anschein nach diejenige organisierte Gruppe im Wilhelminischen Reich gewesen, die von allen den nachhaltigsten Einfluss auf die gesamte Richtung und den Stil der Politik in Parlament und Öffentlichkeit ausgeübt und die stärkste politische Prägekraft besessen hat.107 Zwar konnten die Industrieverbände mehr Geld in Wahlkämpfe investieren.108 Auch waren besonders Kapitaleigner und industrielle Unternehmer die eigentlich interessierten Nutznießer der von ihnen selbst im Verein mit der Regierung und einigen Spitzen der Hofgesellschaft inspirierten sozialimperialistischen, rüstungsfreundlichen und expansionistischen Massenagitation, wie sie vor allem der Flottenverein, die Alldeutschen und die späten Kolonialagitatoren betrieben.109 Abgesehen von der imperialistischen Komponente, die sich zudem auch umbiegen ließ in jenen völkischen Ostland-Expansionismus, der auch den Agrariern ins Konzept passte,110 war die Politik der industriellen Organisationen vergleichsweise schwach ideologisiert, ohne Massenanhang und entsprechende Agitationsformen; vor allem verhinderten die industriellen Interessengegensätze111 eine einheitliche und ko ordinierte Organisation, wie das agrarische Lager sie aufwies: 105 Korr. BdL Nr. 59 v. 2. XI. 1905. 106 Von einer kleinen Gruppe, die vom Hansabund aufgesogen wurde, soll hier abgesehen werden; vgl. zur Motivation R. Hilferding, Das Finanzkapital, ND Frankfurt 1968, S. 460 ff. – Puhle, Agrar. Interessenpolitik, S. 98 ff.; ders., Der Bund der Landwirte im Wilhelminischen Reich, in: W. Rüegg u. O. Neuloh (Hg.), Studien zum gesellschaftlichen Wandel im 19. Jh., Göttingen 1970, S. 145–162. 107 Der Verf. ist nicht der Meinung von Dieter Fricke, dass diese These eine Unterbewertung der »anderen wesentlichen Machtfaktoren des Deutschen Imperialismus« bedeute. Die Differenz liegt wohl mehr in der Fragestellung. Vgl. den Literaturbericht von D. Fricke, in: ZfG, Jg. 16, 1968, S. 785–799, bes. 796 f. 108 Vgl. z. B. Leipziger Volkszeitung v. 21. XI. 1900; D. Fricke, Der Deutsche Imperialismus und die Reichstagswahlen von 1907, in: ZfG, Jg. 9, 1961, S. 538–576; Verhandlungen, Mitteilungen und Berichte des CVDI, 116, Okt. 1909, S. 6 ff., 27 f., Kaelble, Centralverband, S. 214–222. 109 H.-U. Wehler, Sozialimperialismus, in: ders. (Hg.), Imperialismus, Köln 1970, S. 83–96; ders., Bismarck, S. 112–155; Kehr, Schlachtflottenbau; ders., Klassenkämpfe und Rüstungspolitik im kaiserlichen Deutschland u.: Soziale und finanzielle Grundlagen der Tirpitz schen Flottenpropaganda, in: Primat, S. 87–110 u. 130–148. Zum Flottenverein vor allem die Studie von K. Schilling, Extremer Nationalismus. Auch der Deutsche Kriegerbund wurde außer von der Industrie bei entsprechendem Verhalten seit 1905 auch von der Regierung subventioniert, wie Saul, Kriegerbund, S. 116, 143 ff. nachgewiesen hat. 110 Besonders etwa beim HKT-Verein. Vgl. Galos u. a., Hakatisten; Puhle, Agrar. Interessenpolitik. 111 Zur differenzierten Entwicklung der Unternehmen vgl. H. Mauersberg, Deutsche Industrien im Zeitgeschehen eines Jhs., Stuttgart 1966, S. 113 ff., 152 ff. Ferner: Verein für Sozialpolitik (Hg.), Über wirtschaftliche Kartelle in Deutschland und im Ausland, SVS 60, Leipzig 1894; E. Maschke, Grundzüge der deutschen Kartellgeschichte bis 1914, Dortmund 1964;
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Die Gründung des Bundes der Industriellen (BdI) 1895 und seiner sächsischen Regionalorganisation 1902, die von Seiten der Fertigungsindustrie erhobene Forderung nach Verstaatlichung des Kohlenbergbaus (1904), die Rivalität der Arbeitgeberverbände seit 1904, die Angriffe der von Stresemann mobilisierten ›linken‹ Nationalliberalen aus dem Bereich der verarbeitenden Industrie auf das Ruhrkohlensyndikat 1907112 und die von denselben Kreisen inspirierte Gründung des Hansabundes113 mit der Stoßrichtung gegen die Agrarkonservativen und diejenigen Syndikate und schwerindustriellen Gruppen, die mit ihnen kollaborierten,114 spiegeln ebenso wie die zunehmende Aktivität des mittelbetrieblichen Flügels im CVDI nach 1905115 die erheblichen politischen Differenzen im industriellen Lager wider, die vor allem die Nationalliberale Partei, die neben den schwachen Freikonservativen116 traditionelle Vertreterin industrieller Interessen, permanent vor Zerreißproben stellten. Es kam hinzu, dass bis in die Zeit des Bülow-Blocks und bis zum (vorläufig) endgültigen Bruch durch die Konkurrenzgründung des Deutschen Bauernbundes (1909)117 der auf die Interessen des BdL verpflichtete ›agrarische Flügel‹ der Nationalliberalen einen über die Anfänge findet sich einiges Material in: R. Sonnemann, Die Auswirkungen des Schutzzolls auf die Monopolisierung der deutschen Eisen- und Stahlindustrie, 1879–1892, Berlin 1960, S. 52 ff. 112 Nussbaum, Unternehmer, S. 50 ff., 149 ff.,169 ff. (BdI), 202 ff., 210 f.; Warren, Saxony, S.39 ff., 67 ff., 83–90. Der Ruf des BdI nach staatlichen Anti-Kartell-Maßnahmen verstummte um 1910 mit der zunehmenden Kartellierung der Fertigungsindustrie. 113 Der Hansabund für Gewerbe, Handel und Industrie, dem neben dem Centralverband des Dt. Bank- und Bankiersgewerbes vor allem Organisationen der verarbeitenden Industrie sowie zahlreiche Handelskammern und Innungen und kurzfristig auch die Führung des CVDI beitrat und der binnen kurzem über 200.000 individuelle und über 300.000 korporative Mitglieder aufwies, unterstützte bei den Wahlen liberale Kandidaten ausdrücklich gegen Agrarier und Konservative. Zu den bündischen und erwerbsständischen Zügen seiner Ideologie vgl. J. Riesser, Der Hansabund, Reden aus den Jahren 1909 u. 1910, Jena 1912, S. 20 ff., 41 ff. Ferner H. A. Bueck, Warum die Industrie Riessers Parole ›Kampf gegen Rechts‹ nicht folgen soll, Berlin 1911; Jb. des Hansabundes 2, 1913, S. 59 ff., zur Mittelstandspolitik 158 ff., zum BdL 185 ff. 114 Vor allem der Stahlwerksverband, das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat, die ›agrarischen‹ Industriellen, das Zuckerkartell, die Düngemittelproduzenten und oberschlesische Magnaten. 115 Vor allem die Repräsentanten der Textil-, Maschinen- und metallverarbeitenden Industrie setzten sich immer stärker durch. Vgl. Kaelble, Centralverband, S. 80 ff. 116 Die Schwäche beruhte vor allem auf dem Mangel an Organisation, der diese Gruppe für Industrielle wie Agrarier relativ ›unzuverlässig‹ machte. Der über der Zolltarifabstimmung 1902 erzwungene Austritt Kardoffs aus dem BdL, der Tod Stumm-Halbergs und der Austritt von Zedlitz-Neukirch aus dem Ausschuss des CVDI, der sich stärker der Nationalliberalen Partei zuwandte, lockerten zudem nach der Jahrhundertwende die organisatorischen Verbindungen zwischen der Partei und den beiden großen Interessenverbänden. Etwa ein Drittel der freikonservativen Abgeordneten vertraten u. a. die CVDI-Interessen; noch nach 1907 waren über drei Viertel auf den BdL verpflichtet (im preuß. Abgeordnetenhaus 54 von 60). 117 Vgl. Sten. Ber. über die erste Bundesversammlung des Deutschen Bauernbundes am 6. VII. 1909 in Gnesen, Berlin 1909. Der Bund hatte 1914 nur 50.000 Mitglieder.
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erheblichen Einfluss und starke regionale Schwerpunkte in dieser dezentral organisierten Partei aufwies.118 Das agrarische Lager war wesentlich einheitlicher organisiert: Die von Berufspolitikern zentral und straff geführte und von Anfang an auf die Bedürfnisse der Wahlkampfführung und Agitation hin konzipierte bürokratische Organisation des Bundes der Landwirte, mit einer akklamativen Massenbasis im Lande,119 kontrollierte in enger organisatorischer und personeller Verflechtung durchweg unangefochten Basisorganisationen,120 Kandidatenselektion121 und Politik122 der Deutsch-Konservativen Partei. Zudem war dem Bund ein großer Teil der freikonservativen und nationalliberalen Parlamentarier ausdrücklich verpflichtet, so dass er zeitweise imstande war, indirekt das preußische Abgeordnetenhaus123 und die sächsische Zweite Kammer (vor 1909) zu beherrschen sowie im Reichstag (bis 1912) im Bedarfsfall Überfraktionen von eindrucks voller Größe zusammenzubringen.124 Die trotz des Massenanhangs kleiner Besitzer und Bauern in West- und Süddeutschland125 vor allem dank eines populären und perfekt an den Mann gebrachten ideologischen Verschleierungsmechanismus gewahrte Einheit der Interessenvertretung der getreideproduzierenden ostelbischen Großgrundbesit118 1912 waren noch 64 % der vom Wahlfonds des CVDI unterstützten Kandidaten Nationalliberale. Der BdL warb mit mehr Erfolg als beim Zentrum permanent um den ›agrarischen Flügel‹ der Nationalliberalen, vornehmlich in Hannover, in Franken und der ›Wormser Ecke‹. Trotz deutlicher Absagen der Parteiführung an den agrarischen Radikalismus (1894, 1897, 1900, 1909 ff.) gab es eine Vielzahl pragmatischer Wahlbündnisse, bis 1897 vor allem in Hannover, danach in der Pfalz und in Bayern. 1907 war noch über die Hälfte aller nationalliberalen Reichstagsabgeordneten auf den BdL verpflichtet, 1912 nur noch ein Neuntel. 119 Vgl. Puhle, Agrar. Interessenpolitik, S. 37–68, 165–184. 120 Der BdL hat den Deutsch-Konservativen überhaupt erst eine organisierte Basis im Lande geschaffen, indem er ihnen faktisch seine Wahlkreisorganisation mit zentraler Lenkung zur Verfügung stellte, die der Partei insb. neue kleinbürgerliche Wählerschichten in außerpreußischen Gebieten hinzugewann. 121 Der Bund saß in der Regel am längeren Hebelarm, da er keine finanziellen Zuschüsse gab, sondern die Wahlagitation für die Kandidaten in eigener Regie durchführte. Über die Versuche, mittels Kontrolle des parlamentarischen Verhaltens der unterstützten Abgeordneten und harter Sanktionsdrohungen die ›Deklarationspflicht‹ zum imperativen Mandat umzustilisieren, vgl. Puhle, ebd., S. 165 ff. 122 Sowohl hinsichtlich der parlamentarischen Arbeit (vor allem in Kommissionen) und ihrer Vorbereitung, der Integration der Spitzengremien von Partei und Bund zu einer einheitlichen und arbeitsteiligen Führung des deutschen Konservatismus, der Politik nach außen (abgesehen von dem scharfen Konflikt über den Zolltarif 1902/3) und hinsichtlich der eindeutigen Verformung der politischen Ideologie des deutschen Konservatismus durch radikaldemokratische bündische Agitation, die Allianz mit dem Kleinbürgertum, Rassenantisemitismus und Mittelstandsparolen. 123 Über ein Drittel der Abgeordneten war dem Bund konstant verpflichtet, 1908 sogar die absolute Mehrheit (243 von 442). 124 Die Zahl der BdL-verpflichteten Reichstagsabgeordneten betrug 1898: 118, 1903: 89, 1907: 138, 1912: 78. 125 So in Franken, der Pfalz, Hannover und Schleswig-Holstein.
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zer126 ohne nennenswerte Flügelbildung und Richtungskämpfe, verbunden mit einer schlagkräftigen Organisation und neu entwickelten Agitationsformen mit großer Breitenwirkung sicherten dem BdL zwischen 1894 und 1902 einen kontinuierlichen und danach noch den überwiegenden Einfluss auf »die ganze Richtung der wirtschaftlichen Gesetzgebung«127 vor 1912. Dass der Bund darüber hinaus auch im Hinblick auf sozial- und verfassungspolitische Fragen von allen Verbänden wohl am stärksten zur Polarisierung der nicht-sozialistischen Kräfte beigetragen haben dürfte, dass er auch Gruppen ohne agrarische Interessen – wie die des ›alten‹ Mittelstands – ins agrarische Lager zu ziehen verstand, ist vor allem der außerordentlichen Integrationskraft der militanten neukonservativ-agrarischen, völkisch-nationalen Ideologie mit sozialdarwinistischen, mittelständischen und antisemitischen Zügen zuzuschreiben. In diesem aus unterschiedlichen Wurzeln gespeisten Konglomerat verband sich wohldosiert die Rechtfertigung des gesellschaftlichen und politischen status quo mit jenem vehement revolutionären Potential, das der Übergang vom Agrar- zum Industriestaat nicht nur in der Arbeiterbewegung freigesetzt hatte und das scharfsinnige Zeitgenossen bereits an den radikalisierten Agrariern der späten 1870er Jahre wahrnehmen zu können meinten:128 Die Dynamik des utopischen Fernziels einer Art staatserhaltenden Umsturzes von rechts zur Liquidierung der Industriegesellschaft und ihrer Folgeerscheinungen sozialer (und auf die Dauer auch politischer) Mobilität, die den Agrariern der 1890er Jahre neben den tradierten Instrumenten des Agrarprotektionismus und indirekter Subventionen jeder Art auch revolutionäre Mittel zur Konservierung des sozialpolitischen status quo legitim erscheinen ließ,129 verlieh ihrer politischen Ideologie jenen langen Atem, der neben den modernen Organisations- und Agitationstechniken des Bundes dazu beitrug, dass der BdL zum wirkungsmächtigen Vorbild eines neuen Typs politischer Organisation auf der Grenze zwischen Partei und Verband wurde, in dem reaktionäre Ziele, direktdemokratische Techniken und präfaschistische Ideologie miteinander verschmolzen wurden. 126 Der Anteil der Großgrundbesitzer, die weniger als 1 % der Mitgliedschaft ausmachten, betrug in den entscheidenden Gremien über 50 %, im Vorstand über 70 %. 127 Nipperdey, Interessenverbände, S. 379. 128 V. R. Bredt, Die Parteien im deutschen Reich, was sie sondern und was sie sammeln soll, Leipzig 1878, S. 45 f., schrieb bereits 1878, dass »Agrarier und Sozialisten [sich] hinsichtlich der Gemeingefährlichkeit ihrer Bestrebungen nur der Art, nicht der Gattung nach« unterschieden: »Beide wollen die heutige Gesellschaft einem Klasseninteresse zuliebe umbauen, und allein darüber gehen ihre Ansichten auseinander, ob eine Zerstörung des alten Hauses vorausgehen müsse und der Neubau auf völlig rasirtem Boden stattfinden solle, oder ob nur die neueren Theile des Hauses einzureißen und die älteren im Barockstyl einer längst überwundenen Periode zu restauriren seien.« 129 Ausführlicher Puhle, Agrar. Interessenpolitik, S. 72 ff.; Gerschenkron, Bread and Democracy, S. 51–81; Teichmann, Agrarpreisstützung. Vgl. auch C. J. Friedrich, The Agricultural Basis of Emotional Nationalism, in: The Public Opinion Quarterly 1, 1937, S. 55 ff.; R. H. Bowen, German Theories of the Corporative State with special Reference to the Period 1870–1919, New York 1947.
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V Die schlagkräftigen Interessenverbände der zweiten und dritten Stufe haben in institutioneller Hinsicht und als Kontrahenten der Regierungen130 – aber auch nur in dieser Funktion – zwischen 1890 und 1914 dabei geholfen, die besonders nach 1912 deutlicher zutage tretenden Tendenzen zur Parlamentarisierung des deutschen Konstitutionalismus zu verstärken. Als Faktoren des parlamentarischen Prozesses dagegen und als Wahlhelfer haben sie überwiegend desintegrie rend und polarisierend gewirkt und zur Dissoziation oder zur Lähmung der politischen Parteien beigetragen, einem schleichenden Prozess, dessen Anfänge zurückgehen auf Bismarcks Politik zur Zähmung der Parteien, der aber nach 1890 noch vehement vertieft wurde. Er fand seinen Ausdruck in der Zerstörung des traditionellen deutschen Liberalismus und Konservatismus, der Fraktionierung der Nationalliberalen nach Interessengesichtspunkten und im konservativ-agrarischen Zweckbündnis unter eindeutiger Führung der völkisch-natio nalen Agrarier auf der äußersten Rechten ebenso wie in der richtungslosen Kompensationspolitik des Zentrums bis hart an die Grenze des Opportunismus. Der – mit einer Unterbrechung von 1912 bis 1919 – am Ende dauerhafte Schwund des Einflusses und der Massenbasis der Linksliberalen131 und die Domestizierung des revolutionären Potentials der Arbeiterbewegung vervollständigen das Bild einer generellen Verstärkung des konservativ-nationalen Lagers zur anderen Seite hin. Das allgemeine Reichstagswahlrecht zwang darüber hinaus insbesondere die jüngeren Interessengruppen der dritten Stufe, agitatorisch an die Öffentlichkeit zu treten, wobei sie zunehmend ideologisiert und über die konkrete Interessenwahrung hinaus politisiert wurden. Ihre Beteiligung an der Wahlund Zwischenwahlagitation hat gleichzeitig den Bereich der politischen Öffent lichkeit dergestalt ausgeweitet, dass die traditionellen Parteien allein ihn nicht mehr ausfüllen konnten und folglich Terrain an die Verbände verloren. Die dank ihrer zentralen Apparate und der von ihnen perfektionierten kämpfe rischen Massenpresse propagandistisch aktivsten pressure groups, vor allem der durch die überlebte Wahlkreiseinteilung auch in seiner Funktion als QuasiPartei und Wahlmaschine bevorzugte Bund der Landwirte und die reinen Agitationsverbände der Rechten wurden so zu institutionalisierten Kräften der öffentlichen Meinung und zu politischen Faktoren, mit denen gerechnet werden musste. 130 Vor allem die Verbände der Besitzenden sowie in Grenzen auch der Verein für Sozialpolitik in den parlamentarischen Kommissionen oder Beiräten. Vgl. generell A. Neumann-Hofer, Die Wirksamkeit der Kommissionen in den Parlamenten, in: ZfP, Jg. 4, 1911, S. 51–85. 131 Vgl. dazu G. A. Ritter, Kontinuität und Umformung des deutschen Parteiensystems 1918– 1920, in ders. (Hg.), Entstehung und Wandel der modernen Gesellschaft, Fs. f. H. Rosenberg, Berlin 1970, S. 342–384.
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Die demokratisierende Tendenz dieser Ausweitung von Öffentlichkeit und politischer Beteiligung war jedoch ihrem Inhalt nach radikal antiparlamenta risch. Der direkte Appell an eine zunehmend akklamativ manipulierte Öffent lichkeit132 in der täglichen Praxis der von den Verbänden der Besitzenden getragenen Agitation, die Mittelstandsideologie, in der sich autoritäre, berufsständisch-korporative und plebiszitäre, radikaldemokratische Komponenten verbanden, und der Allerweltshintergrund eines sozialdarwinistischen, völkischen Nationalismus mit der antipluralistischen Funktion zur Verschleierung der Klassengegensätze verstärkten allesamt den traditionell obrigkeitsstaatlichen Antiparteienaffekt und werteten die parlamentarische Repräsentation im Bewusstsein der politischen Öffentlichkeit ab.133 Während die Kräfte der Linken zunehmend auf die Errichtung der parlamentarischen Demokratie im institutionellen Bereich hofften und sich darauf einzustellen begannen, trugen die Parteien und Verbände der Rechten maßgeblich dazu bei, im Bereich der political culture die Deparlamentarisierung zu zementieren, die sich am Ende vorerst als wirkungsmächtiger erwies, bis hin zur Konzeption der Weimarer Verfassung und in der Realität der Republik.134 Die Dominanz der antiparlamentarischen Entwicklung blieb jedoch keineswegs beschränkt auf den Bereich der öffentlichen Meinung und das Selbstverständnis jener kleinsten Einheiten, auf die zumindest die bürgerlichen Tradit ionsparteien und das Zentrum weitgehend reduziert worden waren, auch nicht auf die selbst bei Befürwortern des Parlamentarismus anzutreffende Fehleinschätzung des jeweiligen Stellenwerts der repräsentativen und plebiszitärer Komponenten im demokratischen System.135 Der Prozess der Entmachtung des noch gar nicht an die Macht gelangten Parlaments war auch im institutionellen Bereich schon eingeleitet durch die enge Verklammerung von Parteien und Verbänden und, eng damit verbunden, eine irreversible Transformation der parlamentarischen Trägergruppen. Die von der Massenagitation erzwungene Verformung der Parteien zu »unparlamentarischen Betriebsgrößen«136 und die Funktion der Verbände als Vehikel einer vermittelten, weitgehend nur ideologisch induzierten »sekundären Integration«137 entzogen dem Anspruch den Boden, dass das Parlament der Ort der Artikulation des nationalen consensus und zur Austragung sozialer und politischer Konflikte sein müsse. Die 132 Vgl. vor allem J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1962, S. 200 ff., 215 ff. 133 Zum Gesamtprozess vgl. E. Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, in: ders., Deutschland und die westlichen Demo kratien, Stuttgart 1964, S. 71–109, bes. 95 ff. 134 Ebd., und ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, ebd., S. 32–47, bes. 40 ff. 135 Vgl. Fraenkel, Deutschland, u. M. Weber, Parlament und Regierung. 136 Pikart, Parteien, S. 30. 137 Sauer, Nationalstaat, S. 435. Dass die wilhelminische Periode im Hinblick auf diesen Zusammenhang eine Zeit ›relativer Entspannung‹ gewesen sei, muss allerdings stark bezweifelt werden.
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Differenzen im Tempo und in der Akzentuierung des Übergangs der älteren Repräsentations- und Honoratiorenparteien zu bürokratisierten tendenziellen Integrationsparteien mit jeweils bestimmten klassenspezifischen oder Interessenschwerpunkten, die zudem der Ausweitung des Bereichs der plebiszitären Demokratie Rechnung trugen,138 konstituierten für die Partner der parlamentarischen Auseinandersetzungen uneinheitliche Ausgangspositionen, die ihnen den Wert parlamentarischer Kompromisse in unterschiedlichem Licht erschei nen ließen. Es ist allgemein feststellbar, dass die Ausweitung politischer Partizipation und Öffentlichkeit (und damit verbunden auch eine stärkere Politisierung der Wähler) in der Regel den Bereich und den politischen Rang parlamentarischer Repräsentation ebenso einschränkt wie die Zunahme arbeitsteilig-spezialisier ter Staatsaufgaben. Die in Deutschland vor 1914 anzutreffende Erscheinung, dass das plebiszitäre, direktdemokratische Potential am wirksamsten von rechts mit der Spitze gegen die potentiellen Träger eines künftigen Parlamentarismus mobilisiert werden konnte, ist allerdings ebenso wie der zum sozialdarwinistisch ideologisierten Freund-Feind-Denken gesteigerte brutale politische Stil der Auseinandersetzung zwischen den polarisierten Fronten nur verständlich auf dem Hintergrund eines Nationalstaats ohne nationale Integration in sozialer Hinsicht, dessen Gesellschaft politisch rückständig und weitgehend noch neofeudalistisch strukturiert war. Der Einbruch der verspäteten und dann ruckartig erfolgten Hochindustrialisierung hatte die politischen und sozialen Spannungen im Gesellschaftsgefüge zudem in fast unerträglicher Weise verschärft,139 die Gegensätze zugespitzt und die Bildung und Umbildung der organisierten Fronten von status quo und Demokratie beschleunigt. Bis zum Kriegsbeginn gelang es den Kräften der Rechten, ihren Besitzstand in allen entscheidenden Bereichen zu wahren140 und die Emanzipation der Ar138 Dieser Prozess ist zuerst von Max Weber ausführlicher analysiert worden: M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Köln 1964, S. 1063 ff., bes. 1068–1071 u. 1076–1080. Vgl. S. Neumann, Towards a Comparative Study of Political Parties, in: ders. (Hg.), Modern Political Parties, Chicago 1956, S. 400–405. 139 Dazu vor allem Gerschenkron, Economic Backwardness, S. 5–30; T. Veblen, Imperial Germany and the Industrial Revolution (1915), Ann Arbor 19662, S. 174 ff., 185 f., 248 f.; Wehler, Bismarck, S. 112 ff.; D. S. Landes, The Unbound Prometheus. Technological Change and Industrial Development from 1750 to the Present, Cambridge 1969, S. 231 ff. 140 Diese Bemühungen wurden noch entscheidend gefördert durch den konjunkturellen Aufwärtstrend nach 1896, eine zeitweilige Zunahme der Kapitalkonzentration sowie eine Steigerung der Güter- und Lebensmittelpreise nach der Jahrhundertwende, in deren Gefolge die Lebenshaltungskosten erstmals seit 1870 erheblich und zwischen 1896 und 1914 kontinuierlich anstiegen und die zuvor ständig angewachsenen Reallöhne stagnierten. Vgl. W. G. Hofmann u. a., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jh., Berlin 1965, S. 12 ff., 456 ff., 565, 574; J. Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1800 bis zur Gegenwart, Bd. I, Berlin 1948, S. 176; A. V. Desai, Real Wages in Germany, 1871–1913, Oxford 1968; Denkschrift des Centralverbandes des Deutschen Bank- und Bankiersgewerbes betr. die Wirkung des Börsengesetzes, Berlin 1903.
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beiterschaft zu verhindern. Weder opferten sie ihre Position freiwillig, noch waren Kräfte in Sicht, die sie wirksam hätten dazu zwingen können. Die Lage in Deutschland vor 1914 war insofern nicht vorrevolutionär, als vor allem die potentiellen Träger der Revolution fehlten. Statt dessen ging die Suche nach dem oft beschworenen »starken Staatsmann« zur Eindämmung von Demokratie und sozialer Revolution weiter. Das Fehlen der nationalen Integration und das politische Treibhausklima des Wilhelminismus, der überlieferte institutionelle Rahmen des politischen Systems sowie die Stärkung der konservativ-nationalen Elemente im Bereich der political culture und latent auch der Institutionen als Ergebnis eines seit 1890 neuerlich vorangetriebenen Verschiebungsprozesses der politischen Kräfte trugen insgesamt entscheidend zur Schwächung des emanzipatorischen Poten tials und seiner vornehmlich sozialistischen und linksliberalen Trägergruppen bei. Auch die durch den Verlauf und die unmittelbaren Folgen des Weltkriegs erzwungene Parlamentarisierung im institutionellen Bereich beeinflusste die durch das Ausbleiben einer sozialen Revolution gekennzeichnete, im Ganzen kontinuierliche organisatorische, personelle und ideologische Fortentwicklung der Parteien und Verbände vom Kaiserreich zur Republik141 und die Grundlagen ihrer Politik nur kurzfristig. Die Konstellationen von Parlament, Parteien und Interessenverbänden, Regierung und Öffentlichkeit, wie sie sich seit Anfang der neunziger Jahre definitiv herausgebildet hatten, bewirkten zudem, nicht zuletzt aufgrund des bleibenden Übergewichts der in sozialpolitischer Hinsicht ›rechten‹ Kräfte des politischen Spektrums, dass die Ausweitung politischer Partizipation in Deutschland weniger die Demokratie stärkte als vielmehr die verhängnisvolle Anfälligkeit für die plebiszitäre Diktatur.
141 Dazu Ritter, Kontinuität und Umformung.
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Transformationen des deutschen Konservatismus 1770–1980: Zehn Thesen*
Der alte, traditionelle politische Konservatismus ist zerbrochen. In Deutschland ist er so unwiderruflich dahin wie der klassische Liberalismus des aufsteigenden Bürgertums oder der Sozialismus jener Tage, in denen die Arbeiterbewegung noch eine Emanzipationsbewegung war. Und doch ist konservative Politik auch hier beliebt. Im Jahre 1983 hat die Bundesrepublik eine konservative Regierung, wie die Wähler sie gewünscht haben. Auch im Lebensgefühl und in den Verhaltensweisen der Zeitgenossen ist die konservative ›Trendwende‹, die seit 1973 immer wieder beschworen worden ist, inzwischen auf ganzer Linie durchgebrochen. Diejenigen, die sich jahrzehntelang nur als Politiker der ›Mitte‹ bezeichnet haben, die gleichzeitig »konservativ, liberal und sozial« seien, wagen es wieder, sich und ihre Politik rundheraus »konservativ« zu nennen, ohne dabei befürchten zu müssen, dass ihnen potentielle Wähler weg laufen. Konservativ sein ist wieder akzeptabel. Soviel zu den Einschätzungen und den modischen Trends. Aber was geschieht wirklich? Was steht dahinter? Und was ist heute eigentlich konservativ? – Als Der Monat vor mehr als zwanzig Jahren (1962) diese letzte Frage stellte, fielen die Antworten überwiegend defensiv, resignativ und traditional aus, teilweise lagen sie noch relativ nahe bei vergleichbaren Selbsteinschätzungen des 19. Jahrhunderts.1 Würde man dieselbe Frage heute stellen (was einige Zeitschriften gelegentlich tun), würden die Antworten aggressiver, sogar optimistischer gegenüber den Zukunftschancen sein, weniger historischen Rückbezug haben und vor allem Definitions- und Begriffsprobleme aufweisen. Denn was ›konservativ‹ ist oder dafür gehalten werden soll, scheint heute noch unklarer und diffuser zu sein als noch vor wenigen Jahrzehnten.
* Zuerst erschienen in Kursbuch 73, 1983, S. 45–60, unter dem Titel: Vom Programm zum Versatzstück: Zehn Thesen zum deutschen Konservatismus. Die Thesen basieren auf einem längeren Beitrag: Conservatism in Modern German History, in: Journal of Contemporary History, Jg. 13, 1978, S. 689–720, aus dem einige Belege hier hinzugefügt wurden. 1 Was ist heute eigentlich konservativ? Eine Diskussion, in: Der Monat, Jg. 14, 1961/2 u. 15, 1962/3, H. 163–169.
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1. Konservative Positionen und Definitionsprobleme Eine formale Definition des Konservatismus ist relativ leicht zu finden: Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ist ein Konservativer zunächst jemand, der für die Bewahrung des Bestehenden, für die Erhaltung des Status quo eintritt gegenüber den auf Veränderung und Wandel drängenden Tendenzen, die das Bestehende bedrohen. Besteht eine solche Bedrohung nicht oder ist sie unwahrscheinlich, dann gibt es in der Regel auch keine Notwendigkeit, die konservative Position ausdrücklich zu artikulieren oder gar in einen systematischen Denkansatz zu fassen. Gewohnheitsmäßiger, vielfach auch unbewusster Traditionalismus und traditionales Verhalten sind in diesem Fall die Regel. Zum bewussten Konservatismus wird diese traditionsgebundene Haltung erst unter der Bedrohung durch allmähliche oder abrupte Veränderung. Das war so nach der Französischen Revolution und lässt sich auch heute besonders dann feststellen, wenn der politische consensus in einer Gesellschaft nachlässt. Konservatismus ist seinem Wesen nach überwiegend reaktiv, er reagiert auf etwas. Das bedeutet aber nicht, dass er an sich reaktionär oder restaurativ ist. Eine solche Haltung ist vielmehr nur eine unter mehreren möglichen konservativen Positionen, und zwar jene, die vormals bestehende und dann, wie man meistens argumentiert, verdorbene oder degenerierte Zustände wiederherstellen will. Konservatismus hat wesentliche Elemente seiner Selbstdefinition aus der Dichotomie ›konservativ‹ vs. ›progressiv‹ bezogen. Er geht selten aus von weltanschaulichen Systemen oder konsistenten Ideologien. Der traditionelle Konservative orientiert sich gern an der »geschichtlichen Erfahrung« und »sucht sich aus Vergangenem und Gegenwärtigem das Bewahrenswerte kritisch wählend aus« (F. J. Strauß).2 Er neigt zum Eklektizismus. Das gilt weitgehend auch für den politischen Konservatismus, von dem hier (im Unterschied zu konservativem Verhalten im allgemeinen und zu bloß traditionalen Haltungen) überwiegend die Rede sein soll. Damit ist die Gesamtheit jener Denkansätze, Weltanschauungen, Ideologien, Organisationen, Gruppen und sozialen Milieus gemeint, denen als politische Grundhaltung die Neigung gemeinsam ist, das Gewordene und Bestehende eher zu bewahren als zu verändern. Definierten und organisierten politischen Konservatismus hat es in Europa erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gegeben, als (1) der aufgeklärte Absolutismus und dessen zentralistische Bürokratien, (2) der Beginn der Industrialisierung und (3) vor allem die Französische Revolution und deren liberale und demokratische Postulate die bewusste Reaktion der traditionalen Kräfte in von Land zu Land unterschiedlicher Weise provozierten. Das Wort ›konservativ‹ zur Bezeichnung dieser reaktiven Kräfte bürgerte sich sogar erst nach 1830 ein. Edmund Burke, der einflussreiche Urvater des europäischen Konservatismus, war noch ohne es ausgekommen. Stärker koordinierte parteiähnliche Organisa2 Geschichte kontra Ideologie, in: DIE ZEIT Nr. 13 v. 21.03.1980.
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tionen und konservative Parteien bildeten sich in Deutschland – regional sehr verschieden – erst in der Reaktion auf die Revolution von 1848 und auf die Bismarcksche Reichseinigungspolitik seit den 1860er Jahren heraus. In der Zeit des Vormärz entstanden allenfalls schwache Organisationskerne in Diskussionsclubs und Zeitschriftenredaktionen. Für die Ausprägung der Grundpositionen des deutschen politischen Konservatismus, vor allem des »konservativen Denkens« (K. Mannheim)3 sind die Konstellationen der Epoche zwischen 1770 und 1848 entscheidend gewesen. Die meisten allgemeinen, ›strukturellen‹ Charakteristika zur inhaltlichen Kennzeichnung konservativer Positionen, die man bis heute in den Wörter büchern und in den in der Regel etwas zurückgebliebenen Anthologien findet, beziehen sich auf diese Entstehungsphase und spiegeln deutlich die Abwehrtendenzen gegen Absolutismus, Aufklärung und Revolution: Betont werden der Glaube an Gott und die Vielfalt des Lebens, die Notwendigkeit von Autorität, Hierarchie, Ordnung, Stabilität, Führung und Eliten, die Bedeutung von Überlieferung und Tradition, der Vorrang individueller Entwicklung und fallweiser Verbesserung gegenüber den systemischen Entwürfen der »Sophisten und Kalkulatoren« (Burke), des historisch Gewachsenen (das oft »organisch« genannt wird) gegenüber dem Künstlichen, Konstruierten, abrupt Veränderten. Konkret Erlebtes wird gegen Gedachtes und Spekuliertes gesetzt, Sein gegen Sollen, Leben gegen Begriffe. Da die menschliche Natur unvollkommen ist und die Vernunft begrenzt, ist der sogenannte Fortschritt eine unsichere Sache und Pessimismus grundsätzlich angebracht. Rechte und Freiheiten sind – wie im frühen Liberalismus – gebunden an Eigentum, aber wichtig für die Konservativen ist nicht dessen Besitz, sondern dessen Erleben, die persönliche Beziehung zu ihm. Die Menschen sind von Natur aus ungleich, Gleichmacherei ist folglich widernatürlich, soziale Differenzierung und standes- oder klassenmäßige Einbindung gottgewollt. Freiheit kann nur in der Korporation (Stand, Kirche, später Nation/Volk) erlebt werden, Persönlichkeit ist nicht Individualität, sondern wesentlich eingebettet in Familie und Stand. Durchgängiges Charakteristikum des politischen Konservatismus in Deutschland war außerdem von Anfang an dessen enge Bindung an den grundbesitzenden Adel und an (später auch ›bürgerliche‹) großagrarische Interessen. Sie hat wesentlich dazu beigetragen, dass sich in Deutschland vor 1945 kein bürgerlichkapitalistisch orientierter Liberal-Konservatismus herausgebildet hat wie in den angelsächsischen Ländern oder im nachrevolutionären Frankreich (Federalists, Burke, Tocqueville). Der deutsche Konservatismus blieb antiliberal, überwiegend antibürgerlich, antiparlamentarisch und gelegentlich sogar in der Rhetorik antikapitalistisch (was Ende des 19. Jahrhunderts das Eindringen antisemitischer Argumentationen erleichterte). Diese Interessenbindung, die auch noch am Ende 3 K. Mannheim, Das konservative Denken. Soziologische Beiträge zum Werden des politischhistorischen Denkens in Deutschland (1927), in: ders., Wissenssoziologie, Neuwied 1970, S. 408–508.
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der Weimarer Republik bestand, findet sich schon im altständischen Widerstand preußischer Landjunker gegen die Reformen nach 1806. Sie wurde in der Folge noch unterstrichen durch die dialektische Romantisierung des altständischen Denkens im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, die Agrarromantik Adam Müllers und die zunehmende Historisierung des Konservatismus. Sie wurde ebenso deutlich im preußischen ›Junkerparlament‹ von 1848 wie später in der konser vativen Politik Bismarcks, im Solidarprotektionismus für Landwirtschaft und Industrie nach 1879 und in der endgültigen Eroberung der Konservativen Partei durch den großagrarischen Bund der Landwirte nach 1893. Ein weiteres wichtiges Kennzeichen war die konfessionelle Spaltung des deutschen Konservatismus. Nach 1815 waren die Konservativen überwiegend Legitimisten, d. h. Verteidiger der dynastischen Legitimität und unumschränkten Herrschaft des jeweiligen Monarchen. Die katholischen unter ihnen (z. B. Görres, v. Baader) betonten daneben noch die korporativen Freiheitsräume der Kirche und der Familie. Die Protestanten waren vielfach über theologische Spitzfindigkeiten und den Einfluss Hegels, Hallers oder der Pietisten zerstritten. Der consensus der von den Brüdern Gerlach geführten Berliner Legitimisten bestand aus einer Synthese aus Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, Gottesgnaden tum des Herrschers, antirationalistischer Gläubigkeit, Bündnis von Thron und Altar, universalistischer Ständelehre und Mystifizierung des Mittelalters. In den Jahren zwischen dem Ende der Revolution von 1848 und dem Beginn der Bismarckschen Einigungspolitik wurden die Konservativen – vor allem aufgrund der Bemühungen von Friedrich Julius Stahl – ›konstitutionell‹, d. h. sie stellten sich auf den Boden der Verfassung und eines rechtsstaatlich-institutionell, aber nicht wirksam parlamentarisch beschränkten »monarchischen Prinzips«. Ihre untereinander zerstrittenen Fraktionen regierten in Preußen. Die linken ›Reformkonservativen‹ (oder: ›Sozialkonservativen‹), auf katholischer Seite z. B. Franz v. Baader, Wilhelm Emmanuel v. Ketteler, Franz Hitze, Adolph Kolping, auf evangelischer Seite Victor Aimé Huber, Hermann Wagener, Rudolf Meyer, Rudolf Todt, später auch die ›Christlich-Sozialen‹ des antisemitischen Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker, blieben eine Minderheit.4 Im Anschluss an Lorenz vom Stein propagierten sie die reformistische Integration der Arbeiterschaft in die Gesellschaft zur Abwehr des befürchteten Klassenkampfs und versuchten, erstmals konservative Mittelstandspolitik zu machen, d. h. auch kleine und mittlere Besitzer und Selbständige, Händler und Handwerker ins konservative Lager zu ziehen. Konservative Positionen bleiben im Ganzen zeitgebunden und oft auch sektoral beschränkt: Als der aufgeklärte Absolutismus sich durchzusetzen begann, waren Konservative jene, die an den Rechten der Ständeversammlung und an den Privilegien des Adels festhalten wollten. Als einige Jahrzehnte später der liberale Konstitutionalismus sich in einigen deutschen Staaten etablierte, 4 Vgl. J. B. Müller, Der deutsche Sozialkonservatismus, in: H. Grebing u. a., Konservatismus – Eine deutsche Bilanz, München 1971, S. 67–97.
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waren die Konservativen die Verteidiger des Absolutismus. Vor und während der Bismarckschen Reichsgründung waren sie zunächst überwiegend Gegner des neuen Reichs, verteidigten die alten Partikularstaaten und deren konstitutionelle Systeme. Später wurden sie – am Anfang souverän von Bismarck manipuliert – zu Verteidigern des Reichs, so wie es war, vor allem gegen Pläne zur Parlamentarisierung des preußisch-deutschen Konstitutionalismus. Heute sind jene konservativ, die die staatliche und gesellschaftliche Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber weitergehenden Veränderungen bewahren wollen, eine Position, die vor hundert Jahren noch extrem ›links‹ gewesen wäre. Das politische System der Schweiz, das im 19. Jahrhundert als ein Hort liberaler Demokratie und des Fortschritts angesehen wurde, gilt heute vielfach als Ausdruck einer versteinerten konservativen Mentalität. In Schweden wollen die Sozialdemokraten die von ihnen geprägten Institutionen und Strukturen des schwerfälligen bürokratischen Wohlfahrtsstaats erhalten, die ›Bürgerlichen‹ wollen sie verändern, auflockern, funktionsfähiger, ›menschlicher‹ machen. Wer ist hier konservativ? Es kommt aber nicht nur darauf an, den Ort des Konservatismus zum jeweiligen Zeitpunkt historisch konkret von seiner gesellschaftlichen und politischen Funktion her in einem gegebenen Bezugssystem zu bestimmen. Man muss auch sektoral unterscheiden: Eine politische Gruppe kann innenpolitisch konservativ sein und außenpolitisch progressiv, oder umgekehrt, ein konservativer Sozialpolitiker kann gleichzeitig ein progressiver Finanzpolitiker sein, zahlreiche ›progressive‹ Wissenschaftler sind in der Hochschulpolitik aus einsichtigem Interesse eher konservativ. Und ein und dieselbe Maßnahme kann innerhalb eines Sektors ›progressiv‹ gemeint sein und sich doch auf einem anderen Sektor oder gesamtpolitisch konservierend auswirken. Selbst in der progressivsten Politik finden sich konservative Elemente, und auch konservative Politik weist progressive Elemente auf. Selbst wenn man von dieser Dialektik politischer Interaktion absieht, bleiben Definitionen schwierig, weil es durchaus unterschiedliche konservative Traditionsstränge gibt: So können z. B. heute in Deutschland Konservative einerseits für den starken Staat, für law and order, Sicherheit und Überwachung eintreten. Andererseits kann aber auch die Argumentation gegen das Überwuchern der Staatsmacht, gegen die Bürokratie und zugunsten der Freiheiten des Individuums und besonders der Familie ein genuin konservativer Standpunkt sein. In der Praxis konservativer Regierungen dürfte es allerdings schwer sein, gleichzeitig den starken und den schwachen Staat herzustellen, es sei denn, man schafft den starken Staat im Sicherheitsbereich und den schwachen Staat in der Wirtschaftspolitik. Bis in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein waren die meisten deutschen Konservativen Freihändler gewesen. Gegen Ende des Jahrhunderts traten sie für Staatsintervention und Protektionismus zugunsten von Landwirtschaft und Industrie ein. Nach einem mehr als hundert Jahre währenden Zuwachs bürokratisch-interventionistischer Politik fordern unsere Konser vativen heute »mehr Markt« und den Rückzug des Staates aus weiten Bereichen 54
von Wirtschaft und Gesellschaft zugunsten einer Ausweitung der Privatinitiative. Sie machen sich daran, den wirtschaftlichen und sozialen consensus des nachkeynesianischen organisierten Industriekapitalismus aufzukündigen und fordern insbesondere die Verringerung ökonomischer Globalsteuerung, staatlicher Dienstleistungen in bestimmten Sektoren und der sozialpolitischen Garantien. Allerdings gehen sie dabei nicht so weit, auch eine Beschränkung der Aktivitäten der Großunternehmungen zu fordern, obwohl diese die Wirkung der Marktmechanismen oft ebenso oder sogar mehr einschränken als die Interventionen der Staatsmacht. Auch konservative Forderungen sind selbstverständlich geleitet von konkreten Interessen, die zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Prioritäten aufweisen. Als grobe inhaltliche Formel kann vielleicht festgehalten werden, dass konservative Politik in der Regel Politik der Besitzenden zugunsten der Besitzenden ist, die die Staatsmacht als Garanten des Status quo der Verteilung von Besitz, Vermögen und Lebenschancen in Anspruch nimmt, sie aber als Konkurrenten um Geschäftsanteile, Märkte, Gewinne und Verteilungsentscheidungen nicht dulden will, und die außerdem überwiegend dem Prinzip folgt, den weniger Besitzenden relativ höhere Belastungen aufzuerlegen als den mehr Besitzenden. Was aber darüber hinaus jeweils im einzelnen konservative Politik charakterisiert, muss genauer untersucht werden. Dabei wird zu unterscheiden sein zwischen (1) konservativen Elementen, (2) politischem Konservatismus im engeren Sinne, als Programm und Konzept, (3) praktizierter konservativer Politik und (4) einem neuen strukturellen, systemischen Konservatismus, der breite Bereiche unseres gesellschaftlichen und politischen Lebens erfasst hat. Letzterer ist nicht nur auf die tendenziell konservativen, auf die Bewahrung des Status quo gerichteten Neigungen großer Organisationen und Apparate zurückzuführen, die ein starkes Primärinteresse an ihrer eigenen Erhaltung, an der Ausweitung ihrer Funktionen und an der Besitzstandswahrung nach außen oder gegenüber Konkurrenten oder Rebellen von unten entwickeln. Struktureller, systemischer Konservatismus resultiert auch insgesamt aus den Mechanismen hochentwickelter industriekapitalistischer Gesellschaften: Der Sozial- und Versorgungsstaat ist immer stärker planerisch tätig, wird immer stärker bürokratisch administriert und koordiniert, ist aber gleichzeitig immer weniger wirksam kontrollierbar. Der Spielraum für wirkliche politische Gestaltung, d. h. alternative Möglichkeiten der Politik, wird dabei immer kleiner. Zurzeit beträgt der Anteil der noch alternativ gestaltungsfähigen politischen Projekte am Volumen a ller öffentlicher Haushalte in der Bundesrepublik noch zwischen 10 und 20 Prozent. Das Beispiel der USA und Großbritanniens scheint zu zeigen, dass dieser Zustand wirksam auch nicht durch die Anwendung von Techniken der supply side economics geändert werden kann. Die Interdependenzen komplexer Entscheidungszusammenhänge und die wirklichen wie die vermeintlichen Sach zwänge werden stärker, der Bereich reformistischer Entscheidungen – auch unabhängig von konjunkturbedingten Finanzierungsengpässen – immer kleiner. Diese Tendenz und die Furcht von Bürokraten und Politikern, durch Änderun55
gen an einer Stelle dieses Beziehungsgeflechts unübersehbare Konflikte und Krisen an anderen Stellen heraufzubeschwören, stärken bei Regierung und Verwaltung die Neigung zu einer quietistischen Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners, zu konservativer Status-quo-Bewahrung, allenfalls zu ›inkrementellen‹ Abwehr-Strategien, zu reformistischer Systemstabilisierung und zu Krisenmanagement. Gelegentlich kann es auch hilfreich sein, zur besseren Unterscheidung einzelne Positionen formal voneinander abzugrenzen: Lässt man alle gemischten Motivationen und graduellen Übergänge weg, kann man idealtypisch sechs politische Grundhaltungen unterscheiden und einander zuordnen: 6 5 1 2 3 4
1. nichts verändern, den Status quo um jeden Preis bewahren (intransigenter Status-quo-Konservatismus), 2. graduell, reformistisch verändern, um wesentlich bewahren oder Gefährde tes stabilisieren zu können (Reformkonservatismus), 3. graduell, reformistisch verändern, um auf längere Sicht grundsätzliche Veränderungen zu bewirken (progressiver Reformismus), 4. das ganze System wesentlich verändern, wenn nötig auf revolutionärem Weg, 5. reformistisch restaurieren, das System nach rückwärts verändern (gemäßigte Restauration oder Reaktion), und 6. revolutionär bzw. (präventiv) konterrevolutionär restaurieren. Konservativ sind die Positionen 1 und 2, in der reaktiven Entwicklungsgeschichte des politischen Konservatismus oft auch Position 5. Die Haltungen 2 und 5 sind dabei weitaus verbreiteter als die immobile Position 1. Die gegenwärtige Attraktion des Reformkonservatismus (Position 2) rührt auch daher, dass diese Haltung – zusammen mit dem progressiven Reformismus (Position 3) – jener politischen ›Mitte‹ des graduellen, reformistischen Kompromisses zugerechnet wird, nach der sich in den entwickelten westlichen Industriegesellschaften aus zahlreichen Gründen so gut wie alle größeren Parteien in der Hoffnung auf ein paar zusätzliche Wählerstimmen drängen, obwohl diese ›Mitte‹ weder ein programmatischer Topos noch ein analytischer Begriff ist und bei genauem Hinsehen die Scheidelinie zwischen konservativen und progressiven Intentionen mitten durch sie hindurch (nämlich zwischen 2 und 3) verläuft. Wenn politischer Konservatismus in seinen Anfängen auch alles andere sein wollte, als ausgerechnet ›in der Mitte sein‹, überlappen sich heute Konservatismus und Mitte zum Teil. Im Gegensatz zu den Liberalen und zur SPD, die die ganze Mitte (2 und 3) besetzt haben, füllen die Konservativen nur die rechte Mitte (2) aus. Dafür greifen sie in den Positionen 1 und 5 wesentlich weiter aus in das, was man gemeinhin die politische ›Rechte‹ nennt (Positionen 1, 5 und 6), 56
ohne dass diese ganz mit Konservatismus gleichzusetzen wäre. Insbesondere sind Teile der in Bewegung geratenen, präfaschistischen »neuen Rechten« (E. Weber)5 in Deutschland nach 1890, die sich rückwärtsgewandt revolutionär gebärdete, eher restaurativ als konservativ gewesen. Ebenso war die NSDAP in der Weimarer Republik zwar ›rechts‹, aber nicht konservativ. Es fällt auch schwer, mobilisierte rechte Protestwähler, die auf akute Krisen reagieren, unbesehen zum konservativen Milieu zu rechnen, z. B. die antisemitischen Wähler im ländlichen Hessen vor und um 1890 oder die schleswig-holsteinischen Bauern in der Wirtschaftskrise nach 1928. Versucht man, die politischen Ideen und Konzepte, die Organisationen und die sozialen Milieus entsprechend zuzuordnen, muss man über das hinaus gehen, was seit Jahrzehnten als »politischer Konservatismus« im engeren parteipolitischen Sinne definiert worden ist, und außer den protestantischen konservativen Parteien auch den katholischen Konservatismus und die konservativer gewordenen Rechtsliberalen in eine genauere Betrachtung einbeziehen. Dies würde z. B. einen großen Unterschied bei der Einschätzung der Breite des konservativen Milieus in Deutschland vor 1933 machen: M. Rainer Lepsius hat für die Endphase des Kaiserreichs trotz der hochgradigen politischen Polarisierung eine breite politische Mitte von bis zu 50 Prozent des Wählerpotentials bei den Reichstagswahlen (alle Liberalen und Zentrum) ermittelt und nur ein konservatives Potential zwischen 12 und 14 Prozent festgestellt, das in der Weimarer Republik zunächst etwas anstieg und an deren Ende zwischen 6 und 8 Prozent betrug gegenüber einer von 25 auf über 40 Prozent angewachsenen ›Rechten‹.6 Bei der hier vorgeschlagenen und vielleicht aussagekräftigeren Zusammenfassung des breiteren konservativen Milieus (Konservative, Zentrum und Nationalliberale) unter Verzicht auf die Kategorie der Mitte käme man für das Kaiserreich und noch bis in die Stabilisierungsphase der Weimarer Republik hinein auf ein konservatives Potential zwischen 45 und 50 Prozent, allerdings mit abnehmender Tendenz, die sich seit 1928 weiterhin beschleunigte: Der Anteil des konservativen Milieus wurde in kurzer Zeit halbiert (1932: 22,8 Prozent). Trotz aller methodischen Probleme und Beschränkungen lässt sich feststel len, dass das politische Potential des Konservatismus in Deutschland insgesamt wesentlich breiter gewesen ist als z. B. das des Liberalismus. Diese Tatsache hängt m. E. sehr eng zusammen mit den Konsequenzen der spezifisch deutschen Kombination von verspäteter Industrialisierung, verspäteter Nationalstaats bildung, dem Fehlen einer erfolgreichen bürgerlichen Revolution und dem teilweise ungebrochenen Weiterleben vormoderner, obrigkeitlich-bürokratischer 5 H. Rogger u. E. Weber (Hg.), The European Right. A Historical Profile, Berkeley 1966, Introduction, S. 1–28. 6 M. R. Lepsius, Extremer Nationalismus. Strukturbedingungen vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, Stuttgart 1966, S. 7 ff.; vgl. auch ders., Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung in der deutschen Gesellschaft (1966), in: G. A. Ritter (Hg.), Deutsche Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56–80, bes. 62 ff.
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Elemente in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat. Diese Konstellation hat auch bewirkt, dass bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die anderswo regelmäßig anzutreffende Verbindung von politischem Konservatismus und wirtschaftlichem Liberalismus in Deutschland nicht zustande kam. Stattdessen favorisierte man primär protektionistische und staatsinterventionistische Strategien. Diese Eigenart verweist ebenso auf zentrale Probleme des politischen und sozialen Orts des deutschen Konservatismus wie das kompromisslose und verbissene Festhalten an alten Positionen auch dann, wenn diese schon aussichtslos waren. Um 1910 versicherte der einflussreiche und kluge Führer der DeutschKonservativen Ernst v. Heydebrand einem Linksliberalen: »Die Zukunft gehört Ihnen ja doch, die Masse wird sich geltend machen und uns, den Aristokraten den Einfluß nehmen. Diese Strömung kann nur durch einen starken Staatsmann eine Weile aufgehalten werden. Freiwillig wollen wir jedenfalls unsere Position nicht opfern. Zwingen Sie uns doch, dann haben Sie, was Sie wollen.«7
Ähnlich hatte sich schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts Friedrich v. Gentz, einer der ersten deutschen Konservativen und Berater Metternichs, in einem Brief geäußert: »Die Zeit selbst der ehrenhaften Capitulationen scheint mir vorüber, die Mitte wird uns nicht mehr retten; gebrauchen wir denn den Rest unserer Kräfte, um das zu erhalten, was wir wollen und immer gewollt haben. Die von uns verteidigte Sache wird untergehen, ich weiß es wohl und weiß auch warum.«8
Der alte deutsche Konservatismus war resignativ und relativ klar definiert. Der neue der Gegenwart ist aggressiv und schwer zu erklären gemäß der para doxen Definition von Franz Josef Strauß, konservativ sein heiße »an der Spitze des Fortschritts marschieren«.9 Auch sonst haben beide wenig gemeinsam. Die eingetretenen Veränderungen können hier nur in thesenartiger Zuspitzung benannt und kurz erläutert werden.10
2. Thesen zum Konservatismus in Deutschland 1. Solange man an den Fortschritt glaubte, an die unaufhaltsame Modernisierung der Welt und die technische Machbarkeit aller Dinge, und solange es starke politische Gruppen gab, die sich zukunftsoptimistisch fast ausschließ7 H. Pachnicke, Führende Männer im alten und neuen Reich, Berlin o. J. (1930), S. 63. 8 G. Mann, Friedrich von Gentz, Zürich 1947, S. 358. 9 Süddeutsche Zeitung v. 16.02.1968, S. 3. 10 Dazu ausführlicher in H. J. Puhle, Conservatism in Modern German History, in: Journal of Contemporary History, Jg. 13, 1978, 689–720.
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lich der Verwirklichung von auf Veränderung und sozialen Wandel gerichteten Zielen widmeten, so lange hatte politischer Konservatismus als mehr oder weniger systematische, wohlabgegrenzte politische Grundhaltung und Ideologie eine wichtige Warner- und Bremserfunktion. Er artikulierte in angemessener Weise die Interessen jener Teile der sich modernisierenden Gesellschaften, die dem sozialen Wandel Widerstand entgegenzusetzen versuchten und bestrebt waren, den noch bestehenden oder gerade erst (z. B. in der Revolution) veränderten Status quo in der Macht-, Besitz- und Chancenverteilung gegenüber den Folgen einer dynamischen Wirtschaftsentwicklung oder einer Expansion staatlicher Politik zugunsten der weniger Besitzenden zu verteidigen. In Deutschland haben diese Bemühungen insgesamt den Prozess der ge samtgesellschaftlichen Modernisierung und des Ausbaus des Sozialstaats nicht aufzuhalten vermocht. Aber sie haben dessen Kosten hochgetrieben und insbesondere Privilegien, Nischen und Enklaven geschaffen, dank derer nicht nur große Teile der vormodernen Eliten relativ angenehm überleben konnten, sondern auch die mehr Besitzenden die Ansprüche der weniger Besitzenden durchweg mit überproportionalem Erfolg abwehren konnten. 2. Der Sonderweg der Konservativen in Deutschland war von Anfang an markiert durch deren enge Bindung an großagrarische Interessen, die konfessionelle Spaltung des Konservatismus, das Fehlen eines westlichen Liberal-Konservatismus, die Schwäche reformkonservativer Bemühungen und die Abwehr des Parlamentarismus. Hinzu kam die schwere Hypothek, die die Kanzlerschaft Bismarcks auch für die Konservativen bedeutete. 3. Bismarck war ein – methodisch moderner und geschickter – konservativer Politiker. Aber er war kein Parteimann. Machterweiterung und Realpolitik waren ihm wichtiger als die Reinheit ideologischer Prinzipien. Seine autoritär von oben dekretierte Politik war durchweg konservative Politik zur Wahrung der Interessen der Besitzenden. Sie war aber zeitweise und sektoral (z. B. in der Sozialpolitik) durchsetzt mit reformkonservativen Zügen. Und vor allem scheute sich Bismarck nicht, dort, wo es der Machterhaltung und -stabilisierung diente, herkömmliche konservative Tabus zu verletzen: durch die Politik der kleindeutschen Reichseinigung, bei der Entthronung legitimer Fürsten, durch die Gewährung des gleichen Wahlrechts für den Reichstag und kontinuierlich durch seine bonapartistischen Techniken zur Manipulation einer wesentlich akklamativen Öffentlichkeit.11 Der erfolgreiche Konservatismus von oben richtete sich auch gegen die konservativen Parteien und Gruppen, die ebenso wie die Liberalen zu den Manipulierten gehörten. Er höhlte ihre programmatische Substanz aus und hinderte sie – durchaus kalkuliert – in einer Zeit, in der sie sich hätten organisatorisch 11 Vgl. u. a. M. Stürmer, Konservatismus und Revolution in Bismarcks Politik, in: ders. (Hg.), Das kaiserliche Deutschland, Düsseldorf 1970, S. 143–167.
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und parlamentarisch stabilisieren können, an der konsolidierenden Entwicklung parlamentarischer Politik. Die Spaltungen des parteipolitischen Konservatismus über der Reichseinigungspolitik verzögerten auch eine wirksame Organisation im Lande. Die schließlich 1876 gegründete Deutsch-Konservative Partei geriet bereits im Zuge der Schutzzollberatungen seit Ende der siebziger Jahre ins Fahrwasser Bismarckscher Politik, deren wesentliche Entscheidungen anderswo fielen. Auch das katholische Zentrum wurde zeitweise von der Regierung eingefangen. Die Vormacht des rückständigen Preußen im Reich sorgte außerdem für die Übermacht des agrarisch dominierten und von einer vormodernen, rückwärtsgewandten Koalition getragenen preußischen Konservatismus gegenüber dem der süd- und westdeutschen Staaten. 4. Seit der Reichsgründung hat sich der historische Ort des deutschen Konservatismus zweimal entscheidend verschoben. Der erste dieser folgenreichen Posi tionswechsel vollzog sich, nach bezeichnenden Anfängen noch während der Bismarckzeit, insbesondere in den Jahren zwischen 1890 und 1918. Sein wesentliches Kennzeichen ist die Kanalisierung des überlieferten, überwiegend von preußischen Traditionen geprägten Konservatismus in den Bahnen eines völk ischen Nationalismus und entsprechender Politik, Koalitionsbildung und Ideologie mit deutlich präfaschistischen Zügen. Die zweite Wende erfolgte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. 5. So wie der Nationalismus nach 1870 aufhörte, eine liberale und eigentlich emanzipatorische Ideologie zu sein, und nach dem Vollzug der kleindeutschen Einigung zunehmend konservative Zwecke rechtfertigte, so begaben sich die Konservativen unter dem beherrschenden Einfluss des wohlorganisierten großagrarischen Bundes der Landwirte und begleitet von den völkischen Agitationsverbänden (z. B. Alldeutsche, Flottenverein, Deutschnationaler Handlungsgehilfenverband, Mittelstandsverbände, Kriegervereine) seit den neunziger Jahren in ihrer großen Mehrheit endgültig in den Bann des völkischen Nationalismus, der am Ende den alten Konservatismus zerstörte.12 Die neuen Zentralbegriffe konservativen Denkens unterschieden sich erheblich von den überlieferten: Volk, Volksgemeinschaft, Mittelstand, nationale Arbeit in Stadt und Land, Kampf ums Dasein, Erhaltung der Art, Politik des gesunden Volksempfindens. An die Stelle der Geschichte als ideologischer Leitwissenschaft traten Biologie und Sozialdarwinismus. Der Konservatismus ging auf in einer neuen breiten völkisch-nationalen, sozialimperialistischen, militaristischen Integrationsideologie mit deutlichen mittelständischen und anti semitischen Zügen, die sich mit modernen direktdemokratischen Mitteln gegen Parlament und Parteien richtete und aufgrund ihres vor allem gegen Liberale und Sozialisten konzipierten radikal dichotomischen Gesellschaftsbilds ent12 Vgl. H. J. Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhel minischen Reich 1893–1914, Bonn 19752, sowie ders., Parlament, Parteien, in diesem Band.
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scheidend zur politischen Polarisierung und Radikalisierung im Kaiserreich beigetragen hat. Besonders die Mittelstandsideologie verband ständisch-korporative Reminiszenzen und berufsständische Organisationspläne mit anti parlamentarischen Absichten und antikapitalistischer und antiliberaler Rhetorik. Sie trug bei zu einer Ausweitung des Wählerpotentials in die Mittel- und Unterschichten und half, den Antisemitismus nach dem Zusammenbruch der radau-antisemitischen Basisbewegungen, eingewebt in die Bahnen agrarischmittelständischer Interessenpolitik, auch unter Konservativen salonfähig und damit gefährlicher zu machen.13 Gegen den völkischen Nationalismus der »neuen Rechten« hatten die z. B. von Adolf Grabowsky und einigen Jugendorganisationen betriebenen Bestrebungen zur Erneuerung des traditionellen Konservatismus insgesamt keine Chance.14 Der neue consensus, der reaktionäres mit revolutionärem Potential zugunsten eines ›staatserhaltenden‹ Umsturzes von rechts kombinierte, war modern und schlagkräftig und radikalisierte sich noch im Weltkrieg, insbesondere nach der Gründung der breit angelegten präfaschistischen Deutschen Vaterlandspartei (1917). Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) der Weimarer Republik übernahm diesen consensus und stand damit von Anfang an im rechten Abseits außerhalb des Weimarer Verfassungsbogens. Daran änderte auch der zunehmende Einfluss der Industrie in der Partei nicht viel. Die Partei der Konservativen von Weimar verstand sich als ›staatserhaltend‹, war aber verfassungsfeindlich. Die Chance zur Bildung einer reformistischen liberal konservativen Volkspartei hat in Deutschland auch 1918 nicht bestanden. Stattdessen differenzierte sich die »neue Rechte«. Neben DNVP, Agrarier und völkische Agitationsverbände traten die militärischen Desperados der Wehrverbände und vor allem die vom »Kriegserlebnis« beeindruckten Ideologen der »konservativen Revolution« (z. B. Ernst Jünger, Edgar J. Jung, Moeller van den Bruck, Jungkonservative, Nationalbolschewisten, usw.), die am Ende nicht nur den »neuen Staat«, sondern auch den »neuen Menschen« schaffen wollten und sich damit endgültig in diametralen Gegensatz zu älteren konservativen Forderungen gesetzt hatten.15 Sie alle schufen das völkische Treibhausmilieu, aus dem die Nationalsozialisten kamen und in dem sie ihren Aufstieg betrieben. Und sie alle trugen Entscheidendes bei zur nationalsozialistischen Machtergreifung: die deutschnationalen Industriellen, Agrarier und Mittelständler, katholische Konservative wie Brüning und Papen, das Zentrum, die völkischen Verbände und Wehrverbände, die Ideologen und nicht zuletzt die konservativen Agrarier der Kamarilla um den Reichspräsidenten. Die deutschen Konservativen hatten sich zum größten Teil schon ausgeschaltet, bevor die Nationalsozialisten damit be13 Zum Antisemitismus der Konservativen vgl. bes. Puhle, Agrarische Interessenpolitik, S. 111–140. 14 A. Grabowsky, Der Kulturkonservatismus und die Reichstagswahlen, Berlin 1912. 15 Vgl. u. a. A. Mohler, Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932, Darmstadt 19722; A. Moeller van den Bruck u. a. (Hg.), Die Neue Front, Berlin 1922.
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gannen, sie gleichzuschalten. Auch der spätere unentschlossene und dilettan tische Widerstand einiger Konservativer gegen den Nationalsozialismus spiegelte überwiegend den völkisch-nationalen consensus der »neuen Rechten« und entsprechend rückwärtsgewandte Ziele. 6. Eine zweite grundlegende Neuorientierung konservativen Denkens und konservativer Politik wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs notwendig, zum einen, weil sich die »neue Rechte« mit dem Nationalsozialismus komplett diskreditiert hatte, und zum anderen, weil der Neuaufbau des Landes im Hegemonialbereich der Westmächte, vor allem der USA, reformkonservative Strategien begünstigte und eine stärkere Einbindung wirtschaftsliberaler Konzepte auch in konservativ gemeinte Programme nahelegte. Seit der Inkorporation der freien/sozialen Marktwirtschaft in den westdeutschen politischen consensus ist der deutsche Sonderweg auch in Sachen Konservatismus zu Ende. Politischer Konservatismus war seitdem auch hier kompatibel mit Wirtschaftsliberalismus. Dieser Übergang wurde erleichtert durch das Verschwinden der ostelbischen Großagrarier, die den alten politischen Konservatismus getragen und seine Richtung – und deren Änderungen – bestimmt hatten. Außerdem wurde erstmals die konfessionelle Spaltung der deutschen Konservativen überwunden; CDU und CSU sammelten Katholiken und Protestanten. Der neue Konservatismus der Ära Adenauer war weltanschaulich nicht mehr sonderlich homogen, aber noch deutlich abgrenzbar. Er war erstmals unein geschränkt verfassungstreu. Seine grundlegende Basis war die Kombination von ökonomischem Neoliberalismus mit einer ›westlichen‹ parlamentarisch-demokratischen Orientierung, ergänzt durch christlich-katholische Grundsätze nach dem »Subsidiaritätsprinzip« insbesondere für die Familien-, Bildungs-, Gesundheits- und Sozialpolitik. Trotz anfänglicher Reformen, zu denen nicht nur die Montanmitbestimmung gehört, sondern auch die Erfüllung a lter konservativ-agrarischer und mittelständischer Forderungen (z. B. in der Handwerksordnung von 1953 und im Landwirtschaftsgesetz von 1955), dominierten die Charakteristika konservativer Politik von Anfang an. Im Laufe der Zeit nahm deren Unbeweglichkeit außerdem zu, deutlich sichtbar z. B. in dem Adenauerschen Wahlkampfslogan »Keine Experimente!« (1957): Der erreichte Wohlstand und die Westintegration waren zu sichern, der Status quo zu stabilisieren, zumal im Zeichen der antisozialistischen Agitation des Kalten Kriegs und einer konservativ eingeengten Europa-Ideologie. Träger dieser Politik war anfangs eine breite Bürgerblock-Koalition, die aller dings relativ schnell in die regierende CDU integriert wurde. Dasselbe geschah mit den zahlreichen aufeinander folgenden rechtsliberalen Sezessionen. Die Nachkriegskonzeption der FDP als einer Partei, die die traditionell getrennt organisierten konservativen und progressiven Liberalen zusammenfasst, hat sich, obwohl die Partei noch besteht, insgesamt wohl als erfolglos erwiesen. Die Trennungslinie mitten durch die »Mitte« ist selbst Anfang der 1980er Jahre noch deutlich ausgeprägt. 62
7. Die Unmöglichkeit einer direkten Anknüpfung an den völkisch-nationalen Konservatismus der Weimarer Republik und die geringe Resonanz der von einigen Intellektuellen unternommenen Versuche einer Wiederbelebung des ›ursprünglichen‹ Konservatismus des frühen 19. Jahrhunderts trugen auch bei zum Zerfall des klar abgrenzbaren und definierten politischen Konservatismus nach dem Ende der Ära Adenauer, in der zweiten Hälfte der sechziger und vollends in der Wirtschaftskrise der siebziger Jahre. Andere wichtige Bedingungsfaktoren dieser Entwicklung waren einmal die Tatsache, dass die CDU sich nach 1969 in der Opposition nicht als ausgesprochen konservative Partei regenerierte, sondern – auch organisatorisch – erfolgreich mehr populistische Strategien einer breiten Integrations- und Volkspartei (catch-all party) entwickelte (denen die CSU schon lange gefolgt war), und zum anderen der Umstand, dass auch die Sozialliberalen in der Regierung nach einer kurzen Reformeuphorie von 1973 an bereits in Reaktion auf die weltweite Wirtschaftskrise überwiegend eher konservative Politik betrieben. Konsistenter politischer Konservatismus ist Anfang der 1980er Jahre in der Bundesrepublik nirgendwo mehr eindeutig lokalisierbar. Er starb, weil er keinen Gegner mehr hatte. Statt dessen finden wir vermehrt konservative Elemente und Versatzstücke in willkürlicher Auswahl und Kombination in Programm und Politik aller Parteien und Interessengruppen und weit darüber hinaus in vielen Äußerungen kollektiven Lebensgefühls, im Kulturbetrieb, in der Mode und in diversen Nostalgiewellen. Die beliebigen Elemente aus dem Arsenal des Konservatismus und konservativer Bezüge sind dabei, unsere Alltagswelt zunehmend zu durchdringen. Der Konservatismus ist vom Programm zum Versatzstück geworden. 8. Gleichzeitig haben schon seit längerer Zeit die Zwänge eines strukturellen, systemischen Konservatismus zugenommen, von dem weiter oben bereits die Rede war. Wie in anderen hochentwickelten, hochdifferenzierten und hochorganisierten Gesellschaften stellt auch in Deutschland gegenwärtig diese Tendenz zur Einengung der Handlungsspielräume, zur Unbeweglichkeit und zum bloßen Krisenmanagement zugunsten der Systemerhaltung einen beherrschenden Zug der gesamten Politik dar. Struktureller Konservatismus ist weitgehend zu der Basis geworden, von der aus politisches Handeln noch möglich ist. Diese Basis begünstigt allerdings nicht nur die konservativen Elemente in Programm und Politik einzelner Parteien und Gruppen, sondern sie begünstigt – unab hängig davon, wer gerade regiert – insgesamt auch konservative Politik in dem weiter oben definierten Sinn, weil diese angesichts des Organisationsgefälles zwischen den mehr und den weniger Besitzenden in der Gesellschaft durchweg mit geringerer Mühe und gegen weniger Widerstände zu realisieren ist als ›progressive‹ Umverteilungspolitik. 9. Auf die Basis dieses strukturellen Konservatismus gewissermaßen draufgesat telt erscheinen heute unterschiedliche Varianten begrenzter neo-konservativer 63
Strategien, die erst seit den siebziger Jahren zunehmende Verbreitung gefunden haben und jeweils verschiedene konservative Elemente miteinander (gelegentlich auch mit nicht-konservativen Elementen) verbinden, ohne doch deshalb einen neuen einheitlichen politischen Konservatismus zu konstituieren. Auslöser für diese Zunahme konservativer Neubesinnung waren die Einsichten in die Begrenztheit des Fortschritts, die Rohstoff- und Ressourcenknappheit und die Gefahren irreversibler Umweltschädigungen, die Stagnation der Wirtschaften der Industrieländer, die zunehmende Krisenanfälligkeit von Großorganisationen, das Gefühl, bei weiterer Beschleunigung organisiert industriekapitalistischer Entwicklungsprozesse in einer Sackgasse zu enden, aber auch die engen Grenzen staatlicher Reformpolitik angesichts der zu bewältigenden Probleme, entsprechende Enttäuschungen und das »Verstummen der Aufbruchsmeta phorik« (H. Lübbe). Angesichts dieser Lage glauben viele Konservative, zum ersten Mal seit zwei Jahrhunderten nicht mehr in der Defensive zu stehen: In einigen Punkten haben sie – wie es scheint – Recht behalten. Sie haben beständig auf die Grenzen des Fortschritts verwiesen und zur Skepsis gemahnt. Jetzt scheint der organisierte Sozialstaat tatsächlich an seine Grenzen zu stoßen. Sie haben gewarnt vor systematischen Entwürfen in die Zukunft und großen, ›mechanischen‹ Organisationen, die jetzt beginnen, nicht mehr zu funktionieren. Und viele von ihnen haben zu allen Zeiten die Natur gegen die Eingriffe der Menschen, von Industrie und Technik zu schützen versucht, was jetzt zur Aufgabe aller zu werden scheint. Der Trend geht wieder zurück zur kleinen, überschaubaren, oft historisch gewachsenen Einheit, zur versuchten Unmittelbarkeit, zur Einfachheit, zum Erleben. Die Menschen und die Dinge sollen in Ruhe gelassen werden. »Schonung« statt »Bilderstürmerei« hat Hermann Lübbe jetzt empfohlen.16 Ein wenig scheint hier Arnold Gehlens »Entlastung« durch, obwohl sonst der aufgeklärte Neo-Konservatismus unserer Tage ebenso wenig mit dem an stabilen Institutionen orientierten, aufs »optimale Funktionieren« tief vertrauenden und am Ende depolitisierenden »technokratischen Konservatismus« der fünfziger und sechziger Jahre (Freyer, Schelsky, Gehlen) zu tun hat wie mit dem älteren politischen Konservatismus.17 Intelligente Konservative wissen natürlich, dass Rechthaberei nicht ange bracht ist. Was hätte es der Welt genutzt, wenn man schon seit 1790 auf die Konservativen gehört hätte? Sie haben immerhin fast zweihundert Jahre gebraucht, ehe sie in einigen Punkten Recht zu behalten scheinen. Und auch dies ist noch lange nicht sicher. Sie formulieren deshalb auch ihre neuen Einsichten nicht mit dem Anspruch ewiger Gültigkeit oder konsistenter Weltanschauung, sondern 16 Vgl. u. a. H. Lübbe, Zeit-Verhältnissse. Zur Kulturphilosophie des Fortschritts, Wien 1983; ders., Philosophie nach der Aufklärung: Von der Notwendigkeit pragmatischer Vernunft, München 1980. 17 Zum »technokratischen Konservatismus« vgl. M. Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, München 1971, S. 316–346, sowie H. Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955; A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, Bonn 1956; H. Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, Köln 1961.
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eher als temporäre, für die Gegenwart angebrachte taktische Ratschläge: Die Schraube der Zentralisierung, Staatsintervention, Organisation, Bürokratisierung, Lenkung und Planung wurde überdreht. Also ist sie zurückzudrehen. Der Staat wurde zu sehr belastet. Also ist er zu entlasten. Wenn ›Reprivatisierung‹ dann aber lediglich dazu führt, dass insgesamt Sozialleistungen abgebaut werden und dass ansonsten an die Stelle des Staates ebenso zentralisierte, organisierte und bürokratisierte private Großkorporatio nen treten, ohne dass sich strukturell oder in den Dimensionen Nennenswertes ändert, funktioniert das Ganze geradezu idealtypisch im Sinne konservativer Politik zugunsten der mehr Besitzenden, deutlich sichtbar in den USA Ronald Reagans oder im Großbritannien Margaret Thatchers. In den 1970er und den frühen 80er Jahren sind die Einflüsse der hegemonialen nordamerikanischen neo-konservativen Varianten auch in Deutschland wieder stärker geworden. Ihre wichtigsten Forderungen sind im Grunde solche des Wirtschaftsliberalismus: Entstaatlichung, Abbau von staatlichen Leistungen und keynesianischer Lenkungsinstrumente, »mehr Markt«, mehr angebotsorientierte und monetaristische Wirtschaftspolitik, Wettbewerb, Leistungsprinzip, Prämien für die Erfolgreichen.18 Der Widerspruch zwischen traditionaler konservativer Wertorientierung und der Verpflichtung auf die Marktgesetze bleibt dabei unauflöslich. In der Intensität der Übernahme solcher Forderungen gibt es trotz zahlreicher ›strukturell-konservativer‹ Übereinstimmungen auch noch deutliche Unterschiede zwischen CDU und SPD. Auf der anderen Seite weisen auch die neuen, während der siebziger Jahre angewachsenen partizipatorischen Basis- und Protestbewegungen der Ökologen und Kernkraftgegner, der Grünen und Alternativen starke konservative Züge auf. Sie wollen u. a. Bestehendes erhalten und bekämpfen das, was sich als technischer Fortschritt ausgibt. Hier haben sich – in der Terminologie Erhard Epplers – die Wertkonservativen von den Strukturkonservativen losgesagt.19 10. Struktureller Konservatismus als Ausgangsbasis ist das politische Schicksal aller entwickelten Industrieländer. Auch die auf dieser Basis ansetzenden Neo-Konservatismen gibt es heute – schon aufgrund der internationalen Wirtschaftsverflechtungen und der Dominanz der USA – in zahlreichen Ländern. Konservative Politik neigt zunehmend zur Konvergenz über Grenzen hinweg. Das spezifisch Deutsche am heutigen Konservatismus in Deutschland scheint vor allem seine Entwicklungsgeschichte zu sein, aus der bei gegebenem Anlass immer wieder wichtige oder unwichtige, bloß rhetorische oder auch substantielle Elemente an die Oberfläche gespült werden.
18 Dazu u. a. H. Grebing, Konservative gegen die Demokratie, Frankfurt 1971; dies. u. a., Konservatismus, S. 33–66; M. Greiffenhagen (Hg.), Der neue Konservatismus der siebziger Jahre, Reinbek 1974. 19 E. Eppler, Ende oder Wende? Von der Machbarkeit des Notwendigen, Stuttgart 1975.
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Was kommt nach den ›catch-all parties‹?* Parteien zwischen Modernisierung und Fragmentierung
Die politischen Parteien gehören gegenwärtig zu den am meisten gescholtenen Organisationen in Europa. Ihre Politik, ihr Personal und ihr Benehmen werden, wo immer es geht, genüsslich unter dem Mikroskop seziert und skandalisiert, wenn sich Anzeichen für Vorteilsnahme, Machtmissbrauch und Arroganz finden lassen. Und das ist gut so, denn die Parteien gehören zu den ganz wenigen Einrichtungen, die die Demokratie wirklich braucht. Sie sind die wichtigsten Vermittlungsagenturen und die wichtigsten kollektiven Akteure demokratischer Politik in größeren Flächenstaaten. Sie sind es immer noch, und sie sind es ziemlich konkurrenzlos. Also ist es auch im Interesse der Bürger, dass sie möglichst gut und effizient funktionieren. Das Unbehagen an den Parteien und die Enttäuschung über sie haben allerdings nicht nur aktuelle Gründe. Die Menschen und Bürger reagieren seit etwa einem Vierteljahrhundert zunehmend auch auf umfassende gesellschaftliche Veränderungsprozesse von hoher Komplexität, die sie einerseits verunsichert und die andererseits die Erwartungen an einsichtige politische Lösungsangebote hochgetrieben haben. Diese Erwartungen richten sich an die Politik, also an die Parteien. Diese werden aber gleichzeitig auch als geschwächte Opfer der Veränderungen wahrgenommen, die das Vertrauen, das man noch vor dreißig Jahren in sie haben mochte, nicht mehr verdienen und sich tief in der ›Krise‹ befinden.1 Gemeint ist ganz konkret eine Krise der modernen ›Volksparteien‹, der in ihnen versammelten ›politischen Klasse‹, wie man auch bei uns inzwischen gerne sagt, und eine Krise des sogenannten ›Parteienstaats‹, also jener im Einzelnen noch zu erläuternden engen Verklammerung von Parteien und Staat,
* Zuerst erschienen als: Parteienstaat in der Krise: Parteien und Politik zwischen Modernisierung und Fragmentierung, Wiener Vorlesungen im Rathaus, Bd. 92, Wien 2002. 1 Vgl. u. a. C. Gf. v. Krockow u. P. Lösche (Hg.), Parteien in der Krise, München 1986; K. Starzacher (Hg.), Protestwähler und Wahlverweigerer, Krise der Demokratie?, Köln 1992; F. C. Starke, Krise ohne Ende? Parteiendemokratie vor neuen Herausforderungen, Köln 1993; W. Bürklin u. D. Roth (Hg.), Das Superwahljahr. Deutschland vor unkalkulierbaren Regierungsmehrheiten, Köln 1994; zum Kontext: O. W. Gabriel u. a. (Hg.), Parteiendemokratie in Deutschland, Opladen 1997; S. Immerfall, Strukturwandel und Strukturschwächen der deutschen Mitgliederparteien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 1–2/98, 1998, S. 3–12; relativierend im Vergleich: H. Daalder, A Crisis of Party?, in: Scandinavian Political Studies, Jg. 15, 1992, S. 269–288.
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die sich im letzten halben Jahrhundert in einer Reihe von Ländern, darunter in Österreich und der Bundesrepublik Deutschland, herausgebildet hat. Gleichzeitig haben sich auch die modernen ›Volksparteien‹ entwickelt, wie sie sich selbst gern nennen. Der deutschamerikanische Politikwissenschaftler Otto Kirchheimer hat diesen neuen Typ von Parteien mit dem vorrangigen Ziel der Stimmenmaximierung Mitte der 1960er Jahre zuerst als ›catch-all party‹ (auch: catch-all mass party, catch-all ›people’s‹ party) beschrieben und von den älteren, auch schon wohlorganisierten und schlagkräftigen Massenintegrationsparteien mit noch überw iegender konfessioneller oder Klassenbasis abgegrenzt, aus denen die catch-all parties zumindest in Europa durchweg hervorgegangen sind.2 Da mir der Terminus ›Volkspartei‹ zu unscharf ist und zu ideologieanfällig, werde ich hier meist diesen Kirchheimerschen Begriff der catch-all party benutzen, also einer Partei, die ›alles einfangen‹ will, womit der charakteristische Zug dieser modernen Parteien, die Absicht der Stimmenmaximierung, am besten ausgedrückt wird. Eine deutsche Übersetzung, die man gelegentlich versucht hat, nämlich ›Allerweltspartei‹, erscheint mir wenig treffend und unbefriedigend. – In der Folge möchte ich zunächst, erstens, das Problem umreißen und die zentralen Thesen andeuten, dann zweitens kurz die Durchsetzung und das Funktionieren von catch-all parties und Parteienstaat behandeln, bevor ich drittens im Hauptabschnitt deren ›Krise‹ und die Folgen thematisiere, die sich daraus ergeben für Gestalt und Charakter der politischen Parteien und für die Politik im Parteienstaat. Abschliessend sollen viertens die wichtigsten Züge der säkularen Wende im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts zusammengefasst werden.
1. Probleme und Thesen Vieles vom Krisengerede und von der sog. ›Parteienverdrossenheit‹ funktioniert auch nach dem Schema einer sich selbst erfüllenden Prophezeihung: Die Parteien werden schlechtgeredet und gleichzeitig wird auf diese Kritik als Indiz einer objektiven Delegitimierung und Krise verwiesen. Das ändert aber nichts daran, dass erstens die Kritik in der Sache meistens berechtigt ist, und dass es zweitens tatsächlich im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts einen wichtigen strukturel2 Vgl. O. Kirchheimer, The Transformation of the Western European Party System, in: J. LaPalombara u. M. Weiner (Hg.), Political Parties and Political Development, Princeton 1966, S. 177–200, dt.: Der Wandel des westeuropäischen Parteisystems, in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 6, 1965, S. 20–41. Zur älteren Massenintegrationspartei: S. Neumann, Toward a Comparative Study of Political Parties, in: ders. (Hg.), Modern Political Parties. Approaches to Comparative Politics, Chicago 1955, S. 395–414; M. Duverger, Political Parties, New York 19677 (Les partis politiques, Paris 1951), sowie bereits M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Köln 1964 (Tübingen 1956), II, 9,8, § 4, S. 1063–80; ders., Politik als Beruf, in: ders., Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 19713, S. 505–560.
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len Umbruch, eine säkulare Neuorientierung, gegeben hat, die man durchaus auch als ›Krise‹ des etablierten Typs der catch-all party beschreiben kann. Krisen sind Herausforderungen, die keineswegs immer tödlich enden; sie können auch dazu beitragen, die Dinge neu einzustellen, zu gewichten und zuzuordnen, Funktionen und Beziehungen mehr oder weniger gründlich zu reformieren. Worum geht es? Festgemacht wird die sog. ›Krise‹ der modernen Parteien in der einschlägigen Literatur und Publizistik vor allem am Rückgang der Wählerstimmen für die großen catch-all parties zusammen von bis über 90 % in den 60er und 70er Jahren auf rund 70 % und gelegentlich weniger in den späten 80er und den 90er Jahren,3 an der Zunahme der Wahlenthaltung,4 der Fragmentierung politischer Programmpunkte und Präferenzen, oft auch an vermehrten Führungsrivalitäten und Führungsschwäche. Hinzu kommen Filz und Korruption, die abnehmende Mobilisierungs- und Integrationskraft der Parteien, programmatische Phantasielosigkeit, schrumpfende Mitgliederzahlen und allgemeine, länger anhaltende und endemische Desillusionierungs- und Enttäuschungsphänomene (›desencanto‹). Dabei sind die Parteien oft an überzogenen und miteinander nur schwer zu vereinbarenden Forderungen gemessen worden: Sie sollen z. B. jeweils gleichzeitig nach außen einheitlich und schlagkräftig agieren und im Innern oligarchische Tendenzen vermeiden, innerparteiliche Demokratie, Partizipation und Kontrolle von unten stärken. Sie sollen die sektoralen Interessen ihrer Wähler vertreten und zugleich eine kohärente Politik formulieren, die über den ›Sonderinteressen‹ steht. Sie sollen ›leadership‹ zeigen, aber nicht von ihren Führern dominiert werden. Sie sollen nicht, zumindest nicht in der gegenwärtigen Höhe, vom Staat finanziert werden, aber auch nicht von den Spenden zahlungskräftiger Unternehmen und Verbände abhängig sein. Sie sollen eigentlich nicht von sog. ›Berufspolitikern‹ geführt werden, aber auch nicht von Amateuren und von Leuten ohne Erfahrung und Effizienz im politischen Geschäft. Die Parteien können unmöglich all diesen Erwartungen gleichzeitig gerecht werden, und sie werden dafür kritisiert, dass sie es nicht wenigstens versuchen.5 Das bedeutet jedoch nicht, dass sie und ihre Politik schuldlos wären 3 Vgl. R. Wildenmann, Volksparteien. Ratlose Riesen?, Baden-Baden 1989; E. Wiesendahl, Volksparteien im Abstieg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 34–35/92, 1992, S. 3–14. Zum Kontext vgl. A. Mintzel, Die Volkspartei. Typus und Wirklichkeit, Opladen 1983; A. Mintzel u. H. Oberreuter (Hg.), Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 19922. 4 Dazu im deutschen Kontext: M. Eilfort, Die Nichtwähler. Wahlenthaltung als Form des Wahlverhaltens, Paderborn 1994; O. Niedermayer u. R. Stöss (Hg.), Parteien und Wähler im Umbruch, Opladen 1994. Für Spanien bereits: J. R. Montero, La vuelta a las urnas: participación, movilización y abstención, in: J. J. Linz u. J. R. Montero (Hg.), Crisis y cambio: Electores y partidos en la España de los años ochenta, Madrid 1986, S. 71–154. Vgl. auch J. Font u. R. Virós (Hg.), Electoral Abstention in Europe, Barcelona 1995. 5 Zur modischen Parteienkritik in Deutschland vgl. u. a. H. H. v. Arnim, Die Partei, der Abgeordnete und das Geld, Mainz 19962; ders., Der Staat als Beute, München 1993; E. K. u. U. Scheuch, Cliquen, Klüngel und Karrieren, Reinbek 1992; R. v. Weizsäcker im Gespräch mit G. Hofmann u. W. A. Perger, Frankfurt 1992, bes. S. 135–182.
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an der Anspruchsinflation und an ihrem oft beklagenswerten und zerrütteten Erscheinungsbild. Sie sind nicht nur Opfer der ›rising expectations‹, sondern auch Akteure, die in vielen Bereichen die Funktionen der reaktionsfähigen, responsiven catch-all party nicht mehr so ausfüllen können, wie die Wähler das noch in den 60er und 70er Jahren gewohnt waren. In jenem Prozess des Umbaus des Verhältnisses zwischen Bürgern, gesellschaftlichen Gruppen, Interessen, Parteien und Staat, der inzwischen stattgefunden hat, haben sich die Parteien ebenso verändert wie die Konstellationen, in denen sie agieren. Eine für uns zentrale Frage ist dabei, ob diese Prozesse die catch-all parties am Ende nur modifizieren und weiterentwickeln werden, oder ob sie sie auflösen und durch einen neuen Parteitypus ersetzen werden. Auf diese Frage hat es in den letzten Jahren eine ganze Reihe hochspekulativer Antworten gegeben, eine innovativer als die andere in der Erfindung von schillernden Begriffen zur Bezeichnung tentativer neuer Parteitypen mit kurzer Halbwertzeit, aber allesamt mit relativ wenig gesicherter Evidenz. Hier scheint mir Skepsis angebracht. Nach meinem Eindruck haben wir es eher mit einer Weiterentwicklung der catch-all party zu tun, und nicht mit deren Ablösung. Ich will versuchen, dies in der Folge zu spezifizieren. Vorweg eine Andeutung der Argumentationsrichtung in drei Thesen: 1. Die Krise der catch-all parties und (dort, wo es ihn gibt) des Parteienstaats hat bisher nicht zu deren Ende, sondern zu deren Umbau geführt. Das Ergebnis ist eine modifizierte catch-all party mit gewachsenen Vermittlungsaufgaben (sozusagen eine ›catch-all party plus‹), die in manchen Bereichen dezentraler organisiert und fragmentierter ist als früher, in anderen Bereichen aber durchaus weiter zentral koordiniert wird. Dabei wird die Distanz der realen Parteien zum Kirchheimerschen Modell teilweise noch deutlicher als vor 35 Jahren; es werden aber gleichzeitig auch die Grenzen des Typus, die von Anfang an eingebauten Entwicklungstrends und die fließenden Übergänge klarer, die schon Kirchheimer betont hat. 2. Die Entwicklung politischer Parteien, die ja ein komplexes ensemble von Interaktionsprozessen reflektieren, hat schon immer im Banne der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gestanden. Dies macht Typologien, die immer Momentaufnahmen sind, grundsätzlich problematisch und die ›reinen Typen‹ relativ kurzlebig. Einerseits kann es lange Kontinuitäten geben, andererseits ist in Sachen Parteien und Parteiensysteme auch abrupter Wandel sehr schnell (u. U. schon durch eine einzige Wahl) möglich, viel schneller als z. B. in der Sozialstruktur oder in den Meinungen. Es empfiehlt sich deshalb, im Prozess der Entwicklung politischer Parteien in Europa auch die gleitenden Übergänge zu betonen und die Entwicklung in drei Stufen: (1) von der älteren Honoratioren-, Eliten-, Interessen-, Klassen- oder Konfessionspartei zur organisierten Massenintegrationspartei (um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert), dann (2) von dieser zur catch-all party (nach dem Zweiten Weltkrieg) und schließlich (3) deren Wandel in der Krise als einen kontinuierlichen Entwicklungsprozess 69
zu interpretieren, in dem es Kontinuitäten, Brüche und vor allem allmähliche Veränderungen, Überlagerungen und ein Nebeneinander auch von typologisch Ungleichzeitigem gibt, nicht zu reden von lokalen oder regionalen Überresten, Nischen und Enklaven. So wie schon die Massenintegrationspartei auf Klassen- oder Konfessionsbasis Tendenzen zum ›catch-allism‹ aufgewiesen hat, haben die catch-all parties, etwa die italienischen Christdemokraten oder die deutschen und österreichischen Sozialdemokraten, oft keineswegs sofort ›die ganze Gesellschaft‹ wiedergespiegelt, sondern noch lange, wenn auch verdünnt oder im Einzugsbereich ausgeweitet, gewisse Züge ihrer früheren Klassen- oder Konfessionsorientierung residual bewahrt. 3. Dies darf aber nicht über eine wichtige Zäsur hinwegtäuschen: In dem jüngsten Übergang der catch-all parties in die Krise scheint auch ein säkularer Trend an sein Ende gekommen und schließlich umgekehrt worden zu sein, der die Parteienentwicklung im 20. Jahrhundert, vor allem in Europa, beherrscht hat: der Trend zur politischen Modernisierung durch vermehrte und immer dichtere Organisation. Auch die catch-all parties sind durchweg, außer in den USA, Ausweitungen der früheren Massenintegrationsparteien gewesen und haben deren Organisationstendenzen fortgesetzt und weitergeführt. Wie diese haben sie noch eine klar umrissene ›Gestalt‹ gehabt und eine deutlich identifizierbare Position, die durch eine Reihe wichtiger gesellschaftlicher Konfliktlinien, allerdings nicht mehr nur eine einzige, bestimmt wurde (im Jargon: cleavage anchoring), vor allem durch die relativ umfassende Links/Rechts-Polarisierung, die seit dem Übergang zur Massenintegrationspartei zunehmend an die Stelle der klassischen Konfliktlinie des 19. Jahrhunderts: Gesellschaft/Staat ge treten war.6 Die gegenwärtige Politik steht demgegenüber seit den 1980er Jahren vermehrt im Zeichen von Modernisierung durch weniger Organisation, von Dezentralisierung, Segmentierung und Fragmentierung, der Stellenwert von cleavage anchoring hat abgenommen, und die Links/Rechts-Polarisierung ist, obwohl sie immer noch kräftig ist und wichtiger als manche annehmen, in einigen Bereichen überlagert worden von einer kategorialen Einschluss/Ausschluss (in/out)-Polarisierung, die überdies den Eindruck fördert, dass diejenigen, die ›drin‹ sind, einander ähnlicher geworden sind. Im Lichte der erheblichen Kontinuitäten zwischen Massenintegrationsparteien und catch-all parties einerseits und der deutlichen Zäsuren in den gegenwärtigen Übergangsprozessen andererseits könnte man zu der Ansicht neigen, dass es womöglich angemessener gewesen wäre, die Kirchheimersche catch-all party mehr als Ausweitung der Massenintegrationspartei anzusehen und den Terminus ›catch-all‹ stattdessen für die loser strukturierten und weniger dicht organisierten modifizierten catch-all parties der krisenhaften Gegenwart zu reservieren. Der Wortgebrauch einer ganzen Reihe von Parteienforschern hat das 6 Vgl. für Deutschland H. J. Puhle, Parlament, Parteien und Interessenverbände in Deutschland 1890–1914, in diesem Band.
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in jüngerer Zeit auch implizit bereits angedeutet: Peter Mair benutzt den Begriff der catch-all party nur für die catch-all party in der Krise. Gordon Smith lässt eine ›people’s party‹ der catch-all party folgen (für Kirchheimer waren beide identisch), und Klaus von Beyme hat, ohne dies sonderlich zu problematisieren, Panebiancos Synonym für die catch-all party: die ›electoral-professional party‹ gesondert für den Krisentyp vorgesehen.7 Soweit die thesenhafte Andeutung der Richtung meines Arguments. Bevor ich im Einzelnen auf die Krisenerscheinungen und deren Folgen eingehe, müssen im zweiten Abschnitt kurz die essentials der catch-all party und des Parteienstaats skizziert werden.
2. ›Catch-all parties‹ und ›Parteienstaat‹ Beide, die catch-all party als beherrschender Parteityp in den meisten westlichen Demokratien und der Parteienstaat, sind nahezu gleichzeitig Mitte der 1960er Jahre von Otto Kirchheimer und Gerhard Leibholz, z. T. im Anschluss an ältere Arbeiten, thematisiert worden.8 Zwei Modernisierungswellen Die catch-all party ist ein Produkt der zweiten Welle der Modernisierung politischer Organisation im 20. Jahrhundert gewesen, die nach dem Zweiten Weltkrieg begann. Davor hatte es eine erste Modernisierungswelle gegeben, die bereits zwischen den 1890er Jahren und 1920 in den meisten europäischen Ländern den ›modernen‹ Typ der ›Massenintegrationspartei‹ (S. Neumann) auf Klassen- oder Konfessionsbasis etabliert hatte, der die älteren und weniger organisierten Repräsentations- oder Kaderparteien (in der deutschen Forschung auch: Honoratioren-, Parlaments-, ›Weltanschauungs-‹, Klassen- oder Interessenparteien genannt) als überwiegender Typ ablöste. Dabei blieben Residuen 7 P. Mair, Continuity, Change, and the Vulnerability of Party; G. Smith, Core Persistence: Change and the ›People’s Party‹, beide in: P. Mair u. G. Smith (Hg.), Understanding Party System Change in Western Europe, London 1990, S. 169–187 u. 157–168 (auch: West European Politics, Jg. 12, 1989); K. v. Beyme, Parteien im Wandel. Von den Volksparteien zu den professionalisierten Wählerparteien, Wiesbaden 2000, bes. S. 191–209; A. Panebianco, Political parties: organization and power, Cambridge 1988 (ital. 1982), bes. S. 264, 311. 8 Beide Phänomene wurden 1965/66 von Otto Kirchheimer und Gerhard Leibholz als Forschungsprobleme ›entdeckt‹; Vorarbeiten gehen allerdings bis in die späten 20er Jahre zurück. Zum Parteienstaat vgl. G. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestalt wandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, Berlin 19663, S. 224–271; ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, Frankfurt 19734.
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und ›altmodischer‹ besetzte Nischen erhalten, besonders in traditionellen ländlichen Milieus und auch bei den kleineren und oft zersplitterten liberalen Parteien, und ein breites Spektrum sich überlagernder und oft bunter Phänomene spiegelt überdies die unterschiedlich gemischten nationalen und regionalen Entwicklungsmuster der jeweiligen Gesellschaften. Insgesamt aber ging der Trend dieses ersten Modernisierungsschubs in Richtung auf eine dichtere und straffere Organisation des politischen Betriebs, schlagkräftige und aggressive neue Interessenverbände und den Aufbau effizienter, auch technisch moderner und disziplinierter bürokratischer Parteiapparate zur Bewältigung der angewachsenen Aufgaben im Zeichen der Demokratisierung des Wahlrechts, ausgeweiteter Partizipation und eines bezeichnenden »Strukturwandels der Öffentlichkeit« (J. Habermas), i. e. der fortschreitenden Verdrängung der alten liberalen repräsentativen Öffentlichkeit durch neue Elemente einer breiteren, massenhaften, akklamativen, sich plebiszitär gebenden und oft stark manipulierten Öffentlichkeit. Technische Innovationen, vom Ausbau der Eisenbahnund Telefonnetze und der Büroorganisation bis zu den Möglichkeiten der neuen billigen und bebilderten Massenpresse, haben diesen Prozess abgestützt.9 In Deutschland und Österreich ist die Modernisierung der Parteipolitik um die Jahrhundertwende – ähnlich wie auf der linken Seite durch die Aktivitäten der Gewerkschaften – noch besonders gefördert worden durch die organisatorische und finanzielle Hilfestellung der schlagkräftigen neuen Interessenverbände von Landwirtschaft, Industrie und dem sog. ›Mittelstand‹. Die Verbände sind, begünstigt von der Verfassung wie von der Regierung, zunehmend auch im Parlament organisatorisch in den Vordergrund getreten und haben vermehrt in die Wahlkämpfe eingegriffen und die ihnen nahestehenden Parteien oft in den Griff bekommen. Vor allem haben sie durchweg auch die neue species der meist imperialistischen, alldeutschen, völkisch-nationalen und antisemitischen, immer populistischen Agitationsverbände der ›Neuen Rechten‹ gefördert, die zunehmend die politischen Debatten bestimmten und deren Agitation davon profitierte, dass das ›gesunde Volksempfinden‹ in einer Zeit sozialdarwinistisch aufgeladener und sich radikalisierender Propaganda parlamentarische Parteien für ›undeutsch‹, berufsständische Interessenwahrung dagegen für angemessen hielt.10 Im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg verfügten z. B. die deutschen Konservativen, das Zentrum und die SPD – wahrscheinlich sogar europaweit – über die modernsten Parteiapparate und -organisationen mit einem hohen 9 Vgl. dazu J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt 1990 (1962), S. 275–342; H. J. Puhle, Wohlfahrtsausschuss, und: Nationalismus und Demokratie, in diesem Band; zu Deutschland auch: H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, München 1995, S. 1038–1109; Puhle, Parlament, Parteien, in diesem Band; zu Spanien: J. J. Linz, Tradición y Modernización en España, Granada 1977; Puhle, Probleme der spanischen Modernisierung, in diesem Band. 10 Zum Sozialdarwinismus vgl. H.-U. Wehler, Sozialdarwinismus im expandierenden Indus triestaat, in: I. Geiss u. B. J. Wendt (Hg.), Deutschland in der Weltpolitik des 19. u. 20. Jhts., Düsseldorf 1974, S. 133–142; Puhle, Parlament, Parteien.
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Mobilisierungspotential, die nicht mehr von den klassischen bürgerlichen Repräsentanten betrieben wurden, sondern von neuen Gruppen von Berufspolitikern und spezialisierten Funktionären, überwiegend studierten Kleinbürgern. Die SPD und die sich völkisch orientierenden Konservativen wurden zu wohlorganisierten Integrationsparteien auf Klassenbasis, das Zentrum entwickelte sich zur umfassenden Integrationspartei des katholischen Milieus. Ähnliches gilt für die Sozialisten und die katholischen Parteien in Österreich und Italien, die Christlich-Sozialen und die verspäteten Popolari. In Frankreich und Spanien waren die ersten Träger der Parteienmodernisierung vielfach linksliberale und radikale Gruppierungen mit Massenanhang in den großen Städten, in Spanien auch katalanische und baskische Nationalisten.11 Auch wenn die Parteien im deutschen Raum die Nase ein wenig vorn hatten, war dieser erste Modernisierungsschub doch ein gesamteuropäisches Phänomen, das in einem Land jeweils in dem Maße beschleunigt oder verzögert wurde, in dem sich dort insgesamt die Tendenzen zu einem stärker organisiert-kapitalistischen oder korporatistisch bestimmten Wirtschafts- und Gesellschaftssystem durchgesetzt haben. In den kontinentalen Staaten mit älteren absolutistischen und staatsinterventionistischen Traditionen ist dies im allgemeinen schneller gegangen als etwa in Großbritannien. Die charakteristischen nationalen Parteien und Parteiensysteme konsolidierten sich seit den 1920er Jahren auch im Hinblick auf die Wählerstämme, sodass Lipset und Rokkan noch in den 60er Jahren den Eindruck ›eingefrorener‹ Systeme hatten.12 Insgesamt bedeutete der erste Modernisierungsschub für die Parteien, dass das Gewicht der Organisation und des Apparats gegenüber den Mitgliedern und den Gruppen im Land zunahm, was auch schon den Beginn entsprechender Verselbständigungstendenzen von Eliten und Bürokraten markiert, wie sie Robert Michels 1911 am Beispiel der »oligarchischen Tendenzen« in der SPD beobachtet hat.13 Die Integrationsfunktionen wurden wichtiger und die Interessen-, Klassen-, Konfessions- oder Milieuspezifika der Parteien wurden schwächer und gingen dann im zweiten Modernisierungsschub nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend verloren.
11 Für Spanien vgl. K. J. Nagel, Arbeiterschaft und nationale Frage in Katalonien zwischen 1898 und 1923, Saarbrücken 1991; L.Mees, Nacionalismo vasco, movimiento obrero y cuestión social 1903–1923, Bilbao 1992. 12 Zur ›freezing‹-Hypothese vgl. S. M. Lipset u. S. Rokkan (Hg.), Party Systems and Voter Alignments, New York 1967, S. 1–64; R. Rose u. D. W. Urwin, Persistence and Change in Western Party Systems since 1945, in: Political Studies, Jg. 18, 1970, S. 287–319, u. die Befunde in: H. Daalder u. P. Mair (Hg.), Western European Party Systems: Continuity and Change, London 1983. 13 R. Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, Stuttgart 1970 (1911). Vgl. die neueren Befunde in: O. Niedermayer, Innerparteiliche Partizipation, Opladen 1989.
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Catch-all parties Der Übergang zu den catch-all parties in Westeuropa in dieser zweiten Modernisierungswelle hatte eine ganze Reihe von Ursachen. Zu ihnen gehören die belastende Erinnerung an die Schwäche und das Versagen der demokratischen Parteien in der Zwischenkriegszeit und die Erfahrungen der Kriegszeit ebenso wie die graduelle Abnahme der Intensität von Klassen- und Konfessionskonflikten (mit wenigen notorischen Ausnahmen) und das zunehmende Verblassen der traditionellen Milieugrenzen im Zuge der allmählichen Durchsetzung der Massenkonsumgesellschaft im Westeuropa der Nachkriegszeit. Hinzu kam, dass die heftigen Auseinandersetzungen um die politische Neuordnung einzelner Staaten und Europas und auch die durch den Kriegsausgang beförderte ›zweite Demokratisierungswelle‹ (S. Huntington) des Jahrhunderts in den alten wie neuen Demokratien den politischen Wettbewerb intensivierten und die Parteien zwangen, dem Kampf um die Wähler die höchste Priorität zu geben.14 Es war ihnen jetzt nicht nur möglich, vermehrt über die Grenzen ihrer traditionellen (und jetzt schrumpfenden) Basis hinaus auszugreifen und neue Wähler schichten und -gruppen anzusprechen; sie hatten dies auch nötig, wenn sie weiter erfolgreich mitreden wollten. Im Gegensatz zu den USA, wo sich die catch-all parties früher sozusagen direkt aus den loseren Parteigruppen und Apparaten (caucuses, ›machines‹) entwickelt hatten und es keine (bzw. allenfalls in Annäherungen lokale) Massenintegrationsparteien gegeben hatte, brachte die für Westeuropa typische Entwicklung von der Massenintegrationspartei hin zur catch-all party eine Reihe bezeichnender Veränderungen mit sich, die Kirchheimer typologisch so beschrieben hat: »a) Radikales Beiseiteschieben der ideologischen Komponenten einer Partei…; b) weitere Stärkung der Politiker an der Parteispitze; was sie tun oder unterlassen, wird jetzt mehr vom Standpunkt ihres Beitrags zur Wirksamkeit des ganzen gesellschaftlichen Systems angesehen und nicht danach, ob sie mit den Zielen der jeweiligen Parteiorganisation übereinstimmen; c) Entwertung der Rolle des einzelnen Parteimitglieds; diese Rolle wird als historisches Überbleibsel angesehen, das das Bild der neu aufgebauten catch-all partyin ein falsches Licht setzen kann; d) Abkehr von der classe gardée, einer Wählerschaft auf Klassen- oder Konfessionsbasis, statt dessen Wahl propaganda mit dem Ziel, die ganze Bevölkerung zu erfassen; e) das Streben nach Verbindungen zu den verschiedensten Interessenverbänden.«15
Einige dieser Trends setzen die Entwicklung der Massenintegrationsparteien fort, andere markieren deutliche Brüche, die Kirchheimer für besonders pro14 Zur theoretischen Aufarbeitung der Interpretation von Politik als ›Markt‹ vgl. A. Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968; M. Olson, Die Logik des kollektiven Handelns, Tübingen 1968, sowie die neueren rational choice-Ansätze. 15 Kirchheimer, Wandel, S. 32.
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blematisch hielt, weil die catch-all party nicht mehr in dem Maße wie der ältere Typ den Aufgaben politischer Artikulation und Integration, die dem Mitglied oder Wähler Identifikation erlauben, gerecht werden könne (im Gegensatz zur dritten Funktion: der Kandidatenaufstellung). Er ging sogar so weit, das dauerhafte Funktionieren dieses doch sehr »rationalen« Kanals »begrenzter Teilhabe« zu bezweifeln: »Das Instrument, die catch-all party, kann nicht sehr viel rationaler sein als sein nomineller Herr und Meister; der einzelne Wähler. Seit die Wähler nicht mehr der Disziplin der Integrationspartei unterworfen sind – in den USA sind sie das nie gewesen – können sie durch ihre schnell wechselnden Stimmungen und ihre Apathie das empfindliche Instrument der catch-all party in etwas umwandeln, das zu stumpf ist, um als Verbindungsglied zu den funktionalen Machtträgern der Gesellschaft zu dienen.«
Und er hielt es für möglich, dass wir das Verschwinden der Massenpartei auf Klassen- oder Konfessionsbasis noch einmal bedauern würden, »selbst wenn das unvermeidlich war«. Manche Erscheinungen, die heute oft als besonders neue Symptone der ›Krise‹ der catch-all parties seit den 1970er und 80er Jahren angesehen werden, sind also von Anfang an Bestandteile des Kirchheimerschen Typs gewesen.16 Die wirklichen Parteien haben diesem Realtyp natürlich nie vollständig entsprochen. Es hat, wie schon erwähnt, sehr lange noch Überhänge früherer Typen, Überlagerungen und Nischen gegeben, und keineswegs alle Parteien sind catch-all parties geworden, allerdings die meisten. Ob und wie sehr sie es wurden, hing ab von ihrer Größe und der des Landes, von Institutionen, vom Wahlsystem, von den mehr oder weniger intensiven konkreten Konfliktlinien und sozialen Koalitionsmöglichkeiten in einer Gesellschaft und von diversen anderen Konstellationen, z. B. dem traditionellen Entwicklungsmuster eines Landes und dessen spezifischen Mischungsverhältnissen, dem Verhältnis Staat/Gesellschaft und Zentrale/Peripherie, und vor allem auch von der Struktur, der Dynamik und Kompetitivität des jeweiligen Parteiensystems.17
16 Ebd., S. 30–41, bes. 41. Zur weiteren Interpretation vgl. S. B. Wolinetz, The Transformation of Western European Party Systems Revisited, in: West European Politics, Jg. 2, 1979, S. 4–28; ders., Party System Change: The Catch-All Thesis Revisited, in: West European Politics, Jg. 14, 1991, S. 113–128; ders. (Hg.), Parties and Party Systems in Liberal Democracies, London 1988; K. Dittrich, Testing the Catch-All Thesis: Some Difficulties and Possibilities, in: Daalder u. Mair (Hg.), Western European Party Systems, S. 257–266. A. Panebianco, Political parties, hat lediglich alternative termini eingeführt: mass-bureaucratic party und electoral-professional party. 17 Vgl. dazu vor allem die klassische Analyse von G. Sartori, Parties and Party systems. A framework for analysis, Cambridge 1976. Andererseits können natürlich auch die Parteien und die Wähler das Parteiensystem verändern. Zum Wahlsystem vgl. D. Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, Opladen 20003.
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Der allgemeine Trend war jedoch deutlich: Die größeren politischen Parteien des Westens wurden catch-all parties, ihre spezifischen Interessen-, Klassen-, Milieu- oder Konfessionsbindungen und damit ihre tiefere gesellschaftliche Verwurzelung nahmen ebenso ab wie die Parteibindung der Wähler, auch wenn in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit, der Konkurrenten und der Wähler eine allgemeinere und schemenhafte Verortung der Parteien innerhalb der üblichen Links/Rechts-Polarisierung (noch) bestehen blieb. Die Parteien wurden beweglicher, ihre Programme beliebiger und austauschbar. Was bei der Suche nach der höchstmöglichen Stimmenzahl auf dem politischen Markt zählte, waren entsprechend effiziente Markt-, Mobilisierungs- und Verkaufsstrategien, die kurzfristige Identifikationen und Bindungen stiften und die abdriftenden Wähler bei der Stange halten sollen. Die Dominanz des Kurzfristigen ist nicht erst ein Zeichen der Krise. Der geschickte Verkauf einer wirklichen oder vermeintlichen Problemlösung wurde wichtiger als diese selbst, Image wichtiger als Kompetenz; die Wahlkämpfe wurden stärker kommerzialisiert und werbewirksam ›professionalisiert‹, dabei, anders als in den USA, auch stärker zentralisiert; der hohe Stellenwert von ›Glaubwürdigkeit‹ personalisierte sie zusätzlich. Die Parteien wurden gemäßigter und rückten, vorzugsweise in der ›Mitte‹, näher aneinander, es sei denn sie repräsentierten bestimmte nationale Gruppen wie in Belgien, Katalonien, im Baskenland oder in Nordirland, oder das ganze politische System war so hochgradig von unten nach oben ›versäult‹ wie in den Niederlanden. Ein Stimmenanteil von über 90 % für die ›Volksparteien‹ in deren besten Zeiten reduzierte die Zahl politischer Alternativen kräftig. »Allgemeine Koalitionsfähigkeit« wurde so zur Regel, dass dieser deutsche Terminus in den internationalen Jargon der Politikwissenschaftler einging. Die Eigenarten der catch-all parties und ihrer Politik sind seit den 60er Jahren noch verstärkt und besonders akzentuiert worden durch die Wirkungen des Fernsehens auf die Politik, zuerst im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 1960, in Europa durchweg zehn bis fünfzehn Jahre später. In Spanien und Portugal haben wir es nach 1974 sogar mit einer völlig neuartigen Konstellation zu tun gehabt: mit der Etablierung neuer demokratischer Parteien und eines neuen Parteiensystems nach dem Übergang zur Fernsehgesellschaft. Was diese Konstellationen für die Parteien im Einzelnen bedeutet haben, wissen wir erst in Umrissen, so wie überhaupt unsere Kenntnisse darüber, was das Fernsehen der Politik, Parteien und Wahlen, den gesellschaftlichen Gruppen und den einzelnen antut, noch sehr begrenzt zu sein scheinen.18 In Westeuropa wird man mit Sicherheit zwei Phasen deutlich unterscheiden müssen: eine erste 18 Zu den südeuropäischen Fällen vgl. die Beiträge in: Linz u. Montero (Hg.), Crisis y cambio; R. Gunther u. a. (Hg.), The Politics of Democratic Consolidation: Southern Europe in Comparative Perspective, Baltimore 1995. Insgesamt vgl. R. Gunther u. A. Mughan (Hg.), Democracy and the Media: A Comparative Perspective, Cambridge 2000; R. Schmitt-Beck, Of Readers, Viewers, and Cat-Dogs, in: J. W. van Deth (Hg.), Comparative Politics: The Problem of Equivalence, London 1998, S.222–246; T. E. Skidmore (Hg.), Television, Politics, and
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seit den 1960er Jahren, also in der Blütezeit der catch-all parties, als das Fernsehen noch ganz überwiegend öffentlich-rechtliches oder gar staatliches Fernsehen war und verschiedene Grade mehr oder weniger direkter Kontrolle und Aufsicht (in Großbritannien und der Bundesrepublik z. B. wesentlich weniger direkt als in einigen anderen Ländern) die unterschiedlichen institutionellen Konstellationen, Traditionen und Muster im Verhältnis von ›Staat‹ und ›Gesellschaft‹ wiederspiegelten. Aufstieg und Expansion der privaten Kanäle kennzeichnen die zweite Phase seit den 1980er Jahren, die zeitlich zusammengefallen ist mit der sog. ›Krise‹ der catch-all parties und diese möglicherweise noch verstärkt hat. Für die Parteien wurde dabei insgesamt wichtig, dass der politische Einsatz des Fernsehens die Wahlkämpfe revolutioniert, die Position der Parteiführer und der zentralen Apparate gestärkt, die Anforderungen ans Budget erhöht, die Bedeutung lokaler Mobilisierung, auch der Mitglieder, verringert und die lokalen und regionalen Eliten marginalisiert hat. Außerdem wurden die Selektionskriterien für das Führungspersonal verändert, Personalisierung und Simplifizierung der politischen Auseinandersetzungen verstärkt, die Vermittlung punktueller Meinungsbilder alltäglich gemacht. Im ganzen sind dabei mehr die affirmativen, kurz fristig identifikatorischen und loyalitätsstiftenden Mechanismen betont worden als die partizipatorischen. Der ›Parteienstaat‹ Während die catch-all parties und die Fernsehwahlkämpfe amerikanische Exporte gewesen sind, ist der ›Parteienstaat‹ ein genuin europäisches Produkt. Seine ersten und am meisten beeindruckenden Blüten finden wir interessanterweise in den drei nachfaschistischen Demokratien, in Österreich, der Bundes republik Deutschland und Italien, seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre auch im redemokratisierten Griechenland und, schwächer ausgeprägt, in Spanien, also in Ländern mit einem traditionellen Übergewicht des ›Staates‹ gegenüber gesellschaftlicher Selbstorganisation zumindest in politischen Fragen, die aufgrund ihrer totalitären und autoritären Erfahrungen besonderen Grund hatten, für ein parlamentarisches, und nicht für ein präsidentielles Regierungssystem zu optieren und die demokratischen Parteien insgesamt, auch durch die Entscheidung für das Verhältniswahlrecht, zu stärken.19 Die USA kamen als ›Parteienstaat‹ schon angesichts der relativen Schwäche des ›Staats‹, der Stärke privater the Transition to Democracy in Latin America, Baltimore 1993; R. Huckfeldt u. J. Sprague, Citizens, Politics, and Social Communication: Information and influence in an election campaign, Cambridge 1995. 19 Der Sonderfall des ›klassischen‹ Uruguay zwischen den batllistischen Reformen und den späten 1960er Jahren soll hier unberücksichtigt bleiben. Auch er könnte die enge Beziehung zwischen Parteienstaat und Verteilungspolitik illustrieren.
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Märkte und des hohen Grads der Fragmentierung ihrer Parteien nicht infrage, Großbritannien nicht wegen der strikten ›politischen‹ Neutralität des civil service und analog auch der öffentlich-rechtlichen Medien, und in Frankreich haben die Traditionen der grands corps ebenso wie die noch sehr lebendigen Mechanismen der Notabelnpolitik dafür gesorgt, dass der Staat vorerst weiter als ›überparteilich‹ galt. ›Parteienstaat‹ bedeutet, ebenso wie in Italien partitocrazia, dass die politischen Parteien den Staat beherrschen und große Bereiche der Institutionen und der Gesellschaft, z. B. in der öffentlichen Verwaltung, in staatlichen oder parastaatlichen Betrieben, Banken und Agenturen, in Schulen, Hochschulen, Medien, usw., sozusagen auf allen Ebenen kolonisieren, bzw. zu kolonisieren versuchen (manchmal bis hinunter zum Hausmeisterposten).20 Der Hauptzweck des Parteienstaats ist Verteilungspolitik und deren Kontrolle. Da es den komplett durchkolonisierten demokratischen Parteienstaat zum Glück nicht gibt, geht es in der Realität wesentlich um mehr oder weniger große Annäherungen an diesen Typus, die allerdings im Einzelfall ganz erheblich sein können. Die Formierung parteienstaatlicher Systeme ist in der Nachkriegszeit besonders dadurch gefördert und geprägt worden, dass in Westeuropa einige Jahrzehnte lang die Durchsetzung der Massenkonsumgesellschaft und eine expandierende Wirtschaftskonjunktur zusammenfielen mit dem weiteren Ausbau bürokratischer Sozial- und Wohlfahrtsstaaten, korporatistischer oder halbkorporatistischer Konzertierungs- und Lenkungsmechnismen und der öffentlich-rechtlichen Medien. ›Parteienstaat‹ erschöpft sich vor allem nicht in der traditionellen Patronage der Regierungspartei(en) oder der allmählich vermehrten Anerkennung der politischen Parteien durch die Verfassungen zahlreicher west- und südeuropäischer Länder der Nachkriegszeit. Er schließt auch die jeweiligen größeren Oppositionsgruppen mit ein und beteiligt sie, oft paritätisch, an der Verteilung, verringert also das Potential parlamentarischer Kontrolle, ein Mechanismus, der in Westdeutschland noch durch den Föderalismus, in Österreich zusätzlich durch die lange Praxis Großer Koalitionen und in Italien (bis 1993) durch den breiten Verfassungsbogen (arco constituzionale) und die fast gleiche Verteilung regionaler Vorherrschaft zwischen den beiden großen Parteien verstärkt wurde. Im Parteienstaat bilden die Parteien trotz ihrer Konkurrenz um die Wählerstimmen ein staatlich privilegiertes Machtkartell oder -oligopol, das über bedeutende institutionelle und finanzielle Ressourcen des Staates verfügt.21 Letzteres wird besonders deutlich an den bekannten Beispielen von Stellen20 Vgl. zuerst G. Leibholz, Wesen; ders., Strukturprobleme, sowie: A. Mintzel, Parteienstaat in der Bundesrepublik. Rückblick und Zukunftsperspektiven in der neuen deutschen Situation, in: R. Hettlage (Hg.), Die Bundesrepublik. Eine historische Bilanz, München 1990, S. 139–166; K. v. Beyme, Die politische Klasse im Parteienstaat, Frankfurt 1993. 21 Zum deutschen Fall vgl. die Bestimmungen des seit der ersten Fassung von 1967 oftmals ergänzten Parteiengesetzes: Bundesgesetzblatt 1989 I, S. 327–336, 1990 I, S. 2141 f.
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besetzungen nach Parteibuch und an dem hohen Anteil komplex zusammengesetzter und an bestimmte Voraussetzungen, i. e. Wählerstimmen und Mitglieder, gebundener staatlicher Parteienfinanzierung, der in den meisten west- und südeuropäischen Ländern (außer den Niederlanden) durchweg über die Hälfte der Parteienhaushalte ausmacht, in einigen problematischen Fällen sogar über 80 %, wie z. B. in Finnland und Italien in den späten 60er Jahren oder in Spanien in den 80ern. In Großbritannien, Dänemark und Deutschland liegt der Anteil inzwischen unter 50 %.22 Von zentraler Bedeutung ist das neue Immediatverhältnis, eine neue strukturelle Nähe zwischen den Parteieliten und dem Staat: Die ehemaligen Repräsentanten der Gesellschaft gegenüber dem Staat sind vielfach zu vom Staat alimentierten Repräsentanten ihrer selbst als ›politischer Klasse‹ gegenüber der Gesellschaft geworden – wenn denn das dicho tomische Bild aus dem 19. Jht. in diesem Kontext am Anfang des 21. Jhts. noch benutzt werden kann. Sie sind enger in den Staat hineingerückt, ein Umstand, der schon zum Entwurf des neuen Parteityps der ›Kartellpartei‹ inspiriert hat, die wesentlich als eine Art Dienstleistungsangebot des Staates an die Gesellschaft konzipiert ist.23 Die Artikulation gesellschaftlicher Interessen, die Kirchheimer schon bei der catch-all party in schlechten Händen sah, muss folglich überwiegend von anderen Gruppen und Organisationen wahrgenommen werden, die ihre Forderungen dann an die Parteien als Repräsentanten der staatlichen Sphäre adressieren. Dies bringt neue Aufgaben für neue Typen von Interessenverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Eine solche Entwicklung hin zum Staat hat durchaus den Bewegungsprinzipien moderner Sozial- und Wohlfahrtsstaaten und ihrer Gesellschaften im Zeichen vermehrt organisiert-kapitalistischer Praktiken und korporatistischer Lenkungsarrangements entsprochen, die überdies – ebenso wie die Mechanismen der westeuropäischen Integration – die Exekutive gestärkt und die Parlamente geschwächt haben. Dies hatte zur Folge, dass erfolgreiche Parteiführer, die gleichzeitig Regierungschefs waren, wie Helmut Kohl oder Felipe González, gelegentlich ihren Parteien zumuten konnten, was immer sie wollten. Der Parteienstaat ist zweifellos demokratischer und gefährdet die Freiheit weniger als der traditionelle Antiparteienaffekt und die obrigkeitlich-autoritäre Verteufe22 Die Prozentangaben sind allenfalls Annäherungen. Sie sind problematisch nicht nur wegen der notorisch reduzierten Transparenz dieser Vorgänge, sondern auch aufgrund der Schwierigkeiten, den internen Finanzausgleich zwischen den verschiedenen Ebenen der Parteiorganisation zu erfassen. Die neuen elaborierten Systeme staatlicher Parteienfinanzierung gibt es seit den späten 1950er Jahren. Vgl. J. Pierre u. a., State Subsidies to Political Parties: Confronting Rhetoric with Reality, in: West European Politics, Jg. 23,3, 2000, S. 1–24; R. S. Katz u. P. Mair (Hg.), How Parties Organize, London 1994; C. Landfried, Parteifinanzen und politische Macht, Baden-Baden 19942; G. Wever (Hg.) Parteienfinanzierung und politischer Wettbewerb, Opladen 1990; P. del Castillo Vera, La financiación de partidos y candidatos en las democracias occidentales, Madrid 1985. 23 Vgl. R. S. Katz u. P. Mair, Changing Models of Party Organization and Party Democracy: the Emergence of the Cartel Party, in: Party Politics, Jg. 1,1, 1995, S. 5–28.
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lung der Parteien in früheren Zeiten. Aber die neue Nähe von Parteieliten und Staat beeinträchtigt durchweg die Mittlerfunktion und die Reformfähigkeit der Parteien, und sie kann Phantasielosigkeit, Klientelismus, Filz und Korruption begünstigen, vor allem dann, wenn die Parteieliten sich zu weit von der ›Basis‹ und von den Bürgern entfernt haben. Ein zentrales Problem des Parteienstaats ist, dass Aufstieg und Niedergang, sozusagen Leben und Tod einer Partei nicht mehr allein vom politischen Markt bestimmt werden, da der Parteienstaat zusätzlich strukturelle Überlebenshilfen bereithält, die das Verdikt der Wähler über eine Partei, die nicht mehr ›liefert‹, abmildern und ihr Ende länger hinauszögern können. Die Qualität des Parteienstaats hängt ab von der Qualität der Parteien, und die Krise der Parteien lässt auch den Parteienstaat nicht unberührt.
3. Die ›doppelte Krise‹ der Parteien und des Parteienstaats Der Prozess, den man inzwischen als die ›Krise‹ der Parteien bezeichnet, hat schon in den 1970er Jahren begonnen und relativ schnell die Frage aufgeworfen, ob die Parteien angesichts ihres abnehmenden Wirkungsgrads, ihrer zu nehmenden Ähnlichkeit und Austauschbarkeit, der vermehrten realen oder (meistens) vermeintlichen ›Sachzwänge‹ und eines strukturellen Mangels an wirklichen Alternativen politischer Gestaltung überhaupt noch wichtig sind: ›Do parties matter?‹24 Graduelle Delegitimierung und Fragmentierung Die Ursachen der Krise lassen sich in drei verschiedenen, aber eng miteinander verbundenen Entwicklungssträngen erkennen. Diese sind erstens die von Anfang an eingebauten Strukturschwächen der catch-all party, zweitens die Folgen der ›Stagflations‹-Krise und des wirtschaftlichen und sozialen Umbaus seit den 70er Jahren und drittens die konkreten Reaktionen der Wähler und der Parteien auf diese veränderten Konstellationen des Umfelds. 1. Dass die catch-all party von ihrer Zielsetzung (Stimmenmaximierung) und ihrem Zuschnitt (weniger Programm, mehr punktuelle Mobilisierung) her nicht besonders gut dazu geeignet war, die Aufgaben der Artikulation politischer Ziele und der Integration ihrer Anhänger zu erfüllen, machte sie in schlechten Zeiten wesentlich anfälliger für schnellen Wählerwechsel als die ältere Massenintegrationspartei: In dem Bestreben, kurzfristig so ›responsiv‹ 24 Vgl. die Diskussion in: R. Rose, Do Parties Make a Difference?, London 19842 (1980), sowie F. G. Castles (Hg.), The Impact of Parties. Politics and Policies in Democratic Capitalist States, London 1982.
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wie möglich zu sein, orientierte sie sich vermehrt an den wahrgenommenen oder vermeintlichen Interessen der Wähler und stellte gleichzeitig weniger Orientierung und politische Führungskraft (›leadership‹) bereit, die den Wählern eine dauerhaftere Identifikation mit einer Partei erleichtert hätten. 2. Schlechter wurden die Zeiten in der Tat, als mit der Wirtschaftskrise der 1970er Jahre zum ersten Mal auch die Grenzen wohlfahrtsstaatlicher Verteilungspolitik deutlich wurden, die die entscheidende Legitimationsgrundlage des Parteienstaats gewesen war. Dass dessen institutionelle Mechanismen weiterbestanden, obwohl er, wie auch die einzelnen Parteien, nicht mehr im gewohnten Umfang ›liefern‹ konnte, vergrößerte die Unzufriedenheit der Bürger und Wähler nicht nur mit ›ihrer‹ Partei, sondern mit den Parteien überhaupt und begünstigte am Ende auch den Aufstieg unterschiedlicher ›neuer‹ sozialer Bewegungen, die in mancher Hinsicht jedenfalls vorübergehend zur Konkurrenz der Parteien wurden. Letztere profitierten auch von einem zunehmenden Trend hin zu kleineren Einheiten, der die Parteien, wie alle stark zentralisierten Großorganisationen, eher schwächte. Die ›Stagflations‹-Krise, die auf die erprobten staatsinterventionistischen und Keynesianischen Rezepte vorerst nicht mehr anzusprechen schien, die vermehrte Internationalisierung der Märkte und schnelle technologische Innovationen mit einem bleibenden hohen Sockel struktureller Arbeitslosigkeit im Gefolge stellten das etablierte ›sozialdemokratische‹ Modell des bürokratischen Wohlfahrtsstaats zunehmend in Frage und machten die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit deutlich. Selbst wenn die verfrühten Prophezeiungen vom »Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts«25 so übertrieben gewesen sein mögen wie die ›neo‹konservativen Unkenrufe vom Ende des »Projekts der Moderne«, so war doch ein entscheidender Umbau angesagt, der den technologischen Neuerungen, der Globalisierung der Märkte und ihren ökonomischen und sozialen Folgen, der Abnahme klassischer Industrie zugunsten neuer Dienstleistungssparten, einer neuen Arbeitsverteilung und dezentralen neuen Arbeitsformen, besserer Ausbildung und dem sog. ›Wertewandel‹26 der Mehrheit bei zunehmender Ausgrenzung einer absteigenden Minderheit ebenso gerecht wird wie den Anforderun gen an die Effizienz und Kontrolle der sozialstaatlichen Systeme im Zeichen der Kostenexplosion. Dass dieser Umbau in Richtung Entstaatlichung und Privatisierung, Deregulierung, Flexibilisierung und Dezentralisierung ging, hat 25 Vgl. R. Dahrendorf, Life Chances. Approaches to Social and Political Theory, London 1980; A. Przeworski u. J. Sprague, Paper Stones. A History of Electoral Socialism, Chicago 1986; zur Korrektur insb. W. Merkel, Ende der Sozialdemokratie? Machtressourcen und Regierungspolitik im westeuropäischen Vergleich, Frankfurt 1993. 26 Zum ›Wertewandel‹ vgl. insb. R. Inglehart, Political Action: The Impact of Values, Cognitive Level and Social Background, in: S. H. Barnes u. M. Kaase (Hg.), Political Action: Mass Participation in Five Western Countries, London 1979, S. 343–380; W. Bürklin, Wähler verhalten und Wertewandel, Opladen 1988; zur Vorsicht mahnen: E. N. Muller u. M. A. Seligson, Civic Culture and Democracy: The Question of Causal Relationships, in: American Political Science Review, Jg. 88, 1994, S. 635–652.
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die lokalen und regionalen Ebenen gestärkt, die ohnehin im Mittelpunkt der Aktivitäten der neuen basisdemokratischen Bewegungen standen, die oft mit populistischer Rhetorik gegen Großorganisationen, bürokratische Erstarrung und Korruption, gegen institutionelle Vermittlungsmechanismen und politische Professionalität zu Felde zogen. 3. Für die Parteien und Parteiensysteme wichtig wurde dabei der neue Trend zur weiteren Aufsplitterung der Interessen und Identitäten noch über deren bereits verwässerte Dimensionen in der catch-all party hinaus, zur Lockerung der Parteidisziplin und zur Fragmentierung und Segmentierung politischer Gruppen, Initiativen und Projekte,27 der Rückzug der Parteimitglieder und Zubringerorganisationen (Vereine, Gewerkschaften, Interessenverbände),28 die Zunahme der Wechselwähler und vor allem der reflektierten Nichtwähler. Der Stimmenanteil der großen Parteien ging durchweg um 10 bis 20 % zurück, sie wurden – wesentlich aufgrund der Schwerfälligkeit ihrer Apparate und fehlender oder nicht rechtzeitiger organisatorischer Anpassung – ›verwundbarer‹, Parteiidentifikation und cleavage anchoring nahmen ab, selbst wenn die ›harten Kerne‹ der Parteiensysteme bestehen blieben (Ausnahme: Italien 1993), die Kriterien der Links/Rechts-Polarisierung im ganzen weiter Geltung behielten und, einer breiten Literatur zum Trotz, durchweg wesentlich mehr realignment als dealignment stattfand.29 Die Fragmentierung der Interessen und die Bildung neuer (oft single-issue) Bewegungen vergrößerten die Zahl der politischen Akteure, damit die Konkurrenz und auch die Menge politischer Expertise außerhalb der Parteien, sie machten die Koordination schwieriger und bewirkten, dass nicht mehr ausschließlich die Parteien die politische Tagesordnung bestimmten, sie gelegentlich sogar in die Defensive gerieten. Andererseits haben die neuen sozialen Bewegungen die Parteien nicht ersetzen können. Sie sind im Gegenteil, wenn sie kontinuierlich am Kampf um parlamentarische Macht und Einfluss teilnehmen wollten, schon aufgrund institutioneller Zwänge selbst zu Parteien geworden, wie die deutschen Grünen, die italienischen Leghe oder die diversen Bürgerbewegungen der Demokrati
27 Diese Entwicklung sollte nicht verwechselt werden mit älteren Ausprägungen von ›Strömungen‹, correnti, F(r)aktionen und Flügelbildung. Vgl. D. Hine, Factionalism in West European Parties: A Framework for Analysis, in: West European Politics, Jg. 5, 1982, S. 36–53. 28 Zur Kosten-Nutzen-Rechnung der Mitgliedschaft vgl. S. E. Scarrow, The ›paradox of enrollment‹: Assessing the costs and benefits of party membership, in: European Journal of Political Research, Jg. 25, 1994, S. 41–60; R. S. Katz, Party as linkage: A vestigial function, in: European Journal of Political Research, Jg. 18, 1990, S. 143–161. 29 Vgl. die Befunde in Daalder u. Mair; S. Bartolini u. P. Mair (Hg.), Party Politics in Contemporary Western Europe, London 1984; Mair u. Smith, Understanding; K. Haidar, The polymorphic nature of party membership, in: European Journal of Political Research, Jg. 25, 1994, S. 61–86; S. E. Scarrow, Parties and Their Members: Organizing for Victory in Britain and Germany, Oxford 1996.
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sierungsphase in Ostmittel- und Osteuropa.30 Und vor allem haben die provozierenden Basisenergien geradezu auf ›amerikanische‹ Weise als produktive Herausforderung auf die Parteien gewirkt und diese gezwungen, sich in ihrem eigenen Interesse zu öffnen, ihre Prioritäten zu überprüfen, neue Forderungen zu integrieren und ihre verkrusteten Organisationen zu überholen.31 Eine neue vergleichende Studie über 78 Parteien in 11 westeuropäischen Ländern von Thomas Poguntke hat die beeindruckende Fähigkeit der Parteien herausgearbeitet, ihre Verluste schnell zu kompensieren und neue Mechanismen gesellschaftlicher Breitenwirkung (linkages) zu entwickeln.32 Da dabei gelegentlich auch programmatische und ideologisch besetzte Positionen wieder stärker akzentuiert worden sind als es zuvor in der catch-all party der Fall gewesen war, haben sich die Anforderungen an die innerparteiliche Konsensfindung und Integration erhöht. Ebenso wie die Vermittlung und Koalitionsbildung nach außen, zwischen der Partei, der größer gewordenen Zahl alter und neuer Interessengruppen, lokalen Forderungen und den staatlichen Institutionen oder korporatistischen Mechanismen, ist auch die interne Vermittlung wieder wichtiger geworden.33 Dies gilt für alle Parteien, ist aber besonders augenfällig geworden am Beispiel der Sozialdemokraten im Zeichen von Blairs »New Labour« und Schröders »Neuer Mitte«, die ihrem ominösen ›Wahldilemma‹ (nämlich entweder Traditionswähler oder neue Wähler zu verlieren) dadurch zu entrinnen versuchen, dass sie ihre neue liberale und deregulierende Wirtschaftspolitik ausbalancieren mit einer Reihe sorgfältig ausgewählter Programmpunkte aus dem kreativ weiterentwickelten Traditionsfundus, mit denen sie sich noch sichtbar gegen 30 Vgl. H. Kitschelt, The Logics of Party-Formation. Ecological Politics in Belgium and West Germany, Ithaca 1989; R. J. Dalton u. M. Kuechler (Hg.), Challenging the Political Order: New Social and Political Movements in Western Democracies, New York 1990; T. Poguntke, Alternative Politics. The German Green Party, Edinburgh 1993 (mit dem Vorschlag des Typs der ›new politics party‹); A. S. Markovits u. P. S. Gorski, The German Left: Red, Green and Beyond, Oxford 1993; J. Raschke, Die Grünen, Köln 1993; zu Osteuropa vgl. G. Evans u. S. Whitefield, The Bases of Party Competition in Eastern Europe: Social and Ideological Cleavages in Post- Communist States, Oxford 1996; D. Segert u. a. (Hg.), Parteiensysteme in postkommunistischen Gesellschaften Osteuropas, Opladen 1997. 31 Dazu exemplarisch K. Blessing (Hg.), SPD 2000. Die Modernisierung der SPD, Marburg 1993, oder das Programa 2000 des spanischen PSOE: Manifiesto del Programa 2000, Madrid 1990. Vgl. auch die neuere Debatte in der SPD über die Anforderungen moderner Parteiorganisation: M. Machnig, Auf dem Weg zur Netzwerkpartei, in: Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte, Jg. 47, 2000, S. 654–660, sowie die Kommentare von T. Dürr, D. Dettling u. R. Scharping, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Jg. 48, 2001, S. 16–27. 32 T. Poguntke, Parteiorganisation im Wandel. Gesellschaftliche Verankerung und organisatorische Anpassung im europäischen Vergleich, Wiesbaden 2000, bes. S. 264–269. Vgl. auch P. Mair u. a. (Hg.), Parteien auf komplexen Wählermärkten, Wien 1999; O. Niedermayer, Innerparteiliche Partizipation, Opladen 1989. 33 Zu den Auswirkungen des innerparteilichen Willensbildungsprozesses auf die Außenwahrnehmung vgl. R. Harmel u. a., Performance, Leadership, Factions and Party Change: An Empirical Analysis, in: West European Politics, Jg. 18, 1995, S. 1–33.
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die Konservativen abgrenzen können, z. B. in Bereichen der Bildungs-, Gesundheits- und Sozialpolitik.34 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, wie schnell die Parteien in neuen Demokratien, etwa Süd- und Ostmitteleuropas, den Weg zur demokratischen ›Normalität‹ gefunden haben, und zwar gleich auf der entwickeltsten Stufe der catch-all party in und nach der Krise: So sehr sie in den Transformationsprozessen als zentrale Akteure und monopolistische ›Türhüter‹ (gatekeepers) der Demokratie herausgehoben und privilegiert waren, so sehr haben sie sich auch, je demokratischer die Länder wurden, den Parteien in den älteren Demokratien zunehmend angeglichen, mit all ihren Problemen. Die spanischen Sozialisten der 1970er und frühen 80er Jahre unterschieden sich noch sehr von ihren Parteifreunden in Frankreich, Deutschland oder Österreich, die heutigen tun es kaum noch, jedenfalls nicht in wesentlichen Punkten.35 Die modifizierte catch-all party: ein Agent ausgeweiteter Vermittlung Das Produkt der Krise ist ein modifizierter Parteienstaat und eine modifizierte catch-all party mit ausgeweiteten Funktionen und loseren Strukturen, sozu sagen eine ›catch-all party plus‹. Da Wissenschaftler gern neue Begriffe erfinden, hat man dafür eine Fülle neuer Worte vorgeschlagen, die aber allesamt nicht recht überzeugen können: Da das breitere catch-all Spektrum der Parteien bestehen geblieben ist, bedeutet die neue Funktionsverlagerung keine Rückkehr zur Massenintegrationspartei. Da breite Vermittlung gefragt ist, kann man sie wohl auch nicht einengen auf zukünftige ›neue Programmparteien‹ (Wolinetz), ›neue Politikparteien‹ (Poguntke) oder ›erneuerte Mitgliederparteien‹ (Haungs, Walter).36 Da sie weiterhin erfolgreiche Agenturen zur Wahr34 Vgl. M. G. Schmidt, When parties matter. A review of the possibilities and limits of partisan influence on public policy, in: European Journal of Political Research, Jg. 30, 1996, S. 155– 183; C. Boix, Political Parties, Growth and Equity. Conservative and Social Democratic Strategies in the World Economy, Cambridge 1998; H. J. Puhle, Mobilizers and Late Moder nizers: Socialist Parties in the New Southern Europe, in: P. N. Diamandouros u. R. G unther (Hg.), Parties, Politics and Democracy in the New Southern Europe, Baltimore 2001, S. 268–328. 35 Zur Rolle der Parteien in Transformationsprozessen vgl. Diamandouros u. Gunther (Hg.), Parties, Politics, and Democracy, sowie: J. J. Linz u. A. Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America and Post-Communist Europe, Baltimore 1996; R. Gunther u. a. (Hg.), The Politics of Democratic Consolidation. Southern Europe in Comparative Perspective, Baltimore 1995; W. Merkel u. H. J. Puhle, Von der Diktatur zur Demokratie. Transformationen, Erfolgsbedingungen, Entwicklungspfade, Opladen 1999; F. Plasser u. a., Politischer Kulturwandel und demokratische Konsolidierung in Ostmitteleuropa, Opladen 1997. 36 Vgl. S. B. Wolinetz, Beyond the Catch-All Party: Approaches to the Study of Parties and Party Organization in Contemporary Democracies, in: R. Gunther u. a. (Hg.), Political Parties. Old Concepts and New Challenges, Oxford 2002, S. 136–165; T. Poguntke, New
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nehmung öffentlicher Ämter sind37 und nach wie vor über die Schaltstellen des Parteienstaats gebieten, treiben die Parteien angesichts hoher Ansprüche wohl mehr auf die Aufgaben einer Art Dienstleistungspartei mit der Spezialität: Vermittlung, leadership und Integration zu, ohne dabei ihren catch-all-Charakter zu verlieren. Sie nur ›Rahmenparteien‹ (Leif u. Raschke) oder ›neue Kaderparteien‹ (Koole) zu nennen, würde diesen Aufgaben nicht gerecht. Dasselbe gilt für den Vorschlag von ›Netzwerkparteien‹ (Machnig), der hinter den umfassenderen älteren ›linkage‹-Ansatz zurückfällt. Manche meinen, mit dem Begriff der ›professionalisierten Wählerpartei‹ den Stein der Weisen gefunden zu haben (v. Beyme); das ist allerdings schon lange ein anderes Wort für die gute alte catch-all party gewesen (Panebianco).38 Sehr interessant und anregend ist dagegen der von Katz und Mair vorgeschlagene Begriff der ›Kartellpartei‹, der genau das Gegenteil des liberalen Parteienbegriffs des 19. Jahrhunderts anpeilt: Die Partei nicht als organisierte gesellschaftliche Gruppe, die zum Staat hin und in ihn hinein agiert, sondern umgekehrt als Veranstaltung des Staates zur Kontaktaufnahme mit den gesellschaftlichen Gruppen und Interessen. Dies ist natürlich zu einseitig und viel zu statisch gedacht, aber ein produktiver Ausgangspunkt für die viel interessantere Frage danach, welche Interaktionen eine solche Kartellsituation auslöst, welche Reaktionen sie provoziert und wie diese die Parteien dann weiter verändern.39 Dabei entdeckt man u. a., wie zählebig die Mechanismen der catch-all party sind. Demgegenüber stehen klare Akzentverschiebungen: Wenn man annimmt, dass die wichtigsten Aufgaben demokratischer Parteien neben dem Gewinnen von Wahlen insb. (1) politische Zielsetzung, (2) Artikulation, Aggregation und Repräsentation von Interessen, (3) die Mobilisierung und politische Sozialisation der Bürger und (4) die Rekrutierung politischer Eliten und die RegierungsPolitics and Party Systems: The Emergence of a New Type of Party?, in: West European Politics, Jg. 10, 1987, S. 76–88; P. Haungs, Plädoyer für eine erneuerte Mitgliederpartei, in: Zs. f. Parlamentsfragen, Jg. 25, 1994, S. 108–115; F. Walter, Die SPD nach der deutschen Vereinigung – Partei in der Krise oder bereit zur Regierungsübernahme?, in: Zs. f. Parlamentsfragen, Jg. 26, 1995, S. 85–112. 37 Vgl. P. Mair, Political Parties, Popular Legitimacy and Public Privilege, in: West European Politics, Jg. 18,3, 1995, 40–57. 38 Vgl. R. A. Koole, The Vulnerability of the Modern Cadre Party in the Netherlands, in: R. S. Katz u. P. Mair (Hg.), How Parties Organize. Change and Adaptation in Party Organization in Western Democracies, London 1994, S. 278–303; Machnig, Netzwerk partei; Beyme, Parteien im Wandel; Panebianco, Political parties. Zum ›linkage‹-Ansatz vgl. K. Lawson (Hg.), Political Parties and Linkage. A Comparative Perspective, New Haven 1980; K. Lawson u. P. H. Merkl (Hg.), When Parties Fail, Princeton 1988. 39 Vgl. Katz u. Mair, Changing Models. Die Autoren haben ihren viel kritisierten Ansatz inzwischen weiterentwickelt unter Berücksichtigung des Prozesses eines dreipoligen Interessen- und Machtausgleichs zwischen der party on the ground, der party in central office und der party in public office. Vgl. R. S. Katz u. P. Mair, The Ascendancy of the Party in Public Office: Party Organizational Change in Twentieth-Century Democracies, in: R. Gunther u. a. (Hg.), Political Parties, S. 113–135.
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bildung sind,40 dann lässt sich feststellen, dass sie auch in ihrer Krise immer noch (fast) ein Monopol auf die Rekrutierung politischer Eliten haben, dass ihre Kapazität zur politischen Zielfindung wieder zugenommen hat, ihre Mobilisierungs-, Sozialisations- und Repräsentationsf unktionen aber deutlich rückläufig sind. Daraus und aus den Erfahrungen der Krise ergeben sich neue Aufgaben, insb. die der Vermittlung nach innen und außen, der Bereitstellung von Kapazitäten zur Kontrolle und Reform der Institutionen, einschließlich der Parteien, und des jetzt, im Gegensatz zu früher, eher kurzfristigen Angebots von Integrations- und Identifikationspunkten, auch der symbolischen, die immer wichtiger geworden sind. Die Gerüchte über das unmittelbar bevorstehende Ableben der catch-all party erscheinen mithin grob übertrieben. Die Krise hat bisher nicht zu deren Ab lösung durch einen anderen Typ geführt, sondern zu ihrer Reform: Die Parteien weisen heute insgesamt (und einmal abgesehen von der medialen Kampagnenorganisation) einen geringeren Zentralisierungsgrad auf, größere Fragmentierung und mehr Elemente »lose verkoppelter Anarchie« (Lösche).41 Dies hat jedoch, mit der Ausnahme Italiens, bislang noch nicht einmal die Parteiensysteme wesentlich verändert.42 Schwindende Parteidisziplin, neue Lokalismen, der Einfluss neuer Basisbewegungen und die Möglichkeiten der Fernsehwerbung haben zwar gelegentlich, ähnlich wie schon immer in den USA, dem Land der ›politischen Unternehmer‹, die Karrieren einzelner Rebellen oder Seiteneinsteiger gefördert und auch populistische Revolten von unten gegen die Parteien und die ›Berufspolitiker‹ begünstigt. Im ganzen aber haben gerade die parlamentarischen Systeme in Europa, zumal die mit Verhältniswahlrecht, diese Tendenzen eindämmen und absorbieren können, im Unterschied zu den präsidentiellen Systemen anderer Kontinente, die z. B. in Lateinamerika eine bunte Riege populistischer Führer wie Collor de Mello, Fujimori oder Hugo Chávez hervorgebracht haben. In Europa sind viele der früheren Rebellen gegen die Parteien und die Berufspolitiker inzwischen selber Parteipolitiker und Berufspolitiker geworden. Und es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein deutscher Medienzar oder halbcharismatischer showmaster, wenn er den Ehrgeiz und die Mittel eines Berlusconi hätte, politisch erfolgreich sein könnte, ohne dass sich ihm eine der größeren Parteien dienstbar machte. Auch der Erfolg eines Jörg Haider beruhte zunächst einmal darauf, dass er eine Partei hatte. Und wäre Berlusconi Berlusconi geworden ohne die entscheidende Hilfe von Bettino Craxi und der Sozialistischen Partei? Hier scheint mir eine kurze Bemerkung zu Funktion und Stellenwert des sog. ›neuen Populismus‹ im Verhältnis zu den Parteien angebracht zu sein. Es 40 Formuliert in Anlehnung an: Bericht zur Neuordnung der Parteienfinanzierung. Vorschläge der vom Bundespräsidenten berufenen Sachverständigen-Kommission, Köln 1983. 41 Vgl. P. Lösche u. F. Walter, Die SPD: Klassenpartei – Volkspartei – Quotenpartei, Darmstadt 1992. 42 Diese und einige folgende Formulierungen reflektieren den Stand von 2002. Zu neueren Entwicklungstendenzen vgl. den folgenden Beitrag über Populismus [Zusatz des Verf. 2015].
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geht in Europa um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert nicht so sehr um große populistische Bewegungen, Projekte und Strategien, wie zeitweise in der ›Dritten Welt‹.43 Es geht eher um Versatzstücke, Stilelemente und Kampagnetechniken. Im Zeichen von catch-all parties sind solche populistischen Elemente auch nichts Besonderes, sondern der Normalfall, denn populistische Appelle bringen Stimmen. Und auch demokratische Politiker erliegen oft genug der Versuchung, zwecks Stimmenmaximierung populistische Sammlungstrommeln zu rühren und mit emotionalen Ab- und Ausgrenzungen an die vermeintlichen Interessen der sog. ›kleinen Leute‹ zu appellieren (das ist der zentrale populistische Mechanismus), indem sie z. B. verbal eindreschen auf die ›Überfremdung‹ durch die europäische Einigung oder durch ausländische Migranten, auf ›Rechtsmissbrauch‹, Korruption, die Arroganz der Machthaber und der Bürokraten. Diese Politiker gibt es in jedem Land und inzwischen auch in jeder größeren Partei, wenn auch wohl insgesamt mehr auf der rechten Seite des politischen Spektrums. In unserem Kontext sollten wir festhalten, dass solche populistische Praktiken und Mechanismen sich in der Krise der catch-all party haben weiter ausbreiten können und dass sie an Wirkung gewonnen haben, zum einen aufgrund der zunehmenden Fragmentierung der Parteien, der verstärkten Personalisierung der Politik und eines gewissen Kontrollverlusts der Parteizentralen, zum anderen aber auch aufgrund des Vordringens der Vehikel der medialen ›Erlebnis‹- und Unterhaltungsgesellschaft in die Politik.44 In fast allen Fällen sind die europäischen Parteien und Parteiensysteme bislang auch mit den neuen populistischen Herausforderungen fertiggeworden. Nur in Italien haben Anfang der 1990er Jahre die meisten Parteien und das Parteiensystem den Ansturm der Populisten nicht überlebt, die allerdings auch Hilfe von einer Altpartei, dem neofaschistischen MSI, hatten. Das Ergebnis war ein umfassender Umbau des Parteiensystems und eines Teils des Wahlsystems, aber nicht eine Krise des politischen Systems oder der Demokratie. Erklärbar ist diese große Ausnahme durch die besonderen italienischen Konstellationen, die die ›Altparteien‹ diskreditiert und den Aufstieg ihrer Kritiker begünstigt haben: ein verfilzter und korrupter Parteienstaat, der nicht mehr ›liefern‹ konnte, das Schwinden des antifaschistischen consensus der Republik, der die Neo faschisten lange zu outcasts gemacht hatte, das Ende des Kalten Kriegs und seiner so lange hilfreichen Verschwörungsszenarien und die neuen lokalis tischen Energien der Leghe im Norden.45 43 Dazu ausführlicher: H. J. Puhle, Was ist Populismus?, in: H. Dubiel (Hg.), Populismus und Aufklärung, Frankfurt 1986, S. 12–32, und den folgenden Beitrag in diesem Band. 44 Auf die gesellschaftlichen und politischen Ursachen des neuen rechten und linken Populismen in Europa, die gelegentlich von der abnehmenden Bindungskraft der großen Parteien profitieren, kann ich hier nicht eingehen. 45 Vgl. L. Morlino, Crisis of Party and Change of Party System in Italy, in: Party Politics, Jg. 2,1, 1996, S. 5–30; ders., Democracy between Consolidation and Crisis: Parties, Groups and Citizens in Southern Europe, Oxford 1998.
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Das ist die Ausnahme. Ansonsten sind in Europa bisher die Institutionen überall stabil geblieben. Die Parteien sind zwar unter größeren Konkurrenzund Legitimationsdruck geraten, haben aber ihre Position im ganzen halten können, wenn es ihnen gelang, ihre Defizite in Sachen Volksnähe (responsiveness) und Rechenschaftslegung (accountability) aufzuarbeiten. Der institutionell privilegierte status der Partei war sogar so attraktiv, dass diverse Bewegungen sich in Parteien verwandelten. Obwohl die Parteien nicht mehr in dem Maße wie früher den Bürgerwillen repräsentieren und sich die Bürger nicht mehr so wie früher mit den Parteien identifizieren, haben die Herausforderungen der Krise und entsprechende Reformen sowie die Eindämmung der besonders notorischen Wucherungen aus Kostengründen vielfach auch die Qualität des Parteienstaats eher verbessert und ihn damit gestärkt, in Deutschland und Österreich offenbar mehr als in Italien oder Spanien. Die Krise hat Reformen provoziert.
4. Eine säkulare Trendwende: weniger organisierte Politik Das heißt aber nicht, und dies ist mein vierter und letzter Punkt, dass alles beim Alten geblieben wäre. Ganz im Gegenteil scheint mir das wichtigste Ergebnis des krisenhaften Prozesses der letzten fünfundzwanzig Jahre zu sein, dass sich ein säkularer Trend umgekehrt hat: Nach rund hundert Jahren politischer Modernisierung durch vermehrte, dichtere und effizientere Organisation, durch Bürokratisierung, Zentralisierung und Professionalisierung in zwei aufeinand erfolgenden Wellen, vor dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg, folgt – in Reaktion auf die abnehmenden Parteibindungen der Wähler ebenso wie auf die Erfahrungen der Grenzen der Großorganisationen – die dritte Welle der Modernisierung der Politik eher einem Muster abnehmender Organisation, der Reduzierung und des Umbaus der bürokratischen ›Apparate‹, der Dezentralisierung, Fragmentierung und loseren Verkopplung. Neben diesen Erscheinungen eines Umbruchs dürfen allerdings auch Kontinuitäten nicht übersehen werden, z. B. in den Tendenzen zur Kommerzialisierung, Spezialisierung und Professionalisierung der Politik, jetzt jedoch nicht nur in den Parteien, sondern in einer größeren Zahl von politischen Akteuren unterschiedlicher Organisationsdichte, zur Ausweitung der Märkte politischer Vermittlung über das neo-korporatistische Dreieck hinaus, zur Konsolidierung interventionistischer Staatstätigkeit und zur Vergrößerung der Abhängigkeit sozialer Akteure, einschließlich der Parteien, vom Staat. Aufgrund der stärkeren Konkurrenz ist das Machtkartell der Parteien flexibler und offener geworden, die Aufgabe der Interessenvermittlung komplexer und schwieriger. Dabei hat sich ein beherrschender Zug der catch-all parties verfestigt: der allgemeine Trend zur Kurzfristigkeit, zu punktuellen (›ad hoc‹) Politikangeboten, Programmen und Mobilisierungen, zu vereinzelten, frag88
mentierten, oft personalisierten Loyalitäten, Identifikationen und Allianzen, die an die Stelle der verlorenen längerfristigen Bindungen getreten sind. Diese Tendenz ist traditionellen ad hoc-Mobilisierern wie den sozialistischen Parteien in Spanien, Portugal oder Griechenland wesentlich mehr entgegengekommen als den Konstrukteuren von Strukturen und Organisationen wie der SPÖ, der deutschen SPD oder den skandinavischen Sozialdemokraten, die mit den Krisenfolgen dann zunächst auch schlechter fertiggeworden sind.46 Literarisch Bewanderte haben in dem höheren Grad von Unverbindlichkeit, in dem Nebeneinander unterschiedlicher strategischer und programmatischer Versatzstücke und in der geringeren Verwurzelung und größeren Unstetigkeit der Wähler bereits Indizien für eine ›postmoderne‹ Politikstruktur erkannt, von denen manche sich allerdings nur wenig von denen ›prämoderner‹, weniger organisierter Politik vor der ersten Modernisierungswelle am Ende des 19. Jahrhunderts zu unterscheiden scheinen. Dass auch die symbolischen Funktionen der Politik, ihr Unterhaltungs- und Show-Charakter in den letzten Jahrzehnten auf Kosten der Inhalte sozusagen medienbedingt wichtiger geworden sind, passt durchaus in dieses Konzept.47 Es würde jedoch – jedenfalls derzeit noch – zu weit gehen, von den genannten Krisenerscheinungen der catch-all parties und des Parteienstaats auf eine Krise der Parteien schlechthin oder gar auf eine Legitimationskrise der Mechanismen und Institutionen demokratischer Herrschaft zu schließen, wie das gelegentlich geschieht. Es gibt zwar einen Schwund von Zustimmung und Legitimation, aber er ist in Europa, wie auch in den USA, bislang deutlich begrenzt geblieben. Völlig delegitimiert und bestraft worden sind bestimmte Parteien nur dann, wenn die Wähler den Eindruck hatten, dass sie überhaupt nicht mehr ›liefern‹ konnten (wie Anfang der 90er Jahre in Italien), dass sie ihre historische Funktion erfüllt hatten oder dass die Parteieliten auf Selbstzerstörung programmiert waren (wie in UCD und PCE in Spanien 1982). Und selbst ein rasant zusammengedrängter Umbau eines Parteiensystems in einer einzigen Wahl, wie 1982 in Spanien oder 1994 in Italien, hat nirgends andere Teilregime des demokratischen Systems, das Funktionieren der Institutionen oder den Verfassungskonsens beeinträchtigt; in Spanien haben Dekonsolidierung und Umbau des Parteiensystems durch die Wähler 1982 sogar entscheidend zur Konsolidierung der jungen Demokratie beigetragen.48 Deutlich ist aber auch geworden, dass die Parteien, wenn sie zukunftsfähig sein wollen, neue Qualitäten ausbilden müssen. Zu diesen Qualitäten gehört außer Flexibilität und der Fähigkeit zu organisatorischen Reformen und zur schnelleren Reaktion auf die veränderten Bedürfnisse und Interessen der Bürger vor allem eine erhöhte Kapazität zur Vermittlung, Integration und politischen 46 Dazu ausführlicher: H. J. Puhle, Mobilizers and Late Modernizers. 47 Vgl. dazu immer noch M. Edelman, Politik als Ritual, Frankfurt 1976. 48 Vgl. Linz u. Montero (Hg.), Crisis y cambio; Gunther u. a. (Hg.), The Politics of Democratic Consolidation; Merkel u. Puhle, Von der Diktatur zur Demokratie.
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Führung. Und das unter den erschwerten Bedingungen einer Konstellation, die gekennzeichnet ist durch die andauernde Staatsnähe der Parteien, durch zunehmende Fragmentierung der politischen Themen und Organisationen und durch das beherrschende Diktat der Kurzfristigkeit von Identifikationspunkten, von Strategien, von Programmen und Lösungen. Wenn die Parteien sich darauf einlassen, werden wir wohl auch weiterhin in den europäischen Demokratien jene Haltung der Bürger gegenüber den politischen Parteien finden, die unsere Befragten in Südeuropa immer wieder auf die griffige Formel gebracht haben: Wir lieben die Parteien nicht, aber wir wissen, dass wir sie brauchen.49
49 Vgl. als typisches Beispiel L. Morlino u. J. R. Montero, Legitimacy and Democracy in Southern Europe, in: Gunther u. a. (Hg.), The Politics of Democratic Consolidation, S. 231–260.
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Populismus: Form oder Inhalt? Protest oder Projekt?* 1
Populismus ist ein weites Feld. Alle reden davon, aber kaum jemand kann ihn verbindlich definieren. Die Situation erinnert ein wenig an den bekannten amerikanischen Senator, der sich für die Verschärfung der Gesetze gegen Pornographie einsetzte und, aufgefordert, letztere doch zu definieren, eingestand, dass er dies nicht könne: »But I know it when I see it.« Genauso scheint es vielen auch mit dem ›Populismus‹ zu gehen. Dies liegt natürlich auch daran, dass Populismus unter anderem auch ein Kampfbegriff ist, teilweise positiv besetzt, z. B. in den USA, in einigen Teilen Lateinamerikas oder der kemalistischen Türkei, überwiegend negativ in anderen Teilen der Welt, auch bei uns in Europa. Wenn jemand von einem Politiker sagt, dieser sei ein Populist, dann ist das im Zweifel nicht als Kompliment gemeint. Der Begriff ist unscharf und verlangt nach Definitionen. Mehr Schärfe kann er nur gewinnen, wenn er nicht inflationär gebraucht wird. Man muss das Phänomen also eingrenzen. Dies aber impliziert subjektive und willkürliche Setzungen und bedarf auch konzeptioneller Entscheidungen. Und wer darüber redet, kann in weiten Bereichen eher mehr oder weniger plausible und überzeugende Vorschläge zur Begrifflichkeit und Analyse machen, als dass er oder sie sagen könnte: so ist es, und nicht anders. In diesem Sinne sollen hier in elf Punkten thesenartig drei Problemkomplexe angesprochen werden: Erstens wichtige Charakteristika und mögliche Definitionen des ›Phänomens P.‹, zweitens einige klassische und neuere Populismen im Spannungsfeld zwischen Protestbewegungen und politischen Regimen, und drittens das Verhältnis von Populismen, populistischer Politik und Demokratie. Ganz zentral sind dabei die Fragen, ob ›Populismus‹ wesentlich nur als eine bestimmte Politikform oder auch inhaltlich definiert werden kann oder soll (Form oder Inhalt?), und wie sich die verschiedenen Varianten des Phänomens im Spektrum zwischen ›bloß negativen‹ Protesten und ›positiver‹ politischer Programmatik und Gestaltung positionieren (Protest oder Projekt?).
* Zuerst unter dem Titel: Populismus: Form oder Inhalt? erschienen in: H. R. Otten u. M. Sicking (Hg.), Kritik und Leidenschaft. Vom Umgang mit politischen Ideen, Bielefeld 2011, S. 29–47; einige Passagen wurden ergänzt aus: Old and New Populisms in the 21st Century: Continuities and Change, in: A. Ostheimer de Sosa u. M. Borchard (Hg.), Populism Within Europe and Beyond Its Borders, Baden-Baden 2016, in Vorbereitung. Auch die Literaturhinweise entsprechen diesem aktuelleren Stand.
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1. Allgemeine Charakteristika und Definitionen 1. Die Antwort auf die erste Frage erscheint relativ einfach. Sie lautet: Es geht um Form und Inhalt. Das Phänomen P. wird im allgemeinen Sprachgebrauch, auch in den Sozialwissenschaften, zum einen formal definiert und bezieht sich überwiegend auf Vermittlungstechniken, Politikstile oder Machtstrategien. Auf der anderen Seite hat man mit dem Begriff des Populismus auch bestimmte Bewegungen in konkreten Konstellationen und Perioden bezeichnet, die durchaus verschieden waren und insgesamt ein sehr buntscheckiges Bild ergeben. Das gab es Konservative wie Progressive, Bewahrer, Reformer und Revolutionäre. ›Populismus‹ ist wahrscheinlich einer der am meisten inflationierten Termini. Um die Dinge etwas zu sortieren, schlage ich vor, den Begriff des Populismus (als ›-ismus‹), oder besser noch den Plural: Populismen, zu reservieren für inhaltlich und programmatisch gerichtete Bewegungen (und ggf. Regime), und dies zu unterscheiden von (bloßen) populistischen Elementen, Techniken, Versatzstücken, Instrumenten und Stilen, die mit einer jeden Politik kombiniert werden können und ihren Kern haben in einer Strategie des Machterhalts sowie entsprechenden Inszenierungen, deren grundlegendes Motto auf den realtypischen Nenner gebracht werden kann: »Ich bin das Volk« (Eva Perón und viele andere). ›Populistisch‹ also als Adjektiv. Oft hängen die inhaltlichen und formalen Aspekte aber auch zusammen oder überlagern sich in dem, was man »populistische Momente« genannt hat.1 Die gemeinten Inhalte und die gemeinten Formen wären noch genauer zu definieren. Im Hinblick auf die inhaltlich und programmatisch definierten Populismen scheint mir auch ein Plädoyer für eine gewisse terminologische Sparsamkeit im Umgang mit dem Begriff angebracht zu sein: Um einer Inflation unspezifischer ›Populismen‹ vorzubeugen, empfiehlt es sich, alle Bewegungen, die sich spezifischer anders charakterisieren lassen (etwa durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ideologischen oder Parteien-›Familie‹), auch anders zu benennen und den Terminus ›Populismus‹ gewissermaßen als ›Residualkategorie‹ für anders nicht spezifischer charakterisierbare Phänomene vorzuhalten. Dies entspräche auch den Mechanismen der gerade in der neueren Forschung thema tisierten »thin ideology«.2 Darauf wird noch zurückzukommen sein. 2. Als zentrale erste Annäherung sollte, zweitens, festgehalten werden, dass Populismen ein Produkt der Moderne sind, und zwar ein reaktives Produkt. 1 L. Goodwyn, The Populist Moment, Oxford 1978. 2 Zur Debatte um die ›thin ideology‹ vgl. u. a. M. Freeden, Is Nationalism a Distinct Ideology?, in: Political Studies, Jg. 46, 1998, S. 748–765; K. Weyland, Clarifying a Contested Concept. Populism in the Study of Latin American Politics, in: Comparative Politics, Jg. 34,1, 2001, S. 1–23; C. Mudde u. C. Rovira Kaltwasser (Hg.), Populism in Europe and the Americas: Threat or Corrective for Democracy?, Cambridge 2012.
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Sie sind wesentlich ›anti-moderne‹ Protestbewegungen derer, die meinen, im Modernisierungsprozess zu kurz zu kommen. Aber gelegentlich gehen sie, in bestimmten Kontexten, besonders von Unterentwicklung, auch über diesen Protest hinaus und lancieren – durchaus im Protest gegen die fremdbestimmte Modernisierung – eigene Modernisierungsprojekte. Darauf wird zurückzukommen sein. Die Gemeinsamkeiten bestehen in groben Linien vor allem darin, dass ›populistisch‹ genannte Bewegungen und Strömungen an das ›Volk‹ appellieren, im Gegensatz zu den Eliten, insbesondere an die ›einfachen‹ Leute und nicht an bestimmte Schichten, Klassen, Berufsgruppen oder Interessen. Sie sind antielitär, gegen das sogenannte Establishment, oder die »Oligarchie«. Selbst ihre intellektuellen Führer geben sich vielfach antiintellektuell, oft auch anti urban und illiberal. Diese illiberalen Konnotationen populistischer Agitation und Politik können auch deren Verhältnis zur Demokratie beeinträchtigen. Ein umfassendes und konkretes politisches Sachprogramm fehlt allerdings oft bei den Populisten, es überwiegt ein starkes moralisches und rhetorisches Engagement zugunsten einiger weniger Programmpunkte. Das – meistens nicht explizit definierte – Wohl der ›einfachen Leute‹ sehen Populisten am stärksten bedroht durch die großen nationalen und internationalen Organisationen und Korporationen in Wirtschaft und Politik, Großbanken, Konzerne und Trusts, staatliche und private Bürokratien, Parteiapparate, Parlamente und andere ›corps intermédiaires‹, Vermittlungsagenturen zwischen Volk und Regierung. Was sie bevorzugen, ist die direkte, unvermittelte Beziehung zwischen beiden. Folglich bilden sie auch meistens keine straff organisierten Parteien aus, sondern bleiben relativ lose ›Bewegungen‹. Sie verteidigen die kleineren gegen die größeren und gegen das ›System‹. Ihr Bild von der Gesellschaft ist dichotomisch, das Feindbild in der Regel sehr konkret, wenn auch nach den Umständen wechselnd. Die einfachen Leute haben nicht nur die Mehrheit, sie haben auch die Moral auf ihrer Seite. Geschichte ist für Populisten wesentlich die Geschichte von Verschwörungen gegen die kleinen Leute, also Usurpation illegitimer Macht, ein Prozess des Niedergangs und der Verderbnis. In ›klassischen‹ älteren Populismen wurden durchweg frühere agrargesellschaftlichen Zustände romantisch verklärt, die Notwendigkeit gesellschaftlicher Arbeitsteilung wurde oft ebenso ignoriert wie die disziplinierender Organisation. Für die älteren Populisten war das Ideal lange Zeit der kleine gemeinschaftliche Betrieb, sei es die amerikanische family farm oder der Bauernhof, Dorfgenossenschaften unterschiedlichen Typs vom russischen mir bis zum mexikanischen ejido. Populisten konnten sowohl für den Kapitalismus sein als auch gegen ihn, sowohl für die Industrie als auch gegen sie. In der Regel sind sie für die kleineren, eigenen Unternehmen und Banken und gegen die größeren und fremden. Die meisten Populisten sind auch Nationalisten gewesen, so wie alle Nationalisten in der Regel auf populistische Weise mobilisiert haben: Populismus und Nationalismus gehen meistens zusammen, schon aufgrund der Berufung auf das ›Volk‹, des dichotomischen Weltbilds, der Strategien direkter und 93
unvermittelter Mobilisierung aus der Perspektive der ›underdogs‹, und besonders in den traditionellen Kontexten entwicklungsgerichteter ›antiimperialistischer‹ Agitation. Das Verhältnis der Populisten zum Staat war komplizierter und durchweg doppeldeutig. Einerseits verlangten sie, dass der Staat stark genug sein sollte, um als Agent des Gemeinwohls die kleinen Leute gegen die Übergriffe der Großkorporationen, organisierten Interessenten, Verbände und Bürokratien jeder Art zu schützen. Auf der anderen Seite sollte er aber selber keine organisierten Strukturen ausbilden und am besten für die Bürger unsichtbar bleiben. Die Tragik konsequenter populistischer Politik in der klassischen Ära zwischen den 1870er und den 1970er Jahren hat in den meisten Fällen darin bestanden, dass die Populisten den Staat zum aktiven Interventionsstaat haben weiterentwickeln, also über jenes Maß hinaus stärken müssen, das sie für wünschenswert und verantwortbar hielten. Manchen der neueren europa- oder globalisierungskritischen Populisten geht es heute durchaus ähnlich. Kompliziert ist auch das Verhältnis von Populismus und Demokratie, bzw. populistischer Politik und Demokratie: Einerseits können populistische Bewegungen mehr oder weniger demokratisch oder auch komplett undemokratisch sein. Zahlreiche populistische Regime sind autokratisch, die meisten entsprechen eher dem, was wir ›defekte Demokratien‹ genannt haben, weil die Mechanismen der direkten Akklamation, der Umgehung und Ausschaltung der ›corps intermédiaires‹, die für Kontrolle, ›accountability‹ und rechtsstaatliche Prozeduren zuständig sind, die Institutionen einer liberalen ›embedded democracy‹ aushöhlen und schwächen und die Tendenzen zu ›geführter Demokratie‹, Bonapartismus oder schlimmeren Formen autokratischer Herrschaft verstärken.3 Andererseits haben Demokratien immer auch eingebaute (mehr oder weniger starke) Tendenzen (oder ›Versuchungen‹) zu populistischer Politik, schon aufgrund des allgemeinen Wahlrechts und der Notwendigkeit von Massenmobilisierung und Stimmenmaximierung. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Ein weiteres zentrales Kennzeichen populistischer Bewegungen ist, dass sie Basisbewegungen ohne spezifischen Klassencharakter, aber mit Massenanhang sind, oft mit relativ niedrigem Organisationsgrad, dass sie politische Veränderungen in eine bestimmte Richtung bewirken wollen, deren Spannbreite meistens zwischen einem modifizierten status quo und den üblichen Forderungen klassischer Arbeiterparteien oder anderer Systemveränderer liegt.
3 Zu ›embedded democracy‹ und ›defekten Demokratien‹ vgl. unsere Studie: W. Merkel u. a.; Defekte Demokratie, Bd. I: Theorie, Opladen 2003.
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2. Klassische und neuere Populismen: Protest v. Projekt 3. Drittens scheint es mir sinnvoll zu sein, die ›klassischen‹ Populismen (etwa bis in die 1960er Jahre) von den jüngeren Ausprägungen zu unterscheiden, und gleichzeitig auch zwei sehr unterschiedliche Entwicklungslinien zu verfolgen, an deren Beginn, seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, die beiden ersten ›Klassiker‹ gestanden haben: Die US-amerikanischen Populists für die reformistische Variante der ›Ersten Welt‹, also protestierender Populismus im entwickelten Industriekapitalismus, auf der einen Seite, und auf der anderen Seite die russischen Volkstümler (narodniki) für die reformistische oder revolutionäre Drittweltschiene, also Populismus als Entwicklungsagent in unterentwickelten Ländern: Hier steht Protest gegen Projekt.4 Beide waren Reaktionen auf umfassende gesellschaftliche Modernisierungsprozesse. In den USA richteten sie sich gegen den auf den Durchbruch der Hochindustrialisierung folgenden Prozess der Konzentration und der Organisation der kapitalistischen Industriewirtschaft, im zaristischen Russland gegen die Durchsetzung des modernen Imperialismus der westeuropäischen Industrieländer. Populists: Die nordamerikanischen Populisten-Bewegungen waren Protestbewegungen vom Lande gegen die zunehmenden Organisationstendenzen aller wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereiche seit dem Durchbruch der Industrialisierung und dem Ende der reconstruction nach dem amerikanischen Bürgerkrieg. Sie formierten sich zunehmend gegen die politische Übermacht der Großstädte, die Monopole und Eisenbahngesellschaften, Banken und Trusts, die Zwischenhändlerprofite und gegen die deflationistische Währungspolitik der Regierung im Zeichen des Goldstandards. Sie artikulierten die Interessen der Farmer, vor allem des Mittelwestens und Südens, aber auch des Westens und Südwestens, an billigen Krediten und Eisenbahnfrachtsätzen und höheren Erzeugerpreisen für ihre wichtigsten Produkte.5 Sie forderten die Wiederherstellung des alten und vermeintlich erprobten amerikanischen Ideals der »agrarischen Demokratie« im Sinne Jeffersons und Jacksons, mit Partizipation von den grass roots, in überschaubaren Einheiten und ohne zwischengeschaltete intermediäre oder repräsentative Elemente, im Interesse des »common man«. Dem Ideal der »agrarischen Demokratie« waren alle Populistenbewegungen der USA gleichermaßen verpflichtet, trotz großer Unterschiede. Zu ihren wichtigsten allgemeinpolitischen Forderungen gehörten u. a. die Direktwahl 4 Der beste Versuch einer synthetischen Gesamtdarstellung ist bisher m. E. G. Hermet, Les populismes dans le monde, Paris 2001. 5 Vgl. u. a. N. Pollack, The Humane Economy: Populism, Capitalism and Democracy, New Brunswick 1990; L. Goodwyn, The Populist Moment, Oxford 1978; T. Saloutos (Hg.), Populism. Reaction or Reform?, New York 1968.
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der Senatoren, die Einführung der Vorwahlen (primaries), das Frauenstimmrecht, die Möglichkeit der Abwahl der Amtsträger (recall), Initiative und Referendum sowie die progressive Einkommensteuer. Die Farmers’ Alliance, jene Populistengruppe, die die 1880er Jahre dominierte, forderte außerdem den Ausbau der genossenschaftlichen Markt- und Kreditorganisation, die Einrichtung von Postsparkassen, Steuererleichterungen und preisstützende Staatsintervention zugunsten der Landwirtschaft. Ihr parteipolitischer Ableger, die 1891/92 gegründete People’s Party oder Populist Party wurde zur ersten einflussreichen dritten Partei der USA neben Republikanern und Demokraten. Sie konnte zeitweise eine Reihe von Einzelstaaten im Mittelwesten und im Süden erobern. Die Populisten verloren zwar die Präsidentschaftswahlen 1892 und vor allem die mit großem Aufwand gemeinsam mit den Demokraten geführte BryanKampagne von 1896, die sich vornehmlich um die Frage: Goldstandard oder Doppelwährung gedreht hatte. Ihre Gruppen verkümmerten zunehmend nach der Jahrhundertwende, zumal die Protestbereitschaft der Farmer während des Konjunkturaufschwungs zwischen 1897 und 1920 zurückging. Die populistischen Forderungen wirkten jedoch weiter und wurden so gut wie alle erfüllt. Die meisten von ihnen wurden von den beiden großen Parteien übernommen, insbesondere von deren sogenannten ›progressiven‹ Gruppen. Bereits im Jahre 1920 waren die progressive Einkommensteuer, die Volkswahl der Senatoren und das Frauenstimmrecht eingeführt, in zahlreichen Staaten die primaries, Initiative und Referendum, in manchen sogar der recall durchgesetzt. Die Eisenbahntarife waren staatlich reguliert, die Postparkassen eingerichtet und bis heute grundlegende erste Gesetze zur Monopolkontrolle, zum Umweltschutz und zur Bodenkonservierung verabschiedet. Ein umfassendes System des staatlichen Agrarinterventionismus wurde seit Ende der 1920er Jahre, insbesondere im New Deal Roosevelts nach 1933 aufgebaut und hatte lange Bestand. Die Wirtschaftskrise brachte Anfang der 30er Jahre sogar die Abkehr vom Goldstandard. Gemessen an der Verwirklichung konkreter Einzelforderungen sind die Populisten eine der erfolgreichsten politischen Bewegungen Amerikas überhaupt gewesen.6 Die Verwirklichung dieser Forderungen hat allerdings die Tendenzen zum »starken Staat« (big government) und zum Ausbau der zentralen Bürokratie gefördert und beschleunigt, insbesondere im Bereich der Agrarpolitik und der Mechanismen des amerikanischen Sozial- und Interventionsstaats. Franklin Roosevelt und Lyndon Johnson, die Befürworter eines vehementen Ausbaus der staatlichen Interventionsmechanismen, haben sich ebenso auf die populistische Tradition berufen wie deren ideologische Gegner, Ronald Reagan ebenso wie Bill Clinton. Die amerikanischen Populisten hatten das typisch populistische Janus gesicht: Sie konnten hinterwäldlerisch, autoritär, sektiererisch, fundamentalistisch und antisemitisch sein und gleichzeitig progressive Sozialreformer und 6 Vgl. H. J. Puhle, Politische Agrarbewegungen in kapitalistischen Industriegesellschaften. Deutschland, USA und Frankreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 1975, S. 113–209.
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Basisdemokraten. Sie waren aber keine Sozialrevolutionäre oder Sozialdemokraten. Sie machten nicht gegen den Kapitalismus mobil, sondern nur gegen die Einseitigkeiten von dessen privater Organisierung, die zeitweise die Industrie und das big business begünstigte. Die Farmer waren kapitalistische Unternehmer, aber gegenüber der Industrie waren sie die kleineren. Der amerikanische Populismus war eine versuchte Revolte kleinerer und mittlerer Unternehmer gegen die ganz großen, die zwar als Revolte misslang, in der Form beständiger Reformpolitik aber auf die Dauer Erfolg hatte, wobei man auf die Forderungen der ganz Schwachen und Abhängigen, der Besitzlosen, nicht einmal Rücksicht zu nehmen brauchte, weil diese nicht organisiert waren.7 Die Ideologie der Populisten war rückwärtsgewandt. Der individuelle Eigentümer und Unternehmer sollte unabhängig von Wirtschaftsweise, Betriebsgröße und Konjunktur seine wirtschaftliche Freiheit, Gleichberechtigung und Profitchance zurückerhalten, die die zunehmende Konzentration, Organisation und Unüberschaubarkeit der Wirtschaft ihm weitgehend genommen hatten. Die dazu in Aussicht genommenen Mittel ebneten gegen die Intentionen ihrer Urheber den Weg hin zu big government, zum starken Staat, und sie stärkten angesichts der Marktmechanismen am Ende die Größeren und die besser Organisierten. Narodniki: Ganz anders waren die russischen narodniki. Sie sprachen nicht für eine breite Bewegung, sondern hier formulierten städtische Intellektuelle, die das Heil vom Land, von den Bauern, vom einfachen traditionellen agrarischen Leben erwarteten (das sie auch noch romantisierten), ein Konzept gegen die Veränderungen, die der eindringende Industriekapitalismus auch in Russland bewirkt hatte. Die Stoßrichtung ging nicht nur gegen die Errungenschaften der Aufklärung und das sogenannte »Westlertum«, sie ging gegen den Kapitalismus insgesamt. Die Volkstümler wollten die Entwicklung noch weiter zurückdrehen und die archaischen Traditionen der alten Agrargesellschaften, so wie sie sie verstanden, wiederherstellen, von denen sie eine Art natürliche Harmonisierung der Interessen erwarteten. Vor allem meinten sie die kollektiven, genossenschaftlichen Traditionen, die durch eine grundlegende Agrarreform wiederhergestellt werden sollten, und ausdrücklich nicht die bäuerliche Knechtschaft. Ihre Idealfigur war nicht ein kleinkapitalistischer Farmer, sondern der traditionelle russische Bauer, inzwischen zwar individuell befreit, aber nach Moral und Sitte fest im Land und in der Dorfgemeinschaft verwurzelt, deren alte unverdorbene Werte er garantierte. Man berief sich nicht auf Jefferson sondern auf Rousseau, Herder und Adam Müller, die Urväter romantisierender Agrarideologien in Europa. In den seit Mitte der 1870er Jahre unternommenen Propagandazügen »ins Volk« machten vielfach die intellektuellen Agitatoren aus der Stadt den Bauern, die davon nichts wussten, klar, was alles gerade von ihnen erwartet wurde.8 7 Vgl. ebd. u. R. Hofstadter, The Age of Reform, New York 1955. 8 Vgl. A. Walicki, The Controversy over Capitalism: Studies in the Social Philosophy of the Russian Populists, Oxford 1969.
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Die russischen Volkstümler waren radikaler als die amerikanischen Populists. Ihr Konzept war einerseits in romantisierter Weise reaktionär, andererseits durchaus von zukunftsweisender Sprengkraft: Hier lösten sich Intellektuelle ab vom wirtschaftlichen und politischen Establishment und führten eine Protestbewegung an, die den Kapitalismus ebenso radikal bekämpfte wie das zaristische System. Daran konnten Anarchisten und Sozialisten anknüpfen. Die Zerschlagung des Staats und die Zentrierung der Gesellschaft um kleine überschaubare Genossenschaften von relativ Gleichen in der Vorstellung Bakunins geht auch auf Ideen der narodniki zurück. Auch viele russische Sozialdemokraten bewerteten die Volkstümler als eine Art demokratische Vorläufer. Selbst Lenin bezeichnete 1912 die Volkstumsbewegung der Ideologen als eine wichtige »Ergänzung der Demokratie«, eine Kombination radikaler Agrarreform mit »sozialistischen Träumen und der Hoffnung, den kapitalistischen Weg vermeiden zu können«.9 Hier wird deutlich, dass Russland vor 1917 ein zurückgebliebenes Entwicklungsland war, dessen Probleme strukturell mit denen späterer Entwicklungsländer vergleichbar waren. So wie für die Drittweltländer des 20. Jahrhunderts nicht der ursprüngliche Marxismus, sondern erst dessen am russischen Beispiel orientierte Umschreibung für unterentwickelte Länder im Leninismus attraktiv geworden ist, so finden sich auch bestimmte Züge des russischen narodničestvo wieder in den populistisch genannten Konzeptionen und Bewegungen der Entwicklungsländer des 20. Jahrhunderts. Das betrifft insbesondere die enge Verbindung von Populismus und Nationalismus und beider Einsatz als Orientierungshilfe auf der Suche nach neuen, ihnen angemessenen Entwicklungswegen. Der Kapitalismus, den die narodniki bekämpften, war der importierte Kapitalismus des weiter entwickelten Auslands, war Imperialismus, gegen den die Nation ideologisch zu einen und zu stärken war. Die breiteste soziale Basis dafür können in einem unterentwickelten Land ohne starke Bourgeoisie und ohne zahlreiche Arbeiterschaft insbesondere Nationalismus und Populismus schaffen. – Soviel als Résumé zu den ersten ›Klassikern‹. 4. Auf der ersten Schiene populistischer Organisation in den Ländern des entwickelten Industriekapitalismus finden wir außer den amerikanischen Populists vor allem eine Reihe europäischer Protestbewegungen gegen Modernisierung und bürokratischen Interventionsstaat in den ersten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts Dazu gehören die nord- und mitteleuropäischen Bauernbewegungen der Zwischenkriegszeit ebenso wie die älteren Protest- und Verweigerungsbewegungen, meistens Steuerstreikbewegungen, im städtischen Bereich.10 9 In: Demokratie und Populismus in China, zit. nach: A. Walicki, Russia, in: G. Ionescu u. E. Gellner (Hg.), Populism. Its Meanings and National Characteristics, London 1969, S. 62–96, hier: 94. 10 Vgl. die Beiträge in H. Gollwitzer (Hg.), Europäische Bauernparteien im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1977.
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Der ›Klassiker‹ ist hier der französische Poujadismus, eine Bewegung der kleinen Ladenbesitzer und Handwerker (UDCA: Union de Défense des Commerçants et Artisans, also des ›alten Mittelstands‹), die in den letzten Jahren der Vierten Republik vorübergehend einigen Einfluss bekam (12 % der Stimmen und 52 Sitze 1956).11 Viele dieser Energien, die schon damals nicht nur für die ›kleinen Leute‹, sondern auch gegen die ›Überfremdung‹ durch Einwanderer kämpften, sind später überführt worden in neuere, dann üblicherweise ›rechtspopulistisch‹ genannte xenophobe Bewegungen, in Frankreich, Skandinavien, Österreich, Belgien oder den Niederlanden. Das gilt manchmal auch personell: Jean Marie Le Pen hat seine Karriere damals als poujadistischer Abgeordneter begonnen. Manche dieser Gruppen haben in der Zwischenkriegszeit auch mit faschistischen Bewegungen kooperiert. Die diversen europäischen Faschismen sollte man aber nicht unter die Populismen rechnen. Sie weisen zwar u. a. auch jede Menge populistischer Züge auf, gehen aber weit darüber hinaus und gehören klar in andere Zusammenhänge und in eine andere ›ideologische Familie‹, ebenso wie zuvor schon diverse Bonapartisten, Boulangisten, Jingoisten, Nationalisten oder Regionalnationalisten (etwa in Katalonien oder im Baskenland). Eher Grenzfälle sind auch die ›völkischen Verbände‹ in Deutschland und deren europäische Äquivalente in dem, was Eugen Weber die »Neue Rechte« genannt hat,12 also meist sozialdarwinistisch, nationalistisch und populistisch aufgeladene ehemalige Konservative, die sich in Deutschland gern als »gesunder Mittelstand in Stadt und Land« definierten. Die deutschen Konservativen wurden am Ende des 19. Jahrhunderts überwiegend nicht volkstümlich oder popu listisch, sondern völkisch.13 5. Auf der zweiten Schiene populistischer Organisation in den Ländern der weniger entwickelten Welt finden wir im 20. Jahrhundert einen anderen Typ von Populismus: Umfassende antiimperialistische nationale Bewegungen (in den kolonisierten Ländern: nationale Befreiungsbewegungen) mit bestimmten definierten Entwicklungsprogrammen und -projekten. Diese Bewegungen ver stehen sich oft ausdrücklich als ›Populisten‹. Sie zeigen das typische populistische Janusgesicht nicht nur gegenüber dem Kapitalismus und dem Staat, sondern auch gegenüber der Modernisierung, und sie gehen weit hinaus über Protestbewegungen. Sie sind, im Gegensatz zu diesen, durchaus »regimefähig«, und einige der ›Drittwelt‹- oder Entwicklungspopulismen haben beachtliche politische Erfolge vorzuweisen, vor allem in ihrer ›klassischen‹ Periode zwischen den 1930er und den 1970er Jahren.14 11 Vgl. u. a. zuerst S. Hoffmann, Le mouvement Poujade, Paris 1956. 12 H. Rogger u. E. Weber (Hg.), The European Right, Berkeley 1966. 13 Vgl. Puhle, Agrarbewegungen, und die ersten beiden Beiträge in diesem Band. 14 Diese Zusammenhänge vernachlässigt Karin Priester, wenn sie Populismen kategorisch für »nicht regimefähig« erklärt (und die Regime entsprechend umdefiniert): K. Priester, Populismus. Historische und aktuelle Erscheinungsformen, Frankfurt 2007.
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Die Mechanismen sind relativ einfach. Wer in unterentwickelten Ländern dauerhafte Entwicklung anstrebt und ihre ökonomische und politische Abhängigkeit von der entwickelteren Welt verringern will, muss politische und soziale Ressourcen mobilisieren und möglichst breite Koalitionen zur Abstützung solcher entwicklungsorientierter Politik zusammenbringen. Der Einsatz nationalistischer Ideologie und Rhetorik bietet sich dazu an. Nationalismus fördert die nationale Integration im Lande, lässt sich als Antiimperialismus nach außen wenden, lenkt ab von den sozialen Spannungen und Konflikten im Innern und rechtfertigt die Zumutung von Opfern ebenso wie den klassenübergreifenden Appell an alle, ans ›Volk‹. Solcher Nationalismus weist in Ideologie und Propaganda einen hohen Anteil populistischer Züge auf, die noch verstärkt werden durch die emphatische Gegnerschaft zu den altetablierten Oligarchien, den breiten Ausbau der nationalistischen Partei im Lande in möglichst allen gesellschaftlichen und Altersgruppen und Produktionssektoren, durch hohe Mobilisierungsraten, angeschlossene genossenschaftliche Organisationen und die Legitimationsversuche charismatischer Führer durch Umverteilung oder vermehrte Verteilung und Massenmobilisierung bei gleichzeitiger Massenkontrolle. Dekolonisierte Welt: Solche Entwicklungs-Populismen waren z. B. der Kemalismus in der Türkei (gewisse Anklänge gibt es auch in der Regierung von Venizelos in Griechenland), die chinesische Kuomintang (KMT), die indonesische Unabhängigkeitsbewegung unter Sukarno, die indische Kongresspartei, die J anaat-Partei in Pakistan und auch die klassischen Anfänge der Dekolonisationsbewegungen in Schwarzafrika, unter Nkrumah in Ghana und Kenyatta in Kenia, unter Nyerere in Tanganyika (resp. Tansania) und die Bewegungen, die später kamen. Im arabischen Raum wären hier insbesondere zu nennen die Bewegung unter Nasser in Ägypten, die Baath-Partei im Irak und in Syrien, die FLN in Algerien. Neuere islamistische Bewegungen weisen zwar in vielen Ländern auch starke populistische Komponenten auf, sollten aber, soweit sie theokratische Ziele haben, ebenso wenig unter die Populismen gerechnet werden wie der chinesische Maoismus oder andere marxistisch-leninistische Bewegungen oder Regime. Lateinamerika: Besonders differenziert haben sich solche entwicklungsgerichteten Populismen in Lateinamerika entwickeln können, auch aufgrund des längeren Vorlaufs in der Ausprägung eigenständiger Gesellschafts- und Politikstrukturen. Hier lässt sich die Dominanz populistischer Bewegungen und Regime geradezu als Kennzeichen einer bestimmten fortgeschritteneren Entwicklungsepoche verstehen, einer Blütezeit ›populistischer‹ Konzepte grosso modo zwischen den 1930er und 1970er Jahren. Selbst wenn man den Begriff ›populistisch‹ relativ eng interpretiert und die reformistischen ›Radikalen‹ (d. h. die Linksliberalen), die seit den 1920er Jahren in Argentinien und Chile, vorher schon in Uruguay eine staatsinterventionistische Entwicklungspolitik einleiteten, mangels Massenorganisation ebensowenig dazurechnet wie Linksparteien mit eindeutiger Klassenbasis, gibt es nur wenige Länder in Lateinamerika, die in jenen Jahrzehnten keine populistische Bewegung aufgewiesen haben. 100
Von ›Populismus‹ hat man dort nach der bekannten Definition von Torcuato Di Tella insbesondere dann gesprochen, wenn Eliten aus den Mittelklassen (also nicht aus der traditionellen Oligarchie) die Massen unterhalb der Mittelschichten, also wesentlich Arbeiter, kleine Angestellte, Bauern und die Marginalexistenzen klassenübergreifend zu mobilisieren trachten mit einer nationalistischen und antiimperialistischen anti-status-quo-Ideologie und zum Zwecke reformistischer oder revolutionärer (oft auch »nationalrevolutionär« genannter) Veränderungen.15 Zusätzlich zu der staatsinterventionistischen Industrie förderungs- und Erziehungspolitik der ihnen meistens vorangegangenen Radikalen (die sie fortsetzten) forderten die Populisten in der Regel vor allem die Nationalisierung der Bodenschätze und eine durchgreifende Agrarreform. Darüber hinaus haben sie die Bildung landwirtschaftlicher Genossenschaften befürwortet, eine arbeiter- und unterschichtenfreundliche Sozialpolitik, den Ausbau der importsubstituierenden heimischen Industrie und einer ›mixed economy‹, gelegentlich auch die Nationalisierung der Banken. Die lateinamerikanischen Populistenbewegungen sind, mit wichtigen Ausnahmen, bei denen Bauernprotest eine entscheidende Rolle spielte,16 überwiegend in den Massen der städtischen Bevölkerung verankert gewesen, denen sie neue Partizipationschancen und -kanäle anboten. Sie mobilisierten primär für die Wahlurne, und die unter ihrem Druck vorgenommene Ausweitung des Wahlrechts bis zu über 50 % der Bevölkerung hat in den meisten Ländern beachtliche Dimensionen gehabt.17 Die Bewegungen sind allerdings höchst verschieden gewesen in Bezug auf ihre soziale Basis, ihre Mobilisierungskanäle und ihre politischen Interaktionsund Herrschaftstechniken. Wenn man die Feinheiten weglässt, kann man grob vier Gruppen unterscheiden: 1. Umfassende Systeme nachrevolutionärer Stabilisierung: Hierher gehören die Herrschaft des PRI in Mexiko (ab 1929) und des MNR in Bolivien (nach 1952); 2. Autoritäre Entwicklungsdiktaturen: Vargas in Brasilien und Perón in Argentinien; 3. Ältere demokratische Reformparteien: z. B. APRA in Peru, PLN in Costa Rica, AD in Venezuela, der PRD in der Dominikanischen Republik, vom Typ her auch die Koalition der Unidad Popular in Chile (1970–73); 15 Vgl. T. S. Di Tella, Populism and Reform in Latin America, in: C. Veliz (Hg.), Obstacles to Change in Latin America, Oxford 1965, S. 47–74. M. L. Conniff (Hg.), Populism in Latin America, Tuscaloosa 1999; G. Hermet u. a. (Hg.), Del populismo de los antiguos al populismo de los modernos, México 2001. 16 Vgl. H. J. Puhle, Bauern, Widerstand und Politik in Lateinamerika, Asien, Afrika, in: M. Mann u. H. W. Tobler (Hg.), Bauernwiderstand: Asien und Lateinamerika in der Neuzeit, Wien 2012, S. 27–68, und in diesem Band. 17 Vgl. u. a. R. B. Collier u. D. Collier, Shaping the Political Arena. Critical Junctures, the Labor Movement, and Regime Dynamics in Latin America, Princeton 1991; H. J. Puhle, Zwischen Diktatur und Demokratie. Stufen der politischen Entwicklung in Lateinamerika im 20. Jahrhundert, in: W. L. Bernecker u. a. (Hg.), Lateinamerika 1870–2000. Geschichte und Gesellschaft, Wien 2007, S. 15–33.
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4. Jüngere Reformparteien: Das sind vor allem die diversen Christdemokraten, deren besonders Kennzeichen oft der Appell an die marginados gewesen ist, vor allem in Chile, Venezuela und den Ländern Zentralamerikas. Auch die Belaúnde-Partei in Peru ist hier zu nennen. Einige Autoren haben versucht, Populismus in Lateinamerika einer bestimmten Epoche zuzuordnen, in der bestimmte, modernisierungstheoretisch inspirierte Entwicklungsstrategien dominierten, die inneren Märkte sich konsolidierten und die Widersprüche zwischen abhängiger Wirtschaft und nationaler Gesellschaft zunahmen.18 Nach Ernesto Laclau’s gramscianisch inspirierter Interpretation aus den 70er Jahren ist Populismus zunächst vor allem eine raffinierte Umarmungstaktik der herrschenden Klasse zum Zwecke der Aufrechterhaltung ihrer Hegemonie, die sie nur bewahren kann, indem sie ans ›Volk‹, an die Leute appelliert und sich vom verkrusteten oligarchischen Machtkartell der Vergangenheit löst, eine Strategie des Übergangs, der irgendwann konsequenterweise im Sozialismus enden müsse.19 Letzteres zumindest ist nicht der Fall gewesen. 6. Es gibt sowohl Kontinuitäten als auch deutliche Brüche zwischen diesen Klassikern und den vielen als populistisch bezeichneten Bewegungen oder Regimes der Gegenwart, sowohl in der ›Ersten‹ als auch in der ›Dritten Welt‹. Die Differenzen legen gelegentlich deutliche Periodisierungsschranken nahe, aber die Gemeinsamkeiten durchlöchern diese auch. Ein vielleicht tragfähiger Interpretationsansatz könnte davon ausgehen, für beide populistischen Entwicklungsschienen jeweils zwischen zwei Phasen zu unterscheiden: – Bei den Protestpopulismen der entwickelten Welt zwischen einer ersten Phase des Protests gegen den stärker verklammerten und organisierten Kapitalismus und den Steuerstaat, und einer zweiten Phase, in der sich der Protest gegen den entfalteten bürokratischen Sozial- und Leistungssstaat und die weiteren Errungenschaften des »sozialdemokratischen Jahrhunderts« richtet, gegen die Folgen transnationaler Wanderungen und die Phänomene der Globalisierung, in Europa zusätzlich noch gegen die zunehmende europäische Integration und die EU. – Die Projekte der Entwicklungspopulisten richteten sich in einer ersten Phase vor allem gegen den klassischen Imperialismus der Industrieländer, und in jüngerer Zeit vor allem gegen die Wirkungen der Globalisierung, neoliberale Wirtschaftsstrategien (›Washington consensus‹) und die Hegemonie ›westlicher‹ Paradigmen und Vorbilder. Hier sind die Übergänge fließender und die Kontinuitäten stärker. Gelegentlich ist auch eine andere Differenzierung vorgeschlagen worden, nämlich zwischen Populisten und Neo-Populisten: 18 Z. B. O. Ianni, La formación del Estado populista en America Latina, México 1975. 19 E. Laclau, Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus – Faschismus – Populismus, Berlin 1981, S. 123–185; vgl. auch F. Panizza (Hg.), Populism and the Mirror of Democracy, London 2005.
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Die ersten sind die, die den Staat als Vehikel für Entwicklungsstrategien einsetzen, während ihn die zweiten eher als Beute betrachten und ausplündern, bei mehr und mehr zerfasernden und fragmentierten Projekten.20 Die NeoFraktion würde sich in meiner Terminologie nicht mehr für Populismus als ›-ismus‹ qualifizieren. Die Silben ›neo‹- oder ›post‹- indizieren ja durchweg, dass es eigentlich kein ›Projekt‹ mehr gibt. 7. Die Beispiele für die jeweils jüngeren Phasen sind vielfältig, und man sollte auch hier sorgfältig unterscheiden, ob einzelne Fälle tatsächlich zu den inhaltsdefinierten ›Populismen‹ zu rechnen sind, oder ob sie eher formal bestimmt sind, also nur ›populistisch‹, im Adjektiv; ob sie lediglich Protest artikulieren oder ein bestimmtes Projekt vorantreiben, ob sie überwiegend special interests verhaftet sind oder in Ideologie und Mobilisierung darüber hinausgreifen, ob sie die Mechanismen und Institutionen mehr oder weniger demokratischer Systeme stützen, korrigieren oder beschädigen, usw. ›Dritte Welt‹: In den Ländern der weniger entwickelten Welt scheint die Wirkkraft der entwicklungsgerichteten populistischen Bewegungen und Regime seit dem Ende der Dekolonisierung und dem Einsetzen der Stagflationskrise in den 1970er Jahren zurückgegangen zu sein. Verstärkt wurde diese Tendenz noch durch eine Welle autoritärer Regime neuen Typs in den 1970er und 80er Jahren und vor allem durch um sich greifende neo-liberale Reformrezepte, die sich von staatsinterventionistischen Entwicklungsstrategien abwandten, und das intensive Fortschreiten der Globalisierung, das die Wirkung solcher Strategien in nur einem Land ohnehin immer mehr einschränkte. Vielerorts, besonders in Afrika und einigen Teilen Asiens, haben (projektlose) kleptokratische Gewaltregime, religiöse Fundamentalismen, Fragmentierung, Unregierbarkeit und failing states um sich gegriffen. Mehr Kontinuität und Anknüpfungen an die klassischen antiimperialistischen, nationalrevolutionären Populismen der früheren Dekaden gibt es in Lateinamerika, nicht nur in den Traditionslinien der Parteien und Koalitionen, die noch im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in Argentinien, Chile oder Peru regierten, sondern vor allem auch in einigen neueren populistischen Bewegungen mit einiger Resonanz: Die Zapatisten in Chiapas berufen sich auf die Forderungen und Grundsätze der mexikanischen Revolution und ethnisieren sie weiter. Ganz ähnlich knüpft die Regierung des MAS von Evo Morales in Bolivien (in etwa 80 % ihrer Programmatik) an die Revolution des populistischen MNR von 1952 an, deren Errungenschaften endlich gesichert und weiterentwickelt werden sollen zu mehr Inklusion, mehr direkter Partizipation und Respekt für die indigenen Traditionen. Komplexer sind die Fälle neuer Populismen in Ländern ohne vorausgegangene Revolution, wie in Ecuador, Paraguay, Peru und vor allem im Venezuela des Hugo Chávez, der sich weniger auf indigene oder spezifisch venezolanische Traditionen berufen hat (nur auf 20 Vgl. N. Werz (Hg.), Populismus. Populisten in Übersee und Europa, Opladen 2003.
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Bolívar!) und dessen erratisches Programm und Regime eine abenteuerliche Mischung libertär-putschistischer, faschistischer, peronistischer, marxistischleninistischer, antiimperialistischer und nationalrevolutionärer Züge präsentierte, eine einmalige sozusagen ›gesamtpopulistische‹ Mischung. USA: Auch in den USA sind bestimmte Kontinuitätslinien sichtbar, aber hier sind die populistischen Traditionen schon früh im Progressive Movement kanalisiert und in beide großen Parteien integriert worden, so dass sie weitgehend politisches Gemeingut wurden und durchweg keiner eigenen populistischen Bewegung mehr bedurften. Nur in bestimmten Phasen und Situationen haben sich punktuelle Protestbewegungen oder ›dritte‹ Parteien auch deutlich auf das populistische Protestpotential berufen, von Huey Long und Father Coughlin im Anti-New Deal Protest der 1930er Jahre über George Wallace in Alabama in den 60er Jahren bis zu Ross Perot in den 90ern.21 Zeitweise mochte es so scheinen, als wären die populistischen Protestenergien in den USA weitgehend erfolgreich integriert worden in die Institutionen und politischen Prozesse der ältesten und am wirksamsten organisierten populistischen Demokratie der Welt. Demgegenüber ist es unter dem Druck ökonomischer Krisen, vermehrter Masseneinwanderung aus dem ›Süden‹, einer perzipierten ›Europäisierung‹, fundamentalistischer revivals und einer hochgradigen sozialen und politischen Polarisierung hier gerade in jüngster Zeit wieder zu erheblichen Manifestationen von Basisprotesten gekommen, die über die üblichen rassistischen und xenophoben Phänomene in diversen Vereinen, Sekten und Medien (z. B. Fox TV, Rush Limbaugh) hinausgehen, vor allem in den (heterogenen) Gruppen der Tea Party-Bewegung und (auf der anderen Seite, und schwächer) in den Aktionen der ›Occupy‹-Aktivisten. Europa: In Europa sind dagegen die überwiegend parlamentarischen Demokratien wesentlich weniger adaptionsfähig für Populismus oder populistische Praktiken gewesen, sodass die entsprechenden Bewegungen weiterhin deutlicher auch den Anti-System-Protest artikuliert haben. Wenn man einmal absieht von besonderen Einfallstoren für populistische Politik in den europäischen Demokratisierungsprozessen seit den 1970/80er Jahren, im importierten ›Drittwelt‹-Populismus des griechischen PASOK unter Andreas Papandreou22 und besonders in einer ganzen Reihe von breiten Sammlungsbewegungen, Bürgerforen oder nationalistischen, fundamentalistischen und personalistischen politischen Gefolgschaften in den Ländern Mittel- und Osteuropas nach dem Ende des Kommunismus, dann haben wir es hier im wesentlichen mit neueren Protest- und Verweigerungsbewegungen zu tun, mit populistisch agierenden xenophoben Rechtsextremen oder Neo-Völkischen (die oft auch ›Rechtspopulisten‹ genannt werden), sowie mit EU- und Europa-Kritikern, und mit (überwiegend ›linken‹) Globalisierungskritikern, ›Empörten‹ und Besetzern öffentlicher Räume, die sich zunehmend systemkritisch artikuliert und organisiert 21 Vgl. Puhle, Agrarbewegungen, S. 172 ff. 22 Vgl. u. a. D. A. Sotiropoulos, Populism and Bureaucracy, Notre Dame 1996.
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haben. Besondere Fälle stellen dabei zum einen die Kumulation unterschiedlicher Typen in Italien seit den 1990er Jahren dar (darunter Populisten ebenso wie Schein-Populisten), und zum anderen die Entwicklung wirksamer ›AntiSystem‹-Parteien in Griechenland und Spanien im Gefolge der Wirtschaftskrise in den 2010er Jahren. Beide Phänomene haben auch die Parteiensysteme der jeweiligen Länder verändert. Grosso modo lassen sich mindestens vier Kategorien unterscheiden: (1) In einem ersten cluster finden wir die sogenannten ›Rechtspopulisten‹. Zu deren ›Klassikern‹, gehören u. a. die folgenden: – in Skandinavien vor allem die Fortschrittsparteien, am ehrwürdigsten die von Carl Hagen in Norwegen, in Dänemark die ältere Glistrup-Bewegung und neuerdings die Volkspartei um Pia Kjaersgard; die Schwedendemokraten und die Wahren Finnen; – weiter südlich u. a. der Front National von Le Pen in Frankreich, die Haidersche FPÖ und deren weitere Splittergruppen in Österreich, der Front National und der Vlaams Blok/Belang in Belgien, Blochers UDC in der Schweiz, die British National Party, oder das Demokratische Zentrum in den Niederlanden. Eher untypisch, weil ›zivilisierter‹, erscheinen dort die Bewegungen von Pim Fortuyn und Geert Wilders. – In Deutschland hat sich der Blick vor allem auf die NPD, die Republikaner, die DVU und die kurzlebige Hamburger Schill-Partei gerichtet; – in Italien kommen am ehesten die diversen Leghe infrage, die sich in der Lega Nord zusammengeschlossen haben, während Berlusconis Forza Italia eher ein autoritär geführtes Unternehmen mit populistisch manipuliertem Massenanhang ist. Hinzurechnen mag man auch die neueren ›rechts‹ argumentierenden AntiEuropa-Bewegungen, besonders in Polen und Irland, die English Defence League und die UK Independence Party (UKIP) in Großbritannien und die programmatisch noch diffuse AfD in Deutschland. (2) Die populistischen Protestbewegungen einer zweiten Gruppe sind nicht ›rechts‹: Die Anti-Globalisierungsbewegungen haben eher ein intellektuelles und ›linkeres‹ Profil, z. B. attac, BUKO, Global Trade Watch, etc. Oft sind diese Bewegungen allerdings nur mobilisierte Eliten-Netzwerke; sie sind aber punktuell auch zum Massenprotest fähig, wie man von Porto Alegre über Seattle bis Heiligendamm hat sehen können. Und ihre Ziele sind immerhin breit genug gespannt, um die (für eine ›Populismus-Qualifikation‹ wichtige) Einrede auszuräumen, es könnte sich um bloße single issue-Bewegungen handeln (wie z. B. zahlreiche Umweltinitiativen oder ›Stuttgart 21‹). (3) Eine dritte Gruppe könnte man ›Populismen in neuen Demokratien‹ nennen, populistische Bewegungen und Parteien, die in den süd- und osteuropäischen Demokratisierungsprozessen der ›dritten‹ oder ›vierten Welle‹ (nach 1974 und nach 1989) entstanden sind, wie die oben bereits genannten: P ASOK in Griechenland und die diversen breiten Bürgerforen in vielen ehemals kom105
munistischen Ländern. Einige der letzteren haben allerdings auch dokumentiert, dass man sie möglicherweise besser als (z. T. unrekonstruierte) nationalistische und ultranationalistische Bewegungen einordnen sollte denn als ›populistische‹, die serbischen und kroatischen Nationalisten schon früher, FIDESZ in Ungarn relativ spät. (4) Die gegenwärtig womöglich interessanteste (wenn auch eine sehr diffuse) Gruppe machen jene Bewegungen aus, die sich in Reaktion auf die neuere europäische Finanz- und Strukturenkrise ab 2008 und auf die Rettungsstrategien der Staaten und Finanzinstitutionen als neue populistische Protestbewegungen formiert haben. Dazu gehören vor allem die diversen ›Occupy‹ und ›Blockupy‹- Bewegungen (darunter viele Globalisierungsgegner), die ›Indignados‹ der Puerta del Sol in Madrid und anderswo, von denen sich viele der neuen systemkritischen spanischen Protestpartei Podemos angeschlossen haben, und in Griechenland die außerordentlich erfolgreiche Syriza, die als Protestkoalition deutlich populistische Züge hat, obwohl ein grosser Teil ihres harten Kerns aus der kommunistischen Partei (KKE und Synaspismos) kommt.23 Sie alle haben, in geradezu klassischer und idealtypischer Form, mobilisiert gegen die Banken und den Kapitalismus, gegen den Staat, die politischen Parteien und Eliten, gegen das ›System‹, die Europäische Union, die internationalen Finanzinstitutionen (IFI) und die Folgen der ›Globalisierung‹, sie sind eingetreten für ›unvermittelte‹ Politik und direktdemokratische Strukturen, für mehr Gerechtigkeit und ›Respekt‹, besonders für die ›underdogs‹ und sie haben in den einschlägigen Kategorien von Verschwörungstheorien und moralischer Empörung argumentiert. Die einzelnen Bewegungen dieser letzten Welle europäischer Populismen können hier nicht näher gewürdigt werden. Zusammen mit den nordamerikanischen Erfahrungen machen sie deutlich, dass auch die entwickeltere westliche Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts offenbar einen ›populistischen Moment‹ erlebt, d. h. eine Situation, in der die Phänomene politischer Enttäuschung, Frustration und Entfremdung (desencanto, disaffection, etc.) besonders stark empfunden werden und auf der Suche nach Verbesserung geradezu eine ›Sehnsucht nach Populismus‹ aufgebaut wird, als Gefäß und Vehikel für bislang diffuse Protestenergien. Dieser Mechanismus ist an sich nicht sonderlich neu, ebenso wie die übliche Begründung mit einer ominösen ›Krise der Repräsentation‹, deren Symptome auch oft übertrieben werden und deren Existenz ohnehin schon lange zum ewigen ceterum censeo von Autoritären, Libertären und Populisten gehört hat. Aber es deutet doch einiges darauf hin, dass gegenwärtig die Tendenzen in diese Richtung durch eine Reihe von Faktoren deutlich verstärkt worden sind, darunter den polarisierenden Folgen der jüngsten ökonomischen und politischen Krisen und ihrer Lösungsstrategien und wichtigen Ver-
23 Die anderen griechischen Neugründungen sind weniger populistisch als vielmehr ultranationalistisch (LAOS) oder (neo-)faschistisch (Chrysi Avgi/Goldene Morgenröte).
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änderungen der Bedingungen politischer Organisation, auf die abschließend noch einzugehen sein wird. Zuvor sind allerdings noch ein paar kurze Bemerkungen zur Präzision des Begriffsgebrauchs nötig.
3. Populismus, populistische Politik und Demokratie 8. Wenn wir nicht alle Politiker, die dem Volke aufs Maul schauen oder es verführen, jedenfalls ans Volk appellieren und auf die Pauke hauen (also tendenziell alle demokratischen Politiker mit Trieb zum Erfolg), unterschiedslos zu Populisten erklären wollen (womit der Erklärungswert der Kategorie gegen Null ginge), sollten wir den Terminus nicht zu weit fassen. Es ist deshalb auch nicht unbedingt nötig, alle gerade genannten Gruppen als Populisten zu klassifizieren. Hier sind in der Literatur schon viele kleinteilige Scheingefechte geführt worden, z. B. zur angeblichen Differenz zwischen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus, zur notwendigen Klassenbasis oder zur hinreichenden ideologischen Konstellation. Ob wir etwas als ›Populismus‹ verstehen wollen, hängt davon ab, wie wir den Begriff definieren. Und wir sollten ihn so definieren, dass er uns bei der Analyse der Phänomene hilft. Man kann z. B. reaktionäre oder nationalistische Rechtsextreme, Angehörige der ›Neuen Rechten‹, alte oder neue Völkische, Prä- oder Postfaschisten nach ihrer politischen Programmatik inhaltlich definieren, auch wenn sie sich populistischer Strategien und Instrumente bedienen, so wie das auch für populistisch agierende Politiker aus den klassischen Parteienfamilien gilt, von Schumacher und Strauß bis zu Koch, Lafontaine oder Gysi. Sie alle mögen unter anderem auch populistisch agieren, aber in erster Linie stehen sie für etwas anderes. Auch single interest-Bewegungen, etwa von Umweltschützern, französischen Winzern oder bayerischen Milchbauern, sind keine Fälle für Populismen. Anders kann es bei breiteren und facettenreicheren Protest-, Verweigerungs- und Anti-System-Bewegungen aussehen, solange diese nicht inhaltlich spezifischer charakterisierbar sind, z. B. als Faschisten, Kommunisten, Anarchisten, Islamisten, o. ä. Da die spezifischere Charakterisierung immer komparative Vorteile hat, sollte man sich, wenn sie zutrifft, zunächst an sie halten, und den ›Populismus‹ womöglich eher als Residualkategorie für die Fälle einer noch verbliebenen inhaltlichen Wolkigkeit reservieren. Diese Unspezifik darf aber auch nicht zu beliebig sein: Protest, Anti-System-Programmatik und breite Mobilisierung im Namen des Volkes oder wenigstens seiner Mehrheit der Entrechteten muss schon sein, um eine Bewegung als Populismus zu qualifizieren. Von den zuletzt genannten europäischen Bewegungen kämen demnach eher die skandinavischen Fortschrittler, Pim Fortuyn, Wilders, die Blocher-Bewegung in der Schweiz, die italienischen Leghe, die Europa- und Globalisierungsgegner, UKIP, die AfD sowie die ›Occupy‹-Gruppen, Syriza und Podemos als Kandidaten infrage. 107
Interpretationsangebote gibt es zahlreiche. Sie können hier nicht im Einzelnen vorgestellt werden. Manche Autoren haben sieben oder mehr unterschiedliche Typen von Populismus unterschieden.24 Für die entwicklungsgerichteten ›Drittwelt‹-Populismen scheint mir der schon erwähnte Ansatz von Torcuato Di Tella immer noch belastbar und weiterführend zu sein:25 Klassenübergreifende Mobilisierung der Unterschichten durch Mittelschichteliten gegen die »Oligarchie« und das Ausland mit antiimperialistischer und nationalistischer Spitze zum Zwecke der reformistischen oder revolutionären staatsinterventionistischen Durchsetzung umfassender, aber begrenzter autonomer Modernisierungsstrategien. Für die Populismen der OECD-Welt wäre es sinnvoll, sich besonders auf die programmatisch (oder projekthaft) relativ unspezifischen (und auch wenig Strukturen bildenden) antimodernen Protestbewegungen und Revolten zu konzentrieren, die überwiegend, aber nicht nur von sich bedroht fühlenden Mittelschichten getragen werden. Man darf allerdings diese Spielart nicht für das ganze Tableau der Populismen weltweit nehmen, wie Karin Priester das tut.26 9. Was außerdem ständig, und, wie es scheint, immer mehr präsent ist, sind die variantenreichen Phänomene populistischer Politik, die instrumentellen und stilistischen Komponenten. Während populistische Konzepte und Inhalte in den letzten Jahrzehnten insgesamt in der Welt brüchiger, fragmentierter und weniger spezifisch geworden zu sein scheinen, haben populistische Arten und Weisen des Transports und der Kommunikation jeder denkbaren Politik offenbar auf breiter Front zugenommen. Dies hängt auch zusammen mit einem grundlegenden weiteren Strukturwandel der Konstellationen und Bedingungen politischer Organisation und Interaktion, der die zwei bis drei Jahrzehnte rund um die Wende zum 21. Jahrhundert sehr wahrscheinlich auch in dieser Hinsicht als eine wichtige Epochenscheide (sozusagen als ›threshold 21‹) wird in die Geschichtsbücher eingehen lassen. Dieser säkulare Wandel in vergleichsweise kurzer Zeit ist angestoßen, beschleunigt und verstärkt worden durch eine ganze Reihe von Faktoren, die sich insgesamt mindestens sieben wichtigen Prozessen von strategischer Bedeutung zuordnen lassen. Diese sind: 1. die Nachwirkungen der Krise von staatlicher und gesellschaftlicher Organisation, Zentralisierung und Regulierung seit den 1970er Jahren, 2. die schubweise Zunahme von Globalisierung sowie der Proteste dagegen, 3. die Auswirkungen der jüngeren Finanz-, Wirtschafts- und Strukturkrise, insb. seit 2008, 24 So M. Canovan, Trust the People! Populism and the two faces of democracy, in: Political Studies, Jg. 47, 1, 1999, S. 2–16. Vgl. den Überblick und die weiteren Hinweise bei K. Priester, Rechter und linker Populismus. Annäherung an ein Chamäleon, Frankfurt 2012. 25 T. S. Di Tella, Populism and Reform in Latin America; ders., Populism into the Twentieth Century, in: Government and Opposition, Jg. 22, 1996, S. 187–200. 26 Priester, Populismus, 2007.
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4. die Verfügbarkeit und der Einsatz neuer elektronischer Medien, insb. des Internet und der sozialen Medien, die hingewirkt haben auf 5. eine umfassende Medialisierung der Politik und eine deutliche Verstärkung und neue Akzentuierung des schon hundert Jahre zuvor begonnenen ›Strukturwandels der Öffentlichkeit‹ (sozusagen ›Habermas II‹) und des Charakters des ›Politischen‹.27 Dies fördert 6. die Durchsetzung der Mechanismen populistischer Demokratie auf breiter Front, in einem günstigen Kontext voller ›windows of opportunity‹ und ›populistischer Momente‹. 7. Für den europäischen Kontext muss noch ein siebenter Faktor genannt werden: die Intensivierung der europäischen Integration in den Institutionen der EU, die zunehmend mehr zwischenstaatliche Koordination und Einordnung erzwingt, bei einem gefühlten ›Demokratiedefizit‹ und bei gleichzeitig unterentwickelter institutioneller Phantasie für die Gestaltung der europäischen Zukunft, und dies unter dem Druck der Krise und ihrer Therapien. Dazu nur ein paar kurze Hinweise: (1) Die Folgen der ›Stagflations‹-Krise haben, wie schon im vorhergehenden Beitrag über die Parteien erwähnt, bereits seit den 1970er und 80er Jahren staatliche Regulierungskonzepte und Keynesianische Instrumente diskreditiert und ›neo‹-liberalen Paradigmen und Programmen (die nicht immer ›neo‹ waren) zeitweise zur Hegemonie verholfen. Der beherrschende Trend eines ganzen Jahrhunderts hin zu vermehrter und dichterer (bürokratischer) Organisation und Zentralisierung wurde dabei umgekehrt: Weniger Staat, weniger Regulierung, weniger (zentrale) Organisation wurden für erstrebenswert gehalten. Das galt auch für die politischen Akteure, und besonders für die Parteien, die fragmentierter wurden und an Bindekraft verloren. (2) Gleich zeitig haben die Folgen zunehmender Globalisierung, vermehrter transnationaler Austausch und der Machtzuwachs globaler Akteure und der Finanzmärkte soziale Polarisierungen verstärkt und weltweite Proteste der ›Globalisierungsgegner‹ ausgelöst, die in Europa oft mit dem Widerstand gegen die Institutionen und Politiken der Europäischen Union zusammenfielen. (3) Die jüngere Finanzund Strukturenkrise ab 2008, die diversen ›Rettungs‹-Programme (vor allem in Europa) und die vehementen Reaktionen und Mobilisierungen dagegen haben diese Mechanismen noch zusätzlich intensiviert. Derartige Konstellationen haben spezifisch populistische Agitationsmuster geradezu herausgefordert: Sie haben eine Situation zugespitzt, in der es einerseits neue Modernisierungsverlierer gibt, echte wie perzipierte, und andererseits leicht vermittelbare Sündenböcke, von den internationalen Großkorporationen und ausufernden bürokratischen Regelwerken bis zu den internationalen Finanzinstitutionen (IFI) und kulturell differenten arbeitswilligen Einwanderern. Sie konstituieren ein ideales Feld für 27 Zu dem vorausgegangenen ›Strukturwandel der Öffentlichkeit‹ rund hundert Jahre früher, um die Wende vom 19. zum 20. Jht., vgl. J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt 1990 (Neuwied 1962), sowie auch die ersten Beiträge dieses Bandes.
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dichotomische Identitätspolitik, für Fragen nach Inklusion, Exklusion und Gerechtigkeit, und vor allem auch für Verschwörungstheorien. (4) Hinzu kommt, dass die neuen elektronischen Medien, new campaign poli tics und neue Kommunikations- und networking-Techniken (vor allem über die social media) die direkte, unvermittelte Kommunikation zwischen dem poli tischen Spitzenpersonal und den einzelnen Bürgern betont, die politische Organisation fragmentiert und die Kampagnen mehr personen-, event- und sensationszentriert, mehr kurzfristig ausgerichtet und im ganzen ›unterhaltsamer‹ gemacht haben (Stichwort: Politainment), alles Faktoren, die (5) die Medialisierung (der Terminus ›Mediatisierung‹ wäre wohl missverständlich) der Politik vorangetrieben und dazu beigetragen haben, den im Gefolge von Habermas von zahlreichen Autoren schon seit längerem thematisierten Umschlag von ›liberaler Öffentlichkeit‹ in manipulierte und ›akklamative Öffentlichkeit‹28 auf eine neue Qualitätsstufe zu heben. (6) Das bemerkenswerteste Ergebnis dieses säkularen Umschlags (oder dieses ›threshold‹) ist wahrscheinlich die Durchsetzung der Mechanismen populistischer Demokratie auf breiter Front. Mit ›populistischer Demokratie‹ ist hier etwas anderes gemeint als ›Populismus‹ oder (›bloß‹) ›populistische Politik‹: Ich verstehe darunter (als Grundannahme, als System und als Praxis) eine direkte und unvermittelte (›Immediat‹-)Beziehung zwischen den Wählern und den führenden Politikern sowie die Fiktion (oder das simulacrum) einer permanenten Kommunikation zwischen beiden in beide Richtungen, so wie es zuerst in der amerikanischen Präsidentschaft institutionalisiert worden ist, und wie es auch dem Konzept von Max Weber’s »plebiszitärer Führerdemokratie« entsprechen würde.29 ›Populistische Demokratie‹ in diesem Sinne hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in nahezu allen westlichen Demokratien durchgesetzt, und zwar in zwei Wellen, oder Stufen: Kennzeichen der ersten Stufe waren die schon länger bemerkten (oft allmählichen) Prozesse einer ›Präsi dentialisierung‹ der parlamentarischen Regierungssysteme, vor allem in Europa (›prime ministerial government‹, ›Kanzlerdemokratie‹, etc.), in denen die ›repräsentativen Komponenten‹ der demokratischen Verfassungsstaaten (Fraenkel)30 28 Vgl. z. B. schon die Beiträge in: W. D. Narr u. C. Offe (Hg.), Wohlfahrtsstaat und Massenloyalität, Köln 1975. Der bahnbrechende und einsichtsvolle Klassiker der Debatte um diese und weitere Mechanismen populistischer Demokratie ist natürlich der ›18. Brumaire‹, der nicht zufällig jüngst wieder in einer von Hauke Brunkhorst besorgten und kommentierten Taschenbuchausgabe herausgegeben worden ist: K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852), in: K. Marx u. F. Engels, Werke (MEW), Bd. 8, Berlin 1960, S. 111–207; id., Frankfurt 2007. 29 Vgl. vor allem M. Weber, Deutschlands künftige Staatsform (1918/19), und: Politik als Beruf (1919), in: ders., Ges. Politische Schriften, Tübingen 1971, S. 448–483, 504–560, sowie: H. J. Puhle, Liderazgo en la política. Una visión desde la historia, in: L. Mees u. X. M. Núñez Seixas (Hg.), Nacidos para mandar? Liderazgo, política y poder en el siglo XX, Madrid 2012, S. 23–43, bes. 32. 30 Vgl. E. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964, bes. S. 71–109.
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zunehmend ausgehöhlt und verdrängt worden sind durch plebiszitäre, direkt demokratische Komponenten. In einer zweiten Welle haben die neuen Konstellationen des erwähnten Strukturwandels am Ende des 20. und am Anfang des 21. Jahrhunderts diese Tendenzen stark beschleunigt, ideologisch und vor allem auch ›elektronisch‹ verfeinert, intensiviert und weiter verstärkt, so dass man versucht ist festzu stellen, dass inzwischen dort, wo es Demokratien gibt, die populistische Demokratie ›the only game in town‹ ist. In einer Reihe neuerer Analysen werden entsprechende Feststellungen oft zusammengesehen mit anderen Befunden, die sich zentrieren um Perzeptionen von ›Krisen‹: der ›Repräsentation‹, der Parteien, oder demokratischer Politik überhaupt in hochgradig verflochtenen Zusammenhängen in einer unübersichtlichen Zeit. Die Interpretationen variieren allerdings ebenso wie die Vorschläge zur Therapie, und mindestens vier Argumentationslinien lassen sich grob unterscheiden: Erstens eine führungszentrierte top-down-Interpretation der Politik, wie in Körösenyi’s ›leader democracy‹ (›government with the people‹), oder der ›Kartellpartei‹ von Katz und Mair;31 zweitens das Argument des ›Sachzwangs‹, der ›force des choses‹ oder des ›TINA‹-Syndroms32 von Margaret Thatcher, einer Expertenherrschaft mit reduzierter Kontrolle und Legitimation, wie sie auch Colin Crouch in seiner Diagnose von »Postdemokratie« thematisiert hat.33 Drittens sind solche und ähnliche Diagnosen auf der Suche nach neuen Legitimationsquellen inzwischen auch weiterentwickelt worden in Richtung auf alternative Konzepte ›innovativer Demokratie‹ (oder ›demokratischer Innovation‹), die in den besseren Fällen ›deliberativ‹ oder ›reflexiv‹ sein, in den weniger guten aber auch technokratische oder gar autoritäre Tendenzen entwickeln kann.34 Eine vierte Interpretationslinie hat den deutlicher gewordenen Unterhaltungscharakter von Politik betont und insbesondere die virtuellen, symbolischen und theatralischen Elemente einer rundum »simulativen Demokratie« in den Vordergrund gestellt.35 10. Die Durchsetzung populistischer Demokratie hat gleichzeitig auch die Einfallstore für populistische Politik, in einem instrumentellen und stilistischen Sinn, verbreitert. Man kann diese u. a. erkennen an einer umfassenden Sehnsucht nach leadership, führungszentrierter, inhaltlich oft beliebiger Politik und 31 Vgl. A. Körösenyi, Political Representation in Leader Democracy, in: Government and Opposition, Jg. 40,3, 2005, S. 358–378; zur ›Kartellpartei‹ vgl. den voraufgehenden Beitrag in diesem Band. 32 TINA = There Is No Alternative. 33 C. Crouch, Postdemokratie, Frankfurt 2008 (ital. 2003); vgl. auch bereits Puhle, Wohlfahrtsausschuss (1973), in diesem Band. 34 Vgl. exemplarisch u. a. P. Rosanvallon, La légitimité démocratique. Impartialité, reflexivité, proximité, Paris 2010; ders., La contre-démocratie. La politique à l’âge de la défiance, Paris 2006. 35 Vgl. I. Blühdorn, Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende, Frankfurt 2013.
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den entsprechenden Interaktionsmechanismen ohne klare institutionelle Verortung (cf. auch ›liquid democracy‹), Tendenzen zu Bonapartismus und präsidialen Zügen auch in parlamentarischen Systemen, Dominanz der persönlichen Handschrift der Spitzenpolitiker (z. B. im topos von der ›Chefsache‹), der pragmatischen Behandlung und Inszenierung des politischen Augenblicks, die der strukturellen Kurzfristigkeit von Politik entspricht. Was aber bedeuten die neuen Konstellationen für die Chancen und die möglichen Entwicklungen von Populismen als ›-ismen‹, also für alte und neue populistische Bewegungen mit erkennbarer Programmatik? Werden sie begünstigt, und wenn ja, welche besonders? Verändern sie sich? Gibt es womöglich ›qualitative Sprünge‹? Diese Fragen müssen im Einzelnen erst noch gründlicher untersucht werden, und es lassen sich allenfalls erste, sehr selektive Eindrücke festhalten: Einen qualitativen Sprung können wir in der Tat verzeichnen in Bezug auf alle Bereiche, Konstellationen und Phänomene, für die die Durchsetzung und universelle Verfügbarkeit der neuen Informationstechnologien und der entsprechenden Kommunikationsweisen eine Rolle spielt. Die Existenz weltweiter Netzwerke und die neuen Möglichkeiten ›entgrenzter‹ Mobilisierungen und Bündnisse haben den Charakter und die Strategien populistischer Protestbewegungen kategorial verändert, wahrscheinlich mehr als die der meisten anderen politischen Akteure: So hätte es z. B. das neue strategische Repertoire der Zapatisten im mexikanischen Chiapas (seit den 1990er Jahren) früher mangels Internet so nicht geben können, mit den (zeitweise erfolgreichen) Sequenzierungen: 1. globale Mobilisierung auf der Menschenrechts-Schiene im Internet aus der Selva de Lacandonas; 2. Druck ausländischer Regierungen und NGO’s auf die mexikanische Regierung zugunsten interner Reformen; 3. Umsetzung solcher Reformen in den mexikanischen Institutionen, kritisch begleitet vom weltweiten Netzwerk; 4. weitere Modifikationen der Reformpolitik, etc.36 Darüber hinaus lassen sich neben zahlreichen Kontinuitäten vor allem auch Tendenzen der Populistenbewegungen (wie auch anderer Akteure) zu vermehrter Fragmentierung und Hybridisierung feststellen, zu neuen Mischungen, insbesondere aus ›alten‹ und ›neuen‹ Elementen oder Bewegungen. In der weniger entwickelten Welt haben oft neuere Bewegungen die Projekte der älteren weiterverfolgt, anspruchsvoller, in inklusiveren Allianzen und gelegentlich auch mit mehr Erfolg, weil sie traditionelle Schwächen in den neuen Konstellationen besser kompensieren konnten. In den entwickelteren Ländern, und besonders in Europa, mobilisieren neuere und ältere Bewegungen inzwischen gleichzeitig nebeneinander, und sie sind, gerade weil sie dort überwiegend Protestbewegungen sind, allesamt durch die letzten Krisen, den Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit und die Tendenzen zur populistischen Demokratie, sozusagen in einem Schub ›populistischer Momente‹, deutlich gestärkt worden. Dabei hat sich die soziale Zusammensetzung dieser Bewegungen eher verändert: Am 36 Vgl. A. Huffschmid, El nuevo teatro mexicano: la performance política de Fox y Marcos, in: Iberoamericana, Jg. I, 2, 2001, S. 129–151.
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Beginn des 21. Jahrhunderts kommen die ›underdogs‹ und ›Verlierer‹ der ökonomischen und sozialen Prozesse (die man früher ›Modernisierungsprozesse‹ genannt hat), die sich vor allem in diesen Bewegungen betätigen, nicht mehr primär aus den ›klassischen‹ krisenbedrohten unteren Mittelschichten (kleine Handwerker, Ladenbesitzer, ›alter Mittelstand‹, Kleinbauern, etc., also Schichten, die ohnehin fast überall, mit Ausnahme von Griechenland, substantiell geschrumpft sind), sondern aus einem wesentlich breiteren Einzugsbereich, der auch Arbeiter, Angestellte, Arbeitslose und Jugendliche mit wenig qualifizierender Ausbildung umfasst, und nicht zuletzt auch Empfänger staatlicher Transferzahlungen (also Angehörige der ominösen ›staatsabhängigen Versorgungsklassen‹). Entsprechend sind die populistischen Proteste im gegenwärtigen Europa inzwischen auch zu einem großen Teil gegen geplante Reduzierungen staatlicher Leistungen, Subventionen und Transferzahlungen gerichtet, während sie früher meistens gegen den aktiven und intervenierenden Steuerstaat schlechthin mobilisiert haben. 11. Zum Schluss wäre noch eine zentrale Gretchenfrage der meisten Debatten über ›Populismus‹ anzusprechen und die Richtung einer möglichen Antwort wenigstens kurz anzudeuten: die Frage nämlich, ob die gegenwärtigen Entwicklungstendenzen von Populismus und populistischer Politik liberale und demokratische Gesellschaftsordnungen gefährden können. Die richtige Antwort ist hier wohl die der galicischen Bauern: Dipende. Es kommt darauf an. Normalerweise wird eine solche Gefährdung eher nicht bestehen, aber in ungünstigen Krisenkonstellationen möglicherweise schon. Dabei kann es helfen, sich zu vergegenwärtigen, dass Demokratie und (stilis tischer) Populismus und populistische Politik dieselben Wurzeln haben, vor allem im gleichen Wahlrecht, dass jeder demokratische Politiker, wenn er etwas bewirken will, auf der Suche nach Stimmenmaximierung ständig in populistischen Versuchungen steht, und dass besonders in der modernen Massendemokratie im Informationszeitalter tendenziell populistische Politik kaum zu vermeiden ist, zumal nachdem die populistische Demokratie amerikanischen Ursprungs nun auch systemisch so gut wie überall in Europa angekommen ist. Es hat ja durchaus auch Fälle gegeben, in denen populistische Aufwallungen produktiv als Korrektive der institutionellen Politik gewirkt und diese revitalisiert haben (der Paradefall sind die amerikanischen Populisten, oder die Umweltbewegungen in Teilen Europas). Das Verhältnis von Demokratie und populistischer Politik bleibt allerdings eine Gratwanderung, besonders für demokratische Politiker: Sie müssen ständig darauf achten (und sie sollten auch daran gemessen werden), dass die populistische Agitation in ihren Dimensionen wie in ihren Inhalten nachhaltig demokratieverträglich bleibt und den demokratischen Institutionen und Interaktionen nicht schadet. Das ist nicht immer leicht und erfordert einige Anstrengungen. Aber es ist möglich. Auf der anderen Seite sollte aber nicht vergessen werden, dass es ebenso möglich ist, dass die Prozesse der Erosion der Parteien und der politischen Eliten, 113
die Abnahme von responsiveness und responsibility und die Kommunikations probleme zwischen den Bürgern und den Eliten zunehmen und Ausmaße erreichen, die in einer ungünstigen Krisenkonstellation jederzeit auch wieder vermehrt gezielten populistischen Protestbewegungen neue Chancen eröffnen können. Dies ist im Gefolge der jüngeren Finanz- und Strukturkrisen ab 2008 gerade in einigen europäischen Ländern sehr deutlich geworden. Ob (und wie sehr) Populismus und populistische Agitation die Demokratie in der Zukunft gefährden können oder nicht, hängt überwiegend von der Politik ab, die heute gemacht wird.
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Interessenverbände im Wandel* Organisierte Interessen und die dahinterstehenden Gruppen, Vereinigungen, ›Faktionen‹ oder Parteiungen (bzw. Parteien) sind schon sehr lange als wichtige gesellschaftliche und politische Akteure wahrgenommen worden. In der modernen politischen Theorie ist der Begriff des Interesses oder der Interessen (interests) von aufgeklärten Denkern von Machiavelli bis Montesquieu schon relativ früh bezogen worden auf materielle und rationale ›Interessen‹ im Gegensatz und als Gegengewicht zu den ›Leidenschaften‹ (passions).1 Beide, die Leidenschaften und die unterschiedlichen materiellen Interessen, insbesondere »of those who hold, and those who are without property«, waren für James Madison und die Federalists (1787) die wichtigsten Quellen für eigennützige gesellschaftliche und politische Gruppenbildungen und die ›factions‹, deren problematische Auswirkungen auf die Gesellschaft durch eine angemessene Größe des Gemeinwesens und hinreichende checks and balances eingehegt und kontrolliert werden sollten.2 Konzeptionen von ›Interessengruppen‹ (in verschiedenen Terminologien) und von ›Interessenpolitik‹ in einem engeren Sinne finden wir in der westlichen Welt vermehrt seit den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts: Zum einen begann sich im Gefolge der amerikanischen und der französischen Revolution die Welt der politischen Parteien und ›Faktionen‹ zunehmend aus dem größeren Universum der ›Interessen schlechthin‹ herauszulösen. Zum anderen brachte der ungleichmäßige Fortgang der Industrialisierung in den unterschiedlichen Teilen Europas Menschen, Firmen und Gruppen immer mehr dazu, ihr Interesse an einer bestimmten Politik explizit zu artikulieren, das sich in der Regel entweder darauf richtete, die ökonomischen, infrastrukturellen oder institutionellen Voraussetzungen für die Industrialisierung zu verbessern, oder darauf, deren soziale Konsequenzen zu bewältigen, in einigen Fällen auch auf die Abwehr des ganzen Prozesses. Wir können moderne Interessenverbände (interest groups, pressure groups) definieren als freiwillige Assoziationen von Individuen, Firmen oder kleineren Gruppen, die sich zusammenschließen, um für ein gemeinsames Interesse einzutreten, es zu verteidigen oder offensiv zu propagieren, mit der Absicht, den * Originalbeitrag auf der Grundlage einer englischen Version: Interest Groups, History of, in: J. D. Wright (Hg.), International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, 2nd edition, Bd. 12, Oxford 2015, S. 371–377. 1 Dazu ausführlicher A. O. Hirschman, The Passions and the Interests, Princeton 1977. 2 Insbesondere Federalist 10: A. Hamilton u. a., The Federalist (hg. v. J. E. Cooke), Cleveland 1961, S. 56–65, bes. 57–59.
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politischen Prozess zu beeinflussen und in ihn zu intervenieren, ohne jedoch (von Ausnahmen abgesehen) eine politische Partei zu gründen. Die jeweiligen Bezeichnungen dafür können durchaus verschieden sein: pressure groups, organisierte Interessen, ›lobbies‹, neuerdings auch ›advocacy groups‹, die klassischen deutschen ›Verbände‹ oder ›Bünde‹, die französischen ›syndicats‹, die amerikanischen ›chambers‹ oder ›institutes‹, und Assoziationen (associations), ›Vereinigungen‹ und ›Vereine‹ aller Art (nicht zu reden von weiteren funktionalen Äquivalenten in der nicht-westlichen Welt). Der allgemeine Begriff des Vereins, der Vereinigung oder Assoziation weist gleichzeitig eine große Nähe (und Überlappungen) auf zum breiteren Bereich der ›Zivilgesellschaft‹ und ihrer Organisationen (civil society organizations, CSO), die man oft auch ›Nichtregierungs-Organisationen‹ (non-governmental organizations, NGO) nennt, oder voluntary-sector organizations, non-profit organizations (VSO, NPO), gelegentlich auch soziale Bewegungen oder anders.3 Alle diese Gruppen fungieren aber gleichzeitig auch als Interessengruppen (oder ›Verbände‹) und teilen in der Regel deren Charakteristika. Entsprechend ist die Frage nach der Angemessenheit der zahlreichen ›aliase‹ für Interessengruppen (interest group aliases) auch schon in der neueren Literatur diskutiert worden.4 Die Betätigung der Interessenverbände ist gerichtet auf die politische Arena, in der Regel auf spezifische Gesetzgebung, Mittelallokation und staatliche Intervention zugunsten der jeweiligen Interessen. Entsprechend ist insbesondere der Prozess der Ausweitung des Staatsinterventionismus und des Ausbaus der modernen Sozial- und Wohlfahrtsstaaten seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts aufs engste verbunden gewesen und sozusagen Hand in Hand gegangen mit einer säkularen Ausbreitung und Vermehrung von Interessenverbänden aller Art. Dabei haben diese einerseits in der Regel den Bedingungen und Charakteristika der jeweiligen (mehr oder weniger demokratischen) politischen Systeme entsprochen, in denen sie entstanden. Andererseits haben ihre Aktivitäten aber sehr oft auch zum Wandel und zur Modernisierung dieser Systeme beigetragen, zur Etablierung neuer Interaktionsmuster und oft auch neuer Regeln. Ob die Verbände im Einzelfall Anerkennung fanden und ihre Betätigung als angemessen und ›legitim‹ angesehen wurde, hing aber nicht nur von ihrer konkreten und aktuellen Politik ab, sondern vor allem auch vom Kontext, insbesondere von der generellen weltanschaulichen und ideologischen Orientierung und Ausrichtung des Mehrheits-Konsens in dem betreffenden Gemeinwesen. Diese konnte schwanken zwischen einer eher autoritären oder Rousseauistisch inspirierten Haltung, die die Wahrung ›partikularer‹ Interessen durchweg als 3 Vgl. W. A. Maloney u. S. Roßteutscher (Hg.), Social Capital and Associations in European Democracies. A comparative analysis, London 2007; D. Della Porta u. a. (Hg.), Social Movements in a Globalizing World, Basingstoke 1999. 4 Vgl. D. Halpin, Groups, representation and democracy. Between promise and practice. Manchester 2010. Zum Kontext auch G. Jordan u. W. A. Maloney, Democracy and interest groups: enhancing participation?, Basingstoke 2007; M. Burbank u. a. (Hg.), Parties, interest groups and political campaigns, Boulder 20122.
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schädlich für das ›Gemeinwohl‹ ansieht und oft verteufelt, und einer eher pluralistischen ›angelsächsischen‹ Sicht, der die Artikulation unterschiedlicher Interessen als Ausdruck einer vitalen Zivilgesellschaft gilt (Tocqueville) und die interessengeleitete Parteiungen und ›factions‹ als politische Akteure für selbstverständlich (da unvermeidbar) hält.5 Um gegebenenfalls auftauchende Legitimationsschwächen zu kompensieren, versuchen Interessenverbände durchweg, ideologische Mechanismen zu entwickeln, um nachzuweisen, dass ihre partikularen Interessen (auch) dem Gemeinwohl dienen und den Gesamtinteressen des Gemeinwesens entsprechen. Der gängige und durchweg wichtigste Bezugsrahmen für die Arbeit der (allermeisten) Interessenverbände ist im 19. und 20. Jahrhundert der überkommene Nationalstaat gewesen. Seit den 1990er Jahren scheint allerdings ein deutlicher Prozess vermehrter Transnationalisierung und Entgrenzung der ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Konstellationen eingesetzt zu haben, der Teil einer umfassenderen säkularen Veränderung und Neuorientierung der Bedingungen politischer Organisation und politischer Öffentlichkeit ist und nicht nur Firmen, Korporationen, Medien, soziale Bewegungen und politische Gruppierungen betrifft und verändert, sondern auch die Interessenverbände. Die wichtigsten Triebkräfte hinter diesem Prozess sind der Durchbruch der ›Netzwerkgesellschaft‹ mit all ihren technologischen und ökonomischen Folgen, vermehrte und beschleunigte Globalisierung (und Fragmentierung) sowie die Auswirkungen regionaler Integration (z. B. der Europäischen Union) und ineinandergreifender Folgen ökonomischer Krisen.6
1. Verschiedene Typen Es lassen sich sehr unterschiedliche Typen von Interessenverbänden unterscheiden. Sie können Einzelpersonen, Firmen, Vereine oder öffentliche Körperschaften (Städte, Einzelstaaten, Provinzen, Parlamente) auf lokaler, überlokaler, nationaler oder transnationaler Ebene organisieren und durchaus verschiedene Formen annehmen. Im Hinblick auf Inhalt und Substanz der jeweiligen Interessen kann festgehalten werden, dass, mit einiger Vereinfachung und unter Absehung von Mischungen, Ausnahmen und randständigen Fällen, die meisten Interessenverbände aus dem ›klassischen‹ Spektrum des 19. und 20. Jahrhunderts einem der folgenden acht Typen zugeordnet werden können: (1) Berufsverbände, (2) Wirtschaftsverbände von Handel, Banken und Industrie, (3) Arbeitergewerkschaften, (4) Agrarverbände, (5) private single interest groups, die keine Berufs- oder Produzentenverbände sind, (6) ›ideologische‹ Interes5 Dazu ausführlicher E. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964. 6 Ausführlicher zu diesem ›threshold 21‹ im vorhergehenden Beitrag in diesem Band.
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sen- und Agitationsverbände, (7) Verbände zur Wahrnehmung ›öffentlicher‹ Interessen, i. e. solcher, die als im Interesse der Allgemeinheit liegend angesehen werden (public interest groups), und (8) Wohlfahrtsverbände. Im Hinblick auf die neueren Tendenzen zur Umbildung und Restrukturierung der Konstellationen politischer Öffentlichkeit ist es außerdem sinnvoll zu unterscheiden, (1) ob es sich um nationale (regionale) oder transnationale Verbände handelt, (2) ob die Gruppen innerhalb eines kapitalistischen Grundconsensus (oder einer informellen ›kapitalistischen Internationale‹) agieren oder sich als Kapitalismuskritiker und ›Globalisierungsgegner‹ verstehen, und (3) ob sie mehr ›lose verkoppelte‹ und auf punktuelle Mobilisierung gerichtete Organisationen und Bewegungen sind oder solche, die dauerhaftere Strukturen entwickeln. (1) Die ›klassischen‹ (und meist auch ältesten) Fälle sind die Berufsverbände, die oft auch Funktionen vormoderner Zünfte, Stände, Bruderschaften oder Clubs übernommen haben und in einer ganzen Reihe wichtiger ›Professionen‹ den Zugang zu den Berufen kontrollieren und über die Kriterien und Voraussetzungen für die Kooptation wachen, entweder in professioneller Selbstverwaltung wie in den USA (American Bar Association, American Medical Association) oder in delegiertem staatlichen Auftrag wie in den meisten deutschen ›Kammern‹ (Rechtsanwaltskammern, Ärztekammern, Handwerkskammern). Im Zuge der Ausbreitung gesetzlicher Krankenversicherungen oder umfassender Nationaler Gesundheitsdienste haben sich insbesondere die diversen Ärzteverbände weiter ausdifferenziert (z. B. Kassenärztliche Vereinigungen, etc.). Die Verbandsbildungen der ›weniger‹ (oder später) professionalisierten Berufe, wie z. B. Lehrer, Handlungsgehilfen oder Handelsangestellte, sind oft den Vorbildern der älteren Berufsverbände gefolgt, wenn sie es nicht, wie in vielen romanischen Ländern, vorzogen, sich in Gewerkschaften (mit entsprechend Arbeiter-analogem Bewusstsein) zu organisieren. (2, 3) Die Verbände der beiden beherrschenden Lager der Interessenorganisationen im Industriezeitalter, die Industrieverbände und die Arbeitergewerkschaften, sind durchweg aus früheren Korporationen, Zünften und handwerklichen Berufsvereinen hervorgegangen. Dabei haben die Arbeitergewerkschaften in der Industrie durchweg an Stärke und Einfluss gewonnen, je mehr es ihnen gelang, die traditionelle Fragmentierung der noch an den alten Handwerken orientierten Berufsgewerkschaften zu überwinden und breiter angelegte Industriegewerkschaften zu gründen, in Deutschland schon seit den 1890er Jahren, in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg, in den meisten anderen Industrieländern seit den 1920er und 30er Jahren (und nicht ohne gelegentliche Rückfälle seit den 1970er Jahren). Für Industrieverbände und Gewerkschaften machte es auch einen wichtigen Unterschied, ob es im jeweiligen Bereich einen Zentralverband oder ›Spitzenverband‹ gab, oder deren zwei, die womöglich miteinander rivalisierten, wie in der deutschen Industrie vor 1919 oder der spanischen Gewerkschaftsbewegung vor 1939 und seit 1975, oder gar eine breitere und noch mehr fragmentierte Vielfalt, wie in den USA oder in jenen zahlreichen Ländern, in denen oft jede politische Partei ihre eigene Gewerkschaft 121
hat. Wenn in einem Land die Arbeitsbeziehungen durch Gesetzgebung und entsprechende Praxis institutionalisiert wurden, haben die Industrieverbände gelegentlich auch separate Arbeitgeberverbände zur Koordination der Verhandlungen mit den Gewerkschaften gegründet. In den meisten Ländern sind auch gesonderte Bankenverbände, Verbände des Versicherungswesens, des Großund Kleinhandels sowie der kleineren (›mittelständischen‹, small business) Unternehmer entstanden. (4) Die meisten Agrarverbände, die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden, haben zum einen (besonders in ihren Anfängen) versucht, die Interessen der ›Landwirtschaft‹, i. e. des landwirtschaftlichen Sektors der Volkswirtschaft, gegenüber der dynamischen Entwicklung der Industrie und dem Vordringen und der Einflusszunahme der ›industriellen Welt‹ zur Geltung zu bringen. Zum anderen haben sie durchweg die Strukturen und Trennlinien der diversen Anbau- und Produktionssektoren (oder -regionen) innerhalb der nationalen Landwirtschaften widergespiegelt und repräsentiert, meist mit einem starken Übergewicht der großen Produzenten über die kleineren, gelegentlich auch mit einem großen Einfluss bestimmter spezieller Produktionssektoren (z. B. associations spécialisées in Frankreich). In weniger entwickelten Ländern oder Regionen mit einer größeren Zahl abhängiger Kleinbauern oder landloser Landarbeiter sind agrarische Interessen oft auch in Arbeitergewerkschaften oder in sozialen Bewegungen organisiert worden. In einigen Ländern hat die Artikulation agrarischer Interessen geschwankt und oszilliert zwischen den Polen von verbandsmässig organisierter Interessenpolitik einerseits und breiteren Mobilisierungen sozialer Protestbewegungen andererseits, entweder permanent und zwischen verschiedenen Regionen (z. B. in Frankreich) oder jeweils von einer bestimmten historischen Periode zur anderen (Italien, Spanien, USA in der Populist Era, Deutschland und USA während der Großen Depression um 1930). Zwei weitere ›klassische‹ Typen sind (5) die single interest groups und (6) die ›ideologischen‹ Interessenverbände. Die ›single interests‹ beziehen sich auf relativ eng gefasste Einzelinteressen, die keine Berufs- oder Produzenteninteressen sind und auch nicht unter die Kategorie des ›public interest‹ fallen. Der wohl bekannteste und viel untersuchte Fall ist die National Rifle Association (NRA) in den USA. Zu dieser Gruppe gehören u. a. auch Automobilclubs, Verbände zur Propagierung oder Bekämpfung bestimmter Sportarten oder Vergnügungen (Stierkampf, Fuchsjagd), die zahlreichen (oft auch ›ethnisch‹ konnotierten) Vereine und Verbände von Migranten, Flüchtlingen oder Kriegsopfern sowie viele Organisationen aus dem Spektrum nationalistischer Massenbewegungen. Die Grenze zu den ›ideologischen‹ Interessenverbänden erscheint gelegentlich fließend. Deren typische Repräsentanten sind Agitationsverbände und Organisationen, die mit einem hohen Grad weltanschaulicher Festlegung argumentieren und bestimmte Dinge oder Zustände entweder kompromisslos propagieren, wie z. B. Imperialismus (Alldeutscher Verband), Temperenz oder Prohibition (AntiSaloon League), oder bekämpfen, wie z. B. die Abtreibung oder die Todesstrafe. 122
Single interest groups nehmen besonders gern und oft für sich in Anspruch, dass sie Wichtiges zum Gemeinwohl beitragen, indem sie z. B. für eine Verbesserung der Gesundheit der Menschen (früher ›Volksgesundheit‹) sorgen, wie die meisten großen Sportverbände, oder indem sie Fortschritt, Emanzipation und empowerment der Unterprivilegierten befördern, wie die vielen Organisationen der Minderheiten und der Frauen in den USA und anderen Ländern (z. B. National Association for the Advancement of Colored People, Leadership Conference on Civil Rights, National Organization for Women). Zu diesem Typus können wir zu einem Teil auch neuere Erscheinungen mobilisierter Gruppen rechnen, deren Entstehung insbesondere seit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts durch das Zusammentreffen von beschleunigter Globalisierung, Wirtschaftskrisen und polarisierenden Politikstrategien provoziert worden ist und die sich oft mit (vermehrt transnationalen, vielfach ›linkspopulistischen‹) sozialen Bewegungen decken: die diversen Varianten von ›Globalisierungsgegnern‹ und auf neue Weise antiimperialistischen und meist auch antikapitalistischen Organisationen wie ›attac‹, ›occupy‹, etc. (7) Einige dieser Gruppen kann man auch – zumindest teilweise – zum Typ der ›öffentlichen‹ oder gemeinwohlorientierten Interessenverbände (public interest groups) rechnen, deren prominenteste Vertreter in den USA – im Gefolge einer über hundertjährigen Tradition mit noblen Vorläufern wie der AntiSlavery Society (1833) und der American Civil Liberties Union (1920) – seit den 1970er Jahren Organisationen von Umwelt- und Verbraucherinteressen gewesen sind (Common Cause, Public Citizen, Consumer Federation of America).7 In Deutschland und anderen mittel- und westeuropäischen Ländern wären hier auch die Verbände der Anti-Atom-Bewegung zu nennen sowie die der Pazifisten und Rüstungsgegner. Auf transnationaler Ebene agieren Gruppen wie Greenpeace, Amnesty International oder Transparency International, nicht zu vergessen die Reihe ›klassischer‹ Vorläufer wie z. B. das Internationale Komitee vom Roten Kreuz.8 (8) Unter den Typ ›Wohlfahrtsverbände‹ fallen eine Reihe heterogener Gruppen, die oft professionelle Interessen, besonders von Sozialarbeitern, mit denen öffentlicher Körperschaften, meist Städte und Kreise, sowie den weltanschaulichen und single interests von Kirchen, religiösen Gemeinschaften und anderen privaten Akteuren im Bereich der Sozial- und Wohlfahrtspolitik verbinden, die zum Teil auch als gemeinwohlorientierte Interessen (public interests) angesehen werden können. Viele von ihnen haben sich schon früh koordinierenden Zentralverbänden oder nationalen Vereinigungen wie der National Conference of Charities and Correction (1874/84) in den USA (mit dominierenden professionellen Interessen) oder dem Deutschen Verein für Armenpflege und Wohl-
7 Vgl. A. S. McFarland, Common Cause: Lobbying in the Public Interest, Chatham, NJ 1984. 8 Vgl. M. E. Keck u. K. Sikking, Advocates beyond Borders. Advocacy Networks in Interna tional Politics, Ithaca 1998.
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tätigkeit (1881, mit dominierenden korporativ-institutionellen Interessen) angeschlossen, lange bevor sich sektorale Spitzenverbände bildeten. Die diversen Formen intergouvernementaler Lobby-Arbeit sollen hier außer Betracht bleiben, da es sich dabei um Auseinandersetzungen um die Mittelallokation ausschließlich zwischen öffentlichen Körperschaften handelt. So werden hier weder die National Governors’ Association und die Conference of Mayors in den USA noch die deutsche Kultusministerkonferenz und der Deutsche Städtetag als Interessenverbände angesehen. Dasselbe soll gelten für die oft sehr effizient organisierten Interessenvertretungen (lobbies) ausländischer Regierungen in Washington, DC und für die Repräsentanten staatlicher oder regionaler Interessen bei der Europäischen Kommission in Brüssel, auch wenn diese versuchen, ihren Einfluss dadurch zu erhöhen, dass sie sich wie private Interessenten gerieren. Ebensowenig sollen die zahlreichen Political Action Committees (PACs) amerikanischer Interessenverbände gesondert berücksichtigt werden, die im wesentlichen aus juristischen Gründen eingerichtet worden sind, um Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen; sie verfolgen schließlich exakt dieselben Interessen wie die Verbände, die sie gegründet haben.9 Alternativ könnte man noch typologisch differenzieren zwischen Status quoVerteidigern und Agenten von Wandel und Veränderung, oder gemäß der Qualität und dem Grad von Einfluss und organisatorischer Dichte der jeweiligen Gruppen: ob ihr Einfluss mehr auf dem Einsatz von viel Geld oder einer hohen Anzahl organisierter Mitglieder beruht (money or numbers), auf Bürokraten und Apparaten oder auf Mobilisierung und Agitation, ob sie mehr en petit comité auf die Gesetzgeber einwirken wollen oder die breite öffentliche Debatte anstreben (was auch vom politischen System abhängt), ob sie einen hohen Grad von Identifikation mit ihren Zielen brauchen oder nicht, oder ob sie ein breites Spektrum zusätzlicher Dienste anbieten müssen, um ihre Mitglieder an sich zu binden (wie z. B. typischerweise Automobilclubs). Eine der grundlegendsten und wichtigsten Unterscheidungen ist die zwischen großen und kleinen Interessenverbänden und zwischen einem großen und einem kleinen Einzugsbereich oder Sektor von Interessenten: Kleinere Interessentensektoren (wie Stahl oder Landwirtschaft) lassen sich in der Regel besser organisieren und nach außen vertreten als größere (wie Verbraucher), die oft durch ›free rider‹-Effekte geschwächt werden.10
9 Vgl. A. J. Cigler u. B. A. Loomis (Hg.), Interest Group Politics, Washington, D. C. 20128. 10 Vgl. M. Olson, The Logic of Collective Action: Public Goods and the Theory of Groups, Cambridge, MA 1965; A. Downs, An Economic Theory of Democracy, New York 1957.
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2. Konstellationen und Entwicklungswege Die konkrete Gestalt der Interessenverbände und der entstehenden nationalen Systeme der Interessenvermittlung sind entscheidend geprägt und beeinflusst worden von den unterschiedlichen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Konstellationen, den institutionellen sets und den konkreten Entwicklungswegen (oder ›Modernisierungspfaden‹) der jeweiligen Staaten und Gesellschaften. Besonders wichtig sind dabei die unterschiedlichen Mischungsverhältnisse der Faktoren aus den drei großen Bündeln, zu denen man mit einiger Vereinfachung die wichtigsten Dimensionen der westlichen Modernisierungsprozesse zusammenfassen kann: Bürokratisierung, Industrialisierung und Demokratisierung. Wie an anderer Stelle ausführlicher erläutert, kann man grosso modo sagen, dass in Großbritannien die Prozesse der Industrialisierung auf vermehrte Demokratisierung hingewirkt haben, wohingegen Prozesse der Bürokratisierung später einsetzten, vor allem zur Bewältigung der sozialen Industrialisierungsfolgen. Die USA sind einem ähnlichen Muster gefolgt, allerdings mit stärkerem Einfluss der Faktoren der Demokratisierung von Anfang an (eingehegt durch Föderalismus und checks and balances) und der Charakteristika der ›new nation‹. Auf dem europäischen Kontinent standen dagegen durchweg Bürokratisierung und bürokratisches state building in der Tradition des Absolutismus am Anfang. Hier machte jedoch die Französische Revolution einen wichtigen Unterschied aus: In Frankreich wurden die Modernisierungsmuster dominiert von einer Mischung aus Faktoren der Bürokratisierung und der Demokratisierung (letztere in zwei Strängen: der Notabelnrepräsentation und dem Bonapartismus mit seinen spezifischen, auch für die Interessenrepräsentation interessanten ›deliberativen‹ Mechanismen). In den meisten deutschen Staaten verzögerte sich dagegen die Demokratisierung und die dominanten Entwicklungsmuster reflektierten bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts vornehmlich Mischungen aus den Faktoren der Bürokratisierung und der Industrialisierung. Diese unterschiedlichen Konstellationen haben auch die Entstehung und Entwicklung der Interessenverbände beeinflusst. Sie hatten Auswirkungen auf ihre jeweilige soziale Basis, ihre ›opportunity structures‹ und ihre Erfolge, und besonders geprägt haben sie ihre Strategien, die Auswahl der ›Adressaten‹, die Organisationen und Weisen der Einflussnahme und Agitation, und vor allem auch ihre Beziehungen zu Regierungen, Parlamenten und politischen Parteien. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das Verhältnis der Entwicklung der Interessenverbände zum jeweiligen Typ des politischen Regimes. Von den beiden Ländern, die seit dem Durchbruch organisierter politischer Massenmobilisierung zwischen 1890 und 1910 die Gestalt moderner Interessenverbände am meisten geprägt haben, den USA und Deutschland, war eines keine Demokratie: In Deutschland war die Regierung lange Zeit den Wählern und dem Parlament gegenüber nicht verantwortlich, und die autoritäre Herrschaft Bismarcks hatte zusätzlich noch jahrzehntelang die politischen Parteien syste125
matisch geschwächt und stattdessen den (vermeintlich weniger ›politischen‹) Interessenverbänden besonders günstige Arbeitsbedingungen und Einflussmöglichkeiten geboten, wahrscheinlich bessere als irgendein anderes Land.11
3. Unterschiedliche Organisationsmuster In Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern haben sich Interessenverbände im langen 19. Jahrhundert in drei aufeinanderfolgenden Wellen entwickelt, die auch unterschiedliche Organisationstypen hervorgebracht h aben: 1. Zahlreiche Vereinigungen der ersten Welle, von denen einige schon in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gegründet worden waren, arbeiteten am Ende des Jahrhunderts eng mit staatlichen Institutionen und Bürokratien zusammen und hatten sich in halbautonome und privilegierte öffentlichrechtliche Körperschaften oder ›Kammern‹ (für Landwirtschaft, Handel und Handwerk) integriert, die durchweg nicht mehr gegen die Regierungspolitik opponierten. 2. Eine zweite Welle der Verbandsgründungen wurde von protektionistischen Gruppen der Schwerindustrie (Centralverband Deutscher Industrieller, 1876) sowie (etwas weniger intensiv) der Großlandwirtschaft in Reaktion auf die große Deflation der 1870er Jahre initiiert. Diese Verbände arbeiteten noch überwiegend ›en petit comité‹; ihre Adressaten waren in erster Linie Bürokraten und Gesetzgeber. Die meisten Vereinigungen der Interessenten von Handel und Industrie, die in dieser Periode in allen Industrieländern entstanden, entsprachen diesem Verbändetyp einer Interessenrepräsentation gegenüber dem Parlament und der Exekutive ohne sonderliche weitere Mobilisierung. Sie lassen sich durchweg zwei ›klassischen‹ Lagern zuordnen: dem der Protektionisten und dem der Freihändler. In den USA entstand seit den 1880er Jahren ein zweischichtiges System mit nationalen Verbänden wie der National Association of Manufacturers (1885) und der US Chamber of Commerce sowie Tausenden einflussreicher Branchenverbände, die die unterschiedlichen Produktionssektoren und -regionen repräsentierten. In der amerikanischen Landwirtschaft gingen dagegen populistischer Protest und Massenmobilisierung der organisierten Interessenvertretung in bürokratischen und lobbyistischen Bahnen voraus (siehe weiter unten). 11 Für einen Überblick vgl. die ›Klassiker‹ A. F. Bentley, The Process of Government: A Study of Social Pressures. Bloomington 1949 [1908]; V. O. Key, Politics, Parties, and Pressure Groups, New York 1964 [1942]; D. B. Truman, The Governmental Process: Political Interests and Public Opinion, New York 1962 [1951]; E. Lederer, Die wirtschaftlichen Organisationen und die Reichstagswahlen, Tübingen 1912. Zur aktuellen deutschen Diskussion: W. Streeck (Hg.), Staat und Verbände, PVS Sonderheft 25, Opladen 1994; P. Lösche, Verbände und Lobbyismus in Deutschland, Stuttgart 2007.
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3. Die Interessengruppen der dritten Welle in Deutschland und anderen Ländern gingen über die etablierten Organisationsmuster hinaus und begannen, zusätzlich massiv und kontinuierlich die Öffentlichkeit zu bearbeiten, in großem Stil Kampagnen zu organisieren und Wahlen, Parteien und Politiker zu beeinflussen. Sie traten seit den 1890er Jahren auf den Plan, als sich die Voraussetzungen und Bedingungen für die Betätigung politischer Akteure grundlegend änderten: Die beschleunigte Industrialisierung, neue Technologien und technischer Fortschritt auch im Bereich der Kommunikation, die Ausweitung des ›politischen Massenmarkts‹ und der politischen Öffentlichkeit insgesamt, Schübe organisatorischer Modernisierung der politischen Parteien und der parlamentarischen Arbeit und der Siegeszug sozialdarwinistischer und imperialistischer Ideologien und Agitation produzierten Konstellationen, die den neuen Typ straff organisierter und aggressiver Interessenverbände mit dem Ziel öffentlicher Intervention begünstigten. In Deutschland finden wir unter diesen Verbänden, wie schon im ersten Beitrag dieses Bandes näher ausgeführt wurde, vor allem den protektionistischen und interventionistischen Bund der Landwirte (1893), diverse eher kleinbürgerliche Verbände des ›alten Mittelstands‹ (Handwerker, Ladenbesitzer) und eine Reihe imperialistischer Agitationsverbände wie den Alldeutschen Verband und den Flottenverein. Diese Gruppen haben zusammen mit ihrem weiteren Umfeld die Politik der ›Neuen Rechten‹ gegen Liberalismus und Sozialdemokratie wesentlich geprägt, und sie haben entscheidend beigetragen zur ›Modernisierung‹ und Radikalisierung vormals konservativer Gruppen, die zunehmend ultranationalistisch und rassistisch wurden, und zu einer unversöhnlichen Rechts/Links-Polarisierung der politischen und sozialen Kräfte im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, deren Ende sie mit herbeigeführt haben.12 Eines der ausdrücklichen organisatorischen Vorbilder selbst der konservativsten deutschen Interessenverbände der dritten Welle waren ›die Sozialdemokraten‹ in Partei und Gewerkschaften, denen es nach dem Ende ihrer (durch das Bismarcksche Sozialistengesetz erzwungenen) Arbeit in der Illega lität (1890) relativ schnell gelang, einen effizienten bürokratischen Apparat aufzubauen und die breit angelegten Aktivitäten der Arbeiterbewegung, die weit über die Dimensionen der traditionellen Handwerkergewerkschaften und mutualistischen Hilfsorganisationen (seit den 1850er Jahren) hinausgingen, weiter voranzutreiben und zu konsolidieren. Die ›Generalkommission‹ der sozialdemokratischen Gewerkschaften kam seit Ende der 1890er Jahre dem schon sehr nahe, was man einen gewerkschaftlichen Spitzenverband nennen kann, unbeschadet der Aktivitäten einiger wesentlich kleinerer katholischer und liberaler Gewerkschaften. Vor allem die mächtigen Industriegewerkschaften, besonders der Metallarbeiter und der Bergleute, galten als die modernsten Ge12 Vgl. H. J. Puhle, Politische Agrarbewegungen in kapitalistischen Industriegesellschaften. Deutschland, USA und Frankreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 1975; H. P. Ullmann, Interessenverbände in Deutschland, Frankfurt 1988.
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werkschaften der Welt. Ihre Position wurde noch weiter dadurch gestärkt, dass sie seit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend und regelmäßig Tarifverhandlungen mit den Unternehmern und den neuen Arbeitgeberverbänden führten, meist auf regionaler Basis. Die modernen Gewerkschaften haben zum einen viel beigetragen zur Etablierung bürokratischer Strukturen und Traditionen in politischen Organisationen (nicht nur der Arbeiterbewegung), und zum anderen zu einer relativ frühen Institutionalisierung der Arbeitsbeziehungen in Deutschland. In den USA sind sowohl moderne Industriegewerkschaften, am deutlichsten im Congress of Industrial Organization (CIO), als auch die Institutionalisierung der Arbeitsbeziehungen (wesentlich fragmentierter als in Deutschland) erst in den Reformen des New Deal Mitte der 1930er Jahre durchgesetzt worden, und dies nicht ohne spätere Rückfälle.13 Die meisten amerikanischen Gewerkschaften innerhalb und außerhalb der American Federation of Labor (AFL 1886) sind noch viel länger Berufsgewerkschaften geblieben, wenn auch insgesamt nicht ganz so lange wie die britischen Gewerkschaften des Trades Union Congress (TUC), was diese allerdings bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts nicht daran gehindert hat, die Labour Party zu beherrschen. AFL und CIO vereinigten sich erneut im Jahre 1955. In Frankreich, Südeuropa und in vielen anderen Teilen der Welt waren und sind die Gewerkschaften sehr oft politisch fragmentiert, haben sich entlang ideologischer Linien und politischer ›Farben‹, mit engen Bindungen an die jeweiligen Parteien, organisiert und rivalisieren kontinuierlich miteinander. Entsprechend ist für die politischen Parteien die Beherrschung des Gewerkschaftssektors (oder ihr Anteil daran) oft ein gewichtiger Popularitäts- und Legitimationsindikator. Viele europäische Interessenverbände der dritten Welle, vor allem landwirtschaftliche Verbände, haben sich auch auf die US-amerikanischen Populisten als Vorbilder berufen. Interessanterweise ist aber die Reihenfolge unterschiedlicher Organisations- und Agitationsweisen bei den agrarischen Interessenorganisationen in Deutschland und den USA eher gegenläufig: In Deutschland überwog bis 1933 ein Muster, das sich von ›normaler‹ lobbyistischer Interessenrepräsentation zu mehr Protest und Mobilisierung bewegte. In den USA war es genau umgekehrt, wenn man einmal absieht von den begrenzten Protesterscheinungen im Gefolge der Großen Depression um 1930. Hier folgte auf die populistischen ›Revolten‹ (bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts) eine Politik sehr effizienter, typologisch eher ›altmodischer‹ lobbyistischer Interessenwahrnehmung durch die American Farm Bureau Federation (1919), die auch von den älteren Gruppen der National Grange (1867) und der National Farmers’
13 Zum Vergleich K. Schönhoven, Die deutschen Gewerkschaften, Frankfurt 1987; D. C. Bok u. J. T. Dunlop, Labor and the American Community, New York 1970; P. Lösche, Industrie gewerkschaften im organisierten Kapitalismus. Der CIO in der Roosevelt-Ära, Opladen 1974.
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Union (1902) übernommen wurde. In Großbritannien und in Skandinavien haben durchgängig Techniken des sektoralen Lobbying dominiert. In Frankreich finden wir unterschiedliche Repräsentations- und Agitationsweisen gleichzeitig nebeneinander: zum einen traditionelles Lobbying der Großgrundbesitzer und Großproduzenten in den Kanälen der Notabelnpolitik, in katholischen und ›radikalen‹ (linksliberalen) Gruppen, vor allem im Norden, und zum anderen Protestbewegungen und periodische Mobilisierung bei den kleineren Produzenten, besonders den Weinbauern, und meistens im Süden. Folglich ist die Interessenvertretung der französischen Landwirtschaft fragmentierter gewesen, und die Gruppen einer weiteren (zweiten) Ebene, die produktbezogenen Branchenverbände (associations spécialisées) haben sehr großen Einfluss ausüben können. Seit den 1950er Jahren ist allerdings die Koordinierungsfunktion der Fédération Nationale des Syndicats d’Exploitants Agricoles (FNSEA) stärker geworden. In Südfrankreich haben Kleinbauern und Landarbeiter sich gelegentlich auch in sozialistischen, kommunistischen, bzw. neuerdings globalisierungskritischen linken Gewerkschaften organisiert, in bestimmten Regionen Italiens und Spaniens zeitweise auch in anarchistischen und anarchosyndikalistischen Gewerkschaften.14
4. Systeme der Interessenvermittlung Die verbreitetsten Bezugssysteme der Betätigung von Interessenverbänden sind durchweg die traditionellen Nationalstaaten gewesen. In ihnen interagieren die Verbände miteinander und mit den Vertretern der Legislative und der Exekutive sowie mit der Öffentlichkeit in nationalen (gelegentlich auch regionalen) Systemen der Interessenvermittlung, die unterschiedliche Organisationsmuster aufweisen können. Diese Muster hängen u. a. ab von den jeweiligen Traditionen und Konstellationen demokratischer und parlamentarischer Regierung sowie von den Traditionen und Intensitäten staatlicher Interventions- und Regelungspolitik, d. h. der Bereitschaft und Neigung staatlicher Repräsentanten zur Intervention in Wirtschaft und Gesellschaft hinein, und von dem Ausmaß, in dem das geschieht. Sie oszillieren in der Regel zwischen zwei Polen, dem eines liberalen, marktorientierten Pluralismus und dem eines mehr regulierten und institutionalisierten Korporatismus. Letzterer kann mehr in der Tradition eines autoritären ›Staatskorporatismus‹ (meist mit faschistischem Hintergrund) stehen oder in der eines demokratischen ›gesellschaftlichen Korporatismus‹ (societal corporatism) oder ›Neo-Korporatismus‹. Moderner Korporatismus ist ursprünglich von Philippe Schmitter definiert worden als 14 Vgl. B. Hervieu u. R. M. Lagrave (Hg.), Les syndicats agricoles en Europe, Paris 1992.
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»a system of interest representation in which the constituent units are organized into a limited number of singular, compulsory, noncompetitive, hierarchically o rdered and functionally differentiated categories, recognized or licensed (if not created) by the state and granted a deliberate representational monopoly within their respective categories in exchange for observing certain controls on their selection of leaders and articulation of demands and supports.«15
Zu den wesentlichen Voraussetzungen und ›Requisiten‹ (prerequisites) der Entstehung und des Funktionierens korporatistischer Mechanismen und Systeme werden gemeinhin die folgenden Faktoren gerechnet, die auch den Korporatismus kennzeichnen: die Existenz von Spitzenverbänden, starke reformistische Gewerkschaften, eine Neigung zum Staatsinterventionismus und die Bereitschaft zu parteiübergreifender politischer Zusammenarbeit, im Idealfall zu ›consociational democracy‹.16 In der Wirklichkeit ist dieser ›reine Typ‹ des Korporatismus allerdings ebenso selten anzutreffen wie sein Gegenteil: der liberale Pluralismus der Modellvorstellungen des 19. Jahrhunderts. In den meisten entwickelten Industrieländern scheinen sich die Systeme der Interessenvermittlung eher eingependelt zu haben auf einen der beiden häufigsten ›Mischtypen‹: Der eine ist der eines organisierten und mehr oder weniger regulierten Pluralismus, oft mit starken oligarchischen Tendenzen, die meistens mit einer Politik der ›regulation by the regulated‹ beginnen, wie in den USA in der Progressive Era. Der andere Mischtyp ist ein Syndrom, das in einer ganzen Reihe wichtiger Sektoren korporatistische Mechanismen aufweist, aber nicht als umfassendes korporatistisches ›System‹ qualifiziert werden kann, wie ohnehin nur wenige Ausnahmefälle: Schweden, Österreich oder die Niederlande in ihren ›klassischen‹ Nachkriegsepochen. Gelegentlich scheinen diese beiden Muster auch noch zu konvergieren: Die ›eisernen Dreiecke‹, die man bis in die späten 1990er Jahre auch in bestimmten Bereichen eher nach dem Muster pluralistischer Weisen der Interessenvermittlung ausgerichteter Länder, wie z. B. der USA, identifiziert hat, waren nicht so weit entfernt von den klassischen ›tripartistischen‹ Arrangements zwischen den Vertretungen von Industrie und Arbeit (idealerweise repräsentiert durch Spitzenverbände) und dem Staat in korporatistischen Systemen. Außerdem kann der Grad der Institutionalisierung der Mechanismen der Interessenvermittlung auf einer gleitenden Skala zwischen mindestens vier unterschiedlichen Intensitäten variieren. Diese reichen von nahezu keiner Institutionalisierung, also lobbying in einem offenen politischen Markt, über kodifi15 P. C. Schmitter, Still the Century of Corporatism?, in: P. C. Schmitter u. G. Lehmbruch (Hg.), Trends Toward Corporatist Intermediation. Beverly Hills 1979, S. 7–52, bes. S. 13. 16 Vgl. H. J. Puhle, Historische Konzepte des entwickelten Industriekapitalismus. ›Organisierter Kapitalismus‹ und ›Korporatismus‹, in: GG, Jg. 10, 1984, S. 165–184; A. Lijphart, Democracies. Patterns of Majoritarian and Consensus Government in Twenty-One Countries, New Haven 1984.
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zierte beratende und deliberative Funktionen der Interessenvertreter – entweder ad hoc, wie in Parlamentsanhörungen, oder auf Dauer gestellt, wie in einigen Verfassungen oder in den wirtschaftlichen, sozialen und regionalen ›Räten‹ der Europäischen Union – bis zur Etablierung koordinierender und regulierender Agenturen, die gemeinsam von den Interessenten und dem Staat getragen werden. Modell haben hier die diversen kriegswirtschaftlichen Büros, Verwaltungsstellen und Räte in Deutschland und den USA im Ersten Weltkrieg gestanden, auf deren Organisationsmuster man auch später wieder, und nicht nur in Kriegen, zurückgegriffen hat, sei es im New Deal oder sei es in der (ansatzweise neokorporatistischen) ›Konzertierten Aktion‹ der frühen 1970er Jahre oder im späteren ›Bündnis für Arbeit‹ in Deutschland. Auch eine ganze Reihe korporatistischer Arrangements in anderen Ländern würden in diese Kategorie fallen. Der höchste Grad der Institutionalisierung der Interessenvermittlung, mit obligatorischer Beteiligung, verbindlichen Beschlüssen und einer gewissen generellen Sachzuständigkeit und Entscheidungsbefugnis, wird erreicht in Gremien sektoraler Interessenvertretung wie Räten oder ›Kammern‹ mit delegierten öffentlichen Funktionen, und auch in den unterschiedlichen Regimen der institutionalisierten Arbeitsbeziehungen mit ›tri partistischer‹ Beteiligung, wie es sie in vielen Industrieländern gibt. In ähnlicher Weise haben auch in den USA und in Europa einige der in neuerer Zeit etablierten Antidiskriminierungs- und Empowerment-Programme für Frauen oder Minderheiten den Vertretern der entsprechenden Interessenten quasi-öffentliche watchdog- oder monitoring-Funktionen eingeräumt, selbst wenn sie die Verbände offiziell nicht zur Kenntnis nehmen.
5. Prozesse säkularen Wandels Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind sowohl die Interessenverbände als auch die etablierten Systeme der Interessenvermittlung durch zwei Prozesse säku laren Wandels gegangen, einen ersten Übergang vom Prinzip immer mehr und immer stärker ›organisierter‹ Politik zu weniger organisierter Politik, der schon in den 1970er Jahren begonnen hat, und eine zweite Verschiebung von einem nahezu ausschließlich nationalen Bezugsrahmen in vermehrt transnationale Konstellationen, besonders seit den 1990er Jahren: Zum ersten sind sowohl die Mechanismen des Korporatismus als auch die der quasi-korporatistischen ›eisernen Dreiecke‹ seit der Wirtschaftskrise der 70er Jahre durch die zunehmenden Tendenzen zu mehr Fragmentierung und Segmentierung der Interessen wie der Politik und zu mehr Deregulierung sowie durch Phänomene wie ›new lobbyism‹ und die Entstehung neuer public interest groups durchweg geschwächt worden. Besonders deutlich wurde dies in den USA. In Europa hat sich dieser Prozess vor allem in den sinkenden Mitgliederzahlen und dem abnehmenden Einfluss der Gewerkschaften und in den diversen Politikstrategien 131
zum Umbau der überkommenen Sozial- und Wohlfahrtsstaaten (welfare state retrenchment) manifestiert.17 Der zweite Prozess grundlegenden Wandels hat sich seit den 1990er Jahren insbesondere in einer zunehmenden Transnationalisierung der Interessenpolitik niedergeschlagen, innerhalb eines breiteren Spektrums veränderter und neuer Konstellationen politischer Öffentlichkeit, zu denen vor allem der Aufstieg der ›network society‹18 und des Internet mit all ihrem technischen, ökonomischen und organisatorischen Potential, die beschleunigte Globalisierung und die Wirkungen neuer weltweiter Interdependenzen beigetragen haben. Der Nationalstaat hörte auf, der einzige (oder in bestimmten Bereichen wenigstens der wichtigste) Adressat und Bezugsrahmen der Systeme der Interessenvermittlung zu sein. Die Auswirkungen der ›Globalisierung‹ folgten aber keiner Einbahnstraße: Einerseits haben Globalisierungsphänomene Widerstand provoziert, Prozesse von Regionalisierung und lokalistischer Mobilisierung angestoßen und die Entstehung neuer ›globalisierungskritischer‹ Interessenverbände, Bewegungen und Allianzen begünstigt,19 die jetzt einfacher, weniger formal und weniger gebremst von nationalen Grenzen organisiert werden konnten. Auf der anderen Seite hat der Fortschritt der Globalisierung das Regulierungspotential der Nationalstaaten reduziert, und damit auch den Einfluss der nationalen Interessenverbände und Organisationen. Gleichzeitig haben transnationale Regulierungsregime zunehmend an Bedeutung gewonnen, wie das internationale Strafrecht, die Menschenrechte, die Regeln des Weltbank-Systems und der WTO, Antikorruptionsregeln, fair trade und und labor standards (nicht zu reden von den Regeln der EU). Diese Prozesse sind zusätzlich noch intensiviert worden durch die Folgen der großen Wirtschafts- und Strukturkrise des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, die sich allerdings in verschiedenen Teilen der Welt unterschiedlich ausgewirkt hat (z. B. Krise des ›neoliberalen‹ Paradigmas, Protestorganisationen, vermehrter und transnational koordinierter Staatsinterventionismus, etc.). Entsprechend haben insgesamt die Einflussagenten und Interessenpolitiker gute Gründe gesehen, sich vermehrt auch transnational zu organisieren, auch wenn die sich langsam herausbildenden transnationalen Systeme der Interessenvermittlung noch nicht den Grad und die Dichte der Institutionalisierung ihrer nationalen Pendants erreicht haben.20 Die große Ausnahme ist hier das schon sehr differenziert entfaltete interessenpolitische System der Europäischen Union, das sich, nach begrenzten Anfängen im Agrarsektor,21 17 Vgl. u. a. W. Streeck, Re-Forming Capitalism. Institutional Change in the German Political Economy, Oxford 2009. 18 Vgl. M. Castells, The Rise of the Network Society, Oxford 1996. 19 Vgl. B. R. Barber, Jihad vs. McWorld, New York 1995. 20 Vgl. V. Schneider u. a. (Hg.), Governing Interests: Business Associations Facing Internationalization, London 2006. 21 Die der institutionellen Kompetenzverteilung entsprechende frühe Einflussverschiebung von den nationalen Agrarverbänden zum europäischen Dachverband COPA ist ein gutes Beispiel für den Grundsatz: Form follows function.
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seit den späten 1970er Jahren kontinuierlich zu einem voll ausgeprägten neuen System der Interessenrepräsentation und Interessenvermittlung entwickelt (und auch eine ganze neue Industrie sozialwissenschaftlicher Forschung auf den Weg gebracht) hat.22 Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts waren nach informierten Schätzungen rund 2.500 Interessenverbände und 15.000 Lobbyisten bei der EU in Brüssel tätig, etwas weniger als in Washington, DC (wo die Zahl der Lobbyisten auf zwischen 13.000 und 20.000 geschätzt wird). Zwei Drittel der Lobbyisten vertraten europäische Branchen- und Handelsverbände (trade federations), consultants und Firmen, und nur etwa zehn Prozent nationale Interessenverbände.23
6. Funktionen für die Demokratie Zusammen mit den politischen Parteien sind die Interessenverbände die wichtigsten Akteure politischer Vermittlung und dessen, was man auf Englisch ›structured intermediacy‹ nennt. Sie sind unverzichtbar für das Funktionieren einer freien Gesellschaft und einer demokratischen Ordnung. Sie tragen wesentlich zur Aggregation, Artikulation und Repräsentation von Interessen bei, können als Vehikel für Identifikation, Mobilisierung und Partizipation dienen und als Transmissionsriemen für Legitimation und ›support‹ für die Demokratie. Die meisten modernen Interessenverbände haben im 19. und 20. Jahrhundert im ganzen durchaus zur Ausweitung und Erhaltung liberaler Demokratie und zu sozialem und politischem Wandel beigetragen. Die Existenz explizit definierter und unterschiedlicher organisierter Interessen ist eine zentrale Voraus setzung für die Anerkennung von Pluralismus, für die Etablierung von Regeln und Kanälen des demokratischen Spiels und für das Funktionieren von checks and balances. Aktive und dynamische Interessenverbände und Assoziationen und ›Vereine‹ aller Art (unter den verschiedensten Bezeichnungen, wie z. B. NGO, NPO, CSO) haben auch die Konsolidierung zivilgesellschaftlicher Mechanismen befördert, und ihre partizipatorischen und mobilisierenden Energien haben oft dabei mitwirken können, politische Systeme in Fällen von Krisen und Stagnation zu revitalisieren und zu erneuern. Diese Funktionen der Interessenverbände für den Betrieb demokratischer Ordnungen haben sich auch in dem beschriebenen Prozess grundlegenden Wandels der Konstellationen politischer Öffentlichkeit und Organisation am 22 Vgl. W. Streeck u. P. C., Schmitter, From National Corporatism to Transnational Pluralism: Organized Interests in the Single European Market, in: Politics and Society, Jg. 19,2, 1991, S. 133–164; R. Eising u. B. Kohler-Koch, Interessenpolitik in Europa, Baden-Baden 2005; J. Greenwood, Interest representation in the European Union, Basingstoke 20113; J. Beyers u. a., Researching Interest Group Politics in Europe and Elsewhere: Much we study, little we know?, in: West European Politics, Jg. 31,6, 2008, S. 1103–1128.. 23 J. Berkhout u. D. Lowery, Counting Organized Interests in the European Union: A Com parison of Data Sources, in: Journal of European Public Policy, Jg. 15,4, 2008, S. 489–513.
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Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts nicht wesentlich geändert. Allerdings sind die Verbände, ebenso wie die politischen Parteien und die Institutionen und Mechanismen demokratischer und parlamentarischer Regierung ganz allgemein, unter zusätzlichen Druck geraten durch den Aufstieg neuer Konkurrenten, kurzfristige gezielte Mobilisierungen ›von unten‹, neue fragmentierte Gruppenbildungen oder ›deliberative‹ Gremien, und die Trennlinien zwischen Interessenverbänden, sozialen Bewegungen, politischen Parteien und Dienstleistungsfirmen für politische Kommunikation sind (wieder einmal) mehr verwischt worden als zuvor. Im Zuge des ›cultural turn‹ in den Sozialwissenschaften hat die neuere Forschung über Interessenverbände auch ihr besonderes Augenmerk auf deren Strategien für networking (inklusive Dienstleistungen für ihre Klientel), für Management und Kommunikation gerichtet.24 Auch in diesem komplexeren Umfeld sind die Verbände zentrale Agenten für Partizipation, Pluralismus und Demokratie geblieben. Wir sollten aber nicht davon ausgehen, dass Interessenverbände per se immer demokratisch verfasst sind, immer demokratische Ziele verfolgen oder unter allen Umständen die Demokratie verteidigen und fördern. Dies ist keineswegs immer so. In zahlreichen europäischen Ländern haben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerade auch viele Interessenverbände, besonders die von Industrie, Landwirtschaft und mobilisierten krisengeschädigten Mittelschichten, oft wesentlich zum Scheitern von Demokratien beigetragen und mit Diktaturen kooperiert (z. B. in Italien, Deutschland, Spanien). Besonders leicht fiel ihnen dabei in obrigkeitlich-autoritärer Tradition das Bestreiten der Legitimität parlamentarischer Regierung und politischer Parteien. In der Verfolgung ihrer primären politischen Zielsetzung (der Interessenrepräsentation und -durchsetzung) tendieren Interessenverbände nicht selten zu einer Art Unentschiedenheit oder Neutralität gegenüber der konkreten Form politischer Ordnung, sind ›regimeblind‹, obwohl sie eigentlich wissen müssten, dass dies für sie am Ende kontraproduktiv ist (weil Interessenpolitik am besten in demokratischen Zuständen gedeiht). Deshalb ist es umso wichtiger, dass man dafür sorgt, dass auch Interessenverbände, wie die politischen Parteien, in ihren Strukturen, Zielsetzungen und Aktionen demokratischen Standards entsprechen, die Spielregeln befolgen und darüber auch angemessen Rechenschaft ablegen, und dass man, wo immer es nötig ist, versucht, auch die Systeme der Interessenvermittlung in den breiteren Kontext und die Strukturen demokratischer Institutionen und Mechanismen zu integrieren. Letzteres kann in den Fällen transnationaler Interessenverbände besondere Probleme aufwerfen.
24 Vgl. A. Steiner u. O. Jarren, Intermediäre Organisationen unter Medieneinfluss? Zum Wandel der politischen Kommunikation von Parteien, Verbänden und Bewegungen, in: F. Marcinkowski u. B. Pfetsch (Hg.), Politik in der Mediendemokratie, PVS-Sonderheft 42, Wiesbaden 2009, S. 251–269; O. Hoffjann u. R. Stahl, Handbuch Verbandskommunikation, Wiesbaden 2010.
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In Diktaturen können sich die Aktivitäten von Interessenverbänden demgegenüber auch ganz anders auswirken: Trotz ihrer meist vom herrschenden Regime gewünschten instrumentellen Funktion, als Transmissionsriemen und Mobilisierungsagent der Staatspartei (oder ›Bewegung‹) in unterschiedlichen sozialen Bereichen zu dienen, sind die Verbände (insbesondere Gewerkschaften) hier, vor allem aufgrund der partizipatorischen Energien und Gelegenheiten, die sie mobilisieren, oft auch Träger einer schleichenden, inkrementell vorankommenden Liberalisierung und Öffnung, die in der Folge zur Fraktionierung der Regimeeliten, zu Loyalitätsverschiebungen und zum definitiven Niedergang des diktatorischen Regimes führen kann. Die Forschung der letzten Jahrzehnte über Regimewechsel (transitions) und die Konsolidierung neuer Demokratien hat auch gezeigt, dass sowohl Charakter und Eigenschaften der Interessenverbände als auch die jeweiligen Konstellationen im ›Teilregime‹ der Interessenvermittlung wichtige Auswirkungen auf den gesamten Prozess der demokratischen Konsolidierung haben können.25
25 Vgl. P. C. Schmitter, Organized Interests and Democratic Consolidation in Southern Europe, in: R. Gunther u. a. (Hg.), The Politics of Democratic Consolidation. Southern Europe in Comparative Perspective, Baltimore 1995, S. 284–314; siehe auch Abb. 1 in diesem Band, S. 143.
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Demokratisierung und Demokratiedefekte im Vergleich
Demokratisierungsprobleme in Europa und Amerika*
Dass demokratische Ordnungen erstrebenswert sind, ist auch ein empirischer Befund. Sie sind es besonders dann, wenn man sie nicht hat; und wenn man sie hat, gibt es immer Gründe, sie noch weiter zu verbessern, weil Demokratie nicht nur eine Ordnung ist, in der man sich ausruhen kann, sondern auch ein permanenter gesellschaftlicher und politischer Prozess mit Chancen und Bedrohungen. Eine Bedrohung ist der Zusammenbruch der demokratischen Ordnung, wenn man sie nicht flexibel erhält und kontinuierlich reformiert. Man kann Demokratie verlieren, so wie man sie gewinnen kann, und keine Gesellschaft ist davor sicher. Die Ursachen und Bedingungen der Errichtung nichtdemokratischer, meistens autoritärer Regime sind ebenso wichtige Forschungsgegenstände wie die Ursachen und Bedingungen der Demokratisierung. In der Folge beziehe ich mich auf die letzteren.1 Die Entstehung der modernen Demokratien gehört in den breiteren Kontext der westlichen Modernisierungsprozesse seit der frühen Neuzeit. Wie sich dabei einzelne demokratische Systeme entwickelten, ob sie mehr repräsentativ oder plebiszitär, mehr parlamentarisch oder präsidentiell ausgerichtet waren, ob sie mehr von oben oder von unten gebaut wurden, wie ihre Institutionen aussahen, ob sie mehr föderalistisch oder mehr zentralistisch waren, die Gewaltenteilung stark oder schwach ausgeprägt war, wo ihre Grenzen lagen, wen sie einschlossen und ausschlossen und welchen Stellenwert zu bestimmten Zeitpunkten die Demokratisierung im Kontext der anderen Modernisierungsfaktoren hatte, all dies ergibt sich dabei jeweils aus den konkreten Konstellationen der einzelnen Gesellschaften. Es gibt unterschiedliche Wege (trajectories) zur Demokratie. Demokratisierung ist ›pfadabhängig‹. Im Folgenden möchte ich einige kurze, zugespitzte und typologisch ver einfachte Bemerkungen machen zu vier größeren Komplexen: den Faktoren der Demokratisierung, der Rolle der ›Zivilgesellschaft‹, den Ergebnissen demo kratischer Transformationen im Vergleich und zu den Problemen ›defekter Demokratien‹.
* Zuerst erschienen in: H. Brunkhorst u. P. Niesen (Hg.), Das Recht der Republik, Frankfurt 1999, S. 317–345. 1 Die Form des Vortrags wurde hier weitgehend beibehalten. Die Belege wurden aus der ursprünglich angehängten Literaturliste ergänzt. Der Beitrag wurde leicht gekürzt.
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Faktoren der Demokratisierung Was die Faktoren der Demokratisierung angeht, so hat das ›kurze‹ 20. Jahrhundert, ›the best and the worst‹ (Hobsbawm), entscheidende Fortschritte, aber auch Rückfälle gebracht. Gegen Ende des Jahrhunderts scheinen die Fortschritte zu überwiegen. Sie kamen in vier Wellen: 1. nach dem Ersten Weltkrieg, seit 1917 vor allem in Mittel- und Osteuropa; 2. nach 1945, in Deutschland, Österreich, Italien, Japan und in Teilen der dekolonisierten ›Dritten Welt‹; 3. nach 1974 in Südeuropa (Portugal, Griechenland, Spanien) und in zahlreichen Ländern Lateinamerikas und Ostasiens, später auch in Südafrika, und schließlich 4. nach 1989 in den Ländern der bis dahin kommunistischen Welt.2 Gegenstand der neueren Transformationsforschung sind vor allem die Fälle der letzten beiden Wellen. Oft sind allerdings Rückgriffe auf Fälle der ersten beiden Wellen nötig, und dies nicht nur im Hinblick auf die Erfahrungen mit den einschlägigen theoretischen Zugängen, Fragen und dem methodischen Handwerkszeug oder beim diachronen Einbezug der italienischen Systemtransformation seit 1943 in die neueren südeuropäischen Vergleiche. Aus der Entwicklung der Zwischenkriegszeit in den Ländern der ersten Demokratisierungswelle in Mittel-, Ost- und Südosteuropa kann man vor allem auch lernen, dass Demokratisierungsprozesse an jedem Punkt schiefgehen können, dass sich unter bestimmten Bedingungen neue autoritäre oder totalitäre Regime etablieren können und dass die Ungewissheit über die Zukunft ein zentrales Charakteristikum demokratischer Prozesse ist. Die vergleichende Forschung zum ›breakdown of democracies‹ hat dazu schon vor Jahrzehnten sehr viel beigetragen. Die neueren Untersuchungen zum breakdown der autoritären Regime und zu den Ansätzen der neuen Demokratisierung konnten daran anschließen.3 Die neuere Wachstumsindustrie sozialwissenschaftlicher Demokratisierungs forschung hat sich während der letzten zwei Jahrzehnte boomartig entwickelt: Sie begann mit den Analysen der Regimeübergänge (im Jargon: transitions) in einem engeren politisch-institutionellen Sinn, von einer konkreten Form eines nichtdemokratischen Regimes (totalitär, autoritär, sultanistisch) zu einer kon2 Ich zähle hier etwas anders als Samuel Huntington; vgl. S. P. Huntington, The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, Norman 1991. 3 Zur Ungewissheit (uncertainty) vgl. u. a. T. L. Karl u. P. C. Schmitter, Modes of Transition in Latin America, Southern and Eastern Europe, in: Int. Social Science Journal, Nr. 128, 1991, S. 269–284; zum breakdown of democracies das Standardwerk: J. J. Linz u. A. Stepan (Hg.), The Breakdown of Democratic Regimes, 4 Bde., Baltimore 1978, bes. Bd. 1: J. J. Linz, Crisis, Breakdown, & Reequilibration; zum Typ autoritärer Regime: J. J. Linz, Totalitarian and Authoritarian Regimes, in: F. I. Greenstein u. N. W. Polsby (Hg.), Handbook of Political Science, Bd. 3, Reading, MA 1975, S. 175–411.
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kreten Form der Demokratie,4 weitete sich mit der Zeit – und mit den realen Fortschritten ihrer Untersuchungsobjekte – aus zur Erforschung des meistens länger andauernden und komplexeren Prozesses der Konsolidierung der neuen Demokratien, und hat in der Folge zunehmend auch ausgegriffen in den Bereich der umfassenden, teilweise säkularen sozio-ökonomischen und kulturellen Veränderungen, die zu den Bedingungsfaktoren der Regimewechsel und Demokratisierungsprozesse gehören und kurz-, mittel- und langfristig auf diese einwirken.5 Diese umfassenden Transformationsprozesse müssen zwar im Kontext der ex-kommunistischen Länder von Anfang an insgesamt stärker berücksichtigt werden, weil sie in der Regel gleichzeitig mit dem politisch-institutionellen Wandel zu bearbeiten sind, aber sie sind in der westlichen oder in der ›Dritten‹ Welt ebenso wichtig. Hier konnten es sich Politiker wie Wissenschaftler nur eher leisten, ihre Bearbeitung aufzuschieben. Je mehr man diese umfassenderen sozio-kulturellen Transformationsprozesse mit einbezogen hat, umso mehr hat sich übrigens die Demokratisierungsforschung allmählich auch ›historisiert‹ und ist systembezogener geworden, während sie anfangs eine Domäne der Politikwissenschaftler und theoretischen Soziologen gewesen war, die überwiegend akteurszentrierten Ansätzen folgten (z. B. Stepan, Schmitter, O’Donnell, Przeworski).6 Der politisch-institutionelle Regimeübergang zur Demokratie (transition) gilt gemeinhin als abgeschlossen, wenn eine demokratische Verfassung in Kraft gesetzt ist und die Verfassungsorgane ihre Arbeit aufgenommen haben. Die Konsolidierung der neuen Demokratie dauert in der Regel länger und ist auch nicht so sehr als eine auf die transition folgende weitere Phase zu verstehen, sondern als ein umfassenderer Prozess der Vertiefung und de facto-Geltung demokratischer Prozeduren, der sich meistens überlagert mit der zweiten Hälfte der transition (nach den ersten Wahlen) und (oft noch weit) über diese hinausreicht. 4 Vgl. vor allem: G. O’Donnell u. a. (Hg.), Transitions From Authoritarian Rule, 4 Bde., Baltimore 1986; L. Diamond u. M. F. Plattner (Hg.), The Global Resurgence of Democracy, Baltimore 1993; W. Merkel (Hg.), Systemwechsel 1. Theorien, Ansätze und Konzepte der Transitionsforschung, Opladen 19962, sowie T. Vanhanen, The Process of Democratization. A Comparative Study of 147 States, 1980–1988, New York 1990. 5 Vgl. vor allem R. Gunther u. a. (Hg.), The Politics of Democratic Consolidation: Southern Europe in Comparative Perspective, Baltimore 1995; J. J. Linz u. A. Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation: Southern Europe, South America, and Post-Communist Europe, Baltimore 1996; W. Merkel u. a. (Hg.), Systemwechsel 2. Die Institutionalisierung der Demokratie, Opladen 1996; W. Merkel u. E. Sandschneider (Hg.), Systemwechsel 3, Parteien im Transformationsprozess, Opladen 1997; W. Merkel u. H. J. Puhle, Von der Diktatur zur Demokratie. Transformationen, Erfolgsbedingungen, Entwicklungspfade, Opladen 1999, sowie L. Diamond (Hg.), Consolidating the Third-Wave Democracies: Trends and Challenges, Baltimore 1997. 6 Vgl. die zitierten Beiträge sowie zu den ökonomischen Aspekten auch A. Przeworski, Democracy and the Market, Cambridge 1991; L. C. Bresser Pereira u. a., Economic Reforms in New Democracies, Cambridge 1993; J. M. Maravall, Regimes, Politics, and Markets. Democra tization and Economic Change in Southern and Eastern Europe, Oxford 1997.
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Das allgemeine Erkenntnisinteresse der transition-Forschung lässt sich durch folgende Frage ausdrücken: Welche Faktoren bedingen in welcher Reihenfolge den Übergang von einer bestimmten Form eines nichtdemokratischen Regimes (in Südeuropa und Lateinamerika durchweg eines autoritären Regimes, in Osteuropa eines kommunistischen) zu einer bestimmten Form eines demokratischen Regimes? Wichtig sind dabei jeweils die bestimmten Formen, die im einzelnen zu klassifizieren sind, und die sich aus ihren jeweiligen Verknüpfungen ergebenden unterschiedlichen Wege des Regime- oder Systemwechsels. Dasselbe gilt auch für den breiteren Kontext der demokratischen Konsolidierung, allerdings mit erheblich mehr intervenierenden Faktoren. Das Produkt, das es hier zu erklären gilt, ist die konkrete Form einer konsolidierten Demokratie (vgl. Abb. 1, ganz rechts). Die auf sie einwirkenden Faktoren lassen sich genauer klassifizieren und zehn unterschiedlichen Kategorien oder Bündeln zuordnen, die zu einem Teil politisch-institutioneller Art sind, zum anderen Teil darüber hinausgehen. Diese Faktorenbündel sind: (1) die jeweilige Stärke der civil society, das Handlungspotential der Eliten, der Mobilisierungsgrad und die sozialen, religiösen oder nationalen Konfliktlinien in der Gesellschaft, die als ›confining conditions‹7 eng zusammenwirken mit (2) den Bedingungen der Wirtschaftskonjunktur. Für beide spielt (3) der erreichte Entwicklungsstand und der dahinterstehende konkrete Modernisierungsweg eine wichtige Rolle. Hinzu kommen (4) die langfristigen Tendenzen kultureller Transformation, oft als Folgen technischen oder ökonomisch-sozialen Wandels (z. B. Säkularisierung, Konsumgesellschaft, im Bereich von Familie und Erziehung, Wertewandel, etc.), und auf jeder Stufe, aber nicht auf jeder Stufe gleich wichtig, (5) ausländische und internationale Einflüsse. Unter den im engeren Sinne politisch-institutionellen Faktoren (in Abb. 1 die untere linke Hälfte) sind vor allem wichtig: (6) Stärke, Dauer, Präsenz oder Erinnerungskraft vorautoritärer Traditionen und Institutionen, insb. wenn diese demokratisch waren, sowie (7) die näheren Umstände des Zusammenbruchs (breakdown) einer früheren Demokratie (so vorhanden), dann (8) Typ, Dauer, Koalitionen und Eigenarten des autoritären Regimes, insb. ob und wie es militärisch, zivil oder gemischt geführt und wie (9) die Führung in dessen letzter Phase zusammengesetzt war. Ein zentrales Kapitel für sich stellen (10) die Modalitäten des engeren Regimeübergangs dar, also Weg und Verlauf der transition, die Tatsache, ob diese zwischen den alten autoritären Eliten und der demokratischen Opposition paktiert oder nicht paktiert war, ob sie revolutionär oder reformistisch verlaufen ist, wer die Akteure waren, auf welche Weise das alte Regime zusammenbrach, ob in Krieg und Niederlage, eher schleichend oder gar geplant.
7 O. Kirchheimer, Confining Conditions and Revolutionary Breakthroughs, in: American Political Science Journal, Jg. 59, 1965, S. 964–974.
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Abb. 1: Faktoren und Teilregime demokratischer Konsolidierung
Der Verlauf der Konsolidierung und die Ausprägung des neuen Typs von Demokratie, der sich konsolidiert, hängen wesentlich von dem Fortgang der Konsolidierung einzelner Sektoren oder Teilregime ab (vgl. die mittlere Kolumne in Abb. 1). Es sind: (1) der Bereich wirtschaftlicher Stabilität und (zumindest potentieller) Entwicklung, ohne die auch der freiesten Demokratie auf die Dauer die Leute weglaufen, (2) das Parteiensystem, (3) das System oder Regime organisierter Interessenvermittlung und, eng damit zusammenhängend, (4) der Bereich der politischen und gesellschaftlichen Eliten. Hinzu kommt (5) das Teilregime der politischen Institutionen und der verfassungsmäßigen Ordnung, (6) die Dimensionen nationaler Integration, insb. mit Bezug auf Minderheiten 143
oder nach Autonomie strebende Regionen; hier wird das Problem der angemessenen, den Demokratisierungsprozess abstützenden territorialen Organisation (oder der ›stateness‹ in den Worten von Linz und Stepan) aufgeworfen. Wichtig ist schließlich (7) noch das Teilregime der Meinungen, Haltungen und Verhaltensweisen der Bürger, ohne deren Unterstützung und Loyalität sich auf die Dauer kein demokratisches Regime halten kann, also der jeweilige Grad von Legitimitätsproduktion, oder, wie man bescheidener sagen könnte, von ›contingent consent‹ oder ›diffuse support‹ für die Demokratie (in Abb.1 mit dem verkürzten Jargon-Wort: supports bezeichnet). Das Verhältnis zwischen der Konsolidierung der Teilregime und der Konsolidierung der Demokratie insgesamt erschöpft sich keinesfalls in einfacher Addition oder Integration. Die Teilregime hängen vielfach zusammen: Wenn die Wirtschaft für die Bürger schlecht läuft oder deren vitale Interessen, z. B. an Arbeitsplätzen oder an regionaler Autonomie, nicht hinreichend berücksichtigt werden, setzt regelmäßig der berühmte ›desencanto‹-Effekt ein: Die Verantwortung für diese Zustände wird der Regierung und der demokratischen Politik insgesamt zugeschrieben, den Institutionen oft ebenso wie den Parteien und Eliten; die supports nehmen ab, und wenn dieser Zustand länger dauert, kann Delegitimierung und Dekonsolidierung einsetzen. Deshalb müssen die meisten dieser Teilregime weitgehend konsolidiert sein, wenn insgesamt die Demokratie sicher sein soll. Das heißt aber nicht, dass dazu jedes Teilregime hundertprozentig konsolidiert sein müsste. So haben z. B. die spanischen Wahlen von 1982 eine Dekonsolidierung und einen kompletten Umbau des Parteiensystems ergeben, aber durchaus zur Konsolidierung der Demokratie insgesamt wesentlich beigetragen.8 Im Konsolidierungsprozess gibt es durchweg mehr Akteure, mehr Einflussfaktoren und mehr politische Arenen als im Kontext der ›transition‹, gelegentlich werden die Bedingungen einer transition (die diese charakterisierten) erneut verhandelt und verändert, wie in Argentinien oder Portugal. Der Konsolidierungsweg einer jungen Demokratie ist deshalb nicht per se die Fort setzung des konkreten Wegs der transition, sondern kann durchaus anders bestimmt sein und durch andere Kräfte geprägt werden. Was für die transition wichtig war, muss nicht unbedingt wichtig für die demokratische Konsolidierung sein, und umgekehrt. Über die Definition der demokratischen Konsolidierung herrscht keineswegs Einigkeit: Es gibt sowohl relativ minimalistische (Di Palma) als auch maximalistische Definitionen (Schmitter, Pridham).9 Es spricht vieles dafür, demokratische Regime dann als konsolidiert anzusehen, wenn alle politisch signifikanten Gruppen die zentralen politischen Institutionen des Re8 Dazu insb. J. J. Linz u. J. R. Montero (Hg.), Crisis y cambio: Electores y partidos en la España de los años ochenta, Madrid 1986; Linz u. Stepan, Problems, S. 87–115. 9 Vgl. G. Di Palma, To Craft Democracies, Berkeley 1990; P. C. Schmitter u. T. L. Karl, What Democracy is… and is not, in: Journal of Democracy, Jg. 2,3, 1991, S. 75–88; G. Pridham (Hg.), Securing Democracy: political parties and democratic consolidation in Southern Europe, London 1990.
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gimes als legitim ansehen und die Spielregeln der Demokratie befolgen, die Demokratie sozusagen ›the only game in town‹ ist.10 Dies hat strukturelle. attitudinale und Verhaltensdimensionen, und der Ungenauigkeitsfaktor liegt in dem Terminus ›politisch signifikant‹. Dabei sollten die Kriterien für ›Demokratie‹ im wesentlichen Robert Dahls und Juan Linz’ formalem, oder besser: institutionellem demokratischen Minimum folgen, also insbesondere vorsehen: gleiches Bürgerrecht mit hoher Einschlussrate, Anerkennung der klassischen Menschenund Bürgerrechte incl. Vereinsfreiheit und Garantien für freie Information, Rechtsstaatlichkeit, regelmäßige wirksame freie und kompetitive Wahlen und ausschließliche Ausübung politischer Macht durch gewählte und entsprechend verantwortliche und kontrollierbare Funktionsträger.11
Probleme der Zivilgesellschaft Besondere Beachtung verdienen dabei noch die Probleme rund um jenen Bereich, den man neuerdings zunehmend – wenn auch oft etwas modisch und vor allem unscharf – mit dem Begriff ›Zivilgesellschaft‹ belegt. Angemessener erscheint der Terminus ›civil society‹, weil er die lange Tradition des Begriffs besser erfassen kann. Nur das hier Wesentliche in Stichworten: Unter den Faktoren, die für Ablauf und Ergebnis eines Demokratisierungsprozesses wichtig sind, ist bereits die jeweilige ›Stärke der civil society‹ ausdrücklich genannt worden. Eine wichtige Rolle spielt civil society auch für den jeweils spezifischen Entwicklungsweg einer Gesellschaft, für die kulturellen Transformationen, für die vorautoritären demokratischen Traditionen und den breakdown der früheren Demokratie, für den Verlauf des autoritären Regimes und der transition im engeren Sinn, sowie für die Teilregime der Eliteninteraktion, des Parteiensystems, des Systems der Interessenvermittlung und der nationalen oder regionalen Integration. Die civil society-Problematik ist also in den meisten Bereichen und Dimensionen der demokratischen Konsolidierung präsent. Die civil society ist ein Konstrukt, dessen Grenzen nicht immer klar sind. Der Begriff wird zwar oft synonym mit dem der ›Gesellschaft‹ (etwa im Wortgebrauch von Hegel und Marx) gebraucht, aber er meint nicht die ungebändigte, krude reale Gesellschaft. Seit John Locke bezieht er sich insbesondere auf eine sozusagen ›zivilisierte‹ Gesellschaft, deren Teile sich auf einen normativen Minimalkonsens geeinigt haben, zu dem vor allem Anerkennung und Toleranz, Fairness, der Ausschluss nichtlegitimierter physischer Gewalt und die Unter10 Dazu insb. R. Gunther u. a. (Hg.), The Politics of Democratic Consolidation; Linz u. Stepan, Problems. 11 Vgl. R. A. Dahl, Democracy and Its Critics, New Haven 1989, S. 220 ff., 232 ff.; ders., Polyarchy. Participation and Opposition, New Haven 1971; M. G. Schmidt, Demokratietheorien. Eine Einführung, Opladen 1995.
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ordnung unter vereinbarte Verfahrensregeln gehören. Als zentrales Konzept der Voraussetzungen und der Absicherung von Demokratie und Rechtsstaat bezieht sich ›civil society‹ vornehmlich auf die miteinander konkurrierenden und kooperierenden Akteure, Initiativen, Assoziationen und Interessengruppen im vor- und nichtstaatlichen Raum, also im intermediären Bereich zwischen Individuum und Staat, die ihre materiellen oder immateriellen Interessen selbstorganisiert vertreten.12 Unter einer ›starken‹ civil society verstehen wir eine solche, deren Grad autonomer Organisation, Vernetzung und Regelungskapazität von unten so hoch ist, dass Eingriffe aus der staatlichen Sphäre die Fähigkeit der gesellschaftlichen Gruppen zur wirksamen Vertretung ihrer Interessen und Projekte nicht wesentlich beeinträchtigen können. Civil society befindet sich in einem ständigen Spannungsverhältnis zum Staat, ihre Akteure sind immer auch politische Akteure, die über die Parteien und das System der organisierten Interessenvermittlung in die staatliche Politik hineinwirken, in einem demokratischen Regime sogar richtungsweisend. Ihre wichtigsten Funktionen sind dabei, in der Reihenfolge ihrer Unabdingbarkeit: (1) der Schutz vor staatlicher Willkür durch Sicherung der Freiheits- und Eigentumsrechte und entsprechende Kontrollen, (2) die Entschärfung sozialer Konflikte durch Abbau bestehender Konfliktlinien (›cleavages‹) und durch Verfahren, (3) das Training demokratischen Umgangs und der Kompromissfähigkeit (das alte Tocquevillesche Argument), auch als Bereitstellung ›sozialen‹ (Putnam) und ›institutionellen Kapitals‹,13 und (4) die Herstellung und Ausweitung von Öffentlichkeit und Kritik, die sich sowohl auf den Grad der Partizipation als auch auf die Inhalte der Debatten bezieht und unter autoritären Regimen oft auch gewaltsame Dimensionen haben kann. Je mehr und je besser diese Funktionen erfüllt werden, umso sicherer ist (oder wird) im allgemeinen die Demokratie. In Übergängen zur Demokratie sind Zivilgesellschaften in der Regel noch keineswegs voll entfaltet, und es kommt darauf an, wie stark und wie fest verankert wenigstens wesentliche Kerne sind und wie sie sich ausbauen lassen. Wichtig ist allerdings, dass man sich die civil society nicht als einheitlichen Akteur vorstellen kann (wie Carlos Monsivais 1985 in México),14 ja nicht ein12 Vgl. Die Debatten in: J. Cohen u. A. Arato (Hg.), Civil Society and Political Theory, Cambridge, MA 1992; J. Keane, Civil Society. Old Images, New Perspectives, Oxford 1998; M. W. Foley u. B. Edwards, The Paradox of Civil Society, in: Journal of Democracy, Jg. 7,3, 1996, S. 38–52; M. Walzer, Was heißt zivile Gesellschaft?, in: ders., Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie, Frankfurt 1996, S. 64–97; H. J. Lauth u. W. Merkel (Hg.), Zivilgesellschaft im Transformationsprozess, Mainz 1997, sowie V. Pérez Díaz, La primacía de la sociedad civil, Madrid 1993. 13 Vgl. R. Putnam, Making Democracy Work: Civic Traditions in Modern Italy, Princeton 1993. 14 Als sich nach dem verheerenden Erdbeben 1985 in México, D. F. beherzte Bürger organisierten und die plündernden Polizisten verprügelten, schrieb der angesehene Intellektuelle Carlos Monsivais einen vielbeachteten euphorischen Artikel darüber, dass es »einen neuen Akteur in der mexikanischen Politik« gebe: »die Zivilgesellschaft«.
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mal ihre Mechanismen als jederzeit eindeutig gerichtet interpretieren kann. Die Akteure sind die einzelnen Gruppen, und die Zivilgesellschaft ist eine durchaus konfliktive Gesellschaft, in der es ganz zentral immer auch um Macht geht und ein Wettbewerb um Machtchancen stattfindet. Irreführend ist auch die verbreitete Reduktion von ›Zivilgesellschaft‹ auf die Bestände und Mechanismen einer demokratischen ›politischen Kultur‹, die oft als Voraussetzung für das Funktionieren der Demokratie angesehen wird. Wenn dies zuträfe, dürfte es kaum Demokratisierungen geben. Richtig ist im Gegenteil eher, dass demokratische Institutionen, Interaktionen und Prozesse mittel- und langfristig eine demokratische politische Kultur etablieren können.15 Ebensowenig überzeugt Huntingtons (1996) These, dass bestimmte religiös-kulturelle Inhalte, Richtungen und Zivilisationstypen (z. B. des Islam) weniger demokratieverträglich seien als andere. Hier kommt es vielmehr bei allen Religionen jeweils auf den Grad des Fundamentalismus (demokratiehinderlich) bzw. der Säkularisierung (demokratieförderlich) an.16 In Bezug auf die Probleme der Demokratisierung lässt sich für die Zivil gesellschaft etwa folgendes resümieren: (1) Eine starke Zivilgesellschaft markiert in der Regel Grenzen des Einflusses der Staatsmacht und kann Puffer und Bollwerke gegen die Übergriffe des in Südeuropa, Osteuropa und in der ›Dritten Welt‹ trotz der oft geringen Effizienz traditionell überdimensionierten und ›starken‹ Staates errichten, also auch des autoritären Staates.17 Ein autoritäres Regime wird durch Stärkung zivilgesellschaftlicher Mechanismen durchweg geschwächt, und deshalb ist die ›Stärke‹ der civil society für uns ein wichtiger Transformationsfaktor. In der Demokratie kann dagegen bei schwacher Zivilgesellschaft auch der Staat meistens nicht sonderlich stark und effizient sein. Deshalb spielt der Zustand der civil society auch noch bei der Konsolidierung der neuen Demokratie eine wichtige Rolle. (2) Die Interaktionen der Gruppen einer sich aus der Vormundschaft des Staates emanzipierenden civil society finden überwiegend in traditionellen Bahnen und Kanälen statt, sodass es durchaus sein kann, dass vorhandene starke ethnische, religiöse oder soziale cleavages und Konflikte verstärkt werden statt gemildert, und dass auch gewaltsame Eruptionen nicht ausgeschlossen sind. (3) Drittens ist zu beachten, dass keineswegs jedes Element zivilgesellschaftlicher Traditionen per se demokratisch ist. Der zivilgesellschaftliche Minimal15 Vgl. auch die Argumentation von Muller u. Seligson gegen Inglehart und andere: E. N. Muller u. M. A. Seligson, Civic Culture and Democracy. The Question of Causal Relationships, in: American Political Science Review, Jg. 88, 1994, S. 635–652; R. Inglehart, The Silent Revolution, Princeton 1977. 16 S. P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996. 17 Zur faktischen (Liefer-)Schwäche des ›starken‹ Staats vgl. für Südeuropa: E. Malefakis, The Political and Socioeconomic Contours of Southern European History, in: R. Gunther u. a. (Hg.), The Politics of Democratic Consolidation, S. 33–76.
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konsens ist noch kein Konsens über das demokratische Minimum, und viele lebhaft agierende Assoziationen und Gruppen können (wie manche Kirchen oder Gewerkschaften) intern hierarchisch, autoritär, klientelistisch, also völlig undemokratisch verfasst sein und damit eine weitere Entwicklung zur Demokratie (auch) bremsen. Gleichwohl können bei besonders geringem zivil gesellschaftlichen Engagement auch solche Gruppen zeitweise hilfreich sein, weil ihre Aktivitäten wenigstens den gesellschaftlichen Pluralismus befördern können (z. B. wenn es gelänge, die rivalisierenden Gruppen der ›Mafia‹ und des ehemaligen militärisch-industriellen Komplexes in Russland sozusagen zivil gesellschaftlich zu zähmen). Es kommt also (4) immer sehr auf den jeweiligen Anteil spezifisch demokratischer (oder wenigstens libertärer) Traditionen in einer konkreten Zivilgesellschaft und ihren Gruppen an und auf die konkrete Einwirkung bestimmter zivilgesellschaftlicher Traditionen auf bestimmte Abschnitte und Mechanismen des Demo kratisierungsprozesses. Dabei artikuliert sich die Zivilgesellschaft am einheitlichsten in der Phase des Niedergangs eines repressiven autoritären Regimes. Danach machen sich in der Regel Differenzen und Konflikte wieder stärker bemerkbar. In diesem Prozess verändern sich (5) auch die Erscheinungsformen und vor allem der Strukturierungs- und Institutionalisierungsgrad zivilgesellschaftlicher Energien: In der Liberalisierungsphase des autoritären Regimes und noch während der transition artikulieren sie sich meist diffuser, spontaner und weniger kanalisiert als im später einsetzenden Konsolidierungsprozess der Demokratie mit einer höheren Zahl neu bereitgestellter Partizipationskanäle und entsprechender Institutionen. Wenn die ominösen ›desencanto‹-Effekte einsetzen, kann es dabei durchaus auch zu neuen und die gewohnten Erfahrungen erst einmal sprengenden Konflikten zwischen starken (und teilweise auch undemokratischen) zivilgesellschaftlichen Aspirationen und der inzwischen demokratischen Staatsmacht kommen. – Es ist also festzuhalten, dass zwar gemeinhin die Stärke oder Stärkung der civil society als demokratisierungsförderlich angesehen werden kann, dass aber der jeweils konkrete Beitrag kontextabhängig ist und sehr sorgfältig überprüft werden muss und dass Hindernisse und Rückschläge nicht ausgeschlossen sind.
Demokratische Transformationen im Vergleich Die Resultate der neueren transitions und Transformationsprozesse seit 1974 sind bunt gemischt. Durchweg in kurzer Zeit konsolidierten Demokratien in Süd- und Mitteleuropa steht eine große Anzahl noch nicht ganz konsolidierter demokratischer Regime oder schiefgegangener Demokratisierungen in anderen Teilen der Welt gegenüber. Insbesondere die inzwischen ›klassischen‹ südeuropäischen Fälle waren durch eine Reihe demokratiefördernder Charakteristika begünstigt. Dazu gehören durchweg eine längere Geschichte gesellschaftlicher 148
Differenzierung und eines aufgefächerten, tendenziell pluralistischen Institutionenbaus, oft parlamentarischer oder demokratischer Art, in »moderate societies« (Malefakis), folglich die oft höhere Zahl der agierenden Gruppen, ein etabliertes Geflecht von »structured intermediacy«, ein ausgeprägter Dualismus von Staat und Gesellschaft mit großer Varietät auf engem Raum.18 Die Abhängigkeit vom Ausland ist in den jüngeren südeuropäischen Fällen (mit der Ausnahme Italiens nach 1945) durchweg geringer gewesen als in Lateinamerika und in Osteuropa; gleichzeitig bestand aber ein für die Demokratie durchaus freundliches ambiente, das sich institutionell z. B. am Europarat, der EG und der NATO festmachen lässt und in der transition wesentlich wichtiger war als in späteren Etappen der Konsolidierung. Ökonomisch war Südeuropa weiter entwickelt als Lateinamerika und Osteuropa, im Falle Spaniens hat die vorausgegangene franquistische Modernisierungspolitik seit den 1960er Jahren sogar den späteren Demokratisierungsprozess wesentlich erleichtert. Insgesamt sind die südeuropäischen Länder der ›westlichen‹ Entwicklung gefolgt, zunächst mit Abstand, dann zunehmend aufholend, die osteuropäischen Länder aufholend und nachahmend.19 In institutioneller Hinsicht muss festgehalten werden, dass alle nichtdemokratischen Regime in Südeuropa autoritäre Regime gewesen sind, und nicht mehr oder anderes, z. B. totalitäre, ›post-totalitäre‹ oder sultanistische Regime im Sinne der Definitionen von Linz und Stepan, wie zum größten Teil in Osteuropa.20 Autoritäre Regime unterscheiden sich von totalitären insb. durch den geringeren Grad von Mobilisierung, ideologischem Verbindlichkeitsanspruch und flächendeckender Kontrolle und durch eine stärkere interne Fraktionierung der Eliten des Regimes. Auch ist kein einziges dieser Regime in Südeuropa dominiert gewesen von der militärischen Hierarchie, wie mehrheitlich in den Ländern Lateinamerikas. Mit Ausnahme Spaniens hat es in Südeuropa ferner relativ wenige territoriale Konfliktlinien gegeben, so dass sich das Problem der ›stateness‹, des Separatismus oder des Auseinanderbrechens ganzer Staaten wie in Osteuropa, vor allem in der Sowjetunion und in Jugoslawien nicht stellte. Die südeuropäischen transitions sind sehr unterschiedlich verlaufen, haben aber relativ schnell und zügig auch zum Abschluss der demokratischen Konsolidierung in spätestens acht Jahren geführt. Auch ist in allen neuen südeuropäischen Demokratien nirgends ein reines präsidentielles System eingerichtet worden, wie durchweg in Lateinamerika und Osteuropa, sondern in der Regel parlamentarische Systeme, die zweifellos zur Entschärfung mancher Konflikte beigetragen haben, selbst wenn man die demokratiehinderliche Wirkung präsidentieller Systeme (mit Ausnahme der USA, des einzigen präsidentiellen Systems, in dem
18 Malefakis, ebd. 19 Vgl. u. a. C. Offe, Varieties of Transition, Cambridge 1996. 20 Linz u. Stepan, Problems, sowie Linz, Totalitarian and Authoritarian Regimes; H. E. Chehabi u. J. J. Linz (Hg.), Sultanistic Regimes, Baltimore 1998.
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eine reale Machtbalance zwischen Präsident und Parlament etabliert werden konnte) nicht so stark betont wie neuerdings Juan Linz und andere.21 Dabei sind die südeuropäischen Demokratisierungsprozesse sehr unterschiedlich verlaufen, und zwar in jeder Phase. Hier können nur die wichtigsten Differenzen in großen Linien skizziert werden. Erstens gibt es Unterschiede im Zusammenbruch, bzw. im Niedergang des autoritären Regimes: In Portugal haben wir es zu tun mit einem revolutionären Bruch durch den Staatsstreich der Hauptleute, also der ›nicht-hierarchischen‹ Militärs (›ruptura by golpe‹ im unnachahmlichen Jargon der transition-Forschung), gegen ein langlebiges, überwiegend ziviles autoritäres Regime, das sich erschöpft hatte, insbesondere im Kolonialkrieg, gegen das aber zivile Allianzen von Gewicht sich zunächst nicht organisierten, so dass die Militärs gewissermaßen als Ersatz tätig wurden. In Griechenland kollabierte das autoritäre Regime aufgrund der militärischen Niederlage gegen die Türken im Zypern-Konflikt (eine ähnliche Situation also wie in Argentinien). Daraufhin setzten die höheren militärischen Chargen die autoritäre Regierung aus nicht-hierarchischen Militärs ab, waren aber ihrerseits ›als Institution‹ (Stepan) nicht imstande, der zivilen Politik ihre Bedingungen zu diktieren (und riefen folglich sofort Karamanlis aus Paris zurück). Es kam nicht zu revolutionären Übergangsregierungen oder anderen Phänomenen von ›ruptura‹. Spanien war dagegen der klassische Fall der ›reforma/ruptura pactada‹, des gleitenden Übergangs und Legitimationstransfers von einem langlebigen, zivil-militärisch gemischten und in einigen Bereichen gelegentlich modernisierten autoritären Regime zur parlamentarischen Demokratie, wesentlich initiiert durch die reformbereiten ›softliners‹ des alten Regimes in Zusammenarbeit mit der reformistischen Opposition, also ein Fall von ›transition through transaction‹.22 Zweitens und vor allem finden wir eine breite Variation im Verlauf und im Weg der transitions und der Konsolidierung der neuen Demokratien. Dies gilt weniger für die Periodisierung (in allen drei Ländern sieben oder acht Jahre), als vielmehr für die Konstellationen. Ich kann das auch hier nur andeuten: Der spanische Fall, der in vieler Hinsicht als der erfolgreiche und reibungslose westliche Modellfall gehandelt wird, war vor allem durch sechs Faktoren gekennzeichnet: 1. Das autoritäre Regime war von langer Dauer gewesen, hatte zu keiner Zeit Wert auf Mobilisierung gelegt, sich aber im Laufe der Zeit gewandelt; die Führungseliten der letzten Phase waren gemischt, Fraktionsbildung war an der Tagesordnung. 21 J. J. Linz, The Perils of Presidentialism, in: Journal of Democracy, Jg. 1,1, 1990, S. 51–69; ders. u. A. Valenzuela (Hg.), The Failure of Presidential Democracy, 2 Bde., Baltimore 1994. Zur Interaktion der Parteien auch: H. J. Puhle, Politische Parteien und demokratische Konso lidierung in Südeuropa, in: W. Merkel u. E. Sandschneider (Hg.), Systemwechsel 3, Opladen 1997, S. 143–169; G. Pridham u. P. G. Lewis (Hg.), Stabilising fragile democracies. Comparing new party systems in southern and eastern Europe, London 1996. 22 Vgl. D. Share u. S. Mainwaring, Transition Through Transaction: Democratization in Brazil and Spain, in: W. Selcher (Hg.), Political Liberalization in Brazil, Boulder 1986, S. 175–215.
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2. Die unter technokratischem Vorzeichen geplante ökonomische Moder nisierungspolitik des Franco-Regimes seit den 1960er Jahren hatte Spanien einen Entwicklungsschub versetzt und gleichzeitig einen Prozess der Libera lisierung und kulturellen Öffnung angestoßen. 3. Im Zentrum des spanischen Regimewechsels steht ein paktierter Legitimationstransfer, der von den politischen Eliten dominiert, aber von deren jeweiliger Basis unterstützt wurde. Der consensus für die Verfassung war breit (letztere also kein Oktroy der Mehrheit, wie in Portugal), und die Kontinuität in der Person des Königs erleichterte den Legitimationstransfer und brachte Stabilität. 4. Die zivile Kontrolle des Militärs wurde allmählich hergestellt in einer zwischengeschalteten Phase militärischer Selbstkontrolle. 5. Die neue spanische Demokratie legte sich auf ein parlamentarisches Regierungssystem fest, und der Charakter des Parteiensystems (bzw. der drei Parteiensysteme: des gesamtspanischen, des katalanischen und des baskischen) war ausgesprochen ›gemäßigt‹ aufgrund geringer Mobilisierung, Ideologisierung und programmatischer Orientierung. 6. Außerdem gelang zunächst der Abbau der ausgeprägten interregionalen Spannungen durch die Konstruktion des spanischen ›Staats der Autonomien‹, ein kompromisshaftes Konzept der integralen Regionalisierung. Insgesamt ist der spanische Fall charakterisiert durch die klare zeitliche Priorität der politisch-institutionellen Regelungen vor den sozio-ökonomischen. Letztere wurden vertagt, selbst auf die Gefahr hin, dass sich die Kosten akkumulierten. Dies geht z. B. nicht in Osteuropa. Die Demokratisierung in Portugal ist ganz anders verlaufen: 1. Hier finden wir von Anfang an den Versuch, den prozeduralen Systemwechsel mit einem substantiellen Systemwechsel in sozio-ökonomischer Hinsicht zu verbinden, und zwar freiwillig, und nicht gezwungenermaßen, wie in Osteuropa. Da es dafür keine Mehrheit unter den zivilen Gruppen gab, etablierte sich das militärische MFA als zentraler Akteur, neben dem es in der ersten Zeit keine anderen innovativen Führungsgruppen gab, und die Reservatrechte der ›fortschrittlichen‹ bis sozialistischen Militärs wurden (z. B. im Staatsrat) institutionalisiert. 2. Die Verfassung von 1976 wurde mehrheitlich oktroyiert und war maximalistisch (im Sinne einer ›sozialistischen‹ Umgestaltung der Gesellschaft) mit einigen undemokratischen Zügen. Diese wurden später zurückgenommen und die Maximalziele zusammengestrichen. Die Verfassungsrevision vom August 1982 etablierte endgültig auch die zivile Kontrolle über die Militärs. 3. Bis zu diesem Zeitpunkt war der revolutionäre portugiesische Regimeübergang allerdings zwei miteinander konkurrierenden Legitimationsprinzipien (Maxwell) gefolgt: Zum einen dem Prinzip der Demokratie und der freien Wahlen und zum andern der legitimierenden Forderung einer fortschrittlichen Umgestaltung der Gesellschaft. 4. Die von den Militärs nach der Nelkenrevolution in die Gesellschaft ge tragene Mobilisierung war jedoch zu groß, um eine dauerhafte Kontrolle der 151
Gesellschaft durch die Militärs zu ertragen. Schon ab 1975 mussten sie mit den Parteien paktieren. 5. In einer bestimmten Phase der portugiesischen Demokratisierung war der Einfluss des Auslands – jedenfalls im südeuropäischen Vergleich – relativ groß. Er galt, vereinfacht gesagt, der Durchsetzung parlamentarischer Prozeduren gegen sozialistische Inhalte. In Griechenland sind die wichtigen Entscheidungen über den Demokratisierungsweg, wie weiter oben bereits erwähnt, gleich am Anfang gefallen. Charakteristisch waren dabei vor allem die folgenden Faktoren: 1. Im Unterschied zu den meisten lateinamerikanischen Militärdiktaturen, z. B. in Brasilien oder Chile, hatte die griechische Militärjunta von Anfang an eine außerordentlich enge Basis. Sie repräsentierte nicht die militärische Hierarchie, sie handelte nicht im Einvernehmen mit rechten Parteien und sie trat durch keinerlei Leistungen hervor. 2. Der Regimeübergang verlief weder revolutionär noch war er in signifi kanter Weise paktiert. Nach einer im Vergleich relativ kurzen Zeit der Suspendierung parlamentarischer Gremien wurden einfach die Mechanismen ziviler politischer Führung wiederhergestellt, mitsamt den alten personalistischen und klientelistischen Traditionen. Im Unterschied zu früher funktionierte jedoch jetzt das System, und vor allem war zum ersten Mal keine bedeutende gesellschaftliche Gruppe mehr aus dem Spiel um die Macht ausgeschlossen (ein wichtiger struktureller Konsolidierungsfaktor). 3. Die im Unterschied zu den lateinischen Ländern Südeuropas in Griechenland besonders ausgeprägte populistische Politiktradition, die nach dem Militärregime deutlich wiederbelebt wurde, kann durchaus einsichtig als eine Konsequenz der lange nachwirkenden osmanischen Tradition des Landes und eines sehr ausgeprägten kulturellen Dualismus interpretiert werden.23 Wenn man verstehen will, warum die Regimeübergänge in Südeuropa bislang wesentlich erfolgreicher gewesen sind als in Lateinamerika, und warum sich die neuen Demokratien in Lateinamerika (mit Ausnahme Uruguays)24 bislang [1998] noch nicht haben vollständig konsolidieren können, muss man zusätzlich noch hinweisen auf eine ganze Reihe von Faktoren: In Lateinamerika waren alle autoritären Regime reine Militärregime, in denen die Militärs als Hierarchie und Institution (und nicht als Regierung der Obersten, wie z. B. in Griechenland) bis zuletzt sichtbar dominierend waren, ihre Prärogativen institutionell abgesichert hatten und weniger bereit waren, sie aufzugeben. Der Abbau militärischer Sonderrechte und Einflüsse in der zivilen Politik ging folglich 23 Vgl. P. N. Diamandouros, Politics and Culture in Greece, 1974–1991: An Interpretation, in: R. Clogg (Hg.), Greece, 1981–1989. The Populist Decade, London 1993, S. 1–25. 24 Zu den Sonderbedingungen Uruguays vgl. H. J. Puhle, Uruguay, in: W. L. Bernecker u. a. (Hg.), Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. 3: Lateinamerika im 20. Jht., Stuttgart 1996, S. 973–1015.
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ungemein langsamer als in Südeuropa, und das Potential illoyalen Widerstands aus den Reihen der Militärs gegen den Demokratisierungsprozess war insgesamt höher. An den transitions in Brasilien, Argentinien und Chile lässt sich zeigen, dass die Militärs die verfassungsgebenden Versammlungen keineswegs ungehindert arbeiten ließen, dass sie sich bedeutende Reservatrechte sicherten und sehr viel schwieriger unter zivile Kontrolle zu stellen waren. In den Fällen paktierter oder oktroyierter transitions (Uruguay, Brasilien, Chile) gehörte insb. auch die institutionelle Absicherung der Amnestie für begangene Verbrechen zu den Grundvoraussetzungen des Übergangsprozesses. Lediglich in dem nicht paktierten Übergang in Argentinien hat die erste demokratische Regierung einige Jahre lang versucht, die Amnestie zu vermeiden und die Militärherrscher und ihre Helfershelfer vor Gericht zu bringen. Da die Militärs sich von ihrer totalen Diskreditierung aufgrund der Niederlage im Falkland-Krieg schneller erholt hatten als sich die argentinische Demokratie, insbesondere aufgrund ihrer wirtschaftlichen Schwierigkeiten, konsolidieren konnte, konnten sie sozu sagen nachgeholte Pakte und auch die Amnestie erzwingen. Hinzu kam in allen Ländern, mit der Ausnahme Chiles, die desolate wirtschaftliche Lage. Auch war die Auslandsabhängigkeit wesentlich größer als in Südeuropa, aber es gab demgegenüber wesentlich weniger institutionalisierten Demokratisierungsdruck von außen, es gab keine Äquivalente zum Europarat, zur EG oder zur NATO. Und darüber hinaus kam die demokratische Konsolidierung im Bereich des politischen Verhaltens und der Einstellungen nur langsam voran, die Züge präsidentieller, oft ›delegierter‹ Demokratie überwogen.25 In Chile, dem neben Uruguay im ganzen stabilsten Land, stand der ArmeeOberbefehlshaber Pinochet noch bis 1998 als extrademokratisches Element in der Verfassung, ebenso wie die von ihm ernannten Senatoren auf Lebenszeit und eine Reihe oberster Richter.26 In Argentinien und Brasilien ist inzwischen zwar die wirtschaftliche Stabilisierung vorangekommen, aber es mangelt, ähnlich wie in Bolivien, noch eklatant an Rechtsstaatlichkeit und Durchsetzungsvermögen der demokratischen Politik überall im Lande. Und in Peru hat der neue, nachträglich plebiszitär akklamierte Autoritarismus des Präsidenten Fujimori den Demokratisierungsprozess unterbrochen und zurückgeworfen. Dass sich in diesen Ländern, ebenso wie in einer Reihe von Staaten Asiens und Osteuropas, eindeutig ›defekte‹ Demokratien, wenn nicht konsolidiert, so doch stabilisiert haben, hat auch damit zu tun, dass die jeweiligen civil societies, teilweise aufgrund jahrhundertelanger Vorbelastungen durch Imperialismus, Dependenz und deren interne Folgen, im Sinne unserer definierten Kriterien insgesamt ›zu schwach‹, in manchen Regionen geradezu inexistent gewesen sind, vor allem zu wenig integriert, zu wenig autonom und oft auch zu wenig 25 Dazu zuerst G. O’Donnell, Delegative Democracy, in: Journal of Democracy, Jg. 5,1, 1994, S. 55–69. 26 Erst die Verfassungsreform im Jahre 2005 beseitigte diese autoritären Residuen [hinzu gefügt 2015].
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demokratisch. Von den zivilgesellschaftliche Funktionen ist oft nicht einmal die erste und wichtigste, Schutz vor staatlicher Willkür, erfüllt, gelegentlich wurden die Manifestationen sozialer Konflikte verschärft, als die autoritäre Repression nachließ. Gerade das Beispiel Uruguay, wo der Autoritarismus trotz stärksten Terrors langfristig überhaupt keine Chance gehabt hat und die Militärs dies auch am Ende einsehen mussten, macht deutlich, wie groß die demokratie förderliche Wirkung einer fast ein Jahrhundert lang eingeübten, tief verwurzelten, zwar fraktionierten, aber über die Regeln einigen starken und integrierten Zivilgesellschaft sein kann. Das ist auch einfacher in einem Land, das eigentlich eine große Kommune ist.27 Und im gegenwärtigen Mexico kurz vor der Jahrhundertwende erleben wir, dass auch die Demokratisierung umso mehr vorankommt, je entschiedener, kontinuierlicher und autonomer sich, trotz der Vorbelastungen eines umfassenden und lange dominierenden Staatskorporatismus, die Kräfte der civil society betätigen und artikulieren. Vereinfacht und verallgemeinert lässt sich festhalten, dass in vielen weniger entwickelten Ländern Entwicklung zwar lange Zeit auch auf dem Vehikel der Entwicklungsdiktatur (wie bescheiden auch immer) vorangekommen ist, in Lateinamerika im 20. Jahrhundert bis in die 1960er Jahre meistens in Gestalt einer sich antiimperialistisch gebenden nationalistischen und populistischen Entwicklungsdiktatur und danach oft als technokratische und wirtschafts liberale Militärherrschaft, dass aber mit zunehmender Entwicklung und zunehmender Mobilisierung der Widerstand gegen die Diktaturen zugenommen hat und Freiheits- und Partizipationsrechte zunehmend eingefordert worden sind. Auch im interkontinentalen Vergleich kann man feststellen, dass zwar einerseits ökonomisch-soziale Entwicklung ohne Demokratie möglich ist (z. B. bei den ›kleinen Tigern‹), aber selten Demokratie ohne Entwicklung, dass aber andererseits in den Fällen, in denen eine Elite versucht, die Wirtschaft zu entwickeln, ohne zu demokratisieren, eine tröstliche Dialektik von Entwicklung in der Regel dafür sorgt, dass – oft gegen die Intentionen der Modernisierer – die c ivil society in einem Maße gestärkt wird, dass sie zunehmend, verstärkt und am Ende unwiderstehlich auch auf Demokratisierung drängen kann. Dies gilt grosso modo auch für die osteuropäischen (ostmitteleuropäischen, südosteuropäischen, etc.) Fälle. Der kategoriale Unterschied zwischen den Transformationen in den ehemals kommunistischen Ländern und denen des Westens besteht darin, dass in den ersteren nicht nur die politisch-institutionelle transition geleistet, sondern gleichzeitig auch eine umfassende sozioökonomische Transformation vorangetrieben werden musste und muss, dass Demokratie und Marktwirtschaft gleichzeitig herzustellen waren und sind und, da nicht alles gleichzeitig realisiert werden kann, entsprechend schmerzliche Prioritäten zu setzen waren und sind. Und zwar so, dass die ökonomische und soziale Lieferfähigkeit des Systems nicht so sehr oder so lange zurückgeht, dass die supports für den politischen Umbau dauerhaft und (vorerst) unumkehrbar 27 Vgl. Puhle, Uruguay.
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abnehmen. Ein wichtiges Problem ist hier auch, an welchem Punkt des Transformationsprozesses die Frage der ›stateness‹, also die Frage nach den Grenzen und nach der Differenz zwischen ›in‹ und ›out‹, die zentrale Frage danach, wer denn dazugehören soll (die bekanntlich nicht durch Abstimmung zu lösen ist), gestellt wird oder gestellt werden sollte, wenn es denn Gründe dafür gibt: relativ früh, wie im Fall der drei baltischen Republiken, oder relativ spät, wie im Falle der Auflösung der Tschechoslowakei. In beiden Fällen gab es gute Gründe dafür, so zu verfahren, wie man verfahren ist. Der Zeitpunkt hat aber auch etwas zu tun mit der Stärke und dem Charakter der jeweiligen nationalen Bewegung, die ein wichtiger Teil der civil society ist, und mit den Erfahrungen in den Interaktionen zwischen dieser Nation und der Staatsmacht. Im Hinblick auf unsere Demokratisierungsfaktoren und -kriterien gibt es zwischen den Ländern des europäischen Ostens eine Reihe von Gemeinsamkeiten und von Differenzen. Zunächst die Gemeinsamkeiten: Alle diese Länder hatten kommunistische Regime, die aber am Ende nicht mehr stalinistischtotalitär waren, sondern sozusagen ›posttotalitär‹, Polen zum Schluss wohl nur noch autoritär.28 Mobilisierung und ideologischer Verbindlichkeitsanspruch waren insgesamt höher als in autoritären Regimen, es gab auch weniger Elitenpluralismus, und es bestand eine umfassende Kontrolle durch aufgeblähte Partei-, Wirtschafts- und Sicherheitsapparate, die, im Unterschied etwa zum Franco- oder Salazar-Regime, schon aufgrund ihrer Größe und ihres langen Bestehens durchaus in der Gesellschaft verwurzelt waren. Während des Demokratisierungsprozesses war der Auslandseinfluss erheblich, aufgrund der Ventilfunktion der sowjetischen Hegemonialmacht, Perestroika, der berühmten ›Sinatra-Doktrin‹ und des präsenten Fernsehens. Ähnlichkeiten mit den westlichen transitions bestanden durchaus, z. B. in der Fraktionierung der Regimeeliten in hardliners und softliners, in gewissen Vorläufen der Liberalisierung (außer in der DDR, sehr spät erst in der ČSSR), in paktierten Übergängen (den ›runden Tischen‹), die bruchlos zu Gesetzen über demokratische Wahlen führten (außer in Rumänien), auch in der Koordination zwischen den Abläufen auf der Elitenebene und der Ebene der Massenbewegungen, und vor allem in der zentralen Rolle der ›founding elections‹ für den weiteren Fortgang des Demokratisierungsprozesses. Die Differenzen finden wir vor allem in einer Zweiteilung der Länder in solche mit einem fortgeschritteneren sozioökonomischen Entwicklungsstand, demokratischen oder wenigstens libertären Traditionen und einer bereits ein Stück weit entfalteten civil society mit harten, ausbaufähigen Kernen: Ungarn, die Tschechoslowakei, Polen, am Ende auch Slowenien, und solche, die in diesen Bereichen weniger entwickelt waren und noch dazu stärkere sultanistische und klientelistische Elemente aufwiesen: Rumänien, Bulgarien, Albanien. Im ungarischen Fall, der wohl am besten untersucht ist, haben wir einen paktierten Übergang in drei Phasen: einer längeren Phase defensiver Liberalisierung, 28 Zu den Begriffen vgl. u. a. Linz u. Stepan, Problems.
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einer kurzen Phase der Pakte und einem kurzen Akt der Wahl. In der ČSSR war die Liberalisierung viel geringer und kam viel später, es gab weniger Pakte, und das gravierende Problem der territorialen Ordnung (stateness) wurde nach hinten verschoben. Der polnische Fall entspricht im ganzen dem ungarischen, trotz eines relativen Entwicklungsrückstands und des nicht gerade fundamentaldemokratischen Charakters der stärksten Oppositionskraft, der katholischen Kirche. Die große Ausnahme in der ersten Gruppe war die DDR, in der zweiten, aus anderen Gründen, die Sowjetunion, in der, ähnlich wie in Jugoslawien, das Problem der territorialen Ordnung alle anderen Prozesse überschattete, zuerst im Auflösungsprozess der Sowjetunion, dann in den virulenten ethnischen Konflikten innerhalb Russlands und in anderen Nachfolgestaaten. In den entwickelteren Ländern war in diesen Prozessen der Druck von unten stärker, in den anderen die Steuerung von oben; ideologiegesteuerte Erneuerungsversuche gab es nur in den Ländern ohne nennenswerte Liberalisierung.29 Einen besonders hohen Stellenwert hat im osteuropäischen Kontext das Problem der ›stateness‹, also der territorialen Ordnung, und damit das Spannungsverhältnis von Demokratie bzw. Demokratisierung und Nationalismus, das in den meisten westlichen Regimeübergängen der ›Dritten Welle‹ kaum eine Rolle gespielt hat, weder in Portugal und Griechenland noch in Südamerika oder Ostasien. Der klassische Ausnahmefall ist hier Spanien, mit Bezug auf die starken Randnationalismen, insb. der Basken und Katalanen. In diesem Fall lässt sich aber zeigen, dass die starken regionalnationalistischen Aspirationen (mit Ausnahme der baskischen Terroristen) am Ende die Demokratisierung befördert haben, weil sie selbst in einer langen demokratischen Tradition standen, für die Demokratie mobilisierten und weil sie beitrugen zu einem breiten Konsens über den neuen, fast föderalistischen ›Staat der Autonomien‹.30 Nationalismus kann also auch Demokratisierung fördern, insbesondere dann, wenn er sich noch in seiner progressiven Phase befindet. Die Mehrzahl der Fälle im osteuropäischen Kontext haben allerdings weniger die Seite eines projektorientierten, tendenziell progressiven Entwicklungsnationalismus gezeigt als vielmehr die hässliche Seite eines exklusionären, xenophoben, ethnozentrischen traditionellen Nationalismus, den wir sowohl bei fundamentalistischen ehemaligen Oppositionellen als auch bei mehr oder weniger gewendeten Exkommunisten finden. Dieser Nationalismus, der oft in ein ideologisches Vakuum eingerückt ist und gegenüber einem abstrakten demokratischen Patriotismus den agitatorischen Vorteil hat, sich auf tangible Phänomene zu beziehen, 29 Vgl. auch Beymes Vierfelder-Matrix: K. v. Beyme, Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt 1994. Insgesamt auch: Linz u. Stepan, Problems; J. Elster u. a., Institutional Design in Postcommunist Societies: Building the Ship at Sea, Cambridge 1998; G. Pridham u. T. Vanhanen (Hg.), Democratization in Eastern Europe, London 1994. 30 Vgl. u. a. P. A. Kraus, Nationalismus und Demokratie. Politik im spanischen Staat der Autonomen Gemeinschaften, Wiesbaden 1996, sowie den Beitrag zu Nationalismus und Demokratie in diesem Band.
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die jeder zu verstehen meint, ist demokratiefeindlich und führt oft zu Gewalt und zu einer weitgehenden Auflösung der civil society. Oft entsteht hier ein Teufelskreis: Wir wissen, u. a. von Michael Mann, dass interne Demokratisierung ein gutes Mittel gegen gewaltsamen Ultra-Nationalismus ist; andererseits hindert der vorhandene Nationalismus gerade die Demokratisierung.31 Am meisten nationalistisch sind in der Regel die Nichtdemokratien. Lösungen versprechen hier wohl nur langfristige Strategien sozioökonomischer Entwicklung und des mühsamen Baus am Konsens der civil society, oft mit vielen unbefriedigenden Zwischenstufen. Generell hat die vergleichende Transformationsforschung ergeben, dass wirtschaftliche Entwicklung und soziale Differenzierung durchweg Demokratisierung fördern, sogar in den Fällen, in denen das anfangs nicht beabsichtigt war, dass aber Demokratisierung nicht wesentlich vom Fleck kommt, solange für die Wirtschaft das Marktprinzip nicht wenigstens im Grundsatz (in welcher Mischung auch immer) gilt, nicht zu reden von der demokratiehinderlichen Wirkung aller Arbeitsverfassungen mit Elementen außerökonomischen Zwangs.32 Neben den ökonomisch-sozialen Grundvoraussetzungen kommt es vor allem auf die politischen und gesellschaftlichen Eliten an: Transition und demokratische Konsolidierung werden, spätestens seit den ersten Wahlen, dominiert von den politischen Parteien als zentralen Akteuren, selbst wenn diese sich gelegentlich nicht Parteien nennen, sondern anders (Bewegung, Bürger forum, o. ä.). Je mehr die Konsolidierung vorankommt, umso komplexer wird allerdings der Kontext, vor allem aufgrund der Zunahme der politischen Akteure und der steigenden Anforderungen an die Integrations- und Führungsfunktionen der Parteien. Die dominierende Rolle der Eliten darf aber nicht den Blick dafür verstellen, dass auch die Veränderungen auf der Ebene der mehr oder weniger organisierten ›Massen‹ zählen und dass es eine erfolgreiche Demokratisierung ohne ein Minimum an Kommunikation und Koordination zwischen der Eliten- und der Massenebene nicht geben kann. In der Phase der transition müssen, wenn diese paktiert ist (oder allmählich paktiert wird), die Verhandlungspositionen der Unterhändler durch ein glaubwürdiges Mobilisierungs- und Drohpotential organisierter Massen abgestützt werden; und wenn der Übergang nicht paktiert ist, muss dieses Potential meistens auch realisiert werden. In der Regel kommen die Demokratisierer mit umso weniger Mobilisierung aus, je weniger das voraufgehende nichtdemokratische Regime mobilisiert hat (Ausnahme: Portugal). Und im Prozess der demokratischen Konsolidierung kommt es darauf an, dass 31 Vgl. M. Mann, A Political Theory of Nationalism and Its Excesses, Instituto Juan March Working Paper 1994/57, Madrid 1994. 32 Zum Problem der grundlegenden ›Requisiten‹ (requisites) der Demokratie vgl. insb. S. M. Lipset, Some Social Requisites of Democracy, in: American Political Science Review, Jg. 53, 1959, S. 69–105, u. ders., The Social Requisites of Democracy Revisited, in: American Sociological Review, Jg. 59, 1994, S. 1–22.
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die Geltung der demokratischen Spielregeln ausgeweitet wird auf eine Vielzahl von Gruppen und Akteuren, dass diese am Ende nicht nur die Eliten ergreifen, sondern auch weitere Bereiche der Gesellschaft, jedenfalls soweit, dass der Demokratie gegenüber illoyal oder semiloyal eingestellte Kräfte keine wirksame Unterstützung finden.
›Defekte Demokratien‹ Über die Kriterien der Konsolidierung von Demokratie gibt es eine Menge Streit im Detail. Neuerdings ist sogar der Nutzen des Konzepts der demokratischen Konsolidierung überhaupt infragegestellt worden, bemerkenswerterweise von einem der Erfinder der ursprünglichen Transition-Theorien, Guillermo O’Donnell. In der Kritik der letzten größeren Zusammenfassungen, vor allem in den Bänden von Gunther, Diamandouros und Puhle (The Politics of Democratic Consolidation) und Linz und Stepan (Problems of Democratic Transition and Consolidation), empfiehlt O’Donnell, den Begriff der demokratischen Konsolidierung besser aufzugeben, da er Länder von unterschiedlicher kultureller Prägung nach gleichen formalen Kriterien behandle und u. a. den Schluss suggeriere, dass die Mehrzahl der lateinamerikanischen Länder im Übergang noch nicht ›konsolidiert‹ seien, im Gegensatz zu den meisten Ländern Süd- und Mitteleuropas. Nach O’Donnell’s Meinung soll man jedoch an solche Länder nicht die Elle der angeblich ›eurozentrischen‹ harten institutionellen Anforderungen für Demokratie anlegen, da sie möglicherweise andere, ebenso Stabilität garantierende informellere oder ›delegierte‹ Formen von demokratischer Stabilisierung aufweisen. Die Gegenposition der anderen Seite (also auch die dieses Autors) ist, dass, wie auch immer im einzelnen weiter prozediert werden mag, die harten Anforderungen an das Minimum institutioneller demokratischer essentials unteilbar sind. Der Streit ist im Jahrgang 1996 des Journal of Democracy zu besichtigen.33 Er wird weitergehen, und es wird reizvoll sein, einmal im Vergleich die Leistungen und Grenzen solcher ›delegierter‹ oder anderswie gegenüber den hier vorgestellten Kriterien deformierter ›Demokratien‹ genauer zu untersuchen, die bei näherem Hinsehen eigentlich keine Demokratien sind, sondern Formen autoritärer Herrschaft, manchmal milde Formen (›dictablanda‹, ›democradura‹). Ob und unter welchen Bedingungen sich diese ›defekten Demokratien‹ zu Demokratien entwickeln können, muss im Einzelfall untersucht werden.34 Das Kriterium ›guter Politik‹ müsste hier der langfristige 33 G. O’Donnell, Illusions About Consolidation, in: Journal of Democracy, Jg. 7,2, 1996, S. 34–51, und die Erwiderung: R. Gunther, P. N. Diamandouros, H. J. Puhle, O’Donnell’s ›Illusions‹: A Rejoinder, in: Journal of Democracy, Jg. 7,4, 1996, S. 151–159. 34 O’Donnell hat seine Position später teilweise revidiert: G. O’Donnell, Why the Rule of Law Matters, in: L. Diamond u. L. Morlino (Hg.), Assessing the Quality of Democracy, Baltimore
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Beitrag politischer Entscheidungen und Maßnahmen zur Förderung und Durchsetzung demokratischer Freiheits- und Partizipationsrechte sein. Ein krasser Fall von ›defekter Demokratie‹, am Ende vielleicht von misslungener Demokratisierung überhaupt, ist Russland, ein System ohne Gewaltenbalance, mit Präsidialherrschaft durch Dekret und einer fragwürdigen Bilanz in Sachen Rechtsstaat und Bürgerrechte. Problematisch sind hier nicht nur die ethnischen Spannungen, die Unangemessenheit der Institutionen und die engen Begrenzungen des ›constitutional engineering‹,35 sondern vor allem der große Abstand zwischen den hohen Anforderungen an politische Gestaltung aufgrund der Komplexität der Aufgaben und der geringen Leistungsfähigkeit der politischen Akteure. Am Anfang hat kein Elitenkompromiss gestanden, wie z. B. in Südafrika, die Reformkräfte sind in der Minderheit geblieben, das semipräsidentielle System hat zu Blockaden geführt und die Elitenpolarisierung noch verstärkt, was wiederum den mühsamen und langsamen, aber unabdingbaren Prozess des Baus der civil society erheblich stört. Auch nach der dritten und vierten Welle der Demokratisierung im 20. Jahrhundert wird es, wie schon nach der ersten und zweiten, Länder geben, die – früher oder später, gewollt oder ungewollt – abkommen vom Demokratisierungskurs. Wenn wir die Gründe dafür hinreichend erklären wollen, wird es nötig sein, zusätzlich zu den hier skizzierten Überlegungen noch drei andere Komplexe in die Analyse mit einzubeziehen: 1. das methodische Rüstzeug der älteren Forschung zum ›breakdown‹ der Demokratien; 2. vermehrte Überlegungen darüber, wie Demokratie und Nationalismus, und Demokratie und Föderalismus zusammenhängen, die bislang in der Forschung überwiegend voneinander getrennt behandelt worden sind; 3. die alten Fragen nach den sozialen ›Requisiten‹ (den Voraussetzungen) von Demokratie, die S. M. Lipset zuerst 1959 aufgeworfen und später weiter entwickelt hat, ähnlich wie Barrington Moore, Rueschemeyer/Stephens and Stephens, Michael Mann und einige andere, und die hier, obwohl sie in einer ganzen Reihe der benutzten Kategorien und geschilderten Mechanismen präsent sind, nicht weiter thematisiert werden konnten.36 Dazu gehören auch die Fragen nach den für eine demokratische Entwicklung (wenigstens langfristig) notwendigen und hinreichenden Bedingungen in den Konstellationen und Mechanismen der civil society. 2005, S. 3–17. Das Problem ›defekter Demokratie‹ wurde weiterentwickelt in W. Merkel u. a., Defekte Demokratie, Bd. 1: Theorie, Opladen 2003, u. Bd. 2: Regionalanalysen, Wiesbaden 2006 [hinzugefügt 2015]. 35 Zum Terminus vgl. G. Sartori, Comparative Constitutional Engineering, New York 1994. 36 Vgl. Lipset, Social Requisites, 1959 u. 1994; B. Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie, Frankfurt 1974 (Boston 1966); D. Rueschemeyer u. a., Capitalist Development and Democracy, Cambridge 1992; M. Mann, The Sources of Social Power, Bd. 2, Cambridge 1993.
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Wir sollten forschungsstrategisch gut darauf vorbereitet sein, wenn wir mehr Klarheit über die Möglichkeiten und Grenzen der Demokratie und über ihr Verhältnis zur gesellschaftlichen Entwicklung erreichen wollen. Wir brauchen viel mehr Klarheit. Denn die Wege zur Demokratie sind nicht nur sehr verschieden (wie die Pfade der Modernisierungen). Sie können auch sehr lang sein und kompliziert, und schwierig zu gehen.
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›Embedded Democracy‹ und ›Defekte Demokratien‹: Probleme demokratischer Konsolidierung und ihrer Teilregime* 1
Das 20. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Demokratisierungen gewesen, zunächst in Europa, später auch im Rest der Welt. Nach Samuel Huntington hat es drei Demokratisierungswellen gegeben, nach dem Ersten Weltkrieg (Deutschland, Österreich und weitere zentraleuropäische Staaten), nach dem Zweiten Weltkrieg (Deutschland, Österreich, Italien, Japan und andere) und eine dritte Welle, die in den 1970er Jahren in Südeuropa begann (1974/75 Portugal, Griechenland, Spanien) und sich dann seit den 1980er Jahren weiter in Lateinamerika, Ost- und Südostasien und anderen Teilen der Welt fortgesetzt hat. Eine vierte Welle finden wir schließlich (nach meiner Zählung) in den Regimeübergängen in den vormals kommunistischen Ländern in Osteuropa und Zentralasien seit 1989. Der statistische Befund ist beeindruckend: Wie Tab. 1 deutlich macht, hat es im Jahre 1922 in der Welt nicht mehr als 29 Demokratien gegeben, während es am Ende des 20. Jahrhunderts nach Ausweis der Daten von Freedom House (und ohne Berücksichtigung der kleinsten Staaten mit weniger als 1 Mio. Einwohner) 117 Demokratien waren, d. h. 61,2 % im Vergleich zu nur 45,3 % im Jahre 1922. Tab. 1: Demokratisierung im 20. Jahrhundert Demokratien
Autokratien
Staaten insg.
Prozent Demokratien
29
35
64
45,3
1942
12
49
61
19,7
1962
36
75
111
32,4
1973
30
92
122
24,6
1990
58
71
129
45,0
1999
117
74
191
61,2
1922
Quellen: Daten bis 1990 in: S.P. Huntington, The Third Wave, Norman 1991 (ohne die Länder mit weniger als 1 Mio. Ew.); 1999 in: Freedom House 1999: Freedom in the World (http://www. freedomhouse.org/survey99/tables, eingesehen am: 2.5.2000). * Zuerst erschienen in: M. Beisheim u. G. F. Schuppert (Hg.), Staatszerfall und Governance, Baden-Baden 2007, S. 122–143. Der Beitrag wurde unerheblich gekürzt.
161
Die Regimeübergänge der dritten und vierten Welle haben die Sozialwissenschaftler neuerdings besonders beschäftigt. Die letzten drei Jahrzehnte haben den Aufschwung und Boom einer neuen sozialwissenschaftlichen Wachstumsindustrie gebracht: der Transformations- und Demokratisierungsforschung, die im wesentlichen vier verschiedene Phasen und Aspekte des Problems thema tisiert hat: 1. die ›Öffnung‹, den Niedergang oder die Liberalisierung eines autoritären oder kommunistischen Regimes, 2. den institutionellen Regimeübergang (transition) im engeren Sinne, von einem nichtdemokratischen zu einem demokratischen Regime (im besten Falle), 3. die Probleme der Konsolidierung der neuen Demokratie (wenn es soweit kam), bzw. entsprechende Alternativen, und 4. die Prozesse und Entwicklungen der breiteren und komplexeren sozioökono mischen und kulturellen Transformationen, die damit verbunden waren. Besonders ins Gewicht fallen hier die Übergänge von Systemen der Zentralverwaltungswirtschaft zur Marktwirtschaft in den vormals kommunistischen Ländern, mit den entsprechenden sozialen Folgen und vor allem auch den Problemen einer angemessenen und zum richtigen Zeitpunkt erfolgenden Koordination zwischen den Maßnahmen der politisch-institutionellen Transformation auf der einen Seite und der sozioökonomischen auf der anderen. Für diesen Problembereich hat sich die Kurzbezeichnung ›sequencing‹ eingebürgert. Das Ergebnis eines Transformationsprozesses bzw. eines Regimeübergangs von einem autokratischen Regime »to something else« (P. C. Schmitter) kann, wenn alles gut geht, eine konsolidierte Demokratie sein. Dies wäre das beste von vier möglichen Szenarien. In den meisten Fällen kommt es jedoch nicht zu konsolidierten Demokratien. Die drei anderen Möglichkeiten sind: 1. ein erneutes autokratisches Regime (entweder das vergangene oder ein neues), 2. eine nicht oder noch nicht konsolidierte Demokratie, deren transition andauert, oder 3. eine Demokratie mit charakteristischen Defekten, die sich längerfristig verfestigen. Zu welchen dieser möglichen Ergebnisse ein Regimeübergang im Einzelfall führt, hängt von verschiedenen Faktoren ab, über die noch zu reden sein wird. Es gibt nur wenige allgemeine Regeln und keine universellen Modelle, die sich überall anwenden ließen. Unsere theoretisch geleiteten empirischen Vergleiche haben im wesentlichen höhere oder niedrigere Wahrscheinlichkeiten zutage gefördert. Demokratisierungsprozesse im allgemeinen und Prozesse demokratischer Konsolidierung im besonderen können außerordentlich unterschiedlich verlaufen. Sie folgen unterschiedlichen Mustern und Entwicklungslinien (trajectories), die nicht nur durch die Konstellationen der jeweiligen Akteure 162
charakterisiert sind, sondern auch durch die des breiteren sozioökonomischen, institutionellen und kulturellen Kontexts. Im Folgenden sollen im wesentlichen drei Punkte angesprochen werden: 1. Die Prozesse und Probleme demokratischer Konsolidierung, 2. die Konzepte moderner Demokratie, mit dem eigenen Vorschlag der ›embedded democracy‹, geleitet von dem Ziel, die relevanten Kriterien einer ›hinreichenden demokratischen Konsolidierung‹ zu bestimmen, bzw., wenn diese nicht erfüllt sind, den genaueren Ort und die Ursachen des Fehlens von Konsolidierungsfaktoren (und damit der ›Defekte‹ der Demokratie) zu ermitteln. Dies führt 3. zu unserem Konzept der ›defekten Demokratie‹, zu deren unterschiedlichen Typen sowie deren Ursachen und Entwicklungstendenzen.1
1. Prozesse und Probleme demokratischer Konsolidierung Das Konzept der demokratischen Konsolidierung ist zwar von Anfang an umstritten gewesen,2 hat sich aber in der vergleichenden Transformations forschung zunehmend durchgesetzt. Nach meiner Einschätzung ist es ein unmittelbar einsichtiges Konzept, das anderen Konzepten überlegen ist, weil es auf der einen Seite erlaubt, die Kriterien eines klar definierten demokratischen Minimum (als der ›hinreichenden‹ Voraussetzungen einer stabilen Demokratie) genau anzugeben, und es andererseits möglich macht, zwischen unterschiedlichen ›Qualitäten‹ (oder Defiziten) einer Demokratie zu unterscheiden, die 1 Die folgenden Ausführungen zu demokratischer Konsolidierung basieren auf Konzepten und Analysen, die über die Jahre in einer Reihe von Projekten gemeinsam mit Juan J. Linz, Philippe C. Schmitter, P. Nikiforos Diamandouros, Richard Gunther, Wolfgang Merkel und anderen mit Förderung des Social Science Research Council (New York) und der VolkswagenStiftung entwickelt und vorangetrieben worden sind. Die Ausführungen zu ›embedded democracy‹ und ›defekten Demokratien‹ stützen sich auf die Ergebnisse eines von Wolfgang Merkel und mir geleiteten und zwischen 1998 und 2002 von der VolkswagenStiftung geförderten Projekts »Demokratische Konsolidierung und ›defekte Demokratien‹«, an dem insbesondere Aurel Croissant und Peter Thiery mitgearbeitet haben. Vgl. u. a. R. Gunther, P. N. Diamandouros u. H. J. Puhle (Hg.), The Politics of Democratic Consolidation: Southern Europe in Comparative Perspective, Baltimore 1995; W. Merkel u. H. J. Puhle, Von der Diktatur zur Demokratie. Transformationen, Erfolgsbedingungen, Entwicklungspfade, Opladen 1999. W. Merkel u. a., Defekte Demokratie, Band 1: Theorie, Opladen 2003; W. Merkel u. a., Defekte Demokratie, Band 2: Regionalanalysen, Wiesbaden 2006; A. Croissant u. W. Merkel (Hg.), Consolidated or Defective Democracy? Problems of Regime Change, special issue, Democratization 11,5, 2004. Auf detaillierte Nachweise (vgl. die Literaturliste am Schluss) wird im Folgenden verzichtet. 2 Vgl. G. O’Donnell, Illusions About Consolidation, in: Journal of Democracy, Jg. 7,2, 1996, S. 34–51.
163
oft auf graduelle Unterschiede zurückgehen mögen, aber doch trennscharf benannt werden sollten. Darüber hinaus thematisiert das Konzept der demokra tischen Konsolidierung in einer Weise, die weitere Operationalisierung möglich macht, den wichtigen Unterschied zwischen der bloßen Institutionalisierung einer neuen Demokratie und dem darauf folgenden Prozess von deren ›Vertiefung‹, Stärkung und Verwurzelung, der mittelfristig demokratische Stabilität bewirkt. Die Konsolidierung der Demokratie ist nicht einfach eine neue Phase der Demok ratisierung (obwohl das manche so sehen), die nach dem Ende des Regimeübergangs und der Institutionalisierung (transition) einsetzt. Sie ist vielmehr ein davon deutlich unterschiedener Prozess, dessen Anfänge bereits in der zweiten Phase der transition liegen (nach den founding elections) und der in der Regel nach dem Ende der transition andauert, bis eine charakteristische, hier noch näher zu beschreibende Schwelle erreicht ist, jenseits derer die neue Demokratie als (hinreichend) konsolidiert angesehen werden kann. Demokratische Konsolidierung ist ein komplexer Prozess, der institutionelle, attitudinale und Verhaltens- Dimensionen aufweist und in dem gewöhnlich mehr Faktoren und Akteure intervenieren und mehr politische Arenen wichtig werden als in dem Prozess des Regimeübergangs (transition) im engeren Sinne. Es kann sogar vorkommen, dass sich während des Konsolidierungsprozesses die charakteristischen Konfigurationen eines Regimeübergangs zur Demokratie verändern, wie die Beispiele Argentiniens oder Portugals gezeigt haben. Die Konsolidierung ist mithin nicht notwendig immer die Fortsetzung und Verlängerung der transition, sie ist ein davon unterschiedener Prozess, der durchweg die ›Qualität‹ der neuen Demokratie mehr beeinflusst als die Konstellationen der transition.3 Darüber, wie denn demokratische Konsolidierung zu definieren sei, gibt es die üblichen Auseinandersetzungen zwischen ›Maximalisten‹ und ›Minimalisten‹. Zunächst sollte vielleicht festgehalten werden, dass es sinnvoll ist, ein demokratisches Regime dann als hinreichend (nie: vollständig) konsolidiert anzusehen, wenn alle signifikanten politischen Gruppen die Regeln des demokratischen Spiels respektieren und als legitim ansehen, wenn also Demokratie ›the only game in town‹ (Przeworski) ist. Wichtig für die genauere Bestimmung der zunächst noch unscharfen Kategorien ›hinreichend‹ und ›signifikant‹ sind die verschiedenen Sektoren und ›Teilregime‹, die man für die demokratische Konsolidierung für besonders wichtig hält. Hierzu gibt es in der Literatur verschiedene Vorschläge, z. B. die folgenden: 1. die unterschiedlichen Entwicklungsverläufe in mindestens drei Konsolidierungsdimensionen: der institutionellen, der attitudinalen und der Verhaltenskonsolidierung;4 3 Zum Verhältnis von transition und demokratischer Konsolidierung vgl. ausführlicher den voraufgehenden Beitrag, dessen Argumente hier weiterentwickelt werden. 4 Gunther, Diamandouros u. Puhle, The Politics of Democratic Consolidation.
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2. die fünf Arenen der Zivilgesellschaft, der politischen Gesellschaft, des Rechtsstaats, des Staatsapparats und der Wirtschaftsgesellschaft;5 3. die vier Dimensionen der konstitutionellen, der repräsentativen und der Verhaltenskonsolidierung sowie der Konsolidierung der Bürgergesellschaft;6 oder 4. die von mir vorgeschlagenen sieben Teilregime wirtschaftlicher Stabilität und Entwicklung, des Parteiensystems, der Eliteninteraktion, der Mechanismen der Interessenvermittlung, der nationalen Integration und territorialen Ordnung, der Verfassungsordnung und der Institutionen sowie der Mechanismen der Legitimation und der ›supports for democracy‹ (vgl. dazu Abb. 1 im vorhergehenden Beitrag).7 Dabei ist die Konsolidierung einer Demokratie nicht einfach die Addition oder Integration der Konsolidierungen der jeweiligen Teilregime. So ist z. B. im Jahre 1982 in Spanien die Dekonsolidierung und der Umbau des Parteiensystems der letzte Schritt hin zur Konsolidierung der Demokratie gewesen. Außerdem hängen die Teilregime oft zusammen: Wenn die Ökonomie dauerhaft ›nicht liefert‹, oder wenn vitale Interessen der Bürger längere Zeit hindurch nicht befriedigt werden, geht in der Regel die Unterstützung (supports) für die Demokratie zurück. Bemerkenswert sind auch die unterschiedlichen Kontexte und Ergebnisse. Dazu nur vier kurze Beispiele: Erstens ist der kategoriale Unterschied zu beachten zwischen den transitions und Konsolidierungen innerhalb der westlichen Welt auf der einen Seite und in den vormals kommunistischen Ländern andererseits. Im Falle der letzteren haben wir es vom Beginn des Niedergangs des alten Regimes an mit zwei gleichzeitig ablaufenden unterschiedlichen Transformationen zu tun: der politisch-institutionellen Transformation (im besten Fall zur Demokratie) und der sozioökonomischen Transformation (zur Marktwirtschaft). Das ist zwar grundsätzlich überall der Fall, konnte nur in den westlichen Ländern eher ausgeblendet und verschoben werden. In den vormals kommunistischen Ländern war dies dagegen nicht möglich, und die Suche nach dem angemessenen und möglichst optimalen ›sequencing‹, der miteinander verschränkten Anordnung der Einzelschritte der politisch-institutionellen und der sozioökonomischen Transformation in der Zeit, war von Anfang an von zentraler Wichtigkeit. Zweitens lässt sich unterscheiden, ob die demokratisierenden Länder sich für ein parlamentarisches oder ein präsidentielles System entschieden haben. Im allgemeinen haben parlamentarische Systeme die demokratische Konso 5 J. J. Linz u. A. Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation: Southern Europe, South America, and Post-Communist Europe, Baltimore 1996. 6 W. Merkel, Systemtransformation, Opladen 1999. 7 W. Merkel u. H. J. Puhle, Von der Diktatur zur Demokratie. Transformationen, Erfolgsbedingungen, Entwicklungspfade, Opladen 1999, sowie ausführlicher im voraufgehenden Beitrag.
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lidierung durchweg etwas leichter gemacht.8 Drittens fällt auf, dass wir unter der Minderheit der neuen Demokratien, die sich konsolidiert haben, vor allem die südeuropäischen Länder finden, sowie die sozioökonomisch entwickelteren Länder Ost-, Mittel- und Osteuropas mit stärkeren pluralistischen und rechtsstaatlichen Traditionen. Wir finden wesentlich weniger demokratische Konso lidierungen in anderen Teilen der Welt, mit Ausnahme von Taiwan und in Lateinamerika besonders Uruguay und, wenn auch verzögert, Chile. Viertens ist nicht zu übersehen, dass auch innerhalb derselben Region oder innerhalb desselben cluster nach Entwicklungsstand und Traditionen die Muster und Entwicklungen der Demokratisierung durchaus unterschiedlich gewesen sind und dass so gut wie keine transition oder Konsolidierung wie die andere war. Dies geht zurück auf die Unterschiede im Charakter des autokratischen Regimes (militärisch, zivil, militärisch-zivil gemischt oder kommunistisch) während dessen letzter Phase, auf die Ursachen und Anlässe des Niedergangs (z. B. Erschöpfung, Liberalisierung, ›Öffnung‹, Elitenspaltung: softliners vs. hardliners, oder Niederlage im Krieg) sowie auf die Unterschiede im Verlauf der transition (revolutionär, reformistisch, oktroyiert, paktiert oder nicht paktiert), in den Beziehungen zwischen Elitenkompromissen und Massenmobilisierung, usw.
2. Konzepte moderner Demokratie Wie aber können wir wissen, ob und wann eine neue Demokratie hinreichend konsolidiert ist? Die Antwort auf diese Frage hängt zu einem großen Teil davon ab, wie wir Demokratie definieren und welche Kriterien wir dazu benutzen. Es gibt bekanntlich viele unterschiedliche Formen der Demokratie, und auch die sogenannte ›Qualität‹ der Demokratie kann weit variieren; es gibt Fälle mit mehr oder weniger Demokratie, besonders wenn wir anspruchsvollere Kriterien wie Gleichheit oder soziale Gerechtigkeit heranziehen. Und wir wissen vor allem, dass Demokratien immer andauernde und unvollendete Prozesse sind. Auf der andern Seite gibt es aber auch so etwas wie ein demokratisches Minimum, das im wesentlichen ein institutionelles Minimum ist, dessen Einzelelemente nicht durch informelle Mechanismen ersetzt werden können. Dazu gehören vor allem bestimmte grundlegende Normen und deren instrumentelle Umsetzung wie: Staatsbürgerrechte und ein hoher Grad von Inklusion, freie, faire, kompetitive und wirksame Wahlen, Meinungs-, Vereinigungs- und Informationsfreiheit, wirksame Regierung durch gewählte Vertreter, die zur Rechenschaft gezogen werden können, die Anerkennung von Menschen und Bürgerrechten und die Garantien des Rechtsstaats. 8 Vgl. dazu die Debatten in: J. J. Linz u. A. Valenzuela (Hg.), The Failure of Presidential Democracy, 2 Bde., Baltimore 1994.
166
2.1 Elektorale vs. liberale Demokratie Die meisten Demokratiedefinitionen, die wir in der Literatur finden, entsprechen den einfachen Kriterien dieses demokratischen Minimums nicht. Sie bleiben in der Regel zu minimalistisch, von Josef Schumpeter bis zu Robert Dahl, Guillermo O’Donnell, Philippe Schmitter und anderen. Die meisten dieser Definitionen konzentrieren sich fast ausschließlich auf die Mechanismen der Partizipation, d. h. der elektoralen Demokratie, und tendieren dazu, die andere starke Traditionslinie moderner westlicher Demokratie zu vernachlässigen, die im Laufe der Zeit und der Hegemonie des Dahlschen Polyarchie-Konzepts etwas marginalisiert worden ist: die angelsächsische Traditionslinie liberaler Demokratie, der checks and balances, der Rechtsstaatlichkeit und der Garantien der bürgerlichen Freiheiten gegenüber dem Staat. Um zu einem angemessenen Konzept moderner Demokratie im Sinne einer liberalen Demokratie oder eines demokratischen Rechtsstaats zu gelangen, müssen wir m. E. die beiden genannten Traditionslinien westlicher Demokratie, die elektorale und die liberale, miteinander verbinden. Dies erschöpft sich jedoch nicht darin, dass man bei der Formulierung der Kriterien lediglich etwas anspruchsvoller ist als eine Reihe anderer Autoren. Es geht auch um eine zentrale und unverzichtbare konzeptionelle Entscheidung, die angemessen ist, zumal sich zeigen lässt, dass mittel- und längerfristig eine elektorale Demokratie allein ohne die Garantien der liberalen Demokratie nicht überleben könnte und dass die rechtsstaatlichen Garantien auch funktionale Voraussetzungen für die Wirksamkeit von Repräsentation, von Institutionen und Entscheidungen sind. Zum demokratischen Rechtsstaat (oder zur liberalen Demokratie) gibt es keine wirklich demokratische Alternative. Die Grundidee eines solchen kombinierten Demokratiekonzepts kann natürlich in unterschiedlicher Weise umgesetzt werden. Hier mögen drei Beispiele genügen, ein m. E. minimalistisches, ein zweites, das anspruchsvoller ist, aber auch problematischer, und ein drittes eigenes, das ich für besser halte als die anderen. Eine minimalistische Version präsentiert Larry Diamonds Unterscheidung zwischen drei unterschiedlichen Kategorien elektoraler Demokratien: liberalen, semiliberalen und illiberalen Demokratien.9 Auf der Grundlage der Bewertungen der bürgerlichen Freiheiten (civil liberties) durch die Freedom House ratings (Skala von 1–7; 3 = semiliberal, 4–7 = illiberal) kommt Diamond zu einer Reihe wichtiger, aber hochgradig schematischer Unterscheidungen (vgl. Tab. 2). In den 1990er Jahren hat sich die Anzahl elektoraler Demokratien in der Welt von 58 auf 117 ungefähr verdoppelt (vgl. Tab. 1). Gleichzeitig ist jedoch, wie Tab. 2 zeigt, der Anteil der liberalen Demokratien zurückgegangen: Der Anteil der semi- und illiberalen Demokratien zusammen ist zwischen 1991 und 2001 von 38 % auf 41,6 % angestiegen (sogar auf 48,3 %, wenn man die kleinsten Staaten 9 L. Diamond, Developing Democracy. Toward Consolidation, Baltimore 1999.
167
Tab. 2: ›Liberale‹, ›semi-liberale‹ und ›illiberale‹ Demokratien (als Prozente aller ›elektoralen Demokratien‹, 2001) Kontinentale Verteilung
Liberale Demokratien
Semi-liberale Demokratien
Illiberale Demokratien
%
N Anzahl
%
N Anzahl
%
N Anzahl
Insgesamt
58,3
70
20,8
25
20,8
25
Europa (ohne exkommunist. Staaten)
95,9
23
4,1
1
–
–
Exkommunist. Europa (incl. GUS Staaten)
50,0
9
16,7
3
33,3
6
Afrika
28,6
6
23,8
5
47,6
10
Asien
23,1
3
38,5
5
38,5
5
Oceanien
66,7
8
25,0
3
8,3
1
Lateinamerika
63,3
19
26,7
8
10,0
3
2
–
–
–
Nordamerika
100
–
Quelle: Freedom House, nach der Klassifikation von Larry Diamond.
mit weniger als 1 Mio. Ew. nicht berücksichtigt). In der zweiten Hälfte dieser Dekade (1995–2001) ist dabei in der Mehrheit der nichtliberalen Demokratien die Qualität der Demokratie nicht besser geworden. Verbesserungen gab es nur in 47 % der Fälle (31 % ›stalemate‹, 22 % decline). Die nach unseren Kriterien in dieser Zählung viel zu hohe Anzahl liberaler Demokratien, besonders deutlich in Lateinamerika, signalisiert aber auch die konzeptionellen Probleme der Daten von Freedom House und einer überwiegend entlang der Linien von Robert Dahl aufs Partizipatorische gerichteten Demokratiedefinition. Die Zahlen wären wesentlich niedriger, wenn z. B. die Kategorien der ›horizontal accountability‹ und Rechtsstaatlichkeit umfassender berücksichtigt würden.10 Auch Diamonds späterer Klassifizierungsversuch der ›hybrid regimes‹ bringt, ebenfalls auf der Basis von Freedom House-Daten, zwar mehr Differenzierung auf der Seite der autoritären Regime (politically closed; hegemonic electoral; competitive) sowie einer neuen Kategorie der ›ambiguous regimes‹, jedoch nicht auf der Seite der Demokratien (wiederum lediglich electoral and liberal).11 10 Vgl. u. a. die Daten im Bertelsmann Transformation Index 2003 u. 2006. 11 L. Diamond, Elections Without Democracy: Thinking About Hybrid Regimes, in: Journal of Democracy, Jg. 13,2, 2002, S. 21–35.
168
2.2 ›Gute‹ Demokratie (the ›quality‹ thing) Einen anspruchsvolleren Versuch, verschiedene Qualitätsstufen von Demokratie zu unterscheiden, hat Leonardo Morlino unternommen.12 Die Operationalisierung seines Konzepts zur Unterscheidung von ›quality democracies‹ und ›democracies without quality‹ weist jedoch noch eine Reihe von Problemen und Inkonsistenzen auf. Die Reihe der Kriterien: rule of law, accountability, responsiveness, freedom, equality vermischt prozedurale und inhaltliche Dimensionen. Die Ergebnisse in der Differenzierung der Demokratiequalitäten als effective, responsible, fully legitimate, free, egalitarian (bzw. deren jeweiliges Gegenteil) geht jedoch wesentlich über den Ansatz von Diamond hinaus. Ein Vorteil des Morlinoschen Ansatzes ist es auch, dass er sich stärker vom Problem der Konsolidierung einer neuen Demokratie löst und folglich auch jenseits der Konsolidierungsfrage für den weiteren Prozess demokratischer Politik operationalisiert werden kann. 2.3 Embedded democracy Den beiden genannten Vorschlägen überlegen erscheint mir der Ansatz, den wir in unserer jüngsten Studie zu ›embedded democracy‹ und ›defekten Demokratien‹ entwickelt haben und der sich nach meiner Einschätzung auszeichnet durch größere Trennschärfe, größere Erklärungskraft und ein größeres Potential weiterführender Anregungen sowohl für die wissenschaftliche Analyse als auch für praktische Politikberatung.13 Erster Ausgangspunkt sind die elf Kriterien liberaler rechtsstaatlicher Demokratie in Tab. 3, von denen die ersten sieben zum Wahlregime, zu den politischen Freiheitsrechten (öffentliche Arena) und zur effektiven Regierungsgewalt mehr oder weniger den auch anderswo gebräuchlichen Kriterien entsprechen, die sich am Dahlschen Polyarchiekonzept orientieren. Hinzugefügt haben wir die letzten vier Kriterien zur horizontalen Verantwortlichkeit und zur Rechtsstaatlichkeit.14 12 L. Morlino, What is a ›Good‹ Democracy?, in: A. Croissant u. W. Merkel (Hg.), Consolidated or Defective Democracy?, special issue, Democratization, Jg. 11,5, 2004, S. 10–32; vgl. auch L. Diamond u. L. Morlino (Hg.), Assessing the Quality of Democracy, Baltimore 2005; G. O’Donnell u. a. (Hg.), The Quality of Democracy. Theory and Applications, Notre Dame 2004. 13 W. Merkel u. a., Defekte Demokratie, Band 1: Theorie, Opladen 2003; W. Merkel u. a., Defekte Demokratie, Band 2: Regionalanalysen, Wiesbaden 2006. 14 Ich habe hier noch ein elftes Kriterium: Minderheitenrechte/-schutz zu den zehn Kriterien hinzugefügt, die sich in unserem Buch: Defekte Demokratie, Bd. 1 (2003), S. 57 finden. Es soll eine wichtige Dimension explizit machen, die sonst eher implizit im Teilregime der Rechtsstaatlichkeit eingeschlossen ist. Ich weiche auch in der Folge in Tab. 3 und Abb. 2 leicht von der Reihenfolge der Anordnung der Teilregime der embedded democracy im Buch ab, um den Unterschied zwischen den Dahlschen Demokratie-Kriterien und unserer Erweiterung (die ›Polyarchie-Linie‹) deutlicher ausweisen zu können.
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Tab. 3: Kriterien der ›embedded democracy‹, ihrer Teilregime und Defekte 0. Stateness A. Wahlregime 1. Aktives Wahlrecht 2. Passives Wahlrecht 3. Freie und faire Wahlen
Exklusive Demokratie
4. Gewählte Mandatsträger B. Politische Teilhaberechte/ Public Arena 5. Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit 6. Assoziationsfreiheit
Illiberale Demokratie (1)
C. Effektive Regierungsgewalt 7. Gewählte Mandatsträger mit realer Gestaltungsmacht Tutelardemokratie -----(R. Dahls Polyarchie-Linie)----D. Horizontale Gewaltenkontrolle 8. checks and balances
Delegative Demokratie
E. Rechtsstaatlichkeit 9. Bürgerliche Freiheitsrechte 10. rule of law, judicial review, unabhängige Gerichte, gleicher Zugang zu und Gleichheit vor den Gerichten
Illiberale Demokratie (2)
11. Minderheitenrechte/-schutz
Außerdem ist als überwölbende Kategorie der Faktor der Staatlichkeit (stateness) hinzugekommen. Funktionierende stateness, im wesentlichen entlang der Linien von Max Webers Definition und ausgestattet mit hinreichender Autonomie, Durchsetzungsfähigkeit und Gewaltmonopol, ist eine grundlegende Voraussetzung für jedes politische Regime, nicht nur für demokratische. Diese institutionellen Bereiche sind wiederum eingebettet in bestimmte Konstellationen einer Zivilgesellschaft, in einen sozioökonomischen und einen internationalen Kontext (internal and external embeddedness). 170
Abb. 2: Embedded Democracy
Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Reichweiten wichtiger Voraussetzungen oder ›Requisiten‹ (requisites oder pre-requisites) der Demokratie in der Tradition des Arguments von Lipset.15 Es gibt unverzichtbare Voraussetzungen, deren Fehlen ein absolutes Demokratiehindernis darstellt, und andere Faktoren, deren Vorhandensein oder Nichtvorhandensein Demokratie lediglich wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher macht. Unverzichtbare Demokratievoraussetzungen gibt es nach meinem Eindruck nur sehr wenige, nämlich vier: 1. hinreichend funktionierende stateness; 2. Abwesenheit von Elementen außerökonomischen Zwangs in den Arbeitsbeziehungen; 3. Abwesenheit signifikanter religiöser oder kultureller Fundamentalismen, die eine exklusive Kontrolle der Machtbeziehungen und der Politik anstreben, und 4. die Abwesenheit ökonomischer Regime, die nicht wenigstens prinzipiell auf den Mechanismen der Marktwirtschaft basieren. Im Gegensatz zu diesen wenigen essentiellen Voraussetzungen, deren Fehlen die Möglichkeit von Demokratie kategorisch ausschließen würde, gibt es andere Faktoren, die lediglich eine höhere oder geringere Wahrscheinlichkeit des Erfolgs von Demokratie indizieren. Auch hier nur ein paar Hinweise: Seit Van15 S. M. Lipset, Some Social Requisites of Democracy, in: American Political Science Review, Jg. 53, 1959, S. 69–105, und: S. M. Lipset, The Social Requisites of Democracy Revisited, in: American Sociological Review, Jg. 59, 1994, S. 1–22.
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hanen16 und inzwischen besseren und umfassenderen Studien (z. B. Polity IV, Bertelsmann Transformation Index) wissen wir, dass es (unbeschadet gewisser Ausnahmen) höchst unwahrscheinlich ist, dass Demokratie in Gesellschaften funktionieren kann, deren aussagekräftige Entwicklungsindikatoren (z. B. GDP per capita, Alphabetisierungsrate, HDI) unterhalb einer bestimmten Grenze liegen. Aber es gibt eben immer auch Ausnahmen (z. B. Indien, Mali). Ähnlich verhält es sich mit der ominösen Zivilgesellschaft, als Arena ebenso wie als Faktoren- und Akteurskonstellation: Eine starke, autonome und demokratische (bzw. wenigstens nicht antidemokratische) Zivilgesellschaft kann für den Bau und die Bewahrung demokratischer Institutionen sehr wichtig sein. Es hilft der Demokratie, wenn in der Zivilgesellschaft eines bestimmten Landes demokratische oder wenigstens pluralistische und libertäre Elemente überwiegen, wenn die Zivilgesellschaft eine liberale Zivilgesellschaft im Sinne Tocquevilles ist, und nicht eine autoritäre oder ›schwarze‹ Zivilgesellschaft. Aber die Zivilgesellschaft ist keine unabdingbare Demokratievoraussetzung im Sinne der oben genannten vier anderen Faktoren. Ähnlich verhält es sich mit den sogenannten demokratischen ›Werten‹ (values), die der Demokratie auch eine Hilfe sind, aber ebensowenig als unverzichtbare Voraussetzungen der Demokratie angesehen werden sollten, wie z. B. Muller und Seligson17 in der Debatte mit Inglehart und anderen gezeigt haben. Wenn eine signifikante Menge und Intensität demokratischer Werte von Anfang an unverzichtbar wären für den Bau einer Demokratie, wäre ein Übergang von einem langen und repressiven autoritären oder totalitären Regime zur Demokratie so gut wie unmöglich. Glücklicherweise ist dies aber nicht so, wie u. a. die Fälle Portugals und Spaniens seit 1974 gezeigt haben. Ich kann das Argument an dieser Stelle nicht weiter vertiefen, sondern möchte stattdessen kurz auf einige der wichtigsten Charakteristika unseres Konzepts der ›Defekten Demokratie‹ eingehen.
3. Das Konzept der ›Defekten Demokratie‹ Das Konzept der ›Defekten Demokratie‹ versucht, die konzeptionellen Unschärfen ›hybrider Regime‹ und die Dutzende von Typen unterschiedlicher ›Demokratien mit Adjektiv‹18 zu vermeiden, die wir in der Literatur finden können. Es bezieht sich auf jene Transformationsregime, die die Konsolidierung einer liberalen Demokratie im Sinne unserer elf Kriterien für ›embedded democracy‹ 16 T. Vanhanen, The Process of Democratization. A Comparative Study of 147 States, 1 980–1988, New York 1990; ders., Prospects of Democracy: A Study of 172 Countries, London 1996. 17 E. N. Muller u. M. A. Seligson, Civic Culture and Democracy. The Question of Causal Rela tionships, in: American Political Science Review, Jg. 88, 1994, S. 635–652. 18 D. Collier u. S. Levitsky, Democracy with Adjectives: Conceptual Innovation in Comparative Research, in: World Politics, Jg. 49, 1997, S. 430–451.
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nicht erreicht haben, die aber auch nicht mehr als autokratische Regime betrachtet werden können, weil sie zumindest ein elektorales Regime etabliert haben, das im wesentlichen demokratisch funktioniert (Kriterium: free and fair elections). Das bedeutet vor allem, dass die Ergebnisse der Wahlen regelmäßig respektiert werden. Im Unterschied zum funktionierenden Wahlregime, das das Herzstück von Demokratie ist, sind dabei andere Kriterien und Teilregime oft verletzt oder reduziert. Diese Verletzungen und Nichtentsprechungen konstituieren charakteristische ›Defekte‹ in bestimmten Bereichen, die die funktionale Logik des Systems der liberalen Demokratie aufbrechen und das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Faktoren und Teilregimen der ›embeddedness‹ stören, dessen Zweck der Schutz und die Förderung von Freiheit, Chancengleichheit und Kontrolle ist. Aus diesem Grunde ist ›defekte Demokratie‹ auch nicht nur eine reduzierte Demokratie oder eine Demokratie »niederer Intensität« (O’Donnell), sondern auch eine inkonsistente Demokratie. Die Inkonsistenzen verhindern sozusagen die Produktion hinreichender Dynamik, die das System dazu drängen könnte, das ›verlorene Gleichgewicht‹ wiederherzustellen, sei es durch einen Rückfall in den Autoritarismus oder durch weiteren Fortschritt in Richtung auf eine liberale rechtsstaatliche Demokratie. Es kann im Gegenteil passieren, dass die Defekte sich vertiefen und dass die Demokratie sich für eine längere Zeit als defekte Demokratie konstituiert. Defekte Demokratie ist mithin mehr als nur eine Phase oder eine Strecke auf dem Weg in Richtung auf die Konsolidierung rechtsstaatlicher Demokratie oder rückwärts zum Autoritarismus. Sie ist eine Grauzone der Demokratie, die länger dauern kann und relativ stabil ist. Ausgangspunkt für die Suche nach den möglichen ›Defekten‹ der Demokratie sind unsere Kriterien rechtsstaatlicher Demokratie. Defekte können iden tifiziert werden in einem oder mehreren der fünf Teilregime der ›embedded democracy‹ (vgl. Abb. 2). Je nach Art der Defekte und nach dem Bereich, den sie betreffen, lassen sich wenigstens vier unterschiedliche Typen von ›defekter Demokratie‹ unterscheiden (vgl. Tab. 3).
4. Typen defekter Demokratien Wie in Tabelle 3 angedeutet, können wir die folgenden vier Typen ›defekter Demokratie‹ unterscheiden, je nachdem, in welchem Bereich und in welchem Teilregime die Kriterien der ›embedded democracy‹ verletzt sind: die exklusive Demokratie bei Verletzungen der Kriterien des Wahlregimes (auch begrenzte, oligarchische oder ggf. Männer-Demokratie); die illiberale Demokratie bei Verletzung der bürgerlichen Freiheiten (die dann meistens auch exklusiv ist) sowie, in einer zweiten Variante, bei Verletzung der rechtsstaatlichen Garantien; die Tutelardemokratie oder Enklavendemokratie (auch gelenkte oder geschützte Demokratie) bei Verstößen gegen die Ausübung effektiver Regierungsgewalt 173
durch gewählte Amtsträger, wenn es also ›reserved domains‹ gibt für undemokratische Kräfte wie z. B. die Militärs; und die delegative Demokratie bei Verletzungen des Prinzips der horizontal accountability. Die Klarheit dieser Typen dient der analytischen Trennschärfe; in Wirklichkeit treten die Defekte in der Regel gemischt auf, wobei es dann darauf ankommt, die jeweils überwiegenden Charakteristika festzustellen. Es ließen sich auch noch weitere, kleinräumigere Typen identifizieren, die in unserer Vierertypologie im Interesse typologischer Sparsamkeit bereits großflächiger zusammengefasst worden sind. 1. Im Falle der Exklusiven Demokratie ist das zentrale Kriterium, gegen das verstoßen wird, die Forderung nach möglichst inklusivem universellem Wahlrecht. Die jeweilige Exklusion kann dabei festgemacht werden an unterschiedlichen Kriterien, meistens an ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Geschlecht. Die bekanntesten Beispiele sind hier die Schweiz bis 1971, die Südstaaten der USA bis 1964, Nordirland bis 1972, Lettland und Thailand zeitweise nach 1992. 2. In der Tutelardemokratie oder Enklavendemokratie gibt es reservierte Domänen undemokratischer Kräfte, die sich als außerdemokratische Machtzentren und Veto-Akteure gerieren, wie die Militärs oder gewisse traditionelle oligarchische Gruppen und Fraktionen. Neben dem klassischen Fall der kemalistischen Türkei ist dieser Typ häufiger in Lateinamerika und in Südostasien aufgetreten, weniger in andern Teilen der Welt. 3. In der Delegativen Demokratie, deren Konzept hier nicht völlig identisch ist mit dem ähnlichen Begriff von O’Donnell,19 funktionieren die Mechanismen horizontaler Verantwortlichkeit, also die checks and balances, nicht. In den meisten Fällen dominiert die Exekutive die Legislative und regiert durch Dekret auch in solchen Fällen, in denen parlamentarische Gesetzgebung erforderlich wäre. Dies war z. B. typischerweise der Fall in Argentinien in der Ära Menem und in Russland unter Jelzin und Putin. Hinzu kommt außerdem meistens auch noch, dass in solchen Ländern die Gerichte nicht unabhängig sind und sich nicht durchsetzen können. Ein klassischer Fall war hier neben Argentinien und Russland auch Südkorea. 4. Der vierte Typ, die Illiberale Demokratie, in der die rechtsstaatlichen Mechanismen beschädigt sind oder nicht funktionieren, ist bei weitem der häufigste Typ in allen Teilen der Welt. Die Verletzung der Kriterien rechtsstaatlicher Demokratie können sich hier auf zwei unterschiedliche Bereiche beziehen: erstens auf die politischen Freiheiten und den Bereich der öffentlichen Arena wie Meinungs-, Informations- und Vereinigungsfreiheit, die zentrale Voraussetzungen für die Ausübung politischer Partizipationsrechte sind; und zweitens auf den Bereich der rechtsstaatlichen Mechanismen zum Schutz der Bürgerfreiheiten gegenüber dem Staat, wie sie vor allem ihren Niederschlag in den Formulierungen der Menschen- und Bürgerrechte gefunden haben, sowie in den 19 G. O’Donnell, Delegative Democracy, in: Journal of Democracy, Jg. 5,1, 1994, S. 55–69.
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Weissrussland (2) Jugoslawien (1)
Pakistan (2)
Mittel- u. Osteuropa
Ost-, Südostu. Südasien
THAILAND (2)
Estland(1) Lettland (1,2)
BRASILIEN (1,2) GUATEMALA (1,2)
Exklusive Demokratien
INDONESIEN (1,2) THAILAND (2) Philippinen (2) Bangla Desh (1,2) Nepal (1,2)
Albanien (1,2) Weissrussland (1) Kroatien (2) Mazedonien (1,2) Moldova (1,2) Rumänien (1) Russland (2) Slowakei (1) Ukraine (1,2)
BRASILIEN (2) Bolivien (1,2) GUATEMALA (1,2) El Salvador (2) Honduras (2) Mexico (1,2) Nicaragua (2) Panama (2)
Südkorea (2)
Kroatien (1) Russland (1)
Argentinien (2) Peru (1)
Delegative Demokratien
Defekte Demokratien Illiberale Demokratien
INDONESIEN (1,2) THAILAND (1) Südkorea (1) Philippinen (1) Pakistan (1)
BRASILIEN (1) Chile (1,2) Ecuador (1,2) El Salvador (1) Honduras (1) Nicaragua (1) Panama (1) Paraguay (1,2)
Tutelardemokratien
Taiwan (1,2)
Estland (2) Litauen (1,2) Rumänien (2) Slowakei (2) Slowenien (1,2) Tschech. Rep. (1,2) Ungarn (1,2) Polen (1,2)
Argentinien (1) Uruguay (1,2)
Konsol. liberale Demokratien
Zeitpunkte: (1) Im jeweils ersten Jahr nach den founding elections; (2) Ende 2000; a Peru 1997–2000 als autokratisch eingestuft, danach wieder als defekte Demokratie (founding elections im Frühjahr 2001) mit unklarem Profil. Gemischtes Profil in GROSSBUCHSTABEN. Berücksichtigt wurden nur Transformationsstaaten.
Peru (2)a
Lateinamerika
Autokratien
Tab. 4: Autokratien, konsolidierte liberale und defekte Demokratien in Lateinamerika, Mittel- und Osteuropa, Ost-, Südost- und Südasien
Prinzipien des gleichen Zugangs zu und der Gleichheit vor Gericht, im Minderheitenschutz, der richterlichen Überprüfbarkeit staatlichen Handelns und der Effektivität des Rechtsstaats im allgemeinen. Tabelle 4. klassifiziert ausgewählte Transformationsländer in Lateinamerika, Osteuropa und Ost-, Südost- und Südasien im Hinblick auf die jeweiligen Regimetypen und deren Subtypen zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten: erstens im ersten Jahr nach den founding elections, und zweitens am Ende des Jahres 2000. Dabei wird deutlich, dass sich die überwiegenden und charakteristischen Defekte im Laufe der Zeit ändern können und dass es gelegentlich nicht einfach ist, in der Gemengelage gemischter realer Defekte den jeweils dominanten herauszufinden. Besonders unklare Fälle und solche ganz klarer Mischungen sind in Tab. 4 in Großbuchstaben ausgewiesen. In diesem relativ umfangreichen sample von Transformationsländern haben es offensichtlich nur wenige geschafft, die rechtsstaatliche Demokratie zu konsolidieren, zumindest außerhalb Ost- und Südeuropas (dessen drei Transformationsländer aus den 1970er Jahren in der Tabelle gar nicht mehr erfasst sind). In Lateinamerika finden wir lediglich Uruguay (und Chile im Jahre 2005), vielleicht noch Argentinien unter Alfonsín in der ersten Phase unmittelbar nach den founding elections. Ebenso seltene Ausnahmefälle sind jene Länder, die einen kompletten Rückfall in die Autokratie zu verzeichnen hatten oder haben. In Lateinamerika finden wir hier nur Peru unter Fujimori in der zweiten erfassten Phase, die inzwischen glücklicherweise überholt ist. In den meisten Fällen ist das Ergebnis der Transformation eine ›defekte Demokratie‹ gewesen, und zwar besonders eine illiberale Demokratie oder eine Tutelardemokratie. Die deutliche Kumulation, die wir in den entsprechenden zwei Spalten der Tabelle finden, deutet darauf hin, dass die meisten Verletzungen der Kriterien der ›embedded democracy‹ im Bereich der politischen Freiheiten, der Bürgerrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der effektiven Regierungsgewalt zu finden sind (also in den Sektoren B, E und C der Abb. 2) und weniger in den Bereichen des Wahlregimes oder der horizontalen Verantwortlichkeit (Sektoren A und D).
5. Ursachen und Entwicklungstendenzen Wie können wir die Entstehung und die relative Persistenz defekter Demokratien erklären? Die Faktoren und Konstellationen, die hier eine Rolle spielen, sind im Grunde dieselben, die im positiven Fall auch zur demokratischen Konsolidierung beitragen (und dann, wenn die Konstellationen ungünstig sind, defekte Demokratien begünstigen). Diese Faktoren und Konstellationen sind bereits weiter oben in Abb. 1 zusammengefasst worden: Erinnert sei unter den Faktoren an den konkreten Modernisierungsweg und den sozioökonomischen Entwicklungsstand eines Landes, an die Wirtschaftskonjunktur, die Stärke der Zivilgesellschaft, Faktoren kultureller Transformation und des Auslandseinflusses 176
sowie, im stärker institutionellen Bereich: das Vorhandensein vorautoritärer demokratischer Traditionen und Institutionen, die Art und Weise eines früheren ›breakdown of democracy‹, Charakteristika, Dauer, Organisation und Träger des autokratischen Regimes, besonders auch in dessen Endphase, und schließlich an die Eigenarten der transition, des Regimeübergangs im engeren Sinne. Unter den Teilregimen, in denen Konsolidierung vorankommen oder aber auch Demokratiedefekte sich verfestigen können, ragen insbesondere hervor: das Teilregime der wirtschaftlichen Stabilität und Entwicklung, das Parteiensystem, die Konstellationen der Eliten und das System der Interessenvermittlung, die Faktoren nationaler Integration und territorialer Ordnung, das System der Institutionen und der Verfassungsordnung sowie die Unterstützung für die Demokratie (supports). Jeder/s einzelne dieser Faktoren und Faktorenbündel und jedes einzelne Teilregime kann so beschaffen sein, dass es die demokratische Konsolidierung weiterbringt und befördert, oder auch so, dass es die längerfristige Etablierung einer defekten Demokratie begünstigt. In welche Richtung die Entwicklung geht, hängt von den Konstellationen ab. Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung defekter Demokratien oder die Möglichkeiten von deren Abbau sind die Bereiche der Institutionen, der Verfassungs- und Rechtsordnung. Die meisten Demokratiedefekte, und besonders jene, die den häufigsten Typ der illiberalen Demokratie ausmachen, sind gewöhnlich begründet in der Schwäche und Nichterfüllung von Regeln und Normen des Rechtsstaats und der Garantien der Menschen- und Bürgerrechte, deren Autorität gerade auf ihren formellen und institutionellen Qualitäten beruht und auf dem Respekt, den diese Mechanismen insgesamt in der Gesellschaft genießen. Je mehr die Institutionen fehlen, nicht funktionieren oder nicht respektiert werden und je mehr die formellen Prozesse und Institutionen durch informelle, klientelistische oder populistische Mechanismen und Interaktionen ersetzt werden, umso mehr werden auch die demokratischen Garantien ausgehöhlt und entleert, wird die Autorität der demokratischen Spielregeln eingeschränkt und vermehren sich die Defekte der Demokratie. Hier befinden wir uns ganz und gar im Widerspruch zu Guillermo O’Donnell, der in seiner Philippika gegen das Modell der demokratischen Konsolidierung sehr stark auf die Bedeutung der informellen Mechanismen abhebt.20 Die besondere Bedeutung der Institutionen und des Institutionenbaus unterstrichen haben auch die Veränderungen in der Zeit und die jeweiligen Entwicklungstendenzen zwischen Autokratien, ›defekten Demokratien‹ unterschiedlichen Typs und konsolidierten Demokratien, die wir in unseren Fallstudien21 am Beispiel von neun Ländern auf drei Kontinenten untersucht haben: Russland, Albanien und die Slowakei in Osteuropa; die Philippinen, Südkorea und Thailand in Ost- und Südostasien, sowie Peru, Argentinien und Mexico in Lateinamerika. Darüber hinaus haben sie auch unterschiedliche Szenarien deut20 G. O’Donnell, Illusions About Consolidation, in: Journal of Democracy, Jg. 7,2, 1996, S. 34–51. 21 W. Merkel u. a., Defekte Demokratie, Band 2: Regionalanalysen, Wiesbaden 2006.
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lich gemacht, in denen die weitere Entwicklung der defekten Demokratien verlaufen kann. Im Grunde gibt es dabei immer drei verschiedene Möglichkeiten, die auch kombiniert und nacheinander auftreten können: 1. einen Rückfall einer nicht konsolidierten Demokratie in ein autokratisches Regime, wie es in Peru unter Fujimori oder in Weissrussland unter Lukaschenka passiert ist; 2. eine längerfristige Kontinuität und Stabilität der Demokratiedefekte, wie sie z. B. in Russland, den Philippinen, Argentinien und vielen anderen Ländern zu verzeichnen gewesen sind. Dieses Szenario der relativ stabilen ›defekten Demokratie‹ über längere Zeit ist durchaus häufig. Zeitweise hat es den Anschein, als könne es in bestimmten Fällen gar keine gangbare Alternative geben. Gewisse Länder scheinen unter bestimmten Bedingungen und in bestimmten Konstellationen geradezu dazu verurteilt zu sein, längere Zeit ›defekte Demokratien‹ zu bleiben. Und schließlich gibt es 3. das Szenario des Fortschreitens aus der defekten Demokratie hin zu einer liberaleren rechtsstaatlichen Demokratie, wie es auf einer früheren Stufe z. B. in den Fällen von Taiwan und der Slowakei zu beobachten gewesen ist, oder in jüngerer Zeit in Südkorea, Kroatien, Chile und einigen andern Ländern, darunter auch mit zumindest ›sektoralem‹ Fortschritt Brasilien und Mexico. Wenn wir die Fälle durchzählen oder die Befunde des Bertelsmann Transformation Index 2003 oder 2006 zugrunde legen, überwiegen bislang im ganzen die Fortschrittszenarien die der Regression, und die der Regression sind wiederum häufiger als die der bloßen Stagnation. Was lässt sich aus diesen sozialwissenschaftlichen Befunden für die praktische Politik lernen? Lassen sich daraus Handlungsanleitungen ableiten für die politischen und gesellschaftlichen Akteure in einer bestimmten Situation defekter Demokratie? Gibt es verlässliche Kriterien dafür, was wir in Konstellationen, die überwiegend durch Demokratiedefekte charakterisiert sind, als ›good governance‹ ansehen können? -- Eine allgemeine Regel scheint klar zu sein: Es kommt darauf an, dass die politischen Akteure solche Entscheidungen fällen, die mittel- und langfristig die Defekte der Demokratie effektiv reduzieren und dazu beitragen, eine liberalere rechtsstaatliche Demokratie herzustellen: also Entscheidungen, die den Geltungsbereich des Rechts ausweiten, den Rechtsstaat stärken und zu effektiver horizontaler Verantwortlichkeit sowie zu größerer Autonomie, Ermächtigung und Wahlfreiheit der Bürger beitragen, im Gegensatz zu solchen Entscheidungen, die die existierenden Defekte der Demokratie stabilisieren, tiefer eingraben und ausweiten. Politische Entscheidungen müssen insgesamt die Demokratie fördern (›be conducive to democracy‹). Das bedeutet auch, dass über den Bau und die Entwicklung rechtsstaatlich-demokratischer Institutionen hinaus in der Gesellschaft das notwendige Vertrauen in solche Institutionen generiert, gefördert und verwurzelt werden muss, nicht nur durch die angemessenen Garantien für Partizipation und Chancengleichheit, 178
sondern auch durch jene sozialen Reformen, die notwendig sind, um die unverzichtbaren Minimalvoraussetzungen für die Demokratie zu sichern. Insoweit ist dies auch ein Plädoyer für embedded institution building. Wir können aber keinesfalls beim institution building allein stehen bleiben. Es bedarf ebenso der in die gleiche Richtung zielenden Vereinbarungen und Handlungen (corporate agreements) der Akteure. Hier geht es nicht, wie manche Scheingefechte der letzten Zeit suggeriert haben, um die Alternative eines ›Entweder-Oder‹. Mehr formelle und mehr informelle Prozesse müssen gleichgerichtet ineinander wirken. Der Institutionenbau bedarf zunächst der corporate agreements der Akteure, und die gesicherten Institutionen bilden wiederum die Grundlage für die nächste Runde weitergehender Akteursverhandlungen. Nur wenn beide Prozessmechaniken sich gegenseitig fördern und stützen, kann die Demokratisierung nachhaltig vorankommen.22 Dasselbe scheint mir auch zu gelten für die Beseitigung viel elementarerer stateness-Probleme vor und außerhalb von demokratischen Regimen. Hier müssen wir differenzieren zwischen den allgemeinen stateness-Debatten und den Debatten über Demokratie und ihre Defekte. Unser Ansatz von der ›defek ten Demokratie‹ bezieht sich auf die Grauzone zwischen klaren Autokratien und konsolidierten Demokratien. Dabei setzt ›defekte Demokratie‹ das grundsätzliche Funktionieren der elektoralen Demokratie voraus, also die Geltung demokratischer Spielregeln. Diese wiederum setzt in der Regel eine funktionierende stateness voraus, ohne die jede Art politischer Regime, nicht nur demokratische, nicht funktionieren können. – Fehlende oder begrenzte Staatlichkeit, failing oder failed states, d. h. verfallende und schwache Staaten mit nicht vorhandenem staatlichen Gewaltmonopol oder nicht vorhandener Fähigkeit zur effektiven Durchsetzung politischer Entscheidungen, sind keine Fälle ›defekter Demokratie‹, sondern Fälle defekter und beschädigter Staatlichkeit. Dies ist ein wichtiger Unterschied. Stateness-Defekte sind viel gravierender als Defekte im Bereich der Rechtsstaatlichkeit, wie wir sie gemäß unserem Konzept der ›defekten Demokratie‹ identifizieren. Versuche, die stateness-Kategorie völlig in der der Rechtsstaatlichkeit aufgehen zu lassen, sie sozusagen zum Basiskriterium von Rechtsstaatlichkeit zu machen, sind in mehreren Fällen gescheitert. Stateness ist eine essentielle Grundbedingung für Demokratie. – Allerdings haben beide: stateness und Rechtsstaatlichkeit miteinander zu tun, und vieles könnte als ›a matter of degree‹ erscheinen. Dabei gibt es interessante Unterschiede: In Kolumbien z. B. haben wir in den letzten Jahrzehnten gravierende stateness-Probleme lokalisieren können, mit Einschränkungen des staatlichen Gewaltmonopols und der Geltung staatlicher Entscheidungen in größeren Bereichen des staatlichen Territoriums: Der Staat konnte 22 Dies scheinen allmählich auch frühere Verächter eines eher institutionellen Fokus einzusehen. Vgl. z. B. G. O’Donnell, Why the Rule of Law Matters, in: L. Diamond u. L. Morlino (Hg.), Assessing the Quality of Democracy, Baltimore 2005, S. 3–17, gegenüber ders., Illusions.
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sich keineswegs überall im Lande durchsetzen, und ganze Provinzen haben de facto unter privater Herrschaft von Rebellen oder Paramilitärs gestanden. In jenen Bereichen aber, wo die stateness griff, gab es elektorale Demokratie im Defektmodus. In Bolivien hat es demgegenüber bis ins Jahr 2005 zwar Verfallstendenzen gegeben, aber die grundsätzliche Geltung von staatlichen Ansprüchen ist im ganzen nicht bestritten worden, Polizei und Armee konnten sich durchweg durchsetzen. Es gab damals allerdings in vielen Teilen des Landes umfassende Rechtsstaatsdefekte: willkürliche Verhaftungen, zu lange verschleppte Prozesse, Nichtanwendung von Regeln, zu viel Klientelismus und Korruption, etc. Bolivien wurde bis in die Jahre 2004/05 eher als ›defekte Demokratie‹ denn als failing state eingeordnet. Erst neuerdings, seit 2005 haben sich aufgrund separatistischer Tendenzen, eines Zerfalls der Ordnungsfunktionen und des abnehmenden Konsens im Lande zunehmend auch stateness-Probleme in den Vordergrund geschoben.23 – Unter dem Gesichtspunkt theoretischer Reinlichkeit müsste man im Kontext der Ansätze von demokratischer Konsolidierung und ›defekter Demokratie‹ im kolumbianischen Fall eher von Defekten der Staatlichkeit sprechen als von solchen der Demokratie, weil diese deutlich vorgängiger und gravierender sind. Da es aber auch fließende Übergänge gibt (wie z. B. in Bolivien), ist jedoch nicht auszuschließen, das sich auch ein eher schlampiger Sprachgebrauch einbürgert und man von ›defekter Demokratie‹ mit zusätzlichen Staatlichkeitsdefiziten redet. Wenn letztere gravierend sind und der Staat zerfällt, macht dies wenig Sinn (in Somalia ist das Problem bekanntlich nicht die defekte Demokratie, sondern das Versagen von stateness). Aber in den minder schweren Fällen (solchen der matters of degree) wäre es an der Zeit, mehr Trennschärfe einzufordern und zu versuchen, das Verhältnis zwischen Begrenzungen der Staatlichkeit auf der einen Seite und ›bloßen‹ Defekten im Bereich der Rechtsstaatlichkeit auf der anderen Seite systematisch neu zu ordnen, die Bereiche klarer voneinander abzugrenzen und die möglichen Übergänge genauer zu markieren. So wie dies, zumindest typologisch, inzwischen ganz erfolgreich geschehen ist in der Abgrenzung zwischen Autokratien und Demokratien und zwischen konsolidierten und defekten Demokratien.
23 Diese Probleme sind aber in der Folge wieder aufgefangen und im Rahmen gesicherter stateness weiter bearbeitet worden [hinzugefügt 2015].
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Demokratisierung, Europäisierung, Modernisierung: Parteienentwicklungen in Südeuropa seit den 1970er Jahren*
Die Regimeübergange (transitions) und Konsolidierungen oder Nicht-Konsolidierungen der neuen Demokratien der ›dritten‹ und ›vierten Welle‹ (nach 1974 und nach 1989) sind, wie wir wissen, sehr unterschiedlich verlaufen. Die jeweiligen Ergebnisse hängen von zahlreichen Faktoren und Konstellationen ab, die in den beiden voraufgehenden Beiträgen ausführlicher und systematischer behandelt worden sind und hier nicht wiederholt werden sollen. Es herrscht jedoch Einigkeit darüber, dass in allen Phasen der Demokratisierungsprozesse die politischen Parteien eine zentrale Rolle gespielt haben und spielen, in manchen eine Schlüsselrolle als entscheidende Akteure.1 Das liegt daran, dass das Zentrum der Demokratie und ihr wichtigstes funktionales Kriterium freie und faire Wahlen sind, und dass es in der Regel bestimmter Vereinigungen, Organisationen, anfangs manchmal auch nur Komitees bedarf, die zu diesen Wahlen Kandidaten präsentieren. Solche Assoziationen fungieren als Parteien, unabhängig davon, ob sie sich selbst so nennen oder nicht (mein Parteibegriff ist weit und funktional). Im vormals kommunistischen Osteuropa haben wir auch gesehen, dass Vereinigungen, die am Anfang partout keine Parteien sein wollten, weil der Terminus ›Partei‹ in seiner jahrzehntelangen leninistischen Verformung diskreditiert war, und die deshalb zunächst firmierten als ›Bürgerforen‹, Bürgerbewegungen, Wahlausschüsse von Gewerkschaften oder anderes, im parlamentarischen Betrieb und in den Wahlkämpfen relativ schnell zu ›normalen‹ Parteien geworden sind. Das hat es auch anderswo gegeben, z. B. in Deutschland bei den Grünen oder in Italien bei den * Zuerst erschienen in: H.-J. Veen u. a. (Hg.), Parteien in jungen Demokratien. Zwischen Fragilität und Stabilisierung in Ostmitteleuropa, Köln 2008, S. 13–36. Auf einige einführende Abschnitte zum Kontext von transitions und Konsolidierungen konnte hier verzichtet werden. 1 Leonardo Morlino hat sie die ›gatekeepers‹ der Demokratisierung (und insbesondere der demokratischen Konsolidierung) genannt; vgl. L. Morlino, Political Parties and Democratic Consolidation in Southern Europe, in: R. Gunther, P. N. Diamandouros u. H. J. Puhle (Hg.), The Politics of Democratic Consolidation: Southern Europe in Comparative Perspective, Baltimore 1995, S. 315–388, bes. 350. Vgl. auch P. N. Diamandouros u. R. Gunther (Hg.), Parties, Politics and Democracy in the New Southern Europe, Baltimore 2001; zum neuesten Forschungsstand u. a. W. Merkel, Systemtransformation, Wiesbaden 20102, sowie R. Kollmorgen u. a. (Hg.), Handbuch Transformationsforschung, Wiesbaden 2015 [hinzu gefügt 2015].
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Leghe. Die rhetorischen Anti-Parteien-Affekte faktischer Parteien halten dem Praxistest nicht stand. In den neuen Demokratien, die in Südeuropa, Lateinamerika oder Ostasien in der Regel autoritäre Regime von rechts abgelöst haben, war die Konstellation anders: Diese auch rhetorisch explizit antidemokratischen Diktaturen kamen durchweg ohne Massenmobilisierung und oft ohne Einheitspartei aus, die politischen Parteien waren verboten und in Untergrund und Exil abgedrängt worden, sie wurden folglich mit Liberalität, Pluralismus und Demokratie assoziiert. Der Begriff war für die Opposition positiv besetzt, und in vielen dieser Länder haben die neuen demokratischen Ordnungen den politischen Parteien Verfassungsrang nach dem Vorbild des Bonner Grundgesetzes gegeben. Im Folgenden möchte ich versuchen – auch zum Vergleich mit den Entwicklungen in Mittelund Osteuropa und anderswo –, einige wichtige Erkenntnisse über den Zusammenhang von Parteien, Parteiensystemen, Parteienentwicklung und demokratischer Konsolidierung sowie über das Funktionieren der Parteiendemokratie in den dann konsolidierten Demokratien Südeuropas etwas systematischer und thesenhaft zusammenzufassen.
1. Parteien und Demokratisierung in Südeuropa: Erste Thesen Die drei südeuropäischen Fälle der dritten Welle (Portugal und Griechenland ab 1974, Spanien ab 1975) gelten einerseits als besonders erfolgreich, weil die neuen Demokratien relativ schnell als liberale rechtsstaatliche Demokratien ohne große Defekte funktioniert und sich dann im breiteren westeuropäischen Kontext weiterentwickelt haben – gleichberechtigt mit den älteren Demokratien, und manchmal sogar besser als einige von ihnen.2 Auch die Parteienentwicklungen sind im ganzen – jedenfalls bis ins erste Jahrzehnt des 21. Jahr hunderts – Erfolgsgeschichten gewesen, mit den üblichen ups and downs moderner Massenparteien in schon länger bestehenden parlamentarischen Demokratien (im Unterschied zu präsidentiellen), die auch ›Parteienstaaten‹ im Sinne des Leibholzschen Typus sind, wie vorher schon die nachfaschistischen Demokratien Deutschland, Österreich und Italien.3 2 Vgl. die Ergebnisse des langjährigen SSRC-Projekts (mit Unterstützung der VolkswagenStiftung) ›The New Southern Europe‹ in bisher vier Bänden: Gunther, Diamandouros u. Puhle (Hg.), Politics, 1995; Diamandouros u. Gunther (Hg.), Parties, 2001; H. D. Gibson (Hg.), Economic Transformation, Democratization and Integration into the European Union: Southern Europe in Comparative Perspective, Basingstoke 2001; R. Gunther, P. N. Diamandouros u. D. A. Sotiropoulos (Hg.), Democracy and the State in the New Southern Europe, Oxford 2006. 3 Vgl. G. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jht., Berlin 19663; W. Hennis, Auf dem Weg in den Parteienstaat, Stuttgart 1998; H. J. Puhle, Parteienstaat in der Krise: Parteien und Politik zwischen Modernisierung und Fragmentierung, Wien 2002, auch in diesem Band.
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Auf der anderen Seite hatten es die südeuropäischen Länder allerdings auch leichter als andere: Ihre Transformationsprozesse waren weniger komplex als die in den postkommunistischen Ländern; das ständige Nachdenken über das ›sequencing‹ zwischen den einzelnen Schritten der politisch-institutionellen und der ökonomisch-sozialen Transformation war überflüssig. Ebenso entfiel der unmittelbare Zwang zu sofortigen Reform- und Rettungsmaßnahmen angesichts katastrophaler sozialer Zustände, wie er in ›richtigen‹ Entwicklungsländern der ›Dritten Welt‹ besteht. Man konnte die Energien konzentrieren und alle anderen Probleme verschieben bis nach der Demokratisierung. Man konnte auch zurückgreifen auf eigene rechtsstaatliche, pluralistische und parlamentarische Traditionen, in einigen Fälle sogar auf mehr oder weniger systematisch betriebene Anstrengungen zur Modernisierung der Wirtschaft in der letzten Phase der Diktatur, mit Liberalisierungsfolgen für die Gesellschaft. Und das europäische Umfeld war günstig, vom Einsatz des Europarats für Menschenrechte und Demokratie bis hin zu den ›Sachzwängen‹ und Anreizen der Beitrittsperspektive zur EG.4 – Meine Hauptthesen sind, grob zusammengefasst, die folgenden: 1. Die politischen Parteien haben in den südeuropäischen Transformationsprozessen eine Schlüsselrolle gespielt. Sie waren institutionell privilegiert und haben (mit nur wenigen Ausnahmen) durch ihre Flexibilität und politische Mäßigung beigetragen zur Konsolidierung der Demokratie. 2. Der dominante Typus, der auch weiterwirkte in die gefestigten Demokratien, war die catch-all party im Sinne Kirchheimers, also ein moderner Typ der organisierten Massenpartei, die im Bestreben, möglichst viele Wähler anzu ziehen, hergebrachte Klassen- oder Milieugrenzen überschreitet und deren Wählerschaft im Idealfall genauso zusammengesetzt ist wie die Gesamtheit der Wähler. Die gelegentlich hohen Kosten eines loseren Zusammenhalts, des Fehlens spezifischer Programmatik und einer weniger dauerhaften Verwurzelung in der Gesellschaft werden dabei in Kauf genommen.5 Damit gehören die Parteien der neuen südeuropäischen Demokratien zum selben Typ und hatten nach kurzer Zeit dieselben Probleme wie die Parteien der älteren Demokratien in Nord- und Westeuropa. 3. Entsprechend waren sie auch, nur wenig verspätet, konfrontiert mit den Krisenerscheinungen der catch-all parties seit den 1980er Jahren (Rückgang der Wahlbeteiligung, abnehmende Parteibindungen, Enttäuschungssyndrome, Koordinationsprobleme, etc.), die mittelfristig auch den Parteityp etwas verändert haben. Die südeuropäischen Parteien konnten aber, weil sie weniger 4 Vgl. H. J. Puhle, Demokratisierungsprobleme in Europa und Amerika, in: H. Brunkhorst u. P. Niesen (Hg.), Das Recht der Republik, Frankfurt 1999, S. 317–345, auch in diesem Band, sowie: H. J. Puhle, ›Transitions‹, Demokratisierung und Transformationsprozesse in Südeuropa, in: W. Merkel (Hg.), Systemwechsel 1, Opladen 1974, S. 173–194. 5 O. Kirchheimer, Der Wandel des westeuropäischen Parteisystems, in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 6, 1965, S. 177–200.
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historischen Ballast mitschleppten, wenigstens zeitweise flexibler und damit erfolgreicher auf die Krise reagieren als die Parteien im Norden. 4. Die politischen Gestaltungsleistungen der südeuropäische Parteien haben im Ganzen positiv zur Demokratisierung, zur Europäisierung und zur Modernisierung ihrer Staaten und Gesellschaften beigetragen.6 Diese verallgemeinernden Thesen bedürfen natürlich der Differenzierung, denn die Unterschiede zwischen den drei Ländern sind, ihrem Entwicklungsstand, ihren unterschiedlichen Entwicklungswegen und ihren jeweiligen Konfliktlinien und Akteurskonstellationen entsprechend, groß. Ich werde deshalb am Ende präziser auf die Thesen zurückkommen und zunächst etwas genauer eingehen auf die Rolle der Parteien in den südeuropäischen Transformationsprozessen und auf die Entwicklungstendenzen der (süd)europäischen catch-all parties in der konsolidierten Demokratie.
2. Parteien in den südeuropäischen Transformationsprozessen 2.1 Transitions Die Regimeübergänge in den drei südeuropäischen Ländern nach 1974 sind alle relativ kurz gewesen und haben mit Ausnahme von Portugal nirgends länger als vier Jahre gedauert, in Griechenland nicht einmal ein ganzes Jahr. Ihr Ergebnis war in allen drei Fällen am Ende die Etablierung einer parlamentarischen Demokratie, in Spanien und Griechenland von Anfang an. Alle Transitionsprozesse haben Stellenwert und Gewicht der politischen Parteien gestärkt und sozusagen vereinheitlicht: Am Ende der Regimeübergänge waren die Parteien die zentralen politischen Akteure selbst dort, wo sie es zu Beginn der transition nicht gewesen waren, wie z. B. in Portugal und mit Einschränkungen auch in Griechenland. Sie waren institutionell privilegiert durch den zentralen Ort von Wahlen im Transitionsprozess. Für die spätere Ausprägung, Rolle und Funktion der Parteien im Konsolidierungsprozess der neuen südeuropäischen Demokratien waren der Verlauf und die kategorialen Charakteristika der jeweiligen transition aber eher von sekundärer Bedeutung. Lediglich der Umstand, ob ältere demokratische Parteien wiederbelebt oder fortgeführt werden konnten oder nicht, hing entscheidend ab von der Dauer des autoritären Regimes, die auch die Möglichkeiten von Restauration oder Instauration der alten demokratische Verfassungsordnung konditionierte. Hier machte es einen Unterschied, ob das nichtdemokratische Regime 50 oder 40 Jahre gedauert hat (wie in Portugal und Spanien) oder nur sieben (wie in Griechenland). In den durchweg länger dauernden kommunistischen Regimes Mittel- und Osteuropas hat es eine Rolle 6 Vgl. Diamandouros u. Gunther (Hg.), Parties, 2001.
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gespielt, ob es vor ihrem Niedergang eine Phase relativer ›Liberalisierung‹ gegeben hat (wie in Ungarn und Polen) oder nicht (wie in der Tschechoslowakei). In Griechenland sind teilweise die alten Parteien wiederentstanden, in Spanien und Portugal wesentlich neue Parteien gegründet worden. Die Tatsache, dass die griechische transition ohne Pakte mit den autoritären Machthabern und ohne sonderliche Modernisierung auskam, die spanische dagegen zum klassischen Realtyp eines im Elitenkompromiss verhandelten Regimeübergangs ohne Massenmobilisierung geworden ist, fällt in diesem Zusammenhang nicht entscheidend ins Gewicht. In Portugal waren die Kräfte der Zivilgesellschaft und die potentiellen Kerne demokratischer Parteien am Ende der Diktatur so schwach, dass das Militär sozusagen ersatzweise, und in revolutionärer Weise, als Demokratisierungsagent tätig werden musste. Dies begann sich aber schon nach den ersten Parlamentswahlen zu ändern, die den Parteien Auftrieb gaben.7 Dies ist übrigens ein allgemeiner Befund: founding elections stärken die Parteien. 2.2 Erweiterte Funktionen in der Konsolidierung Auch die Prozesse der Konsolidierung der neuen Demokratien haben in Südeuropa nicht lange gedauert. Sie waren nach durchweg sieben oder acht Jahren abgeschlossen. Gegenüber der Phase der Regimeübergänge haben wir es dabei mit einer erweiterten Palette der Funktionen der politischen Parteien zu tun: Sie bleiben einerseits zentrale Akteure und autonome Faktoren der Politikformulierung, fungieren aber andererseits zunehmend auch als entscheidende ›gatekeepers‹ (Morlino)8 und Kanäle für politischen Einfluss in mehr politischen Arenen mit mehr Akteuren als zuvor. Dies stellt höhere Anforderungen an die Integrations-, Artikulations- und Interessenvermittlungsfähigkeit der Parteien und insbesondere an die Führungskraft der Parteieliten. Die Parteien sind einerseits in vollem Umfang den ganz normalen Erwartungen und Belastungen von Parteien in konsolidierten Demokratien ausgesetzt, und sie müssen andererseits zusätzlich noch Konsolidierungsleistungen erbringen. Manche Schwierigkeiten und Schönheitsfehler, die dabei zutage treten (z. B. Defizite innerparteilicher Demokratie und Institutionalisierung, überdrehte Patronage ansprüche oder für die autonome Parteientwicklung schädliche Abhängigkeit von der Regierung) lassen sich auch aus dieser besonderen Belastung erklären.9
7 Zu den spezifischen Charakteristika der neuen Politik in Südeuropa vgl. den ›Klassiker‹: T. C. Bruneau u. a., Democracy, Southern European Style, in: Diamandouros u. Gunther (Hg.), Parties, 2001, S. 16–82. 8 Vgl. Anm. 1. 9 Vgl. dazu die Beiträge in: Diamandouros u. Gunther (Hg.), Parties.
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2.3 Parteiensysteme Die Erfordernisse demokratischer Konsolidierung verlangen nicht unbedingt, dass das jeweilige Parteiensystem kontinuierlich stabil bleibt. Wechsel sind möglich, vorausgesetzt, dass der Umbau des Parteiensystems nicht andere Teilregime oder den Fortgang der demokratischen Konsolidierung insgesamt allzu lange in Mitleidenschaft zieht. Im südeuropäischen Kontext geht es hier (abgesehen von der Restrukturierung des italienischen Parteiensystems zwischen 1992 und 1994) vor allem um die Wahl von 1982 in Spanien, in der die während der transition führende Regierungspartei Unión de Centro Democrático (UCD) zerfiel, die in endemischen Führungskämpfen befindliche Kommunistische Partei stark dezimiert wurde, die Sozialisten über 4 Mio. Stimmen gewannen und eine absolute Mehrheit erreichten und die rechte Alianza Popular (AP) durch dramatische Zuwächse zur stärksten Oppositionspartei wurde.10 Das umgebaute Parteiensystem konsolidierte sich rasch neu und ist bis in die 2010er Jahre im Wesentlichen bestehen geblieben. Mit dem Umbau der Parteienlandschaft und dem Regierungswechsel wurde gleichzeitig die Konsolidierung der Demokratie in Spanien abgeschlossen. Welche konkreten Parteiensysteme sich in neuen Demokratien herausbilden und wie sie sich ändern, hängt von den üblichen Faktoren ab: von den Institutionen, vom Wahlsystem, von der Wahlkreiseinteilung, den Umrechnungsfaktoren von Stimmen in Mandate, der Höhe der thresholds, und von den Entscheidungen der Wähler, bedingt auch durch die Stärke sozialer und regionaler cleavages, den Fragmentierungsgrad der Gesellschaft und andere Faktoren des konkreten Entwicklungswegs und der Traditionen. Alle südeuropäischen Länder haben im Demokratisierungsprozess für parlamentarische Regierungssysteme optiert, trotz mancher Versuchungen des Präsidentialismus und in Portugal nach einem kurzen semipräsidentiellen Intermezzo. Dies hat die politischen Parteien insgesamt gestärkt. Da alle südeuropäischen parlamentarischen Systeme sich dabei wieder für ihr traditionelles Verhältniswahlrecht entschieden haben, in Griechenland mit sehr starken, in Spanien mit starken Verstärkungsfaktoren für die großen Parteien, ist es zur Ausprägung von echten Zweiparteiensystemen nirgendwo gekommen. Es überwiegen in den Begriffen Sartoris Elemente eines begrenzten oder gemäßigten Pluralismus mit Abweichungen in Richtung auf mehr Konzentration: Die Anzahl der relevanten Parteien (eine Rechengröße) lag durchweg zwischen drei und vier, und zentripetale Tendenzen überwogen. In Griechenland und Spanien waren seit den ersten Wahlen der Demokratie deutliche Tendenzen zu einer bipolaren Restrukturierung sichtbar; in Spanien kann die Sozialistische Partei zwischen 1982 und 1993 als ›dominierende Partei‹ angesehen werden; auch das portugiesische Parteiensystem tendierte bis 1995 zeitweise zur Dominanz des (liberalen) 10 Umfassend dazu: J. J. Linz u. J. R. Montero (Hg.), Crisis y cambio: Electores y partidos en la España de los años ochenta, Madrid 1986.
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Partido Social Demócrata (PSD). Die portugiesischen Parteien wiesen im Konsolidierungsprozess einen relativ geringen Wettbewerbsgrad auf (gemessen an der Differenz zwischen der stärksten Partei und den anderen Parteien), am höchsten war er in Griechenland.11 Das spanische Parteiensystem ist überdies deutlich fragmentiert: Im Grunde gibt es drei verschiedene Systeme, eins für Katalonien, eins für das Baskenland, und ein größeres (mit regionalen Nu ancen) für den Rest des Landes. 2.4 Party Change Die wichtigsten Aspekte der Parteienentwicklung während der Konsolidierungsphase sind, neben der Formulierung und Implementation einer bestimmten Politik, die Wählerbewegungen, die Mitgliederentwicklung, organisatorische Veränderungen und das Verhalten der Parteieliten. Diese Bereiche sind umfassend und vergleichend von Leonardo Morlino (1995) untersucht worden, sodass ich für die Details darauf verweisen kann. Besonders hervorgehoben zu werden verdienen folgende Punkte: Die Wählerwanderung zwischen den drei großen Blöcken (interbloc volatility) ist im ganzen relativ niedrig geblieben, signalisiert also Stabilität. Die Ausnahme bilden jeweils die ›critical elections‹, in Griechenland (1981) und Spanien (1982) zum Abschluss der demokratischen Konsolidierung und in Portugal danach (1987). Die Identifikation der Bürger mit den Parteien hat, außer in den 1980er Jahren in Portugal, überall abgenommen. Das Verhältnis der Parteimitglieder zu den Wählern der Parteien (membership rate) war in Griechenland verhältnismäßig hoch und lag in Spanien auf mittlerem Niveau, während die Werte in Portugal jeweils sehr unterschiedlich für Parteien mit Massenmitgliedschaft und solche ohne Massenmitgliedschaft ausfielen.12 Die Stabilisierung der Parteieliten und Parlamentsfraktionen setzte in Griechenland durchweg schon mit Beginn der demokratischen Konsolidierung (also den ersten demokratischen Wahlen) ein, während es in Portugal und Spanien noch zahlreiche Auseinandersetzungen und personelle Wechsel gab. In den 90er Jahren kam ein handfester Generationenschub hinzu.13
11 H. J. Puhle, El PSOE: Un partido predominante y heterogéneo, in: Linz u. Montero (Hg.), 1986, S. 289–344; Morlino, Political Parties, 1995; vgl. auch die Beiträge in Diamandouros u. Gunther (Hg.), Parties, sowie H. J. Puhle, Politische Parteien und demokratische Konsolidierung in Südeuropa, in: W. Merkel u. E. Sandschneider (Hg.), Systemwechsel 3. Parteien im Transformationsprozess, Opladen 1997, S. 143–169. 12 Dazu mehr Details in: R. Gunther u. J. R. Montero, The Anchors of Partisanship: A Comparative Analysis of Voting Behavior in Four Southern European Democracies, in: Diamandouros u. Gunther (Hg.), Parties, S. 83–152. 13 Vgl. zusammenfassend Diamandouros u. Gunther, Introduction, u. Conclusion, in: Ebd., S. 1–15 u. 388–398.
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2.5 Einzelne Parteien Der Organisationsgrad der südeuropäischen Parteien war in der Demokratisierungshase durchaus unterschiedlich (und ist es zum Teil geblieben): Am dichtesten war er in Griechenland, dessen Parteien zwar durchweg schwache organisatorische Strukturen aufwiesen, aber einen hohen Grad der Elitenstabilität und eine starke Präsenz klientelistischer Netzwerke. In den iberischen Ländern war er durchweg schwach, mit Ausnahme der Kommunistischen Partei in Portugal und der baskischen und katalanischen Regionalparteien in Spanien. Im typologischen Erscheinungsbild weisen die südeuropäischen Parteien einen Mischcharakter auf, mit einer beherrschenden Tendenz hin zur catch-all party, durchweg ohne vorher je Massenintegrationspartei im Kirchheimerschen Sinne gewesen zu sein. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums ist die spanische Alianza Popular, seit 1989 Partido Popular (AP/PP) von Anfang an als catch-all party im Sinne eines Sammelbeckens aller politischen Kräfte der Rechten konzipiert worden. Das portugiesische Centro Democrático y Social (CDS), seit 1991 Partido Popular (CDS/PP) hat seinen überwiegenden Honoratiorencharakter noch bis in die 1990er Jahre bewahrt, während die griechische Nea Demokratia seit 1974 eine lange Entwicklung von der Honoratiorenpartei über die Bildung klientelistischer networks im Lande zur Mitgliederpartei und dann zur catch-all party durchlaufen hat.14 Im Bereich der politischen Linken ist der portugiesische Partido Comunista Portugués (PCP) von der streng organisierten Kaderpartei zur Massenintegra tionspartei fortgeschritten, während die griechische KKE sich zwar langsam aus der Semiloyalität in die demokratische Loyalität fortbewegt hat, aber überwiegend eine kleine Klassen- und Gesinnungspartei geblieben ist, die allerdings von den Wahlrechtsreformen begünstigt wurde und zeitweise kluge Sammlungs- und Bündnispolitik betrieben hat (Synaspismós, zuerst 1989/90). Der spanische Partido Comunista de España (PCE) ist seit Anfang der 1980er Jahre eine Massenintegrationspartei, die sich allerdings nur langsam von den damaligen Führungskämpfen und Verlusten erholt und auch nach der Formierung der breiteren Koalition Izquierda Unida an Führungsunfähigkeit, personeller Auszehrung auf der Elitenebene und kontinuierlichen Wählerverlusten ge litten hat.15 Die größte Erfolgsgeschichte der politischen Parteien in den neuen südeuropäischen Demokratien verzeichneten zunächst die sozialistischen Parteien: Sie haben alle zentrale Rollen in den Regimeübergängen und Konsolidierungs14 Vgl. T. S. Pappas, In Search of the Center: Conservative Parties, Electoral Competition, and Political Legitimacy in Southern Europe’s New Democracies, in: Ebd., S. 224–267. 15 Vgl. A. Bosco m. C. Gaspar, Four Actors in Search of a Role: The Southern European Communist Parties, in: Ebd, S. 329–387; für Spanien ausführlicher: Linz u. Montero (Hg.), Crisis y cambio.
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prozessen ihrer Länder gespielt, besaßen aufgrund ihrer klaren Opposition zu den voraufgehenden autoritären Regimen einen hohen Grad von Glaubwürdigkeit und konnten nach dem Ende der autoritären Regime demokratische Politik teilweise langfristig mitgestalten oder allein gestalten, ohne durch die Lasten der Zwänge und Institutionen der nordeuropäischen Sozial- und Wohlfahrtsstaaten in ihren Konzepten und Aktivitäten von vornherein eingeengt zu sein. Dabei waren die Ausgangspunkte unterschiedlich. Der wiedergegründete spanische Partido Socialista Obrero Español (PSOE) schloss zwar rhetorisch und in manchen Symbolen und Erinnerungen (sowie wenigen Personen) an die traditionsreiche Partei gleichen Namens vor 1939 und im Exil an, war aber aufgrund der langen Dauer des Franco-Regimes im wesentlichen eine Neugründung mit neuen Mitgliedern und neuen Eliten. Das Konzept der überwiegend andalusischen Parteiführung war von Anfang an das einer modernen sozial demokratischen catch-all party, das seit dem Ende der innerparteilichen Fraktionskämpfe 1979 und vollends seit der Regierungsübernahme 1982 weiter entwickelt wurde.16 Bei seiner großen Erfolgswahl 1982 war der catch all-Charakter des PSOE am deutlichsten und fast in Reinkultur ausgeprägt: Die Zusammensetzung der Wähler der Sozialisten kam nahe an die Zusammensetzung der Gesamtwählerschaft heran. Danach ging diese Entsprechung erst allmählich, dann deutlich zurück: Ende der 1990er Jahre waren die ökonomisch inaktiven Gruppen überrepräsentiert, auch unter den Mitgliedern. Interessant ist dabei immer die Frage, welche Wählergruppen zuerst wieder wegbrechen (das ›elektorale Dilemma‹ der in die Mitte ausgreifenden Sozialisten oder Sozialdemokraten). Beim PSOE waren es sowohl Teile der neu gewonnenen Mittelschichten als auch der organisierten Arbeiterschaft, also der schlimmste aller Fälle. Die sozialistischen Parteien in Portugal und Griechenland waren demgegenüber völlig neue Parteien, noch dazu ohne nennenswerte Traditionen der Arbeiterbewegung. Der portugiesische Partido Socialista (PS) funktionierte von Anfang an, ähnlich wie der liberale Partido Social Demócrata (PSD), als catch-all party, blieb aber bis 1985 intern hochgradig fraktioniert. Mindestens fünf Fraktionen wurden auch durchweg im griechischen Panellinio Sosialistico Kinima (PASOK) ausgemacht, einer Partei, die von Anfang an auf die populistische Massen mobilisierung gesetzt hat, seit Ende der 70er Jahre eine catch-all party geworden ist und unter der charismatischen halbautokratischen Führung Andreas Papandreous (bis 1996) starke klientelistische Züge aufwies.17 16 Zum PSOE: H. J. Puhle, El PSOE: Un partido predominante y heterogéneo, in: Linz u. Montero (Hg.), Crisis y cambio, S. 289–344; zum Vergleich und zum folgenden insb. H. J. Puhle, Mobilizers and Late Modernizers: Socialist Parties in the New Southern Europe, in: Diamandouros u. Gunther (Hg.), Parties, S. 268–328. 17 Zu den populistischen Mechanismen vgl. H. J. Puhle, Zwischen Protest und Politikstil: Populismus, Neo-Populismus und Demokratie, in: N. Werz (Hg.), Populismus. Populisten in Übersee und Europa, Opladen 2003, S. 15–43, sowie den vierten Beitrag in diesem Band.
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In der Besetzung von Regierung oder Opposition durch die sozialistischen Parteien weisen die drei südeuropäischen Länder unterschiedliche Entwicklungsmuster auf: Die portugiesischen Sozialisten kamen erst 1995 in die Lage, allein zu regieren, waren aber seit den ersten Wahlen von 1975 immer stärker gewesen als die Kommunistische Partei. Sie spielten eine wichtige Rolle in der Verfassungsgebenden Versammlung sowie in der Regierung zwischen Mitte 1976 und Mitte 1978 und erneut zwischen Mitte 1983 und Mitte 1985, wurden dann aber für ein ganzes Jahrzehnt von Regierungen des zentristischen PSD abgelöst (nach 1987 sogar mit absoluter Mehrheit). Seit 1986 haben sie allerdings mit Mario Soares (bis 1996) und Jorge Sampaio (1996–2001) längere Zeit hindurch die Präsidenten der Republik gestellt. Obwohl die portugiesischen Sozialisten bis Mitte der 1990er Jahre durchweg bei Wahlen schwächer abschnitten als die griechischen oder spanischen Sozialisten, waren sie insbesondere in der ersten Phase der transition, die noch von den Militärs dominiert wurde, die stärkste demokratische Kraft in Portugal. Sie haben entscheidend beigetragen zur Weichenstellung in Richtung parlamentarische Demokratie, zur politischen Zähmung der Militärs, zu den weiteren Verfassungsreformen zum Ausbau der demokratischen Institutionen und zur Vorbereitung des EG-Beitritts Portugals im Jahre 1986. Der PS zählt zu den Gründungsvätern der portugie sischen Demokratie, und dass er 1985 wegen seiner an Austeritätszielen orientierten Wirtschafts- und Finanzpolitik von den Wählern bestraft wurde, gehört zu den üblichen Kosten, die jene riskieren, die in der Demokratisierungsphase eine zentrale Rolle spielen. In Griechenland und Spanien war es anders herum: In beiden Ländern sind die Sozialisten in den ersten Jahren des Regimeübergangs und der demokratischen Konsolidierung nicht aus taktischer Klugheit, sondern aufgrund des Wählerwillens in der Opposition geblieben und haben erst Anfang der 1980er Jahre die Regierung übernommen, nachdem die Mitte-Rechts-Parteien, die die Hauptlast des Demokratisierungsprozesses getragen hatten, sich hinreichend diskreditiert hatten. In beiden Ländern sind die Sozialisten seit den ersten Wahlen der Demokratie stärker gewesen als die kommunistischen Parteien, beide sind von Anfang an Massenmobilisierungsparteien gewesen, die sich nach konfliktiven Fraktionskämpfen und der definitiven Abkehr von ideologischen Einengungen und Ladenhütern Ende der 70er Jahre zu catch all-Parteien entwickelt haben. Der PASOK verabschiedete sich 1977 von der ›Drittwelt‹-Rhetorik der nationalen Befreiungsbewegungen, der PSOE 1979 von marxistischer Phraseologie (die erst 1976 eingeführt worden war und in der Partei traditionell ohnehin keinen Raum hatte). Beide Parteien wurden danach relativ autoritär vom Clan des Parteiführers (Griechenland) oder von der schmalen Elite der Mehrheitsfraktion (Spanien) geführt. Es gibt aber auch wichtige Unterschiede: In Spanien waren die Sozialisten, wie auch die Kommunistische Partei, Teilnehmer und wichtige Akteure des paktierten Regimeübergangs und des Verfassungsbogens, in Griechenland nicht. Hier hatte es die relativ kurze Dauer des Obristenregimes möglich gemacht, 193
innerhalb weniger Monate unter Führung des konservativen Parteiführers Karamanlis, der noch weitgehend unabhängig von seiner Partei Nea Demokratia agierte, die demokratischen Zustände überwiegend nach dem Modell der früheren Verfassung wiederherzustellen, so dass der oppositionelle und organisatorisch im Lande noch unterentwickelte PASOK gar keine Chance hatte, wesentlich am Demokratisierungsprozess mitzuwirken. Als er (und dadurch dass er) 1981 an die Macht kam, war die griechische Demokratie konsolidiert. Der PASOK hat Griechenland von 1981 bis 2004 regiert, mit Ausnahme der vier Jahre zwischen 1989 und 1993. Während der ersten Regierungsperiode des PASOK bestand noch ein Schönheitsfehler der Konsolidierung des institutionellen Gehäuses der griechischen Demokratie darin, dass die Regierungspartei, insbesondere die klientelistischen Seilschaften der ›Traditionalisten‹ um Papandreou versuchten, gegen die Intentionen der Verfassung und auf durchaus undemokratische Weise die Institutionen parteipolitisch zu kolonisieren.18 Diese Tendenzen wurden erst mit dem Machtverlust der Traditionalisten und dem Sieg des Modernisierers Simitis im Kampf um die Parteiführung nach dem Tode Papandreous im Sommer 1996 überwunden. Auch die spanischen Sozialisten, die das Land zwischen 1982 und 1993 mit absoluter Mehrheit und bis 1996 in einer Minderheitsregierung regierten, sind relativ weit gegangen in der Patronage im staatlichen Apparat, in der Nutzung staatlicher Pfründen und einer exorbitanten staatlichen Parteienfinanzierung (die allerdings ebenso der größten Oppositionspartei zugute kam), aber nie soweit wie der PASOK unter Papandreou. Trotz der zahlreichen Differenzen, die es auf dem Hintergrund ganz unterschiedlicher Gesellschaftsstrukturen und Entwicklungsprobleme zwischen den beiden sozialistischen Parteien Griechenlands und Spaniens gibt, gehören sie beide zu demselben Typ der ad hoc-Mobilisierer (nicht der Strukturenbauer) mit organisatorischen Defiziten im Lande, die die Partei anfällig machen für die Abhängigkeit von ihrer eigenen Regierungsmannschaft, und mit hochgradig personalistischen Führungsstrukturen.19 Besondere Beachtung verdient in Spanien auch die Existenz starker und traditionsreicher, gut organisierter und fest in ihren jeweiligen Regionen verwurzelter regionalistischer (bzw. regionalnationalistischer) Parteien im Baskenland (Partido Nacionalista Vasco, PNV, neben kleineren Gruppen der ›baskischen Linken‹) und in Katalonien (Convergència i Unió, CiU, später auch die kleinere und ältere Esquerra), die auch – allein oder in Koalitionen – die beiden Regionen (mit gewissen Unterbrechungen) lange regiert haben und noch regieren und die regionalen Parteiensysteme mitprägen. Beide Regionalparteien sind in ihrer Region seit langem ausgesprochene catch-all parties.
18 Vgl. D. A. Sotiropoulos, Populism and Bureaucracy: The Case of Greece Under PASOK, 1981–1989, Notre Dame 1996. 19 Ausführlicher dazu H. J. Puhle, Mobilizers and Late Modernizers.
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2.6 Parteien, Staat, Gesellschaft Im Verhältnis der politischen Parteien zu den Akteuren im System der Interessenvermittlung und zu den Organisationen und Verbänden der civil society ebenso wie zu den Institutionen des Staats auf jeder Ebene sind unterschiedliche Stellenwerte und Funktionen der Parteien denkbar: Sie können diese Verhältnisse und die politischen Interaktionen dominieren, sie können relativ neutral als Kanäle der Einflussvermittlung wirken, und sie können auch umgangen werden, wenn andere Organisationen stärker und geschickter sind.20 In Südeuropa haben die politischen Parteien diese Verhältnisse durchweg dominiert und sind nur gelegentlich in die Funktion relativ ›neutraler‹ Kanäle zurückgefallen. Es gibt sogar ausgeprägte Tendenzen in Richtung Parteienstaat, am stärksten in Griechenland, etwas schwächer in Spanien und am schwächsten in Portugal. Aber auch hier gibt es wieder bezeichnende Unterschiede: In Griechenland hat der PASOK zu großen Teilen die Institutionen des Staates in einem »bürokratischer Klientelismus« (Lyrintzis) kolonisiert, in Spanien hat die sozialistische Regierung überwiegend die Partei kolonisiert, was auch deutlich dadurch nach außen zutage getreten ist, dass im PSOE der 1980er Jahre politische Friedhofsruhe herrschte, während im PASOK unbeschadet der letzten Autorität Papandreous munter persönliche Konflikte und Fraktionskämpfe weiter ausgetragen wurden. Auch im Verhältnis der Parteien zu Verbänden und Gewerkschaften finden wir unterschiedliche Muster: In Spanien hat die Parteiendominanz nach Abschluss der demokratischen Konsolidierung 1982 deutlich abgenommen, und die gesellschaftlichen Organisationen haben – auch im Konflikt mit der sozialistischen Regierung und Partei – sektoral wie regional an Gewicht gewonnen. In Griechenland und Portugal finden wir Parteiendominanz über das Ende der Konsolidierung hinaus. Dabei haben insbesondere die Unternehmerverbände mit allen Regierungen teilweise sehr eng zusammengearbeitet, während die Gewerkschaften entweder weniger wichtig waren, wie in Griechenland, oder auf Oppositionskurs gingen, sogar gegen die eigene Schwesterpartei, wie in Spanien. Leonardo Morlino hat ausgehend von der Frage, wer denn die entscheidende Kontrolle über die civil society ausübe (die Partei, der Staat, beide oder keiner) unterschiedliche Konsolidierungstypen unterschieden: das klassische Italien als Fall der Parteienkonsolidierung, Spanien als Fall der Elitenkonso lidierung und Griechenland und Portugal als Fall von Staatskonsolidierung, weil sich sowohl Nea Demokratia wie PASOK des Staates für ihre Interventionen in die Gesellschaft bedienten und in Portugal die korporatistischen Traditionen stark blieben. Im Kontext der mittel- und osteuropäischen Regimeübergänge hat Attila Ágh ähnlich von der Gefahr der ›Überverparteilichung‹
20 Vgl. P. C. Schmitter, Organized Interests and Democratic Consolidation in Southern Europe, in: Gunther, Diamandouros u. Puhle (Hg.), Politics, S. 284–314.
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(overparticization) gesprochen. Es ist mithin nötig, das Augenmerk auch auf die jeweils neben den Parteien und in Konkurrenz zu ihnen stehenden anderen Akteure und Institutionen zu lenken.21 2.7 Parteienkonsolidierung und demokratische Konsolidierung Auch wenn gelegentlich (wie in Spanien 1982) der gelungene Umbau eines Parteiensystems, also dessen Dekonsolidierung und Rekonsolidierung, positiv zur Konsolidierung der Demokratie beitragen kann, sollte dieser Umstand nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Regel die Konsolidierung und die Stabilität des Parteiensystems ein wichtiger Beitrag zur Konsolidierung der Demokratie ist, vor allem deshalb, weil die Parteien Mittler in der Produktion von Legitimität oder wenigstens ›contingent consent‹ (und von ›supports‹ für die Demokratie) sind und damit an bestimmten Punkten der Regimeübergänge und der Konsolidierungen geradezu Schlüsselbeiträge zur Verbreiterung und endgültigen Akzeptanz des demokratischen Systems leisten.22 Dies gilt in unseren Fällen für die Parteien der äußersten Linken ebenso wie für jene der ›zivilisierten Rechten‹, denen vor allem die Funktion zukommt, die Anhängerschaft des vergangenen autoritären Regimes und die entsprechenden Milieus allmählich ins demokratische Spektrum zu überführen. Auf der Rechten ist die griechische Nea Demokratia unter der Führung von Karamanlis unzweideutig gegen das autoritäre Regime gewesen. Dagegen ist das portugiesische CDS sehr lange noch im Bannkreis des autoritären Erbes geblieben und der Demokratie gegenüber bestenfalls semiloyal gewesen, und auch die spanische AP (später PP), die von Anfang an demokratische Konservative ebenso wie Parteigänger des Franco-Regimes gesammelt hatte, ist erst allmählich, vor allem durch die Verjüngung der Mitgliedschaft und der Parteieliten, Organisationsreform und eine neue Führung zwischen 1986 und 1990 zu einer demokratischen Partei geworden, die sich allerdings auch gelegentliche Rückfälle geleistet hat (z. B. populistische Polarisierung 2004 und 2008; Debatte um die historische Erinnerung; Wiederbelebung des ›religiösen‹ cleavage). Die Schlüsselfrage für die linke Seite des politischen Spektrums ist durchweg, zu welchem Zeitpunkt die kommunistischen Parteien in den Verfassungskonsens und das Lager loyaler Demokraten eingetreten sind: Der spanische PCE konnte hier schon Mitte der 1970er Jahre, auch aufgrund der Vorarbeiten der italienischen ›Eurokommunisten‹, unter Führung von Santiago Carrillo demokratische Glaubwürdigkeit und später Verfassungstreue reklamieren. Die grie21 Morlino, Political Parties, 1995, S. 373–375; A. Ágh, The Role of the First Parliament in Democratic Transition, in: A. Ágh u. S. Kurtán (Hg.), The First Parliament (1990–1994), Budapest 1995, S. 249–261, bes. 251. 22 Vgl. L. Morlino u. J. R. Montero, Legitimacy and Democracy in Southern Europe, in: Gunther, Diamandouros u. Puhle (Hg.), Politics, S. 231–260.
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chischen Kommunisten waren 1974 der demokratischen Ordnung gegenüber bestenfalls semiloyal und wandelten sich langsam, die portugiesischen Kommunisten verabschiedeten sich erst Ende der 80er Jahre vom Leninismus.
3. Flexibilität, Mäßigung und Konvergenzen: Entwicklungstendenzen der (süd-)europäischen catch-all parties Abschließend lassen sich einige wichtige Befunde zusammenfassen und die Anfangsthesen können weiter präzisiert werden. Dabei können wir uns im Hinblick auf die Perspektiven der weiteren Entwicklungstendenzen der Parteien in Südeuropa im größeren europäischen Kontext kurz fassen, da diese im Ganzen den allgemeineren Befunden entsprechen, die bereits in dem Beitrag zu den catch-all parties (in diesem Band) resümiert worden sind. Unsere Ergebnisse lassen sich in fünf Punkten zusammenfassen: 1. Die politischen Parteien haben in den südeuropäischen Transformationsprozessen eine Schlüsselrolle gespielt. Dabei haben sie sich durchweg schon früh in der sie privilegierenden Konsolidierungsphase der neuen Demokratien zu modernen catch-all parties (Kirchheimer) entwickelt, als die sie auch bruchlos weiterwirkten in der Phase etablierter demokratischer ›Normalität‹ (oder: Persistenz). 2. Die durch Verfassungen und Wahlregime begünstigte und von den Wählern verstärkte Logik der Parteiensysteme ist überwiegend zentripetal und ›gemäßigt‹ gewesen, was wiederum die catch all-Mechanismen der Parteien bestärkt hat. Von den traditionellen cleavages ist im wesentlichen nur noch ein diffuser, gelegentlich durchlässiger, gelegentlich polarisierbarer Left/Right cleavage übriggeblieben. 3. Die südeuropäischen Parteien haben seit mindestens zwanzig Jahren aufgeschlossen zu ihren nord- und westeuropäischen pendants und teilen mit diesen die neueren ›Krisen‹ und Probleme der (inzwischen ›modifizierten‹) catch-all parties (›desencanto‹, Partizipationsschwund, Fragmentierung, lose Verkopplung, Anforderungen der ›new campaign politics‹, populistische Versuchungen, usw.). Es besteht also hier kein Unterschied mehr zwischen alten und neuen Demokratien.23 4. Die Parteien der neuen Demokratien Südeuropas waren durchweg neu, unbelastet von älteren, den catch all-Charakter hemmenden ideologischen Traditionen, milieuhaften gesellschaftlichen Verwurzelungen oder ›Tanker‹-Syn23 Zum Typ der modifizierten catch-all party oder ›catch-all party plus‹ vgl. H. J. Puhle, Still the Age of Catch-Allism? ›Volksparteien‹ and ›Parteienstaat‹ in Crisis and Reequilibration, in: R. Gunther u. a. (Hg.), Political Parties. Old Concepts and New Challenges, Oxford 2002, S. 58–83, sowie den dritten Beitrag in diesem Band; auch: G. Pasquino, The New Campaign Politics in Southern Europe, in: Diamandouros u. Gunther (Hg.), Parties, S. 183–223.
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dromen; und sie waren mehr ad hoc-Mobilisierer als bürokratische Institutionenbauer. Weil sie deshalb auch ältere Entwicklungsstadien der europäischen Parteienentwicklung (z. B. das der Massenintegrationspartei à la Sigmund Neumann) einfach überspringen konnten (einer der typischen südeuropäischen ›leapfrogging‹-Effekte),24 hatten sie im Vergleich zu den nord- und westeuropäischen Parteien zunächst einige Vorteile größerer Flexibilität in Reaktion auf die ›Krise‹ der catch-all parties und auf die Anforderungen der Massendemokratie im Informationszeitalter (öffentliches und privates Fernsehen von Anfang an). Da inzwischen auch die ›Nordlichter‹ dazugelernt haben und flexibler geworden sind, haben sich diese Vorteile inzwischen reduziert. Es gibt mehr Konvergenzen.25 5. In den südeuropäischen Konsolidierungsprozessen der Demokratie haben die Parteien eindeutig den Zielen der Demokratisierung und deren Sicherung Priorität gegeben vor den anderen großen Zielen: der Modernisierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, dem Ausbau des Sozialstaats und der ›Europäisierung‹. Bemühungen um stärkere Europäisierung sind allerdings oft auch als Instrumente zur Sicherung der Demokratie im Lande strategisch eingesetzt worden. Als Modernisierer von Staat und Gesellschaft, von der Reform der überbesetzten und ineffizienten staatlichen Institutionen und Apparate, der Eindämmung klientelistischer und personalistischer Strukturen und verstärkter Professionalisierung bis hin zur Organisationsreform und Institutionalisierung wirksamer Mechanismen interner Demokratie in den Parteien selbst, haben sich die Parteien erst verspätet profiliert, mit deutlichen Unterschieden zwischen den drei Ländern. Hier hat auch der Generationenwechsel seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre eine wichtige Rolle gespielt. Die Konstellationen der Parteien und Parteiensysteme während der Konso lidierungsprozesse der neuen Demokratien haben weiter in die konsolidierten Demokratien hineingewirkt, in denen sie den Anforderungen des demokra tischen ›Normalfalls‹ ausgesetzt gewesen sind und ihnen meist auch die heroische Vergangenheit als Demokratisierer (oder die weiter zurückliegende als Untergrundkämpfer für die Demokratie) nicht mehr viel dabei geholfen hat, mit den Problemen der Massendemokratie im Informationszeitalter und den neuen Erwicklungstendenzen der Parteipolitik fertigzuwerden. Die Stichworte sind hier, wie weiter oben im Detail ausgeführt: ›Krise‹ der Parteien, sichtbar im Rückgang der Stimmen für die großen catch all-Parteien, einer Zunahme der Wahlenthaltung, Auflösung der Stammwählerschaft und einer umfassenden Unzufriedenheit mit den Parteien, Konkurrenz durch neue soziale Bewegungen 24 Zu den Mechanismen des ›leapfrogging‹ vgl. Gunther, Diamandouros u. Puhle (Hg.), Politics, S. XIV–XIX; Diamandouros u. Gunther (Hg.), Parties, S. XIII. 25 Die Parteiensysteme der neuen südeuropäischen Demokratien waren die ersten, die im voll ausgeprägten TV- und Informationszeitalter etabliert wurden. Zu den komplexen Problemen politischer Vermittlung und die Rolle der Medien vgl. auch: R. Gunther, J. R. Montero u. H. J. Puhle (Hg.), Democracy, Intermediation and Voting on Four Continents, Oxford 2007.
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und populistische Mobilisierung, Krise des bürokratischen Interventions- und Sozialstaats, Krise organisierter Politik. Dabei sind die Parteien unter größeren Konkurrenz- und Legitimationsdruck geraten. Um ihre Position im Ganzen halten zu können, müssen sie vor allem ihre Defizite in Sachen Volksnähe (responsiveness) und Rechenschaftslegung (accountability) aufarbeiten und ihre Vermittlungs- und leadershipAufgaben sichtbar wahrnehmen. Hier haben die ›Krisen‹ (der Parteien und vermehrt auch der Systeme) schon einige Reformen provoziert. Die Parteien der südeuropäischen Transformationsländer sind also (und schon seit längerem) in der demokratischen Normalität Europas angekommen. Mit allen Problemen, die dies mit sich gebracht hat.
Varianten europäischer Entwicklungsmuster
Vom Wohlfahrtsausschuss zum Wohlfahrtsstaat: Bürokratisierung, Industrialisierung, Demokratisierung*
Der Staat der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts ist allem Anschein nach nicht mehr derselbe wie vor zweihundert Jahren. Die Staatsmacht des entwickelten Industriestaates – und von dessen westeuropäischen Ausformungen soll hier im Wesentlichen die Rede sein – sieht sich neuen Aufgaben gegenüber, funktioniert in einem veränderten ökonomischen und gesellschaftlichen Kontext und ist selbst in ihren Mechanismen und ihrem politischen Stellenwert im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte erheblich verändert worden. Auf der anderen Seite wirken die historisch-konkreten Wurzeln und Motivationen der in früheren Zeiten etablierten Einrichtungen des Staates, teilweise sogar noch bestimmend, bis in die Gegenwart nach. Institutionell Tradiertes und funktional Neues greifen ineinander in einem politischen Prozess, dessen vor- und außerstaatlicher Bezugsrahmen (und das ist die radikale Differenz zwischen dem industriellen Zeitalter und früheren Epochen stärkerer struktureller Kontinuität) sich permanent verändert. Infolgedessen hat das Augenmerk der Sozialwissenschaften seit längerem – und angesichts eines erheblichen Nachholbedarfs durchaus mit Recht – vorzugsweise jenem Rahmen und seinen Veränderungen gegolten, vor allem den ökonomischen Bedingungen und den gesellschaftlichen Kräftekonstellationen. Die Analyse der Staatsmacht selber, ihres Apparates, ihrer Funktionen und politischen Eigentendenzen trat dagegen vorübergehend in den Hintergrund, ab gesehen von der Entwicklungsländerforschung1 und der Außenpolitik als wissenschaftlicher Disziplin, die immer noch das Kunststück fertigbringen muss, ausdrücklich die Gesamtheit staatlicher Interessen zu resümieren (was zuweilen zu den bekannten und begrüßenswerten genialischen oder journalistischen Pauschalierungen zu zwingen scheint). Den Staat, seine regionalen und kommunalen Untergliederungen, öffentliche Verwaltung als Organisationsform, so * Zuerst erschienen in: G. A. Ritter (Hg.), Vom Wohlfahrtsausschuß zum Wohlfahrtsstaat, Köln 1973, S. 29–68, unter dem Titel: Vom Wohlfahrtsausschuß zum Wohlfahrtsstaat. Entwicklungstendenzen staatlicher Aufgabenstellung und Verwaltungsprobleme im Zeichen von Industrialisierung und Demokratisierung. 1 Vgl. dazu den grundlegenden Beitrag von R. Löwenthal, Staatsfunktionen und Staatsform in den Entwicklungsländern, in: ders. (Hg.), Die Demokratie im Wandel der Gesellschaft, Berlin 1963, S. 164–192.
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sehr Juristen und spezialisierte Verwaltungswissenschaftler noch über sie reflektieren mochten, haben die Sozialwissenschaftler vernachlässigt.2 Die folgenden Bemerkungen sollen andeuten, dass es sinnvoll wäre, diesen Bereich wieder in stärkerem Maße als bisher im Zusammenhang zu thematisieren; sie wollen keinen auch nur annähernd vollständigen, am empirischen Material orientierten Überblick über die Zunahme und den Wandel der Funktionen staatlicher Macht in den entwickelten Industrieländern während der letzten zwei Jahrhunderte geben. Die Geschichte der Verlagerung der Aufgaben der Staatsmacht, ihrer ökonomischen und sozialen Bedingungen sowie ihrer organisatorischen und politischen Konsequenzen seit der Französischen Revolution, im Zeichen von Demokratisierung und Industrialisierung, muss – exemplarisch und vergleichend – ebenso erst noch geschrieben werden wie die Analyse von Bürokratie und Verwaltung, public administration (im weitesten Sinne) unter den Bedingungen des Spätkapitalismus.3 Alles, was an dieser Stelle 2 Ansätze zur Wiederbelebung einer auch die öffentliche Verwaltung mit umfassenden ›Regierungslehre‹ finden sich in der deutschen Politikwissenschaft zunehmend ab 1965, vor allem bei: T. Ellwein, Einführung in die Regierungs- und Verwaltungslehre, Stuttgart 1966; E. Guilleaume, Reorganisation von Regierung und Verwaltungsführung, Baden-Baden 1966; W. Hennis, Aufgaben einer modernen Regierungslehre, in: PVS, Jg. 6, 1965, S. 422–441; sowie der von Ellwein, Görlitz u. Schröder herausgegebenen Reihe: Parlament und Verwaltung, Stuttgart 1967 ff., darin auch: J. Hirsch, Haushaltsplanung und Haushaltskontrolle in der Bundesrepublik Deutschland, 1968; T. Ellwein, Politik und Planung, 1968. Die von T. Stammen edierte Sammlung: Strukturwandel der modernen Regierung, Darmstadt 1967, beschränkt sich auf das Verhältnis der nicht verwaltenden politischen Institutionen zueinander. Zur Verwaltungslehre im engeren Sinne vgl. vor allem: F. Morstein-Marx, Einführung in die Bürokratie, Neuwied 1959; ders. i. V. m. E. Becker u. C. H. Ule (Hg.), Verwaltung. Eine einführende Darstellung, Berlin 1965; K. v. d. Groeben u. a., Über die Notwendigkeit einer neuen Verwaltungswissenschaft, Baden-Baden 1966; N. Luhmann, Theorie der Verwaltungswissenschaft. Bestandsaufnahme und Entwurf, Köln 1966; ders., Politische Planung, Opladen 1971. Zum Stand des Verwaltungsrechts: E. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts I, München 19618, sowie kritisch dazu: H. H. Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, Tübingen 1965, ferner: D. Jesch, Gesetz und Verwaltung, Tübingen 1961. – Die zunehmende Rezeption der amerikanischen community power-Forschung in den letzten Jahren und die Förderung interdisziplinärer Großforschungsprojekte zum Themenkreis Verwaltung in allerjüngster Zeit (z. B. durch die Stiftung Volkswagenwerk) deuten auf eine weitere Verstärkung der Bemühungen auf diesem Sektor hin. Der hier vorliegende Beitrag, der Ende 1970 abgeschlossen wurde, versteht sich als Übersicht über Problemkomplexe, deren Analyse im Detail oft erst noch zu leisten ist. 3 Die Diskussion dieses Themenkomplexes ist in Deutschland gerade erst in Gang gekommen: vgl. vor allem C. Offe, Politische Herrschaft und Klassenstrukturen. Zur Analyse spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme (155–189); J. Hirsch, Zur politischen Ökonomie des politischen Systems (190–214); ders., Ansätze einer Regierungslehre (269–285) u. H. J. Blank, Verwaltung und Verwaltungswissenschaft (368–405), alle in: G. Kress u. D. Senghaas (Hg.), Politikwissenschaft. Eine Einführung in ihre Probleme, Frankfurt 1969; U. Jaeggi, Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik, Frankfurt 1969; J. Hirsch, Wissenschaftliche-technischer Fortschritt und politisches System. Organisation und Grundlagen administrativer Wissenschaftsförderung in der BRD, Frankfurt 1970.
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versucht werden kann, ist, anhand der Darstellung einiger bezeichnender und typologisch zugespitzter Entwicklungstendenzen, exemplifiziert vor allem am Beispiel von Preußen-Deutschland, Frankreich und Großbritannien, problematisierende Fragen zu stellen, die sich daraus für die genauere Bestimmung der Rolle der Staatsmacht im tendenziellen Wohlfahrtsstaat ergeben, ohne dabei einerseits im bloß positivistischen Ansammeln konstatierbarer Tatsachen steckenzubleiben oder sich andererseits zu begnügen mit der Formulierung eines freischwebenden Modells dessen, was sein sollte. Die methodisch fruchtbare Spannung zwischen diesen beiden Extrempunkten empirischer und normativer. Verfahrensweise wird jedoch insbesondere bei der Betrachtung der Tendenzen wohlfahrtsstaatlicher Organisation vor allem auch deshalb zu nutzen sein, weil ohnehin niemand, der vom Staat redet, umhin kann, sich zu bestimmten Prioritäten und Ziervorsteilungen zu bekennen, die als Prämissen in jede Analyse eingehen. Allerdings soll nicht spekuliert werden. Es sollen Fragen gestellt werden, selbst dort, wo am Ende nur an das weise Wort von Otto Kirchheimer erinnert werden kann: »Nur ein Schelm gibt mehr, als er hat. Fragen sind billig, Antworten lassen vielleicht lange auf sich warten.«4
1. Leitfragen Einige, das uferlose Thema strukturierende Leitfragen lassen sich vorwegnehmen: 1. Vor allem wird zu prüfen sein, ob die oben angedeutete operationale und idealtypische Behauptung verifizierbar ist, dass es sich bei der offenkundigen Verlagerung der Staatsfunktionen, insbesondere im letzten Jahrhundert, tatsächlich um strukturelle und qualitative Veränderungen gehandelt hat und nicht lediglich um eine quantitative Aufblähung schon immer nachweisbarer Aufgaben. Zugespitzt formuliert: Ob es gerechtfertigt ist, aufgrund wesentlicher Verschiedenheiten in der Aufgabenstellung und den zu ihrer Bewältigung erforderlichen Organisationsformen in den entwickelten Industrieländern heute von einem Staat neuer Art zu sprechen, einem Staat mit umfassenden Planungsfunktionen auf allen Sektoren, der vornehmlich Dienstleistungen zu erbringen, individuelle und kollektive Daseinsvorsorge zu regulieren und permanent Entwicklung und sozialen Wandel institutionell zu antizipieren hat: also einem per definitionem initiativen Interventionsstaat, der sich grundlegend unterscheidet vom ›alten‹ liberal interpretierten Staat, dessen Aufgabenschwerpunkt in der Sicherung des gesellschaftlichen Status quo gesehen wurde, der Steuern einziehen und verwalten, ein Heer unterhalten, auf Ruhe und Ordnung achten und sich ansonsten innenpolitisch im Wesentlichen mit der Rolle eines ›neutral‹ verstandenen Schiedsrichters zufriedengeben sollte. 4 O. Kirchheimer, Über den Rechtsstaat, in: ders., Politische Herrschaft. Fünf Beiträge zur Lehre vom Staat, Frankfurt 1967, S. 122–149, bes. 122.
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2. Eng damit zusammen hängt die Frage nach dem Realitätsgehalt der vielfach behaupteten ›Neutralität‹ der Staatsmacht und ihrer Institutionen (als der gleichsam nur kanalisierenden Auffangbecken) gegenüber dem Wirtschaftssystem und den Kräften der Gesellschaft. Wenn es so ist, dass die auch für frühere Zeiten fragwürdige liberale Formel von der Scheidung zwischen Staat und Gesellschaft die soziopolitische und ökonomische Wirklichkeit hochgradig organisierter Korporationen im wohlfahrtsstaatlichen Spätkapitalismus oder im sozialistischen Staat nicht mehr trifft, wer tritt dann dem Staat gegenüber, wo ist jeweils die Grenze zwischen staatlichen und extra- oder nichtstaatlichen Be reichen, und wie präformiert andererseits die vermeintliche oder wirkliche ›Sachlogik‹ der staatlichen Aufgabenstellung die Verteilung der politischen Einflusschancen der ›pluralistisch‹ miteinander rivalisierenden gesellschaftlichen Gruppierungen? 3. Das Zauberwort der Epoche heißt: Planung. Das Wort ist jedoch so oft missbraucht worden und die Realität dahinter bisher in der Regel so unbefriedigend gewesen, dass man füglich wird fragen müssen, ob und mit welcher Reichweite eigentlich wirklich geplant worden ist und wird, bzw. welcher Stellenwert innerhalb der Prioritätenskala staatlicher Politik jeweils den Erfordernissen (technologisch oder politisch-emanzipatorisch motivierter) rational kalkulierter Planung zukommt und wie groß die Chancen ihrer Durchsetzung gegenüber ›sachfremderen‹ politischen Einflüssen oder dem Streben nach kurzfristigem ›crisis management‹ sind.5 4. Die Frage nach den Trägern nicht nur der Planung, sondern staatlicher Aktivität überhaupt weist zurück auf den Komplex der Technokratie-Problematik6 und die Wandlungen der Rolle staatlicher Bürokratien im politischen Prozess und insbesondere angesichts der Veränderung der Staatsfunktionen.7 Die Diskussion der Kontroverse, ob die Verwaltung nur ein politisch-neutrales Instru-
5 Vgl. dazu vor allem: G. Myrdal, Beyond the Welfare State. Economic Planning in the Welfare State and Its International Implications, London 1960; A. Shonfield, Geplanter Kapitalismus, Köln 1968; J. K. Galbraith, Die moderne Industriegesellschaft, München 1968; zur Kritik: W. Müller-Jentsch, Planungszwänge im Neokapitalismus, in: Atomzeitalter 1967, S. 95 ff.; J. H. Kaiser (Hg.), Planung I u. II, Baden-Baden 1965. 6 Dazu jetzt vor allem C. Koch u. D. Senghaas (Hg.), Texte zur Technokratiediskussion, Frankfurt 1970, und die dort genannte Literatur. 7 Zur Bürokratie-Problematik allgemein vgl. einführend: M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Köln 1964, bes. I 160 ff., II 703 ff., 1047 ff.; R. K. Merton u. a. (Hg.), Reader in Bureaucracy, New York 1952; R. Mayntz (Hg.), Bürokratische Organisation, Köln 1969; zum Aspekt der Organisation: P. M. Blau u. W. R. Scott, Formal Organizations, San Francisco 1962; R. Mayntz, Soziologie der Organisation, Reinbek 1963; N. Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964; A. Etzioni, Soziologie der Organisationen, München 1967. Vergleichend H. J. Laski, Bureaucracy, in: ESS, New York 1930, 1953, III, S. 70–74; E. Barker, The Development of Public Services in Western Europe 1660–1930, London 1944; für die USA: F. Morstein-Marx, Amerikanische Verwaltung, Hauptgesichtspunkte und Probleme, Berlin 1963.
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ment sei (sein könne bzw. überhaupt sein solle) oder recht eigentlich Politik mache,8 lässt sich jedoch nicht trennen von 5. der grundsätzlichen Frage nach dem Ort der Macht und den Möglichkeiten der Kontrolle dieser Macht im Staat9 sowie 6. dem Versuch einer Charakterisierung der jeweils zwangsläufigen wie der bewusst angestrebten Tendenzen zur Transformation staatlicher Macht oder zur Veränderung der Zielrichtung ihres Einsatzes. – Dabei wird vor allem die Tätigkeit der höheren Ränge der Innenverwaltung im umfassenden Sinne (also administration und government) zur Debatte stehen. Auf eine Behandlung der außenpolitischen und militärischen Implikationen muss hier ebenso verzichtet werden wie auf eine nähere Analyse der Rolle der subalternen Beamtenschaft. 7. Besondere Beachtung verdient zudem die Staatsmacht in ihrer Rolle als in der Regel wichtigster Träger von Entwicklungs- und Modernisierungspolitik.10 Diese Funktion ist jedoch besonders während der das ganze 19. Jahrhundert über andauernden ›ersten‹ Phase einer ruckartigen Zunahme staatlicher Aufgaben im Zeichen der einander parallel laufenden Prozesse der Industrialisierung und der politischen Demokratisierung in den westeuropäischen Ländern mit unterschiedlicher Intensität wahrgenommen worden.11 Für diese Phase wird daher in wesentlich stärkerem Maße historisch-konkret zu differenzieren sein als für die ›zweite‹ Phase des Übergangs zum Spätkapitalismus und der zunehmenden Realisierung wohlfahrtsstaatlicher Bestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg (und verstärkt nach der Wirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre), in der die entwickelten Industrieländer weniger traditionell bedingte Differenzen und stärkere strukturelle Affinitäten aufzuweisen beginnen. Die enge Verflechtung von in individueller wie sozialer Hinsicht einerseits disziplinierenden und andererseits emanzipatorischen Komponenten in diesem Prozess wird jedoch auf allen Stufen der Entwicklung in allen Ländern aufzufinden sein.
8 Die Neutralitätsthese wird in modifizierter Form noch von N. Luhmann vertreten. 9 Zum Problem der Kontrolle vgl. G. A. Ritter, Die Kontrolle staatlicher Macht in der Demokratie, in: ders. (Hg.), Vom Wohlfahrtsausschuß zum Wohlfahrtsstaat, Köln 1987, S. 69–117. 10 Dazu allgemein: Löwenthal, Staatsfunktionen, sowie theoretisch: S. M. Lipset, Bureaucracy and Social Change, in: R. K. Merton (Hg.), Reader, S. 221 ff.; B. F. Hoselitz, Wirtschaftliches Leistungsniveau und bürokratische Strukturen, in: ders., Wirtschaftliches Wachstum und sozialer Wandel, Berlin 1965, S. 196–227, bes. 220 ff.; J. La Palombara (Hg.), Bureaucracy and Political Development, Princeton 1963, darin besonders: F. Morstein-Marx, The Higher Civil Service as an Action Group in Western Political Development, S. 62–95. 11 Auf die andersartigen Voraussetzungen und die teilweise gegenläufige Entwicklung in den USA kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden.
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2. Absolutismus, Revolution und Industrialisierung: Triebkräfte im Entstehungsprozess der modernen Staatsverwaltung Der Wandel der Staatsaufgaben in den letzten zwei Jahrhunderten fand zunächst seinen klassischen Ausdruck in der Zunahme und festen Institutiona lisierung staatlicher Bürokratien, einem Prozess, dessen Anfänge, Motivationen und Entwicklungstempo in den ökonomisch und technologisch am weitesten entwickelten Ländern West- und Mitteleuropas außerordentlich verschiedene Akzente und Prioritäten aufweisen, an dessen vorläufigem Ende aber um die Wende zum 20. Jahrhundert tendenziell einander in stärkerem Maße sich angleichende, aufgefächerte Institutionensysteme mehr oder weniger bürokratischer Instanzenzüge sich aus älteren traditionellen Institutionen herausgeschält haben. Deren Zuordnung zu den politischen Kräften der Zeit gestaltete sich aus historisch-konkreten Gründen zwar in den einzelnen Staaten wiederum verschieden, spiegelt aber doch eine strukturell ähnliche Problemlage wider: Der große Sprung nach vorn der industriellen Revolution und die Grundlagen der Organisation ihrer ökonomischen, finanziellen und sozialen Bedingungen und Folgen waren im Wesentlichen abgeschlossen, und die Vertreter der Staatsmacht begannen, sich neu in einem System zurechtzufinden und einzurichten, das die enge Verflechtung staatlicher und privatwirtschaftlicher Interessen und Initiativen, die permanente Kommunikation der Funktionsträger von Staat und Gesellschaft zur Voraussetzung für sein Funktionieren hat. Am Anfang dieses Prozesses stehen auf dem Kontinent die beiden großen Versuche organisierter Disziplinierung und organisierter Emanzipation in Gestalt des vorrevolutionären Absolutismus und der Französischen Revolution (insbesondere in ihrer zweiten Phase nach 1791), in Großbritannien die seit Mitte des 18. Jahrhunderts permanente und Reaktionen erzwingende Herausforderung der Industrialisierung und einer sich ohne wesentliches staatliches Zutun modernisierenden Wirtschaft an den Staat. Alle drei Elemente, Absolutismus, Revolution und Industrialisierung, sind konstitutiv geworden für die endgültige Herausbildung der Organisationsformen des ›modernen Staats‹, wie er nicht nur auf Europa beschränkt blieb. Jeweils verschiedene Kombinationen ihrer wichtigsten politisch relevanten Postulate: Ordnung und Einheitlichkeit gezielt einsetzbarer Verwaltung, Emanzipation und Demokratisierung, technologische Modernisierung und Innovation, haben seitdem die Zunahme und den Wandel staatlicher Funktionen motiviert und bestimmen noch heute die Diskussion über den jeweiligen Stellenwert der Aufgaben des Staates zwischen Beharrung und Fortschritt, Technokratie und Freiheit. 1. Die Annahme, die vorgeblich ›neuen‹ Qualitäten rationaler Planung, innovatorischer Initiative und Intervention, Wirtschaftslenkung und Entwicklungspolitik seien bereits im Instrumentarium des merkantilistischen absoluten Staates vertreten gewesen, hält einer genaueren Analyse jedoch nicht stand. Sie berücksichtigt die relativ enge Spannweite und in starkem Maße außen 208
politisch motivierte und auf eine Stärkung der Zentralgewalt gerichtete Zielsetzung merkantilistischer Wirtschaftsförderung ebenso wenig wie den weiten Bereich der von staatlicher Reglementierung noch nicht erfassten, weiterhin autonomen gesellschaftlichen Sektoren,12 die später sehr wohl in den Wirkungs bereich staatlicher Intervention einbezogen wurden, sei es aus Gründen technischer Notwendigkeit oder aufgrund artikulierten Verlangens nach mehr Demokratie, Partizipation und Kontrolle, einer alternativen Motivation, die es in dieser Form vor 1789 nicht gab. Der allgemeine Disziplinierungsprozess des monarchischen europäischen Absolutismus, am augenfälligsten verkörpert in seinen Erscheinungsformen: Militarismus, Merkantilismus und Bürokratisierung, war vor allem durch die Tendenz der Staatsmacht gekennzeichnet, die Sphäre gesamtstaatlicher Lenkung im Innern und gesamtstaatlicher Vertretung nach außen von anderen, partikularen Kräften freizuhalten,13 beschränkte sich jedoch auch darauf und sparte ständische Rechte, lokale Gewalten und Herrschaftsverhältnisse, sofern sie nicht mit der Zentralgewalt konkurrierten, weitgehend aus. Die mehr oder weniger gewaltsame Unterwerfung der Gesellschaft unter die zentralisierte und rational und bürokratisch organisierte Macht eines entprivatisierten Staates, die Unterordnung der Prinzipien von Religion, Familie und Eigentum unter das öffentliche Interesse der Staatsräson konstituierten – nach dem Vorbild der italienischen Städte – zwar erstmals den ›Staat‹ als etwas territorial, organisatorisch und machtpolitisch Eigenständiges; unter den handlungsleitenden Prinzipien dieses Staates, wie sie von den Kameralwissenschaften noch bis ins beginnende 19. Jahrhundert hinein gelehrt wurden,14 dominierten jedoch Ordnung, Disziplin und das Streben nach (einer noch nicht selbstverständlichen) Einheitlichkeit vor dem Gedanken einer paternalistisch begriffenen gemeinen Wohlfahrt und guten »Policey« (d. h. Verwaltung im allgemeinen Sinne mit Ausnahme der Justiz- und Finanzverwaltung), und erst recht vor den Erfordernissen staatlicher Entwicklungspolitik, wie umfangreich letztere auch im Einzelfalle – in Preußen wesentlich stärker als in Frankreich15 – bewusst betrieben werden mochte. Die Organisation der Staatsverwaltung trug diesen Prioritäten durchaus Rechnung: Die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts in Frankreich wie in Preußen 12 Dieser Zusammenhang ist bes. von G. Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: VSWG, Jg. 55, 1968, S. 329–347, bes. 330 f., 335, gewürdigt worden. 13 Ebd., S. 330, 337, 345 ff. 14 Vgl. dazu W. Bleek, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg. Studium, Prüfung und Ausbildung der höheren Beamten des allgemeinen Verwaltungsdienstes in Deutschland im 18. u. 19. Jht., Berlin 1972. 15 Dass die preußische Bürokratie, gemessen am französischen Vorbild, in stärkerem Maße initiativ war bei der Gewerbe- und Manufakturförderung sowie der Inneren Kolonisation, hängt ebenso wie die bewusste Erziehung zur gesamtstaatlichen Loyalität und die Bemühungen um eine Vereinheitlichung des Rechts (ALR 1794) mit dem geographisch und in frastrukturell unfertigen Charakter und der ökonomischen Rückständigkeit des Landes zusammen.
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installierte und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts kontinuierlich (institutionell und personell) ausgebaute Zentralverwaltung mit wesentlich vertikalen Instanzenzügen16 und Ansätzen zur funktionalen Departementalisierung17 widmete sich in erster Linie den Aufgaben der (noch keineswegs immer sonderlich effektiven) Steuererhebung, Finanz- und Wirtschaftsverwaltung sowie der Heeresorganisation.18 Die Bürokratie des Absolutismus verkörperte die (in Frankreich mehr, in Preußen weniger) im Monarchen personifizierte Staatsmacht gegenüber Adel, Kaufleuten, Handwerkern und Bauern; sie disziplinierte die Bevölkerung, aber sie integrierte sie nicht.19 2. Die Französische Revolution wurde in dreifacher Hinsicht bedeutsam für die weitere Entwicklung des Verhältnisses staatlicher Institutionen und Verwaltungsorgane zu den Gruppen der Gesellschaft: a. Auf der einen Seite führte die bleibende ›Entdeckung‹ der Nation als des obersten Souveräns im Staate zur Forderung nach demokratischer Legitimation politischer Entscheidungen, nach Verwaltungskontrolle und nach einem breiten Ausmaß von Teilhabe an Entscheidung und Kontrolle. Das ausdrückliche Verlangen nach weitgehender Dezentralisation und parlamentarischer Kontrolle der jetzt als exekutive Einheit begriffenen Regierung und Verwaltung auf allen Ebenen wurde im kontinentalen Europa zu einem beständig weiterwirkenden Grundpostulat liberaler Reformbestrebungen bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, obwohl andererseits 16 Ausschließlich zentralistische Komponenten wies das von Colbert reorganisierte franzö sische System auf. In Preußen wurde das hierarchisch-bürokratische Prinzip im Bereich der Verwaltungsspitzen gemildert durch kollegiale Gremien sowohl in der Zentrale als auch auf Provinzebene sowie die auf Grund der Entwicklungsdivergenzen teilweise noch notwendige Eigenständigkeit der Provinzialorgane. Diese Abschwächung des bürokratischen Zentralismus wurde jedoch durch die straffe Kriegsverfassung weitgehend wieder aufgehoben. 17 In Frankreich waren in den vier Sekretariaten, ähnlich wie in England vor 1782, ursprünglich funktionale und geographische Zuständigkeiten miteinander verquickt. Bereits unter Ludwig XIV. wurden jedoch durch die Unterstellung der Sekretariate unter die Minister des Conseil d’État permanente Behörden etabliert, deren größte die des Controlleur Général des Finances war, ein Innen- und Finanzministerium mit Zuständigkeit auch für Landwirtschaft, Gewerbeförderung, Handel, Flotte und Kolonien. In Preußen bestand die Trennung der Zuständigkeiten zwischen Kriegs- und Domänenkammern sowie entsprechende und weitgehende Funktionsteilungen zwischen Generaldirektoren, Räten und später den Kabinetts-Ministern, deren teilweise unkoordiniertes Nebeneinander erst durch die Errichtung eines kollegialen Staatsministeriums mit fester Ressortabgrenzung 1808 beseitigt wurde. Vgl. O. Hintze, Die Entstehung der modernen Staatsministerien, in: ders., Staat und Ver fassung, Göttingen 1962, S. 275–320. 18 Vgl. dazu Barker, Development, S. 42–44. 19 In Frankreich nicht einmal den Adel, der in Preußen durch das Bündnis mit dem Staat in Armee und Verwaltung in seinen gutsbesitzerlichen Privilegien bestätigt und daher gegenüber der Staatsmacht pazifiziert wurde. Vgl. H. Rosenberg, Bureaucracy, Aristocracy, Autocracy. The Prussian Experience 1660–1815, Cambridge, MA 1958; E. Kehr, Zur Genesis der preußischen Bürokratie und des Rechtsstaates, in: ders., Der Primat der Innenpolitik, Berlin 1965, S. 31–52.
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b. in Frankreich bereits Napoleon Bonaparte in den Verwaltungsreformen von 1799 bis 1804 die erstmals artikulierte Spannung zwischen Demokratie und Bürokratie auf seine Weise, abgesichert durch ein akklamativ-plebiszitäres Manipulationsinstrumentarium, zugunsten einer gesteigerten Effizienz bei reduzierter Partizipation aufgelöst hatte: Die vertikalen Instanzenzüge der aktiven Verwaltung wurden gestrafft, noch stärker hierarchisch differenziert und auf die Spitze (die auch für die Legitimationsbasis zu sorgen hatte) hin zentriert.20 Dem gesteigerten Verlangen der betroffenen Gruppen nach Mitwirkung an Herrschaft und Verwaltung wurde dabei scheinbar Rechnung getragen durch den institutionellen Ausbau von Konsultationsorganen und lokalen Wahl gremien ohne nennenswerte Entscheidungskompetenz21 und die Kodifizierung des Verwaltungsrechts. Der Bonapartismus etablierte nicht nur endgültig das Missverhältnis zwischen zentraler bürokratischer Leitung und lokal intendierter, aber aufgrund fehlender Kompetenzen und des regionalistischen Honoratiorencharakters der politischen Parteien und Gruppen völlig unzureichender Kontrolle, das bis heute das französische Regierungssystem charakterisiert. Der von ihm besonders ausgeprägte Mechanismus ›deliberierender‹, beratender, eben nicht parlamentarischer Körperschaften22 wurde auch in anderen Ländern (z. B. im Bismarckschen Deutschland) zu einem gern genutzten Instrument zur Kanalisierung der Forderungen nach Parlamentarisierung: Mochten die Akzente dabei mehr auf der ständischen Tradition, dem juristischen Sachverstand oder (vor allem in Deutschland nach 1850) dem wirtschaftlichen Interesse liegen, und mochten diese Beiräte auch zuweilen von der Verwaltung zur Entscheidung von Sachfragen herangezogen werden: eine ihrer wesentlichen Funktionen blieb es, die in ihnen vertretenen gesellschaftlichen Gruppen fernzuhalten von der Teilhabe an der Herrschaft und der Kontrolle der Verwaltung.23 Der Versuch der prophylaktischen staatlichen Mediatisierung von Parteien oder Interessengruppen ist das Korrelat des bürokratischen Regiments des Bonapartismus, der insofern den Gegentyp konstituiert zu dem im frühen 19. Jahrhundert vorherrschenden liberalen Verständnis, dass die kontrollierte staatliche Verwaltung nur den Rahmen zu setzen habe für die möglichst ungehinderte 20 Zum Aspekt der Kontinuität von Absolutismus und Revolution vgl. auch A. de Tocqueville, L’Ancien Régime et la Révolution. Oeuvres compl. II, Paris 1952, S. 69 ff.; H. Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jht., Stuttgart 19692, S. 49 ff., 53 ff., bes. 61–63. 21 Der Conseil d’Etat, bestehend aus 45 juristisch oder militärisch ausgebildeten Verwaltungsfachleuten, hatte die Aufgabe, der Regierung »dans la solution des problèmes les plus élevés de l’administration générale« zu assistieren; J. Barthélemy, Le gouvernement de la France, Paris 1924, S. IX. 22 Auf die älteren Wurzeln der Konsultationsorgane in den ständischen Gremien kann hier nicht eingegangen werden. 23 Dieser Eindruck wird bestätigt durch die Tatsache, dass z. B. in Deutschland erst jene interessenpolitischen Gruppierungen zu politischem Einfluss gelangten, die sich nach 1876 entweder parlamentarisch organisierten oder direkt an die Öffentlichkeit wandten. Vgl. H. J. Puhle, Parlament, Parteien und Interessenverbände 1890–1914, in: M. Stürmer (Hg.), Das kaiserliche Deutschland, Düsseldorf 1970, S. 340–377, auch in diesem Band.
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wirtschaftliche und politische Betätigung der gesellschaftlichen Kräfte eines sich entfaltenden Kapitalismus.24 c. Auf die Französische Revolution lässt sich jedoch auch noch eine andere, sehr bedeutsame Komponente der Diskussion der Staatsaufgaben und des Bürokratieproblems kontinuierlich zurückverfolgen: Es handelt sich um die auf die Philosophie der Aufklärung zurückgehenden grundsätzlichen und modell haften, am Ziel von Emanzipation und Freiheit orientierten Konzeptionen in den rezessiven, radikaldemokratischen Unterströmungen der Revolution, getragen von den Sansculotten in den Pariser Sektionen und Teilen des jakobinischen Wohlfahrtsausschusses, Babouvisten, Enragés und anderen kleinen Gruppen, die den Gesamtcharakter der Revolution nicht dominiert haben und am Ende unterlagen.25 Ihre Forderungen und Ideen sind jedoch nicht nur zu bleibenden Bestandteilen radikaldemokratischer und sozialistischer (marxistischer wie nichtmarxistischer) politischer Theorie geworden, sondern sind – vermittelt vor allem in den programmatischen Zielsetzungen der Arbeiterbewegung – auch als konkrete Motivation eingegangen in die spätere Politik zur Realisierung des Wohlfahrtsstaates. Den bleibenden Impetus dieser Konzepte machen dabei weniger die sehr bald misslungenen Versuche einer Dezentralisierung und permanenten Detailkontrolle der Verwaltung sowie der Abschaffung des Berufsbeamtentums (via Ämterrotation)26 oder die schließlich zu bombastischen Hierarchien hochstilisierten, teilweise totalitär konzipierten Egalitäts-Utopien27 aus als vielmehr die fundamental neue Auffassung der Staatsmacht als einer Agentur der Nation mit der genuinen Pflicht zur Sicherung der Gleichheit der Lebenschancen als Voraussetzung individueller und kollektiver Freiheit. Hinter dem Aufgabenzuwachs, der sich aus den Folgen der Revolution und ihrer Kriege, der Organi24 Ein typologischer Ansatz zur Differenzierung liberal-parlamentarisch kontrollierter, bonapartistischer und absolutistischer Bürokratie findet sich bereits bei Karl Marx. Vgl. I. Fetscher, Marxismus und Bürokratie, in: ders., Karl Marx und der Marxismus, München 1967, S. 163–181. 25 Vgl. vor allem die Arbeiten von A. Cobban, The Social Interpretation of the French Revolution, Cambridge 1964, u. A. Soboul, Les sansculottes parisiens en l’an II, Paris 19622. 26 Die von den in Permanenz tagenden Sektionsversammlungen eingesetzten Zivil- und Militärausschüsse, die jederzeit abberufbaren Delegierten und Kommissare gerieten schon im Laufe des Jahres 1793 allmählich unter die Kontrolle des Wohlfahrtsausschusses und des Konvents; insbes. die Friedensrichter und Polizeikommissare wurden zu festen Beamten der Stadtverwaltung; die Volksversammlungen verloren zahlreiche ihrer Funktionen und wurden in Sektionsgesellschaften umgewandelt. Vgl. vor allem A. Soboul, Die Sektionen von Paris i. J. II, Berlin 1962, S. 162 ff., 268–332. Im antibürokratischen Affekt dieser Konzeptionen liegen auch die Wurzeln der neueren linken Bürokratiekritik. 27 Z. B. die Manifeste der Verschwörung für die Gleichheit Babeufs. Vgl. P. Buonarroti, Babeuf und die Verschwörung für die Gleichheit, Stuttgart 1909, S. 307–314, 320–333. Nachwirkungen bei A. Comte und im Anarchismus Proudhons und Bakunins. Diese utopischen Hierarchien waren meistens nicht mehr bürokratisch-funktional, sondern gesinnungsethisch und charismatisch motiviert.
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sation des Volksheeres und der Wirtschaftsmisere ergab und neue, vorher unbekannte staatliche Institutionen notwendig machte,28 stand – zumindest für die radikale ›linke‹ Front der Revolution – das ernsthafte Pathos der Verpflichtung des Staates, soziale Umwälzungen in die Wege zu leiten und die Wohlfahrt des einzelnen zu organisieren im Sinne einer umfassenden Emanzipation.29 Damit ist zum ersten Male in neuerer Zeit auch in politischer Hinsicht die Zielrichtung interventionsstaatlicher Aufgabenstellung im Zeichen der Gleichheit umrissen, deren emanzipatorischem Anspruch sich die Regierungen des 19. Jahrhunderts auf die Dauer ebenso wenig völlig entziehen konnten wie dem Verlangen des Bürgertums nach Hilfestellung beim Aufbau der kapitalistischen Industriewirtschaft und der Notwendigkeit der Anpassung an neu entwickelte Technologien. Diese neuere, ›egalitäre‹ Traditionslinie der europäischen politischen Kultur, die nicht nur von Utopisten, Anarchisten und im Marxismus, sondern teilweise auch von den englischen Radicals und Utilitarians30 rezipiert wurde, unterscheidet sich in ihrer Motivation grundlegend von der älteren, auf John Locke zurückgehenden angelsächsischen Herrschaftskonzeption, für die Freiheit, Partizipation und Emanzipation erst durch Eigentum (property) vermittelt möglich sind.31 Die selbst in den inzwischen vielfach vermischten und pragmatisch abgeschwächten politischen Ideologien der Gegenwart noch erkennbare Konkurrenz beider Auffassungen von Demokratie, einmal primär zum Zwecke der Durchsetzung von Gleichheit, andererseits vornehmlich zum Schutz von Eigentum, charakterisiert bis heute den Gegensatz zwischen Sozialismus und Liberalismus, z. B. in den Fragen nach dem Ausmaß der Staatsintervention und der Priorität von Partizipation oder politischer Erziehung. 3. Die Industrialisierung und in ihrem Gefolge die Modernisierung nahezu aller Lebensbereiche, die in Großbritannien in den letzten drei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, auf dem Kontinent im Wesentlichen im vierten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts einsetzte, wurde zum dritten leitenden Faktor bei der Bestimmung der Staatsaufgaben und der Etablierung adäquater Institutionen bis ins letzte Viertel des 19. Jahrhunderts. Die Mechanisierung der Werkstätten durch 28 Z. B. die Militärausschüsse, Revolutionskomitees, Behörden zur Überwachung der Heereslieferungen und der Kriegsproduktion, zur Regelung von Eigentumsklagen, Lohnstreitigkeiten, Wiedergutmachungs- und Mietangelegenheiten und zur Gewerbeüberwachung und Veteranenversorgung, Ernährungsämter und Wohltätigkeitskommissionen. Vgl. Soboul, Sektionen, S. 83 ff., 93 ff., 101 f., 128 ff., 275 ff. 29 Emanzipation soll in diesem Zusammenhang vor allem bedeuten: Maximierung der individuellen und kollektiven Freiheitsräume und Entwicklungsmöglichkeiten, Minimierung von überflüssiger, rational nicht gerechtfertigter Herrschaft, von Zwang und Repression. 30 Vor allem von J. S. Mill, der sehr nüchtern gegenüber Humboldts »Gränzen der Wirksamkeit des Staates« die Pflicht des Staates zur Eindämmung eines möglichen Despotismus der Gesellschaft betonte. Vgl. bes. die Einleitung zu: On Liberty (1859), J. S. Mill, Utilitarianism, Liberty, Representative Government, London 1910, ed. 1960, S. 65–77. 31 Diese Auffassung ist trotz der Übernahme aufklärerischer Motive auch für die Konzeption der US-Verfassung entscheidend geblieben. Vgl. The Federalists (ed. Cooke) Cleveland 1961, S. X, 56 ff.
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die Einführung von Maschinen, die Erschließung neuer Energiequellen und besserer Verkehrswege und die stärkere Zuwendung zu mineralischen Rohstoffen veränderten nicht nur die Produktionswelt, sondern das gesamte gesellschaftliche Gefüge der betroffenen Staaten grundlegend; die technologischen Veränderungen waren aufs engste verknüpft mit einer Revolutionierung des Finanz- und Wirtschaftssystems sowie geographischen und sozialen Umschichtungen größten Ausmaßes.32 Die sich immer mehr in den Städten, um die neuen Fabriken konzentrierende Bevölkerung nahm zu, aber Produktivität und Sozialprodukt stiegen in stärkerem Maße an, so das jene Investitionen im großen Stil zum Ausbau der Betriebe und Fertigungsmethoden möglich wurden, die erst eine konstante Weiterentwicklung industrieller Produktion und Verteilung garantieren. Auf der einen Seite zwangen die Vergrößerung der Betriebe, die Koordination der Fabrikarbeit, die Zunahme der Investitionen und des Risikos, die die Flexibilität der Entscheidungen der Betriebsleitungen verringerten, 1ängerfristige Planung erforderlich machten und den definitiven Prozess der konsequenten Bürokratisierung auch der privatwirtschaftlichen Leitsektoren provozierten,33 den Staat immer stärker in die Rolle des stabilisierenden Garanten einer die unternehmerische Dispositionsfreiheit sichernden Wirtschaftsordnung. Er sollte nicht nur (durch Patentgesetzgebung, Industriespionage und Förderung wissenschaftlich-technischer Gesellschaften und Anstalten) Er findungen fördern und schützen, sondern auch mittels zoll- und außenhandelspolitischer Maßnahmen das Interesse der nationalen Industrie wahren, Transportwege schaffen, Geld und Kredit stabil halten und die neuen Institutionen, Instrumente und Verkehrsweisen des sich herausbildenden Finanzkapitalismus34 juristisch absichern und sanktionieren.35 Auf der anderen Seite warfen die durch die Fabrikarbeit und Urbanisierung radikal veränderten Arbeits- und Lebensbedingungen der Lohnarbeiter Probleme auf, die von den Regulierungsmechanismen des Marktes nicht gelöst werden konnten, staatliche Regelungen notwendig machten und damit neue Aufgaben im Bereich der staatlichen Verwaltung verankerten (Ausbau des Verkehrsnetzes und des Erziehungssystems, Arbeiterschutz und Sozialver32 Vgl. D. S. Landes, The Unbound Prometheus, Technological Change and Industrial Development in Western Europe from 1750 to the Present, Cambridge 1969, S. 41 ff., 124 ff., 193 ff. 33 Vgl. H. Bosetzky, Bürokratische Organisationsformen in Behörden und Industrieverwaltungen, in: R. Mayntz (Hg.), Bürokratische Organisation, S. 179–188, u. J. Kocka, Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847–1914, Stuttgart 1969, S. 148 ff., 463 ff. 34 Die enge Verbindung von Industrie- und Finanzkapital, internationaler Kapitalverkehr und die Errichtung von industriefinanzierenden Großbanken sind spezifisch kontinentale Charakteristika. Vgl. Landes, Prometheus, S. 206 ff. 35 Z. B. durch die Vereinheitlichung des Rechts- und Zollsystems, die Anerkennung des Schecks, Lockerung der Zins- und Konkurs-Bestimmungen, Anerkennung der Aktiengesellschaft als Rechtsform (Großbritannien 1862, Frankreich 1863); in Preußen Allg. Dt. Handelsgesetzbuch 1861; Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund 1869.
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sicherung). Dieser Aufgabenzuwachs bewirkte, dass auch in Großbritannien, dem letzten politisch und wirtschaftlich ›modernen‹ europäischen Staat ohne nennenswerte Staatsbürokratie, allmählich ein institutionell abgesicherter, permanenter Verwaltungskörper aufgebaut und personell vergrößert sowie Qualifikations- und Ausbildungskriterien kodifiziert wurden, so dass im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die historischen Entwicklungsdifferenzen zwischen dem Vereinigten Königreich und den entwickelteren Industriestaaten des Kontinents (vor allem Belgien, Frankreich, Deutschland) nicht nur aufgrund der allmählichen Schließung der ›technologischen Lücke‹, sondern auch im Bereich staatlicher Aufgabensteilung und Verwaltung geringer wurden und besonders gegen Ende des Jahrhunderts zunehmend konvergierenden Tendenzen wichen. Letztere wurden – im Falle Deutschlands – noch verstärkt durch die Tatsache, dass gleichzeitig die interessenorientierte Organisation der Unternehmerschaft wie der Arbeiterbewegung hier wie dort den innenpolitischen Bezugsrahmen staatlichen Verwaltungshandelns für die Zukunft ebenso entscheidend verändert hatte36 wie der langandauernde Prozess der ›Fundamentaldemokratisierung‹,37 der Ausweitung politischer Öffentlichkeit und Partizipation38 und der polarisierenden Bildung von großen Parteien.
3. Zwischen Industrialisierung und Demokratisierung: Historische Entwicklungstendenzen Wollte man die Auswirkungen des Industrialisierungs- und Demokratisierungsprozesses auf die Betätigung staatlicher Verwaltung, die Ausweitung ihrer Funktionen, ihren Organisationsgrad und ihren politischen Stellenwert, also gewissermaßen den jeweiligen Vektor der Veränderung, für das 19. Jahrhundert auf eine vereinfachte Formel bringen, wäre in einem sehr groben und vorläufigen Vergleich etwa festzustellen, dass Veränderungen in Frankreich am geringsten gewesen sind und dass die Industrialisierung dabei eine relativ untergeordnete Rolle gespielt hat. Demgegenüber hat sie in Großbritannien direkt auf tendenziell sehr einschneidende, strukturelle Veränderungen in der Verwaltung hingewirkt, die auf bestimmten Sektoren jedoch nur zögernd und im ganzen sehr wenig bürokratisch-rational realisiert wurden. Der Ausbau des preußisch-deutschen Verwaltungssystems in dieser Epoche war am gründlichsten und konsequentesten, jedoch nicht in demselben Maße an den Folgen der 36 Vgl. Barker, Development, S. 66 ff.; Puhle, Parlament. 37 In Großbritannien wurde das 1832 reformierte Wahlgesetz 1867 auf die Haushaltsvorstände in den Städten ausgedehnt (1884 auch auf das Land), 1872 wurde die geheime Wahl eingeführt. In Deutschland wurde das allgemeine, gleiche, geheime Wahlrecht (für Männer) zum Reichstag des Norddeutschen Bundes 1871 auf das ganze Reich ausgedehnt. 38 Dazu vor allem J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1962, S. 200 ff.
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Industrialisierung orientiert wie die englischen Verwaltungsreformen. Die Formeln bedürfen des Kommentars: Als in Frankreich die Industrialisierung einsetzte, war die zentralisierte, moderne Staatsverwaltung in Gestalt der napoleonischen Bürokratie bereits vorhanden; zusätzliche Kontroll- und Demokratisierungsforderungen konnten außerdem, wenn sie nicht – wie im Zeichen des bürgerlich-liberalen Restaura tionskönigstums – ohnehin spärlich blieben, ohne strukturelle Folgen für die Bürokratie durch bonapartistische Techniken der Regierungsspitze manipuliert werden (wie 1848 ff.). Zudem verlief die Industrialisierung vergleichsweise langsam im Tempo; weder Verstädterung und Proletarisierung noch der Zuwachs der Investitionen erreichten solche Ausmaße, dass sie qualitativ neue Aktivitäten oder Interventionen des Staates mit Macht provoziert hätten.39 Ausbildung, Auslese und Funktionsweise der Staatsbürokratie und ihrer Träger blieben bis ins 20. Jahrhundert hinein im Wesentlichen in ihren traditionellen Bahnen; das staatliche Schul- und Erziehungssystem, für dessen Entstehung die Weichen schon im ersten Kaiserreich gestellt worden waren, wurde trotz der Kämpfe um die Privatschulen (1850–1904) ebenso allmählich ausgebaut wie die Monopolbetriebe;40 entscheidende Veränderungen im Steuersystem und der Finanzverwaltung41 und in Richtung auf ein stärkeres staatliches Engagement zugunsten sozialer Leistungen fanden jedoch erst nach der Jahrhundertwende statt. Das französische Verwaltungssystem und die Organisation der Staatsmacht bieten somit nach dem einschneidenden Umbau (vor 1804) eher das Bild einer sehr allmählichen und der Tradition stark verhafteten Weiterentwicklung ohne Brüche, im Zeichen des Zentralismus, hochgradiger Formalisierung, Uniformität (vor allem im elitär technokratisch und spezifisch verwaltungsjuristisch orientierten Ausbildungs- und Rekrutierungssystem der Beamtenschaft), des Selbstbewusstseins der ›Grands Corps‹ und ausgeprägter Isolierung einzelner innerbürokratischer Entscheidungsbereiche und Instanzenzüge voneinander sowie des Verwaltungshandelns insgesamt vom eigentlichen politischen Prozess. Das langsame Tempo reformistischer Adaptation im organisatorischen Bereich und die institutionelle Kontinuität und faktisch unkontrollierbare Selbständigkeit der Verwaltung gegenüber schwachen und traditionalen politischen Instanzen haben auf die Dauer nicht nur dazu geführt, dass die früher konservativen Grands Corps der Beamtenschaft in immer stärkerem Maße zum Träger technokratisch orientierter Verwaltungsreformen geworden sind, sondern vor allem auch zu einer permanenten Akkumulation unerledigter Modernisierungs- und Anpassungsprojekte und zu einem labilen Gleichgewicht zwischen 39 Vgl. Landes, Prometheus, S. 187 ff., 209 ff., 215 ff. Nach dem Ersten Weltkrieg lebten noch über 50 % der französischen Bevölkerung auf dem Lande. 40 Vgl. F. Ponteil, Histoire de l’enseignement en France, Les Grandes Etapes, 1789–1964, Paris 1966, S. 157 ff., 189 ff., 222 ff., 280 ff. 41 Im Steuersystem von 1815 dominierten die indirekten Steuern; die progressive Erbschaftssteuer wurde 1904, die progressive Einkommensteuer 1914 eingeführt.
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Politik und Verwaltung, das zuweilen der Korrektur ›revolutionär‹ artikulierter, aber sektoral begrenzter, stoßweiser Reformen bedurfte, endgültig aber erst dann verlorengehen dürfte, wenn das Tempo ökonomischer und sozialer Veränderungen beschleunigt wird.42 Während in Frankreich und Preußen Verwaltung mit wissenschaftlicher Akribie und juristischer Gründlichkeit betrieben wurde, blieb sie in Groß britannien bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts hinein wesentlich »a task for intelligent amateurs« (S. Pollard), was vor allen Dingen deshalb funktionierte, weil es aktive Administration im kontinentalen Sinne ebenso wenig gab wie es effektiven monarchischen Absolutismus oder eine solche Revolution gegeben hatte, die bürokratische Verwaltungsstrukturen schon frühzeitig hätten ausprägen können. Das Herrschaftssystem des ›King in Parliament‹ verfügte auch noch nach den ersten Ansätzen zu institutionalisierter Haushaltskontrolle Ende des 18. Jahrhunderts über keinerlei Kontrollinstrumente im Lande, dessen innere Regierung und Verwaltung dem de facto autonomen local government der justices of the peace überlassen blieb, die sich vornehmlich aus der vorindustriellen Honoratiorenschicht rekrutierten. In England (und Wales) ist es vor allem der unvermittelte Einbruch der Industrialisierung, und zwar – im Unterschied zu Preußen-Deutschland vor 1880 – mehr die Wirkung ihrer sozialen Folgen als die Erfordernisse ihrer ökonomischen Voraussetzungen, gewesen, der, besonders nach 1830, zunehmend deutlich machte, dass ›private bills‹ im Parlament und die quarter sessions der Friedensrichter als regulierende Regierungs- und Verwaltungsinstrumente nicht mehr ausreichten, und der das staatliche Verwaltungssystem in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg grundlegend transformierte: Ebenso wie die vom geographischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Umschichtungsprozess im Gefolge der Industrialisierung erzwungenen Parlamentsreformen seit 1832 das britische Regierungssystem allmählich, aber doch strukturell veränderten, haben seit dem Poor Law Amendment Act von 1834 und dem Municipal Corporations Act von 1835 kontinuierlich Sozial- und Fabrikgesetzgebung,43 Einrichtung und Reformen des ›Civil 42 Vgl. M. Crozier, Crise et renouveau dans l’administration française (S. 227–248), und die Beiträge von J. P. Worms, P. Grémion und J. Lautmann u. J. C. Thoenig (S. 249–316) in: Sociologie du Travail VIII, 1966; F. Ridley u. J. Blondel, Public Administration in France, London 19692, S. 28 ff., 125 ff., 314 ff.; P. Legendre, Histoire de l’administration de 1750 à nos jours, Paris 1968, S. 90 ff. 43 Der Poor Law Amendment Act entzog Verwaltung und Kontrolle der Armenfürsorge den Justices of the Peace zugunsten neuer Wahlgremien: Boards of Guardians. Der erste Factory Act datiert von 1802, die Einführung der Fabrikinspektoren von 1833, Verfügung des Zehnstundentages von 1847. Neben den Ausbau der Fabrikgesetzgebung bis zum Consolidating Act von 1901 trat seit Mitte des Jahrhunderts die Gesundheitsfürsorge und seit der Anerkennung der Gewerkschaften durch die Gesetzgebung Anfang der siebziger Jahre und stimuliert durch das deutsche Vorbild der achtziger Jahre der Ausbau der Armenfürsorge zu Sozialversicherung und sozialem Schutz. Die staatlichen Ausgaben für soziale Dienste stiegen von 22,6 Mio. £ 1891 auf 338,5 Mio. £ 1925. Vgl. Barker, Development, S. 77.
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Service‹44 und das zunehmende Engagement des Staates beim Ausbau des Erziehungssystems45 die innere Verwaltung in einer Weise umgestaltet, die am ehesten durch die Tendenzen zum integralen demokratischen local government durch gewählte Gremien (county councils)46 bei gleichzeitiger Zunahme der Subventionstätigkeit und der Kontroll- und Initiativfunktionen der Londoner Zentralverwaltung und verstärkter Bürokratisierung und Departementalisierung auf lokaler wie zentraler Ebene gekennzeichnet werden kann. Dabei führte die Tatsache, dass Regierung und Parlament die örtlich zu verteilenden Leistungen weitgehend zu finanzieren hatten, automatisch zu Verschränkungen im Bereich der Verwaltungsbürokratie, mit einem zunehmenden Übergewicht der faktisch nicht nur verwaltenden, sondern auch gesetzgebenden und Konfliktfälle entscheidenden Zentralbehörden. Dieser Wandel ist zwar grundlegend im Hinblick auf das vorausgehende administrative Vakuum und auf Grund der Errichtung für innere Angelegenheiten zuständiger zentraler Verwaltungsbehörden überhaupt; er führte jedoch weder zum Überwiegen zentralistischer Tendenzen, noch zur definitiven Ausprägung rational motivierter bürokratisch-hierarchischer Strukturen in der Verwaltung. Diese Erscheinungen sind, ähnlich wie in anderer Hinsicht die Rationalisierungsmaßnahmen in der Privatwirtschaft, erst kennzeichnend für den neuerlichen administrativen Konzentrationsprozess im 20. Jahrhundert geworden, der sich in Großbritannien nur allmählich und gebremst, mit Macht erst im Zuge der Sozialisierungsprogramme nach 1945 durchsetzte.47 Die Ge-
44 Die entscheidenden Etappen sind die Civil Service Reformen auf Grund des NorthcoteTrevelyan-Report (1853) und auf Anregung der ›radicals‹ wie der Praxis der indischen Kolonialverwaltung, 1853–1855, die Errichtung der Civil Service Commissions, die Begrenzung der Patronage durch das objektivierende Prinzip der ›open competition‹ und die Einführung von Prüfungen 1870 und der Ausbau der institutionalisierten Kontrolle der Treasury. 45 Vor der Errichtung der ersten staatlichen Schulen nach dem Education Act von 1870 beschränkte sich der Staat auf Subventionen für die privaten Schulen und die Institutionalisierung entsprechender Kontroll- und Inspektionsrechte. Das Board of Education wurde 1900 eingerichtet. 46 Neben den Boards of Guardians entstanden zunächst für nahezu jeden staatlichen Dienstleistungsbereich auf lokaler Ebene gesonderte Wahl- und Kooperationsgremien (Boards) mit Initiativ- und Kontrollfunktion. Die seit 1889 bzw. 1894 im local government gegenüber den Justices of the Peace dominierenden Grafschaftsräte (County Councils) zogen jedoch deren Funktionen allmählich an sich: 1902 übernahmen die County Councils die Kontrolle der School Boards, 1929 die Aufgabe der Boards of Guardians. Vgl. Barker, Development, S. 33 ff. 47 Dieser Konzentrationsprozess ist vor allem gekennzeichnet durch die Errichtung zahlloser neuer Ämter und Behörden, die vornehmlich mit wirtschafts- und sozialpolitischen Re gulierungsaufgaben befasst sind, durch die personelle Vergrößerung der Verwaltungskörper, vornehmlich in den Gruppen der executive officers, der clerks und des technischen Personals, sowie durch eine stärkere Verschränkung von politischen und Verwaltungsfunktionen mit der Folge eines Rückgangs des kritischen Kontrollpotentials des Parlaments gegenüber der Regierung. Die Gesamtzahl der in Diensten der Regierung stehenden oder mit
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schichte der Rekrutierung und der Reformen des Civil Service seit 1855 macht nicht nur deutlich, dass sich die bürokratisch-rationalen Kriterien spezialisiert ausgebildeten Sachverstandes nur langsam durchsetzen konnten gegen die traditionellen Konzeptionen des Amtes als ›property‹ und der Ämterpatronage;48 sie zeigt auch, dass eine weniger durchbürokratisierte Staatsverwaltung in einem Industriestaat ein schwer zu handhabendes Herrschafts- oder Regelungsinstrument der Regierung ist.49 Während die Institutionen und Funktionsweisen der Staatsbürokratie wie der Wandel ihrer Aufgaben in Frankreich wesentlich von Absolutismus und Revolution und in England von der Industrialisierung geprägt blieben, verlief die Entwicklung in Preußen und im späteren Deutschen Reich komplizierter: Die preußische Staatsverwaltung entsprach ihrem Ursprung und ihrer Geschichte nach in wesentlich stärkerem Maße dem strukturellen Prototyp einer Bürokratie als Instrument der Entwicklungsdiktatur einer absolutistischen, sich seit den Tagen Friedrich Wilhelms I. zunehmend unpersönlich begreifenden Staatsmacht, die bis ins 19. Jahrhundert hinein die Veränderung und Modernisierung der Gesellschaft zu ihren selbstverständlichen Aufgaben rechnete.50 Im Verein mit der Schaffung einer in sich abgeschlossenen, nach außen abgeschirmten und sozial privilegierten Beamtenkorporation gegen Ende des 18. Jahrhunderts,51 der Auflösung der alten Zentralkollegien und der arbeitsteilig departementalisierten Reorganisation der Verwaltung nach teils präsidialen, teils kollegialistischen Prinzipien nach 1808,52 mit der Schwäche des Monarihr verbundenen M. P.’s stieg von 42 (1900) auf 125 (1968). Vgl. dazu vor allem die Analyse des Haldane-Reports (Cd. 9230) von 1918 sowie Sir Ivor Jennings u. G. A. Ritter, Das britische Regierungssystem, Köln 19702, S. 241–249. 48 Vgl. E. Cohen, The Growth of the British Civil Service, 1780–1939, London 19652, S. 75 ff., 110 ff., 163 ff.; M. Wright, Treasury Control of the Civil Service, 1854–1874, Oxford 1969, S. 53 ff. 49 Vgl. die an den Haldane-Report v. 1918 anknüpfende grundlegende Kritik der Strukturen des britischen Verwaltungssystems im Fulton-Report von 1968: The Civil Service, Vol. 1, Report of the Committee 1966–1968, Cmd. 3628, London 1968, bes. S. 9–14, 57–78, 104–106, u. K. A. Friedmann, Kontrolle der Verwaltung in England, Meisenheim 1970, S. 163 ff. 50 Vgl. z. B. die Altensteinsche Denkschrift von 1807 in: G. Winter (Hg.), Die Reorganisation des preußischen Staates unter Stein und Hardenberg, I. Allg. Verwaltungs- und Behördenreform, Leipzig 1931, S. 461. 51 Durch die Kodifikation des ALR 1794. Zum modernsten Beamtengesetz wurde allerdings später das badische ›Staatsdieneredikt‹ vom 30.1.1819. 52 1808 trat an die Stelle von Generaldirektorium, Ministern und Cabinet ein kollegial organisiertes Staatsministerium mit den fünf klassischen Ressorts. Die Zuständigkeit für Bergbau, Zoll, Domänen und Forsten lag beim Finanz-, für Handel, Gewerbe, Fabriken und Landwirtschaft beim Innenminister, dem auch die Verwaltung im Lande unterstand, die auf Provinzial- und Kreisebene stärker präsidial, auf der Ebene der Regierungsbezirke stärker kollegial organisiert war. Die departementale Ministerialorganisation wurde 1808 ebenfalls in Bayern und Baden verwirklicht, in Württemberg 1811, in Kurhessen und Hannover 1831, in Sachsen 1835. Vgl. O. Hintze, Das preußische Staatsministerium im 19. Jahrhundert, in: ders., Regierung und Verwaltung, Göttingen 1967, S. 530–619; ders., Entstehung; R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, Stuttgart 1967.
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chen und der – nach 1822 durch die Abschaffung des Staatskanzleramtes auch institutionell verstärkten – Führungslosigkeit des Staatsministeriums sowie der Etablierung des ministeriellen Gegenzeichnungsrechts hat vor allem dieser ausdrücklich formulierte innovatorische Interventionsanspruch dazu beigetragen, die preußische Bürokratie, auch gegen anfänglichen Widerstand aus den Reihen der eng mit ihr verbundenen Landaristokratie,53 für eine Zeit zum eigentlichen Herrn des Staates54 zu machen. Diese Tendenz wurde verstärkt, im Tempo beschleunigt, aber im Ergebnis modifiziert durch den enormen Aufgabenzuwachs, den die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der 1810 initiierten liberalen Reformpolitik auf dem Agrar- und Gewerbesektor,55 die zunehmende und das traditionelle merkantilistische Instrumentarium sprengende Industrieförderung und schließlich die in Mitteleuropa spät, aber sprunghaft einsetzende Industrialisierung selber den Organen der Staatsmacht brachten.56 Dabei ist die Konstanz zweier Kontinuitätslinien bemerkenswert: In funktionaler Hinsicht führten auf der einen Seite die wirtschaftsliberale Motivation der Stein-Hardenbergschen Reformen und die in politischer Hinsicht liberale Orientierung des größten Teils der Beamtenschaft in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts keineswegs zum Rückzug des Staates aus der Wirtschaft. Er betätigte sich auch in der Phase liberaler Wirtschaftspolitik weiterhin als Unternehmer,57 beteiligte sich am Eisenbahnbau,58 wirkte auf eine Vereinheitlichung der Zoll- und Rechtsordnung hin59 und betrieb eine Entwicklungsbank, die allmählich zu einer modernen Zentralbank ausgebaut wurde;60 Kerne neuer Behörden wurden dabei aus den alten Institutionen he53 Vgl. Rosenberg, Bureaucracy, u. J. Gillis, Aristocracy and Bureaucracy in Nineteenth Century Prussia, in: Past and Present, Jg. 41, 1968, S. 105–129, bes. 112 ff. 54 Vgl. dazu G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 290 ff., Meiner-Ausgabe, Hamburg 19554, S. 254 ff., u. K. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, in: MEW 1, Berlin 1961, S. 203–333, bes. 242 ff. 55 Insbesondere Bauernbefreiung und Regulierung (1807, 1811, 1820), die den Grundbesitz mobil machten und in den Markt einer zunehmend kapitalistisch funktionierenden Gesamtwirtschaft einbezogen; Aufhebung der Zunftprivilegien (Gewerbefreiheit) 1810/11, 1820; Städteordnung 1808/1831. 56 Vgl. den grundsätzlichen Beitrag von W. Fischer, Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft in Deutschland am Beginn der Industrialisierung, in: Kyklos, Jg. 14, 1961, S. 337–363, bes. 346 f., 361 ff. 57 Nicht nur in den ›klassischen‹ Bereichen der Domänen, des Bergbaus und beim Ausbau der Infrastruktur, sondern auch in der Industrie. Vgl. W. O. Henderson, The State and the Industrial Revolution in Prussia, Liverpool 1958, S. XVII f. 58 Vgl. ebd., Kap. III. 59 Der Dt. Zollverein wurde 1834 wirksam, die preußische Wechselordnung 1848, das HGB 1861. Gesetze zur Einschränkung der Kinderarbeit 1839, zur Armenpflege 1842 und zwecks verschärfter Gewerbeaufsicht 1845 deuten wieder stärkere interventionistische Tendenzen an. 60 Der Entstehung der modernen europäischen Zentralbanken und ihrer Funktion als Instrument gezielter Entwicklungspolitik ist bislang nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt worden. Die preußische Seehandlung, die 1772 zur Verwaltung der Staatsschulden gegründet
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rausgelöst.61 Das spätere, durch Bismarcks Wende vom Freihandel zum Schutzzoll unter dem Druck der Depression der siebziger Jahre eingeleitete ›Ende‹ der liberalen staatlichen Wirtschaftspolitik im Jahre 1879 markiert zwar im Hinblick auf den Außenhandel, die Formierung des solidarprotektionistischen Interessenblocks und die politische Kräfteverteilung im Lande einen entscheidenden Wendepunkt vor allem der deutschen Innenpolitik,62 kann jedoch schwerlich als Beginn einer qualitativ neuen Phase der Verwaltungsfunktionen63 oder als grundsätzlicher Wandel (sondern nur als eine wichtige Akzentverschiebung) der wirtschaftspolitischen Konzeptionen der Träger der Staatsmacht interpretiert werden, die gerade in Preußen mit einiger Kontinuität auch an der traditionellen Verpflichtung des Staates zum Ausbau des Wirtschaftspotentials festgehalten hatten, mittels Intervention, wenn nötig, durch Libera lisierung, wenn nützlich. Auf der anderen Seite bewirkte in machtpolitischer Hinsicht das ebenfalls vorhandene, von Anfang an in der Klassenbasis und der sozialen Verfilzung der preußischen Bürokraten mit dem Landadel angelegte und in den frühen 1820er und in den 40er Jahren stoßweise deutlich zutage tretende, beharrliche und antiemanzipatorische Potential der Bürokratie einen kontinuierlichen Prozess der Zunahme der Interessenabstimmung zwischen Verwaltung und konservativen, noch quasi-feudalen, vorindustriellen gesellschaftlichen Kräften im Laufe des Jahrhunderts.64 In dem Maße, in dem die politischen Exponenten der worden war, intervenierte seit 1815 zunehmend bei der Gründung von Fabriken, im Handel und Straßenbau. Zusammen mit der Kgl. Bank (1837), ab 1846 Bank von Preußen (aus der 1875 die Deutsche Reichsbank hervorging), fungierte sie als Kapital- und Kreditmarkt kanalisierende und investitionslenkende Zentralbehörde in den Händen der Regierung (im Gegensatz zu anderen westeuropäischen Ländern) mit dem Ziel der Stabilisierung des privaten Bankensystems. Dazu Landes, Prometheus, S. 193–210; Henderson, State, S. 59 ff., 96 ff., 119 ff.; R. Tilly, Financial Institutions and Industrialization of the Rhineland 1815–1870, Madison 1966, S. 36–43, 78, 94 ff., 111 ff., 134–138. 61 In Preußen vor allem das Handels- und Gewerbeministerium, 1817–1825, 1830–1838 (dazwischen beim Innenministerium); 1844–1848 bestand es als preußisches Handelsamt, seit März 1848 als Min. f. Handel, Gewerbe und Ackerbau. Das Landwirtschaftsministerium wurde schon 1848 wieder ausgegliedert und 1859 mit Domänen und Forsten (vorher Finanzministerium) zusammengelegt. Im Zuge der Eisenbahnverstaatlichung wurde 1879 das Min. f. Öffentliche Arbeiten vom Handelsministerium abgetrennt. Zur Entwicklung in den anderen Staaten vgl. F. Facius, Wirtschaft und Staat, Die Entstehung der staatlichen Wirtschaftsverwaltung in Deutschland v. 17. Jh. bis 1945, Boppard 1959, S. 55–61. 62 Vgl. H. Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit, Berlin 1967. 63 So etwa J. Hirsch, Fortschritt, Frankfurt 1970, S. 32–33. 64 Die konservative ›Kehre‹ der preußischen Bürokratie wird von Koselleck, Preußen, S. 263, 337 ff., 467, auf die frühen 1820er Jahre, von Gillis, Aristocracy, S. 112 ff., in die vierziger Jahre datiert, wobei offenkundig verschiedene Maßstäbe an einen kontinuierlichen Prozess angelegt werden. Die Darlegungen von H. Rosenberg u. E. Kehr betonen mit Recht darüber hinaus das Element der Kontinuität bereits im Reformprozess selbst (1807 ff.). Für die spätere Zeit vgl. J. C. G. Röhl, Higher Civil Servants in Germany 1890–1900, in: JCH, Jg. 2, 1967, S. 101–121; W. Runge, Politik und Beamtentum im Parteienstaat, Stuttgart 1965, S. 169–179.
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von der Bürokratie erst mit geschaffenen und im Wachstum geförderten bürgerlichen Gesellschaft auch Ambitionen auf politische Herrschaft artikulierten, in demselben Maße zwangen sie die Verwaltung, die ihre Herrschaftsposition bedroht sah, immer tiefer in das Bündnis mit Militär und Landjunkertum zur Wahrung des Status quo hinein, in dem der vorher dominante innovatorische Impetus bürokratisch-staatlicher Politik weitgehend ebenso auf der Strecke blieb wie Eigengewicht und Stellenwert der Bürokratie im politischen Spektrum sich verringerten. Die Einrichtung des doppelten Instanzenzuges in der reformierten Kommunalverwaltung,65 die Zuordnung von beratenden Selbstverwaltungskörperschaften zu den jeweils präsidialen Elementen der Provinzund Kreisverwaltung,66 der in der Verfassung von 1850 sanktionierte pseudoparlamentarische Konstitutionalismus und das Heraufkommen teilweise sehr einflussreicher wirtschaftspolitischer Interessenvertretungen seit der Jahrhundertmitte (die ironischerweise zu einem großen Teil vorher aus der Initiative der Staatsmacht erst auf die Beine gestellt worden waren)67 markieren wichtige Etappen auf dem Wege der Einschränkung autonomer bürokratischer Machtfülle in Preußen. Von dieser profitierten allerdings nicht so sehr die Träger des bürgerlichen Industriekapitalismus, sondern vielmehr die Exponenten einer vorindustriellen, wenngleich seit Anfang des 19. Jahrhunderts kapitalistisch integrierten, in feudalen Analogien ständisch organisierten Gesellschaftsordnung. Hegels ehemals »allgemeiner Stand« des Staates, der seit den frühen 1820er Jahren kontinuierlich immer stärker zu einem Machtfaktor unter ande65 Die Steinsche Städteordnung erkannte die Tradition der kommunalen Selbstverwaltung an und verordnete die Wahl des Magistrats durch die Stadtverordneten; Bürgermeister und Magistrat waren einerseits dem Kommunalparlament verantwortlich, andererseits der Regierung gegenüber weisungsgebunden, insb. in jenen Bereichen, die sich später als Auftragsverwaltung konstituierten. In dem Maße, wie die eigenverantwortlichen (und selbstfinanzierten) Tätigkeiten, insbes. die Schul- und Armenlasten, die die preuß. Regierung den Kommunen zuschob, anstiegen, wurde die Selbstverwaltung gegenüber der Auftrags verwaltung gestärkt. 66 Provinziallandstände 1823 und Kreistage (Kreisverfassung 1825–1828). Dieses System wurde im Grundzug von der späteren Kreisordnung (1872) und Provinzialordnung (1873) übernommen und die Konsultation intensiviert, nicht zuletzt orientiert an dem von Gneist vermittelten Vorbild des englischen local government. Auch die beratende Beteiligung der kommunalen wie Land-Honoratioren im preuß. Staatsrat (seit 1817) förderte den ClearingProzess der Interessen. 67 Die landwirtschaftlichen Vereine seit 1809, zusammengefasst in den Provinzialvereinen und seit 1842 im preuß. Landesökonomiekollegium (1872 Dt. Landwirtschaftsrat) sowie seit den 40er Jahren die Handelskammern. Diesen Organisationen ist gemeinsam ihre allmähliche Privilegierung als halbstaatliche Selbstverwaltungskörperschaften sowie ihre spätere Unterwanderung durch energische freie Interessenverbände. Vgl. W. Fischer, Staatsverwaltung und Interessenverbände im Deutschen Reich 1871–1914, in: C. Böhret u. D. Grosser (Hg.), Interdependenzen von Politik und Wirtschaft, Fs. f. G. v. Eynern, Berlin 1967, S. 431–456; H. J. Puhle, Von der Agrarkrise zum Präfaschismus, Wiesbaden 1972, S. 21 ff., 46 ff., sowie den ersten Beitrag in diesem Band, u. H. A. Winkler, Pluralismus oder Protektionismus?, Wiesbaden 1972, S. 7 ff.
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ren geworden war, wurde so in politischer Hinsicht auch zum Bremsfaktor der Modernisierung.68 Die Bürokratie blieb jedoch nach wie vor der zentrale Kanal politischer Entscheidungen, Der Verlust autonomer und zielbewusst eingesetzter Macht in Preußen wurde zudem kompensiert durch den Macht- und Aufgabenzuwachs, den der seit 1866 erfolgende Aufbau der zentralen Reichsverwaltung und die Vereinheitlichung und Anpassung der Rechts- und Wirtschaftsordnung der deutschen Staaten gerade der preußischen Bürokratie brachten.69 Die föderale Grundkonzeption des Reichsaufbaus erschwerte zwar einerseits die Verwaltungskontrolle, komplizierte aber die Kompetenzverteilung und stärkte damit die quietistischen, mehr auf Konservierung als auf Veränderung gerichteten Tendenzen in der Verwaltung. In derselben Richtung wirkte sich die durch die Nachwirkungen des Booms und die Reichseinigung sowie die seit den siebziger Jahren zunehmende Aktivität des Staates in der Sozialpolitik provozierte weitere Auffächerung der Ämter und die Zunahme ihres bürokratischen Organisationsgrades aus.70 Auch die durch das allgemeine Reichstagswahlrecht und den weiten Bezugsrahmen Bismarckscher Politik gebotene Rücksichtnahme auf die Öffentlichkeit und die verstärkte wirtschaftspolitische Aktivität des Reichstages sowie klärende Vorabsprachen mit den großen und sehr initiativreichen Verbänden zwangen eher zur Zurückhaltung. Der Funktionszuwachs ist also nicht gekoppelt mit einem Zuwachs an Initiative oder Politisierung bei den Organen der Staatsmacht (eine Tendenz, die sich im Wohlfahrtsstaat fortsetzt), wie ihn später die Anstrengungen des Weltkrieges und die Bewältigung der Kriegs folgen in stärkerem Maße nahelegen sollten. Andererseits trifft aber auch die These von der ›Instrumentalisierung‹ der Bürokratie in den Händen der herrschenden Klasse(n), die in jüngster Zeit im Zusammenhang der Analyse des organisierten Kapitalismus und des spät kapitalistischen Wohlfahrtsstaates entwickelt und auf Deutschland nach 1879
68 E. Kehr, Das soziale System der Reaktion in Preußen unter dem Ministerium Puttkamer, in: ders., Primat, S. 64–86. 69 Neben dem Auswärtigen Amt, das von Preußen übernommen wurde, und dem Reichsjustiz amt (1877) als den beiden klassischen Ressorts wurden nacheinander aus dem ursprünglichen Reichskanzleramt ausgegliedert: das Reichseisenbahnamt (1873), das nach 1879 neben dem preuß. Ministerium f. Öffentl. Arbeiten ein Schattendasein führte, das Reichspostamt (1876/1880), die Verwaltung für Elsass-Lothringen (1877/1879) und das Reichsschatzamt (1879). Der restliche Torso der ›Reichskanzlei‹ (1878) konstituierte sich 1879 als Reichsamt des Innern. Vgl. R. Morsey, Die oberste Reichsverwaltung unter Bismarck 1867–1890, Münster 1957, S. 46–104, 114 ff., 127 ff., 210 ff., 277 ff. 70 Die Krankenversicherungsgesetzgebung datiert von 1883, Arbeiterunfallversicherung von 1884–1887, Invaliditäts- und Altersversicherung von 1889. Ein zusammenhängendes ›Wohlfahrts‹-System mit entsprechenden Ämtern wurde erst 1924 eingerichtet. Zur Ausweitung der Haushaltsvolumina der deutschen Staaten vgl. W. Gerloff, Die Finanz- und Zollpolitik des Deutschen Reiches nebst ihren Beziehungen zu Landes- und Gemeindefinanzen von der Gründung des Norddeutschen Bundes bis zur Gegenwart, Jena 1913, S. 521–547.
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bezogen worden ist,71 nur in begrenztem Rahmen zu, nämlich vor allem dort, wo die oligopolistische Konzentration ökonomischer Macht, parlamentarische Entscheidungsmöglichkeiten und Verbänden oder Konzernen konzedierte Freiräume politischen Einflusses vorausgesetzt werden können,72 also insbesondere in bestimmten Bereichen der Wirtschaftspolitik, nicht aber in der allgemeinen oder Sozialpolitik. Daneben standen jedoch weite Bereiche, in denen die Verwaltung weiterhin nicht nur ihrem Selbstverständnis nach, sondern auch tatsächlich souverän blieb und in bester preußischer Tradition selber eine »hochkonzentrierte gesellschaftliche Machtgruppierung« (Hirsch) war, die allerdings nach Bismarcks Rücktritt und dem Verlust energischer Führung oft nicht wusste, was mit der Macht anzufangen sei, der dann aber keineswegs immer – wie unterstellt wird – jemand aus dem ökonomischen Machtkartell hilfreich unter die Arme griff.73 Die Kontinuität der Rechtsordnung und der Rahmen des Konstitutionalismus ebenso wie die durch das etablierte Juristenmonopol gesicherte Abschirmung nach außen74 und die obrigkeitsstaatliche Tradition der staatlichen Reglementierung der politischen Kräfte bewahrten einer teils instrumentalisierten, teils angesichts zahlreicher nicht ausgefüllter macht politischer Vakua richtungslos sich selbst überlassenen Bürokratie ihren faktischen Anspruch auf das politische Erstgeburtsrecht in einem Staat, der es zum Parlamentarismus nicht brachte. In diesem Kontext kam dem ursprünglichen Selbstverständnis und der ursprünglichen Funktionsweise der preußischen Staatsverwaltung als Instrument gezielter, diktatorischer Entwicklungspolitik wieder erhöhte Bedeutung zu. Der Hintergrund dieser unterschwellig (wenn auch nicht immer explizit) durchaus politisch begriffenen und keineswegs – wie im britischen Civil Service – strikt neutralen Tradition einer initiativen Bürokratie, deren Bezugspunkt auch kein regierendes Parlament war, nicht einmal immer die Spitzen der Regierung, sondern in erster Linie sie selber, der ›Staat‹ in Gestalt seiner bürokratisch organisierten Verwaltungshierarchie, die da zu funktionieren hatte, dieser Hintergrund, der die preußische Bürokratie noch am ehesten zum Vorbild heutiger Entwicklungsländer werden ließ, machte der preußisch-deutschen Verwaltung den im 20. Jahrhundert in allen entwickelten Industrieländern notwendig werdenden Übergang zur umfassenden Leistungsverwaltung vergleichsweise leicht.
71 So etwa J. Hirsch, Fortschritt, S. 28 ff., bes. 32–33. 72 Auch Marx wollte die Instrumentalisierungsthese nur für das – in Deutschland erst ansatzweise vorhandene – parlamentarische System und abgesehen von den der Bürokratie inhärenten Verselbständigungstendenzen gelten lassen. 73 Hier wäre ohnehin stärker zu sektoralisieren. Vgl. die Beiträge in: G. Kress u. D. Senghaas (Hg.), Politikwissenschaft. Eine Einführung in ihre Probleme, Frankfurt 1969. 74 Der Übergang von der Kameralausbildung zum faktischen Juristenmonopol in der preußischen Verwaltung war bereits eingeleitet worden durch die Geschäftsinstruktion v. 23.10.1817 und das Prüfungsreglement für Landräte v. 1838, die den Wechsel vom Justizzum Verwaltungsdienst möglich machten.
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Er entzog sie aber andererseits in stärkerem Maße parlamentarischer und öffentlicher Kontrolle und ließ sie ganz gewiss nicht zu einer Triebkraft der Demokratisierung werden.
4. Konvergenztendenzen Die wirtschaftliche, politische und soziale Mobilisierung der letzten zwei hundert Jahre führte in den großen europäischen Staaten zur endgültigen und institutionalisierten Durchsetzung des bürokratischen Prinzips auf nahezu allen gesellschaftlich relevanten Ebenen. Unter bürokratischem Prinzip soll hier, in Anlehnung an Max Weber, im Wesentlichen ein einheitlich organisierter, formalisierter und kontinuierlicher, auf Routine und Schriftlichkeit (›Aktenherrschaft‹) beruhender Geschäftsgang in arbeitsteilig spezialisierten, ressortmäßig gegliederten hierarchischen Instanzenzügen verstanden werden, dessen leitende Prinzipien rationale Motivationen, Sachverstand und Disziplin sind und der es den nach definierbaren Qualifikationskriterien rekrutierten Dauerbeamten erlaubt, die von ihnen getroffenen Maßnahmen als legitimierte Auftragshandlungen im Interesse der Gesamtorganisation auszugeben. Im Bereich der öffentlichen Verwaltung machte sich dieser Wandel im 19. Jahrhundert bemerkbar in der departemental aufgefächerten Etablierung des modernen Staatsapparates, der von der vorherrschenden liberalen Staatstheorie als politisch neutrales Instrument der Exekutive verstanden wurde75 und dessen Träger, nach Funktionen und Wichtigkeit in verschiedene Gruppen und Klassen eingeteilte Beamte, sich als Funktionäre staatlicher Autorität begreifen durften.76 Doch die Frage, wer denn, konkret gesprochen, der ›Staat‹ gewesen ist, wer Herrschaft ausgeübt, öffentliche Zwecke artikuliert, die Staatsmacht eingesetzt und kontrolliert hat, weist bereits zurück auf das je konkrete politische System als Bezugsrahmen der Funktionen der Staatsverwaltung, außerhalb dessen eine nur formale, organisationssoziologische Betrachtung 75 Vgl. E. Pankoke, Sociale Bewegung, Sociale Frage, Sociale Politik, Stuttgart 1969, bes. S. 183–194. 76 Zu unterscheiden sind grundsätzlich vier grobe Kategorien: In Deutschland einfacher, mittlerer, gehobener und höherer Dienst; in Großbritannien: subclerical, clerical, executive und administrative class, in Frankreich: fonctionnaires subalternes, adjoints administratifs, secrétaires d’administration und administrateurs civils, die einander jedoch nicht immer genau entsprechen. Herausgehoben werden muss vor allem die Spitzengruppe der Ministerial bürokratie, die an politischen Entscheidungen beteiligt ist. Die Differenzierung ließe sich auf jeder Ebene fortsetzen. Der Fulton-Report (S. 104) weist im britischen Civil Service über 1400 Beamtenkategorien auf. Mit Bürokratie sind im Folgenden wesentlich die an politischen Entscheidungen beteiligten oder zu eigenen Entscheidungen ermächtigten oberen Ränge der Staatsverwaltung gemeint, in der Regel die Ministerialbürokratie und Teile des höheren Dienstes (bis hinunter zum Hilfsreferenten = Oberregierungsrat).
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des bürokratischen Phänomens unbefriedigend bleiben muss. Hätte man um 1820 noch mit einigem Recht auf die Frage nach dem Staat antworten können, in Großbritannien herrsche eine vom Parlament abhängige Regierung samt den faktisch souveränen Organen des local government, in Preußen dagegen die Bürokratie, so sind an der Wende zum 20. Jahrhundert in beiden Ländern Veränderungen festzustellen, die eine gewisse, für das 19. Jahrhundert charakteristische Konvergenz aufweisen: Die Macht des jeweils angestammten faktischen Souveräns wurde eingeschränkt, vor allem unter dem Druck des Funktionszuwachses der Verwaltung, der Demokratisierung des politischen Entscheidungsprozesses, wie er sich in der Ausweitung des Wahlrechts und des Bereichs politischer Öffentlichkeit niederschlug, und der zunehmenden Intervention intermediärer Gruppen mit vornehmlich ökonomischen und sozialpolitischen Zielsetzungen. In Großbritannien wurde das local government zurückgedrängt durch zentralistische und bürokratisierende Züge, in Preußen wurde der Zentralismus der Bürokratie eingedämmt durch zunehmende lokale und korporative Selbstverwaltung. Im einen Fall wurde die Verwaltung in die ökonomisch und sozialpolitisch interessanten Sektoren der Politik hineingezogen, im anderen Fall wurde ihr das Monopol auf diesen Sektoren streitig gemacht. Für die Verwaltung bedeutete das, dass ihre Aufgaben von ihrem politischen Gewicht her einheitlicher und in der Sache spezialisierter wurden, eine Tendenz, die die allmähliche Verlagerung der Auslesekriterien von der Patronage zum Sachverstand förderte;77 dass der einheitlich instrumentelle Charakter der Verwaltung, vornehmlich auf der mittleren und unteren Ebene, deutlicher hervortrat, aber andererseits der fachspezifisch motivierte Einfluss der Ministerialbürokratie auf den politischen Entscheidungsprozess keineswegs abnahm. Die Durchsetzung des bürokratischen Prinzips im 19. Jahrhundert blieb jedoch nicht auf die Staatsverwaltung beschränkt: Der Abbau der spätfeudalen Korporationsstrukturen und die Entfaltung von Konkurrenzwirtschaft und Industriekapitalismus beschleunigten seit der Jahrhundertmitte nicht nur im wirtschaftlichen Bereich die Etablierung privater Bürokratien, die sich in ihrer Funktionsweise von ihrem öffentlichen Pendant kaum unterschieden.78 Auch die im letzten Viertel des Jahrhunderts zunehmend einflussreichen politischen Organisationen der Gesellschaft, die Parteien und Interessenverbände, die den Anhang der Massen zu mobilisieren begannen, legten sich zur Steigerung der Effizienz ihrer Kampagnen bürokratisch strukturierte Apparate zu, die so77 Abgesichert durch bestimmte Qualifikationskriterien insbesondere für den höheren Dienst (Hochschulstudium), in Großbritannien ›open competition‹ ab 1870, in Deutschland Einführung des wahlweisen Regierungsreferendariats ab 1879. Vgl. Röhl, Civil Servants, S. 102 ff. 78 Vgl. J. Kocka, Vorindustrielle Faktoren in der deutschen Industrialisierung, in: M. Stürmer (Hg.), Das kaiserliche Deutschland, Düsseldorf 1970, S. 265–286.
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wohl ihren Organisationsgrad wie ihre Konfliktfähigkeit steigerten.79 ›Inter bürokratische‹ Beziehungen und Verhandlungen, bisher nur auf diplomatischer Ebene zwischen den Staaten üblich, begannen auch innenpolitisch zum Instrument einer entscheidungsvorbereitenden Interessenabklärung zwischen Staatsorganen und gesellschaftlichen Gruppen zu werden. ›Sachverständige‹ und ›Interessenten‹ waren (und sind) dabei in der Regel kaum noch zu trennen, eine Tatsache, die ebenso wie die weitaus häufigere informelle Koordination auf Referentenebene die angesichts der enorm fortschreitenden Spezialisierung der Materien bis heute ungelöste Frage aufwirft, wer denn am Ende, wenn die interessierten Privat-Bürokraten womöglich die einzigen sind, die die in den Bereich ihres Interesses fallenden Maßnahmen der Staatsverwaltung noch angemessen prüfen und kontrollieren können, eben jene Privat-Bürokraten verantwortlich beauftragt und kontrolliert. Mit einem zusätzlichen Feld relativ schwer zu kontrollierender interbürokratischer Beziehungen ebenso wie mit grundsätzlichen Strukturproblemen der Verwaltung industrieller Flächenstaaten wurde insbesondere die deutsche Politik und Bürokratie durch die Folgen der Reichseinigung konfrontiert unter dem Stichwort: Föderalismus. Die bundesstaatliche Organisation wird entscheidend geprägt durch die jeweils konkrete Verteilung der Kompetenzen, Aufgaben und vor allem der Steuern und Finanzen zwischen Bund und Einzelstaaten. Hier fand in den letzten hundert Jahren zunächst im Zuge des Ausbaus der Reichsbehörden und später auf Grund des Aufgabenzuwachses im Gefolge von Weltkrieg, staatlicher Reorganisation und Wirtschaftskrise ein Prozess der Ämtervermehrung auf allen Ebenen statt, dergestalt, dass schon am Ende der Weimarer Republik über die ›Rivalität von zwei Zentralregierungen‹ geklagt wurde und Pläne zur Auflösung des preußischen Staates und zur Dezentra lisierung seiner Verwaltung, deren Stärke gegenüber der Reichsverwaltung vor allem in ihrer ausgeprägten regionalen Zusammenfassung lag, an der Tagesordnung waren.80 Auf der anderen Seite haben die Verwaltungstätigkeit, der Einfluss und das Gewicht der Zentralmacht insgesamt kontinuierlich auf Kosten der Einzelstaaten zugenommen, was besonders deutlich wird an der Verteilung der Steuereinkünfte und finanziellen Lasten.81 War das Bismarckreich 79 Allein die französische Politik blieb auf diesem Gebiet bis heute unterentwickelt; die Parteien basieren weiterhin auf lokalen Honoratiorengruppen. In England begann die zunehmende Parteiorganisation in den großen Wahlkampagnen der 1860er Jahre, in Deutschland in den 70er Jahren, die Organisation stärker bürokratisierter Verbände vor allem in den 90er Jahren. 80 Vgl. A. Brecht, Föderalismus, Reginalismus und die Teilung Preußens, Bonn 1949, S. 117 ff., 126 ff., 146 ff., 153 ff. 81 Die öffentlichen Ausgaben entfielen 1913 zu 32 % auf das Reich, 28 % auf die Einzelstaaten, 40 % auf die Gemeinden; 1958: 44 % auf den Bund, 32 % auf die Länder und 24 % auf die Gemeinden. Die öffentlichen Einnahmen 1910 zu 21 % auf das Reich, 44 % auf die Einzel staaten, 35 % auf die Gemeinden; 1958: 52 % auf den Bund, 30 % auf die Länder, 18 % auf die Gemeinden.
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trotz seiner im Vergleich zu anderen Bundesstaaten fast schon zentralistisch anmutenden Züge auf manchen Sektoren82 dank seiner Finanzverfassung und der ›Franckensteinschen Klausel‹ im Wesentlichen noch ein Kostgänger der Einzelstaaten gewesen,83 so dämmten die Zuständigkeitsregelungen der Weimarer Reichsverfassung84 und die Erzbergerschen Finanzreformen von 1919/20 die einzelstaatliche Macht entscheidend ein85 und legten den institutionellen Grund für die endgültige Dominanz der Reichsverwaltung. Dazu trugen die Übernahme der Finanz- und Eisenbahnverwaltung durch das Reich, die Diversifikation der staatlichen Dienstleistungen, die Notwendigkeit der Verkehrsplanung, zunehmende ökonomische Aktivität des Reiches ebenso bei wie die angewachsenen interbürokratischen Koordinationsaufgaben bei der Verteilung der Sozialleistungen86 und der Bewältigung der Probleme des Finanzausgleichs.87 82 Angelegt vor allem in der grundsätzlichen Zuständigkeit des Reiches für Handel und Wirtschaft. Hier liegt auch eine Ursache dafür, dass in Deutschland der Föderalismus einer zentralen Wirtschaftsregelung weniger im Wege stand als etwa in den USA, deren Bundesregierung im Wesentlichen nur für zwischenstaatlichen Handel und Währungsfragen zuständig ist. Vgl. H. Ehrmann, Funktionswandel der demokratischen Institutionen in den USA, in: Löwenthal (Hg.), Demokratie, S. 29–55. 83 Die Franckensteinsche Klausel (1879) begrenzte die direkten Einnahmen des Reiches aus Zöllen und Tabaksteuer auf insgesamt 130 Mio. Mark; Überschüsse mussten an die Einzelstaaten abgeführt werden, die ihrerseits den Mehrbedarf des Reiches durch bedarfsweise jeweils festgesetzte Matrikularbeiträge zu decken hatten. Die Reformen von 1904, 1906 und vor allem 1913 bewirkten jedoch bereits ein kontinuierliches Ansteigen des Saldos zu Lasten der Länder. 84 Das Bismarckreich war im Wesentlichen zuständig gewesen für Handel u. Gewerbe, Versicherungswesen, Vereinswesen, Post, Presse, Strafrecht und Gerichtsorganisation. Nach 1919 kamen vor allem die Rahmenkompetenzen der Grundsatz- und Bedürfnisgesetzgebung. (Art. 9–11 WRV) hinzu sowie Zuständigkeiten im Boden- und Arbeitsrecht, Siedlungs- und Wohnungswesen, Beamtenrecht, Arbeiterschutz und Arbeitsvermittlung. 85 Die entscheidende Neuerung war, dass außer Realsteuern (Grund-, Gebäude- u. Gewerbesteuern) und lokalen Steuern, die im Wesentlichen den Gemeinden und z. T. den Ländern vorbehalten waren, alle Steuern an das Reich fielen und vom Reich verwaltet wurden, das den Ländern aus Einkommen-, Körperschaft- (je 75 %) und Umsatzsteuer (30 %) feste Anteile überwies. 86 1931 wurden allein 3,2 Mrd. Mark für Arbeitslosenfürsorge gezahlt, davon je rund ⅓ von der Reichsversicherungsanstalt, von den Gemeinden und vom Reich, das die beiden anderen Geldgeber zusätzlich subventionierte (die Gemeinden sogar ohne die Möglichkeit der Kontrolle). Vgl. Brecht, Föderalismus, S. 113–117. 87 Das Finanzausgleichsgesetz v. 23.6.1923 sah eine sehr schematische Regelung insofern vor, als diejenigen einkommensschwachen Länder, deren Durchschnittssteuereinkommen pro Kopf der Bevölkerung 80 % des Reichsdurchschnitts nicht erreichte, über die ihnen zu stehenden 75 % der Einkommensteuer hinaus zusätzlich so viel erhalten sollten, dass eben jene 80 % des Reichsdurchschnitts erreicht würden. Die heute reformbedürftige Finanzverfassung der BRD, die dem Bund die generelle Ertragshoheit für Zölle, Monopole, Verbrauchsteuern (außer Bier), Beförderung- und Umsatzsteuer, den Ländern die anderen Verkehrssteuern, Vermögens- und Erbschaftssteuer und vor allem Einkommen- und Körperschaftsteuern (den Gemeinden im wesentlichen Realsteuern) zuweist, sieht ein differenzierteres System horizontalen und vertikalen Finanzausgleichs vor, das wesentlich auf
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Der Trend zur Zentralisierung der Verwaltungsfunktionen und Machtkompetenzen sowie der dazugehörigen Ressourcen war bereits deutlich erkennbar, bevor die Nationalsozialisten sich daran machten, die Reste des Föderalismus vorübergehend gewaltsam zu beseitigen.88 Er war u. a. angelegt in den im Ersten Weltkrieg gesammelten Erfahrungen zentral geplanter Massenorganisation auf dem Produktions- und Versorgungssektor unter Beteiligung der mächtigen Verbände,89 in den bewussten Kompetenzverschiebungen in der Weimarer Verfassung und deren Ausgestaltung auf dem Wege der Gesetzgebung und dem – auch von emanzipatorischen Motiven geleiteten – neuerlichen Anstoß staatlicher Sozialpolitik und Arbeitsmarktlenkung sowie in den zu Disziplinierungsmaßnahmen und Koordination zwingenden Auswirkungen der Wirtschaftskrise seit Ende der zwanziger Jahre.90 Auch im föderalen System der Bundesrepublik wirken sich die Erfordernisse zentraler Planung immer umfassenderer Bereiche und die Notwendigkeit der Koordination divergierender Landesplanungen (z. B. auf dem Gebiet der Raumordnung und Verkehrsplanung, auf dem Hochschulsektor und in der An gleichung der bildungspolitischen Gesamtplanungen, bei Umwelt- und Küstenschutz) zunehmend zugunsten einer Stärkung der zentralen Staatsmacht über die Verfassungskonzeption hinaus aus, eine Tendenz, die – in anderem Kontext, aber in gleicher Richtung – auch in den USA und in der Schweiz zu beobachten ist und sich u. a. niedergeschlagen hat in Tendenzen zur Reduzierung der kommunalen Autonomie, in der Verankerung der sogenannten Gemeinschaftsaufgaben im Grundgesetz und dem zunehmenden Zwang zur Abstimmung mit der Bundesregierung auch für jene faktisch kaum noch kontrollierbaren Selbstkoordinationsorgane eines ›kooperativen Föderalismus‹ der Länder (z. B. Kultusministerkonferenz), der seiner Intention nach den Zentralisationstendenzen entgegenwirken sollte.91 Den Tendenzen zur Zentralisierung und zur Beschneidung vormals auto nomer Bereiche im Bundesstaat entsprechen auf Grund politischen Drucks und technischer Erfordernisse heute auf der anderen Seite in den traditionellen Einheitsstaaten Tendenzen zur Dezentralisierung, Regionalisierung und zur Verder nur kurz- oder mittelfristig geregelten Inanspruchnahme von (kontinuierlich erhöhten) Anteilen an Körperschaft- und Einkommensteuer (in Höhe von rund ⅓) durch den Bund basiert. 88 Dass dabei die NS-Organisation der Institutionen der Wirtschafts- und Sozialordnung keineswegs zu einer einheitlichen und zentral geplanten Wirtschaftspolitik geführt hat, ist inzwischen vor allem durch die Arbeiten von Tim Mason bekannt. Vgl. T. Mason, Der Primat der Politik, in: Das Argument, H. 41, 1966, S. 473–494. 89 Vgl. dazu vor allem G. D. Feldman, Army, Industry and Labor in Germany 1914–1918, Princeton 1966, 116 ff. 90 Vgl. die Details in L. Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Stuttgart 1949. 91 Vgl. U. Scheuner, Wandlungen des Föderalismus in der Bundesrepublik, in: Die Öffentliche Verwaltung, Jg. 19, 1966, S. 513 ff., u. W. Kewenig, Kooperativer Föderalismus und bundesstaatliche Ordnung, in: AöR, Jg. 93, 1968, S. 433–484.
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mehrung der Freiräume autonomer Disposition auf mittlerer Ebene, die teils bereits institutionell verankert sind (Italien), teils noch zögernd den Weg des geringsten Widerstands zwischen technologischer Entwicklungsplanung und Notabeln-Tradition suchen (Frankreich).92 Die historischen Entwicklungsdifferenzen zeigen auch hier eine Neigung zur Konvergenz.
5. Auf dem Weg zum Wohlfahrtsstaat: Organisierter Kapitalismus, Bürokratie und das Problem der Macht Industrialisierung und Demokratisierung, die beiden das 19. Jahrhundert beherrschenden gesellschaftlichen Prozesse, die Entfaltung des sich zunehmend organisierenden Industriekapitalismus und die Organisation der zur verstärkten politischen Partizipation drängenden Massen, haben den Aufgabenbereich der Staatsmacht erheblich ausgeweitet und entscheidend beigetragen zur Ausformung der modernen Staatsverwaltung und ihrer bürokratischen Mechanismen mit bestimmten Tendenzen zur Konvergenz der historisch bedingten nationalen Differenzen. Die Umwälzungen des 19. Jahrhunderts haben jedoch insgesamt noch nicht dazu geführt, dass die Staatsmacht selber in Gestalt ihrer Verwaltungsapparaturen zur regulierenden Agentur des gesellschaftlichen Interessenausgleichs wurde, wie es scharfsinnige Zeitgenossen schon im letzten Drittel des Jahrhunderts für bestimmte Konstellationen der sozialen Machtverteilung voraussagten93 oder gar als unausweichlich und wünschenswert ansahen.94 Dieser Prozess, der erst im 20. Jahrhundert, besonders nach dem Ersten Weltkrieg, allmählich zum Durchbruch gelangte, seitdem aber mit zunehmender Beschleunigung abläuft, kann hier nur umrisshaft angedeutet werden: Er ist in erster Linie charakterisiert durch die weitgehende Verschränkung der Bereiche von Staat und Gesellschaft, Öffentlichkeit und gesamtgesellschaftlich legi92 In Frankreich hat die massive Solidarität der angestammten Departementspräfekten gegenüber den Präfekten der neuen (21) Regionen und ihren Beratungsorganen (CODER) zu neuerlicher präventiver Zentralisierung und strikter Trennung des Planungsbudgets vom ordentlichen Haushalt geführt und das Tempo der Verwaltungsreformen erheblich gebremst. Vgl. die Rede Pompidous, in: Le Monde 1./2.11.1970, S. 8. 93 Zu den Ausführungen von Friedrich Engels über die Herrschaft der sich verselbständigenden Bürokratie bei Klassengleichgewicht vgl.: I. Fetscher, Marxismus. 94 Besondere Beachtung verdienen die in diesem Zusammenhang sehr weit vorausgreifenden Beobachtungen Lorenz vom Steins über die notwendige Aufhebung des Auseinandertretens von Staat und Gesellschaft in einer interventionistischen sozialen Demokratie, in der der verwaltende Staat der gesellschaftlichen Ungleichheit im Sinne der Gleichheit entgegentritt; L. v. Stein, Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaften Deutschlands, Stuttgart 1876, S. 294; ders., Die Verwaltungslehre, Stuttgart 18692 (Neudruck Aalen 1962), II, S. 10, 23, 28; ders., Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage (1850), München 1921, I, S. 3, 122 ff., III, S. 140 f., 206 f.
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timierter Macht einerseits und Privatinteressen andererseits, den endgültigen Übergang zum (monopolistisch oder oligopolitisch) organisierten Kapitalismus im Bereich der Produktion und Verteilung und die Transformation des liberalen Rechtsstaats in den Sozial- oder Wohlfahrtsstaat mit einem umfassenden Auftrag eigenen Rechts zur Daseinsvorsorge für seine Bürger, der konsequent, (mehr oder weniger) geplant und gezielt und vor allem selbstverständlich in die Gesellschaft interveniert.95 Der sich in den letzten zwanzig Jahren abzeichnende und erst in jüngster Zeit von Daniel Bell und anderen ausdrücklich thematisierte Übergang zur »nachindustriellen Gesellschaft«, die sich vornehmlich um die Organisation von Wissen und Kenntnissen zentriert,96 stellt eine vorerst letzte Phase dieses Prozesses dar, der den Charakter staatlicher Macht und Organisation verändert: Die Funktionen des ›alten‹ Staates der Ordnung, Sicherung des Status quo und ›guter Policey‹, die nach wie vor, wenn auch zuweilen in verändertem Kontext, wahrgenommen werden müssen, werden zunehmend überlagert von den Leistungsfunktionen des ›neuen‹ Staates, der nicht mehr das Gegenüber oder gar der Gegner der Gesellschaft ist, sondern eine kollektive Veranstaltung permanenter Planung, Verteilung, Leistung, Prüfung und (zumindest versuchter) Kontrolle, einmal zum Zwecke einer möglichst störungsfreien Steigerung des Bruttosozialprodukts97 (die Komponente des disziplinierenden ›Systemzwangs‹), zum anderen aber auch zur Sicherung von Lebenschancen und Freiheitsräumen für Menschen (die Komponente des emanzipatorischen Potentials). In der Spannung zwischen diesen beiden (keineswegs immer, aber oft gegensätzlichen) Zwecken liegen zugleich die neuralgischen Punkte der gegenwärtigen Diskussion über die Vorteile und Gefahren der ›Technokratie‹ und die vermeintliche Bedrohung durch den totalen Verwaltungsstaat, die in der Tat erst in dem
95 Der ›Sozialstaat‹ oder ›tendenzielle Wohlfahrtsstaat‹ im hier definierten Sinn ist weitgehend identisch mit dem interventionistischen staatlichen Sektor im Verständnis der ersten Ansätze zu einer Theorie des ›organisierten Kapitalismus‹. Zum Begriff des ›organisierten Kapitalismus‹ vgl. R. Hilferding, Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik, in: Sozialdemokratischer Parteitag, Kiel 1927 (Protokoll), Berlin 1927, S. 165–184.; F. Naphtali, Wirtschaftsdemokratie (1928), Frankfurt 1966, S. 26–41, sowie W. Sombart, Die Zukunft des Kapitalismus, Berlin 1932, und H. A. Winkler (Hg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1974. Die Werke von M. Dobb, Organisierter Kapitalismus, Frankfurt 1966, u. P. A. Baran u. P. M. Sweezy, Monopolkapital, Frankfurt 1967, sind relativ unergiebig zur Erhellung der Rolle des Staates. Dazu vgl. vor allem die Pionierarbeiten von P. Sering (= R. Löwenthal), Die Wandlungen des Kapitalismus, in: Zeitschrift für Sozialismus, Karlsbad 1935/6, Nachdruck 1969, S. 7–28, bes. 14 ff., 19 ff., u. ders., Jenseits des Kapitalismus, Lauf 1946, S. 35 ff., 76 ff. 96 D. Bell, The Coming of Post-Industrial Society, New York 1973. 97 Die BSP-Zuwachsrate gilt heute allgemein als grundlegender Indikator für Entwicklung und Fortschritt eines Landes; so gerechtfertigt das ceteris paribus und im Vergleich ist, so sehr muss doch, ebenso wie bei der Pro-Kopf-Berechnung, auf die genaue Analyse der Bedingungen verwiesen werden.
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Moment besonders virulent werden musste,98 als offenkundig war, dass die Staatsmacht nicht mehr auf den im engeren Sinne des traditionellen Verständnisses ›politischen‹ Bereich beschränkt bleiben konnte, in dem man sie (notfalls auch durch die Notbremse der Revolution) schon irgendwie meinte unter Kontrolle halten zu können, sondern sie immer stärker reglementierend, initiativ, Notwendiges leistend und daher sich unentbehrlich (und mithin das Ziehen der Notbremse gefährlich) machend, auf alle Lebensbereiche ausgriff. Außerdem nahm mit den Aufgaben der Staatsmacht auch die Vielfalt des ihr zur Verfügung stehenden Instrumentariums zu, vor allem im Bereich der Konjunktur- und Finanzpolitik unter sozial- und strukturpolitischen Gesichtspunkten, z. B. im Einsatz der Steuerpolitik nicht mehr allein unter fiskalischen Gesichtspunkten, sondern als Instrument von Einkommensumverteilung, sektoral begünstigender Gewerbeförderung, zur Verbesserung der Infrastruktur und neuerdings auch zur Lenkung der Umweltbedingungen, in der staatlichen Tätigkeit als Unternehmer und auf dem Geld- und Kreditmarkt,99 sowie als Planungs- und Subventionierungsinstanz.100 Da die Handhabung dieses Instrumentariums ebenso wie die Vorbereitung seiner legislatorischen Bereitstellung, die alternative Vorausberechnung der Folgen und die Einordnung von Einzelmaßnahmen in prospektive Gesamtplanungen jeweils hochgradig spezialisiertes Fachwissen erfordern, steigt in Bezug auf die jeweilige Materie der gestaltende Einfluss der Verwaltungsbeamten, insbesondere der Ministerial bürokratie, des »nicht rein bürokratischen (d. h. halbpolitischen, HJP) Elements« an der »Spitze« (M. Weber), und der technischen Experten von außen sowie der Spezialisierungsgrad der im Parlament daran mitwirkenden Politiker, deren Zahl (und deren gestaltendes und kontrollierendes Potential) allerdings wesentlich geringer ist. Dabei hat sich die frühere Arbeitsteilung zwischen gestaltender Regierung und kontrollierendem Parlament sowie zwischen politisch verantwortlicher Regierung und politisch ›neutraler‹, entscheidungsvorbereitender 98 Die Technokratiediskussion begann – abgesehen von einer kurzfristigen technokratischen Euphorie in den USA im Zuge des New Deal nach 1933 – erst Mitte der fünfziger Jahre in Frankreich mit der Auseinandersetzung um die ›planification‹ und die Schriften von J. Ellul und J. Meynaud, in Deutschland 1961 als Reaktion auf die technokratischen Thesen von H. Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, Köln 1961. 99 Defizitäre Haushaltsplanung und organisiertes ›deficit spending‹ (im Anschluss an die Lehren von J. M. Keynes) wurden zuerst ab 1930 in den angelsächsischen Ländern und in Skandinavien eingeführt. 100 Bemerkenswert ist z. B. die Ausweitung des staatlichen Haushalts in der BRD: 1956: 30,6 Mrd. DM; 1962: 53,5 Mrd.; 1971: 100,1 Mrd.; 1971 und (1962) entfielen auf: Verteidigung 21,9 (16,5) Mrd.; Arbeit u. Soziales 19,6 (16,5); Verkehr 11,5 (4,6); Landwirtschaft 6,9 (3,6); Sonstiges 40,2 (12,3) Mrd. Von den sonstigen Ausgaben wurde 1971 die Hälfte für Leistungen und ›neue‹ Aufgaben eingesetzt: Jugend u. Familie/Gesundheit 4,2, Versorgung 4, Bildung und Wissenschaft 4, Städtebau und Wohnungswesen 2,6, Post 1,9, Entwicklungshilfe 2,5 Mrd. DM. Die Sozialleistungen des Staates betrugen 1968: 89 Mrd. (davon entfielen auf den Bund 22,3 Mrd.); die Kosten sozialer Sicherung für 1972 wurden auf 126,8 Mrd. (i. e. ca. 20 % des BSP) geschätzt.
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und ausführender Verwaltungsbürokratie verschoben. Das Montesquieusche Gewaltenteilungsschema hat zwar die Wirklichkeit nie so recht getroffen; doch geht die faktische Integration der Exponenten der drei erwähnten Gruppen in gemeinsame Entscheidungsgremien und politische Führungsstäbe sowie die Tatsache, dass praktisch in der Regel die Verwaltungsbürokratie nicht nur beim Erlass von Verordnungen, sondern auch als Gesetzgeber tätig ist,101 weit über das hinaus, was die ältere politische Theorie der parlamentarischen Demokratie, die immer noch auf einer getrennt von der Exekutive institutionalisierten Gesamtkontrolle bestand, akzeptieren konnte.102 Wenn (und daran kann offenbar kein Zweifel bestehen) die Durchsetzung des interventionistischen Sozialstaates zugleich die Durchbürokratisierung der Staatsmacht und aller Sektoren ihres Einzugsbereichs bedeutet, dann ist die zunehmende Unmöglichkeit der (sachlichen wie politischen) Kontrolle die Achillesferse dieses Staates und die Tendenz zur Technokratie, zur Herrschaft sachkundig spezialisierter Experten, sein Schicksal. Dabei tritt neben den traditionellen Typ des in der Regel (in der BRD und in Frankreich, nicht in Großbritannien) juristisch ausgebildeten und auf einen geordneten Verwaltungsgang bedachten Bürokraten (vor allem in den klassischen Ressorts der Innen- und Finanzverwaltung) der neue Typ des primär an Effizienzmaximierung und Planung orientierten, in der Regel ökonomisch oder technisch ausgebildeten Technokraten. Hinzu kommen noch andere Faktoren: In dem Maße, in dem der Staat als »ideeller Gesamtkapitalist«,103 einerseits als größter Unternehmer, Finanzier und Kreditgarant, Konsument und Kunde, andererseits als zentrale Dienstleistungsinstitution in immer weitere Bereiche des wirtschaftlichen und sozialen Lebens ausgreift und sie in Abhängigkeit bringt,104 in demselben Maße werden 101 Im Prozess der Formulierung von Anfragen und Gesetzesvorlagen (›Formulierungshilfe‹), vor allem bei der Haushaltsplanung (zur Zeit wohl dem Feld engster Zusammenarbeit zwischen Parlamentariern und Ministerialbeamten), ebenso wie etwa bei der Beratung wirtschafts- oder finanzpolitischer Einzelmaßnahmen, Geldvergabe, Untersuchungen und Hearings, was oft dazu führt, dass bereits an der Planung und der informellen Abstimmung der Modifikationen der Ausführung Beteiligte später formell für die Kontrolle zuständig sind. 102 Zur theoretischen Neuorientierung in Richtung auf eine gleichzeitige Kontrolle im Prozess kooperativer Gestaltung selbst (und weniger ex post), die allerdings die Lokalisierung der Verantwortung erheblich erschwert, vgl. vor allem: U. Scheuner, Das parlamentarische Regierungssystem in der Bundesrepublik, Probleme und Entwicklungslinien (1957), in: T. Stammen (Hg.), Strukturwandel, S. 296–312; ders., Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, in: T. Ritterspach u. W. Geiger (Hg.), Fs. f. G. Müller, Tübingen 1970, S. 392 ff. 103 F. Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1880), in: MEW Bd. 19, Berlin 1962, S. 177–228, bes. 222. 104 Der Anteil der Ausgaben der öffentlichen Hand am BSP stieg von 1913 ca. 15 % auf 1968 ca. 40 %. Die Funktionen sind allerdings nicht immer scharf zu trennen, z. B. bei der umfassenden Bautätigkeit der öffentlichen Hand, die den größten Anteil des Baumarktes überhaupt stellt.
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Autonomie und politisches Eigengewicht der gesellschaftlichen Gruppen reduziert, ihre Organisationsformen, Parteien und Verbände, mediatisiert und damit das Potential parlamentarischer und öffentlicher Kontrolle herabgemindert. Der Machtverlust der Parlamente gegenüber Regierung und Verwaltung ist nicht nur funktional bedingt; er liegt auch in der Substanz. Die Transformation der großen politischen Parteien zu einander sich anähnelnden »Allerwelts parteien«105 nach Verlust ihrer jeweiligen ideellen, konfessionellen oder Klassenbasis, ihre auch im Zeichen einer vorgeblichen ›Reideologisierung‹ der Politik noch ausgeprägte Neigung zur Affirmation des vermeintlichen, permanent demoskopisch ermittelten Wählerwillens und zur Sicherung der weitgehend an die Stelle traditioneller Legitimation getretenen ›Massenloyalität‹ (C. Offe) überlässt außerdem die Beeinflussung dieses Wählerwillens, das, was Liberalen und Sozialisten vormals politische Erziehung (also eine politische Aufgabe) war, teilweise der Privatwirtschaft, teilweise dem Staat. Und auch die größeren Interessenverbände haben sich – teils ohne Alternative, teils ohne Not – zu immer engeren Arrangements mit der Staatsmacht verstanden, die durch die öffentliche Institutionalisierung des Schutzes der vormals durch private Assoziationen verteidigten Interessen auch hier tendenziell Bereiche der Gesellschaft verstaatlicht, Bereiche des Staates privatisiert und beide Sphären eng miteinander verzahnt hat.106 Der Staat hat nicht nur Aufgaben zusätzlich übernommen, sondern durch die regulierende Hineinnahme zahlreicher vormals im vorstaatlichen Bereich ausgetragener Konflikte in die staatliche Sphäre auch seine Qualität verändert. Er ist nicht mehr so sehr Exekutor eines konfliktiv herausgearbeiteten Mehrheitswillens als vielmehr die auf den Ausgleich der Interessen vor dem artikulierten Ausbruch des Konflikts bedachte Schlichtungsstelle par excellence. Der pluralistische Staat des Kompromisses zeigt allmählich eine sichtbare Neigung, zum Staat der vollendeten Tatsachen zu werden; der Konflikt pluralismus tendiert zum Proporzpluralismus. Hier muss nun die Frage gestellt werden, wie denn die Staatsmacht die ihr zugewachsenen neuen Funktionen und Qualitäten auszufüllen imstande ist. Wenn die Antwort darauf nach allem, was bisher absehbar ist, wohl wird lauten müssen: minimal, zögernd und auf Stabilisierung bedacht, dann hat das eine ganze Reihe struktureller Gründe. Zum einen unterliegen die Politiker, die jeweils nur temporär in den Besitz der Staatsmacht gelangen, permanent dem Zwang zur eher kurzfristigen, an wahltaktischen Erfordernissen ausgerichteten Orientierung, die die im Verlust der scharf umrissenen Interessenposition und der Tendenz zur ›Volkspartei‹ bereits angelegte Zunahme der Unverbindlichkeit und den mehr und mehr reaktiven Charakter ihrer Programmatik noch verstärkt. Zum anderen tendiert der kontinuierlich arbeitende Sektor der Staats105 O. Kirchheimer, Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: PVS, Jg. 6, 1965, S. 41. 106 Vgl. J. Hirsch, Ansätze, S. 190 ff., 269 ff.; F. Rönneberger, Verwaltungshandeln in der entwickelten Industriegesellschaft, in: Der Staat, Jg. 2, 1963, S. 129–152, bes. 131 ff., 149 ff.
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macht, ihr bürokratischer Apparat, der nach überliefertem Verständnis weder politisch entscheiden, planen und führen kann noch soll, aber durch den Rückzug der Politiker hinter den Schutzwall kurzfristiger Taktik oft gerade dazu gezwungen wird, sich selbst überlassen, eher zu verunsichertem Immobilismus als zu planerischer Initiative, mehr zu kritischer Selbstbespiegelung (die etwa deutlich wird in der kurzfristigen und rapiden Vermehrung der Organisationsabteilungen auf allen Ebenen) als zur Suche nach den Alternativen sachbezogener Handlungsorientierungen. Das liegt nicht nur daran, dass die unverändert fortbestehenden, nach Zweckrationalität, aber zielneutral ausgerichteten bürokratischen Organisationsprinzipien der Verwaltung institutionelle Beharrlichkeit implizieren und nicht Wandel,107 eine Neigung, die durch die Zunahme der Möglichkeit öffentlicher Kontrolle in diesem Jahrhundert nur noch gefördert worden ist.108 Das liegt auch daran, dass die ineinandergreifenden komplexen Mechanismen und gesteigerten Interdependenzen des tendenziellen Sozialstaates wie des spätkapitalistischen Wirtschaftssystems die Furcht, durch strukturelle Reformen an einer Stelle anderswo Krisen aufzurühren, vermehrt haben und eher ein Minimum stabilitätssichernder Dauerregulierung, allenfalls »technisch interpretierte Vermeidungsimperative« anraten,109 eine Lösung, die überdies am ehesten die Argumentation der eigentlichen Technokraten, der längerfristig planenden Experten, mit derjenigen der auf formale Legitimation bedachten älteren Verwaltungsbürokratie versöhnen kann,110 das langfristige Stabilisierungspotential der Bürokratie aber herabmindert.111 Die aus der Furcht, am Ende unübersehbare Konflikte heraufzubeschwören, geborene Neigung zur Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, zur Minimallösung, scheint ein Kennzeichen des gesamten politischen Systems des verwaltenden Sozialstaats zu sein; sie ist keineswegs beschränkt auf die Verwaltungsbürokratie, in deren höheren Rängen sogar (auf Grund der relativen Unabhängigkeit und Kontinuität ihrer Positionen) oft geringer ausgeprägt als bei 107 Die Bürokratie ist trotz mancher technokratischer Züge eben noch überwiegend ›Webersche‹ und nicht etwa am Prinzip der Wohlfahrtsmaximierung orientierte neue ›Welfare‹Bürokratie, noch dazu mit einer Tendenz zur Selbstgenügsamkeit und zu allenfalls mittelständischem gesellschaftlichen Bewusstsein, sogar im Widerstand eher konservativ als neuerungswillig; dazu: R. V. Presthus, Weberian vs. Welfare Bureaucracy in Traditional Society, in: Administrative Science Quarterly, Jg. 6, 1961/2, S. 1–24, bes. 2–4; F. MorsteinMarx, Grundsätzliche Erwägungen über die Zukunft des Berufsbeamtentums, D. V.Bl. 1955, S. 9; H. v. Borch, Obrigkeit und Widerstand, Tübingen 1954, S. 12 ff.; H. Sultan, Bürokratie und politische Machtbildung, in: H. Sultan u. W. Abendroth, Bürokratischer Verwaltungsstaat und soziale Demokratie, Hannover 1955, S. 32 ff. 108 H. J. Laski, Bureaucracy, in: ESS, New York (1930) 1953, III, S. 70–74, bes. 71 f. 109 Vgl. C. Offe, Politische Herrschaft und Klassenstrukturen, in: Kress u. Senghaas (Hg.), Politikw issenschaft, S. 187. 110 Vgl. vor allem F. Morstein-Marx, The Higher Civil Service as an Action Group in Western Political Development, in: La Palombara (Hg.), Bureaucracy, S. 62–95, bes. 66 ff., 74 ff., 86, 93 ff. 111 Vgl. die Kritik von J. Hirsch, Fortschritt, S. 264, gegenüber Habermas, Offe u. Huffschmid.
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Politikern. Es muss aber festgehalten werden, dass auch die dazu am ehesten prädestinierten bürokratischen Organe der Staatsmacht bisher nirgendwo imstande gewesen sind, die dem Staat auf Grund der enormen Funktionsausweitung zugewachsene neue Rolle auszugestalten zu einem wirklich technokratischen System, in dem allein rational einsehbare Sachzwänge an die Stelle der Politik treten. Selbst in Frankreich, dessen Ausbildungssystem (Gründung der ENA 1945) und gesetzliche Grundlagen (planification ab 1946) technokra tischen Vorstellungen am nächsten kämen, wurde der institutionalisierte Sachverstand im Laufe der Fünften Republik bislang zunehmend in den Schatten der Politik gedrängt, teilweise auch deshalb, weil eine zentrale Planungsbehörde fehlt, die die Informationssammlung der Commission Générale und die Detailarbeit der rund 30 Modernisierungskommissionen koordinieren könnte.112 Der die Gesellschaft verwaltende Staat hat zwar den Bereich seiner Macht abstrakt vergrößert; aber dieser Bereich wird von den Trägern der Staatsmacht nicht ganz ausgefüllt, es bleiben Machtvakua. Der tendenzielle Wohlfahrtsstaat hat zwar die Neigung zur Technokratie, ist aber noch kein Staat technokratischer Herrschaft. Die staatliche Bürokratie mit zunehmend technokratischen Zügen ist zwar in weiten Bereichen nicht mehr kontrollierbar; aber sie herrscht auch nicht im Sinne eines koordinierten, zielbewussten Einsatzes von Macht zur Durchsetzung geplanter Zwecke. Dieser Zustand wäre begrüßenswert, wenn auch sonst niemand ohne Legitimation und Kontrolle Macht ausüben würde oder Macht und Herrschaft überhaupt, im Sinne der Marxschen Transformationsidee, minimiert oder abgeschafft wären. Da das aber keineswegs der Fall ist, sondern sich auch im organisierten Sozialstaat im Gegenteil bisher private und keineswegs immer pluralistisch kompensierte oder gar parlamentarisch kontrollierte Verfügungsmacht hat halten können, sich im Bereich der Wirtschaft sogar zunehmend konzentriert hat und damit stärker geworden ist,113 gewinnt die ausgleichende Kontrollfunktion des Staates diesem privaten Bereich gegenüber erneut an Bedeutung: Die Organe der Staatsmacht, nicht nur lediglich als die Spielregeln wahrenden und Exzesse verhindernden Schiedsrichter im Konflikt ansonsten autonomer Parteien, sondern als Anwälte jener Gruppen und Institutionen, die sich aus eigener Kraft angesichts staatlicher wie privater korporativer Machtzusammenballung nicht mehr durchsetzen können (z. B. Konsumenten, Arbeitnehmer, 112 Die These von H. W. Ehrmann, Politics in France, Boston 1968, S. 139–142, die Zunahme technokratischer Vorstellungen sei möglicherweise ein Zeichen mangelnder politischer Stabilität, erscheint jedoch als Erklärung zu allgemein; vgl. M. Maclennan u. a., Economic Planning and Policies in Britain, France and Germany, New York 1968, S. 80 ff., ferner 34 ff., 108 ff., 295 ff.; S. Cohen, Modern Capitalist Planning. The French Model, Cambridge, MA 1969, S. 155 ff., 189 ff.; M. Crozier, La Société bloquée, Paris 1970, S. 77 ff., 93 ff., 127 ff. 113 Vgl. Anm. 95 sowie: H. Arndt, Macht, Konkurrenz und Demokratie, und D. Grosser, Vorwort, in: D. Grosser (Hg.), Konzentration ohne Kontrolle, Köln 1969, S. 23–82 und 9–21, bes. 12 ff., 18 ff.; H. Arndt, Die Konzentration in der westdeutschen Wirtschaft, Pfullingen 1966.
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Mieter, ›Informationsnehmer‹, Hochschulen, Kranke, etc.), sehen sich – wenn der sozialstaatliche Auftrag nicht zur Farce werden soll – der Notwendigkeit gegenüber, als Instrumente zur Wahrung andernfalls unterprivilegierter Partikularinteressen zu fungieren, also selber Partei zu werden. Hier liegt – immer vorausgesetzt, dass Freiheit, Demokratie, Selbstbestimmung und Emanzipation ebenso wünschbare Zwecke sind wie das materielle Überleben – m. E. ein spezifisches Charakteristikum staatlicher Funktionen auf dem Wege zum Wohlfahrtsstaat: So wie auf der anderen Seite der gegenwärtige sozialistische Staat des Korrektivs dezentraler Organisation und eines hohen Grades demokratischer Partizipation und Einflussnahme bedarf, so sehr bedarf der umfassend organisierte spätkapitalistische Sozialstaat, der das Prinzip der privaten Verfügungsmacht über Produktion und Verteilung grundsätzlich beibehält, einer zum Zwecke der Intervention starken Staatsmacht, da zum einen weniger als je davon ausgegangen werden kann, dass die Gesellschaft sich selbst in einer Weise reguliert, die nicht nur technologischen Erfordernissen, sondern auch dem emanzipatorischen Auftrag sozialstaatlicher Zielsetzungen gerecht wird, und zum anderen angesichts der engen Verflechtung privater und öffentlicher Sektoren mehr denn je auf dem Spiel steht. Diese Zusammenhänge werfen eine Reihe von Fragen auf, denen im Einzelnen hier nicht mehr nachgegangen werden kann, zumal Patentrezepte nicht anzubieten sind: Vor allem stellt sich die Frage danach, wie die Organe der Staatsmacht zur Lösung der angewachsenen Aufgaben beschaffen sein sollen. Auf der einen Seite wird man wahrscheinlich erwarten dürfen, – dass das Gewicht und die faktische Eigenverantwortlichkeit der hochspezialisierten Verwaltung gegenüber den politischen Legitimationsinstanzen auf Grund der Erfordernisse kontinuierlicher Planung, Leistung und Effizienzkontrolle noch mehr zunehmen wird; – dass dieselben Gründe innerhalb der Verwaltung die traditionellen Elemente bürokratischer Hierarchie, insbesondere das Weisungs-Gehorsams-Verhältnis, zugunsten eher technokratischer Teamarbeit und wechselseitiger Abhängigkeit zurückdrängen werden und an die Stelle der Autorität der nicht minder disziplinierende Zwang des rationalen Arguments und sachlicher Notwendigkeit treten wird; – dass die schon in der Vergangenheit fragwürdige Scheidung zwischen Regierung und Verwaltung, die Verwaltungshandeln als neutral gegenüber den Inhalten der Politik ausgab,114 durch die technokratischen Tendenzen in beiden Bereichen von der Sache her obsolet gemacht werden wird. Letzteres wird man auf der anderen Seite aber auch deshalb fordern müssen, weil gerade die interventorische sozialstaatliche Zielsetzung der stärker gewordenen Staatsmacht ein allein bürokratisches oder technokratisches Verwalten nicht mehr zulässt, das sich ausschließlich an der Zweck-Mittel-Relation, rationeller 114 So im Ergebnis auch noch bei N. Luhmann, Theorie, S. 63 ff.
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Kostenminimierung bei Effizienzmaximierung unter Ausschaltung aller Störungsfaktoren oder entsprechenden, unbefragt formalisierten Funktionszielen (performance goals) der Wirtschaftstechnokratie115 orientieren müsste. Die politische Klärung der Zwecke und Zielprioritäten wird unabdingbarer denn je. In dem Maße, in dem das Vordringen der technokratischen Elemente den Bereich der Politik einengt und Sachzwänge an die Stelle der Entscheidung setzt, in demselben Maße wird zu fordern sein, dass die rationale und artikulierte Diskussion der politischen Zielsetzungen auf allen Ebenen dem Planungsprozess der technologischen Realisierung und ihrer Kosten vorgeschaltet wird. Dies ist nicht nur deshalb notwendig, um die Gefahr in sich selber ideologischer technokratischer Scheinargumente und Pseudosachzwänge einzudämmen,116 sondern vor allem auch, um die Chancen emanzipatorischer Zwecke auch dann zu wahren, wenn sie auf der Kostenseite ausgewiesen sind und technologisch unrationell scheinen (z. B. Maximierung der Freizeit vs. Maximierung des Sozialprodukts), und um den »Primat der intelligiblen Welt der humanen Prinzipien und Strukturen unserer Zivilisation«117 zu sichern, bzw. erst einmal herzustellen. Die ›Depolitisierung‹ von Staat und Gesellschaft im Zuge technokratischer Tendenzen ist nur sinnvoll, wenn sie durch eine recht verstandene Repolitisierung wieder ausgeglichen wird, was bedeutet, einen pragmatischen Weg zwischen politischem Dezisionismus und dem ausschließlichen Primat der Sachzwänge technokratischer Modelle zu gehen und Politik als Realisierungschance von Emanzipation und Befreiung zu nutzen, ohne dabei notwendigerweise den optimistischen Glauben an die restlose Versachlichung der Politik und Aufklärbarkeit der Politiker teilen zu müssen.118 Hinsichtlich der Kontrolle der bürokratischen Manager der zahlreichen Einzelbereiche des ›neuen‹ Staats wird die Fiktion der parlamentarischen Gesamtkontrolle trotz aller begrenzten Reformvorschläge auf die Dauer noch fragwürdiger werden als sie schon ist.119 Jene Vorschläge, die auf eine noch stärkere Trennung von politischen und verwaltenden Kompetenzen hinauslaufen,120 115 Zum Verhältnis von performance goals und achievement goals vgl. R. Jochimsen, Zum Aufbau und Ausbau eines integrierten Aufgabenplanungssystems und Koordinations systems der Bundesregierung, in: Bulletin des Presse- u. Informationsamts, 97/1970, S. 949–957. 116 Vgl. H. Lübbe, Zur politischen Theorie der Technokratie, in: Der Staat, Jg. 1, 1962, S. 19–38, bes. 38. 117 U. Jaeggi, Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik, Frankfurt 1969, S. 91. 118 Dieser Glaube scheint auch hinter den Konzeptionen von Jürgen Habermas zu stehen; vgl. J. Habermas, Verwissenschaftlichte Politik in demokratischer Gesellschaft, in: H. Krauck u. a. (Hg.), Forschungsplanung. Eine Studie über Ziele und Strukturen amerikanischer Forschungsinstitute, München 1966, S. 131 f. 119 Die Einrichtung einer parlamentarischen Gegenbürokratie z. B. (wiss. Hilfsdienst, etc.) löst in politischer Hinsicht das Problem nicht, sondern verschiebt es nur. 120 Z. B. E. Guilleaume, Regierungslehre (1965), in: Stammen (Hg.), Strukturwandel, S. 446– 469, der eine Trennung von politischem Kabinett und Verwaltungskabinett vorschlägt (460–463).
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würden die Schwierigkeit der Kontrolle eher vergrößern als vermindern. Am meisten wird man sich – von ihrem Charakter nach limitierten institutionellen Reformen abgesehen – womöglich im Hinblick auf die Effizienzkontrolle von inner- und interbürokratischen Prüfungsmechanismen (die nicht bis zur Errichtung einer nur kontrollierenden Gegenbürokratie gehen müssen) und im Hinblick auf die politische Kontrolle insbesondere der großen Planungs projekte von stärkerer regionaler Aufschlüsselung und Dezentralisierung versprechen dürfen. Das Dilemma bleibt, dass Technologie und Verkehr zur umfassenden Gesamtplanung zwingen und dass auch die Ausführung des Geplanten – zumal angesichts der Bedingungen eines großen privaten Wirtschaftsbereichs – zentral koordiniert werden muss, Kontrolle aber andererseits, ebenso wie größtmögliche Partizipation der Bürger am Entscheidungsprozess und der Abbau überflüssiger, formalisierter Zwangsmechanismen am wirksamsten in dezentralen Organisationsformen möglich ist. Eine progressive Verschachtelung der einzelnen Planungs- und Koordinationsbereiche müsste hier auf längere Sicht den Informationsfluss nach beiden Seiten, zur Zentrale und zur lokalen oder regionalen Einheit, möglich machen (vorausgesetzt, die regionale Untergliederung des Gesamtbereichs geschieht weniger nach traditionellen als vielmehr nach funktionalen Gesichtspunkten). Auf diese Weise könnte auf die Dauer noch am ehesten offene oder kaschierte Herrschaft angemessen verringert und durchschaubar gemacht werden. Damit werden jedoch voraussichtlich nicht alle Bereiche zu erfassen sein. Es kann heute nicht einmal als ausgeschlossen angesehen werden, dass die Apparatur des verwaltenden Wohlfahrtsstaates in vielen Bereichen im Einzelnen von außen gar nicht mehr kontrolliert werden kann, dass die Gesellschaft, die von diesem Staat erfasst wird, sich also zumindest teilweise auf einen gewissen Grad der in die Apparatur des Staates eingegangenen gesamtgesellschaftlichen Vernunft einfach wird verlassen müssen, eine Perspektive, die skeptisch stimmen muss. Umso größere Bedeutung kommt – neben den notwendigen ökonomischen und sozio-strukturellen Reformen – der Verstärkung der Anstrengungen politischer Erziehung zu, die der kommende Wohlfahrtsstaat noch nötiger haben wird als der liberale Rechtsstaat der Vergangenheit: Einer Erziehung, die nicht harmonisiert, sondern Chancen wie Konflikte bewusst macht; einer Erziehung der Funktionäre wie der Bürger dieses Staates zur Politik, die das Phänomen von Macht und Zwang realistisch in Rechnung stellt, die alte Machiavellische necessità aber umdefiniert im Sinne der Anforderungen einer modernen Gesellschaft, die auf die disziplinierende industrielle Technologie und auf leistungsfähige Organisationen ebenso wenig wird verzichten dürfen wie auf die politische Zielsetzung der Sicherung und Vergrößerung der Lebenschancen von emanzipierten, von Abhängigkeit, Not und Zwang befreiten Menschen.
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Probleme der spanischen Modernisierung im 19. und 20. Jahrhundert*
Spaniens Übergang in die Moderne war zum einen gekennzeichnet durch die Dialektik der langen Wellen des »iberischen Revolutionszyklus«, den Manfred Kossok vor drei Jahrzehnten zuerst (und danach immer weiter modifiziert) in einer treffenden Konstruktion thematisiert hat,1 und zum anderen durch die spezifischen Konstellationen der wichtigsten Faktoren der Modernisierungsprozesse, die hier nicht umfassend dargestellt werden können. In der Folge sollen deshalb lediglich einige der grundlegenden Probleme der spanischen Modernisierung seit dem Ende des Ancien Régime Anfang des 19. Jahrhunderts behandelt werden. Mit Modernisierung ist hier ein umfassender, irreversibler gesellschaftlicher Entwicklungsprozess gemeint, der im ganzen – trotz zahlreicher möglicher Rückschläge – eindeutig gerichtet ist (nach vorwärts, in eine Richtung, der ›die Zukunft gehört‹), der weiter unterschiedliche ökonomische, technologische, soziale, kulturelle und politische Dimensionen aufweist und im Grunde nur als jeweils historisch konkrete nationale oder regionale Kombination partieller, sektoraler Modernisierungen verstanden werden kann. Wenn man davon ausgeht, dann gibt es kein zwingendes Muster, das allein Erfolg verspräche oder Fortschritt, und alle nationalen Modernisierungswege sind, genau genommen, ›Sonderwege‹. Das muss uns nicht hindern, zum Zwecke besserer Erkenntnis verschiedene Typen oder Konstellationen von Wegen in die Moderne zu unterscheiden. Man kann, wie an anderer Stelle ausführlicher entwickelt, zum Beispiel sehr vereinfacht die Faktoren, die beigetragen haben zum Prozess westlicher Modernisierung, auf drei größere Faktorenbündel reduzieren: auf (1) Bürokra * Zuerst erschienen in: Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas (JbLA), Bd. 31, 1994, S. 305–328. 1 M. Kossok, Der iberische Revolutionszyklus 1789–1830. Bemerkungen zu einem Thema der vergleichenden Revolutionsgeschichte, in: ders. (Hg.), Studien über die Revolution, Berlin 1969, S. 209–230, und bereits vorher: M. Kossok, Im Schatten der Heiligen Allianz, Berlin 1964, Kap. 1, sowie weiterhin: ders., Revolution – Reform – Gegenrevolution in Spanien und Portugal, 1808–1910, in: ders. (Hg.), Studien zur vergleichenden Revolutionsgeschichte 1500–1917, Berlin 1974, S. 134–160; ders., Die Linke im spanischen Revolutionszyklus (1808–1874), Berlin 1976; ders., Der spanische Liberalismus des 19. Jhts., in: ZfG, Jg. 25, 1977, S. 541–555; ders., Die bürgerlich-demokratische Revolution in Spanien 1868–1874, in: ders. (Hg.), Revolutionen der Neuzeit, Berlin 1982, S. 393–411; ders., Der spanische Revolutionszyklus des 19. Jhts., in: ZfG, Jg. 32, 1984, S. 490–499.
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tisierung, (2) Industrialisierung und (3) Demokratisierung. Die nationalen Entwicklungswege sind dann jeweils gekennzeichnet durch die unterschiedlichen Mischungsverhältnisse dieser drei Faktorenbündel: der britische Weg durch die Dominanz von Industrialisierung und, durch sie beschleunigt, Demokratisierung, bei verspäteter und lange schwach bleibender Bürokratisierung; der preußisch-deutsche Weg durch eine Mischung aus Bürokratisierung und Industrialisierung, bei lange defizient bleibender Demokratisierung. Der französische Weg weist als hegemonialen Faktor eine Kombination aus Bürokratisierung und Demokratisierung aus, wobei die Industrialisierung später kam und die politischen und sozialen Institutionen lange nicht wesentlich geprägt hat. Ergänzen ließen sich diese Typisierungen noch durch den Faktor der Nationalisierung (i. S. zunehmender nationaler Homogenisierung) und spezifische Muster der Austragung sozialer Konflikte. Spanien ist im Großen und Ganzen dem französischen Realtypus gefolgt. Einmal haben wir hier eine absolutistische Staatsgründung, bourbonischen Zentralismus, der allerdings auf mehr Widerstände stieß als in Frankreich, und die grands corps der Beamtenschaft, deren Mentalität eher französisch departementalisiert war als etwa preußisch. Wir haben eine Tradition der Modernisierung durch Reformen von oben, vom Ende des 18. Jahrhunderts bis fast in die Gegenwart, aber auch schon relativ früh einen stark artikulierten politischen Liberalismus, der neue Institutionen gebaut und die politische Partizipation erhöht hat, ein langes Überleben der Honoratiorenpolitik und Defizite der Organisation im außerstaatlichen Bereich. Der spanische Modernisierungsweg weist aber darüber hinaus eine Reihe wichtiger zusätzlicher Charakteristika auf, die ihn sehr vom französischen Weg unterscheiden, zum Beispiel den ausgeprägten Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie, die noch stärkere Staatsbezogenheit einer für sich schwächeren ›bürgerlichen Gesellschaft‹ und die langen Jahre autoritärer Diktaturen im 20. Jahrhundert. Der Versuch kann sich also lohnen, einmal im Zusammenhang über die Kennzeichen des spanischen Wegs in die Moderne nachzudenken. Dies soll hier in acht Punkten geschehen, entweder in Thesenform oder als zusammenfassende Charakteristik spezifischer Konstellationen, insbesondere hinsichtlich der sozialen Triebkräfte und der Eliten. Die acht Punkte beziehen sich grosso modo auch auf die acht großen Periodisierungsabschnitte zwischen dem Beginn des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart. Dabei wird aus arbeitsökonomischen Gründen vieles außer Acht gelassen werden müssen, was im breiteren Kontext wichtig wäre, z. B. Probleme der sozialen Schichtung und Mobilität, der Demographie, der Familienstrukturen, der Lage der Frauen und des Geschlechterverhältnisses. Auch auf Spaniens eigenartige Städtetypen und Urbanisierungsformen kann hier nicht eingegangen werden, ebenso wenig auf weite Bereiche des Bildungswesens, der Schulund Hochschulreformen, der intellectual history, des Verhältnisses von Religion und Säkularisierung, usw. Sicherlich müsste auch noch viel mehr gesagt werden über die Stufen der Entwicklung zum Sozialstaat, zum stärker organisierten 241
Kapitalismus bzw. Korporatismus und über die Typen politischer Organisationen, insbesondere der Parteien, Interessenverbände und Bürokratien sowie ihrer Interaktionen, nicht zu reden von der politischen Kultur und vom poli tischen Stil. Im Ganzen ist festzuhalten, dass die spanischen Entwicklungsmuster zu den europäischen Mustern gehören, aber durchaus einen eigenen Typ konstituieren, der allerdings von charakteristischen Ausgangspunkten her im 20. Jahrhundert zunehmend auch mit anderen europäischen Typen konvergiert.2 1. Juan Linz hat die Entwicklung Spaniens im 19. Jahrhundert auf die Formel gebracht, das Land habe aufgehört, eine traditionale Gesellschaft zu sein, ohne jedoch die Kraft zu haben, eine moderne Gesellschaft zu werden.3 Es habe im Gegensatz zu Preußen/Deutschland eine tiefgreifende politische Moder nisierung stattgefunden, aber keine wirtschaftliche, folglich sei auch die soziale Modernisierung erheblichen und spezifischen Begrenzungen unterworfen gewesen. Erst in den letzten zwanzig Jahren des Franquismus sei der Prozess umgekehrt worden: wirtschaftliche Entwicklung ohne politischen Fortschritt. Dies mag im Ganzen nicht falsch sein, bedarf aber doch einiger Korrekturen, Ergänzungen und Kommentare. Am Anfang standen Erschöpfung und Abdankung des Ancien Régime (1808), die französische Besetzung und der guerrilla-Krieg gegen sie, der auch schon bürgerkriegsähnliche Züge aufwies, die trotzige Verfassung der Cortes in Cádiz, im Jahre 1812 zweifellos die fortschrittlichste Verfassung der Welt, eine kurze Blüte extrem liberaler Politik und, auch in Reaktion darauf, der Abfall der meisten lateinamerikanischen Kolonien, gegen die Spanien noch lange Jahre erfolglos kostspielige Kriege geführt hat. Nach 1814 wurden die liberalen Errungenschaften zunächst zurückgedrängt im Zeichen umfassender Restauration und monarchischer Kabinettsregierungen. Ihre Konzepte blieben aber präsent, gewissermaßen als fiktive Produkte einer bürgerlichen Revolution, die als solche – im engeren Sinn – nicht so recht stattgefunden hatte und der gesellschaftlichen Realität auch gar nicht entsprach. Gelegentlich bestimmten sie sogar wieder die Richtung der Politik, so 1820, 1836/37 oder 1854, aber immer nur kurzfristig und schnell auf den Boden der rückständigen sozialen Wirklichkeit zurückgeholt. Die Gegenreaktionen der Bürokraten oder die Putsche der Gene2 Zum breiteren Kontext vgl. H. J. Puhle, European Modernization and the Third World, in: Cultural Heritage and Modernization, Hong Kong 1987; zum Vergleich ders., Caminos distintos de modernización: España y Alemania en los siglos XIX y XX, in: W. L. Bernecker (Hg.), España y Alemania en la Edad Contemporánea, Frankfurt 1992, S. 23–46, sowie inzwischen in weiteren Beiträgen, auch in diesem Band. Auf Einzelbelege wird im Folgenden weitgehend verzichtet. – Für kritische Anmerkungen und Hinweise danke ich Juan Linz, Stanley Payne, Reinhard Liehr, Ludger Mees und Klaus-Jürgen Nagel. 3 J. J. Linz, Tradición y Modernización en España, Granada 1977; jetzt auch überarbeitet: Tradición y modernidad en España, in ders., Obras escogidas, Bd. 7: Historia y sociedad en España (hg. J. R. Montero u. T. J. Miley), Madrid 2013, S. 129–192, sowie engl. in: ders., Robert Michels, Political Sociology, and the Future of Democracy, New Brunswick 2006, S. 115–184.
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räle (pronunciamientos) kamen regelmäßig, oft gab es Stellvertreterkämpfe von Militäreinheiten oder auch kleinere Bürgerkriege. Die Militärs hatten in Spanien schon im ausgehenden Ancien Régime keine so zentrale Rolle als Bestandteil des Systems gespielt wie etwa im alten Preußen, und seit den lateinamerikanischen Unabhängigkeitskämpfen haben sie alle wichtigen Kriege nach außen verloren (USA, Marokko, außer 1859). Ihre Professionalisierung und Ausrüstung wurden im 19. Jahrhundert zunehmend vernachlässigt, ihr soziales Prestige war vergleichsweise niedrig, und sie zogen sich schon bald ins institutionelle Ghetto und in eine Subkultur zurück, in der man den sich beschleunigenden technischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wandel ringsum nicht mehr zur Kenntnis nahm. Dafür, dass Staat und Gesellschaft ihnen eine führende Stellung als Korporation versagten, hielten sich einige militärische caudillos gelegentlich schadlos durch pronunciamientos und kurzfristige Regierungsübernahme. Erleichtert wurden diese Putsche oft durch die Schwäche der Institutionen und der Parteien und dadurch, dass meist irgendeine zivile Fraktion nach den Militärs rief und sie in die Politik hineinzog. Diese Tradition reicht noch bis ins 20. Jahrhundert hinein.4 Die wichtigsten der Bürgerkriege standen seit 1833 bis in die 1870er Jahre im Zeichen des Karlismus (1833–1840, 1847–1849, 1872–1876). Abgesehen von dem dynastischen Streit zwischen zwei Linien des Königshauses ging es hier im Wesentlichen um einen Konflikt zwischen den städtischen Wirtschaftsinteressen der Liberalen und den mehr großagrarischen Interessen der traditiona listischen Konservativen, die sich jetzt karlistisch artikulierten und katholische, staatsinterventionistische, oft hinterwäldlerische Ziele verfolgten. Die Karlistenkriege brachten Spanien eine tiefgehende politische, wirtschaftliche und soziale Polarisierung, bis hin zu individuellem Terror als Mittel der Politik und anhaltender guerrilla. In allen drei Karlistenkriegen siegten der Madrider Hof und die zentrale Bürokratie im Bündnis mit städtischen Liberalen und gemäßigten Konservativen. Parallel dazu waren der Staat und seine Institutionen zunehmend entfeudalisiert worden. Der Einfluss des Adels wurde zurückgedrängt. Bürgerliche drangen vor, aber sie waren nur selten Bourgeois, Wirtschaftsbürger, sondern überwiegend Beamte, professionals und Militärs, also Staatshörige, die sich oft und gern auch noch nobilitieren ließen und ihre Lebensweise der des Adels anzuähneln suchten. Wirklich wirtschaftsbürgerliche Interessen wie die der katalanischen Bourgeoisie konnten sich im gesamtspanischen System zunächst nicht artikulieren und mussten später regionalistisch werden.5 4 Vgl. J. Busquets, Pronunciamientos y golpes de Estado en España, Barcelona 1982; S. G. Payne, Ejercito y sociedad en la España liberal, Madrid 1977; C. Seco Serrano, Militarismo y civilismo en la España contemporánea, Madrid 1984. 5 Vgl. im Überblick R. Carr, Spain 1808–1939, Oxford 1966; M. Fernández Almagro, Historia política de la España contemporánea, 3 Bde., Madrid 1968; neuerdings: W. L. Bernecker, Sozialgeschichte Spaniens im 19. u. 20. Jht., Frankfurt 1990.
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Einen besonderen Typus stellt der neue Agrarbourgeois dar, der ein Produkt der liberalen Reformen der ersten Jahrhunderthälfte ist. Im Zuge der sogenannten ›desamortización‹ wurden die Ländereien der Kirche und der religiösen Orden, der öffentlichen Körperschaften, Stiftungen und Gemeinden enteignet und in Privatbesitz überführt. Die Liberalisierung des Bodenmarkts und Privatisierung von vorher öffentlich gebundenem Land führten einerseits zur Abrundung und Ausdehnung des bürgerlichen wie adligen Großgrundbesitzes, vor allem in den südlichen Zonen monokultureller Latifundienwirtschaft mit hohem Bedarf an landlosen Saisonarbeitern. Andererseits bewirkten die liberalen Agrarreformen den ökonomischen Ruin der Bruderschaften und anderer genossenschaftlicher Institutionen, die jahrhundertelang die wichtigsten Träger der ländlichen Sozialleistungen gewesen waren. Das Elend der armen Bauern, Landarbeiter und anderen Dorfbewohner, denen jetzt auch kein kommunales Allmendeland mehr zur Verfügung stand, nahm zu und führte seit Beginn der 1840er Jahre immer wieder zu ländlichen Unruhen, die sich seit dem Beginn der Agrarkrise nach 1860 weiter verstärkten. Die Antwort der Regierung war die Gründung der Guardia Civil, einer kasernierten Landpolizei, im Jahre 1844. Der hohe Anteil der Landarbeiter hat die spanische Arbeiterbewegung entscheidend geprägt, und das Verlangen nach einer neuen antiliberalen Agrarreform entweder zur Wiederherstellung der alten genossenschaftlichen Nutzungsweisen oder schlicht zwecks Aufteilung des Großgrundbesitzes hat – im Gegensatz zu den meisten anderen westeuropäischen Ländern – seit dem ersten anarchistischen Massenaufruhr in Loja (Granada) 1861 und bis ans Ende des Bürgerkriegs zu den wichtigsten Forderungen der spanischen Linken, aber auch breiter bürgerlicher Kreise gehört. Der relative Rückstand der ökonomischen Entwicklung in Spanien zeigt sich in der Landwirtschaft in den lange ungebrochenen Praktiken extensiver oder traditionaler Anbaumethoden ohne viel Rationalisierung oder Mechanisierung, auf den riesigen Latifundien Andalusiens oder Kastiliens ebenso wie im minifundismo, der weder rentablen noch auskömmlichen Kleinstparzellenwirtschaft Galicias im äußersten Nordwesten, aber auch noch in einigen Bereichen des Nordostens, im Baskenland, Katalonien und Aragón, wo kleines und mittleres Eigentum oder Pachtverhältnisse vorherrschen. Moderne Züge blieben bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wesentlich auf exportorientierte Enklaven beschränkt: zum Beispiel die Mischwirtschafts- und Bewässerungsregionen der Levante oder die marktgerechte Neuorganisation des Weinbaus in einigen Gebieten Kataloniens und der Rioja nach dem Einfall der Reblaus kurz vor der Jahrhundertwende, die zum Ausgangspunkt für einen umfassenden staatlichen Agrarinterventionismus werden sollte.6 6 Ausführlicher der ›Klassiker‹: E. E. Malefakis, Agrarian Reform and Peasant Revolution in Spain, New Haven 1970, sowie H. J. Puhle, Warum gibt es in Westeuropa keine Bauern parteien? Zum politischen Potential des Agrarsektors in Frankreich und Spanien, in: H. Gollwitzer (Hg.), Europäische Bauernparteien im 20. Jht., Stuttgart 1977, S. 603–667; zum
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Auch die Industrialisierung ist in Spanien bis zur zweiten Industrialisierungswelle unter Franco seit den späten 1950er Jahren wesentlich auf zwei relativ kleine Enklaven beschränkt geblieben, auf Katalonien und das Baskenland, noch genauer: auf Teile der Provinz Barcelona und Teile der Provinz Vizcaya. Der Beginn der Frühindustrialisierung in Katalonien lässt sich, nach einer Phase protoindustrieller Textilproduktion und angestoßen auch durch den Zufluss repatriierten lateinamerikanischen Kolonialkapitals, auf die 1830er Jahre datieren, der Durchbruch der Hochindustrialisierung auf die 1860er Jahre, also ähnlich wie in Deutschland. Die entsprechenden Daten für das Baskenland liegen etwa ein bis zwei Jahrzehnte später (1840/80). Hier dominierte die Schwerindustrie, Eisen und Stahl, der Schiffbau und im Hinterland, ähnlich wie später in Katalonien, die Metallindustrie. Die asturische Kohleförderung entwickelte sich gleichzeitig, produzierte aber nicht rationell genug, um die Region langfristig zu einem dynamischen schwerindustriellen Zentrum zu machen. Die Kohle war nicht gut genug. Der Ausbau des spanischen Eisenbahnsystems wurde zu einem Tummelplatz des Auslandskapitals und blieb zudem unter funktionalen Gesichtspunkten unzureichend. In den älteren Bergwerken und den wenigen früheren metallverarbeitenden Betrieben Andalusiens setzte zur Jahrhundertmitte ein deutlicher Prozess der Deindustrialisierung ein, dessen soziale Folgen sich mit denen der Agrarreformen und seit den späten 1870er Jahren auch der akuten Agrarkrise akkumulierten.7 2. Der entscheidende Periodisierungseinschnitt des 19. Jahrhunderts fällt in Spanien in die 1860er und 70er Jahre: einmal wegen der Durchsetzung der Industrialisierung in den beiden Enklaven und des Beginns der entsprechenden Arbeitermigration. Zum anderen liegt hier der Beginn der breiten Organisation der Arbeiterbewegung und der politischen Artikulation der regionalistischen Nationalismen in Katalonien und im Baskenland. Und vor allem wurden in diesen Jahren die Institutionen und Kanäle der spanischen Politik umgebaut. Die Revolution vom Herbst 1868, die sogenannte ›gloriosa‹, die in einem Moment der Bankenkrise und hoher Arbeitslosigkeit angefangen hatte mit einer begrenzten Militärrevolte und mit einer kolonialen Meuterei auf Cuba, war zunächst gegen die Willkürherrschaft der bankrotten isabellinischen Monarchie nach dem Tode des starken Mannes Nerváez gerichtet. Die große Mehrheit rechter wie linker Liberaler befürwortete die Einführung einer strikt konstitutionellen Monarchie mit hoher Partizipationsrate. 1868 wurde in Spanien zum zweiten Mal nach 1812 das allgemeine Männerwahlrecht eingeführt. Es produzierte ein Parlament, das weit links von der faktischen Machtverteilung im Weinsektor inzwischen auch: L. Mees, K. J. Nagel u. H. J. Puhle, Kampf um den Wein. Modernisierung und Interessenpolitik im spanischen Weinbau. Rioja, Navarra und Katalonien 1860–1940, Wien 2005 [hinzugefügt 2015]. 7 Vgl. G. Tortella Casares, Los orígenes del capitalismo en España, Madrid 19822; J. Nadal, El fracaso de la revolución industrial en España 1814–1913, Barcelona 1975; ders. u. a., La economía española en el siglo XX, Barcelona 1987.
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Staate stand. Die Wirren der Thronkrise führten 1873/74 sogar für eine kurze Zeit zur Errichtung der ersten spanischen Republik, damals einer der ganz wenigen in Europa. Am Ende verloren die Republikaner allerdings, und 1874 wurde die Monarchie wiederhergestellt. In der institutionellen Diskussion der Republik hat insbesondere die katalanische Tradition des Föderalismus eine wichtige Rolle gespielt, auf die später sowohl die Katalanisten wie auch die Anarchosyndikalisten zurückgreifen sollten. Hier war ein Bedürfnis deutlich geworden, den bourbonischen Verwaltungszentralismus zu überwinden und regional zu differenzieren, das vor allem durch die ungleiche sozioökonomische Entwicklung der spanischen Regionen, den schnellen Aufschwung der nordöstlichen Peripherie und die Stagnation des kastilischen Zentrums intensiviert worden war. Die Restaurationsmonarchie (1874–1923) war institutionell eine Schöpfung vor allem des überragenden konservativen Parteiführers Cánovas del Castillo, fand aber auch den Konsens der Liberalen. Ihre wesentlichen Kennzeichen waren – jedenfalls bis zur Jahrhundertwende – eine relativ gemäßigte Politik, die die harte Repression der Arbeiterbewegung nicht ausschloss, und vor allem der sogenannte ›turno pacífico‹, eine vertragliche Absprache zwischen Konserva tiven und Liberalen, mit Zustimmung der Krone, sich periodisch in der Regierung abzuwechseln. Gestützt wurde dieses System durch die routinemäßige Praxis umfangreicher Fälschungen der Wahlergebnisse seitens der jeweiligen Regierung, die es sich so auch leisten konnte, gelegentlich wieder das allgemeine Wahlrecht (für Männer) einzuführen, das jetzt keinen Verfassungsrang mehr hatte (z. B. 1876, 1891, 1907). Man spielte auch mit den Institutionen. Der politische Konsens der Restaurationsmonarchie war aber bis 1917 stark genug, die Militärs als eigenständige, autonome Kraft weitgehend aus der Politik herauszuhalten; allenfalls ließ man sie bei Bedarf als Stellvertreter der zivilen Führung einer der beiden turno-Parteien intervenieren. Ein zentraler Faktor zur Strukturierung der Politik war dagegen der sog. ›caciquismo‹, ein System der Häuptlinge oder Bosse, eine Art halborganisierter Honoratiorenpolitik von Großagrariern, Unternehmern und Angehörigen etablierter Familien der clase política, die sich auf personalistische Klientelverhältnisse stützten. Der caciquismo basierte auf der Einheit von lokaler politischer und ökonomischer Dominanz mit Rückversicherung bei der Bürokratie und den Parteiführern in Madrid. Er führte zur Fragmentierung der politischen Führung und dazu, dass politische Parteien und Verbände, übrigens auch die der Arbeiterbewegung, sehr lange, in einigen Regionen bis heute, nur in geringem Umfang feste Strukturen ausgebildet haben und institutionell im Lande verankert gewesen sind. Das musste sie nicht an der Fähigkeit zur punktuellen Mobilisierung hindern, die gelegentlich beeindruckend sein kann, es hat sie aber entscheidend geschwächt. Caciquismo und Personalismus in der Politik gehören eng zusammen mit dem, was Ortega »España invertebrada« genannt hat: Spanien ohne Rückgrat, strukturloses Spanien, das sich immer wieder in viele Spanien auflöst oder aufzulösen droht. 246
Neue und daher zunächst einmal dysfunktionale Elemente der Politik in der Restaurationsmonarchie stellten die Entstehung der Arbeiterbewegungen und die Entwicklung der neuen politischen Nationalismen der Peripherie dar. Für die spanische Arbeiterbewegung ist kennzeichnend, dass sie von Anfang an, was die großen Organisationsgründungen angeht, zweigeteilt gewesen ist in Anarchisten und Anarchosyndikalisten, die ältere, dem Ideal des libertären Kommunismus verpflichtete und bis in die 1930er Jahre zahlenmäßig stärkere Bewegung, und die jüngeren und lange Zeit schwächeren, mehr oder weniger ›marxistischen‹ Sozialisten. Die ersten großen Organisationen datieren bei den Anarchisten von 1868 und bei den Sozialisten von 1879/88. Spanien ist das einzige Land der Welt mit einer starken, organisierten und lange Zeit in der Arbeiterschaft dominierenden anarchistischen und anarchosyndikalistischen Massenbewegung gewesen. Deren Breitenwirkung erklärt sich vor allem durch die relativ frühe und konkurrenzlose Mobilisierung in Gebieten mit föderalistischen, agrarkollektivistischen, bruderschaftlichen oder Sozialbanditen-Traditionen und mit einem hohen Anteil von Landarbeitern oder Heimarbeitern/innen. Ihre Stärke lag vor allem in der katalanischen Textilindustrie und im andalusischen Landproletariat, in Teilen der Levante, Aragons und Madrids, in La Coruña und in der asturischen Stahlindustrie. Dass die Arbeiterschaft in Spaniens zweitgrößtem Industrierevier, dem Baskenland, von der sozialistischen UGT organisiert wurde, ebenso wie der asturische Kohlenbergbau, erklärt sich teilweise aus einer Mischung verschiedener Faktoren: der Schwäche kollektivistischer Traditionen, der relativen Verspätung der Mobilisierung um zehn bis zwanzig Jahre, aus den Eigenarten des Arbeitsprozesses (Bergbau und Metall vs. Textil- und Landarbeit) und auch aus dem zufälligen Umstand, welche Organisation und Richtung die Region zuerst mobilisierte und sich so den Startvorteil sichern konnte. Insgesamt blieb der Einfluss der Arbeiterbewegungen trotz mancher regionaler oder lokaler Erfolge, die nach der Jahrhundertwende zunahmen, durchaus begrenzt, einmal, weil Spanien bis in den letzten Bürgerkrieg hinein trotz seiner Modernisierungsinseln noch überwiegend ein rückständiges Agrarland blieb, und zum anderen auch, weil die beiden Bewegungen noch in sich gespalten waren, die Anarchisten in gewerkschaftlich arbeitende Anarchosyndikalisten und -kollektivisten einerseits und die gewaltsame ›direkte Aktion‹ propagierende Anarchokommunisten andererseits, die Sozialisten meistens in personalistische Fraktionen. Letztere hatten zwar neben der Gewerkschaft noch eine Partei, aber die Arbeitsteilung zwischen beiden blieb ewig unklar und konfliktreich.8 3. Eine wichtige Zäsur innerhalb der Restaurationsmonarchie fällt fast genau in deren Mitte, in die Jahre um die Jahrhundertwende. Hier kommt einiges zu8 Vgl. J. Peirats, La CNT en la revolución española, 3 Bde., Paris 1971; M. Tuñón de Lara, El movimiento obrero en la historia de España, Madrid 1972; A. del Rosal, Historia de la UGT de España, 1901–1939, 2 Bde., Barcelona 1977; S. Juliá (Hg.), El socialismo en España, Madrid 1987; ders. (Hg.), El socialismo en las nacionalidades y regiones, Madrid 1988.
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sammen: Einmal gibt es, zu Beginn einer längeren Phase ökonomischer Prospe rität (1900/15–1930), unübersehbare Zeichen politischer Modernisierung, eine Zunahme von Organisationstendenzen, vermehrte Mobilisierung, Zuspitzung der Arbeitskämpfe und auch der Gewaltsamkeit der Konflikte mit den Höhepunkten in der Semana Trágica in Barcelona (1909) und in der Krise nach 1917. Hier werden auch Kosten der Modernisierung deutlich. Eng damit verbunden wurde gleichzeitig das ganze Projekt der Restaurationsmonarchie, das in dem Versuch eines reformistischen Ausgleichs zwischen Traditionalismus und Moderne bestanden hatte, zunehmend und drastisch in Frage gestellt, weil das System nicht mehr ›liefern‹ konnte: Auf dem Höhepunkt der Ära des Imperialismus verlor Spanien (als erste große Kolonialmacht) 1898 seine letzten Kolonien. Und in der hohen Zeit der europäischen Nationalstaaten ließ die deutliche politische Artikulation der neuen Nationalismen der Peripherie seit der Jahrhundertwende starke Zweifel daran aufkommen, ob Spanien überhaupt noch ein Nationalstaat war. Jedenfalls schien es an der überall präsenten hegemonialen Kultur zu fehlen. – Die politische Modernisierung war zum großen Teil eine Folge der rapiden Urbanisierung in den Gebieten der Enklaven-Industrialisierung und in der Hauptstadt, und sie blieb auch wesentlich auf diese beschränkt. Ein beachtlicher Teil der Arbeiter von Barcelona wählte die linksliberale Radikale Partei von Lerroux, die erste ›moderne‹, auf eine Massenbasis hin organisierte Partei neben den Sozialisten und den neuen Katalanisten und baskischen Nationalisten. Die Mobilisierung in den städtischen Zentren schränkte die Willkür der gouvernementalen Wahlfälschungen ein. Gleichzeitig schieden um die Jahrhundertwende die meisten Gründungsväter der Restaurationsmonarchie aus der Politik aus, und der junge König Alfonso XIII., der wie Wilhelm II. eine Vorliebe fürs persönliche Regiment und fürs Militärische hatte, hielt sich nicht mehr an die Abmachungen des ›turno‹ und destabilisierte damit die Fraktionen des Parlaments und die gesamten institutionellen Interaktionen der Monarchie. Die Zersplitterung der zivilen Gruppen nahm zu. Unter den Konfliktlinien, die sich in dieser Zeit immer deutlicher ausprägten, finden wir an prominenter Stelle 1. die zwischen Arbeiterorganisationen und Besitzenden, verkörpert durch Unternehmer und Staat, Polizei und Militär; 2. die zwischen der zentralen Staatsmacht und den ökonomisch entwickelteren nördlichen Randprovinzen; 3. die zwischen Monarchisten und Republikanern und 4. eine Konfliktlinie zwischen Katholizismus und Laizismus. Letztere war besonders lange, bis in die Zweite Republik und den Franquismus hinein, besonders scharf ausgeprägt und hat immer wieder zu unversöhnlichen und gewaltsamen Auseinandersetzungen beigetragen. Einerseits war der liberal-laizistische Flügel der Gesellschaft nicht stark genug, das Verhältnis von Staat und Kirche frühzeitig etwa nach dem französischen Vorbild einer klaren 248
Trennung zu ordnen. Andererseits stand die spanische Kirche – auch aufgrund ihres Monopolcharakters – bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein auf der Seite der Rechten, der Besitzenden und des Staates, solange dieser nicht laizistisch war, und ihre Philosophie war wesentlich reaktionär, korporatistisch und antiparlamentarisch. Diese Einheitlichkeit ist erst seit den 1960er Jahren teilweise aufgebrochen worden. Die Auseinandersetzungen um die Grundlinien der Schulpolitik haben noch zu den ungelösten Problemen der Zweiten Republik gehört und zu deren Scheitern beigetragen. Während der konservative Bürger in Deutschland vor allem fürchtete, dass die »rote Internationale« Revolution machen werde, fürchtete der konservative Bürger in Spanien vor allem, dass sie Kirchen anzündet, was bekanntlich nicht nur desparate Anarchisten taten, sondern auch ordentliche linke Katalanisten oder Republikaner. Es gab in Spanien – abgesehen von Ansätzen in Katalonien und im Baskenland – auch so gut wie keinen Sozialkatholizismus, und vor allem gab es keine große, klassenübergreifende katholische Partei, die halbwegs oder überwiegend parlamentarisch gewesen wäre wie das deutsche Zentrum (wenigstens bis 1930). Die späte Gründung der CEDA in der Zweiten Republik, die einzige konservativ-katholische Massenorganisation, gehörte schon zur tendenziell protofaschistischen ›Neuen Rechten‹ mit autoritären und ständisch-korporativen Zielen. Der etablierte spanische Katholizismus war wesentlich ein Hemmschuh und ein Gegner welcher Modernisierung auch immer. Die Katholiken und katholischen Laienorganisationen, die seit den späten 1950er Jahren zur Opposition gegen Franco stießen und dort einige Jahre lang eine wichtige Rolle spielten (auch als Durchgangsorganisationen für die späteren linken Eliten), waren eine Minderheit.9 – Die Niederlage im Krieg gegen die USA 1898 und der Verlust der letzten Reste des Imperiums waren für die politische Klasse und die Intellektuellen Spaniens ein traumatisches Erlebnis, das lange nachwirkte. Die Einsicht, dass Spanien im Konzert der Mächte nun endgültig drittklassig war, war nicht leicht zu verarbeiten. Die Desillusionierung führte einerseits zu einem Schub kreativer Ideen (im sog. ›regeneracionismo‹ der ›Generation von 1898‹), insbesondere zur Lösung der sozialen Probleme und zur Agrarreform, andererseits aber auch zur Verbitterung und Frustration und insbesondere bei den Militärs zu einem verbissenen Festhalten an unhaltbaren Positionen in der letzten noch zur Debatte stehenden Neu-Kolonie vor der Haustür, in Marokko. Die bewaffneten Konflikte dort kehrten periodisch wieder (1909, 1917 ff., 1921, 1925), das spanische Heer kam aus dem Zirkel der Niederlagen nicht heraus, aber die Marokkofrage beherrschte noch jahrzehntelang die Diskussionen auch der Innenpolitik, und unter den ›africanistas‹, den letzten Kolonialoffizieren, bildeten sich unter9 Vgl. S. G. Payne, El catolicismo español, Barcelona 1984; J. R. Montero, La CEDA, 2 Bde., Madrid 1977; J. Tusell, Historia de la Democracia Cristiana en España, 2 Bde., Madrid 1986; J. J. Linz, Church and State in Spain from the Civil War to the Return of Democracy, in: Daedalus, H. 120,3, 1991, S. 159–178.
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schiedliche neue Typen besonders aggresiver, verwegener und zur politischen Intervention entschlossener Militärs heraus (Franco, Millán Astray). – Von zentraler Bedeutung für den gesamten Gang der weiteren spanischen Entwicklung im 20. Jahrhundert war die Herausbildung der starken neuen Nationalismen der Peripherie, von denen der katalanische und der baskische den Durchbruch zur politischen Massenbewegung schafften, der in Galicia aus vielen Gründen nicht.10 In Katalonien kann der Beginn des politischen Nationalismus/Regionalismus (nach kulturellen Vorläufern seit 1840) auf etwa 1880, der Durchbruch zur Massenbewegung auf die Jahrhundertwende datiert werden. Der baskische Nationalismus begann (nach kulturellen Vorläufern seit 1870) um 1895, eine politische Bewegung zu werden, die sich spätestens in den Wahlen von 1931 auch als Massenphänomen durchsetzte. Beide Bewegungen entstanden als Reaktion auf die Spannung zwischen relativer sozioökonomischer Überentwicklung (im Verhältnis zum Gesamtstaat) und politischer Entrechtung und Depossedierung der Regionen. Sie entwickelten sich aber sehr unterschiedlich: Der Katalanismus begann sich zu formieren, bevor die Arbeiterschaft sich endgültig organisiert hatte, und überließ sie später weitgehend den Anarchosyndikalisten. Der baskische Nationalismus versuchte, wenigstens Teile der Arbeiterschaft zu organisieren. Dies hat natürlich auch mit dem Engagement der anderen Seite, der Unternehmer, zu tun. Die katalanischen Bankiers und Unternehmer, die als Produzenten von Fertigprodukten in regionalen Dimensionen dachten, wurden zu den ersten Trägern des politischen Katalanismus. Als später die Mittelschichten und vor allem die Bauern vermehrt mobilisiert wurden, mussten sie aufgrund der deutlichen Interessendifferenzen andere Parteien gründen. Der katalanische Nationalismus war organisatorisch entlang sozialer Linien zweigeteilt. Bis in die 1920er Jahre dominierte die Bourgeoisie und ihre Lliga, danach die Esquerra, die linksliberale Union der Parteien und Gruppen der unterbürgerlichen Schichten.11 Die baskischen Bourgeois waren dagegen durchweg keine baskischen Nationalisten. Die Banken und schwerindustriellen Unternehmer waren voll in den gesamtspanischen Markt integriert und eng mit der zentralen Staatsbürokratie verbunden und verklammert. Die Baskische Nationalistische Partei (PNV) konnte somit ein relativ homogenes katholisch-konservatives Milieu aus Kleinbürgern, Handwerkern, Bauern, Fischern und wenigen kleinen Familienunter-
10 Vgl. J. J. Linz, Early State Building and Late Peripheral Nationalisms against the State: The Case of Spain, in: S. N. Eisenstadt u. S. Rokkan (Hg.), Building States and Nations, London 1973, Bd. 2, S. 32–116; H. J. Puhle, Nation States, Nations and Nationalisms in Western and Southern Europe, in: J. G. Beramendi u. a. (Hg.), Nationalism in Europe. Past and Present, Santiago de Compostela 1994, Bd. 2, S. 13–38, sowie ders., Nationalismus und Demokratie in Europa, in diesem Band. 11 Vgl. K. J. Nagel, Arbeiterschaft und nationale Frage in Katalonien zwischen 1898 und 1923, Saarbrücken 1991, sowie die Bde. 5 bis 8 der Història de Catalunya, hg. v. J. Fontana u. a., Barcelona 1987–1990.
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nehmern organisieren, in dessen Elite der Klerus eine wichtige Rolle spielte und das gelegentlich auch in die Arbeiterschaft ausgriff. Der baskische Nationalismus blieb trotz gelegentlicher Spaltungen bis in den Bürgerkrieg hinein eine einheitlichere Bewegung als der katalanische. Erst unter der Einwirkung der franquistischen Repression hat sich dieses Verhältnis später umgekehrt.12 4. Mit der Zunahme der Arbeitskämpfe, der Radikalisierung des Linkskatalanismus und der Eskalation der Marokkokriege seit 1917 trat die Restaurationsmonarchie in ihre finale Krise ein, die 1923 für den Rest der 1920er Jahre zur Errichtung der Militärdiktatur des Generals Primo de Rivera führte und schließlich 1931 zur Gründung der Zweiten Republik. Dem abgewirtschafteten pseudoparlamentarischen System und den zerstrittenen zivilen Politikern weinte 1923 kaum jemand eine Träne nach. Der Putsch von Primo de Rivera wurde überwiegend begrüßt. Und 1931 hatte sich auch die Monarchie hinreichend diskreditiert. Die Militärdiktatur Primo de Rivera stellt unter Modernisierungsgesichtspunkten neben der Periode franquistischer Industrialisierungspolitik nach 1957 sicherlich die wichtigste Phase der spanischen Entwicklung im 20. Jahrhundert dar. Sie brachte einen dramatischen Schub in Richtung auf Sozialreformen von oben unter aktiver Mitwirkung der Hälfte der Arbeiterbewegung, nämlich der Sozialisten, die mit Primo zusammenarbeiteten, in Richtung auf staatliche Regulierung und den Ausbau des staatlichen Interventionismus in Wirtschaft und Gesellschaft hinein, durchaus auf Verlangen von und in enger Zusammenarbeit mit den jetzt besser organisierten Verbänden von Industrie und Landwirtschaft, altem und neuem Mittelstand. Die wichtigsten Neuerungen waren paritätisch besetzte Gremien zur Schlichtung von industriellen Arbeitskonflikten und zur Verwaltung der Institutionen der ausgeweiteten Sozialversicherung (mit Anfängen nach der Jahrhundertwende), berufs- und produktspezifische Kammern und Beiräte, ein erhebliches Arsenal von Agrarsubventionen und gezielte Industrieförderungspolitik, alles Einrichtungen, die die Zweite Republik übernommen und fortgeschrieben hat, so gut sie das nach dem Einbruch der Wirtschaftskrise und angesichts ihrer inneren Krisen und Zerreißproben vermochte. Die meisten dieser Neuerungen sind in ihrem Kern auch in den langen Jahrzehnten des Franquismus und bis in die Gegenwart hinein bestehen geblieben. Die Primo-Diktatur hat hier entscheidende neue Kontinuitätslinien im Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft begründet. Mochte die Ideologie des Regimes autoritär-korporatistisch in einem berufsständischen Sinne (und selbstverständlich antiparlamentarisch) sein; die neuen Institutionen und Mechanismen der Interaktion im Bereich der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik hätten so oder ähnlich auch in einem liberalen ›neo-korporatistischen‹
12 Vgl. insb. L. Mees, Nacionalismo vasco, movimiento obrero y cuestión social (1903–1923), Bilbao 1992; ders., Entre nación y clase, Bilbao 1991; J. L. de la Granja, Nacionalismo y II República en el País Vasco, Madrid 1986; J. J. Linz, Conflicto en Euskadi, Madrid 1986.
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ambiente ihren Platz haben können.13 Nach denselben Kriterien, mit denen man in Deutschland den Übergang vom mehr marktbestimmten Konkurrenzkapitalismus zu einem stärker verklammerten organisiert-kapitalistischen System mit vermehrter Staatsintervention und dessen schließliche Durchsetzung in die Jahre zwischen 1876 und 1918 datieren kann, könnte man für Spanien den Beginn dieses Übergangs auf 1923 und den Abschluss auf die 1960er Jahre datieren.14 5. Den fünften und sechsten Periodisierungsabschnitt markieren zweifellos die Gründung der zweiten spanischen Republik 1931 und die Jahre des Bürgerkriegs 1936–39. Im Hinblick auf die hier diskutierten Probleme der Modernisierung überwiegt allerdings eher die Kontinuität ungelöster Fragen. Im wirtschaftlichen und sozialen Bereich blieben die wirksamen Verbesserungen gezählt, und der Krieg bewirkte unter dem Strich wesentlich Vernichtung. Entscheidende Neuerungen brachte die Republik auf politisch-institutionellem Gebiet: vor allem das Frauenwahlrecht, die kategorische Trennung von Kirche und Staat und endlich die Autonomiestatute für Katalonien (1932) und – schon im Krieg – für das Baskenland (1936). Die letzten beiden waren aber bereits extrem umstritten, und die Dauerbrenner der parlamentarischen Auseinandersetzungen, die Agrarreform und die Ausweitung der Sozialgesetzgebung auf die Landarbeiter, die lange überfällige Militärreform und die Erziehungs- und Schul reform als Folgelast der Eingrenzung kirchlichen Einflusses, fanden aufgrund von Blockaden und Verzögerungen keine Lösungen, sondern endeten über wiegend in verwässertem Stückwerk, das zur weiteren Polarisierung beitrug. Die politische Lösungskapazität der Republik war schwach und nahm über die Jahre noch ab, und das nicht nur, weil Konservative, Reaktionäre, Agrarier, Klerikale und Autoritäre sie sabotierten und viele Beamte und Militärs gegen sie konspirierten. Ebenso wichtig waren die Momente der Schwäche im republikanischen Lager selber: Das liberale Bürgertum war um 1930/35 kaum stärker als um 1900, und es war auch nicht weniger zersplittert. Die bürgerliche Elite der spanischen republikanischen Parteien verstand durchweg mehr von individualistisch-intellektuellen ›tertulias‹ im Kaffeehaus als von politischer Führung und taktischen Kompromissen. Die Sozialisten waren in drei Fraktionen gespalten, deren Führer mehr gegeneinander als zusammen arbeiteten, und dies nicht unbedingt aus sachlichen, programmatischen Gründen. Und die Anarchisten hielten sich bis 1936 überhaupt aus der institutionellen Politik heraus, und ein großer Teil von ihnen boykottierte die Wahlen.15 13 Vgl. S. Ben Ami, Fascism from Above: The Dictatorship of Primo de Rivera in Spain 1923–1930, Oxford 1983. 14 Vgl. H. J. Puhle, Historische Konzepte des entwickelten Industriekapitalismus: ›Organisierter Kapitalismus‹ und ›Korporatismus‹, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 10, 1984, S. 165–184. 15 Vgl. zusammenfassend G. Brenan, The Spanish Labyrinth, Cambridge 1967; J. J. Linz, The Party System of Spain: Past and Future, in: S. M. Lipset u. S. Rokkan (Hg.), Party Systems and Voter Alignments, New York 1967, S. 197–282.
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Der zweieinhalbjährige Bürgerkrieg schließlich, der mit einem Generals putsch begann, sich zu einem internationalen Konflikt zwischen den ideologischen Gegnern der Zwischenkriegszeit, vor allem Faschisten und Kommunisten, ausweitete und der schließlich die Republik vernichtet hat, hat nicht nur technische und organisatorische Neuerungen des Schreckens, etwa im Luftund Bombenkrieg, gebracht. Er hat – neben den vergänglicheren Beispielen internationaler Solidarität verschiedener Art und Motivation – in einigen Regionen der Republik, vor allem im Nordosten, für kurze Zeit beeindruckende Energien für eine soziale Revolution freigesetzt, die modellhafte, neue Institutionen gebaut hat: Agrarkollektive und -kooperativen, selbstverwaltete Industrie- und Dienstleistungsbetriebe, die unter bestimmten Bedingungen sogar gut funktionierten. Auch dieses Testen utopischer Entwürfe kann als ein Beitrag zur Modernisierung verstanden werden, dessen Erfahrungen, da Franco den Krieg gewann, allerdings nicht in Spanien wirksam geworden sind. 6. Der Sieg Francos führte zunächst in eine etwa fünfzehnjährige Phase der Repression und Stagnation, die auch ökonomisch mehr durch Versuche zum Überleben und zur Sicherung der Grundversorgung als durch Entwicklung gekennzeichnet ist. Das Franco-Regime war dann jedoch auf lange Sicht fähig, einen neuen bedeutsamen Entwicklungsschub mit breiten Modernisierungs folgen zu initiieren. Dies war in seinem ursprünglichen Programm nicht angelegt, aber ebenso wenig ausgeschlossen und ergab sich aus einer ganzen Reihe von Faktoren: der langen Dauer des Regimes, dem Wunsch, nach 1950 aus der weltweiten Isolierung herauszukommen, und den günstigen Bedingungen, die der Beginn des Kalten Kriegs dafür bot, aber auch aus dem niedrigen Entwicklungsstand Spaniens als Ausgangspunkt und der Gunst der Konjunktur nach 1945. Vor allem ergab es sich auch aus dem Charakter des Regimes als einer Militärdiktatur mit zivilen Alliierten, die auf die Dauer nicht allein durch Repression und die Beschwörung der Erinnerung an die Bürgerkriegsfronten und der leyenda negra herrschen konnte und zusätzliche Legitimation suchte.16 Die Franco-Diktatur war nicht faschistisch. Sie wies – in der Tradition der Falange – lediglich faschistische Elemente auf, die mit der Zeit abnahmen. Eher war sie ein autoritäres und bürokratisches Regime eines (nicht einmal charismatischen) militärischen caudillo, das extrem zentralistisch war und zu dessen tragenden Säulen außer dem Militär noch die Kirche, die traditionellen Eliten und die Wirtschaftseliten, die sogenannten ›politischen Familien‹ gehörten. Der 16 Vgl. insgesamt S. G. Payne, The Franco Regime, Madison 1987; J. J. Linz, From Falange to Movimiento-Organización: The Spanish Single Party and the Franco Regime 1936–1968, in: S. P. Huntington u. C. H. Moore (Hg.), Authoritarian Politics in Modern Societies, New York 1970, S. 128–203; ders., An Authoritarian Regime: The Case of Spain, in: E. Allardt u. S. Rokkan (Hg.), Mass Politics. Studies in Political Sociology, New York 1970, S. 251–283, 374–381; H. J. Puhle, Autoritäre Regime in Spanien und Portugal. Zum Legitimationsbedarf der Herrschaft Francos und Salazars, in: R. Saage (Hg.), Das Scheitern diktatorischer Legitimationsmuster und die Zukunftsfähigkeit der Demokratie, Fs. f. W. Euchner, Berlin 1995, S. 191–205; auch: P. Preston, Franco, London 1993.
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Mobilisierungsbedarf war extrem gering, wie übrigens auch der Bedarf an klarer institutioneller Neuordnung, die lange unterblieb. Der Apparat des ›movimiento‹ diente überwiegend der Verteilung von Versorgungsleistungen, als Gewerkschaftsersatz und gelegentlich als Produzent anspruchsloser Versatzstücke einer korporatistischen Ideologie. Es war Sache des Diktators, die Gewichte der jeweiligen Fraktionen des Regimes auszutarieren. Lange Zeit hat man versucht, die Kräfteverhältnisse innerhalb des Regimes und die politischen Kurswechsel an den Änderungen der Kabinettslisten abzulesen. Sie verzeichnen nach 1945 einen unaufhaltsamen Rückgang der Falangisten und seit 1957 das Vorrücken von Technokraten und Vertretern des Opus Dei im Zuge der Öffnung zum Westen und einer grundlegenden Umorientierung der Wirtschaftspolitik. 7. Die Aufgabe der Autarkiepolitik und der Übergang zu einer umfassenden Politik der beschleunigten Industrialisierung und der intensivierten staatlichen Wirtschaftsplanung seit Ende der 1950er Jahre markiert den Beginn des bisher letzten und vielleicht folgenreichsten konzentrierten Modernisierungsschubs in der spanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und stellt eine wichtige Zäsur dar. Auslandskapital strömte vermehrt ins Land, staatliche Wirtschaftsförderung und Planung und Staatsunternehmen nach italienischem und französischem Vorbild wurden ausgebaut. Insbesondere das kastilische Umland von Madrid und zahlreiche andere Regionen um Großstädte außerhalb Kataloniens und des Baskenlands wurden neu industrialisiert, die industriellen Technologien und Produkte diversifiziert. Nach den beiden schon lange entwickelten Randprovinzen vollzog seit 1960 auch Spanien insgesamt den Übergang ›vom Agrar- zum Industriestaat‹. Der Lebensstandard der Bevölkerung und aller sozialer Gruppen stieg langfristig an, besonders drastisch der der Arbeiterschaft und der beschäftigten Unterschichten. Die Landwirtschaft wurde modernisiert und maschinisiert, und die alten politischen Forderungen zur Agrarreform wurden in Bahnen technischer Verbesserungen, Kapitalisierung und Effizienzsteigerung kanalisiert. Dies ist, neben der ständig präsenten Repression, wohl auch ein entscheidender Grund für das Verschwinden des Anarchismus und Anarchosyndikalismus als Massen bewegung gewesen.17 Seit den 1960er Jahren wurde der Tourismus ausgebaut, mit entsprechenden Folgen für die Entwicklung des Dienstleistungssektors (›Tertiarisierung‹), der Zahlungsbilanz, den Einfluss multinationaler Konzerne und die Zunahme interkultureller Kommunikation. Die Staatseinnahmen stiegen und machten Verbesserungen der Infrastruktur und der Versorgungsleistungen möglich. Deutlich sind aber auch gewisse Muster einer ›abhängigen‹ Entwicklung.18 17 Vgl. J. Martínez Alier, La estabilidad del latifundismo, Paris 1968; ders., Labourers and Landowners in Southern Spain, London 1971; P. Carrión, La reforma agraria de la segunda república y la situación actual de la agricultura española, Barcelona 1973. 18 Vgl. R. Tamames, Introducción a la economía española, Madrid 19727; DATA, Estructura social básica de la población de España y sus provincias, Madrid 1973; FOESSA, Informe sociológico sobre el cambio social en España, 1975–1983, Madrid 1983.
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Das Land veränderte sich rapide. Am Ende erschien auch die politische Liberalisierung (und auf lange Sicht Demokratisierung) zunehmend unvermeidlich und wurde in gelegentlichen Maßnahmen der Regierung angedeutet. Die repressiven Rückfälle der letzten Dekade des Franquismus wirkten immer atavistischer, die Opposition im Regime und gegen das Regime wurde stärker und formierte sich. Die Diktatur starb langsam wie schließlich der Diktator.19 Die lange Dauer des Franco-Regimes und die konkreten Herausforderungen seiner Epoche haben so dazu beigetragen, die Grundlagen zu schaffen für dessen relativ gewaltfreie und friedliche Überwindung. Der Übergang Spaniens von der Diktatur zur Demokratie nach 1975, die erfolgreiche und lange Zeit im Vergleich geradezu als vorbildlich angesehene ›transición pactada‹ ist auch wesentlich geprägt worden durch die Entwicklung des Regimes in seinen letzten Phasen und durch die Folgen des Modernisierungsschubs im Franquismus. 8. Die letzte Zäsur, von der hier zu reden ist, der Beginn des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie im Herbst 1975, hat eine für die hier diskutierten Fragen besonders interessante Phase eingeleitet. Zunächst einmal wurde das politische System modernisiert, es wurden die Institutionen der parlamentarisch-demokratischen Monarchie und des neuen halbföderalen ›Staats der Autonomien‹ gebaut, die Militärs (›poderes fácticos‹) waren zu zähmen, die Willkür der Beamtenroutine und der politische Terrorismus einzudämmen. Es entstanden neue Parteien und schlagkräftige Verbände, vor allem auf Unternehmerseite und in der Landwirtschaft. Die Gewerkschaften, in denen Ende der 1970er Jahre noch 40–50 %, Mitte der 80er Jahre aber nur noch rund 10 % der ökonomisch aktiven Bevölkerung (vor allem in zwei Dachverbänden) organisiert waren,20 haben dramatisch an Einfluss verloren, gerade auch gegenüber der ab 1982 im Amt befindlichen sozialistischen Regierung, die sie lange Zeit nicht zu brauchen schien. Dies lag auch, aber nicht nur, an der Abnahme klassischer Industriearbeit und Landarbeit insgesamt, an der Zunahme der sogenannten ›neuen Mittelklassen‹ und des informellen Sektors der Untergrundwirtschaft, der zusammen mit der traditionellen Familie die Kosten der vermehrten hohen Arbeitslosigkeit im Zuge des industriellen Umbaus (reconversión industrial) und der technologischen Modernisierung auffangen musste, vor allem in den älteren Industrieenklaven. Letztere gehört seit der Konsolidierung der Demokratie und dem ersten durch Wahlen bewirkten Regierungswechsel von 1982 zu den wichtigsten Aufgaben der spanischen Politik.21 19 Vgl. Payne, Franco Regime; P. Waldmann u. a. (Hg.), Sozialer Wandel und Herrschaft im Spanien Francos, Paderborn 1984; R. Carr u. J. P. Fusi, España: de la dictadura a la democracia, Barcelona 1979; W. L. Bernecker, Spaniens Geschichte seit dem Bürgerkrieg, München 1988. 20 Zwischen 1986 und 1993 hat der Anteil der gewerkschaftlich Organisierten periodisch zwischen 10 und 15 % geschwankt. 21 Zum Demokratisierungsprozess insgesamt vgl. J. M. Maravall, La política de la transición (1982), Madrid 1985; R. Gunther u. a., Spain After Franco, Berkeley 19882; J. J. Linz u. J. R. Montero (Hg.), Crisis y cambio. Electores y partidos en la España de los años ochenta,
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Die in den achtziger und großen Teilen der neunziger Jahre regierenden Sozialisten haben den gleichzeitig einsetzenden Aufschwung vor allem dazu genutzt, das Wachstum zu stabilisieren, die Inflation einzudämmen und die ökonomische Struktur zu modernisieren, unter Inkaufnahme besonders hoher sozialer Kosten, vor allem über 20 % Arbeitslosigkeit und Stagnation der Sozialleistungen. Die Regierung von Felipe González (1982–1996) hat zeitweise eine relativ zurückhaltende und konservative Sozialpolitik betrieben. Andere wichtige Programmpunkte sind die Teil-Reprivatisierung und Reform des riesigen Sektors unternehmerischer Staatstätigkeit, Verwaltungs-, Erziehungs- und Hochschulreform, Maßnahmen zum Abbau der extremen regionalen Entwicklungsunterschiede und zur Verbesserung des interregionalen Finanzausgleichs und zum Umbau der Agrarproduktion und des überlieferten Subventionismus nach dem EG-Beitritt gewesen. Als Herausforderung der Zukunft hat lange Zeit, zumindest bis zum Beginn der Verhandlungen über den Beitritt weiterer ›nördlicher‹ Länder Anfang 1994 (und vermutlich wohl auch noch darüber hinaus), Europa gegolten, eine Perspektive, die zeitweise sogar diverse Kosten-Nutzen-Rechnungen überdecken konnte.22 Insbesondere hat die technologische Modernisierung, das Vordringen von Elektronik, Informatik und neuen Service-Bereichen und der Abbau veralteter klassischer Industrietechnologien zum einen eine Verschiebung der regionalen Schwergewichte eingeleitet: weg von den nördlichen Randregionen, hin ins Zentrum, in den Osten und Südosten. Zum anderen akzentuiert diese Entwicklung in einigen bisher unterentwickelten Regionen auch einen typischen Prozess, der auch in anderen südeuropäischen Ländern festzustellen ist, nämlich einen mitunter sehr großen Sprung aus einer überwiegend vorindustriell geprägten Gesellschaft in eine spätindustrielle Gesellschaft mit hohem Anteil von fortgeschrittenen Technologien und Dienstleistungen, ohne dabei je durch die typischen klassischen Industrialisierungsprozesse gegangen zu sein (das ominöse ›leapfrogging‹). Vorindustrielle Dienstleistungen können dabei gelegentlich direkt von sogenannten ›postindustriellen‹ Dienstleistungen abgelöst werden. In den hier angedeuteten Entwicklungen sind oft noch eine ganze Reihe von Zügen erkennbar, die charakteristisch gewesen sind für den spanischen Entwicklungsweg: z. B. die Dominanz bürokratischer Konzepte der Reform von oben, staatsbezogene Mentalität, unternehmerische Schwäche, die manMadrid 1986; V. Pérez Díaz, El retorno de la sociedad civil, Madrid 1987; S. Giner u. E. Sevilla, From Corporatism to Corporatism, in: A. Williams (Hg.), Southern Europe Transformed, London 1984, S. 113–141; zum Vergleich insb. R. Gunther, P. N. Diamandouros u. H. J. Puhle (Hg.), The Politics of Democratic Consolidation. Southern Europe in Comparative Perspective, Baltimore 1995. 22 Vgl. u. a. J. M. Maravall, From opposition to government: the politics and policies of the PSOE, in: ICPS (Hg.), Socialist Parties in Europe, Barcelona 1991, S. 5–34; ders., What is Left? Social Democratic Policies in Southern Europe, Instituto Juan March de Estudios e Investigaciones, Madrid, Working Paper 1992/36; H. J. Puhle, El PSOE: Un partido dominante y heterogéneo, in: Linz u. Montero (Hg.), Crisis y cambio, S. 289–344.
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gelnde Verankerung und Institutionalisierung der Parteien im Lande, die individualistische Verantwortungslosigkeit einiger Parteieliten, die in den Wahlen von 1982 eine komplette Verschiebung des ganzen Parteiensystems bewirkt hat, und punktuelle Mobilisierung ohne Strukturen oder Personalismus, heute noch veredelt durch die einflussreichen Methoden der Fernsehwerbung. Es gibt aber auch neue Züge: z. B. das zunehmende Vordringen von Frauen, die in bestimmten Führungsgruppen in Spanien schon zahlreicher vertreten sind als in Deutschland. Vor allem kann aber kein Zweifel daran sein, dass in den ersten zwanzig Jahren der neuen spanischen Demokratie ein wichtiger Neuanfang gemacht wurde und dass sich eines entscheidend geändert hat: Der spanische Entwicklungsweg in die Moderne war bisher durchweg gekennzeichnet durch das Auseinanderfallen von politischer und sozioökonomischer Modernisierung. Im 19. Jahrhundert, in der Restaurationsmonarchie und in der Zweiten Republik wurde überwiegend politisch modernisiert, aber wenig sozioökonomisch, unter der Primo-Diktatur und unter Franco gab es erhebliche sozioökonomische Entwicklungsschübe, aber politischen Rückschritt. In den zwei Jahrzehnten seit 1975 sind zum ersten Mal in Spanien beide Prozesse gleichzeitig vorangetrieben worden, und zwar in einer neuen Qualität: Übergang zur Demokratie und zu neuen Schlüsseltechnologien. Ähnlich wie zuvor in anderen entwickelteren europäischen Ländern schleift sich damit ein wichtiges Charakteristikum des bisherigen spanischen Modernisierungswegs allmählich ab und tritt zurück. Spanien wird mehr wie die anderen. Das bedeutet aber sicher nicht, dass die Arbeit der Modernisierer leichter wird.
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Nationalismus und Demokratie in Europa*
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Über das Verhältnis zwischen Nationalismus und Demokratie und den Stellenwert nationalistischer Phänomene in Demokratisierungsprozessen ist in der neueren Transformationsforschung besonders in den letzten fünfundzwanzig Jahren diskutiert worden, also seit der ›vierten‹ Demokratisierungswelle des 20. Jahrhunderts, die mit dem Niedergang der kommunistischen Regime in Mittel-, Ost- und Südosteuropa und anderswo begann. In den inzwischen ›klassischen‹ Fällen der ›dritten Welle‹, den Regimetransformationen innerhalb kapitalistischer Wirtschaftssysteme, die sich nicht wesentlich änderten, seit 1974/75 in Südeuropa, Lateinamerika, Ostasien und in einigen Teilen Afrikas, sind nationale Probleme und Nationalismus in Bezug auf Probleme der Demokratisierung durchweg kein bedeutsamer Diskussionspunkt gewesen, mit einer Ausnahme: dem Fall Spanien. Dies hat sich seit 1989 geändert, sodass es Sinn macht, im breiteren Kontext über das Verhältnis von Nationalismus und Demokratie nachzudenken, oder, um der Komplexität der Dinge Rechnung zu tragen: über alte und neue Nationalismen in alten und neuen Demokratien. Juan Linz hat, den Fall S panien (und bombenlegende baskische Terroristen) vor Augen, immer wieder argumentiert, dass Nationalismus grundsätzlich schlecht sei für die Entwicklung der Demokratie, und besonders für die Entwicklung neuer Demokratien. Ich zweifle daran, dass dies so stimmt. Das Problem und die jeweiligen Konstellationen sind sehr viel komplizierter. Dies legt es nahe, dem Verhältnis von Nationalismus und Demokratie bzw. Demokratisierung in Europa einmal etwas systematischer nachzugehen, nicht nur mit Bezug auf die letzten zwei Demokratisierungswellen, sondern auch unter Einbezug der längeren europäischen Entwicklungslinien. Dafür gibt es gute Gründe. In der Folge sollen, nach einigen kurzen Bemerkungen (1) zu den Definitionen dessen, was wir unter ›dem Nationalen‹ verstehen wollen, (2) Hinweisen auf eine Reihe von Problemen und (3) einem Periodisierungsversuch, in den Punkten (4) bis (7) die früheren fünf Wellen nationalistischer Mobilisierung diskutiert sowie gefragt werden, ob die neuen Nationalismen in postkom* Dieser Beitrag ist aus dem Vortrag ›Old and New Nationalisms and Democracy in Europe‹ hervorgegangen, den ich im Dezember 2008 an der University of Helsinki und (verändert) im März 2010 an der Georgetown University gehalten habe. Für die deutsche Version wurden auch Textpasssagen herangezogen aus: Staaten, Nationen und Regionen in Europa, Wiener Vorlesungen im Rathaus 37, Wien 1995, und: Neue Nationalismen in Osteuropa – eine sechste Welle?, in: E. Jahn (Hg.), Nationalismus im spät- und postkommunistischen Europa, Bd. 1, Baden-Baden 2008, S. 162–182.
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munistischen Ländern eine neue, sechste Welle konstituieren. Abschließend soll (8) versucht werden, einige der Befunde zum Verhältnis von Nationalismen und Demokratisierung zusammenzufassen.
1. Definitionen und Erklärungsansätze Am Anfang waren die Staaten, und die Regionen. Die Nationen kamen später. Mit ›Anfang‹ meine ich hier den Beginn der jüngeren europäischen Modernisierungsprozesse seit der frühen Neuzeit, und insbesondere seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. In diesen Prozessen spielten die zentralen Rollen erstens die Staaten und zweitens die Regionen: Die Staaten, weil sie als Herrschaftsorganisationen mit zunehmend monopolistischem Charakter in hohem Maße die Institutionen geprägt haben und weil die jeweils konkreten Muster der Modernisierungswege zum größten Teil staatliche Dimensionen hatten. Und die Regionen, weil die Räume öffentlicher Organisation zunächst überwiegend die Räume kleiner Territorien waren, in denen sich Institutionen, Privilegien und Sonderrechte herausbildeten, und weil die Freiräume für autonome Organisation, die es auch im Absolutismus noch gab, wesentlich auf lokaler und regionaler Ebene, in den Städten und Provinzen lagen, nicht zuletzt aber auch deshalb, weil die Industrialisierung, wie wir wissen, im Wesentlichen ein regionaler Prozess gewesen ist.1 Die Nationen kamen dagegen später, und sie sind zunächst einmal nicht so wichtig gewesen. Dies änderte sich im 19. Jahrhundert, als der Nationalismus als politisches Prinzip erfunden wurde, inspiriert vom Konzept des ›Nationalstaats‹, in dem sich der moderne Staat und die mobilisierte Nation überwiegend decken, wie ihn die amerikanische und französische Revolution und etwas später auch der britische Reform Act etabliert haben. Der Nationalstaat ist eine westeuropäisch-atlantische Erfindung, die sich über die Territorien Mittel europas und die multinationalen Reiche Ost- und Südosteuropas schließlich in alle Welt ausgebreitet, als der moderne Staat schlechthin gegolten hat und aus vielen Gründen konkurrenzlos attraktiv gewesen ist. Diese Prozesse sind im Einzelnen von Stein Rokkan, Ernest Gellner, John Breuilly und anderen untersucht worden.2 Was verstehen wir unter einem Nationalstaat? Das Konzept ist nicht klar, weil so gut wie nichts, was mit dem ›Nationalen‹ zu tun hat, je klar ist. Manche 1 Vgl. C. Tilly (Hg.), The Formation of National States in Modern Europe, Princeton 1975; J. Breuilly, Nationalism and the State, Manchester 19932; G. Poggi, The Development of the Modern State, Stanford 1978; G. Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: VSWG, Jg. 55, 1968, S. 329–347; S. Pollard, Peaceful Conquest. The Industrialization of Europe, Oxford 1981. 2 Vgl. u. a. S. Rokkan, Staat, Nation und Demokratie in Europa (hg. v. P. Flora), Frankfurt 2000; E. Gellner, Nations and Nationalism, Ithaca 1983; Breuilly, Nationalism.
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nennen jeden halbwegs modernen Staat einen Nationalstaat, definieren mithin, wenn sie überhaupt darüber nachdenken, die Gesamtheit der Staatsbürger als die Nation, wie es die amerikanischen oder französischen Revolutionäre getan haben. Eine solche Definition macht Sinn; sie ist aber, wie wir wissen, nicht die einzige geblieben. Meistens kommen sehr schnell kulturelle und historische Elemente, die man oft ›ethnisch‹ nennt, hinzu. Der ›Nationalstaat‹ wird dann zu einem Programm, zu einem Projekt der sog. Nationalisten, das darauf abzielt, dass die beiden großen politischen Grundeinheiten der Moderne, der Staat und die Nation, sich decken, in eins fallen sollen, jedenfalls soweit wie möglich: dass in der besten aller Welten jede Nation ihren eigenen Staat haben solle, und dass eigentlich auch nur Mitglieder dieser Nation in diesem Staat leben sollten, nach der schönen Formel, die Ernest Gellner auf den Punkt gebracht hat: »Ruritanien den Ruritaniern. Und alle Nicht-Ruritanier raus!« Die historische Realität hat diesem Projekt allerdings nur allzu oft nicht entsprochen, was dann zu den bekannten Problemen geführt hat. Unter Nationalismus verstehe ich zunächst eine politische Ideologie, die nach außen hin den Vorrang der Interessen der eigenen Nation vor anderen als Richtlinie für die Politik postuliert und die Wahrung dieser Interessen oftmals durch die Annahme kultureller, historisch erworbener, religiös motivierter oder biologischer Höherwertigkeit und ein entsprechendes Sendungsbewußtsein rechtfertigt. Nach innen wird dabei die Zugehörigkeit zur Nation allen anderen sozialen Gruppenzugehörigkeiten übergeordnet. Die Nation wird als ein Ganzes verstanden, das mehr ist als seine Teile. Was die Nation aber ist, ist weniger klar: Ganz allgemein lässt sie sich, erstens, als eine historisch (halbwegs) gefestigte soziale Großgruppe mit einem wertbezogenen Identitätsbewusstsein verstehen, in der Regel größer als ein Stamm und nicht unbedingt identisch mit der civil society eines Staates, und unabhängig davon, ob die Festigung der Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Gruppe zu größeren Teilen auf sprachlich-kulturellen, religiösen, ökonomisch-sozialen oder politisch-institutionellen Faktoren bzw. entsprechenden Mischungen beruht. Das bleibt noch sehr formal. Im Unterschied z. B. zur ›Klasse‹, die sich ähnlich definieren ließe, wird ›Nation‹ nicht als eine gesellschaftliche Großgruppe unter anderen verstanden, sondern als eine übergreifende Einheit, in der sich die gesamte Gesellschaft als handelndes Subjekt konstituiert. Die ›Nation‹ ist die mobilisierte Gesellschaft. ›Nation‹ ist, zweitens, eine höchst subjektive Angelegenheit. Im Wesentlichen ist sie das, was die Leute denken, dass sie sei; also ›a matter of opinion‹. Für Max Weber ist ›Nation‹ ein Begriff aus der »Wertsphäre«, weil er »gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber (zumutet)«. Diese ›Solidaritätszumutung‹ wird gegründet auf den geteilten Glauben an eine Reihe nationaler Gemeinsamkeiten und an die Existenz einer ›Gemeinschaft‹, deren Qualität, wieder nach Weber, höchst fragwürdig bleibt.3 3 Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Köln 1964 (Tübingen 1956), S. 29–41, 303–316, 674–678, bes. 675.
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Die ›Nation‹ wird gemacht, wird gebaut, manchmal erfunden; sie ist, wie Juan Linz gesagt hat, ein Produkt »vorsätzlicher Gestaltung« (deliberate crafting), Machtverhältnisse, die zu einer Idee werden.4 Seit Weber, Tönnies und anderen wissen wir auch, dass die ›Nation‹ immer auch eine handlungsleitende Fiktion ist, die auf dem Wege der Analogie ein gesellschaftliches Phänomen als ein gemeinschaftliches ausgibt, das es nicht ist, obwohl dessen Zusammenhalt auch gemeinschaftliche Züge zeigt und die soziale Realität oft Mischungen von Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung spiegelt.5 Drittens ist ›Nation‹ auch ein sozialer Tatbestand, ein fait social (E. Durkheim) oder fait historique (M. Bloch), der von entsprechenden Interessenten (den sog. ›Nationalisten‹) in Beziehung auf einen (existierenden oder nicht-existierenden) Staat entlang der Linien definiert wird, die die Machtverhältnisse in einer bestimmten Gesellschaft vorgeben. Die Definition kann jedoch nicht willkürlich sein. Die Abgrenzungskriterien müssen für eine hinreichende Zahl von Leuten hinreichend plausibel sein (was die strategischen Vorteile eines ›tangiblen‹ ›Ethno‹-Syndroms gegenüber abstraktem Verfassungspatriotismus erklärt). Die Kriterien können gefunden werden in Sprache, Kultur, Religion, Traditionen und Institutionen, Glaubenssätzen und Mythen, z. B. über die ›Rasse‹ oder die ›Mission‹, in dem, was Tönnies ›Verständnis‹ nennt, in Kommunikationsnetzen, die Einschluss oder Ausschluss begründen und Feindbilder etablieren, oder in Otto Bauers ›Schicksalsgemeinschaft‹, die zur ›Charaktergemeinschaft‹ wird.6 Ausschluss ist dabei meist wichtiger als Einschluss, und es fragt sich, ob es überhaupt Nationen geben kann ohne ein wenigstens minimales ›Feindbild‹. Ohne plausible Abgrenzungskriterien lassen sich keine Massen nationalistisch mobilisieren. Hier liegt wahrscheinlich ein entscheidender Nachteil aufgeklärter und abstrakter Nationsbegriffe, die vom Bürgerrecht und von der Staatsnation ausgehen und gemeinhin von vielen als zu ›blutleer‹ empfunden werden gegenüber sichtbaren und greifbaren Kriterien, die sich kulturell, am Phänotyp oder an territorialen Traditionen orientieren. Die Annahme, dass alles Nationale einen ›ethnischen‹ Kern habe (wobei es prinzipiell unerheblich ist, ob man mit dem traditionellen deutschen Volksbegriff oder mit ›proto-nationalen‹ Faktoren argumentiert), ist ebenso realitätsmächtig wie die, dass die nationale Identität eine besonders wichtige Identität sei, obwohl wir wissen, dass das ›Ethnische‹ ebenso konstruiert ist wie das Nationale, und dass auch Identitäten gemacht werden, dass jede(r) davon gleichzeitig immer mehrere hat, deren Stellenwert keineswegs 4 J. J. Linz, State and Nation Building, in: European Review, Jg. 1, 1993, S. 355–369. Zu den Mechanismen der ›Erfindung‹ vgl. insb. B. Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, rev. ed. London 2006. 5 Vgl. Weber, ebd.; F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt 1988 (8. Aufl. 1935), S. 34–36. Die (gemischten) Grauzonen hat auch Talcott Parsons mit seiner Kategorie der ›societal community‹ auszuloten versucht; vgl. u. a. T. Parsons, Some Theoretical Considera tions on the Nature and Trends of Change of Ethnicity, in: N. Glazer u. D. P. Moynihan (Hg.), Ethnicity. Theory and Experience, Cambridge, MA 1975, S. 53–83, bes. 59, sowie im Spätwerk. 6 Vgl. Tönnies, ebd.; O. Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien 19242.
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vorgegeben ist. Dass die Menschen sich gern und in überschaubarem Rahmen abgrenzen, mag als allgemeines Bedürfnis hingehen. Dass sie dies lange Zeit überwiegend räumlich, in territorialen Dimensionen, und nach ›ethnischen‹ oder ›nationalen‹ Kriterien getan haben und noch tun, und mit welchen konkreten Elementen diese Kriterien zu einer bestimmten Zeit jeweils ausgefüllt worden sind, bedarf der sozialwissenschaftlichen Erklärung. Möglicherweise sind nur die Bemühungen um mehr Aufklärung erfolglos geblieben.7 Der Bau der Nation, ›nation building‹ kann sehr verschieden geschehen, mehr von oben oder mehr von unten,8 und es macht einen entscheidenden Unterschied, ob die Nation, wenn sie gebaut wird (oder ›erfunden‹, oder wenn sie sich, wie man lange sagte, ihrer selbst ›bewusst‹ wird), ihren Staat schon hat oder nicht, und weiterhin: wie weit die entsprechende Gesellschaft bereits politisch mobilisiert und organisiert ist. Die ›staatenlosen‹ Nationen Osteuropas, Ostmittel- und Südosteuropas, die seit dem 19. Jahrhundert aus den VielvölkerReichen der russischen Zaren, der Türken und der Habsburger heraus wollten (oder in ihnen wenigstens souverän sein) und deren große Stunde erst am Ende des Ersten Weltkriegs kam, haben zunächst wesentlich nation building von unten betrieben; nationale Bewegungen waren die Vehikel. In den neuen Staaten des europäischen Zentrums, Deutschland und Italien, wo es nicht um Dissoziation ging, sondern um die Integration kleinerer Territorien zu einem größeren Gebilde, wurden die Nationalbewegungen schon bald von den hegemonialen Territorialmächten kanalisiert und beerbt, sodass nation building dann mehr von oben erfolgte, wenn überhaupt. Während der Piemonteser Liberale Massimo d’Azeglio 1860 immerhin bemerkte: »Wir haben Italien gemacht. Jetzt müssen wir Italiener machen«, war Bismarck (1867) eher uninteressiert: »Setzen wir Deutschland sozusagen in den Sattel! Reiten wird es schon können.«9 7 Vgl. den weiten Überblick von R. Koselleck u. a., Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 141–431; E. Gellner, Nations; E. J. Hobsbawm, Nations and Nationalism since 1870, London 1990 (mit ›proto-nationalen‹ Annahmen). Der differenzierteste ›ethnicity‹-Ansatz zur Nationalismusforschung findet sich bei A. D. Smith, The Nation: Invented, Imagined, Reconstructed?, in: Millennium. Journal of International Studies, Jg. 20, 1991, S. 353–368; ders., Nationalism: Theory, Ideology, History, Cambridge 2008; Übersichten in: J. Hutchinson u. A. D. Smith (Hg.), Nationalism, Oxford 1994, u. S. Weichlein, Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa, Darmstadt 2006. Auf das breite Feld der ›ethnicity‹-Studien und die Grabenkriege zwischen primordialists, perennialists, modernists und anderen muss hier nicht eingegangen werden. 8 Vgl. die Diskussionen in: K. W. Deutsch, Nationalism and Social Communication, Cambridge, MA 19662; ders. u. W. J. Foltz (Hg.), Nation Building, New York 1963; W. Connor, Nation Building or Nation Destroying?, in: World Politics, Jg. 24, 1972, S. 319–355; J. J. Linz, From Primordialism to Nationalism, in: E. A. Tiryakian u. R. Rogowski (Hg.), New Nationalisms of the Developed West, Boston 1985, S. 203–253. 9 Linz, State and Nation Building, S. 361; O. v. Bismarck, Die Gesammelten Werke, Berlin 1924–35, Bd. 10, S. 392. Im Jahre 1883 fuhr Bismarck fort: »Dies Volk kann nicht reiten! Die was haben, arbeiten nicht, nur die Hungrigen sind fleißig, und die werden uns fressen.« (ebd., Bd. 8, S. 492).
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Nur in Westeuropa, vor allem in Frankreich und Großbritannien, wo die Staaten als potentielle ›Nationalstaaten‹ (denen nur die organisierte innere Mobilisierung noch fehlte) schon existierten, ehe die nationalen Ideen zu wirken begannen, konnte nation building gleich als Prozess der inneren Homogenisierung (oder ›Nationalisierung‹) beginnen, von oben ebenso wie von unten. Dieser Prozess etablierte weitgehend den klassischen Typ des ›Nationalstaats‹, in relativ festen Grenzen und mit unbestrittenen Loyalitäten (wenn man von der britischen Halbkolonie Irland einmal absieht), in dem sich Staat und Nation, auch im kulturellen und identifikatorischen Verständnis, überwiegend decken. Dieser ›Nationalstaat‹ hat sich, zumindest als Projekt der Nationalisten, von Westeuropa über Mittel- und Osteuropa schließlich in alle Welt ausgebreitet und als der moderne Staat schlechthin gegolten, der attraktiv war aufgrund seiner ökonomischen Leistungsfähigkeit, seines Mobilisierungs- und Integrationspotentials, zumal in Zeiten krisenhafter Übergänge, seiner Kapazitäten zur Sicherung von Rechtsstaatlichkeit, Partizipation, parlamentarischer Kontrolle und zur Institutionalisierung sozialer und politischer Konflikte.10 Ganz neue Probleme der Identifikation und Umstellung bekamen die Rumpfnationen zusammengebrochener Imperien, z. B. Dänemark, die Niederlande, die Türkei oder Österreich. Selbst die Definitionen dessen, was eine Nation sei, hingen wesentlich davon ab, ob ein dieser Nation zuzuordnender Staat vorhanden war oder nicht: Die ostund mitteleuropäischen Nationen wurden mangels Staat überwiegend kulturalistisch definiert, nach Sprache, Religion und gemeinsamer Geschichte, in der Tradition Herders oder Arndts: »Ein Volk, so weit die Zunge reicht«. (›Kultur nation‹ vs. ›Staatsnation‹, ›Ethnos‹ vs. ›Demos‹).11 Diese Nationen sollten ihre eigenen Staaten bekommen, gemäß der puristischen Nationalstaatsdevise »Ruritanien den Ruritaniern!« (Gellner). Der westliche Definitionstyp war dagegen zunächst eher politisch und voluntaristisch, bezogen auf die Nation als Gesamtheit der freien Staatsbürger im revolutionierten Staat, das »plébiscite de tous les jours« (E. Renan),12 wenngleich auch in Frankreich schon relativ früh kulturalistische Konnotationen dazukamen,13 die später, nach der Durchsetzung des Sozialdarwinismus seit den 1860er Jahren, überall in der westlichen Welt noch biologistisch, rassistisch, völkisch und imperialistisch durchsetzt wurden. Auch in England hat bereits 1861 John Stuart Mill die Ansicht vertreten, dass Demokratie (representative government) nur in einem sprachlich homogenen Staat 10 Vgl. J. Breuilly, Nationalism, bes. Teil I. 11 Vgl. M. R. Lepsius, Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 232–269. 12 E. Renan, Qu’est-ce qu’une nation? Paris 1882. 13 Vgl. W. Safran, State, Nation, National Identity, and Citizenship: France as a Test Case, in: International Political Science Review, Jg. 12, 1991, S. 219–238. Kulturalistische Elemente hatten auch bereits in der vorrevolutionären und vornationalen, wesentlich staatsbezogenen Phase die absolutistischen Bemühungen um ›Französisierung‹ der Untertanen verschiedener Sprachen zumindest instrumentell bestimmt.
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möglich sei, da sie bekanntlich auf ›opinion‹ beruhe, auf Diskussion, die für alle zugänglich sein müsse.14 Auch im Westen haben sich so reale Mischtypen der Nationsdefinition herausgebildet. Aber die ursprünglichen Impulse, Faktorenkonstellationen und Prioritäten sind dabei bis heute wahrnehmbar geblieben und haben das jeweilige Verhältnis von nationaler Selbstvergewisserung bis Beschwörung und demokratischem Institutionenbau geprägt, das sich nicht zufällig auch in der Dichotomie von älteren Nationalstaaten und ›latecomers‹ ausdrückt, sichtbar in deutlichen Differenzen im Staatsbürgerrecht15 und vor allem in dem wichtigen Unterschied, ob Nationalismus bruchlos übergehen konnte in Faschismus (wie bei den latecomers) oder ob er mobilisierbar war für einen jingoistischen Kreuzzug für die Demokratie oder gaullistische Pazifizierungsstrategien (bei den älteren). Besonders im westeuropäischen Verständnis sind ›Nation‹ und ›Nationalismus‹ von Anfang an bezogen gewesen auf umfassende Demokra tisierungsprozesse. Darauf wird zurückzukommen sein. Zuvor sind noch einige zentrale Untersuchungsprobleme anzudeuten und die bisher fünf bis sechs Wellen nationalistischer Mobilisierung vorzustellen.
2. Untersuchungsprobleme Das Verhältnis zwischen Nationalismen und Demokratien ist hochkomplex, und es kann angemessen nur analysiert werden, indem man, soweit möglich, die Ergebnisse der vergleichenden Nationalismusforschung und die der ver gleichenden Demokratie- und Demokratisierungsforschung zusammenbringt und aufeinander bezieht. Entsprechende Bemühungen stecken noch in den Anfängen, und dieser Beitrag versteht sich auch als ein Plädoyer dafür, die ersten (und ein paar weitere) Schritte zu tun. Dabei ist zwischen alten und neuen Nationalismen und alten und neuen Demokratien zu unterscheiden, und es ist danach zu fragen, welche Bedeutung die einen jeweils für die anderen haben. Die beliebte, aber deutlich unterkomplexe Frage, ob Nationalismus gut oder weniger gut für Demokratisierung ist, reicht da nicht hin. Vielmehr sollte gefragt werden, unter welchen Bedingungen, in welchen Konstellationen und mit welchen Ergebnissen die beiden Seiten sich jeweils aufeinander beziehen. Insbesondere werden zum einen die unterschiedlichen Ausprägungen der älteren Nationalismen und deren jeweilige Beziehung zu Demokratie und Demokratisierung zu analysieren sein, und zum anderen Stellenwert und Wirkungen 14 J. S. Mill, Representative Government (1861), Kap. 16, London 1960, S. 359–366. Lord Acton hat freilich dagegen gehalten mit der These, dass Toleranz und eine freie Regierung am besten in einer multiethnischen Gesellschaft gedeihen könnten. 15 Vgl. insb. R. Brubaker, Citizenship and Nationhood in France and Germany, Cambridge, MA 1992.
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nationalistischer Mobilisierung in jüngeren Demokratisierungsprozessen, vor allem in den einschlägig problematischeren Fällen wie den postkommunistischen Ländern und in Spanien. Zusätzlich wäre zu fragen, ob die postkommunistischen Nationalismen in Mittel- und Osteuropa tatsächlich ›neue‹ Nationalismen sind oder nur Verlängerungen der älteren, traditionellen Nationalismen, und ob wir es mit einer neuen, im Weltmaßstab sechsten Welle nationalistischer Mobilisierung zu tun haben, die sich von den voraufgehenden fünf anderen unterscheidet. Es scheint mir gute Gründe dafür zu geben, letzteres anzunehmen. Im einzelnen werden dabei auch die einschlägigen Felder und Sektoren zu beleuchten sein, u. a. das Verhältnis zwischen Staatsnationalismus und Ethnonationalismus, die Träger und die Zusammensetzung der nationalistischen Bewegungen, deren demokratische oder autokratische Potentiale, die Dimensionen und Bedingungen von Gewaltsamkeit, die Bedeutung der Abhängigkeiten vom Ausland und mögliche Funktionen der Nationalismen (wenn es sie denn gibt) für die immer problematischen Zusammenhänge zwischen den jeweiligen Kapazitäten der Regierungen zu ›liefern‹ (was immer die Bürger prioritär nachfragen), und den ›supports for democracy‹. Lieferfähigkeit oder die Produktion von Enttäuschung (desencanto) über fehlende Lieferfähigkeit können mit den Problemen des ›Nationalen‹ zu tun haben, aber sie müssen nicht damit zu tun haben. Dabei zur Sprachen kommen sollten auch die spezifischen sozioökonomischen, institutionellen und kulturellen Konstellationen, in denen und aus denen heraus nationalistische Aktivitäten und Mobilisierung entwickelt werden, sowie die eng damit zusammenhängende Frage danach, welche bestimmten Funktionen in einem bestimmten Nationalismus jeweils dominant sind, i. e. welche Probleme letzterer vor allem anspricht oder bearbeitet, welche Prioritäten gesetzt werden, in wessen Interesse, mit welchen Ergebnissen, usw. Bei der Operationalisierung dieser beiden Fragenkomplexe spielen dann insbesondere Fragen nach den charakteristischen Modernisierungswegen eines Gemeinwesens und seiner Teile eine Rolle (trajectories), nach den Kombinationen der Entwicklungsfaktoren und dem jeweils erreichten Entwicklungsstand und dessen wichtigsten wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren, nach dem Verhältnis von ›nationalen‹ (›ethnischen‹, religiösen, kulturellen) und sozialen cleavages, nach der Größe, dem Verlauf und der Periodisierung der nationalen Bewegung (etwa im Sinne eines womöglich zu modifizierenden Hrochschen Ablaufmodells).16 Viele dieser Fragen thematisieren bereits zentrale Bereiche des Verhältnisses von Staat, Nation und dem, was man gerne ›Zivilgesellschaft‹ nennt. Auch lohnt sich die explizite und systematische Suche nach den jeweils integrierenden und desintegrierenden Faktoren in den Konstellationen der Entwicklung eines bestimmten Nationalismus bzw. einer nationalen Bewegung, z. B. Repressionsraten, organisatorische Effizienz, simple Größe, Vorbildrollen 16 Dazu ausführlicher weiter unten.
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im Umfeld, relative interne Homogenität oder Heterogenität, usw. – Sozusagen ›basic‹ ist zunächst die Periodisierung der unterschiedlichen Wellen nationalistischer Mobilisierungen.
3. Fünf Wellen nationalistischer Mobilisierungen ›Wellen‹ meint hier typologisch verschiedene, unterschiedlich funktionierende und nach Konstellationen und Funktionen voneinander unterscheidbare gebündelte Ablaufprozesse, die teilweise sehr lange gedauert haben und sich überlagern und überlappen, sodass sie nicht immer schematisch sauber aufeinander folgen. Wenn das Wort ›Wellen‹ als zu unscharf oder unanalytisch empfunden wird, kann man es auch durch ›Typenbündel‹ oder ›Großtypen‹ ersetzen. Es scheint mir sinnvoll, fünf etablierte größere Fallgruppen nationalistischer Bewegungen zu unterscheiden, die jeweils großregionale, entwicklungsspezifi sche und funktionale, oft auch zeitliche Gemeinsamkeiten aufweisen: 1. die Nationalismen der etablierten frühen westlichen Nationalstaaten, also USA, Frankreich, Großbritannien, Schweden, Dänemark, Portugal, aber auch Spanien trotz seiner faktischen Multinationalität; 2. die der relativ starken und entwickelten latecomers in Sachen Nationalstaat, Italien, Deutschland und Japan seit den Meji-Reformen; 3. die traditionellen und sehr unterschiedlichen Nationalismen der staatenlosen Nationen Ostmittel- und Osteuropas, vereinzelt auch Nordeuropas (Finnen, Norweger), die seit dem 19. Jahrhundert herauswollten aus dem oder den multinationalen Imperien, in dem oder in denen sie sich befanden, dem russischen Zarenreich, dem Osmanischen Reich und der Habsburgermonarchie. Im Fall Polens kommt noch Preußen hinzu. 4. Viertens sind zu nennen die etwas späteren nationalistischen oder regional-nationalistischen Bewegungen kleinerer Völker in den vermeintlichen westund südeuropäischen Einheitsstaaten, also der Katalanen, Basken und Galicier, der Iren, Schotten und Waliser, der Korsen, Bretonen, Elsässer, Flamen, Wallonen, Friesen, Jurassiens, u. a., typologisch ähnlich jenseits des Atlantiks auch der Québecois in Canada,17 und 5. die entwicklungsorientierten populistischen Nationalismen der ›Dritten Welt‹ im 20. Jahrhundert, in den Südkontinenten, aber auch im arabischen und islamischen Raum, in Indien oder in China.18
17 Vgl. vor allem die Beiträge in: J. G. Beramendi u. a. (Hg.), Nationalism in Europe. Past and Present, 2 Bde., Santiago de Compostela 1994. 18 Vgl. dazu ausführlicher H. J. Puhle, Populismus: Form oder Inhalt?, in: H. R. Otten u. M. Sicking (Hg.), Kritik und Leidenschaft. Vom Umgang mit politischen Ideen, Bielefeld 2011, S. 29–47, sowie den Beitrag in diesem Band.
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Die neuen postkommunistischen Nationalismen Osteuropas würden also die sechste Welle bilden, wenn wir sie nicht als Fortsetzung der dritten oder der fünften Welle oder als Mischtyp ansehen, sondern als neuen Typ konstituieren, wofür ich weiter unten plädieren werde. Die unterschiedlichen Wellen nationalistischer Bewegung und Politik haben bestimmte Paradigmen etabliert. Diese Überschriften bedürfen der Kommentare. Im Folgenden werde ich kurz auf die ersten vier Wellen und auf die sechste Welle der postkommunistischen Nationalismen eingehen. Die fünfte Welle der ›Entwicklungsnationalismen‹ in der ›Dritten Welt‹ muss hier nicht kommentiert werden, da sie sich außerhalb Europas abgespielt hat.19
4. Nationalstaaten und Demokratisierung Die Fälle der ersten beiden Wellen, der früheren oder späteren etablierten westlichen Nationalstaaten (und Japan) machen im Vergleich deutlich, wie bedeutsam unterschiedliche Entwicklungswege oder -pfade (trajectories), d. h. unterschiedliche Kombinationen der großen Bündel der Modernisierungsfaktoren sein können, die wir vereinfacht mit den Großüberschriften: Bürokratisierung, Industrialisierung und Demokratisierung versehen haben. Die daraus resul tierenden Differenzen, die an anderer Stelle ausführlicher behandelt wurden, konstituieren auch wichtige Unterschiede in Bezug auf das Nationale und den Nationalstaat. Nationalismus und Demokratisierung haben in der Moderne die gleichen Anfänge in der amerikanischen und vor allem der französischen Revolution. Hier konstituierte sich der ›dritte Stand‹ als souveräne Gesellschaft der Staatsbürger zur Nation und zur ›République une et indivisible‹, die der Träger des Fortschritts und Garant der revolutionären Errungenschaften war. Die Zu gehörigkeit zur Nation wurde in der Folge zunächst verstanden als ein subjektiver politischer Akt. Das Bekenntnis zur Nation war gleichzeitig Programm der Demokratisierung. Die Verteidigung der Republik gegen die Armeen der retrograden europäischen Mächte war ein Akt des nationalen Patriotismus, dessen Durchdringung mit kulturellen, ethnischen Konnotationen zwar früh begann, aber sehr lange brauchte und erst weit im 20. Jahrhundert abgeschlossen wurde. Sie wurde auch dadurch verzögert, dass der Prozess der ›Nationalisierung‹ der lokalen und regionalen Loyalitäten in ökonomischer, sozialer und kultureller Hinsicht der politischen Integration hinterherhinkte und sich erst vor dem Ersten Weltkrieg durchsetzte.20 Auch die Demokratisierung kam im Nach- und Nebeneinander von bourgeoisem Honoratiorenparlamentarismus, Bonapartismus und jakobinisch-radikalen Traditionen oft nur langsam vorwärts. Die pro19 Außerdem werden die Zusammenhänge an anderer Stelle in diesem Band behandelt. 20 Vgl. die einschlägige Studie: E. Weber, Peasants into Frenchmen, Stanford 1976.
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gressive, demokratische Besetzung des Begriffs der ›Nation‹ aber blieb, und der ›Nationalstaat‹ galt als Faktum, auch um den Preis der kulturellen Repression gegenüber Basken, Katalanen, Korsen, Okzitaniern, Bretonen und anderen. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts sammelten sich die Feinde der Demokratie und des Parlamentarismus unter dem Banner eines anderen Nationalismus, der nicht republikanisch und liberal war, sondern monarchistisch, katholisch, fundamentalistisch und antisemitisch. In Großbritannien verlief die Entwicklung weniger revolutionär und allmählicher. Hatte Disraeli noch 1845 von den »zwei Nationen« gesprochen, den Reichen und den Armen, so begannen seit den 1860er Jahren sowohl die Politik der inneren Reformen als auch die Kolonialpolitik vermehrt Mobilisierungs- und nationale Integrationsprozesse voranzutreiben. Im Falle der Iren produzierten die neuen Energien allerdings auch sezessionistische Bewegungen.21 Demgegenüber blieb den ersten deutschen Nationalisten, die seit den Tagen der napoleonischen Kriege das Volk gegen die ›welsche Überfremdung‹ zu den Waffen riefen, nur die kulturalistische Beschwörung, weil den Deutschen der Nationalstaat fehlte. Obwohl die französische Revolution oft abgelehnt wurde, wies die deutsche Nationalbewegung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben all ihren Unschärfen auch ein erhebliches Demokratisierungspotential auf: Der Kampf für die Einigung gegen die vordemokratischen Territorialherrschaften war auch ein Kampf gegen das Ancien Régime. Nationalismus und Liberalismus gingen lange zusammen, am deutlichsten sichtbar in den Ereignissen um 1848.22 In Spanien waren es eher die erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstehenden neuen regionalen Bewegungen der sozioökonomisch weiter entwickelten peripheren Nationen oder ›Nationalitäten‹,23 vor allem der Katalanen und der Basken, die sich im Einklang mit den Modernisierungs- und Demokratisierungsprozessen befanden. Der zentralspanische Nationalismus reagierte überwiegend defensiv und rückwärtsgewandt auf den Verfall und die Schrumpfung des Kolonialimperiums.24 Nation und Demokratie haben gemeinsame Wurzeln. Beide versuchen, das neuzeitliche Legitimationsprinzip der Volkssouveränität zu kanalisieren und – 21 B. Disraeli, Sybil or the Two Nations (1845), Harmondsworth 1981; zum Irlandproblem vgl. den Erklärungsansatz von A. Helle, Ulster: Die blockierte Nation. Nordirlands Protestanten zwischen britischer Identität und irischem Regionalismus (1868–1922), Frankfurt 1999. 22 Vgl. O. Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland. 1790–1990, München 1993; D. Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988. 23 Der Terminus ›Nationalität‹, den schon Friedrich Engels in der Diskussion der Polenfrage verwandt hatte und der gegen Ende des 19. Jhts. in den Debatten der k.u.k. Monarchie weit verbreitet war, wurde in Spanien zuerst 1906 von dem katalanischen Politiker Prat de la Riba rezipiert. Vgl. K. Renner, Staat und Nation. Zur österreichischen Nationalitätenfrage, Wien 1899; O. Bauer, Nationalitätenfrage; E. Prat de la Riba, La nacionalidad catalana, Barcelona 1987 (zuerst 1906). 24 Mit Ausnahme der Reformanstrengungen der ›Generation von 1898‹ und des ›regenera cionismo‹. Vgl. J. Costa, Reconstitución y europeización de España, Madrid 1900; ders., Oligarquía y caciquismo, Madrid 1902.
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oft aufeinander bezogen – entsprechende Mechanismen und Institutionen zu entwickeln. In welchem Maße das ›Nationale‹ dabei mit dem ›Demokratischen‹ kompatibel bleibt, hängt wesentlich davon ab, wie die Gesellschaft (oder die nationale Bewegung) das Prinzip der Volkssouveränität interpretiert. In der Regel erlaubt die Berufung auf die Nation eher und leichter manipulierte und repressive Herrschaft als die Berufung auf die Demokratie. Michael Mann hat neuerdings sogar die Exzesse des autoritären Nationalismus auf die Schwäche von Demokratie, horizontaler Gewaltenteilung und Dezentralisierung zurückgeführt.25 Nationalismus und Demokratisierung sind aber nicht notwendig direkt aneinander gebunden, weder positiv noch negativ. Insbesondere der Nationalismus hat einen Januskopf: Er kann links sein oder rechts, revolutionär, reformistisch, progressiv oder reaktionär, und oft ist er beides gleichzeitig, während eine Demokratisierung, die den Namen verdient, immer auf der progressiven Seite ist. Generell lässt sich sagen, dass nationalistische Aspirationen der Demokratisierung förderlich sein können, vor allem dann, wenn der Nationalismus sich noch in seiner aufsteigenden Phase befindet, noch etwas durchsetzen will, ein emanzipatorisches Potential hat. Sie können aber auch Demokratisierung hindern, vor allem in der Phase der status quo-Bewahrung, nachdem die nationa listische Bewegung sich durchgesetzt hat oder ihre Ziele anders verwirklicht wurden. Hier kommt alles auf die inhaltlichen Ziele der nationalistischen Bewegung an, auf ihre ›confining conditions‹ (Kirchheimer), ihr demokratisches Potential. Und dies hängt ganz entscheidend ab vom Stellenwert des Faktors ›Demokratisierung‹ in den jeweiligen nationalen oder staatsweiten Modernisie rungsmustern. Diese haben bewirkt, dass in Großbritannien der Nationalstaat parallel zur Demokratisierung auch von unten gebaut wurde, in Frankreich überwiegend von oben, aber immerhin gleichzeitig und verbunden mit Demokratisierung, während er in Preußen und Deutschland noch im vordemokratischen, obrigkeitlich autoritären Kontext entstand, mit entsprechenden Folgen auch für den Charakter und die besonderen, Demokratisierung hemmenden Wirkungen des Nationalismus und Ultranationalismus. In Spanien war das politische System vor 1918 weniger autoritär als das deutsche, und der weniger demokratische und schwächelnde Nationalismus des Zentrums traf auf die checks der dynamischeren und tendenziell demokratischeren Nationalismen der Peripherie. Man darf auch nicht vergessen, dass in allen Fällen die nationalen Loyalitäten diejenigen gewesen sind, die sich zuletzt herausgebildet haben. Am Anfang standen die lokalen und regionalen Bindungen sowie dort, wo es absolutistische Traditionen gab, der Staat. Die entscheidenden Modernisierungsschübe haben sich in diesen Gehäusen vollzogen. Die Nationen kamen bekanntlich später. 25 M. Mann, A Political Theory of Nationalism and Its Excesses, Working Paper 1994/57, Centro de Estudios Avanzados en Ciencias Sociales, Instituto Juan March, Madrid 1994; ders., The Dark Side of Democracy: Explaining Ethnic Cleansing, Cambridge 2005.
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Das Ergebnis des ›langen‹ 19. Jahrhunderts am Vorabend des Ersten Weltkriegs war ein Europa voller Nationalismen, aber nur selten ein demokratischeres Europa, obwohl die unverkennbare, durchweg nationalistische Mobilisierung des politischen Massenmarkts insbesondere seit den 1890er Jahren nahezu überall Energien freigesetzt hatte, die in einem bestimmten Kontext und unter bestimmten Voraussetzungen auch in Richtung Demokratisierung drängen konnten, etwa im zunehmenden Organisationsgrad der politischen Parteien und Interessengruppen oder der Kontrolle der Wahlfälschungen.26 Ein wichtiger Einschnitt war hier überall die Durchsetzung des Sozialdarwinismus als Bestandteil politischer Ideologien seit den 1860er Jahren: Mit ihm wurde den Ergebnissen der Machtpolitik eine im Kern biologistische Erklärung gegeben, die gleichzeitig als Rechtfertigung für weitere politische Forderungen, Ein- und Ausgrenzungen diente. Die nationalen Stereotypen nahmen zu und halfen, die wachsenden inneren sozialen Probleme nach außen abzuleiten. Die Nationalismen der ›Großen‹ wurden zunehmend rassistisch, in neuer Form antisemitisch und verloren durchweg ihre progressiven Konnotationen und Funktionen. Innenpolitisch rechtfertigten sie den status quo und die Besitzstandswahrung, nach außen einen hochgradig ideologisierten Kolonialimperialismus. Die Briten entdeckten ›the white man’s burden‹, die Franzosen ihre ›mission civilisatrice‹, die Deutschen etwas später das ›deutsche Wesen‹, an dem ›die Welt genesen‹ sollte.27 Die Zäsuren des Niedergangs dieses Typs Nationalismus im 20. Jahrhundert können mit den Jahren 1918, 1929/30, 1936 und 1945 bezeichnet werden: Es blieben allerdings erhebliche Nachhutgefechte, für die Westeuropäer z. B. am Suezkanal, in Algerien und Indochina. In Frankreich bedurfte es des Gaullismus, einer aus den Traditionen des alten Frankreich, der Revolution, Napoleons und der Résistance gespeisten, aber vergleichsweise gemäßigten nationalistischen Renaissance, um die Dekolonisation mit einem Rest von Würde abzuschließen. Gaullistische Politik, die schon lange nicht mehr das Monopol einer Partei ist, führte nicht nur zu Frankreichs zeitweisem militärischen Rückzug aus der NATO und zu einer starren Interpretation der nationalen Interessen in der Europapolitik und in den GATT und WTO-Verhandlungen, sie ermöglichte auch die späte Reintegration der chauvinistischen Ultras der 1950er und frühen 60er Jahre. Mit Blick auf die französische ›Identität‹ ist interessant, dass diese trotz des Vordringens ›ethnischer‹, organizistischer Interpretationen noch Ende der 1980er Jahre überwiegend politisch im Sinne der Jakobiner verstanden wurde: In einer Umfrage von 1987 assoziierten über die Hälfte der Befragten damit, »was es bedeutet, Franzose zu sein«: die Verteidigung der 26 Vgl. Deutsch, Nationalism; H. A. Winkler (Hg.), Organisierter Kapitalismus, Göttingen 1974, sowie zahlreiche Beiträge in diesem Band. 27 Vgl. H.-U. Wehler, Sozialdarwinismus im expandierenden Industriestaat, in: I. Geiss u. B. J. Wendt (Hg.), Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jhts., Düsseldorf 1974, S. 133–142; E. J. Hobsbawm, The Age of Empire 1875–1914, London 1987.
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bürgerlichen Freiheiten (51 %), des Landes (42 %) und das Wahlrecht (35 %), weit vor der Sprache oder der Abstammung. Über 60 % sahen (in einer anderen Umfrage) die französische Identität in den Menschenrechten, ebenso viele in der französischen Küche.28 75 % waren (1983) »stolz, Franzosen zu sein«. Das war nahe am EG-Durchschnitt, 10 Punkte niedriger als in Spanien, 17 Punkte niedriger als in Großbritannien und Griechenland (92 %).29 In Spanien gab es demgegenüber mehr geteilte Loyalitäten und mehrfache Identitäten, vor allem in den nationalistischen Randregionen.30 Und wer Margaret Thatchers England 1982 während des Kriegs um die Falkland Islands (Malvinas) erlebt hat, musste erstaunt vor einem nahezu ungebrochenen, befreienden, sehnsüchtigen Ausbruch jingoistischer Gefühle aus dem tiefsten 19. Jahrhundert stehen, der im Kontext der 1980er Jahre nur als atavistischer Rückfall, als populäre Wieder belebung residualer Verhaltensweisen verstanden werden kann, die allerdings tiefere soziale Gründe haben muss und im übrigen zur schnellen Stabiliserung der Position einer unpopulären Regierung beitrug. In Deutschland war die Nationalstaatsbildung dagegen spät erfolgt und (im Sinne der Kulturalisten) ›unvollständig‹ geblieben. Es gab viele Deutsche, die außerhalb des Deutschen Reichs lebten, und es gab andererseits viele NichtDeutsche, die im Deutschen Reich lebten. Dies führte zu expansiven, imperialistischen Tendenzen gegenüber den Nachbarn, insb. nach Osten und Südosten, und nicht so sehr in der weiten Welt. Der deutsche Imperialismus ist wesentlich ›Ostland‹-Imperialismus gewesen. Hinzu kamen Unsicherheiten und Brüche: Dem mehr subjektiven staatsnationalen Verständnis in der Tradition des preußischen state building (und nicht nation building) standen mehr objektiv ausgerichtete, an Sprache und kulturnationalen Kriterien orientierte Konzepte gegenüber. Und die Verspätung führte zu spezifischen, in engen Zeiträumen stattfindenden Interaktionen zwischen einem kompensatorisch überdrehten Nationalismus einerseits und den Anpassungen von Staat und Gesellschaft an die Industrialisierungsfolgen andererseits, z. B. in der Organisation moderner Parteien und Verbände, der Sozialpolitik und der allerorten zunehmenden Bürokratisierung. Im deutschen Fall wurden, auch weil er so verspätet war, die Veränderungen des Nationalismus im Verlauf des 19. Jahrhunderts besonders deutlich: einmal die allmähliche Wendung von links nach rechts, von der progressiven Emanzipationsideologie zur konservativen Verteidigung des status quo und über diesen hinaus nach rückwärts, und zum anderen die schubartige sozialdarwinistische Durchdringung und Biologisierung mit prononciert antisemitischen, rassistischen und (ideologischen) ›mittelständischen‹ Akzenten, die Entwicklung des extremen völkischen Nationalismus, der antiparlamentarisch war und den man im Lichte der weiteren Entwicklung durchaus prä28 J. P. Rioux, Les Français et leur histoire, in: Histoire, Bd. 100, 1987, S. 70–80; W. Safran, State, Nation. 29 In Deutschland waren es 56 %. Vgl. Euro-baromètre, Nr. 19, 1983, S. 54. 30 Vgl. F. Andrés Orizo, Los nuevos valores de los españoles, Madrid 1991, S. 167–180.
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faschistisch nennen kann.31 Ein moderat patriotischer, liberaler ›Reichsnationalismus‹ hatte dagegen keine Chance. Der neue völkische Nationalismus der zweiten Hälfte des Kaiserreichs hat umfassende Mobilisierungserfolge errungen gegen Parlamentarisierung und Demokratisierung, hat den traditionellen deutschen Konservatismus ebenso überformt wie den Liberalismus und ist langfristig, neben der Niederlage im Ersten Weltkrieg und den Regelungen des Versailler Friedens, den institutionellen Widersprüchen der Weimarer Republik, den Folgen der Wirtschaftskrise und den Interessen und dem Bündnisverhalten der traditionellen Eliten, eine der entscheidenden Voraussetzungen gewesen für die Machtübernahme der Nationalsozialisten. Faschismus und Nationalsozialismus haben den italienischen und den deutschen Nationalismus auf perverse Höhepunkte geführt. Ihre Niederlage im Krieg hat zugleich nationalistische Ziele und Ideologien in diesen Ländern für eine längere Zeit diskreditiert. Die grundlegende Auseinandersetzung der Zwischenkriegszeit zwischen Faschismen und Demokratien hat im ganzen aber auch einen Niedergang des Internationalismus bewirkt, deutlich sichtbar z. B. in Verlauf und Ergebnissen des spanischen Bürgerkriegs. Vor allem der Zweite Weltkrieg hat es dann Stalin ermöglicht, in noch größerem Maße als zuvor schon den Leninschen Sowjetpatriotismus mit großrussischem Nationalismus zu durchsetzen und eine Politik entlang der Linien klassischer nationaler Interessenwahrung zu machen. In den von deutschen Truppen besetzten Ländern wurde Widerstand als Gruppen und Klassen übergreifender nationaler Widerstand propagiert und organisiert, am dichtesten in Frankreich und Polen, zuletzt auch in Italien. Der Neuanfang nach 1945 stand so zunächst zu einem großen Teil im Zeichen nationaler Einheit und nationalistischer politischer Gruppen. In dem einzigen Land, in dem das nicht so war und in dem aus der Widerstandskoalition des Kriegs eine übernationale staatliche Integration hervorging, in Jugoslawien, hat sich in der Folge eher die Brüchigkeit dieser Integration erwiesen, deren Schöpfung nur mühsam für eine Zeit von Partei, Bürokratie und Militär (und vor allem von einem charismatischen Führer) zusammengehalten werden konnte und sich inzwischen aufgrund fortbestehender und zunehmender nationaler Rivalitäten und kriegerischer Konflikte aufgelöst hat.32 Das andere übernationale Experiment der Nachkriegszeit, die westeuropäische Integration, ist erfolgreich gewesen in den Grenzen des jeweils erreichbaren Minimalkonsens, musste aber die wirklich politischen Fragen sehr lange und sehr oft weitgehend ausklammern, zum einen, weil nationale Sonderinteressen im Wege standen, zum anderen, weil demokratische Partizipation, Kontrolle und damit Legitimation in überzeugender Weise nach wie vor nicht auf europäischer Ebene, sondern nur in den alten ›Nationalstaaten‹ garantiert und durchzusetzen sind, die damit vermutlich noch lange am längeren Hebel sitzen 31 Näheres dazu in den ersten Beiträgen dieses Bandes. 32 Vgl. u. a. H. Sundhaussen, Ethnonationalismus in Aktion: Bemerkungen zum Ende Jugoslawiens, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 20, 1994, S. 402–423.
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werden. Es gibt weder einen Staat Europa noch eine europäische Nation. Die diversen politischen und Legitimationsprobleme der Europäischen Union weisen zurück auf den Umstand, dass die alte Gretchenfrage der Nationalismusforschung, an der sich die Geister (und die Begriffe und Bewegungen) scheiden, nämlich ob eine Nation einen eigenen Staat hat oder nicht, auch nach rund zwei Jahrhunderten nationalistischer Mobilisierungen in Europa nichts an Bedeutung verloren hat.
5. Staatenlose Nationalismen In der dritten Welle der nationalistischen Bewegungen finden wir die ›havenots‹ ohne Staat, die ›staatenlosen Nationen‹ und Nationalismen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa sowie vereinzelt auch in Nordeuropa (die Finnen und Norweger). Diese Bewegungen sind zuerst 1968 vergleichend und systematisch von Miroslav Hroch untersucht worden.33 Hrochs Typologie der Entwicklungsstufen von Nationalbewegungen, die inzwischen zum Gemeingut der vergleichenden Nationalismusforschung geworden ist, unterscheidet drei Phasen: A. die Phase der stillen, in der Regel von einigen Intellektuellen betriebenen Pflege kultureller Eigenart, B. die Phase dessen, was Hroch und andere etwas altmodisch das »nationale Erwachen« nennen, d. h. des Übergangs vom Kulturnationalismus zur politischen Massenbewegung, und C. die Phase des organisierten politischen Nationalismus als Massenbewegung bis zur Schaffung eines Nationalstaats. Hrochs Interesse gilt dabei in erster Linie der Phase B und der genauen Bestimmung der entsprechenden Übergänge AB und BC, sowie der Schaffung eines Nationalstaats (NS). Die Typologie ist seit längerem mit Gewinn auch in vergleichenden Untersuchungen der regionalistischen Nationalismen Westund Südeuropas verwendet worden. Von den Hrochschen Ergebnissen verdienen vor allem die folgenden festgehalten zu werden: Zentrale Voraussetzung für die ›Vollendung‹ der Nation34 und die volle Entfaltung des Nationalismus ist für Hroch das Vorhandensein und die Durchsetzung der Bourgeoisie, also des Wirtschaftsbürgertums. Dies wird im Vergleich weitgehend bestätigt, trifft jedoch im Fall des Basken33 M. Hroch, Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas, Praha 1968, sowie: ders., Social Preconditions of National Revival in Europe, Cambridge 1985; ders., Das Europa der Nationen, Göttingen 2005. 34 Ich behalte hier und beim ›nationalen Erwachen‹ (im Sinne von Quellensprache) für einen Moment die noch etwas altmodisch organizistisch und reifikatorisch angehauchte Terminologie Hrochs bei.
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lands nicht zu, es sei denn, man verwendet den weiteren deutschen Begriff des ›Bürgertums‹, der nicht nur die Bourgeoisie umfasst, sondern auch nicht-wirtschaftsbürgerliche Eliten wie die professionals und die lokalen traditionellen Honoratioren und Notabeln. Die Bourgeoisie ist in der Phase B des ›nationalen Erwachens‹ allerdings durchweg noch nicht führend in der Nationalbewegung tätig. Den Anfang machen hier weitgehend klein- und bildungsbürgerliche Schichten, als Meinungsmacher vor allem Lehrer, Pfarrer, Journalisten und studierte Dorf- oder Kleinstadthonoratioren. Je später die Phase B einsetzt, umso stärker sind die Bauern unter den Trägern der Nationalbewegung vertreten. Tempo und Schlagkraft des ›nationalen Erwachens‹ hängen weiterhin ab von einem bestimmten Grad von Bildung, Fernmarktorientierung, Verstädterung, von der Größe der kleinen Nation, von Kommunikation und sozialer Mobilität. Letzteres deckt sich mit den bekannten Befunden von Karl Deutsch.35 Hohe Mobilitäts- und Kommunikationsraten können für die Herausbildung der kleinen Nation desintegrierend wirken, wenn sie früher in stärkerem Umfang in Bezug auf die größere staatliche Einheit ausgeprägt sind. Ähnlich retardierend und schwächend wirkt es sich aus, wenn gesamtstaatliche Interessengegensätze, etwa zwischen Unternehmern und Arbeitern, früher ausgeprägt sind als die Differenzen zwischen der kleinen Nation und der staatlichen Zentrale artikuliert werden. Über die Hrochschen Ergebnisse hinaus lassen sich an den Beispielen der Nationalismen dieser dritten Welle noch zwei weitere wichtige Gesichtspunkte verdeutlichen: Der erste ist, dass die Vorgeschichte und die bestimmten Faktorenkonstellationen einer entstehenden nationalen Bewegung ohne Staat auch ganz entscheidend – und zwar durchaus unterschiedlich – geprägt werden durch die Strukturen und Institutionen, die Interessen, Prioritäten und Politiken der herrschenden multinationalen Reiche. Das Zarenreich war in vieler Hinsicht repressiver als die Habsburgermonarchie und das Osmanische Reich, aber auch die letzten beiden unterschieden sich sehr in Hinsicht auf ihre politischen Prioritäten, den Stellenwert von Institutionen, den Grad von Rechtsstaatlichkeit und die Motive, mit denen jeweils die Staatsmacht nationalistische Bewegungen mehr oder weniger duldete, beschränkte oder gewähren ließ. Der Grad der jeweiligen täglichen Autonomieerringung und -bewahrung war durchaus verschieden, oft auch zwischen unterschiedlichen Regionen desselben Großreichs. Sehr anschaulich wird das noch in den internen Differenzen zwischen den Teilen späterer Nationalstaaten, die zu verschiedenen Reichen gehört haben, etwa in Polen und der Ukraine, oder auch im späteren Jugoslawien. In Fall der k.u.k. Monarchie war es institutionell, rechtlich und politisch sogar wichtig, ob eine kleine Nation nach 1867 zur österreichischen oder zur ungarischen Reichshälfte gehörte (vgl. Slowenien vs. Kroatien). Der zweite wichtige neue Gesichtspunkt ist der, dass der konkrete Ablauf der Ereignisse in der Zeit zählt, insbesondere die jeweilige Reihenfolge der Entwick35 Vgl. Deutsch, Nationalism.
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Tab. 5: Zur vergleichenden Typologie nationaler Bewegungen 1.
Integration: England, Frankreich
AB – BC – BR/NS – IR – OA
2.
Verspätete Integration: Deutschland
AB – IR/BC – (BR) – OA/NS
3.
Integrierte Dissoziation: Tschechen Norweger, Finnen
4.
Verspätete Dissoziation: Esten, Kroaten, Slowaken
5.
Aufständische Dissoziation: Serben, Bulgaren Iren
AB – BC – (BR) – NS – IR – OA AB – (BR) – BC – NS – IR – OA
Desintegrierte Dissoziation I (entwickelt): Flamen Waliser Katalanen, (Schotten) Basken Wallonen Elsässer
BR – IR – AB – OA – BC – (NS) BR/IR – AB – OA BR – IR – AB – OA – BC – (NS) BR – IR – OA – AB – BC – (NS) BR – IR – OA – AB – (BC – NS) BR – IR – OA – AB – (BC)
Desintegrierte Dissoziation II (unterentwickelt): Bretonen, Okzitanier Galicier, Korsen
BR – AB – IR – OA – (BC) BR – AB – IR – OA – BC
BR
›Bürgerliche Revolution‹
AB Übergang zum Kulturnationalismus
IR
Industrialisierung
BC Übergang zum politischen Nationalismus
OA
Organisation der Arbeiter- NS ›Nationalstaat‹ (od. Äquivalent) bewegung (nach M. Hroch)
6.
7.
AB – IR – BR/BC – OA – NS AB – BR/BC – IR – NS – OA AB – BC – (BR) – IR – (NS) – OA
275
lungsstadien einer bestimmten nationalen Bewegung (in Hrochs Terminologie insb. AB, BC und NS) in ihrer Verschränkung mit und Zuordnung zu den zentralen Übergängen im Gesamtstaat (also etwa ›bürgerliche Revolution‹, Industrialisierung und Organisation der Arbeiterschaft). Hier gibt es unverwechselbare Muster, die sich – mit einer gewissen Willkür – auch in Typen fassen lassen, wie das Hroch (für den Osten) und ich (für Westeuropa) andernorts versucht haben.36 Die Ergebnisse und die entsprechenden ›Typen‹ (in meiner Terminologie) finden sich in der Übersicht in Tabelle 5. Besonders wichtig ist dabei, ob, im Hrochschen Jargon, der Übergang des Nationalismus zur politischen Massenbewegung (BC) vor dem Einschnitt der ›Bürgerlichen Revolution‹ (BR) liegt oder umgekehrt. Im ersten Fall sind nationalistische Forderungen und Bürgerrechte durchweg voll integriert, im zweiten nicht immer und nicht notwendig. Und es gibt noch den dritten Fall des offenen Aufstands im Kampf um die politische Selbständigkeit (meist gegen die Osmanen), in dem die beiden Forderungen zunächst weiter auseinander und separiert erscheinen (›aufständische Dissoziation‹).
6. Periphere Nationalismen und Regionalismen Dies gilt auch für die Nationalismen der vierten Welle, also die kleinen oder peripheren, oft auch ›regionalistisch‹ genannten nationalen Bewegungen in Westeuropa, die wesentlich öfter interne Autonomie oder Föderalisierung des Staates angestrebt haben als die Gründung eines neuen Nationalstaates. Hier hat es ähnliche Ergebnisse gegeben bei der Korrelation der Elemente der gesamtstaatlichen und der ›nationalen‹ Entwicklung, im Verhältnis von Klassenspannungen zu ›nationalen‹ Spannungen, von regionalen Allianzen zu gesamtgesellschaftlichen Allianzen während einzelner Stufen der Phase B.37 Und auch hier gibt es unterschiedliche Intensitäten und Typen (die sich in Tab. 5 unter den Positionen 6 und 7 finden). 36 Vgl. M. Hroch, Das Erwachen kleiner Nationen als Problem der komparativen Forschung, in: H. A. Winkler (Hg.), Nationalismus, Königstein 1978, S. 155–172; H. J. Puhle, Nation States, Nations and Nationalisms in Western and Southern Europe, in: J. G. Beramendi u. a. (Hg.), Nationalism in Europe. Past and Present, Santiago de Compostela 1994, Bd. 2, S. 13–38; inzwischen auch Hroch, Europa, S. 103–108; H. J. Puhle, Miroslav Hroch im Kontext der Theorien über den Nationalismus, in: P. Kolář u. M. Řezník (Hg.), Historische Na tionsforschung im geteilten Europa 1945–1989, Köln 2012, S. 73–85, bes. 79. 37 Vgl. u. a. die Arbeiten von P. Alter, Nationale Organisationen in Irland 1801–1921, in: T. Schieder u. O. Dann (Hg.), Nationale Bewegung und soziale Organisation I, München 1978, S. 1–130; G. Brunn, Die Organisationen der katalanischen Bewegung 1859–1923, ebd., S. 281–571; L. Mees, Nacionalismo vasco, movimiento obrero y cuestion social, Bilbao 1992; K. J. Nagel, Arbeiterschaft und nationale Frage in Katalonien zwischen 1898 und 1923, Saarbrücken 1991.
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Erklärt werden muss dabei insbesondere, warum in Westeuropa nur ganz wenige regionale Nationalbewegungen die Hrochsche Phase C, also den Durchbruch der politischen Massenbewegung, erreicht haben. Ausnahmen bilden nur Katalonien und das Baskenland (wo man die Autonomisierung analog zur Nationalstaatsbildung verstehen kann), die Iren und verspätet auch die Galicier in Spanien und die Korsen. Wenn man herausfinden will, warum diese wenigen den Übergang zur politischen Massenbewegung geschafft haben und andere, z. B. die Okzitanier und Waliser, nicht (und auch die Galicier relativ lange nicht), obwohl deren entfaltete kulturnationale Identität unübersehbar ist, muss man die unterschiedlichen sozioökonomischen, sprachlich kulturellen und historisch-institutionellen Faktoren gewichten. Wichtig werden dabei vor allem vier neue Faktoren: 1. der Unterschied zwischen relativer Über- oder Unterentwicklung in Bezug auf den Gesamtstaat: Ein höherer Entwicklungsstand einer Region hilft in der Regel den nationalen Aspirationen, es gibt jedoch Ausnahmen (Irland, das geteilte Wales); 2. eigene Sprache und Kultur, die zwar Mindestvoraussetzung, aber keine hinreichende Bedingung für den Erfolg nationaler Bewegungen ist; 3. (ganz wichtig und oft übersehen:) das Vorhandensein eigener, unterschiedlicher (gegenwärtiger oder vergangener) administrativer und politischer Strukturen und Institutionen (›institutionelles Kapital‹). Katalonien, das Baskenland und Schottland haben davon profitiert, in Galicia, Wales oder der Bretagne haben sie gefehlt. 4. Im Falle besonderer Gewaltsamkeit (Nordirland, Baskenland) sind gelegentlich auch noch besonders hohe Repressions- und Frustrationsraten zu berücksichtigen. Die Typologie, die wir anhand dieser Kategorien bilden können, ist zwar hilfreich, aber noch extrem ungenau. Man kann dies unschwer erkennen, wenn man z. B. zwei ähnliche Fälle vergleicht, die zu derselben Kategorie relativ überentwickelter Regionen mit eigener Sprache, Kultur und ausgeprägten eigenen Institutionen gehören und sich bis 1960 auch im Hinblick auf die Gewaltsamkeit nicht sehr unterschieden: Katalonien und das Baskenland. Gleichwohl weisen die Entwicklungen des katalanischen und des baskischen Nationalismus erhebliche Unterschiede auf: Dies betrifft Phänomene der Periodisierung, des Ein- und Ausschlusses von Bourgeoisie und Arbeiterschaft in die nationale Bewegung mit den Folgen sozialer Zweiteilung bzw. Bewahrung der nationalen Einheitsbewegung, ihr Verhältnis zum Staat, die unterschiedlichen Reaktionen auf die franquistische Repression und anderes. Schon die Voraussetzungen waren unterschiedlich: Der katalanistische Kulturnationalismus war stark, selbstbewusst und schnell etabliert. Er konnte auf alte eigene staatliche Traditionen ebenso zurückgreifen wie auf eine der großen Hochsprachen und höfischen Literaturen Europas. Er absorbierte zudem, nach einem Wort Pierre Vilars, viele Energien, die im spanischen Staat nach der 277
Macht zu greifen versucht hatten, aber gescheitert waren. In Katalonien waren sie so gut wie konkurrenzlos, wenn auch nicht immer in der Politik. Die baskische kulturelle Identität war wesentlich schwächer, bzw. als einheitliche zunächst gar nicht vorhanden; es überwog die lokale und provinzielle Mikroautonomie, bis in die Dialekte. Die Begründung des politisch gezielten baskischen Nationalismus durch Sabino Arana in den 1890er Jahren war eine lange Kette von ›inventions of traditions‹, aus gesamteuropäischer, keineswegs nur katalanischer Inspiration: von der Grammatik über die Fahne bis zu den Begriffen der neuen Politik und der Kodifizierung einer Menge Mythen. Prekär blieb dabei in mancher Hinsicht bis heute die Definition des Basken und der Grenzen des Baskenlandes, nicht nur des ›Irredenta‹ jenseits der französischen Staatsgrenze wegen (ein solches gibt es ja auch in Katalonien): Die heute von Basken besiedelten Gebiete stimmen nicht mit den historischen Grenzen überein, insbesondere im Süden von Navarra und Alava; viele sozusagen ›genetische‹ Basken mit baskischen Familiennamen bis ins vierte und fünfte Glied sprechen die baskische Sprache nicht. Die Assimilation der nichtbaskischen Einwanderer in die baskischen Industriereviere war auf Grund der Industriestruktur und der größeren sprachlichen und kulturellen Distanz sehr viel schwieriger als in Katalonien. Und die Angst vor Überfremdung war größer, gerade auch aufgrund der größeren Verunsicherungen, die oft aggressiv nach außen gewendet wurden, bis in gelegentlich rassistische Wendungen und Blut- und Bodenideologie. Der weitere Verlauf und die wichtigsten Charakteristika der beiden Nationalbewegungen sind im voraufgehenden Beitrag skizziert worden (vgl. S. 250 f.). Sie sind außerordentlich verschieden gewesen (und sind es noch), was sich schon an der Anzahl der Bewegungen und ihrer Militanz und Radikalität festmachen lässt: Bis ans Ende des spanischen Bürgerkriegs war der baskische Nationalismus durchweg einheitlicher und weniger radikal und gewalttätig als der katalanische; in der nachfranquistischen Demokratie war es zunächst umgekehrt: Der baskische Nationalismus war vielfältig gespalten und insgesamt radikaler, während der katalanische geeinter und moderater auftrat (beide regierten und regieren überwiegend ihre Regionen). Dies hat sich im Zuge der neuerlichen Polarisierung spanischer Politik seit der letzten Jahrhundertwende und im Gefolge der jüngeren Wirtschafts- und Institutionenkrisen erneut geändert: Während im baskischen Fall Strategien der Pazifizierung und Integration vorerst gegriffen haben und die Nationalisten Verbesserungen für die Region überwiegend im Rahmen gradueller institutioneller Reformen suchen, haben sich die katalanischen Nationalisten aus vielen Gründen und aufgrund zahlreicher Provokationen (nicht zuletzt durch die Madrider Zentralregierung) in relativ kurzer Zeit radikalisiert und propagieren mehrheitlich die Sezession, die Unabhängigkeit von Spanien (und eigentlich die Revolution).38 38 Vgl. u. a., die neueren Überblicke bei L. Mees, Nationalism, Violence and Democracy. The Basque Clash of Identities, Houndmills 2003; S. de Pablo u. L. Mees, El péndulo patriótico. Historia del Partido Nacionalista Vasco, 1895–2005, Barcelona 2005; E. Ucelay-Da Cal,
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Der katalanische und der baskische Fall können beispielhaft deutlich machen, wie unterschiedlich sich im einzelnen selbst zwei nationalistische Bewegungen und Politiken entwickeln können, die typologisch sehr nahe beieinander liegen. Die in beiden Fällen im Laufe der Zeit eingeschlagenen Strategien zur ›Problemlösung‹ (die katalanische ›Mancomunitat‹ nach 1913, die Autonomiestatute der Zweiten Republik 1932 und 1936, der Bau des ›Staats der Autonomien‹ nach 1978, neuere Reformvorschläge) und deren weitere Geschichte lassen aber auch erkennen, dass es viel institutionelle Phantasie (insbesondere im Bereich der Steuer- und Finanzpolitik), Stetigkeit und vor allem Vertrauen braucht, um multinationale demokratische Staaten (die etwas anderes sind als die multinationalen Imperien der Vergangenheit) erfolgreich bauen und betreiben zu können. Dabei müssen sich die Wünsche und Forderungen der ›kleinen‹ Nationalismen zusammenbringen lassen mit dem vorhandenen Potential der institutionellen Arrangements des Staates. Dies ist in den letzten Jahrzehnten in unterschiedlicher Weise und mit gemischten Erfolgsbilanzen in zahlreichen europäischen Ländern versucht worden, von der (mehr oder weniger wirksamen) ›Regiona lisierung‹ traditioneller Einheitsstaaten (die außerdem auch noch andere Gründe hatte, z. B. in Frankreich und Italien) und differenzierter ›devolution‹ (Großbritannien) über Modelle integraler ›Autonomisierung‹ (Spanien) bis hin zu einer stufenweisen kompletten Föderalisierung des Landes (Belgien). Diese Unternehmungen, deren vergleichende Analyse reizvoll wäre, aber hier nicht weiter vertieft werden kann, setzen allerdings, wie Juan Linz bemerkt hat, allesamt voraus, dass auch die jeweiligen Nationalisten bereit sind, ihre klassischen Forderungen aufzugeben, dass (1) jeder Staat danach trachten muss, Nationalstaat zu werden, und dass (2) jede Nation ihren eigenen Staat haben muss.39
7. Nationalismen nach dem Kommunismus: eine sechste Welle? Zum Abschluss des kurzen Durchgangs durch die diversen Wellen nationalistischer Mobilisierungen wäre noch die Frage zu klären, ob die postkommunistischen Nationalismen im Osten Europas eine weitere, sechste Welle konstituieren. Meine These ist, dass diese Bewegungen in der Tat Phänomene sind, die – auch im Vergleich zu den vergangenen fünf Wellen oder zu anderen geHistory, Historiography and the ambiguities of Catalan Nationalism, in: Studies on National Movements, Jg. 1, 2013, S. 105–159; H. J. Puhle, Trajectories of Catalan nationalism and its present discontents, in: K. J. Nagel u. S. Rixen (Hg.), Catalonia in Spain and Europe – Is There a Way to Independence?, Baden-Baden 2015, S. 14–27. 39 J. J. Linz, State building, bes. S. 368; vgl. insgesamt auch ders., Democracy, Multinationalism and Federalism, in: W. Merkel u. A. Busch (Hg.), Demokratie in Ost und West, Frankfurt 1999, S. 382–401.
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genwärtigen Nationalismen – als kategorial neu einzuordnen sind, selbst wenn manches an ihnen im einzelnen nicht so sonderlich neu erscheinen mag.40 Das wichtigste Argument ist hier, dass sie sich in einer einzigartigen und neuen Konstellation von Faktoren und Faktorenbündeln entfalten, die auch die Zusammensetzung ihrer Träger und vor allem ihre Funktionen beeinflusst. Das spezifische ambiente: Nationalismus in postkommunistischen Situationen bewirkt, dass die neuen nationalistischen Mobilisierungen keinem der früheren Typen mehr entsprechen (können), sondern sozusagen neu gemischt auftreten und Züge aus allen fünf früheren Kategorien aufweisen können, von solchen des russischen Großmachtchauvinismus über die der latecomers, der ost- und westeuropäischen Dissoziierer, Sezessionisten und Autonomisten bis hin zu denen der Entwicklungsnationalisten und nation builders der ›Dritten Welt‹, und dass noch ganz neue Probleme aus dem gegenwärtigen Kontext hinzukommen, die im Wesentlichen damit zu tun haben, dass die nationale Mobilisierung statt findet in Gesellschaften, die Jahrzehnte des Kommunismus mit den dazugehörigen Präformationen und Deformationen hinter sich haben. Einerseits gibt es auch in den nationalistischen Mobilisierungen mehr oder weniger starke Überhänge älterer Kontinuitäten, und zwar von zweierlei älteren Kontinuitäten, denen der vorkommunistischen Periode und denen aus der Zeit der kommunistischen Regime, die wohl oft, aber nicht immer, die stärkeren sind. Und es gibt, zweitens, in den meisten Ländern und Regionen, mit Ausnahme der wenigen am weitesten entwickelten (Polen, Ungarn, Tschechien, evtl. Slowenien), deutliche Analogien zum klassischen Syndrom von Dekolonisierung und entwicklungsgerichtetem state building und nation building mit entsprechenden populistischen Mobilisierungsanforderungen. Auf der anderen Seite finden wir, drittens, ein einigendes und einzigartiges Kennzeichen in der Simultaneität zweier Übergangsprozesse: des politisch institutionellen vom kommunistischen Autoritarismus oder Totalitarismus zu etwas anderem, wenn es gut geht, zur Demokratie; und des ökonomisch-sozialen vom Realsozialismus zur Marktwirtschaft und zu einem – wie auch immer noch gemischten und gebremsten – Kapitalismus. Dieses ambiente ist ein völlig anderes als die Umfelder aller anderen Nationalismen zuvor, und es ist auch ein anderes als das aller früheren Wellen von Regimeübergängen von nichtdemokratischen zu demokratischeren Herrschaften, einschließlich der letzten ›Dritten Welle‹ (nach der Zählung Huntingtons), in Südeuropa, Lateinamerika, Ostasien und Südafrika.41 Diese neue Qualität sozusagen einer kumulierten ›Mega-Trans 40 Zur Übersicht vgl. die Beiträge in E. Jahn (Hg.), Nationalism in Late and Post-Communist Europe, 3 Bde., Baden-Baden 2008. 41 Vgl. vor allem J. J. Linz u. A. Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation: Southern Europe, South America, and Post-Communist Europe, Baltimore 1996; R. Gunther u. a. (Hg.), The Politics of Democratic Consolidation: Southern Europe in Comparative Perspective, Baltimore 1995; W. Merkel, Systemtransformation, Wiesbaden 20102, und die einschlägigen Beiträge in diesem Band.
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formation‹ hat, viertens, auch Auswirkungen auf das Verhältnis von Nationalismus und Demokratie bzw. Demokratisierung. Als zentrales Differenzkriterium scheint sich mir dabei neben der simplen Größe der jeweilige wirtschaftliche Entwicklungsstand mitsamt dem dahinterstehenden konkreten Entwicklungsweg herauszustellen. (Ob es irgendwo anders ist, wäre genau zu prüfen.) Von ihm hängen die Chancen der Lieferfähigkeit des politischen Systems (und damit dessen supports) ebenso ab wie der Grad und die bestimmte Ausformung gesellschaftlicher Differenzierung, Gruppen- und Elitenbildung, Interessenlagen und cleavages, also der ganze Bereich der ›civil society‹, deren relative Stärke oder Schwäche gegenüber ›dem Staat‹ zunehmend als demokratieförderlich bzw. -hinderlich erkannt worden ist, aber ebenso auch (und von besonderer Wichtigkeit) Grad und Ausmaß der Säkularisierung, im Sinne von Wertorientierungen ebenso wie von ›disestablishment‹ einer vormaligen Staatskirche. Je säkularisierter eine Gesellschaft ist, umso mehr nivellieren sich die hergebrachten Unterschiede zwischen den katholischen, orthodoxen oder muslimischen Hintergründen und Rahmenbedingungen nationalistischer Mobilisierungen in Osteuropa. Im Gegensatz zu anderen glaube ich auch nicht, dass z. B. der Islam grundsätzlich demokratiehinderlich ist. Dasselbe hätte man zu recht auch vom Katholizismus der römischen Kirche um 1900 oder von der Orthodoxie der griechischen um 1950 sagen können. Man könnte bis zum Beweis des Gegenteils eher davon ausgehen, dass die Gesellschaften nur hinreichend säkularisiert sein müssen, um die möglichen Demokratiebremsen aus religiösem Grund neutralisieren zu können. 1. Zu den Kontinuitäten: Hier wäre zunächst danach zu fragen, welche Überhänge aus den älteren, vorkommunistischen Ideologemen, Mythen, Mobilisierungsmustern heute noch im konkreten Fall von Nationalisten verwendet werden, an welche Propagandatopoi man anschließt, welche älteren Trägergruppen, Interessenlagen, cleavages und Konflikte, im Innern wie gegenüber den Nachbarn, entlang welcher Trennlinien noch vorhanden sind, und ob und wie, zweitens, Politik und gesellschaftliche Entwicklung der kommunistischen Periode diese Überhänge umgeprägt, verformt, anders akzentuiert, verstärkt, geschwächt, verdrängt oder belassen haben. Drittens wäre zu prüfen, wie, in wessen Interesse und in welche Richtung diese Überhänge in der gegenwärtigen Transformationsphase wirken. Hier gibt es einerseits erstaunliche Kontinuitäten, z. B. in den Propagandatopoi, Glaubenssätzen und Feindbildern der serbischen oder der kroatischen Nationalisten oder im longue durée-Phänomen des kontinuierlichen Rückstands nationaler Bewegung in Weissrußland, der östlichen Ukraine, Mazedonien oder bei den bosnischen Muslimen. Andererseits haben konkrete politische Maßnahmen veränderte Situationen geschaffen, auf der Krim, in Transnistrien, der Ukraine und anderswo. Der Blick auf die Hrochschen Entwicklungssequenzen, insb. die Stellung des Übergangs zur nationalistischen Massenbewegung gegenüber der ›Bürgerlichen Revolution‹ (BC vs. BR), der Industrialisierung (BC vs. IR) und der Organisation der Arbeiterbewegung (BC vs. OA) empfiehlt sich auch hier. 281
2. Zur Analogie zu den Fällen von Dekolonisierung und Unterentwicklung: Funktional gibt es hier wichtige Parallelen, jedenfalls in den weniger entwickelten Regionen, die lange unter russisch-sowjetischer Oberherrschaft gestanden haben und denen die eigene, anerkannte Nationalität im Sinne einer nationalen Selbstvergewisserung nicht immer selbstverständlich war. Sogar in Griechenland mit seiner stärkeren civil society, nationalen Identifikation und wesentlich geringeren Transformationsproblemen hat ja der PASOK unter Papandreou bis in die 1990er Jahre hinein noch auf die Drittwelt-Rhetorik nationaler Befreiungsbewegungen gesetzt.42 Wie viel mehr müssen nationalistische und populistische Entwicklungsstrategien dann naheliegen in noch wesentlich weniger entwickelten Ländern, die reagieren auf sowjetischen Imperialismus, russische Zentralisierung, fremdbestimmte Unterentwicklung und Stagnation, und in denen allenfalls der Staat potentiell stark, aber wenig effektiv ist, die civil society jedoch ebenso erst gebaut werden muss wie die neue Nation, und zwar mehr von oben als von unten. Die Probleme werden allerdings größer und die Analogie zu den Drittwelt-Nationalismen kommt an ihre Grenzen, wenn die typischen traditionellen Träger dieser Art Nationalismus, die lokalen Bourgeoisien und die Mittelschichten, fehlen oder nur mikroskopisch erkennbar sind. 3. Zum Problem der simultanen, doppelten Transformation, zu Demokratie und zur Marktwirtschaft (wenn es denn gut geht): Hier ist das Hauptproblem die Ordnung und Koordination der Prioritäten zwischen politisch-institutionellem und ökonomisch-sozialem Regimeübergang in einem integrierten Umbauprozess, in dem in der Regel nie erst das eine und dann das andere angezielt und getan werden kann. An der einen nichtintegrierten Reihenfolge ist Gorbatschow gescheitert, mit der anderen werden die Chinesen wohl nicht zu mehr Demokratie kommen. Beide Prozesse müssen zweifellos gleichzeitig vorangetrieben werden, damit die Lieferfähigkeit des Systems nicht so sehr oder so lange zurückgeht, dass die supports für den politischen Umbau dauerhaft und (vorerst) unumkehrbar abnehmen. Die Transformationsliteratur ist inzwischen voll von den Problemen, die sich hier stellen.43 Eines, aber ein wichtiges davon ist auch, an welchem Punkt des Transformationsprozesses die Frage der ›stateness‹ (Linz u. Stepan), der Grenzen, des ›in or out‹ gestellt wird oder gestellt werden sollte, wenn es denn Gründe dafür gibt, relativ früh wie im Falle der drei baltischen Republiken, oder relativ spät wie im Falle der Auflösung der Tschechoslowakei. In beiden Fällen gab es gute und einsehbare Gründe aus den politischen Konstellationen heraus, so zu verfahren, wie man verfahren ist. An42 Vgl. M. Spourdalakis, The Rise of the Greek Socialist Party, London 1988; P. N. Diaman douros, Politics and Culture in Greece, 1974–1991: An Interpretation, in: R. Clogg (Hg.), Greece, 1981–1989, The Populist Decade, London 1993, S. 1–25. 43 Vgl. dazu vor allem Linz u. Stepan, Problems; J. M. Maravall, Regimes, Politics and Markets. Democratisation and Economic Change in Southern and Eastern Europe, Oxford 1997; J. Elster u. a., Institutional design in post-communist societies: Rebuilding the ship at sea, Cambridge 1997; C. Offe, Varieties of Transition, Cambridge 1996; K. v. Beyme, Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt 1994.
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dererseits hat der Zeitpunkt aber möglicherweise auch etwas mit der Stärke und dem Charakter der jeweiligen nationalen Bewegung zu tun und mit den voraufgegangenen Erfahrungen in den Interaktionen zwischen dieser Nation und der Staatsmacht. Hier wären die Motive im einzelnen und im Vergleich genauer zu untersuchen. Ein anderes zentrales Problem im Hinblick auf unsere hier gestellten Fragen ist der Umstand, dass die doppelte Transformationsleistung mit den vorhandenen Akteursbeständen erbracht werden muss, also mit den Gruppen und Eliten, die in der konkreten Gesellschaft vorhanden sind. Mit wenigen Ausnahmen (wieder Ungarn, Tschechien, Polen, in Ansätzen auch Slowenien) fehlt hier durchweg nicht nur das Bürgertum (sei es nationales, lokales, Wirtschafts- oder Bildungsbürgertum), sondern es fehlen im Ansatz meist auch Strukturen einer civil society, die sich ausbauen ließen.44 Was da ist, ist der Staat, der die Gesellschaft ganz oder überwiegend vereinnahmt hat, eine Art realsozialistische Staatsgesellschaft, deren Mechanismen denen jener Gesellschaft nicht ganz unähnlich sind, die Karl Marx im preußischen Fall »die bürgerliche Gesellschaft des Staates«45 genannt hat. Das war die Bürokratie. Preußen ist ja nicht ohne Grund Vorbild zahlreicher Konzepte von Entwicklungsdiktatur geworden, von Lenin bis nach Schwarzafrika. Was die nationalen Probleme angeht, so verstanden sich die realsozialistischen Staaten entweder als ›national‹ oder als ›multinational‹, in jedem Fall als staatsnational. Träger nationaler Vergewisserung und Mobilisierung und Garant nationaler Interessen war der Staat, waren die Organe und Eliten der Staatsmacht, keine bestimmte soziale Gruppe, Schicht oder Koalition. Da lokale oder nationale Bourgeoisien und entsprechend dicht vernetzte Flechtwerke, aus denen die Kerne einer civil society sich hätten entwickeln können, zunächst fehlten, lag es auf der einen Seite nahe, dass die vorhandenen alten Funktionseliten kompensatorisch und substitutiv in deren Stellungen einrückten, ähnlich wie die portugiesischen Militärs 1974 (für eine Zeit) in die der viel zu schwachen zivilen politischen Eliten. Dies waren, allenfalls mit der Ausnahme ganz weniger, die sich zu sehr diskreditiert hatten, die alten kommunistischen Bürokraten, Funktionäre und Technokraten, Reformkommunisten ebenso wie hardliners, aus dem Parteiapparat, dem Wirtschaftsapparat und dem Sicherheits- und Militärapparat, dem sozialistischen militärisch-industriellen Komplex, dessen Stärke und Präsenz oft gewaltsame Lösungen favorisieren. Diese Eliten dominieren in vielen Bereichen von Wirtschaft, Politik und Medien, aufgrund ihres anfänglichen Kenntnisvorsprungs, ihrer Netzwerke und des Gewichts der von ihnen vertretenen alten oder neuen Interessen. Sie bilden, in unterschiedlicher Zusammensetzung, die im einzelnen zu analysieren wäre, die Kerne von Regierung und Opposition, verwalten den Staat und helfen durchweg auch, 44 Vgl. den Beitrag über Demokratisierungsprobleme, in diesem Band. 45 K. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, in: MEW, Bd. 1, Berlin 1961, S. 203–333, hier 247.
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zivilgesellschaftliche Mechanismen aufzubauen. Ihre Konkurrenz und ihre Rivalitäten, die Folgen der früheren institutionellen Kompartmentalisierung und früherer Rivalitäten sind, stärken längerfristig, wenn auch durchweg aufhaltsam, den Zug zum Pluralismus. Am Ende werden aber wohl eher ›zeitgemäße‹ korporatistische Mechanismen etabliert werden als das liberale Marktmodell der Konkurrenzdemokratie aus dem 19. Jahrhundert. Solche Eliten, also Teile der alten Bürokratien, deren genaue Hintergründe und Zusammensetzung im einzelnen zu ermitteln wären, tragen auch zahlreiche politische Bewegungen einschließlich derer, die mehr oder weniger prononciert nationalistisch agitieren. Daneben gibt es aber andererseits auch eine Reihe ehemaliger dissenters und Verfolgter, die man oft (aber nicht immer) an ihrer stärker fundamentalistisch gefärbten Agitation erkennt. Die Mischungen aus beiden Gruppen sind von einer Bewegung zur anderen und von Land zu Land verschieden. Beide appellieren populistisch an die Basis, mobilisieren, wenn sie können, von unten ebenso wie von oben, und sie tun dies, je rückständiger ein Land in ökonomischer Hinsicht ist oder je mehr Probleme es hat, umso mehr im Namen nationaler Interessen, Rechte oder Obsessionen, und nicht im Namen von Freiheit oder Demokratie.46 Letztere wird ohnehin, wie gewöhnlich, durchweg mit dem Wohlergehen der Nation identifiziert. Da die neuen Staatstraditionen noch sehr fragil sind und es keine verbindliche Ideologie mehr gibt, ist das ethnische Nationsverständnis, das ja auch der älteren Tradition Osteuropas entspricht und den Vorteil hat, sich auf tangible Phänomene zu beziehen, und entsprechend ethnischer Nationalismus möglicherweise nicht nur als eine Art ›Krücke‹ des Übergangs willkommen.
8. Nationalismus und Demokratisierung Dies bringt uns zurück zum Verhältnis von Nationalismus und Demokratie, bzw. Nationalismus und Demokratisierung. Ich kann hier nicht ausführlicher auf die grundlegenden Elemente und Definitionen, Konstellationen und Bedingungen der jüngeren Demokratisierungsprozesse eingehen, wie das andernorts geschehen ist, und verweise stattdessen auf unser weiter oben erläutertes Modell der ›embedded democracy‹ sowie der entsprechenden Faktoren und Teilregime demokratischer Konsolidierung.47 Unter diesen letzteren sind einige, die ganz eng mit den Problemen nationaler Vergewisserung und Mobilisierung zu tun haben: in erster Linie das Teilregime der nationalen Integration und territorialen Ordnung, im weiteren Sinne auch der Verfassungsordnung und der In46 Zum Verhältnis von Entwicklung, Autoritarismus und Ultranationalismus vgl. auch M. Mann, Anm. 25, sowie S. M. Lipset, The Social Requisites of Democracy Revisited, in: American Sociological Review, Jg. 59, 1994, S. 1–22. 47 Siehe die Beiträge im zweiten Abschnitt dieses Bandes.
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stitutionen, des Parteiensystems und der Eliten, unter den Einzelfaktoren vor allem der Zustand der Zivilgesellschaft und der dahinterstehende Modernisierungsweg sowie das Verhältnis zum Ausland. Das sind relativ wenige Bereiche, deren demokratieunfreundliche Besetzung jedoch den Demokratisierungsprozess entscheidend behindern oder gar verhindern kann. In den meisten westlichen Regimeübergängen der ›dritten Welle‹ hat das Spannungsverhältnis zwischen Nationalismus und Demokratisierung kaum eine Rolle gespielt, weder in Portugal und Griechenland noch in Südamerika oder Ostasien. Nationalismus hat Demokratisierung weder sonderlich gehindert noch befördert, da er, trotz des Missbrauchs durch autoritäre Herrscher, (mit der Ausnahme von Uruguay) zum consensus der jeweiligen Gesellschaften gehörte und ihre politische Kultur kennzeichnete. Der klassische Ausnahmefall ist hier (neben dem problembeladenen Südafrika) Spanien, aber nicht im Hinblick auf den gesamtspanischen Nationalismus, für den das eben Gesagte auch gilt, sondern im Hinblick auf die starken Randnationalismen, vor allem der Basken und Katalanen, in geringerem Umfang auch einiger anderer. Eine Zeitlang wurde ernsthaft befürchtet, dass überzogene Forderungen oder gar separatistische Tendenzen der peripheren Nationalisten den Prozess der Konsolidierung der nachautoritären spanischen Demokratie gefährden könnten. Der gefundene und auch für die Militärs akzeptable Kompromiss der integralen Regionalisierung Spaniens, des ›Estado de las Autonomías‹, unabhängig davon, ob eine Region nun nationalistische oder regionalistische Forderungen artikuliert oder nicht, hat sich, trotz aller Unvollkommenheiten, für eine relativ lange Zeit als stabil und sogar ausbaufähig erwiesen und entscheidend zur demokratischen Konsolidierung beigetragen. Die wichtigsten Gründe für diese relative Erfolgsgeschichte dürften sein, dass erstens die umfassende Regionalisierung einen zusätzlichen institutionellen Kanal zur Verarbeitung der im Übergangsprozess anfallenden Konflikte eröffnete und damit das System entlastete, z. B. auch eine angemessene Differenzierung der drei Parteiensysteme ermöglichte; dass zweitens Regionalisierung (und Föderalisierung), wie anderswo in West- und Südeuropa auch, durchweg einen Zuwachs an Demokratisierung bedeutet hat, weil sie die Mechanismen der Partizipation und Kontrolle intensiviert. Vor allem aber, drittens, die Tatsache, dass die regionalen Randnationalismen, mit der Ausnahme eines kleinen Teils der sich durch terroristische Praktiken oder deren Rechtfertigung ausgrenzenden baskischen Linken, durchweg, und die großen schon seit rund hundert Jahren, moderne, demokratische und Demokratie befördernde Bewegungen gewesen sind und dies auch im kontinuierlichen Widerstand gegen autoritäre und zentralistische (!) Regime unter Beweis gestellt haben.48 48 Vgl. P. A. Kraus, Nationalismus und Demokratie. Politik im spanischen Staat der Autonomen Gemeinschaften, Wiesbaden 1996; J. J. Linz, Spanish Democracy and the Estado de las Autonomías, in: R. A. Goldwin u. a. (Hg.), Forging Unity out of Diversity, Washington 1989, S. 260–303.
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Nationalismus kann also – wie das Beispiel zeigt – auch Demokratisierung befördern, wenn es der richtige ist, also wenn er demokratische Traditionen hat, und insbesondere dann, wenn er sich, wie schon festgestellt, noch in der aufsteigenden, progressiven Phase befindet und noch nicht in die status quo-Bewahrung einer herrschenden Staatsnation umgekippt ist. Beispiele dafür gibt es auch in Osteuropa, z. B. im Baltikum, in Polen oder in Tschechien.49 Wie sich das Verhältnis von Nationalismus und Demokratie gestaltet, hängt entscheidend von den Traditionen und Inhalten des Nationalismus ab und damit von den Daten und Ergebnissen des konkreten gesellschaftlichen Entwicklungswegs, den diese reflektieren. Unter den möglichen Ergebnissen von Transformationsprozessen sind es ja auch nicht die schließlich konsolidierten Demokratien, die problematisch sind. Von konsolidierten Demokratien gehen nicht nur, wie wir von Michael Mann und anderen wissen, keine Gefahren eines aggressiven und gewaltsamen Ultranationalismus aus,50 sondern sie können die nationalen und nationalistischen Ambitionen, vom Zugehörigkeitsgefühl über den AlltagsPatriotismus bis zur Förderung gelegentlich ehrgeiziger Reformprojekte, auch intern kanalisieren und als Schmiermittel gesellschaftlicher Integration nutzen, wie de Gaulle oder zahlreiche amerikanische Präsidenten. Problematisch sind die nicht konsolidierten Demokratien, die entweder zurück in autoritäre Herrschaft fallen (meistens eine andere als zuvor) oder längere Zeit hindurch defiziente, ›delegierte‹ oder ›defekte Demokratien‹ bleiben, ohne Gewaltenbalance, mit Präsidialherrschaft durch Dekret und einer fragwürdigen Bilanz in Sachen Rechtsstaat und Bürgerrechte, wie im postrevolutionären Mexico oder Bolivien, in Peru unter Fujimori, in Argentinien unter Menem, in der Slowakei unter Meciar, oder in Russland unter Jelzin und Putin.51 In solchen Situationen neigen die Herrschenden ebenso wie die Opposition, die oft auch nur eine anders defekte Demokratie will, dazu, nationalistische Mobilisierung anzustreben und einzusetzen, auch um von den noch bestehenden institutionellen Defiziten der Demokratisierung abzulenken. Dabei gibt es durchweg zwei idealtypische Pole: zum einen Argumente aus dem Arsenal des projektorientierten, tendenziell progressiven Entwicklungsnationalismus, der sammeln, integrieren, die eigenen Kräfte stärken und die Gesellschaft weiterbringen will, auf der anderen Seite Argumente, die die exklusionäre, xenophobe, ethno zentrische, also die mehr traditionelle und ›hässliche‹ Seite des Nationalismus betonen. 49 Zum Vergleich M. Szabo, Nation-State, Nationalism, and the Prospects for Democratization in East Central Europe, in: Communist and Post-Communist Studies, Jg. 27, 1994, S. 377–399. 50 M. Mann, Anm. 25. 51 Zu diesen Problemen W. Merkel u. a., Defekte Demokratie, Bd 1: Theorie, Opladen 2003; ders. u. a., Defekte Demokratie, Bd. 2: Regionalanalysen, Wiesbaden 2006, sowie H. J. Puhle, ›Embedded Democracy‹, auch in diesem Band; G. O’Donnell, Delegative Democracy, in: Journal of Democracy, Jg. 5,1, 1994, S. 55–69.
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In der Regel sind die Argumente im Einzelfall gemischt, und es kommt darauf an, das genaue Mischungsverhältnis und die exakte Dosis der einzelnen Elemente herauszufinden, um besser unterscheiden zu können zwischen einem funktional angemessenen (vulgo ›gesunden‹) Nationalismus und einem dysfunktionalen, für eine freie Gesellschaft und eine demokratische Ordnung gefährlichen. Auch für die Nationalismen der sechsten Welle gilt, dass es gemeinhin nicht die Struktur eines Nationalismus ist, die, im schlechten Fall, Intoleranz, Gewalt und Terror erzeugt, sondern dieselben dahinterstehenden gesellschaftlichen Faktoren und Konstellationen, die auch den Nationalismus konditionieren.
Entwicklungswege in der atlantischen Welt
Das atlantische Syndrom: Europa, Amerika und der ›Westen‹*
Die Entwicklungswege einzelner Länder und Gesellschaften in die Moderne sind unterschiedlich verlaufen. Es gibt aber bei einer ganzen Reihe von Ländern mit ähnlichen Entwicklungskonstellationen durchaus auch Gemeinsamkeiten, gleichgerichtete Trends und Tendenzen zu mehr Konvergenz, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend verstärkt haben. Auch die jüngsten Schübe von ›Globalisierungs‹prozessen, die zunächst vor allem in ihren technologischen und ökonomischen Dimensionen wahrgenommen wurden und von denen die Historiker wissen, dass sie eine lange Vorgeschichte haben und nicht die ersten sind,1 zeigen ein ähnliches Muster. Sie sind überall, wie schon frühere Modernisierungsstufen seit dem späten 18. Jahrhundert, einerseits gekennzeichnet durch zunehmende Uniformität, andererseits aber auch durch unterschiedliche regionale Ausprägungen und Adaptationen sowie durch gegen sie mobilisierte lokalistische oder regionale Reaktionen, die oft besonders die kulturellen Differenzen der Länder und Gesellschaften betonen. Die gängige Erscheinungsform von Globalisierung ist ohnehin Regionalisierung. Dabei kann das, was als ›Region‹ begriffen wird, durchaus variieren.
1. ›The West and the rest‹ als Problem der Gesellschaftsgeschichte Die uniformisierenden Elemente dieses Prozesses haben auch damit zu tun, dass sich ›Modernisierung‹ bisher auch in Japan, China, Indien, Afrika oder im arabisch-islamischen Raum überwiegend in der Durchsetzung von Technologien (und deren wissenschaftlichen und organisatorischen Voraussetzungen), Wirtschaftsweisen, Interaktionsformen und Institutionen manifestiert hat, die ihren Ursprung in der ›westlichen‹ Welt hatten, also in den entwickelten und * Zuerst erschienen in: J. Osterhammel u. a. (Hg.), Wege der Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2006, S. 179–199. 1 Vgl. z. B. J. Osterhammel u. N. P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003; K. Borchardt, Globalisierung in historischer Perspektive, Sitzungsberichte d. Bayer. Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, 2/2001, München 2001.
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seit dem 19. Jahrhundert zunehmend demokratisch gewordenen Industrieländern rund um den Nordatlantik. Dieser ›Westen‹ mit seinem Kern in Europa und dem überwiegend europäisch geprägten Nordamerika, der noch heute, zusammen mit Australien, Neuseeland und Japan, den größten Teil der entwickelten OECD-Welt ausmacht, hat über zwei Jahrhunderte lang die wirksamsten und erfolgreichsten Vehikel und Instrumente für Entwicklung und Modernisierung auch im Rest der Welt bereitgestellt. Allen kulturalistischen Relativierungsversuchen zum Trotz sind zentrale Errungenschaften der europäischen Moderne und des nordatlantischen Raums attraktive Modelle für den Rest der Welt geblieben und geradezu zu Exportschlagern geworden: Das gilt für den modernen Staat, verstanden als Nationalstaat, mit seinen Entwicklungslinien hin zur rechtsstaatlichen Demokratie einerseits und zum Sozialstaat andererseits, ebenso wie für den modernen Industriekapitalismus und die Massenkonsumgesellschaft (einschließlich zahlreicher oft auch problematischer ideo logischer und politischer Implikationen wie z. B. Nationalismus, Imperialismus, Sozialismus, etc.). Die westlichen Entwicklungsmodelle waren deshalb attraktiv für andere, weil sie zwischen dem späten 18. und dem späten 20. Jahrhundert bei der Modernisierung, Entwicklung und Beherrschung der Welt aufgrund von Konstellationen, die sich beschreiben lassen, die Nase vorn hatten. Damit haben sie, mangels Konkurrenz, den Erscheinungsformen der Modernisierung auch anderswo den westlichen Stempel aufgedrückt.2 Unter dem Druck der Mechanismen des internationalen Wettbewerbs hat die Proliferation von moderner nationalstaatlicher Organisation mit ihren disziplinierenden, aber auch schützenden und leistungsfähigen Komponenten, von Industrialisierung und Demokratisierung durchaus (auch normativ konnotierte) universelle Züge angenommen, zumal die Gegenmodelle, dort wo sie versucht wurden, allesamt bislang erfolglos geblieben sind. Leistungsfähige Staatlichkeit mit Gewaltmonopol und stabilen Institutionen, Rechts- und Sozialstaat, demokratische Selbstbestimmung und Teilhabe am technisch-industriellen Fortschritt sind Ziele, die so gut wie überall in der Welt für erstrebenswert gehalten werden. Entsprechend ist von einer Ausnahmestellung und einer besonderen Pionierrolle westlicher Entwicklungsmodelle gesprochen worden, von einem europäischen ›Sonderweg‹ (Mitterauer), vom ›American exceptionalism‹, usw. Sich entwickeln und ›modern‹ werden hieß für viele Gesellschaften in der Welt lange Zeit: »von Europa lernen« (Senghaas), später auch von Nordamerika.3 2 Dies ist zunächst die Ausgangskonstellation. Ob sie zu mehr oder weniger automatischer ›Verwestlichung‹ (und in welchen Sektoren?) führen muss oder nicht, ist eine andere Frage. Vgl. dazu auch die differenzierteren Varianten des Konzepts der ›multiple modernities‹, z. B. in: S. N. Eisenstadt, Multiple Modernities, in: Daedalus, Bd. 129, 2000, S. 1–29; D. Sachsenmaier, Multiple Modernities – the Concept and its Potential, in: ders. u. a. (Hg.), Reflections on Multiple Modernities, Leiden 2002, S. 42–67. 3 Vgl. M. Mitterauer, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 2004; L. Hartz, The Liberal Tradition in America, New York 1955; S. M. Lipset, The First
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Und selbst noch die gegenwärtig überall diskutierte Notwendigkeit einer säkularen ›Kehre‹, der Umsteuerung der Politik und der gesellschaftlichen Systeme weg vom Prinzip zunehmend vermehrter (bürokratischer) Organisation, das das letzte Jahrhundert bestimmt hat, hin zum Prinzip von weniger und loserer Organisation und zu kleineren Einheiten (Dezentralisierung, Deregulierung, Privatisierung, welfare state retrenchment, etc.) reflektiert wesentlich vor allem die europäischen und atlantischen Zustände und Probleme. Dieser Prozess zeigt allerdings auch ein Potential neuer strategischer Vorteile für die latecomers, die aufgrund ihres Rückstands in Sachen organisatorischer Verdichtung womöglich bestimmte Stufen und Stadien der klassischen Modernisierungsmuster einfach überspringen und sich damit zeitraubende Wege ersparen können (das ›leapfrogging‹-Syndrom).4 In manchen Sektoren (z. B. bei der Umsteuerung der sozialen Sicherungssysteme) haben sich dabei – ganz gegenläufig zu dem bekannten Diktum von Karl Marx – gelegentlich sogar zeitweise neue Muster- und Modellfunktionen der weniger entwickelten für die entwickelteren Gesellschaften ergeben (z. B. »von Chile lernen?«). Angesichts der großen Attraktion und Bedeutung der von Europa ausgehenden westlichen Entwicklungsmuster für den Rest der Welt lohnt es sich, einmal mehr zu versuchen, systematisch darüber nachzudenken, was denn eigentlich diese westlichen Muster ausmacht, worin womöglich das Besondere, Dynamik und Einfluss generierende am westlichen Entwicklungsmodell bestanden hat, und ob es überhaupt ein einheitliches ›westliches‹ Modell gegeben hat, oder vielmehr deren mehrere. Im Folgenden wird argumentiert werden, dass es zwar wichtige und in die Welt ausstrahlende Gemeinsamkeiten des westlichen Modernisierungsmusters gibt, sich aber die Entwicklungen der einzelnen Gesellschaften und Staaten des Westens teilweise erheblich durch ihre jeweiligen Faktorenkonstellationen und -kombinationen voneinander unterscheiden und es folglich darauf ankommt, die Eigenarten und Mischungsverhältnisse der entsprechenden nationalen oder regionalen Entwicklungswege (trajectories) zu ermitteln, die dann ihrerseits auch unterschiedliche Ansatzpunkte und mögliche Prioritäten für die weiteren strategischen Diskussionen in anderen Teilen der Welt bieten können. Trajectories matter! Die vergleichende Analyse der Entwicklungswege verschiedener Gesellschaften in die Moderne ist eine wichtige Aufgabe nicht nur einer historisch gesättigten Soziologie, Politikwissenschaft oder Ökonomie, sondern vor allem auch der Gesellschaftsgeschichte. Sie kann anschließen an die konstellationsana lytischen Bemühungen von Marx und Weber ebenso wie hinreichend sektoralisierter Modernisierungstheorien, an die Arbeiten von Hintze, Oestreich, New Nation, Garden City 1967; D. Senghaas, Von Europa lernen. Entwicklungsgeschichtliche Betrachtungen, Frankfurt 1982. 4 Zu den Mechanismen des ›leapfrogging‹ vgl. insb. Introduction u. Conclusion, in: R. Gunther u. a. (Hg.), The Politics of Democratic Consolidation. Southern Europe in Comparative Perspective, Baltimore 1995, S. 1–32 u. 389–413.
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Gerschenkron und Barrington Moore, Charles Tilly, Rueschemeyer u. a., Stein Rokkan, Ruth und David Collier und anderen. Und sie kann produktiv konkurrieren mit und sich anregen lassen von jenen Ansätzen, deren Erkenntnisinteresse mehr auf die Herausarbeitung von übergreifenden allgemeinen Entwicklungslinien oder Interaktionsmustern gerichtet ist, wie den ›modern world system‹-, Imperialismus-, Dependenz- und Globalisierungstheorien,5 oder neueren umfassenden Studien wie denen von Michael Mann und Manuel Castells. Der anspruchsvolle, typologisch disziplinierte und hinreichend empirisch unterfütterte Vergleich zwischen den unterschiedlichen Entwicklungswegen von Gesellschaften kann gleichzeitig ein ebenso anregender und notwendiger Beitrag zu einer ausgeweiteten Sozialgeschichte im Zeitalter der Globalisierung sein wie, auf der anderen Seite, die Analysen der transkontinentalen Beziehungen, Interaktionen, Netzwerke und Verflechtungen. Vor allem erlaubt er es auch, die besonderen Eigenarten der Akteure einer ›entangled history‹ im Kontrast klarer herauszuarbeiten.6 Wichtig ist dabei, dass die typologischen Konstrukte der ›Entwicklungswege‹ nicht zu ›großtypologisch‹ (und damit tendenziell leer) angelegt werden, und dass man sie als heuristische Instrumente der Analyse versteht, und nicht als naturgesetzliche Analogien, teleologische Ziele oder als normatives Prokrustesbett für Entwicklungsstrategien. Es wäre auch falsch, ein bestimmtes ›trajectory‹, wie es vielfach noch geschieht, mit einer unflexibel verstandenen ›path dependency‹ zu verwechseln, aus deren Gräben eine Gesellschaft angeblich nicht mehr herauskann. Die Konstellationen bestimmter Entwicklungswege legen zwar ceteris paribus in der Regel immer auch größere Wahrscheinlichkeiten bestimmter Prioritäten, Entwicklungen und Lösungen nahe, aber sie bleiben offen, nicht nur für Ausnahmen, sondern auch für substantielles Umsteuern und für durch (mehr oder weniger strategische) Entscheidungen herbeigeführte Brüche mit den bisherigen trajectories (›agency matters‹). Wäre dies nicht so, wären politische Regimewechsel, z. B. von autoritärer Herrschaft zur Demokratie, ebenso unwahrscheinlich wie grundlegende Neujustierungen und Reformen der Systeme sozialer Sicherung oder andere profunde Politikwechsel, wie sie nachweislich gelegentlich stattfinden.
5 Vgl. zuletzt u. a. C. A. Bayly, The Birth of the Modern World 1780–1914: Global Connections and Comparisons, Oxford 2004. 6 Dazu neuerdings J. Kocka, Sozialgeschichte im Zeitalter der Globalisierung, in: Merkur, Jg. 60, 2006, S. 305–316. Zum Vergleich u. a. H. Kaelble, Die interdisziplinären Debatten über Vergleich und Transfer, in: ders. u. J. Schriewer (Hg.), Vergleich und Transfer, Frankfurt 2003, S. 469–493; ders., Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1999, und bereits H. J. Puhle, Theorien in der Praxis des vergleichenden Historikers, in: J. Kocka u. T. Nipperdey (Hg.), Theorie und Erzählung in der Geschichte, München 1979, S. 119–136.
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2. Das Atlantische Syndrom Um die Dynamik und auch die gelegentlichen Akzent- und Gewichtsverschiebungen in der Entwicklung des Westens besser zu verstehen, ist es sinnvoll, den Blick nicht nur auf Europa oder Nordamerika zu richten, sondern auch auf den atlantischen Raum als einen Interaktionsraum zwischen Europa, Nord- und Südamerika sowie Afrika, ein komplexes Syndrom (um das anspruchsvolle Wort ›System‹ zu vermeiden) von Beziehungen, Austausch, wechselseitigen Lernprozessen, Transfers und Interdependenzen.7 Die Grenzen dieses Raumes waren dabei nicht immer klar definiert, da er von Anfang an, seit dem Ausgreifen der iberischen Kolonialmächte in die Welt, auch Teil des sich herausbildenden ›Modern World System‹ war und einige der hier relevanten Akteure gleichzeitig auch in anderen Großräumen, rund um das Mittelmeer, um den Indischen Ozean und später auch den Pazifik aktiv waren. Eine Besonderheit der atlantischen Beziehungsarena besteht jedoch darin, dass sich hier bestimmte Modernisierungsmuster herausgebildet haben, die zwar durchaus verschieden waren, aber auch wichtige Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten aufwiesen, die alle damit zu tun hatten, dass ›Diversität‹ nicht auszurotten war und folglich in der Regel (und meistens sehr produktiv) institutionell akzeptiert und kanalisiert werden musste. Dieser Prozess hat die Dynamik von ökonomischem und politischem Wettbewerb gefördert und zur Herausbildung des modernen Kapitalismus ebenso beigetragen wie zu den Mechanismen von Pluralismus, politischer Repräsentation und grundlegenden Freiheitsrechten. Der Prozess ging aus von Europa, das unter den atlantischen Kontinenten lange Zeit dominierend blieb und die Prozesse des Institutionenbaus und der Entwicklung in Nordamerika, Lateinamerika und später in Afrika entscheidend bestimmt hat.
3. Unterschiedliche europäische Entwicklungswege Die Dominanz Europas bedeutete jedoch auch, dass durchaus unterschiedliche Entwicklungsmuster auf die außereuropäische Welt einwirkten, weil es den einheitlichen europäischen Entwicklungsweg nicht gibt. Die europäischen Gesellschaften haben sich vielmehr, [wie in anderen Beiträgen bereits angedeutet,] auf durchaus unterschiedlichen Wegen in die Moderne bewegt, die allerdings auch bestimmte (›europäische‹) Gemeinsamkeiten aufweisen. Es kommt darauf an, beide Komponenten, die Unterschiede wie die Gemeinsamkeiten und deren 7 Vgl. dazu neuerdings: B. Bailyn, Atlantic History: Concept and Contours, Cambridge, MA 2005, sowie die Beiträge in: H. Pietschmann (Hg.), Atlantic History: History of the Atlantic System 1580–1830, Göttingen 2002; zu sektoralen Lernprozessen z. B. D. T. Rodgers, Atlantic Crossings: Social Politics in a Progressive Age, Cambridge, MA 1998.
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Konstellationen zu bestimmten Zeitpunkten im einzelnen zu würdigen. Dabei ist zunächst hinzuweisen auf die gemeinsamen Hintergründe im gemischten kulturellen Erbe und in den ökonomischen sozialen und institutionellen Konstellationen der Vormoderne bis ins 17. Jahrhundert. Zweitens wird zu reden sein über die unterschiedlichen Modernisierungs- und Entwicklungswege der europäischen Gesellschaften seit dem Beginn des modernen state building, die durch komplexe Entwicklungen gekennzeichnet sind, deren einzelne Faktoren sich mit einiger typologischer Vereinfachung allesamt den übergreifenden Prozessen von Bürokratisierung (und state building), Industrialisierung und Demokratisierung (und Parlamentarisierung) zuordnen lassen. Eine gewisse Einheitlichkeit europäischer Modernisierungsprozesse liegt darin, dass in den Entwicklungen einzelner Gesellschaften Faktoren aus allen drei Bündeln der Bürokratisierung, der Industrialisierung und der Demokratisierung vertreten sind und zunehmend ineinander wirken. Die Differenzen der nationalen (und manchmal auch der regionalen) Entwicklungswege werden im wesentlichen durch die unterschiedlichen Mischungsverhältnisse der Faktoren aus den drei genannten Bündeln markiert. Da diese Unterschiede von Anfang an konstitutiv gewesen sind, empfiehlt es sich, nicht von ›Sonderwegen‹ zu sprechen, da es ja den ›Normalweg‹ nicht gibt (auch wenn Marx und zahlreiche frühe Modernisierungstheoretiker den englischen Weg zu einem solchen zu stilisieren versucht haben), sondern auszugehen von typologisch und analytisch eher gleichberechtigten unterschiedlichen Entwicklungswegen. – Drittens wird zu reden sein von den insbesondere im 20. Jahrhundert zunehmenden Konvergenztendenzen zwischen den europäischen Entwicklungen, die die charakteristischen Unterschiede der ursprünglichen Entwicklungswege etwas eingeebnet und die europäischen Gesellschaften einander ähnlicher gemacht haben.8 ad 1: Europa ist ein Produkt der Geschichte und gleichzeitig ein Konstrukt. Ich verstehe es mehr als historisches und kulturelles Syndrom denn als geographische Einheit. Seine östliche Grenze war seit dem frühen Mittelalter die Grenze zwischen dem orthodoxen Osten und dem katholischen Westen. ›Europa‹ war der Westen, wo, im Gegensatz zu Cäsaropapismus und Autokratie der orthodoxen Welt, schon früh institutionelle Differenzierung, interne Konkurrenz und institutionalisierte checks and balances durchgesetzt wurden, mit pluricephaler, bipolarer und tendenziell pluralistischer Organisation, z. B. im Verhältnis von Kaiser und König auf der einen, dem Papst auf der anderen Seite, von König und Ständen oder Parlamenten bzw. garantierten Rechten der Kommunen, oder später Katholizismus und Protestantismus. Dieses Europa war von Anfang an vielfältig. Zu seinen konstitutiven Elementen gehörte das Erbe der griechisch-hellenistischen und römischen Antike, die christlichen und jüdischen Traditionen, das Erbe germanischer, (auch nordischer, keltischer, normannischer und anderer regionaler) Traditionen und Institutionen, 8 Dazu ausführlicher H. J. Puhle, Staaten, Nationen und Regionen in Europa, Wien 1995, und den Beitrag zu Nationalismus und Demokratie in diesem Band.
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und schließlich die Integration der westslawischen Gesellschaften, insbesondere der Polen und Tschechen, und der Balten und Ungarn in den ›okzidentalen‹ europäischen Einflussbereich, dessen sichtbarste Form der römische Katholizismus und die lateinische Schrift waren. Dieses Europa expandierte in der Folge, vor allem nach Süden und Osten, und integrierte arabisches, byzantinisches, orthodoxes und türkisches Erbe in Süditalien, auf der iberischen Halbinsel und auf dem Balkan. Seit Peter dem Grossen geriet auch Russland vermehrt in den Einzugsbereich Europas. In seiner vormodernen Phase war Europa überwiegend charakterisiert durch den Dualismus zwischen ›weltlicher‹ und ›geistlicher‹ Herrschaft und Verwaltung, durch regional unterschiedliche Feudalsysteme des ›europäischen‹ Typs (Hintze)9 sowie durch die sich herausbildenden europäischen opportunity structures in der Interaktion zwischen ›Zentren‹ und ›Peripherien‹ (Rokkan),10 die auch Wichtiges beigetragen haben zu den komparativen Vorteilen der europäischen state building-Prozesse, unabhängig vom Typus.11 Am Ende der vormodernen Periode hatten sich in der Interaktion der genannten Faktoren und aufgrund des typisch europäischen Dualismus eine ganze Reihe von Konstellationen herausgebildet, die für den späteren umfassenden Modernisierungsprozess wichtig werden sollten. Zu ihnen gehören vor allem die folgenden Entwicklungen: die Entstehung des modernen Handelskapitalismus, die Schaffung europäischer Kolonialreiche, Renaissance und Humanismus und die Herausbildung der modernen europäischen Wissenschaften, vor allem der Naturwissenschaften, Reformation und Gegenreformation, die Entstehung der modernen politischen und ökonomischen Theorie (vor allem in Großbritannien), die Aufklärung und der fortschreitende Prozess der Säkularisierung, dessen vergleichsweise langer Vorlauf im Rückblick besonders ins Gewicht zu fallen scheint.12 ad 2: Die Einheit der europäischen Modernisierung seit dem späten 18. Jahrhundert besteht darin, dass in jedem Fall Faktoren aus allen drei genannten Bündeln, der Bürokratisierung, der Industrialisierung und der Demokratisierung, präsent sind, die gemeinsam die Herausbildung der modernen Staaten, ihrer Institutionen und Rechtssysteme, ihrer Ökonomien sowie eines funktio9 Vgl. O. Hintze, Wesen und Verbreitung des Feudalismus (1929), in: ders., Staat und Verfassung, Göttingen 1962, S. 84–119. 10 Vgl. S. Rokkan, Staat, Nation und Demokratie in Europa, hg. v. P. Flora, Frankfurt 2000. 11 Zu unterschiedlichen Typen vgl. T. Ertman, Birth of the Leviathan: Building States and Regimes in Medieval and Early Modern Europe, Cambridge 1997. 12 Die zentrale Bedeutung der Säkularisierung (i. S. von Entstaatlichung, Pluralisierung und Liberalisierung von Religion) für gesellschaftliche Modernisierung wird z. B. auch im Vergleich mit dem arabisch-islamischen Raum deutlich, der heute nach allen gängigen Modernisierungsindikatoren im weltweiten Vergleich zurückliegt. Es spricht auch vieles dafür, dass Huntingtons These falsch ist, nach der bestimmte Religionen als solche mehr oder weniger demokratiekompatibel sind, und dass es vielmehr auf den jeweiligen Grad ihrer Fundamentalisierung bzw. Säkularisierung ankommt. Vgl. S. P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996.
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nalen Minimums nationaler Integration geprägt haben, ebenso wie sie später mitgewirkt haben an der Entstehung des modernen Nationalismus und Imperialismus, von Sozialismus, organisiertem Kapitalismus oder Korporatismus. Die unterschiedlichen nationalen (oder in einigen Fällen, wie z. B. Katalonien, auch regionalen) Entwicklungswege sind dagegen charakterisiert durch die jeweiligen zu einer bestimmten Zeit quantitativ und qualitativ verschiedenen Mischungsverhältnisse der Faktoren aus den drei Bündeln. Das Bündel der Bürokratisierung schließt dabei die diversen Weisen und Stufen von state building ein, das der Demokratisierung bezieht sich in einem breiteren Sinn auch auf die Repräsentationsformen auf verschiedenen Ebenen, auf parlamentarische Kontrolle, accountability, organisierten Pluralismus und die Geltung rechtsstaatlicher Regeln. Die wichtigsten Differenzen können schematisch vereinfacht wie folgt charakterisiert werden: In Großbritannien dominierte unter dem Einfluss eines starken und autonomen Wirtschaftsbürgertums von den drei genannten Faktorenbündeln eindeutig die kapitalistische Industrialisierung, die ihrerseits Prozesse der Demokratisierung und Herrschaftskontrolle anstieß, wohingegen Prozesse der Bürokratisierung erst später, in der zweiten Hälfte des 19. Jahr hunderts, einsetzten, wesentlich um die sozialen Folgen der Industrialisierung zu bewältigen. Auf dem Kontinent, wo die Bourgeoisien wesentlich schwächer geblieben waren, verlief die Entwicklung genau anders herum, mit dem Bündel der Bürokratisierung als zunächst dominantem Faktor, im Zeichen von bürokratischem Absolutismus, Autoritarismus, Militarismus und Merkantilismus. Im weiteren Verlauf machte hier allerdings die Französische Revolution einen großen Unterschied, vor allem in der Herausbildung der Beziehungen zwischen den Faktoren der Bürokratisierung und denen der Demokratisierung. So wurde in Frankreich zunächst eine Mischung aus Bürokratisierung und Demokratisierung zum hegemonialen Entwicklungsmuster, während die Industrialisierung später einsetzte und die politischen Institutionen und deren Interaktionen lange Zeit nicht wesentlich prägen konnte. In Preußen und anderen deutschen Staaten gab es keine erfolgreiche Revolution, und der bürokratische Staat war, auch dem Entwicklungsstand entsprechend, vielfach noch interventionistischer und autoritärer. Hier wurde folglich eine Mischung aus Bürokratisierung und Industrialisierung zum dominanten Entwicklungsfaktor, und die Prozesse der Herrschaftskontrolle und Demokratisierung blieben schwächer und defizienter bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Der spanische Entwicklungsweg ist grosso modo dem französischen sehr ähnlich gewesen, aber hier blieben das revolutionäre Erbe und die Traditionen und Netzwerke der Zivilgesellschaft (vor allem im Zentrum) wesentlich schwächer als in Frankreich, so dass die Demokratisierung begrenzt blieb und autoritäre Tendenzen relativ lange überleben konnten. Außerdem ist der spanische Fall noch gekennzeichnet durch die starken cleavages und Antagonismen zwischen dem sozioökonomisch unterentwickelten Zentrum und der im Verhältnis ›überentwickelten‹ Peripherie, die die bürokratischen Eliten des Zentrums 298
zwangen, entweder Allianzen mit den kapitalistischen Bourgeoisien der Peripherie einzugehen oder Pakte mit den unterschiedlichen Gruppen der retrograden ländlichen Oligarchie des Zentrums zu schließen, bzw. beide Strategien kompromisslerisch zu kombinieren. – Je wichtiger jeweils die Faktoren der Demokratisierung waren, umso mehr konnten institutionelle partizipatorische und Konsensmechanismen (wie etwa das Konzept von citizenship) in den Prozessen von nation building genutzt werden, die allerdings in Europa über wiegend entlang exklusionärer Linien verlaufen sind.13 ad 3: Zum dritten muss betont werden, dass die hier genannten unterschiedlichen typologischen Mischungen insbesondere die Anfänge der jeweiligen Entwicklungen charakterisieren. Später gab es mehr Konvergenzen, vor allem im 20. Jahrhundert. Die Systeme wurden ähnlicher. Zum einen ist dies ein Nachholphänomen: Die zunächst noch schwächer gebliebene Komponente aus der Trias der Modernisierungsbündel wurde allmählich stärker gemacht, weil es entsprechende Pressionen und Zwänge gab. In Deutschland wurde die parlamentarische Demokratie ausgebaut, im zweiten Anlauf sogar erfolgreich; in Großbritannien der Civil Service und die Gemeindebürokratien, in Frankreich die Koordinationsinstrumente zwischen Staat und Wirtschaft, und Spanien wurde am Ende nicht nur industrialisiert, sondern auch demokratisiert. Zum anderen lassen sich auch eine Reihe weiterer gesamteuropäischer Entwicklungstrends feststellen, auch wenn im Einzelfall die besonderen Konstellationen des Beginns und die unterschiedlichen nationalen Mischungen und Entwicklungswege noch sichtbar sind. Wir finden diese Trends z. B. im Bereich der Wirtschaft, der sozialen Organisation, der Bildung, der Urbanisierung, in europäischen Familienstrukturen, in Tendenzen zur Verrechtlichung und weiter zunehmenden Bürokratisierung, zur Verstaatlichung vormals autonom geregelter Probleme und zur Regulierung einzelner Politikbereiche. Ein gutes Beispiel für letztere ist die bis ins letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts kontinuierliche Ausweitung sozialstaatlicher Mechanismen, ebenfalls in typologisch erfassbaren unterschiedlichen Mischungen, aber doch zunehmend zu einem ›Europäischen Sozialmodell‹ (EMS) verdichtet. Deutlich sind dabei insgesamt auch zwei komplementäre Linien zur Universalisierung von Partizipation einerseits und von Disziplinierung andererseits.14
13 Die hier nur kurz und vereinfacht skizzierten Tendenzen und Mischungen sind im ganzen natürlich weniger statisch und deutlich gewesen als sie hier erscheinen mögen, und sie bedürften weitergehender Modifikation und Nuancierung. 14 Letzteres wird z. B. sichtbar in der etwa gleichzeitigen Durchsetzung des Frauenwahlrechts und der progressiven Einkommensteuer zwischen 1910 und 1920 in einer Reihe von Ländern (incl. Deutschland). Zum Gesamtprozess vgl. u. a. H. Kaelble, Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft, München 1987; die Beiträge zur Identität und Funktionalität Europas in: G. F. Schuppert u. a. (Hg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2005; zum EMS: A. Giddens, Die Zukunft des Europäischen Sozialmodells, Working Paper Internationale Politikanalyse, Friedrich Ebert-Stiftung u. Policy Network, Berlin 2006.
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4. Transatlantische Interaktionen: Europa und die Amerikas Seit dem 16. Jahrhundert und verstärkt seit dem 19. Jahrhundert sind europäische Entwicklungsmuster und -modelle in die außereuropäische Welt exportiert worden, vor allem die starken und attraktiven Exportartikel: der moderne Kapitalismus, die Industrialisierung, der Nationalstaat, schließlich auch die Demokratie, und zuletzt der Sozialstaat. Diese ›Europäisierung‹ der Welt scheint auch noch nicht ganz an ihr Ende gekommen zu sein, auch wenn sie sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend in eine Art ›Euro-Amerikanisierung‹ transformiert hat. Sogar die gegenwärtigen Trends zu vermehrter ›Globalisierung‹ haben, wie schon die vergangenen, immer noch einen ›westlichen‹, nordatlantischen bias. Im atlantischen Raum ist dieser Prozess allerdings auch zunehmend beeinflusst und modifiziert worden durch die Rückwirkungen, die die transatlantischen Interaktionen auf die Europäer hatten. Die Entwicklungen sind hier nie verlaufen wie in Einbahnstraßen; sie haben immer auch, an einigen ›critical junctures‹15 mehr als an anderen, Prozesse transkontinentalen Lernens impliziert, wenn auch meist nicht zwischen gleichen: An einigen Punkten hatten die einen mehr zu lernen als andere, und eine lange Zeit hindurch konnten es sich einige auch leisten, weniger zu lernen. Von den vier Kontinenten und Subkontinenten rund um den Atlantik ist am Ende (neben dem präkolumbischen indianischen Amerika) vor allem Afrika der schwächste Spieler geblieben, auch wenn die afrikanischen Eliten den Nachschub für den Sklavenhandel kontrollierten, die Debatten über Sklaverei und Abolition (einschließlich deren afrikanischer Seite) in anderen Teilen der Welt als bedeutende eye openers gewirkt haben und afrikanische Probleme viele intellektuelle und politische Debatten in Europa und Nordamerika kontinuierlich beeinflussten.16 Die beiden Amerikas in Nord und Süd haben dagegen bereits früh die nötige Dynamik entwickelt, im transatlantischen Spiel einflussreicher mitzuwirken. Aber gerade auch in den beiden Teilen Amerikas finden wir deutlich ausgeprägte unterschiedliche Entwicklungsmuster, die nicht nur die verschiedenen Konstellationen und Muster der europäischen Einwirkungen reflektieren, sondern auch die der Bedingungen und Faktoren der anfänglichen Entwicklungskonstellationen und der aus ihnen resultierenden Interaktionen. Mit großer Vereinfachung und unter Absehung von den zahlreichen regionalen und sektoralen Unterschieden und den bekannten Veränderungen über die Zeit kann man zwischen einem nordamerikanischen und einem lateinamerikanischen 15 Zum Begriff der ›critical junctures‹ vgl. R. B. Collier u. D. Collier, Shaping the Political Arena. Critical Junctures, the Labor Movement, and Regime Dynamics in Latin America, Princeton 1991. 16 Da ich kein Afrikaexperte bin, werde ich diesen Bereich hier weitgehend ausklammern.
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Großtyp unterscheiden. Prima vista mögen die Entwicklungswege in den beiden Amerikas noch etwas komplizierter erscheinen als die europäischen, vor allem aufgrund einer Reihe von zusätzlichen Charakteristika, die sie zum Teil gemeinsam haben, wie die Dynamik der durchweg gewaltsamen ›Begegnung‹ (›encuentro‹) zwischen Einheimischen und Eroberern, die Überlagerungen von autochthonen und importierten Faktoren, die massiven Einwanderungswellen, die Verspätung des state building (nicht zu reden vom nation building), sowie Dependenz und Unterentwicklung und die Mechanismen der conquista im Süden gegenüber denen der frontier und ihres hohen Entwicklungspotentials im Norden. Am Ende stellen sich allerdings die amerikanischen Entwicklungswege im wesentlichen doch als Varianten desselben Syndroms und derselben Faktorenmischungen heraus, die auch die unterschiedlichen Modernisierungswege in Europa charakterisiert haben. Wir sollten deshalb vielleicht eher nicht von Mustern ›europäischer‹, sondern besser von solchen ›atlantischer‹ oder ›westlicher‹ Modernisierung sprechen.
5. Nordamerikanische Entwicklungsmuster Die ersten, die ausbrachen aus der Abhängigkeit von und der Fremdbestimmung durch Europa und die einen dynamischen Prozess autonomer Modernisierung mit handfesten Rückwirkungen in Gang setzten, waren die Nordamerikaner, und zwar zunächst in den Vereinigten Staaten. Auf deren dominanten Fall wird sich das Argument hier in der Folge beschränken, auch um die Sache zunächst typologisch einfacher zu machen. Die Behandlung Kanadas würde eine Reihe von Ergänzungen und Modifikationen erfordern. Kanada teilt zwar die meisten der grundlegenden ökonomischen und sozialen Charakteristika und Konstellationen der USA, einschließlich der Rolle der frontier, der Bedeutung von Einwanderung und der inneren Entwicklung in aufeinander folgenden Schüben, es ist jedoch in vielerlei Hinsicht, bis hin zu den jüngeren Konflikten um den Status von Québec oder die Reform des Sozialstaats, ein etwas europäischeres Amerika geblieben als die USA. Die Vereinigten Staaten sind mehr oder weniger einem ähnlichen Modernisierungsmuster gefolgt wie Großbritannien, also einem Muster ohne nennenswerten absolutistischen Vorlauf, in dem (in den Termini unserer vereinfachten Typologie) die Faktoren der Bürokratisierung zuletzt zu denen der Demokratisierung und der Industrialisierung hinzugekommen sind. Dabei ist allerdings nicht, wie in Großbritannien, der Prozess von Staatsreform und Demokratisierung angestoßen worden durch die Folgen der Industrialisierung, sondern er ist von Anfang an präsent gewesen und hat schon lange vor der Industrialisierung eine stärkere Dynamik entfaltet. Weitere modifizierende Faktoren waren der Föderalismus (als eine Weise, ›bigness‹ zu bewältigen) und die Eigenarten und Bedürfnisse der new nation, insbesondere Einwanderung, Westwanderung, all301
mähliche Inkorporation der Territorien, ethnische Mischung und Mobilität, aber auch die Größe des Marktes und der Primat der privaten Organisation. Die Entwicklung Nordamerikas ist von Anfang an geprägt gewesen durch bestimmte charakteristische Bedingungen und Konstellationen, die auch in einem deutlichen Kontrast zu den lateinamerikanischen Fällen stehen: Hier kamen die ersten Kolonisten, um zu bleiben und zu siedeln, und nicht nur zwecks Eroberung und Rohstoffausbeutung, und die meisten von ihnen waren protestantische Dissenters und Angehörige von Minoritäten, die oft auch in ihrer religiösen Gemeinde schon relativ demokratisch organisiert waren. Außerdem kamen sie aus einem Land, in dem politische Repräsentation, Verfassungsgarantien und Rechtsstaatlichkeit wesentlich weiter entwickelt waren als im Bereich der iberischen Kolonialmächte. Die entstehende nordamerikanische Gesellschaft war gemeindezentriert und nicht, wie in Lateinamerika, staatszentriert, und sie wurde auch, weil man die autochthone Indianerbevölkerung ausgrenzte und ausrottete, wesentlich mehr zu einer neuen Gesellschaft mit europäischer (zunächst überwiegend angelsächsisch-protestantischer) Prägung. In Lateinamerika entstand demgegenüber eine komplexe Überlagerungsund Mischgesellschaft unter absolutistischer und etatistischer Administration mit vormodernen, ständisch-korporativen Charakteristika, auch weil man die Indianer (die wesentlich zahlreicher waren und in hochorganisierten Kulturen lebten) als Arbeitskräfte nutzte und ihnen einen entsprechenden Platz in der hierarchisch und bürokratisch geordneten Gesellschaftsorganisation zuwies. Entsprechend konnten auch die später kommenden Einwanderer in den USA entscheidend am Bau der neuen Einwanderergesellschaft mitwirken, während die Einwanderer in den lateinamerikanischen Ländern des Südens (die außerdem weniger waren) sich in die jeweiligen staatlichen oder regionalen Gesellschaften, die sie schon vorfanden, einordnen mussten.17 In Nordamerika gab es keine feudalen oder neofeudalen Relikte und nur sehr schwache bürokratische und autoritäre Residuen. Besonders die frontier-Regionen blieben längere Zeit unterinstitutionalisiert und tendenziell anarchisch oder darwinistisch, während weiter südlich die spanischen und kreolischen militärischen, zivilen und kirchlichen Bürokraten und die Richter auch noch die Peripherie zu kontrollieren trachteten. In den USA dominierten von Anfang an die Prinzipien der kapitalistischen Wirtschaft und der Allokation von Gütern und Status durch den Markt, und nicht, wie in vielen Sektoren der lateinamerikanischen Wirtschaften und Gesellschaften, durch politische oder bürokratische Entscheidungen. Die Industrialisierung setzte relativ früh ein, war autonom, umfassend und hatte europäische Dimensionen. Begleitet wurde sie von einem dynamischen Prozess der Modernisierung der kapitalistischen Agrarwirtschaft, und der sich entwickelnde US-Imperialismus wurde getragen von 17 Vgl. dazu und zum Folgenden ausführlicher H. J. Puhle, Unabhängigkeit, Staatenbildung und gesellschaftliche Entwicklung in Nord- und Südamerika, in: D. Junker u. a. (Hg.), Lateinamerika am Ende des 20. Jahrhunderts, München 1994, S. 27–48, und in diesem Band.
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den Interessen beider, der Agrarexporteure und der Industrie. In Lateinamerika fand die Industrialisierung dagegen spät und im wesentlichen in begrenzten Enklaven statt, und durchweg in Abhängigkeit von den beherrschenden Mächten des europäischen und später des nordamerikanischen Imperialismus. Entsprechend war auch der soziale und politische consensus der entstehenden nordamerikanischen Republik ein kapitalistischer und im wesentlichen ›liberaler‹ consensus in der britischen Tradition besitzindividualistischer Ideologie (die zur frühkapitalistischen Wirtschaftsform gehört), der insbesondere auch die zentrale Bedeutung von property und property rights für die Zumessung politischer Partizipationsrechte betonte, in einer bodenständigen repräsentativen Demokratie, in der die Staatsmacht im ganzen der sich frei entfaltenden Wirtschaftsgesellschaft nachgeordnet sein sollte. Der Konsens war ein Eigentümer-Konsens, der allenfalls Interessendifferenzierungen nach Größe erlaubte: So kann man die periodischen Rebellionen der mehr partizipatorischen und interventionistischen ›linkeren‹ Bewegungen gegen das liberale, repräsentative und Federalist establishment, den zweiten Strang politischer Kontinuität in den USA, u. a. die Jeffersonians, Jacksonians, Populists und Progressives, als Aufbegehren der kleineren und schlechter organisierten Eigentümer gegen die großen und besser organisierten interpretieren, denen es wesentlich um ›material opportunities‹ und um den ›gerechten‹ politischen Ausgleich ihrer Nachteile im Markt ging. Ihr ›progressiver‹ consensus ist im 20. Jahrhundert zur beherrschenden amerikanischen Ideologie geworden und hat insbesondere die Reformen des New Deal und die Great Society-Programme der 1960er Jahre inspiriert. Der umfassende liberale consensus hat eine ganz überragende Bedeutung gehabt für die Prozesse von Integration und nation building, die im ganzen in den USA mehr inklusionär verlaufen sind als in Europa oder in Lateinamerika. Das nation building geschah im wesentlich auf drei Ebenen: erstens durch Institutionen wie die gleichen Staatsbürgerrechte (citizenship), wirksame Repräsentation und Partizipationsrechte, zweitens durch die Integration in den Arbeitsprozess, in einem großen und expandierenden Arbeitsmarkt, der ›liefern‹ konnte, und drittens durch Ideologien, die um die Institutionen kreisten oder um den Grundkonsens, der, wie die Normen der ›civil religion‹, auch für die Neuankömmlinge verbindlich wurde, wie individuelle Verantwortung, family values oder der American way of life. Zu diesen ideologischen Mechanismen gehören auch die bekannten Mythen und Träume von der Chancengleichheit, die individuelle Aufstiegs- und Mobilitätsverheißung des American dream und der topos vom melting pot. Alle drei Mechanismen haben viel dazu beigetragen, die Neuankömmlinge mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund zu integrieren, die größten Nachteile sozialer und ethnischer Fragmentierung einzudämmen (indem man die Probleme von ethnischen und Klassenidentitäten auf eine subkulturelle Ebene transferierte) und die Lern- und Reformfähigkeit des sozialen und politischen Systems zu erhalten. Auf der Kostenseite finden wir für eine relativ lange Zeit zum einen den kategorischen Ausschluss bestimmter Gruppen (wie Indianer und Schwarze) und die Nichtanerkennung von Grup303
penrechten, Probleme, die sich akkumulierten und erst in den letzten Jahrzehnten wieder mehr Aufmerksamkeit erfahren haben in den Debatten darüber, wie man die klassische Einwanderergesellschaft mit den Tröstungen der ›ethnicity‹ (auf der subkulturellen Ebene) weiter entwickeln könne zu einer wirklich ›multikulturellen‹ Gesellschaft.18
6. Lateinamerikanische Konstellationen Die lateinamerikanischen Entwicklungswege sind anders verlaufen, obwohl wir auch hier eine Reihe ›amerikanischer‹ Gemeinsamkeiten finden können: Sie liegen z. B. darin, dass wir es auf beiden Subkontinenten mit Gesellschaften zu tun haben, die erstens von Europa aus kolonisiert worden sind, also ähnliche Erfahrungen der Offenheit und Gewaltsamkeit teilen, die zweitens einen erfolgreichen antikolonialen Befreiungskampf hinter sich haben (außer Kanada und Brasilien), die drittens wesentlich Einwanderergesellschaften sind, und in denen viertens die Staaten jeweils vor den (neueren) Nationen da waren. Beide Amerikas teilen auch einige Charakteristika, die typisch für koloniale und nachkoloniale Gesellschaften sind (im Unterschied zu älteren Gesellschaften), z. B. eine gewisse Fluidität institutioneller und gesetzlicher Normen, sogar der Kriterien für soziale Statusallokation, etwas höhere soziale und geographische Mobilität und ein größerer Stellenwert von Erziehung und individuellem Erfolg im Markt als Kriterien für sozialen Status, alles Faktoren, die zusammen und ceteris paribus etwas höhere Freiheitsgrade bzw. erweiterte Freiheitsräume andeuten können. Am Ende überwiegen jedoch die Differenzen. Sie resultieren vor allem aus den unterschiedlichen Formen der Kolonisierung und Kolonialherrschaft durch sehr verschiedene Kolonialmächte zu verschiedenen Zeiten, aus dem unterschiedlichen Grad der Stärke, Intensität und Autonomie der Unabhängigkeitsbewegungen und -prozesse, aus den ganz verschiedenen traditionellen Land- und Arbeitsverfassungen und aus den sich aus diesen Faktoren ergebenden Divergenzen in den Ausgangskonstellationen der Entwicklung in die ›moderne Welt‹ im 19. und 20. Jahrhundert. Die unterschiedlichen Konstellationen haben dazu geführt, dass es die USA am Ende zum Spitzenreiter der westlichen Welt in Bezug auf Reichtum, Entwicklung und individuelle Freiheiten gebracht haben, dagegen die meisten lateinamerikanischen Länder Teile der unterentwickelten und abhängigen ›Dritten Welt‹ geblieben sind, auch wenn sie im einzelnen sehr verschiedene Grade von Autonomie und Stärke autochthoner Traditionen aufweisen. 18 Vgl. H. J. Puhle, Vom Bürgerrecht zum Gruppenrecht? Multikulturelle Politik in den USA, in: K. J. Bade (Hg.), Die multikulturelle Herausforderung; München 1996, S. 147–166; ders., Multi culturalism, Nationalism and the Political Consensus in the United States and in Germany, in: K. J. Milich u. J. M. Peck (Hg.), Multiculturalism in Transit, New York 1998, S. 255–268.
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Die lateinamerikanischen Modernisierungswege sind im ganzen mehr dem kontinentaleuropäischen, weniger dem angelsächsischen Muster gefolgt; am Anfang standen überall Prozesse aus dem Faktorenbündel der Bürokratisierung. Sie waren auch dem spanischen Fall ähnlicher als dem französischen, aufgrund der geringeren Nachhaltigkeit liberaler Revolutionen und des begrenzten und langsamen Fortschritts der Demokratisierung seit der Unabhängigkeit. Am Ende haben die lateinamerikanischen Entwicklungswege insgesamt jedoch nur relativ wenig gemein mit den europäischen, vor allem aufgrund der Tatsache, dass sie, trotz einiger Enklaven früher Entwicklung seit dem späten 19. Jahrhundert, im Industrialisierungsprozess deutlich zurückgeblieben sind. Wie schon die Modernisierung im 19. Jahrhundert, blieb auch die Industrialisierung in den bekannten Schüben der Importsubstitution in den 1920er und 30er sowie seit den 1950er Jahren im ganzen einseitig, partiell und selektiv; die Multiplikatoreffekte blieben begrenzt. Die Anreize und die potentielle Dynamik kapitalistischer Wirtschaft waren schon seit der Kolonialzeit eingehegt geblieben, deren ökonomisches Leitprinzip eine Mischung von Marktmechanismen einerseits und bürokratischer und politischer Allokation andererseits gewesen war. Auch gelegentliche monokulturelle Booms konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch nach der Unabhängigkeit die lateinamerikanischen Länder und Wirtschaften überwiegend außengerichtet, abhängig und hochgradig fragmentiert blieben. Die Institutionen waren schwach, und auch die Mechanismen und Praktiken des Klientelismus und caudillismo konnten sie nicht hinreichend ersetzen. Dasselbe gilt für die progressiven Eliten, die als potenzielle Träger für autonome Modernisierungsprozesse in Frage kamen: Die lokalen Bourgeoisien blieben durchweg abhängig, von der traditionellen Oligarchie, vom Ausland, und später vor allem vom Staat. Da sie diesen als Vehikel entwicklungsorientierter Modernisierung von oben und sozusagen als Krücke zur Sicherung ihrer eigenen ökonomischen und politischen Errungenschaften einzusetzen trachteten, mussten sie überwiegend auch mit dessen weniger progressiven bürokratischen und militärischen Eliten paktieren.19 Damit haben die seit der Kolonialzeit ohnehin dominanten Faktoren der Bürokratisierung im 19. und 20. Jahrhundert in Lateinamerika noch ein zusätzliches Übergewicht bekommen, das oft genug auch gegen die Intentionen von mehr Demokratisierung ausgespielt werden konnte. Immerhin haben die typische Ideologie der lokalen Bourgeoisien, ein neuer, progressiv getönter entwicklungsgerichteter antiimperialistischer und populistischer Nationalismus, und die entsprechenden Bewegungen und Regierungen im 20. Jahrhundert in zahlreichen Ländern dazu beigetragen, nicht nur die Infrastruktur zu verbessern, Bildung und Partizipation auszuweiten, sondern auch nationale Integration und nation building voranzutreiben, die allerdings überwiegend defensiv, begrenzt und im Prinzip eher exklusionär als inklusionär blieben. Auch die Margina 19 Vgl. M. Carmagnani, El otro Occidente. America Latina desde la invasión europea hasta la globalización, México 2004; Puhle, Unabhängigkeit.
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litätsraten blieben hoch, und es entstand nie ein andauernder hegemonialer progressiver consensus von ähnlicher Kraft und Dynamik wie in den USA.20
7. Atlantische Modernisierungen als Modell? Rund um den Atlantik haben wir es also, wenn wir unserer vereinfachten Makrotypologie folgen und Afrika einmal beiseite lassen (das nicht nur atlantisch war, und überdies hochgradig fragmentiert und südlich der Sahara lange Zeit im Rückstand mit dem state building), mit drei unterschiedlichen Typen mehr oder weniger modernisierter Gesellschaften zu tun: Erstens mit den entwickelten Gesellschaften Europas, dessen Länder zwar unterschiedliche Entwicklungsund Modernisierungswege beschritten haben, die aber alle die gemeinsame Erfahrung einer aus besonderen Konstellationen resultierenden kontinuierlichen und nachhaltigen Entwicklung in der Verschränkung von Prozessen der Bürokratisierung, der Industrialisierung und der Demokratisierung teilen. Zweitens haben wir Europas nordamerikanische Erweiterung, die sehr schnell autonom wurde und eine besondere Eigendynamik entwickelt hat, die zurückgeht auf eine Reihe besonderer Faktoren, die über jene des europäischen (hier: des britischen) Modells hinausgehen: insbesondere den prinzipiell von Anfang an demokratischen und föderalen Charakter der Gesellschaftsorganisation, Offenheit und Masseneinwanderung, und vor allem die unvergleichlich frühe Etablierung eines großen und expandierenden Markts. Und drittens finden wir Europas abhängigere, weniger entwickelte und oft auch weniger demokratische lateinamerikanische Erweiterung, im Grundsatz entlang der Linien iberischer Entwicklungskonstellationen, aber auch durchzogen von ›neuen‹ amerikanischen Zügen, und vor allem charakterisiert durch die Konstellationen und Folgen einer verspäteten und nur langsam vorankommenden Industrialisierung. Obwohl die hier behandelten drei Teile der Welt rund um den Atlantik in mancher Hinsicht als drei verschiedene Welten erscheinen, sind sie doch, wenn auch in unterschiedlichen Konstellationen und mit unterschiedlichen Ergebnissen, denselben Modernisierungsprinzipien gefolgt, die weiter oben als europäische Gemeinsamkeiten ausgewiesen worden sind. Dass diese atlantischen Gesellschaften trotz ihrer zahlreichen und großen Unterschiede doch auch ähnlich ›ticken‹, hat mit langen und kontinuierlichen Prozessen transatlantischen Austauschs, transatlantischer Kommunikation und Interaktion zu tun. Jahrhun20 Vgl. H. J. Puhle, Zwischen Diktatur und Demokratie. Stufen der politischen Entwicklung in Lateinamerika im 20. Jahrhundert, in: W. L. Bernecker u. a. (Hg.), Lateinamerika 1870–2000. Geschichte und Gesellschaft, Wien 2007, S. 15–33; ders., Zwischen Protest und Politikstil: Populismus, Neo-Populismus und Demokratie, in: N. Werz (Hg.), Populismus. Populisten in Übersee und Europa, Opladen 2003, S. 15–43, sowie den Beitrag zum Populismus in diesem Band.
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dertelang hat rund um den Atlantik Modernisierung im wesentlichen Europäisierung bedeutet, und vom 16. bis ins 19. Jahrhundert ist die Erweiterung und Proliferation europäischer Entwicklungswege und -muster in die Amerikas hinein die dominante Tendenz dieses Austauschs gewesen. Während des 20. Jahrhunderts, und besonders in dessen zweiter Hälfte, ist an deren Stelle eine zunehmende Verbreitung nordamerikanischer Entwicklungsmuster nach Europa und Lateinamerika getreten. Und es könnte sein, dass im 21. Jahrhundert, im Zeichen von als ›postmodern‹ etikettierter Ökonomie und Politik, von Deregulierung und Deinstitutionalisierung, von muddling through und ›lose verkoppelter Anarchie‹, aber auch von handfesten Migrationsprozessen, bereits auch zunehmend Tendenzen einer gewissen Lateinamerikanisierung von Nordamerika und Europa sichtbar werden. Bevor wir uns abschließend der Frage zuwenden, was sich denn aus diesen atlantischen Erfahrungen eventuell für den Rest der Welt lernen lässt, ist es angebracht, noch auf zwei Probleme und Prozesse hinzuweisen, die hier nicht vertieft behandelt werden können, aber doch wichtig und spannend sind und die Problematik weiter komplizieren: Erstens ist unsere relativ grobe Typen bildung ausgerichtet an nationalstaatlichen Entwicklungswegen. Dies ist sinnvoll, weil den Staaten in diesen Fällen eine Schlüsselrolle für Initiative und Intervention zukommt und Institutionen und politische Prozesse in der Regel staatsweite Geltung haben. Dabei dürfen jedoch die regionalen Varianten und die teilweise dramatischen Unterschiede, die dabei auftreten können, nicht vergessen werden. Es geht hier nicht nur um ökonomisches Entwicklungsgefälle, sondern unter Umständen auch um unterschiedliche Kulturen, Institutionen und Prioritäten. Stein Rokkan hat anhand der lange währenden Gesellschaftsund Staatsbildungsprozesse in Europa gezeigt, wie fruchtbar es sein kann, von den cleavages zwischen Zentrum und Peripherie auszugehen und sukzessiv die Entwicklung rund um unterschiedliche ›Achsen‹ immer wieder neu zu analysieren. Auch in den beiden Amerikas und in Afrika hat es seit ihrer Kolonisierung einen zentralen cleavage gegeben, nämlich den zwischen den dichter besiedelten, entwickelteren und sozial und politisch früher institutionalisierten atlantischen Küstenregionen und dem jeweiligen Hinterland, der frontier, oder, in Lateinamerika, dem interior. In den heterogeneren europäischen Staaten einer gewissen Größe (nicht so sehr in Portugal) sind es die näher am Atlantik gelegenen Regionen gewesen, die, mit nur wenigen Ausnahmen, im 18. und 19. Jahrhundert größeren Widerstand gegenüber dem state und nation building ›von oben‹ an den Tag gelegt haben, das im wesentlichen von weniger atlan tischen und mehr kontinentalen ›Zentren‹ vorangetrieben wurde. Demgegenüber sind in beiden Amerikas, Nord wie Süd, die Zentren der gesellschaftlichen Organisation und der kolonialen und postkolonialen Staatsbildung (auch ›von unten‹) in der Regel die entwickelteren atlantischen Provinzen gewesen, die meist das interior kolonisiert haben und sich später oft gegen dessen aufstrebende konservativere Interessen wehren mussten. Trotz der Unterschiede, vor allem an Macht und Einfluss, scheint in beiden Fällen, in Europa 307
und den Amerikas, die Orientierung zum Atlantik hin liberalere, individualistischere, kapitalistischere Muster, Werthaltungen und Organisationsprinzipien befördert zu haben als die Orientierung hin zum Hinterland oder ins interior. Auch für die afrikanischen Fälle könnte man fragen, ob und wie sehr die sich entwickelnden Sozialstrukturen und Machtbeziehungen geprägt worden sind von den Fraktionierungen zwischen den Eliten der Küste und des Hinterlands, die unter anderem auch ein Produkt des Sklavenhandels waren.21 In einer hinreichend breiten vergleichenden empirischen Analyse ließe sich auch systematischer der Frage nachgehen, ob und inwieweit es, über das hier postulierte ›atlantische Syndrom‹ hinaus, vom späten 17. Jahrhundert an wenigstens zeitweise so etwas wie ein ›atlantisches System‹ gegeben hat, mit einer eigenen Logik und einem eigenen Beziehungsgeflecht, abgekoppelt von den europäischen Z entren.22 Ähnliche Fragen ließen sich auch für die Beziehungs- und Kommunikationsräume des Indischen Ozeans und des Pazifik stellen. Für das kleinere Mittelmeer gibt es bekanntlich schon seit langem substanziellere Antworten. Zweitens wäre es ratsam, sorgfältiger zu differenzieren zwischen den Errungenschaften und den Kosten des (meistens ungleichen) Austauschs im atlan tischen Raum. Auf der einen Seite hat der transatlantische Austausch viel beigetragen zur Entwicklung des modernen Industriekapitalismus, seiner Voraussetzungen und Technologien, zur Entstehung von Nationalstaaten und parlamentarischer Demokratie, zur Anerkennung bürgerlicher Freiheiten und Bürgerrechten, zur Erkenntnis des Werts von Toleranz, kulturellem Pluralismus und Kulturmischung (mestizaje), sowie auch zu tieferen philosophischen und literarischen Einsichten in die condition humaine. Zum anderen hat es hohe Transaktionskosten gegeben, die insbesondere aus der Gewaltsamkeit der ›Begegnung‹, der Kanalisierung ihrer Folgen und der strukturellen Ungleichheit und Ungleichgewichtigkeit des Austauschs resultierten, aber auch aus den vielen Fiktionen, Stereotypen und Vorurteilen, die sich die im atlantischen Raum aufeinander treffenden Menschengruppen voneinander machten und die die Kommunikation und Interaktion oft genug mehr beeinflusst haben als die sogenannten ›Fakten‹. Wir können aber auch noch etwas aus den Interaktionen im atlantischen Raum lernen, das, mit entsprechenden Modifikationen, auch für die Analyse anderer Teile der Welt anregend sein kann: Ein zentrales Element der Öffnung des atlantischen Raums nach Westen vor rund einem halben Jahrtausend war das Element der Mobilität. Der Raum konnte erweitert werden, zur frontier hin oder ins interior, die Welt war offen und imstande, die überschiessenden europäischen Energien zu absorbieren. Bekanntlich konnten noch im 20. Jahrhundert hyperaktive junge Männer aus den ›Zentren‹ in die Kolonien geschickt werden. Mobilität, Offenheit und die Situation einer institutionellen tabula rasa (jedenfalls nach der Vertreibung, Ausrottung oder Unterwerfung der autoch21 Vgl. H. S. Klein, The Atlantic Slave Trade, Cambridge 1999. 22 Vgl. die Debatten in Bailyn u. Pietschmann (Anm. 7).
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thonen Bevölkerung) sowie die Lage an der Peripherie implizierten, dass die Regeln und Normen nicht dieselben waren wie zu Hause, dass es ein größeres Potential für Freiheit und Gestaltung gab, für mehr Flexibilität und Improvisation, dass die institutionellen Grenzziehungen fluider waren und zumindest auch eine größere Chance bestand für Innovation und institutionelle Phantasie. Das Interessante ist jedoch, dass dieses vorhandene Potential im ganzen nur innerhalb bestimmter Beschränkungen und Grenzen genutzt wurde. Es wurde einerseits genutzt im Rahmen der lokalen und regionalen opportunity structures (die auch von den Europäern, d. h. jeweils konkreten Europäern, mit definiert wurden), in diesem Falle in Nordamerika ›besser‹ als in Lateinamerika. Zum anderen wurden die Grenzlinien und ›confining conditions‹23 auch bestimmt durch die Faktorenkombinationen und Beschränkungen der unterschiedlichen nationalen Entwicklungswege der Europäer, obwohl diese alle Varianten desselben Syndroms der westlichen Modernisierung waren. In ähnlicher Weise wie für die Amerikas gelten diese Mechanismen auch für andere Regionen der Welt, vor allem jene, deren Entwicklungskonstellationen und institutionelle Strukturen die Europäer überwiegend oktroyieren konnten, z. B. Australien und Neuseeland sowie große Bereiche Afrikas südlich der Sahara. Sie gelten weitgehend auch für die Prozesse der Eroberung und Kolonisierung Sibiriens durch das zumindest in zwei von drei Dimensionen (Bürokra tisierung und Industrialisierung) ›europäischer‹ gewordene Russland, später die Sowjetunion. In anderen Teilen der Welt ist die Wirkung der atlantischen Modelle des Westens noch vermittelter gewesen. Dies betrifft vor allem jene Regionen, in denen keine institutionelle tabula rasa bestand oder hergestellt werden konnte und einzelne Gesellschaften auf bedeutende eigenständige Traditionen wissenschaftlich-technischer und ökonomischer Leistungsfähigkeit, kultureller Kreativität sowie gesellschaftlicher und politischer Organisation (bis hin zu Großimperien) zurückblicken konnten, also besonders Ost- und Südasien und den arabischen und osmanisch beherrschten Raum.24 Auch diese Gesellschaften mussten sich unter dem Druck der technologisch, ökonomisch und militärisch übermächtigen imperialistischen Mächte rund um den Nordatlantik spätestens seit dem 19. Jahrhundert für europäische Modernisierungsmuster öffnen. Ihre Eliten konnten aber im ganzen den Prozess der Adaptation westlicher Modelle stärker selbst mitbestimmen. Dies bezieht sich auf das Tempo und auf sektorale Prioritäten ebenso wie auf die Möglichkeiten eklektischer Auswahl und vielfältiger Mischungen. Dabei scheint der Grad der Selektivität und der Orientierung an den eigenen Bedürfnissen mit der Zeit noch 23 Zu ›confining conditions‹ als Analysekategorie vgl. O. Kirchheimer, Confining Condit ions and Revolutionary Breakthroughs, in: American Political Science Review, Jg. 59, 1965, S. 964–974. 24 Die Wirtschaften Ostasiens waren z. B. noch bis ins 18. Jahrhundert hinein nicht weniger leistungsfähig als die Europas, eine Konstellation, die im 21. Jahrhundert wiederzukehren scheint.
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kontinuierlich zugenommen zu haben, wie sich etwa an den gegenwärtigen Prozessen und politischen Entscheidungen zur Reform sozialer Sicherungssysteme überall in der Welt unschwer zeigen liesse: Die westlichen Modelle werden dabei zu Materialsteinbrüchen, aus denen man sich nach Bedarf bedienen kann; gleichzeitig entstehen durch Experimente und weitere Mischungen neue Muster und Modelle, die ihrerseits auch in den Ländern des ›Westens‹ diskutiert werden.25 Die gesellschaftlichen und politischen Akteure der nichtwestlichen Welt konnten, wenn sie mit dem Westen mithalten oder ›aufholen‹ wollten, im Prinzip schon immer auf verschiedene Varianten westlicher, atlantischer Modernisierungsmuster zugreifen, deren Faktoren neu ordnen und mit eigenen Elementen mischen. Unter den Bedingungen einer globalisierten Informationsgesellschaft, die simultane Kommunikation, Organisation und Entscheidungen in weltweiten Elitennetzwerken erlaubt,26 können sie es noch viel mehr, auf breiterer Basis, und sozusagen im Alltag. Dabei scheint sich einerseits der Einfluss des atlantischen Syndroms und der europäisch inspirierten ›westlichen‹ Entwicklungsmuster, die rund zwei Jahrhunderte hindurch dominant gewesen sind, stärker zu relativieren. Auf der anderen Seite haben Europa und der ›Westen‹ (einschließlich Australiens, Neuseelands und Japans), bei allen Problemen, die sie in dieser Hinsicht selbst auch haben, insgesamt immer noch einen deutlichen Vorsprung vor dem Rest der Welt in den Bereichen Menschen- und Bürgerrechte, Demokratie, Rechts- und Sozialstaat, kulturelle Toleranz und Minderheitenschutz, also bei jenen Faktoren, die ein selbstbestimmtes und gewaltarmes menschliches Zusammenleben erst möglich machen (und die in unserer Typologie überwiegend dem Bündel der ›Demokratisierung‹ zugerechnet wurden). Auch dies scheint mir, von weiteren ökonomischen und ökologischen Entwicklungsdifferentialen einmal ganz abgesehen, ein gewichtiges Argument für die Annahme zu sein, dass es womöglich doch noch sehr verfrüht wäre, von einer definitiven »Provinzialisierung Europas« auszugehen.27 25 Dazu ausführlicher H. J. Puhle, Welfare State Proliferation: Models, Mixes, and Transcontinental Learning Processes, Paper presented at the 20th International Congress of Historical Sciences Sydney, 3–9 July 2005, CD Proceedings [jetzt in: Die ›Konstruktion‹ neuer Sozialstaaten in der Auseinandersetzung mit alten Modellen: ›Pfadabhängigkeiten‹, Entscheidungen und Lernprozesse, in: U. Becker u. a. (Hg.), Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Bonn 2010, S. 197–212, sowie im letzten Beitrag dieses Bandes; hinzugefügt 2015]. 26 John Keanes ›Global Civil Society‹ ist im Kern nichts anderes als ein transnationales Elitennetzwerk. Vgl. J. Keane, Global Civil Society?, Cambridge 2003. 27 D. Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000. Zum Kontext vgl. u. a. auch die Ergebnisse des Bertelsmann Transformation Index: Bertelsmann Stiftung (Hg.), Bertelsmann Transformation Index 2006. Auf dem Weg zur marktwirtschaftlichen Demokratie, Gütersloh 2005. – Dieses Argument ist inzwischen weiterentwickelt und differenziert worden in: H. J. Puhle, Zwischen Eurozentrismus, Universalismus und Provinz. Das atlantische Europa in Krise und Globalisierung, in: T. Ertl u. a. (Hg.), Europa als Weltregion. Zentrum, Modell oder Provinz?, Wien 2014, S. 51–65 [hinzugefügt 2015].
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Unabhängigkeit, Staatenbildung und gesellschaftliche Entwicklung in Nord- und Südamerika*
Es sollen einige zentrale Aspekte und Eckdaten der Entwicklungswege Nordamerikas und Lateinamerikas im 19. und im 20. Jahrhundert zusammengefasst und – wenigstens in Ansätzen – miteinander verglichen werden. Ein sinnvoller und strukturierter Vergleich bedarf einer Reihe von Leitfragen, die es erlauben, für bestimmte wichtige Sektoren die entscheidenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten, und die vor allem verhindern sollen, dass wir die wesentlichen, gewissermaßen ›gestalt‹haften Kontraste unter der Fülle der Einzelinformationen und Daten nicht mehr finden. Sie sollen helfen, unser Erkenntnisinteresse zu konzentrieren und zu bündeln. Dass ein Überblick über mehr als zwanzig verschiedene Länder und einen ganzen Kontinent in zwei Jahrhunderten ohne verkürzte Vereinfachungen und die Bildung von Realtypen nicht auskommen kann, versteht sich von selbst.1 Die Leitfragen beziehen sich erstens auf Probleme der Staatsbildung und Staatlichkeit einschließlich des Charakters der Nationalstaaten, des Verhältnisses von state building und nation building, der jeweiligen Nationalismen und ihrer Funktionen sowie der Probleme von Minderheiten; und zweitens auf die Grundlinien der unterschiedlichen Modernisierungswege Nordamerikas und Lateinamerikas einschließlich ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen, ihrer Träger, Entwicklungsstufen, Organisationsformen und Inhalte. Hier werden auch Fragen nach den Freiheitsräumen von einzelnen und Gruppen, vor allem gegenüber dem Staat, und nach Fortschritten im Bereich der sozialen Sicherung zu stellen sein, um auch wichtigen inhaltlichen Kriterien von ›Entwicklung‹ (oder ›Fortschritt‹) gerecht zu werden. Wie in jedem Vergleich wird es auch hier eine Menge Unterschiede und eine Reihe von Gemeinsamkeiten geben, und wie jeder Vergleich wird auch dieser helfen können, die Konturen der Einzelfälle klarer zu erkennen. Die ›ame* Zuerst erschienen in: D. Junker u. a. (Hg.), Lateinamerika am Ende des 20. Jahrhunderts, München 1994, S. 27–48. 1 Die Vortragsform wurde weitgehend beibehalten, auf Belege und Anmerkungen überwiegend verzichtet. Zur gesellschaftlichen Entwicklung ausführlicher: H. J. Puhle, Soziale Schichtung und Klassenbildung in den USA und Lateinamerika, in: W. Reinhard u. P. Waldmann (Hg.), Nord und Süd in Amerika, Freiburg 1992, Bd. 1, S. 364–382. Da einige Ergebnisse auch in dem voraufgehenden Beitrag über das Atlantische Syndrom eine Rolle spielen, wurden die entsprechenden Passagen in der Folge gekürzt.
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rikanischen‹ Gemeinsamkeiten rühren dabei wesentlich daher, dass die Gesellschaften auf beiden Subkontinenten von Europa aus kolonisiert worden sind, dass sie (außer Kanada und Brasilien) einen erfolgreichen antikolonialen Befreiungskampf geführt haben, dass sie wesentlich Einwanderergesellschaften sind, und dass ihre Staaten jeweils vor den (neueren) Nationen da waren und nicht das Bürgertum einer vorhandenen Gesellschaft sich zur Nation gemacht hat. Die Unterschiede resultieren dagegen vor allem aus den unterschiedlichen Formen der Kolonisierung und Kolonialherrschaft durch sehr verschiedene Kolonialmächte zu verschiedenen Zeiten sowie aus den z. T. daraus sich ergebenden unterschiedlichen Ausgangskonstellationen der Entwicklung in die ›moderne Welt‹, vor allem im 19. und 20. Jahrhundert.
1. Rahmenbedingungen und große Linien Wie verschieden diese Konstellationen sind, wird schon deutlich an den gröbsten Daten der Rahmenbedingungen und großen Linien: In der Kolonialzeit steht zunächst die Ausbeutungskolonie im Süden der Siedlungskolonie im Norden gegenüber, die conquista unter katholischem Vorzeichen im 16. Jahrhundert der allmählich sich vorschiebenden frontier unter protestantischem Vorzeichen seit dem 17. Jahrhundert. Im Süden wurden die Indianer, die – jedenfalls in den Zentren – in politisch hochorganisierten Kulturen lebten, unterworfen und als Arbeiter genutzt, wobei sich regional sehr unterschiedliche Arbeitsverfassungen herausbildeten. Im Norden wurden die Indianer, die in weniger organisierten Stammeskulturen lebten und deren Zahl wesentlich geringer war als im Süden (selbst wenn sie, worauf einiges hindeutet, höher gewesen ist, als bisher angenommen wurde), allmählich ausgerottet. Die lateinamerikanische Kolonialgesellschaft bildete sich als Überlagerungs- und Mischgesellschaft heraus, unter absolutistischer, etatistischer Administration mit vormodernen, ständisch-korporativen Charakteristika. In Nordamerika entstand im ganzen eine ›neue‹ Gesellschaft mit überwiegend britischem Hintergrund, zunächst charakterisiert durch wenig Staat und viel Religion, stärker europäisch geprägt und nicht durch die Vermischung mit der autochthonen Bevölkerung; es gab wenig quasi-feudale Relikte, und der Übergang in den Kapitalismus erfolgte schnell. Im Staatsbildungsprozess des 19. Jahrhunderts dominieren in Lateinamerika Abgrenzung und provinzielle Fraktionierung, in Nordamerika der föderale Zusammenschluss. Die Staaten im Süden blieben verglichen mit denen im Norden relativ klein. Dies hatte Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung und für die Einwanderungen im 19. Jahrhundert. In Lateinamerika existierten die jeweiligen staatlichen oder regionalen Gesellschaften schon, als im 19. Jahrhundert die neuen europäischen Einwanderer (als zukünftige Minderheiten) kamen, in Nordamerika wirkten diese Einwanderer entscheidend am Bau der neuen Ge312
sellschaft mit. Die Einwanderung im Süden hatte selbst in den größeren lateinamerikanischen Ländern (Argentinien, Brasilien, Chile) andere, geringere Dimensionen als im Norden; die Einwanderer mochten in bestimmten Regionen wirtschaftlich und sozial schnell aufsteigen und sogar dominieren, blieben aber insgesamt von der politischen Herrschaft sehr lange ausgeschlossen. Im Norden veränderte sich die Gesellschaft insgesamt im Zuge der Einwanderung wesentlich schneller. Die Industrialisierung fand in Lateinamerika spät und im Wesentlichen in Enklaven statt. Sie erfolgte in Abhängigkeit von den beherrschenden Mechanismen des europäischen und nordamerikanischen Imperialismus und veränderte diese Abhängigkeit über die Zeit nur wenig. Lateinamerika entwickelte sich so zum Teil der ›Dritten Welt‹. Die nordamerikanische Industrialisierung erfolgte relativ früh, autonom und hatte europäische Dimensionen. Ihr ging voraus und sie wurde noch weithin begleitet durch einen umfassenden Prozess der Modernisierung der kapitalistischen Agrarwirtschaft, die gemeinsam mit der sich ausdehnenden Industrie beitrug zum Prozess imperialer Expansion Nordamerikas (insbesondere der USA) als Teil der ›Ersten Welt‹. Diese Prozesse sollen hier gewissermaßen integriert beschrieben und zusammengefasst werden. Dabei beschränken wir uns zunächst wesentlich auf die Vereinigen Staaten im Norden, deren Unabhängigkeitskampf 1773 begann und deren neues staatliches Gehäuse institutionell 1787 mit der Verfassung fürs erste vollendet war, territorial erst später vollendet wurde, und im Süden auf die hispanoamerikanischen Kolonien, deren Befreiungskämpfe um 1810 begannen und deren neue Staaten Mitte der 1820er Jahre halbwegs konsolidiert waren. In der Folge entwickelten sich beide Territorien in unterschiedliche Richtungen. Diese Unterschiede in den grundlegenden Konstellationen haben sich entscheidend ausgewirkt auf die Prozesse der Staatsbildung, der gesellschaftlichen Entwicklung und auf die Modernisierungsstrategien in den beiden Teilen Amerikas.
2. Lateinamerika In Lateinamerika überwiegt die Fraktionierung. Selbst der ältere Nationalismus des 19. Jahrhunderts, der als Instrument zwecks nation building eingesetzt wurde, hatte keine europäischen Dimensionen. Wir haben es zunächst mit regionalen Traditionen zu tun: Zum Zeitpunkt der Dekolonisation der meisten spanischsprachigen Länder im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts gab es in Lateinamerika weder in einem subjektiven noch in einem objektiven Sinn Nationen. Die burguesia emancipadora, die Elite und wichtigste Trägerschicht der Befreiungsbewegungen, vertrat antikoloniale, provinzielle und lokale, aber keine nationalen Interessen, der Befreiungskampf war kein nationaler Befreiungskampf. Den neuen Staaten haftete lange Zeit der Charakter des Artifiziellen und 313
Provisorischen an; vor allem blieben sie ökonomisch und politisch abhängig von den entwickelteren Großmächten, zunächst Europas, im 20. Jahrhundert, in Mexico schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts von den USA. Die Tradition des caudillismo fraktionierte und personalisierte zudem die Politik. Die meisten der größeren Konflikte und Kriege zwischen den einzelnen Ländern im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind entweder provinzielle Rivalitäten gewesen oder von außen induzierte Stellvertreterkriege, die allerdings oft, gerade um die Unterentwicklung von Nationalität, Nationalbewusstsein, Nationalismus und Autonomie zu kompensieren, martialisch mit Elementen aufgeladen worden sind, die aus der Blüte des europäischen Chauvinismus entlehnt wurden, am stärksten wohl in Bolivien, Paraguay und Chile. Auch so konnte – wie auch durch die Tatsache des längeren Bestehens der Staaten und ihrer Institutionen und die Herausbildung eigener Parteiensysteme und Traditionen – allmählich vermehrt nationale Identität gestiftet werden, in der die subjektiven, staatsnationalen Komponenten überwogen. Ein neuer, prononciert antiimperialistischer Nationalismus tritt im ersten Jahrzehnt der mexikanischen Revolution nach 1910, und dann vermehrt in den 1920er Jahren auch in anderen, größeren, entwickelteren, stärker urbanisierten und ansatzweise industrialisierenden Ländern in Erscheinung, vor allem in Mexico, Argentinien, Brasilien und Chile. Dieser neue Nationalismus wandte sich vor allem gegen die Europäisierung des Geisteslebens. Er formierte sich als neue Ideologie der lokalen Bourgeoisien (wie auch immer die im einzelnen aussahen): Aber gerade die Bourgeoisie, also das Wirtschaftsbürgertum, und die mit ihm eng verbundenen anderen bürgerlichen strata der Städte (u. a. Beamte, ›profesionales‹, am Anfang noch ältere Stadtbürger und Handwerker, trotz ihres generellen Niedergangs in Lateinamerika), die bürgerlichen Schichten insgesamt also waren und sind in Lateinamerika relativ schwach, nur selten autonom, und wenn, dann nur in Teilen. Sie sind abhängig erstens von der vorbürgerlichen Oligarchie, zweitens vom Ausland und drittens, und zunehmend im 20. Jahrhundert, vor allem vom Staat.2 Diese Entwicklung begann schon in der Kolonialzeit mit der charakteristischen Mischung ethnischer, ständisch-politischer und ökonomischer, marktbezogener Kriteriensysteme für die soziale und politische Statuszuschreibung. Die Gesellschaft oligarchisierte sich zunehmend seit dem 18. Jahrhundert, aber der Übergang zur Klassengesellschaft verzögerte sich bis ins 20. Jahrhundert, vor allem aufgrund der Traditionen bürokratischer Lenkung, der Stärke der Oligarchien und der kontinuierlichen Außenorientierung der lateinamerikanischen Länder, eines Mechanismus, der dem alten Kolonialismus wie dem modernen Imperialismus der großen Industrieländer gemeinsam war. Die Modernisierung im 19. Jahrhundert begann in der Regel auf Initiative und im Interesse 2 Dazu und zum Folgenden ausführlicher H. J. Puhle, Lateinamerika: Probleme des Übergangs von der Agrarwirtschaft zum Industriestaat, in: K. Krakau (Hg.), Lateinamerika und Nordamerika, Frankfurt 1992, S. 116–128.
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des Auslands. Sie blieb im ganzen einseitig und selektiv. Dasselbe gilt für die Anfänge der Industrialisierung in einigen Ländern nach 1890 und auch für deren weiteren Ausbau im 20. Jahrhundert, in den bekannten Schüben der Importsubstitution in den 1920er und 30er Jahren und seit den 50er Jahren, deren Multiplikatoreffekte gering geblieben sind. Die lokalen Bourgeoisien blieben in diesem Prozess relativ schwach, vor allem ökonomisch. Durch gezielte Strategien der politischen Mobilisierung der unterbürgerlichen Mittelschichten, in manchen Fällen zeitweise auch der Unterschichten, waren sie aber in den größeren und entwickelteren Ländern imstande, die fraktionierten Oligarchien aus der Macht zu drängen, zunächst nach 1910 in Mexico und ab 1918 in Chile, in den 20er Jahren auch in Argentinien. Da die eigenen ökonomischen und sozialen Kräfte der lokalen Bourgeoisien aber allein nicht ausgereicht hätten, ihnen die Macht auch zu sichern, entwickelten sie eine Strategie des Machterhalts, die wesentlich gekennzeichnet ist durch eine neue enge Symbiose zwischen Bourgeoisie und Staat. Dabei wird die Staatsmacht zur Sicherung der neuen Errungenschaften der lokalen Wirtschaftsbürger eingesetzt, schreibt wichtige Positionen fest und entzieht sie dem Einfluss des Markts. Die nachrevolutionäre Bourgeoisie in Mexico, die u. a. aufgrund der Pressionen der Unterschichten und des Auslands an die Macht gekommen war, wurde zu einem großen Teil eine Art »Bourgeoisie des Staates« (Marx), ihr status war, wenn man so will, in vorkapitalistischer oder nachkapitalistischer Weise, jedenfalls nicht mehr marktabhängig definiert. Das hinderte ihre Vertreter bis heute nicht, aus dieser privilegierten Position heraus lukrative Geschäfte zu machen. Das erste, geradezu idealtypische Beispiel dafür war der mexikanische Präsident Álvaro Obregón. Dass die Mittel der Staatsmacht gewissermaßen als Krücke für eine sonst noch zu schwache lokale Bourgeoisie eingesetzt werden – ein typisches Phänomen bei den latecomers im Modernisierungsprozess – findet sich in Lateinamerika aber nicht nur in nachrevolutionären Situationen, wie in Mexico, in Bolivien nach 1952 oder in der ersten Phase der kubanischen Revolution. Die meisten Fälle sind die ohne voraufgehende Revolution.3 Das Wesen radikaler oder später populistischer Reformpolitik in zahlreichen Ländern seit 1920 ist gerade der Einsatz des staatlichen Interventionismus zum Auffangen der Folgen von ökonomischen Konjunkturschwankungen, zwecks Industrie- und Exportförderung, Infrastrukturausbau, Erziehung, Sozialpolitik und Agrarreformen, also Entwicklungspolitik in einem weiten Sinne gewesen. Zur Absicherung dieser Politik musste das lokale Bürgertum nicht nur in den städtischen Mittelschichten und später auf dem Land um Wählerstimmen werben, sondern vor allem auch Allianzen mit der staatlichen Bürokratie eingehen, oft auch mit deren militärischem Flügel. In manchen Ländern, wie z. B. in Brasilien, hat diese Allianz lange Zeit deutlich korporativistische Züge gehabt und dem Typ 3 Vgl. auch H. J. Puhle, ›Revolution‹ von oben und Revolution von unten in Lateinamerika, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 2, 1976, S. 143–159.
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›konservativer Modernisierung‹ à la Barrington Moore entsprochen.4 Von den drei Grundströmungen westlicher Modernisierungsprozesse hat dabei die in Lateinamerika ohnehin schon seit der Kolonialzeit dominant vorgeprägte Bürokratisierung noch zusätzlich an Gewicht gewonnen. Die typische Ideologie der lokalen Bourgeoisien in diesem Prozess war der neue antiimperialistische Nationalismus mit den weiter oben skizzierten Mechanismen. Die Notwendigkeit politischer Mobilisierung, zunächst innerhalb der Stadtbevölkerung, und dann zunehmend auch deren Ausweitung von den Städten aufs Land erforderten eine Abkehr von der traditionellen Europa zentriertheit des kulturellen Lebens. Gleichzeitig legte der Wunsch nach Durchsetzung der Interessen des lokalen Wirtschaftsbürgertums gegenüber denen der international orientierten Oligarchie auch politisch eine Absage ans Ausland nahe und die Besinnung auf die eigenen lateinamerikanischen und regionalen Traditionen. Wir finden dies zuerst bei Alberdi in Argentinien, bei José Martí in Cuba, bei den Intellektuellen der mexikanischen Revolution und in den 1920er Jahren im peruanischen ›indigenismo‹ Mariáteguis und Haya de la Torres. Politisch erfolgreich war diese neue Bewegung zuerst in Mexico. Dass Mexico den Anfang macht, ist nicht verwunderlich: Das Land war ökonomisch im Vergleich relativ weit und differenziert entwickelt, es war nach verlustreichen Kämpfen gegen die USA und die Franzosen durch die (eben nicht nationalistische) Modernisierungsdiktatur von Porfirio Díaz zunehmend in Abhängigkeit von Europa und von dem so nahen nördlichen Nachbarn geraten, und die Massen waren leicht mobilisierbar. Mexico war bereits zu Anfang des 19. Jahrhunderts das einzige Land Lateinamerikas gewesen, in dem sich breite Volksmassen an der Befreiungsbewegung beteiligt hatten. Die Revolution nach 1910 wurde eine soziale Revolution, deren rivalisierende Fraktionen von Carranza, dem Führer der Konstitutionalisten, nur gegeneinander balanciert und ausgespielt werden konnten, indem er eine relativ konservative Innen- und Sozialpolitik und die Förderung des Wirtschaftswachstums verband mit radikaler sozialrevolutionärer Propaganda und antiimperialistischer, nationalistischer Rhetorik und Politik.5 Carranza wurde so zum Erfinder der politischen Strategie des späteren PRI, der nachrevolutionären mexikanischen Staatspartei. Immerhin hat er Mexicos formelle Unabhängigkeit und Selbständigkeit während der revolutionären Wirren bewahren können. Die sozialen Reformen, die dabei zu kurz gekommen waren, wurden teilweise in den 1920er und unter Cárdenas in der zweiten Hälfte der 30er Jahre nachgeholt, andere wieder rückgängig gemacht. Der neue Nationalismus auf der Basis einer ›mestizischen‹ Identität aber blieb.
4 B. Moore, Jr., Social Origins of Dictatorship and Democracy. Lord and Peasant in the Making of the Modern World, Boston 1966. 5 Vgl. F. Katz, The Secret War in Mexico: Europe, the United States and the Mexican Revolution, Chicago 1981.
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In den größeren Ländern Südamerikas, vor allen in Argentinien und Chile, aber auch in Brasilien, wurde die neue nationalistische Politik in den 1920er Jahren von den ›radikalen‹ Parteien, also den Linksliberalen, begonnen und in der Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise nach 1929 noch intensiviert. Diese Gruppen der lokalen Bourgeoisie, die Radikalen der ersten Stufe, strebten ausdrücklich nach einer Verringerung der Auslandsabhängigkeit und suchten sie durch staatsinterventionistische entwicklungspolitische Strategien der Förderung importsubstituierender Industrie und durch Reformen im Erziehungssektor zu realisieren. Mehr noch als die Radikalen warben die Exponenten der auf sie in einer zweiten Stufe folgenden und an sie anknüpfenden Bewegungen, die populistischen Nationalrevolutionäre oder Reformer auch um die Unterschichten. Sie mobilisierten vermehrt Arbeiter, kleine Angestellte, Bauern und Marginalexistenzen und propagierten in der Regel – nicht immer – eine durchgreifende Agrarreform. Darüber hinaus befürworteten sie durchweg die Bildung landwirtschaftlicher Genossenschaften, eine arbeiter- und unterschichtenfreundliche Sozialpolitik, den Ausbau der importsubstituierenden heimischen Industrie und einer ›mixed economy‹, gelegentlich auch die Nationalisierung der Banken. Ihre Bewegungen waren – mit wichtigen Ausnahmen – überwiegend in den Massen der städtischen Bevölkerung verankert, denen sie neue Partizipationschancen und -kanäle anboten. Sie mobilisierten primär für die Wahlurne und haben entscheidend zur Ausweitung des Wahlrechts beigetragen. Die Bewegungen waren höchst verschieden in Bezug auf ihre soziale Basis, ihre Mobilisierungskanäle und ihre politischen Interaktions- und Herrschaftstechniken. Wenn man die Feinheiten weglässt, kann man grob vier Gruppen unterscheiden: Erstens die in der Regel alle Produktions- und Gesellschaftssektoren umfassenden Systeme zum Zwecke nachrevolutionärer Stabilisierung. Hierher gehören der PRI, die mexikanische Staatspartei der ›institutionellen Revolution‹, und das bolivianische MNR nach 1952, aber auch die frühe Castro-Bewegung in Cuba, bevor sie nach 1960 leninistisch wurde, und wesentlich auch die sandinistische Bewegung in Nicaragua. Zweitens sind die erfolgreichen autoritären populistischen Entwicklungsdiktaturen zu nennen, die gelegentlich in die Nähe des Faschismus gerückt werden, aber nicht faschistisch waren: der argentinische Peronismus und das Vargas-Regime in Brasilien. Beide stützten sich primär auf die städtische Arbeiterschaft; ihre wichtigsten Zubringer- und Mobilisierungsorganisationen waren die Gewerkschaften, ihre Legitimationshilfe wesentlich Verteilungspolitik. Drittens gibt es eine Gruppe älterer demokratischer Reformparteien, die sich oft auch sozialdemokratisch genannt und eine breite Tradition nicht-autoritärer Entwicklungspolitik mit populistischer Absicherung etabliert haben. Zu nennen sind hier vor allem die APRA in Peru, Acción Democrática in Venezuela, der Partido Liberación Nacional in Costa Rica und der Partido Revolucionario in der Dominikanischen Republik. Ansätze gab es auch bei den Linksliberalen 317
in Kolumbien, etwa in der Fraktion von López Michelsen. In der Regel haben sich diese Formationen auf Arbeiter, Angestellte und Bauern in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen gestützt. Auch die Studenten spielten eine wichtige Rolle. Eine ganz ähnliche Politik haben die jüngeren Gruppen eines vierten Typs verfolgt, die Christdemokraten, vor allem in Chile, Venezuela und einigen Ländern Zentralamerikas, besonders in El Salvador; auch die AP des Präsidenten Belaúnde in Peru stand ihnen nahe. Diese Parteien unterscheiden sich von den älteren ›klassischen‹ Populistengruppen insbesondere dadurch, dass sie in größerem Umfang und mit einigem Erfolg auch die arbeitslose städtische Marginalbevölkerung angesprochen und zu mobilisieren versucht haben. Auch sie waren nationalistisch und antiimperialistisch. Dieser nationalrevolutionäre, antiimperialistische Populismus stellt eine schon fortgeschrittene Modernisierungsstrategie dar, die weitgehend an die der Radikalen anschließt und auf deren Vorarbeiten aufbaut. Die entsprechenden Bewegungen sind zentral und bedeutend gewesen aufgrund der notorischen Schwäche weitergehender, etwa sozialistischer Reformbewegungen. Die populistischen, nationalrevolutionären Bewegungen und Regimes hatten ihre große Zeit insbesondere in den Jahren zwischen 1930 und 1965. Danach sind sie oft abgelöst worden von bürokratisch-autoritären Regimes, (oft brutalen und terro ristischen) Militärregimes mit umfassenden Zielsetzungen gesellschaftlicher Kontrolle und Modernisierung. Die Populistenbewegungen sind aber in der Phase der Redemokratisierung nach diesen Regimes in den 1980er Jahren oft wieder sehr wichtig geworden, weil sie vielfach die einzigen nicht-autoritären Alternativen waren. Im Ganzen hat sich dieser antiimperialistische, populistische Nationalismus in Lateinamerika im 20. Jahrhundert als das insgesamt wohl wichtigste (und oft auch das einzige) Vehikel für gerichtete Entwicklungspolitik erwiesen, überwiegend progressiv und nützlich. Er hat aber auch deutliche Grenzen aufgewiesen, die eng mit seiner Qualität als Nationalismus und mit der Staatszentriertheit zusammenhängen: Einmal kann er, da er Interessenlagen im Innern verschleiert, ins Konservative umkippen, nicht erst unter den neueren bürokratisch-autoritären Militärregimes seit den 1960er und 70er Jahren; zum anderen behindert er die übernationale Solidarität der Lateinamerikaner untereinander und schwächt damit ihre Position in der Auseinandersetzung mit der entwickelteren Welt. Darüber hat sich schon Simon Bolívar beklagt, und heute hört man dieselbe Klage sowohl von den Technokraten der Interamerikanischen Entwicklungsbank als auch von Fidel Castro.
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3. Nordamerika Der zentrale nordamerikanische Fall ist der der Vereinigten Staaten. Auf bestimmte grundlegende Ausgangskonstellationen ist bereits am Anfang hingewiesen worden. Zu ihnen gehört, wie auch schon im vorhergehenden Beitrag betont worden ist, vor allem die von Anfang an kapitalistische Wirtschaftsform ohne nennenswerte vorkapitalistische Relikte und die Abwesenheit ständischer und absolutistischer, obrigkeitlicher und bürokratischer Züge. Diese Realität spiegelte sich in der britischen Tradition besitzindividualistischer Ideologie, in einem grundlegenden, auch religiös abgesicherten breiten consensus über die zentrale Bedeutung von ›private property‹ und von ›property rights‹, insbesondere auch für die Zumessung politischer Rechte. In jeweils unterschiedlicher Artikulation des Verhältnisses von Eigentum und Partizipation haben sich in den USA von Anfang an zwei große Strömungen herausgebildet, eine mehr gemäßigte, auf institutionelle checks and balances, aber auch auf eine handlungsfähige Zentralmacht bedachte, wirtschaftsliberale und politisch eher konservative Richtung, die die kommerziellen Interessen, einschließlich der agrarkommerziellen, repräsentierte (die zunächst bei den Verfassungsberatungen dominierenden Federalists, später die Hamilitonians, Whigs, etc.), und eine andere, stärker direktdemokratisch-partizipatorische Richtung, die die ›agrarische Demokratie‹ proklamierte, auch politisch eher liberal, manchmal fortschrittlich war und zunächst die Interessen der nichtkommerziellen Subsistenzlandwirtschaft (in Gestalt der zur Norm erhobenen ›family farm‹) und der frontier-Gesellschaften vertrat, später die der im Industrialisierungsprozess zu kurz Gekommenen und weniger gut Organisierten (Antifederalists, Jeffersonians, Jacksonians, später die Populists und deren Erben im 20. Jahrhundert). Das Nebeneinander beider Strömungen hat sich – in unterschiedlichen Formen und Gruppen – erhalten. Die heutigen intellektuellen Neo-Konservativen schließen eng an die erste an. Die zweite hat seit den Tagen Jacksons zunehmend auch die Stärkung der plebiszitär legitimierten Exekutive und die Vermehrung des staatlichen Interventionismus im Interesse der weniger gut Organisierten, gegen die Apparate der partikularen vested interests, betrieben. Beide Richtungen sind aber innerhalb des kapitalistischen Grundconsensus geblieben. Sie gehören enger zusammen und sind weniger antagonistisch als z. B. der kontinentaleuropäische Gegensatz zwischen liberaler und radikaler Demokratie. Die einheitsstiftende Funktion dieses consensus muss, zumal in einem Einwandererland, sehr hoch bewertet werden, selbst wenn er ein begrenzter consensus der zu einem konkreten Zeitpunkt dominierenden Eliten – und ihrer Interessen – war.6 6 Zum ›liberal consensus‹ in der Interpretation der ›progressive historians‹ vgl. L. Hartz, The Liberal Tradition in America, New York 1955; R. Hofstadter, The Age of Reform, New York 1955.
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Der weitere Entwicklungsprozess der USA im 19. und 20. Jahrhundert stand in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht vor allem im Zeichen der massenhaften Einwanderung, der internen Westwanderung, der Inkorporation neuer Territorien in die Union, der Integration der frontier-Gesellschaft und der Aus weitung und Vergrößerung des inneren Marktes. Dieser Prozess fand erst in den Jahren nach 1920 sein Ende. Die Expansion des inneren Marktes wurde durch die Erfindung massenweise produzierter langlebiger Konsumgüter (und die Diversifizierung der kurzlebigen) auch danach gewissermaßen bruchlos mit anderen Mitteln fortgesetzt. Auch das Potential der schieren Größe (bigness) hatte sein eigenes Gewicht. An der hohen Absorptionsfähigkeit des inneren Markts lag es auch, dass die treibenden Kräfte hinter dem nordamerikanischen Imperialismus, vor allem gegenüber Lateinamerika und dem pazifischen Raum, bis etwa 1920 primär die Interessen der Agrarexporteure waren und noch nicht die der Industrie.7 Hierzu einige kurze Stichworte: Die Landwirtschaft war kapitalistische Landwirtschaft ohne vorkapitalistische Stabilierungsfaktoren, die Farmer waren Unternehmer unterschiedlicher Größe. Im Prinzip gilt das auch für die Plantagen des Südens, was es erleichterte, nach Bürgerkrieg und reconstruction einen modus vivendi zu finden. Die Industrialisierung ist autonome Industrialisierung gewesen, sie ist in ihren Phasen etwa so zu datieren wie die deutsche (Beginn der Frühindustrialisierung um 1830, Durchbruch der Hochindustrialisierung in den 1860er Jahren), aber es bildeten sich schon früher als in Europa große Aktiengesellschaften und ›multidivisionale‹ Strukturen heraus, die das Risiko breiter verteilten. Die Industrie wurde auch nicht zum größten Beschäftigungssektor. Die Hilfen des Staats für die business community nahmen nur langsam zu, der Übergang zum stärker ›organisierten Kapitalismus‹ (oder wie immer man diesen Verklammerungsprozess nennen will) erfolgte relativ spät (zwischen dem Ersten Weltkrieg und 1935).8 Durchgängiges Kennzeichen blieb lange das Prinzip der ›regulation by the regulated‹. Die Entwicklung zum Sozialstaat blieb gegenüber euro päischen Ländern um rund ein halbes bis ein Drittel Jahrhundert zurück. In Bezug auf die Charakteristika sozialer Ungleichheit und sozialer Schichtung lässt sich kurz folgendes resümieren: Wichtig war hier eine starke Rolle des Marktes von Anfang an, gegenüber ständischen und politisch dekretierten Schranken, die Bedeutung von ›property‹, eine hohe intergenerationale Mobilität, relativ aufstiegsgünstige Produktions- und Beschäftigungsstruktur, insbesondere auch für ungelernte Arbeiter, und eine im Vergleich zu Europa et7 Vgl. insgesamt die ›klassische‹ Interpretation in S. M. Lipset, The First New Nation, Garden City 1963, sowie W. A. Williams, The Tragedy of American Diplomacy, New York 1972. 8 Vgl. ausführlicher H. J. Puhle, Der Übergang zum Organisierten Kapitalismus in den USA, in: H. A. Winkler (Hg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1974, S. 172–194, sowie ders., Politische Agrarbewegungen in kapitalistischen Industriegesellschaften. Deutschland, USA und Frankreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 1975, bes. S. 113–209.
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was größere Durchlässigkeit der Klassenlinien, im ganzen aber auch eine etwas größere soziale Ungleichheit, jedenfalls seit dem 19. Jahrhundert. Der Faktor Bildung war wichtiger als in Europa, auch zugunsten vormals diskriminierter Minderheiten und teilweise der Frauen.9 Was die USA von Europa unterscheidet, rückt sie teilweise näher an Lateinamerika heran. Es gibt einige ›amerikanische‹ Gemeinsamkeiten, z. B. darin, dass in beiden Teilen Amerikas (wenn auch in Lateinamerika etwas mehr eingeschränkt als in Nordamerika) der ökonomische Erfolg am Markt von Anfang an ein wichtigeres Kriterium für die Zuweisung eines sozialen Status gewesen ist als zur jeweiligen Zeit in Europa, dass Prestige und Reichtum relativ früh auseinandertreten, dass Bildung von Anfang an einen relativ hohen Stellenwert gehabt hat und dass die Klassenlinien in bestimmten Bereichen und zu bestimmten Zeiten im ganzen relativ durchlässig gewesen sind (manchmal mehr oben, manchmal mehr unten), alles Phänomene einer ›neuen‹ Gesellschaft. Diese Ähnlichkeiten haben jedoch wiederum deutliche Grenzen, die vor allem zurückgehen auf die von Anfang an größere Bereitschaft der Herrschenden und ihrer Institutionen in Lateinamerika, ökonomische Errungenschaften durch politische Mechanismen und Festschreibungen abzusichern. Insgesamt steht hier wesentlich das Marktprinzip gegen politische Statusallokation, oder – vereinfacht gesagt – die freie Wirtschaftsgesellschaft gegen den bürokratischen Staat. Ein zentraler Unterschied ist aber wohl der, dass sich die nordamerikanische Arbeiterschaft so gut wie ausschließlich aus Einwanderern rekrutierte, die auch im Lande mobil blieben, und dass es lange im jeweiligen Westen Land für alle gab. Neben den Wellen der Einwanderung stehen gleichzeitige Wellen der Westwanderung derer, die schon länger im Lande waren. Die Bevölkerung befand sich so in permanenter Bewegung, bei günstiger Konjunktur und expandierendem Markt. Dieser Prozess hat beigetragen zu einer stärkeren Isolierung der Einzelnen und der Gruppen, zu einem stärkeren Familienbezug, zur Atomisierung und zur Fragmentierung der Arbeiterschaft, die einen klassenspezifischen Zusammenhalt und Solidarität nicht entwickelte.10 Dafür gab es die ›amerikanischen‹ Kompensationen, vor allem die Integration der Einwanderer im Prozess des ›nation building‹. Dieser geschah, wie bereits in anderem Zusammenhang betont, im wesentlichen auf drei Ebenen: (1) durch die Integration in den Arbeitsprozess, (2) durch Institutionen wie die gleichen Staatsbürgerrechte und (3) durch Ideologien. Letztere bezogen sich teilweise auf die Institutionen, wurden aber auch durch Mythen gespeist wie den von der Gleichheit der yeoman farmers, und ganz allgemein der Chancengleichheit, vom Aufstiegsmythos des ›american dream‹ oder dem hochideologischen topos vom ›melting pot‹. 9 Dazu auch H. J. Puhle, Soziale Ungleichheit und Klassenstrukturen in den USA, in: H.-U. Wehler (Hg.), Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, Göttingen 1979, S. 233–277. 10 Vgl. den ›Klassiker‹: W. Sombart, Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus? (1906), Darmstadt 1969.
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Manche dieser ideologischen topoi wurden auch explizit nationalistisch nach außen gewendet in der Annahme einer Mission, der Aufgabe, den american way of life und die Institutionen zu exportieren, von »manifest destiny« bis »make the world safe for democracy«: Die USA als Champion von Freiheit, Frieden, Demokratie and the pursuit of happiness. Die wichtigsten Aspekte dieser Wendung nach außen waren erstens der US-Imperialismus, insbesondere gegenüber Lateinamerika und im pazifischen Raum auf den Hintergrund harter Interessenpolitik, zunächst der agrarischen, dann auch der industriellen Produzenten seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, und zweitens der Einbezug Nordamerikas in die europäischen Kriege und der Aufstieg der USA zur Weltmacht im 20. Jahrhundert, abzulesen am Ersten und Zweiten Weltkrieg, am Koreakrieg, sodann am Kalten Krieg und schließlich am Krieg in Vietnam, an dessen Ende das Trauma der Niederlage deutlich gemacht hat, dass inzwischen auch verselbständigte Konzeptionen von ›greatness‹ reale politische Wirkungskraft erlangt hatten. (1) Zur Integration in und über den Arbeitsprozess gehören auch die sich allmählich herausbildenden Muster sozialen Auf- und Abstiegs, der sozialen Schichtung insgesamt, der in unterschiedlicher Weise segregierten Wohnformen und zahlreicher Berufs- und status-bezogener Verhaltensweisen. (2) Die institutionellen Integrationsvehikel erschöpfen sich keineswegs in der Verfas sung und den Bürgerrechten; sie umfassen neben einheitlichen Rechtstraditio nen und Bildungseinrichtungen und den bekannten nationalen (Flagge, Hymne, Schulgebet, Gedenktage der Gründungsväter, etc.), militärischen, quasimilitärischen (Football) und religiösen Ritualen u. a. auch die gemeindlichen Partizipationskanäle und zahlreiche abgeleitete Mechanismen eines relativ hohen und primär auf Konformität gerichteten sozialen Gruppendrucks (trotz des ebenfalls rituellen Bekenntnisses zum ›Individualismus‹). (3) Zu den ideologischen Integrationsfaktoren gehören auch alle jene Züge der amerikanischen ›civil religion‹ und des allgemein geteilten weltlichen Glaubensbekenntnisses (für Demokratie, Freiheit, Konkurrenz, Fortschritt und ›Individualismus‹), denen eine Reihe von Autoren die Hauptlast der Kompensationen gegenüber den fast übermächtigen Realitäten gesellschaftlicher Segmentierung und politischer Fragmentierung aufgebürdet haben.11 Zum wahren Kern dieses Arguments hat sicher auch der Umstand beigetragen, dass die Integration nicht auf den Staat hin erfolgte und auch nicht auf das Volk oder die Nation hin in einem europäischen Sinne, sondern in Richtung des american way of life als eines entscheidenden Konstituens der neuen Nation, an dem, abgesehen vom harten, aber sparsam applizierten institutionellen Gerüst, sehr viel Ideologisches war. In zahlreichen Vergleichen zwischen den USA und den Ländern Westeuropas hat sich bislang insgesamt die relativ hohe Integrationsfähigkeit des amerikanischen Systems (nicht nur des politischen) herausgestellt, durchweg kom11 Zur civil religion vgl. R. N. Bellah, Civil Religion in America, in: Daedalus, Jg. 96,1, 1967, S. 1–21.
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biniert mit hoher Flexibilität und Reformkapazität. Dies gilt auch im Vergleich mit Lateinamerika. Wir können das ablesen an den drei großen Wellen der Reformpolitik im 20. Jahrhundert, die die US-Gesellschaft nachhaltig verändert haben: 1. den ›Progressive‹ reforms zwischen 1900 und 1920, denen die berühmten ›populistischen‹ Kampagnen als Vorläufer vorausgingen. Diese Reformen haben insbesondere die Kanäle und den Grad politischer Partizipation ausgeweitet und neue staatsinverventionistische Mechanismen etabliert. 2. Die Reformen des New Deal in den 1930er Jahren haben in Antwort auf die Weltwirtschaftskrise diese progressiven Reformen weitergeführt, intensiviert und vertieft, den Staatsinterventionismus stärker institutionalisiert und mit der Einbeziehung auch der organisierten Arbeiterschaft in die Institutionen der Konfliktregelung einem stärker ›organisierten‹ oder ›korporativ‹ regulierten industriekapitalistischen System endgültig zum Durchbruch verholfen. 3. Die dritte Reformwelle begann mit der Bürgerrechtsgesetzgebung und der Ausweitung der Sozialgesetzgebung im Zeichen der ›Great Society‹-Programme der 1960er Jahre. Sie hat auch die soziale Dimension der Bürgerrechte (›citizenship‹ i. S. von T. H. Marshall) zunehmend zu garantierten Rechten mit dem Ziel der equal opportunities gemacht und durchläuft derzeit im Zeichen des ›Multikulturalismus‹ eine neuerliche Transformation, die möglicherweise in einer vierten großen Reformwelle münden kann.
4. Nord- und Südamerika im Vergleich Zum Vergleich zwischen Nord- und Südamerika lässt sich vereinfacht sagen, dass nation building und Nationalismus in den USA mehr integrativ, sozial wie kulturell, inclusionary, assimilierend, prägend, unterschiedliche kulturelle Traditionen verschleifend, aggressiver gewesen sind, trotz oft niedriger Mobilisierungsraten. Nation building und Nationalismus in Lateinamerika grenzten mehr ab, sozial wie kulturell, wie waren exclusionary, oft künstlich mit geringerer Integrations- und Prägekraft, kulturelle Differenzen betonend, defensiver, trotz oft hoher Mobilisierungsraten. Dies wäre im einzelnen noch im genaueren Vergleich des jeweiligen Verhältnisses zwischen Mehrheit und Minderheit und des Umgangs mit den Problemen der ›ethnicity‹ zu modifizieren. Dazu einige kurze Hinweise: 1. In Nordamerika sind die USA zum Land der ethnic minorities geworden, schon lange bevor die Frauen als ›Minorität‹ entdeckt wurden. Hier haben sich soziale Subkulturen ohne Separatismusabsicht etabliert, die sukzessiv und schubweise auch in politische Machtpositionen eingerückt sind (die letzten sind noch die Schwarzen und die Hispanics) und allmählich mehr und mehr auch die kulturelle Hegemonie der WASPs eingeschränkt und modifiziert haben. Aber sie sind fraktioniert. Einzelne minorities haben als gestaltende Faktoren 323
im Ernstfall gegen den Sog des normierenden american way of life, selbst wenn sie diesen mitgeprägt haben, bislang wenig Chancen gehabt, schon gar nicht im Konfliktfall (cf. Deutsche und Japaner im Zweiten Weltkrieg). Vereinfachend kann man vielleicht sagen, dass das Akzeptieren der – ideologisch zwecks Integration sogar unerlässlichen – Hegemonie des american way of life, und damit der Grenzen des subkulturellen Milieus, die klassische Vorbedingung war für eine Blüte der ethnischen Subkulturen im Rahmen des vorgegebenen Toleranzraums, die kritische Masse für diese Blüte immer vorausgesetzt. Dies gilt für die weißen Einwanderer, hat aber lange Zeit nicht in vollem Umfang für die Gemeinschaften der entlaufenen und befreiten Negersklaven gegolten, deren starke (wenn auch in ökonomischer Abhängigkeit gehaltene) ›Gegenkultur‹ sogar schon zu Zeiten der Sklaverei von den Herren geduldet wurde. Das Vorenthalten politischer Rechte fungierte hier bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als Kompensation, bzw. Sanktion für mangelnde Konformität und compliance. Die USA wurden so zum klassischen Land von ›ethnicity‹ im Sinne einer multikulturellen Vielfalt unterhalb der politischen Macht- und Entscheidungsebene, wobei als ›ethnics‹ lange Zeit nur die Einwanderer (mit Ausnahme der unfreiwilligen schwarzen Einwanderer) verstanden wurden. Da sie als Staatsbürger akzeptiert waren und die ökonomischen, sozialen und politischen Partizipationskanäle ihnen offenstanden, wurden diesen eingewanderten ethnischen ›Minderheiten‹ spezifische Gruppenrechte als Minderheiten nicht eingeräumt. Ob dieser Zustand: hohe Integrations-, Anpassungs- und Reformfähigkeit des Systems, kanalisiert durch Arbeit, Institutionen und Ideologeme, und ethnisch segregierte subkulturelle Milieus und Gesellschaften um den Preis der Anerkennung ihrer Grenzen und ihrer Ein- und Unterordnung, sich in den letzten Jahrzehnten grundsätzlich geändert hat, und ob die USA neuerdings im Gegensatz zu den hergebrachten Mustern auf dem Weg zu einer tendenziell sich dissoziierenden ›multikulturellen Gesellschaft‹ sind, scheint mir eine offene Frage zu sein, die empirisch noch genauerer Erforschung bedarf. Die ersten Eindrücke scheinen widersprüchlich. Dafür könnten Faktoren der Diskreditierung (und abnehmenden Prägekraft?) des amerikanischen Systems und seiner Träger seit Vietnam und Watergate sprechen, die allgemeine Zunahme regionalen Bewusstseins, die modischen Wellen von ›ethnic is in‹ und Multikulturalität oder der Umstand, dass sich seit Beginn der Bürgerrechtsbewegung erstmals eine starke Minderheit zunehmend politisch artikuliert (und es auch zu beachtlichen ökonomischen Erfolgen gebracht) hat, die den Einwanderer-consensus über die Ein- und Unterordnung unter den american way of life nie ganz akzeptiert hat, und dass die später gekommenen Hispanics möglicherweise stark und solidarisch genug sind, es ihnen gleichzutun bzw. sie zu übertreffen. Dagegen spräche eher, dass (auch nach Meinungsumfragen) Institutionen und institutioneller Grundconsensus in vielen Bereichen noch halten und sich – auch durch das erprobte Mittel von Reformen, z. B. im Bildungssektor – immer wieder regenerieren, wenn auch vielleicht stärker im lokalen und regionalen Kontext, dass insbesondere die Absorptions- und Adaptionsfähig324
keit des Marktes und der Erfahrungen wirtschaftlichen Erfolgs (samt ihren ideologischen Implikationen) noch beträchtlich sind, die Dynamik verbreitet und die Regeln flexibel, und dass auch die Intensität der ideologischen und religiösen Integrationsmechanismen wohl nicht eindeutig abnimmt, sondern anscheinend eher wellenförmig verläuft. Im Zusammenhang der empirischen Erforschung dieser Fragen werden auch allgemeinere Probleme exemplarisch angesprochen werden können, z. B.: Wie viel soziale, kulturelle und politische Fragmentierung verträgt ein organisiert kapitalistisches (bzw. tendenziell korporatistisches) System wie die USA? Wie weit gehen eine fragmentierte Gesellschaft und Demokratie noch zusammen? Wie weit ist der institutionelle und ideologische Grundconsensus jeweils durch ›contingent consent‹ zu ersetzen? 2. Mit Problemen ganz anderer Ordnung haben wir es im Fall des kanadischen Konflikts zwischen den frankophonen Québecois und dem Rest des Landes zu tun. Dieses dialektische, reziproke Mehrheits/Minderheitsverhältnis (dass die Frankophonen in Kanada in der Minderheit, in Québec jedoch in der Mehrheit sind) zwischen den beiden Landesteilen mit all seinen politischen Folgen, den gegenseitigen Reaktionen, Dilemmata der Kulturpolitik, dem Nachholbedarf an Kompensationen und Entwicklungsstufen eines Minderheitsnationalismus (Durchbruch in der ›révolution tranquille‹) ist eher unter funktionalen Gesichtspunkten mit den jüngeren Minderheitsnationalismen in Europa zu vergleichen, sei es den älteren in der k. u. k. Monarchie oder in Russland, oder sei es den heutigen in den westeuropäischen Zentralstaaten, vor allem in Großbritannien, Belgien und Spanien, aber auch in Frankreich, nur mit dem wichtigen Unterschied, das der kanadische Konflikt stattfindet in einem Bundesstaat, was manche institutionelle Lösung wenn nicht erleichtert, so doch beschleunigt hat.12 Es geht hier, wie auch in Schottland, Nordirland, im Baskenland, in Kata lonien, Korsika oder Belgien um vermehrte, oft auch ökonomisch motivierte Autonomiebestrebungen einer größeren, territorial zusammenhängenden soziokulturellen Minorität, in der Regel am deutlichsten erkennbar an der Sprache, in einem anders dominierten Gesamtstaat. Selbst die Muster der Gewaltsamkeit sind gelegentlich ähnlich gewesen. Während die Regionalisierung in Frankreich und die ›Autonomisierung‹ in Spanien ebenso aufwendig und mühsam waren wie die Einrichtung einer föderalen ›consociational democracy‹ in Belgien, während die britische devolution nur halb gelang und das Nordirlandproblem lange ungelöst geblieben ist, reichte in Québec das Gesetz 101 samt einigen Ergänzungen zur ersten Entschärfung des Konflikts, weil es den Föderalismus schon gab. Das Gesetz war in mancher Hinsicht unfair, aber es war erfolgreich im Sinne der Minderheit. Von einem Prozess der ›Dekolonisation‹ sollte man hier allerdings nicht sprechen, da das Muster der ›internen Koloni12 Vgl. den Beitrag über Nationalismus und Demokratie in diesem Band.
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sation‹ eigentlich nur auf im Verhältnis zum Gesamtstaat eindeutig unterentwickelte Regionen passt. Im Gegensatz zu den USA und zu Nordamerika im allgemeinen sind in Lateinamerika sowohl die Indianer als auch die Mischlinge und später die Schwarzen als Gruppen oder Gemeinschaften sehr früh anerkannt worden und ihr jeweiliger sozialer Status ist im Verhältnis zu den Weißen zum einen bürokratisch festgeschrieben und zum anderen der sozialen Realität immer wieder angepasst worden (vgl. die zahlreichen ›Farbordnungen‹ mit bis zu 128 Schattierungen in Santo Domingo). Dabei sind auch korporative Minderheitenrechte und in der Regel unterschiedliche Repräsentationsgremien anerkannt worden, und es ist interessant, dass die periodisch ausbrechenden Rebellionen gegen diese Institutionen und gegen die staatliche Politik gegenüber diesen Minderheiten in der Regel initiiert und getragen wurden von die ethnischen Trennungslinien übergreifenden und umfassenden lokalen Koalitionen (z. B. in Cuzco und in den früheren frontier-Gebieten im Norden Mexicos und im Süden Chiles und Argentiniens). Der Stellenwert der späteren europäischen oder asiatischen Einwanderergruppen war gegenüber diesen älteren Mechanismen durchweg geringer, und das beeindruckende subkulturelle Gruppenleben etwa der Italiener in Buenos Aires oder der Deutschen in bestimmten Provinzen Brasiliens und Chiles musste nicht erkauft werden mit der ausdrücklichen Anerkennung eines ideolo gischen Hegemonialkonsens, den es in der Stärke des nordamerikanischen consensus jedenfalls nicht gab. Letzteres hat natürlich auch mit der größeren Schwäche und Fragilität der Mechanismen nationaler Integration in den latein amerikanischen Ländern im Vergleich zu Nordamerika zu tun, die ihrerseits wieder zurückweisen auf jene alle anderen Bereiche durchdringende und be einflussende Divergenz zwischen den beiden Amerikas, die überall durchscheint und deren zahlreiche Facetten an dieser Stelle nicht mehr in extenso beschrieben werden müssen. Sie lässt sich auf die bekannten und griffigen Formeln bringen: property rights und kapitalistischer consensus vs. Staatsfixierung; Markt vs. Hierarchie; aktive Betätigung vs. Passivität; Imperialisten vs. Imperialisierte; Entwicklung vs. Unterentwicklung, und Autonomie vs. Abhängigkeit.
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Bauern, Widerstand und Politik in der außereuropäischen Welt*
Das Verhältnis von Bauern, Widerstand und Politik kann hier nicht erschöpfend behandelt werden, sondern nur in relativ allgemeinen Thesen. Sie können bestenfalls Vorbemerkungen sein, zur Begrifflichkeit von ›Bauern‹ und ›Bäuerlichem‹ und zu den Leistungen und Grenzen bäuerlicher Resistenz. Die Bemerkungen beziehen sich zeitlich vornehmlich auf das 20. Jahrhundert und räumlich mehr auf Lateinamerika als auf Asien und Afrika.1 Der Beitrag ist in folgende Punkte gegliedert: 1. ›Bauern‹ und ihre Charakteristika 2. Zur Differenzierung der ›Bauern‹ 3. Revolution und Reformen im 20. Jahrhundert und die Bauern 4. Bauernbewegungen in Lateinamerika 5. Bauern und Politik In den Abschnitten »›Bauern‹ und ihre Charakteristika« und »Bauern und Politik« soll versucht werden, bestimmte Ausgangsfragen zu thematisieren und zu beantworten; in den anderen Abschnitten wird das dafür notwendige ausgewählte Material aufbereitet werden. Dabei beschränke ich mich im Wesentlichen auf längerfristige Kontinuitätslinien sowie die ›klassische‹ Diskussion der Charakteristika und Neigungen von ›Bauern‹ und ihren Bewegungen, bevor die neuere Verdichtung im Zuge von Globalisierungstendenzen und Interdependenzen seit den 1980/90er Jahren, einschließlich der durch sie provozierten neuen Anti-Globalisierungsbewegungen,2 umfassende Finanz- und Staatsk risen sowie neue Konzepte ethnischer Politik und demokratischer Teilhabe und Organisation3 die Konstellationen auch für bäuerliche Bewegungen * Zuerst erschienen in: M. Mann u. H. W. Tobler (Hg.), Bauernwiderstand: Asien und Lateinamerika in der Neuzeit, Wien 2012, S. 27–68, unter dem Titel: Bauern, Widerstand und Politik in Lateinamerika, Asien, Afrika. Einige Vorbemerkungen über Begriffe und über die Leistungen und Grenzen bäuerlicher Resistenz (überarb. aus: P. Feldbauer u. H. J. Puhle (Hg.), Bauern im Widerstand, Wien 1992, S. 19–44). – Der Beitrag wurde unerheblich gekürzt. 1 Für kritische Kommentare und Anregungen danke ich Friedrich Katz und Peter Feldbauer. 2 Vgl. M. Castells, Die Macht der Identität (Das Informationszeitalter II), Opladen 2003 (engl. 1997); B. R. Barber, Jihad vs. McWorld, New York 1995. 3 Vgl. D. L. Van Cott, From Movements to Parties in Latin America. The Evolution of Ethnic Politics, Cambridge 2005; D. J. Yashar, Constesting Citizenship in Latin America. The Rise of Indigenous Movements and the Postliberal Challenge, Cambridge 2005; N. G. Postero u. L. Zamosc (Hg.), The Struggle for Indigenous Rights in Latin America, Brighton 2004.
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und Politik in wichtigen Punkten veränderten. Einige Hinweise auf diese neueren Entwicklungen werden allerdings besonders dann nicht zu vermeiden sein, wenn es darum geht, die Elemente dieses Wandels ebenso wie interessante und trotz allem weiter bestehende Kontinuitäten wenigstens anzudeuten. Die wichtigsten Ausgangsfragen sind die folgenden: – Was sind Bauern, wie sind sie zu definieren? Wer gehört dazu? – Welches sind ihre wichtigsten Charakteristika? Welche Gemeinsamkeiten gibt es bei aller Verschiedenheit? Gibt es regelhafte Verhaltensweisen? – Sind Bauern besonders geneigt zu Widerstand? Unter welchen Umständen? Wie reagieren Bauern auf Veränderungen ihrer Umwelt? Welche Bauern neigen besonders zu Widerstand? Wie äußert sich welcher Widerstand? – Wann wird Unzufriedenheit zu Widerstand? Widerstand zur Rebellion? Rebellion zur Revolution? – Gibt es reine Bauernrevolutionen oder nur gemischte Revolutionen? Und welchen Stellenwert haben Bauern in letzteren? – Wie entstehen Bauernbewegungen? Wer organisiert sie? Welche verschie denen Ausprägungen gibt es? – Welches sind die Forderungen von Bauernbewegungen? – Welche Faktoren begünstigen Bauernbewegungen? Welche begrenzen ihre Wirkung? – Wie koalitionsfähig, wie politikfähig sind Bauernbewegungen? Diese Fragen sollen zum einen allgemein und zum anderen für die außer europäische Welt untersucht werden, letzteres überwiegend am Beispiel Lateinamerika, von dem der Autor mehr versteht als von Asien oder Afrika. Viele Fragen werden sicherlich nicht ganz, manche vielleicht nicht einmal hinreichend beantworten werden können.
1. ›Bauern‹ und ihre Charakteristika Was sind Bauern? In Kenntnis der langen und uferlosen Debatte, die darüber geführt worden ist, ist meine Antwort für den Zweck dieser Überlegungen: Bauern sollen alle Agrarproduzenten von niedrigem sozialen und politischen Status heißen, d. h. insbesondere, dass sie keine kapitalistischen Agrarunternehmer sind und nicht zu den politisch Herrschenden gehören. Barrington Moore hat darüber hinaus verlangt, dass Bauern zumindest früher einmal einen der ländlichen Oberklasse untergeordneten Rechtsstatus gehabt haben sollten und dass sie deutliche kulturelle Eigenarten aufweisen und einen beträchtlichen Grad tatsächlicher Verfügungsmacht über Land haben.4 4 B. Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie, Frankfurt 1974 (engl. Boston 1966), S. 140.
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Im Gefolge eines Arguments von Eric Wolf ist gerade letzteres bestritten worden: Nicht die Kontrolle über das Land sei ein Charakteristikum für Bauern, sondern im Gegenteil, dass sie diese verloren hätten, ebenso wie die Kontrolle über die eigene Arbeit und die Gewinne aus dieser Arbeit. Übrig bleibt z. B. bei Wolf, dass Bauern Leute sind »that are existentially involved in cultivation and make autonomous decisions regarding the process of cultivation«.5 Dies schließt Pächter, Kleinpächter und Teilpächter ein, nicht aber die besitz losen Landarbeiter. Da ich beim Nachdenken über bäuerlichen Widerstand, Protest, Revolten und Organisation und Politik die Landarbeiter gern einschließen möchte und außerdem meine, dass es mit den »autonomen Entscheidungen« in der Realität, vor allem der Pächter, aber auch der ›freien‹ Bauern nicht so weit her ist, habe ich mich erst einmal für die weitere Definition entschieden, also für die Gesamtheit der landwirtschaftlich produzierenden ländlichen unteren Mittel- und Unterschichten, wenn diese Übernahme städtischer Schichtungsbegriffe erlaubt ist. Diese Definition bezieht sich zunächst auf jene Gruppe, die wir in den Blick nehmen sollten, wenn wir über ›Bauern in der südlichen Hemisphäre‹ und besonders in Lateinamerika sprechen, wobei ›Bauern‹ selbstverständlich immer auch ›Bäuerinnen‹ bedeutet. Es ist selbstverständlich, dass diese Gruppe außerordentlich heterogen ist und dass wir in der genaueren Analyse immer ausdrücklich zu differenzieren haben zwischen den unterschiedlichen, jeweils konkreten Ausformungen der in einem weiteren Sinne bäuerlichen Existenz, nicht nur zwischen Eigentümern verschiedener Größe und Autonomie, dörflichen Genossenschaftsbauern, Geldpächtern und Teilpächtern, Knechten, Mägden und gebundenen Zwangsarbeitern unterschiedlicher Rechtsform (Sklaven, Zwangsarbeitern, Schuldknechten oder im Familienverband auftretenden Abhängigen, Kleinsiedlern), sogenannten ›freien‹ Lohnarbeitern, usw., sondern auch nach regionalen und produktspezifischen, sektoralen Unterschieden und nach der Größe und relativen Auskömmlichkeit einer Wirtschaft, die mehr oder weniger abhängig ist. Unterschieden werden muss auch zwischen reiner Subsistenzwirtschaft und dem, was gegebenenfalls darüber hinausgeht, nach der Marktnähe und dem Marktbezug, der Land-, Arbeits- und Steuerverfassung, den institutionellen Mechanismen der Dorfgemeinschaften und der Familienverbände sowie der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Und man darf nicht vergessen, dass ein Bauer oder eine Familie als Produktionseinheit sehr oft nicht nur einem der zahlreichen genannten Typen zuzurechnen ist, sondern mehreren. Ein Mitglied 5 E. R. Wolf, Peasants, Englewood Cliffs 1966, S. 3 f.; ders., Peasant Wars of the Twentieth Century, New York 1969, S. XIV. Zur weiteren Debatte vgl. insb. H. A. Landsberger (Hg.), Latin American Peasant Movements, Ithaca 1969; T. Shanin (Hg.), Peasants and Peasant Societies, London 1971; ders., The Nature and Logic of the Peasant Economy, in: Journal of Peasant Studies, Jg. 1, 1973, S. 63–80, u. 1974, S. 186–206; S. W. Mintz, A Note on the Definition of Peasantries, in: Journal of Peasant Studies, Jg. 1, 1973, S. 91–106; A. V. Chayanov, The Theory of Peasant Economy, Madison 1986.
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einer bäuerlichen Familie kann durchaus gleichzeitig freier Bauer sein, auf eigenem Land, und Pächter sowie dienstleistender Teilpächter und Lohnarbeiter in der Nachbarschaft. Dies kompliziert die Analyse und macht unter Umständen manche Interpretation problematisch, da einseitig. ›Bauer‹ in diesem Sinne ist kein reiner Typ, sondern eher ein ganzes Syndrom, das es zu entwirren gilt. Gibt es nun gemeinsame Charakteristika, auf die man sich halbwegs verlassen könnte? Es gibt möglicherweise keine soziale Gruppe, über die so viele Legenden und stereotype Vorurteile im Umlauf sind wie über Bauern. Es gibt z. B. die These vom Individualismus der Bauern, von ihrem Konservatismus, gar ihrer reaktionären Haltung, oder – das andere Extrem – von ihren besonders revolutionären Neigungen und auch von ihrer ausgeprägten politischen Apathie und geringen Partizipation; dass sie selten oder nie Subjekt seien, wenig autonom und immer nur Objekt der Vorhaben anderer und der Politiker, dass sie neuerungsfeindlich seien, egoistisch und xenophob, landhungrig, aber schwer zu integrieren. Und anderes mehr. Manchen dieser Thesen ist nach den empirischen Befunden, die wir kennen, etwas abzugewinnen, aber in der Regel sind sie alle falsch. Es scheint jedoch ein paar verlässliche Grundkonstanten zu geben, die sich zumindest mir in meiner Arbeit über Bauern und Agrar produzenten in Europa, Nordamerika und Lateinamerika, aber auch vielen anderen, die diese Zusammenhänge untersucht haben, immer wieder bestätigt haben. Dazu gehören etwa die folgenden sechs Aspekte: 1. Genauso wenig wie in der Gesamtgesellschaft gibt es in der bäuerlichen Welt eine klare, dichotomische Trennung zwischen Tradition und Modernität. Die Lage ist gemischt, und beides ist nebeneinander und ineinander verklammert vorhanden. 2. Bäuerliche Produzenten sind qua Beruf pragmatisch und realistisch. Sie sehen, was ist, lernen, Wahrscheinlichkeiten zu kalkulieren, und sie wissen auch um die Ungewissheiten des Ausgangs von Absichten und Projekten. Sie kennen ihre Interessen und können diese kurz- und mittelfristig benennen. Gegenüber ideologischen Höhenflügen sind sie in der Regel weniger anfällig als Lehrer oder Kaufmannsgehilfen. Um sie zu überzeugen, muss man an ihr konkretes Interesse appellieren. Hier liegt die Wurzel für den Konservatismusverdacht. Für Bauern, die Zugang zum Markt haben, gibt es in der Regel kein überzeugenderes Argument als die Anreize des Marktes. Für die, die keinen Zugang zum Markt haben, oder deren Zugangsmöglichkeit sich verschlechtert hat, richten sich die Anstrengungen vor allem auf die Wahrung der eigenen Interessen gegenüber den einschränkenden Mechanismen von Märkten und Herrschaft, gegen Ausbeutung und Unterdrückung, gegen Abhängigkeit und Willkür. Hier setzt bäuerlicher Widerstand ein, dessen Formen sich im Einzelnen nach den konkreten Gegebenheiten richten. 3. Da in den meisten nicht-angelsächsischen Ländern die liberalen Reformen der Agrar- und Arbeitsverfassungen des 19. Jahrhunderts, besonders die Liberalisierung und Individualisierung des Bodenrechts und die Geldablösungen der Dienste, die Lage der kleinen und mittleren Bauern und der agrarischen Unter330
schichten verschlechtert haben, ist vielfach als Ausweg aus der Misere der Weg zurück zu den Zuständen vor den Reformen als bäuerliches Ziel anvisiert worden, vor allem die Wiederherstellung der dorfgemeinschaftlichen, genossenschaftlichen, kollektivistischen Institutionen und ihrer bescheidenen autonomen Freiräume als der ›guten alten Rechte‹. Hier liegt die Wurzel des Vorwurfs der Reaktion oder der Rückwärtsgewandtheit, zumal dann, wenn solche Vorstellungen noch – ähnlich wie mancher Sozialbanditismus – messianisch aufgeladen sind wie im südspanischen Agraranarchismus, in der guerra de castas in Yucatán in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts oder in manchen andinen Seitentälern Südperus seit der Tupac Amaru-Rebellion um 1780, teilweise bis in unsere Tage. Die Feststellung von Eric Wolf, dass Bauern unter bestimmten Bedingungen nur revolutionär würden, um am Ende traditionell bleiben zu können,6 ist nur eine Seite der Wahrheit. Die andere ist, dass traditionelle oder rückwärtsgewandte Forderungen sich mitunter als taktisch optimale Wege zur Verbesserung der Lage in der Zukunft anbieten, besonders in Zusammenhängen, in denen Bauern gewohnheitsmäßig erst den Beschwerdeweg einschlagen, bevor sie zur Pistole greifen. Über das Vorenthalten des ›guten alten Rechts‹ kann man sich beschweren, über das Vorenthalten eines Zukunftsentwurfs nicht. 4. Der ›Individualismus‹ der Bauern im Sinne von individueller Landnutzung und ›autonomer‹ Betriebsführung ist ein Problem, aber kein einfaches oder eindeutiges: Einerseits ist er keine anthropologische Konstante. In vielen regionalen Traditionen stehen gemeinschaftliche oder genossenschaftliche Leitideen gleichberechtigt neben solchen individueller Landakkumulation und -nutzung. Das Paradebeispiel ist Mexico. Wir wissen aus den Arbeiten der ›moral economists‹, dass oft der harte Zwang einer prekären Subsistenzbasis hinter der Suche nach kooperativen Arbeitsformen steckt.7 In typischen Latifundiengebieten mit verdrängten Bauern oder Dorfgemeinschaften wird jedoch in der Regel eher das Verlangen nach Aufteilung des Landes artikuliert werden, es sei denn, die Landarbeiter, die teilweise auch Pächter oder Besitzer sind, haben in engerem Kontakt mit nicht-agrarischen Arbeitern bereits überwiegend gewerkschaftliche Orientierungen entwickelt und kämpfen primär für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen und -löhne, wie z. B. seit den dreißiger Jahren auf den Zuckerhaciendas an der peruanischen Nordküste.8 Für letzteres gibt es aber auch Gegenbeispiele: Im mexikanischen Sinaloa haben sich auch die Tagelöhner gewissermaßen auf bäuerliche Weise organisiert und verlangen Land für sich und ihre Familien. Dies ist plausibel, da dort ge6 Wolf, Peasant Wars, S. 292. 7 Vgl. E. R. Wolf, Closed Corporate Peasant Communities in Mesoamerica and Central Java, in: South Western Journal of Anthropology, Jg. 12,1, 1957, S. 1–19; ders., Peasants; J. Scott, The Moral Economy of the Peasant. Rebellion and Subsistence in Southeast Asia, New Haven 1976. 8 Vgl. P. Kammann, Von der Landarbeiterbewegung zur Angestelltengewerkschaft. Soziale Protestbewegungen im Tal des Chicama, Peru 1909–1968, Frankfurt 1990.
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werkschaftliche Organisation bislang chancenlos war, das Recht auf Land aber seit 1917 verfassungsmäßig garantiert ist.9 Auf der anderen Seite können von bäuerlichem Individualismus geprägte Mentalitäten und die Abneigung gegen solidarische, kollektive Organisation und Aktion eklatante Hindernisse für bäuerliche Interessenwahrung, Organisation und politische Partizipation sein, wie es für Frankreich nicht nur Karl Marx im ›18. Brumaire‹, sondern auch die christliche Landjugend des CNJA (Centre National des Jeunes Agriculteurs) schon früh erkannt hat: »L’individualisme, c’est l’ennemi«.10 Die Individualisierung und oft Isolierung der Arbeit, gegenseitige Konkurrenz, der begrenzte Horizont und das Diktat des jährlichen Arbeitsrhythmus erschweren solidarische Anstrengungen und begrenzen die Kapazitäten für politisches Engagement (eine wichtige Wurzel des Apathie-Vorwurfs). Hinzu kommt, dass Bauer sein nicht nur ein Beruf ist, sondern auch eine Lebensweise, und einen sozio-kulturellen Kontext eigener Art konstituiert, der die Suche nach nichtbäuerlichen Bündnispartnern nicht erleichtert, sondern eher Barrieren stabilisiert, jedenfalls zunächst. Außerdem wird auch die Versuchung zur Individualisierung der Interessenlage noch vergrößert: – einmal durch vielfältige Puffermechanismen wie den des möglichen Rückzugs in die Subsistenzproduktion und der gegenseitigen Hilfe im Rahmen der Netze von Familie und Dorfgemeinschaft, und – zweitens durch zahlreiche funktionale Überlappungen in der eigenen Iden tität oder bei Verwandten und Freunden, die quer zu denkbaren Klassenlinien liegen: Warum soll ein kleiner Bauer den Großbauern als seinen Feind und Ausbeuter betrachten, wenn dieser sein Vetter ist, mit dem er sich gut versteht; oder den Ladenbesitzer, wenn er der beste Freund ist? Um Missverständnissen vorzubeugen, sei aber nochmals betont, dass Bauern keineswegs nur in individualistischen Kategorien denken, sondern ebenso in gemeinschaftlichen, unter Umständen kollektivistischen. Primäre Bezugspunkte sind die Familie und die Dorfgemeinschaft, und auch der dritte zentrale Bezugspunkt, das Land, wird oft nicht als individuelles Gut, sondern als gebunden angesehen, und sei es im Rahmen der Familie. 5. Ein ganz zentrales Charakteristikum, das in unserem Kontext besonders wichtig ist, ist die lokale, allenfalls noch regionale Einbindung der bäuerlichen Existenz, der bäuerlichen Arbeit und des bäuerlichen Lebens, ganz im Gegensatz etwa zu Kaufleuten und Händlern, und in Lateinamerika, Afrika und Südasien noch mehr als in Europa und Nordamerika. Ein so großartiges Buch wie Eugen Webers »Peasants into Frenchmen«, das die allmähliche ›Nationalisierung‹ der Bauern in Frankreich im Zuge des Ausbaus der wirtschaftlichen Integration und der Kommunikationsstränge auf nationaler Ebene (wenn auch 9 V. Bennholdt-Thomsen, Bauern in Mexiko. Zwischen Subsistenz- und Warenproduktion, Frankfurt 1982, S. 171 f. 10 H. J. Puhle, Politische Agrarbewegungen in kapitalistischen Industriegesellschaften, Göttingen 1975, S. 230 ff.
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etwas zu sehr aus der Perspektive ›von oben‹) beschreibt,11 könnte schon für Spanien oder Italien kaum geschrieben werden, aber ganz gewiss nicht für Bolivien, Mexico oder Guatemala. Es gibt eigentlich keine, oder doch nur sehr vermittelt ›mexikanischen Bauern‹, sondern allenfalls solche in Morelos, Sinaloa, in bestimmten Zonen von Veracruz oder, noch kleiner, in La Laguna.12 Ein großer Teil der Bauern sind, wenn überhaupt, nicht in überlokale oder überregionale Wirtschaftsprozesse integriert, ihre sprachlich-kulturelle, ethnische, gelegentlich auch religiöse Identifikation ist lokal geprägt, ihr Einbezug in politische Koalitionen auf nationaler Ebene ist ungeheuer schwierig, meistens unmöglich, auf regionaler Ebene noch begrenzt. Vielfach werden aus der staatlichen Zentrale kommende Modernisierungsvorhaben auch abgelehnt, weil sie ›fremd‹ sind, von außen kommen, keine autochthonen Ansätze und Wurzeln haben oder die lokalen Eigenarten in der Weise missachten, wie das systematische Entwürfe oft tun. Wenn in einer solchen Situation die lokalen Ressentiments von entsprechenden, oft klerikalen und fundamentalistischen Agitatoren ausgebeutet werden, kann es zu den berühmten konterrevolutionären Bauernerhebungen kommen wie in der Vendée oder im Cristero-Aufstand im mexikanischen Westen der späten zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, der auch ein Krieg der katholischen Kirche gegen den revolutionierten, laizistischen Staat war.13 Hier muss angemerkt werden, dass sowohl solch konterrevolutionärer klerikaler Fundamentalismus gegen den Staat als auch Bündnisse zwischen Kirche und Staat gegen aufrührerische Bauern zumindest in Lateinamerika nur eine Seite einer insgesamt mehr ambivalenten Rolle der Kirche in den sozialen Auseinandersetzungen widerspiegeln: Es gibt daneben auch eine Kontinuitätslinie des Einsatzes von in der Regel allerdings in der Hierarchie nicht hochrangigen Priestern zugunsten der Armen und Entrechteten und des ›Fortschritts‹, die von Las Casas und den Propagandisten des ›Indianerschutzes‹ über Hidalgo und Morelos in Mexico bis zu dem guerrillero Camilo Torres in Kolumbien und zu den Theologen der Befreiung reicht. Aber auch anders gerichtete Erhebungen bleiben durchweg lokal begrenzt. Das Prinzip der Lokalität kann sogar größere Bedeutung bekommen als Berufs- oder Klassenlinien, Hautfarbe oder politischer Status: Bezeichnend sind hier zahlreiche von neo-inkaischem Messianismus durchtränkte Aufstände 11 E. Weber, Peasants into Frenchmen. The Modernization of Rural France 1870–1914, Stanford 1976. 12 Vgl. entsprechende Argumentationslinien in: E. Huber u. F. Safford (Hg.), Agrarian Structure and Political Power. Landlord and Peasant in the Making of Latin America, Pittsburgh 1995; F. E. Mallon, Peasant and Nation. The Making of Postcolonial Mexico and Peru, Berkeley 1995; B. Larson, Cochabamba, 1550–1900. Colonialism and Agrarian Transformation in Bolivia, Durham 1998; J. Purnell, Popular Movements and State Formation in Revolutionary Mexico. The Agraristas and Cristeros of Michoacán, Durham 1999; L. Zamosc, The Agrarian Question and the Peasant Movement in Colombia, Cambridge 1986. 13 Vgl. C. Tilly, The Vendée, New York 1964; J. Meyer, La Cristiada, 3 Bde., México 1973/74.
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im peruanischen Cuzco von der späten Kolonialzeit bis in unsere Tage. Sie waren durchweg klassenübergreifende Unternehmungen, getragen von indianischen Bauern, oft besser gestellten Mestizen und den lokalen Machtträgern, den ›caciques‹ verschiedener Hautfarbe. Unter ihnen waren übrigens gelegentlich auch Frauen. Die Frontlinie war deutlich: Cuzco gegen Peru, und nichts anderes.14 Auch die neuere guerrilla des Sendero Luminoso aus Ayacucho hat zunächst starke regionale Züge aufgewiesen.15 6. Bauern und agrarische Unterschichten befinden sich gewissermaßen strukturell im Widerstand gegen die Herrschenden, gegen die Umwelt und gegen die Zeitläufte; in Europa spätestens seit dem Durchbruch der Industrialisierung auch gegen ihre Dezimierung und Verdrängung. Auf letzteres und auf die Apparate agrarischer Interessenpolitik, die in diesem Kontext entwickelt worden sind und vor allem zugunsten der größeren, der reicheren und besser organisierten Agrarproduzenten funktionieren, kann ich hier ebenso wenig eingehen wie auf die kleineren oder größeren kapitalistischen Agrarunternehmer, die Farmer in Großbritannien und in den USA. Diese gehören nicht zum Thema.16 In Lateinamerika, Afrika, Süd- und Südostasien befinden sich Bauern noch viel mehr und viel länger strukturell im Widerstand, nämlich spätestens seit der Kolonisierung durch die Europäer. Der harte Kern der »Verdammten dieser Erde« besteht aus Bauern im Sinne unserer Ausgangsdefinition. Der gesellschaftliche und politische Rahmen, in dem sich hier Ausbeutung, Leiden und Widerstand der Bauern abgespielt haben, war (vor der Neusortierung der Bezüge am Ende des 20. Jahrhunderts) durch eine besondere Faktorenkonstellation gekennzeichnet, zu der vor allem die folgenden Elemente gehören, die hier am Beispiel Lateinamerikas entwickelt werden und für Afrika, Südasien und Südostasien analog abzuwandeln wären: 1. die Verdrängung der autochthonen vorkolonialen Agrar- und Arbeits verfassungen mit in der Regel hohem Anteil genossenschaftlicher und kollektivistischer Züge, mit Gewalt, zugunsten der aufoktroyierten, europäisch inspirierten Institutionen, gelegentlich unter Nutzung einzelner autochthoner Mechanismen; 14 A. Flores Galindo, Buscando un inca: identidad y utopia en los Andes, Lima 1987; R. Miller (Hg.), Region and Class in Modern Peruvian History, Liverpool 1987; S. J. Stern, Resistance, Rebellion, and Consciousness in the Andean Peasant World, Madison 1987; D. P. Cahill, Curas and Social Conflict in the doctrinas of Cuzco, 1780–1814, in: Journal of Latin American Studies, Jg. 16,2, 1984, S. 241–276; ders., History and Anthropology in the Study of Andean Society, in: Bulletin of Latin American Research, Jg. 9,1, 1990, S. 123–132; L. M. Glave, Conflict and Social Reproduction. The Andean Peasant Community, in: M. Lundahl u. T. Svensson (Hg.), Agrarian Society in History. Essays in Honour of Magnus Mörner, London 1990, S. 143–158. 15 S. J. Stern (Hg.), Shining and Other Paths. War and Society in Peru, 1980–1995, Durham 1998. Zum Kontext auch: N. Jacobsen, Mirages of Transition: The Peruvian Altiplano, 1780– 1930, Berkeley 1993; ders. u. C. Aljovín de Losada (Hg.), Political Cultures in the Andes 1750–1950, Durham 2005. 16 Dazu Puhle, Agrarbewegungen.
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2. die Herausbildung einer kolonialen Gesellschaftsstruktur und eines kolonialen Machtgefälles durch politisch-institutionelle Festschreibung, aber auf der Basis der sich entfaltenden Ökonomie eines abhängigen Kapitalismus; 3. die Verfestigung dieses abhängigen Kapitalismus auch nach der Dekolonisation und nach dem Beginn der Industrialisierung, unter langer Beibehaltung der Mechanismen außerökonomischen Zwangs, bei gleichzeitigem Vordringen ›modernerer‹ Produktionsweisen nach der Liberalisierung des Bodenmarkts und der zunehmenden Kapitalisierung landwirtschaftlicher Arbeitsverhältnisse seit dem 19. Jahrhundert; 4. die Zunahme der Monokultur der großen Plantagenkonzerne, später der multinationalen Korporationen, und 5. die verschiedenen, aber gleichgerichteten Versuche des 20. Jahrhunderts, von Staats wegen zu ›modernisieren‹ und die Außenabhängigkeit abzubauen. Bauern und bäuerliche Bewegungen oder Organisationen haben in diesem Rahmen zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Regionen unterschiedliche Chancen gehabt. Ihr Widerstand war aber insgesamt persistent, wenn auch sehr unterschiedlich ausgeprägt, jedenfalls unter bestimmten Bedingungen. So viel in aller Kürze und Vereinfachung summarisch zu den allgemeinen Charakteristika. Bevor nun, ebenso summarisch, versucht wird, einiges von dem zusammenzufassen, was sich über bäuerlichen Widerstand sagen lässt, über dessen Träger und Formen, ist es notwendig, kurz auf die unterschiedlichen Untergruppen der Universalkategorie ›Bauern‹ und einige ihrer Probleme, auf die unterschiedlichen Koalitionsmöglichkeiten und das gesamtpolitische Umfeld im 20. Jahrhundert (Revolutionen und Reformen) einzugehen und ein kurzes Resümee zu geben über eine Reihe von exemplarischen Bauernbewegungen in Lateinamerika.
2. Zur Differenzierung der ›Bauern‹ Hier ist zu reden über Institutionen, über die Landverteilung, über Arbeitsverfassungen und deren Übergänge, über den Marktbezug, im abhängigen Kapitalismus auch über dessen internationale Verflechtungen, über den techno logischen Wandel, über die unterschiedlichen Typen von Bauern und landwirtschaftlichen Produzenten und über bäuerliche Migrationen und deren Bedingungsfaktoren und Folgen wie Unterbeschäftigung und Marginalität. Vieles davon kann hier nur angedeutet werden. Im lateinamerikanischen Kontext haben wir es im Wesentlichen mit drei institutionellen Ausgangstypen von Landverteilung und Arbeitsverfassung zu tun: der indianischen Dorfgemeinschaft, der Hacienda und der Plantage. 1. Die indianischen Dorfgemeinschaften finden sich besonders in den Gebieten der alten Hochkulturen, sind aber seit dem 19. Jahrhundert in einer neuen Welle noch einmal zusätzlich zurückgedrängt worden. 335
2. Die koloniale hispanische hacienda und die Arbeitsverfassung der encomienda gehören eng zusammen. Ein conquistador bekam von der Krone außer einem bestimmten Stück Land auch das Recht auf die Arbeitskraft einer bestimmten Anzahl von Leuten, entweder auf dem Gebiet der hacienda oder aus den umliegenden Dorfgemeinschaften zugewiesen (encomienda). Die hacienda war damit gleichzeitig ein Wirtschaftsunternehmen und soziale Lebenswelt. Sie war voller Abhängigkeitsstrukturen und Abschöpfungsmechanismen, über Steuern, über Warenhandel, die Dienstpflichten der Dorfgemeinschaften und durch die Verbindungen zu anderen Zwangsarbeitseinrichtungen in den umliegenden Bergwerken oder Manufakturen. Diejenigen, die Zwangsarbeit leisten mussten, wohnten entweder mit ihrer Familie auf dem Gebiet der hacienda (acasillados) oder sie kamen oft allein von außen zur Arbeit. Es gab unterschiedliche Arten der Pächter und der Schuldknechte, sie arbeiteten für die Nahmärkte ebenso wie für die Fernmärkte.17 3. Plantagen sind demgegenüber kapitalistische Unternehmungen, die so gut wie ausschließlich für die Fernmärkte produzieren und entsprechend von den internationalen Preiskonjunkturen für die Monokulturprodukte, die sie erzeugen, abhängen. Die typische Arbeitsverfassung der Plantagen war die Sklavenwirtschaft, wobei die Sklaven der Karibik, des Isthmus, in Venezuela, Brasilien sowie in Ecuador, Kolumbien und Peru an der Westküste in der Regel, solange dies möglich war, neu importiert und nicht, wie in den Südstaaten der USA, selbst aufgezogen wurden.18 Die Aufhebung zunächst des Sklavenhandels, dann der Sklavenarbeit und der Institution der Sklaverei überhaupt im Zuge des 19. Jahrhunderts führte dazu, dass sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert überall Mischverfassungen der Arbeit herausgebildet hatten, die zunehmend auch die kategorialen Unterschiede zwischen hacienda und Plantage verwischten. Der Weg zur ›freien‹ Lohnarbeit als der ›fortschrittlichsten‹ kapitalistischen Form von ländlicher Arbeit ist hier gepflastert mit einer ganzen Reihe sehr wichtiger Übergangsformen in den landwirtschaftlichen Arbeitsverfassungen, von denen insbesondere für Kuba und Brasilien das Kolonat (colonato, in Peru analog: enganche) untersucht worden ist. Es handelt sich dabei um ein Pacht- und Siedlungsverhältnis der ganzen Familie, das auch ausdrücklich die Bedeutung der Frauenarbeit hervorhebt.19 Im 20. Jahrhundert haben wir es dann in Lateinamerika überwiegend mit zwei unterschiedlichen Klassen von ländlichen Arbeitskräften zu tun: einerseits 17 R. Liehr, Entstehung, Entwicklung und sozialökonomische Struktur der hispanoamerikanischen Hacienda, in: H. J. Puhle (Hg.), Historische Realität und Dependencia-Theorien, Hamburg 1977, S. 105–146; Huber u. Safford (Hg.), Agrarian Structure; Larson, Cochabamba. 18 H. S. Klein u. B. Vinson III, African Slavery in Latin America and the Caribbean, Oxford 2007; H. S. Klein u. F. Vidal Luna, Slavery in Brazil, Cambridge 2010. 19 V. Stolcke, Coffee Planters, Workers and Wives. Class Conflict and Gender Relations on Sao Paulo Plantations, 1850–1980, Oxford 1988; R. Scott, Slave Emancipation in Cuba: The Transition to Free Labor, 1860–1899, Princeton 1985.
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mit freien Bauern und andererseits mit Kleinpächtern und Lohnarbeitern. Die freien Bauern finden wir überwiegend in den noch existierenden Dorfgemeinschaften, dort, wo sich die haciendas noch nicht ausgedehnt haben, meist auf den schlechteren Böden. Die Zahl der bessergestellten ›mittleren‹ Bauern ist dabei deutlich beschränkt. Wir finden sie ferner in entlegenen Seitentälern oder auf Bergen hinter den Plantagen in den Küstengebieten (z. B. in Peru), in Grenzregionen, auf dem Altiplano oder in den Reduktionen umgesiedelter colonos, die anderswo vertrieben worden waren (z. B. im kubanischen Oriente oder in Santander und Antioquia in Kolumbien). In Mexico heißen sie auch rancheros, in Brasilien sitiantes. Zu den Kleinpächtern und Lohnarbeitern gehören auf einer gleitenden Skala in Institutionen, die teilweise noch die Mechanismen der alten Zwangsarbeit und Schuldknechtschaft widerspiegeln können, die peones, auf dem Altiplano auch pongos oder huasipungos, die inquilinos (eine den ostelbischen Instleuten nicht unähnliche neuere Form der acasillados), sowie die arendires (Teilpächter). Die ›freien‹ Lohnarbeiter können fest oder saisonal oder im Tagelohn beschäftigt sein (braceros, jornaleros). Wichtig ist, dass es vielfältige Mischformen gibt oder personale Identität zwischen Landarbeitern, Kleinpächtern und bäuerlichen Existenzen, besonders unter den Arbeitskräften der großen Zucker- oder Baumwollplantagen oder -haciendas. Hier muss differenziert werden zwischen bäuerlichen Mentalitäten und Organisationsformen einerseits, mit einer starken Bindung an ein bestimmtes Stück Land und dem Bestreben, den Landbesitz zu behaupten oder zu vergrößern, und der Mentalität eines landwirtschaftlichen Proletariats auf der anderen Seite, das gewerkschaftliche Forderungen stellt und in dem sich die Feldarbeiter oft an den organisationstechnisch ›fortgeschritteneren‹ Werkstattarbeitern orientieren und in bestimmten Fällen (z. B. La Libertad an der peruanischen Nordküste) am Ende einer braven Angestelltengewerkschaft angehören.20 Ebenso muss die Dauerhaftigkeit der Repression durch die Mechanismen außerökonomischen Zwangs in Betracht gezogen werden, die in der Landwirtschaft nicht geringer ist als in den Minen. Dazu gehören das truck-System, die Einrichtung von pulperías, die Spirale der Verschuldung und die Abhängigkeit von den Besitzern, von den Regeln der Polizei, vom Staat. Die Frage, wie revolutionär Landarbeiter (oder Kleinpächter) eigentlich seien, ist in der Forschung wie in der Politik unterschiedlich beantwortet worden: Lenin und Mao Tse Tung gingen – die konkreten Beispiele Russlands und Chinas vor Augen – davon aus, dass die Landarbeiter wichtige Träger der Revolution seien, Eric Wolf hat das Gegenteil betont.21 Im Hinblick auf die empirischen Ergebnisse muss 20 Kammann, Landarbeiterbewegung, S. 174 ff., 343 ff. 21 W. I. Lenin, Das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Bauernbewegung (1905), in: ders., Ausgewählte Werke, Bd. 1, Berlin 1959, S. 472–480; Mao Tse-Tung, Analyse der Klassen in der chinesischen Gesellschaft (1926), und: Untersuchungsbericht über die Bauernbewegung in Hunan (1927), in: ders., Ausgewählte Werke, Bd. 1, Peking 1968, S. 9–19 u. 21–63; Wolf, Peasant Wars, S. 276 ff.
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man sagen, dass Landarbeiter in ihrer Mehrheit eher nicht sonderlich revolutionär sind, obwohl es gelegentliche Ausnahmen gibt, die oft aber relativ untypisch sind, wie z. B. in Chile nach 1970. Nach der Aufteilung der vormals kollektiv gebundenen Ländereien (desamor tización) und dem Ausbau der Monokulturen, insbesondere für Zucker und Baumwolle, ist es allerorten zur Ausweitung der haciendas und Plantagen und zur Verdrängung der auf ihrem Gebiet liegenden Dorfgemeinschaften gekommen: Beispiele dafür liefern Guatemala, Yucatán, Morelos, La Libertad (Peru) und Kuba. Die zunehmende Mechanisierung und Maschinisierung zusammen mit der Bevölkerungszunahme hat überdies zu chronischen Zuständen der Unterbeschäftigung geführt, die ihrerseits Migrationen in die Städte ins Werk gesetzt haben, mit entsprechender Aufblähung der marginalen Sektoren, deren Bewohner aber kaum noch Kontakt zum Land haben. Auch die marginados sind bislang relativ wenig rebellisch gewesen, sie haben sich in bestimmten Ländern eher von reformistischen Bewegungen umwerben lassen (wie z. B. den Christdemokraten in Chile). Wichtig für die Organisation der Bewegungen ländlicher Unterschichten ist stets die Markt- und Stadtnähe. Besonders die Nähe zur Stadt ermöglicht es den ländlichen Bewegungen, Erfahrungen, und oft auch Führer, mit städtischen Unterschichtenbewegungen auszutauschen, was sich in der Geschichte Lateinamerikas im 20. Jahrhundert als eminent wichtig erwiesen hat (Morelos, Michoacán, Veracruz, Cochabamba/Bolivien, der kubanische Oriente).
3. Revolution und Reformen im 20. Jahrhundert und die Bauern Das 20. Jahrhundert ist in der ehemals kolonisierten Welt das Jahrhundert der nationalen Befreiungsbewegungen oder der revolutionären oder reformistischen nationalrevolutionären und antiimperialistischen Populistenbewegungen. Diese Bewegungen haben ein deutlich artikuliertes emanzipatorisches Potential. Ihre wichtigsten Träger sind das lokale Bürgertum und die Mittelschichten. Der Appell an die Unterschichten, ans ›Volk‹, wird von oben als gezieltes Mittel zu nation building und zur Vermehrung nationaler Integration eingesetzt, die ihrerseits oft den mühsamen Prozess des state building abstützen müssen, der die wichtigste Voraussetzung für geplante und kontinuierliche Entwicklungspolitik ist. Auf die entsprechenden Mechanismen und Ausformungen ist weiter oben im Beitrag über Populismus bereits hingewiesen worden, sodass hier nur einige kurze und mehr spezifische Hinweise genügen können. Um in den Ländern der ›Südkontinente‹ Abhängigkeit reduzieren und ›Entwicklung‹ vermehren zu können, müssen umfangreiche politische und soziale Ressourcen mobilisiert werden. Dazu braucht man breite Koalitionen und umfassende Bewegungen, die ohnehin auch schon aufgrund der notorischen 338
Schwäche einzelner Klassen- oder Regionalbewegungen (etwa der Arbeiter, der Bauern oder der Bewohner eines Seitentals allein) naheliegen. Entsprechend empfiehlt sich die klassenübergreifende ›populistische‹ und nationalistische Agitation und Organisation mit dezidiert ›antiimperialistischer‹ Zielrichtung und dem Versuch, alle Kräfte ›des Volkes‹ wirksam zu bündeln gegen seine ›Feinde‹, vor allem die interne ›Oligarchie‹ und das übermächtige Ausland. Nationalismus und Populismus können zudem bei der inneren Integration ebenso helfen wie bei der Mobilisierung (und Kontrolle) der Massen, dem Appell an die Opferbereitschaft und der Bewältigung von ›Durststrecken‹. Dabei sind allerdings die Beziehungen zwischen den primär städtischen nationalistischen Bewegungen und den Bauern schon auf Grund der lokalen Orientierung der letzteren oft sehr problematisch gewesen. In den Ländern der ›Dritten Welt‹ haben bis ins letzte Viertel des 20. Jahrhunderts zahlreiche Bewegungen und Regime versucht, solche ›antiimperialistischen‹ Entwicklungskonzepte und Politiken umzusetzen, oft inspiriert vom Vorbild der russischen ›narodniki‹ (sozusagen des Archetyps des antiimperialistischen und nationalistischen Populismus). Dabei haben sie in unterschiedlicher Weise nationalistische Agitation mit sozialrevolutionären oder radikalreformerischen Absichten verbunden, insbesondere auch (wenn auch nicht überall) mit Plänen zur Agrarreform. Sie haben die eingesessenen Oligarchien und den Auslandseinfluss bekämpft und klassenübergreifend ans ›Volk‹ appelliert, vor allem an die Massen unterhalb der oberen Mittelschichten, jedoch nicht spezifisch an die Arbeiterschaft oder an die Bauern. Als Mobilisierungsinstrumente dienten ihnen außer Parteien insbesondere Gewerkschaften, Bauernorganisationen und Genossenschaften, Milizen und Agrarkommunen, in militärischen Entwicklungsdiktaturen auch Offizierslogen. Nahezu alle größeren Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas haben im 20. Jahrhundert Phasen prononciert populistischer und nationalistischer Politik aufgewiesen.22 Selbst der chinesische Maoismus hat gewisse Züge eines populistischen Nationalismus nicht verleugnet, die sich aus der Pflege nationaler Traditionen und vor allem aus der Konzeption der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) als einer Vielklassenpartei ergaben. Die zentrale Rolle der Bauern in der chinesischen Revolution ist allerdings in der Ideologie und in den strategischen Schriften Mao Tse Tungs wesentlich stärker betont worden, als sie in der Praxis wirklich gewesen ist. In Lateinamerika tritt der neue, prononciert antiimperialistische Nationalismus im ersten Jahrzehnt der mexikanischen Revolution nach 1910 und dann vermehrt in den 1920er Jahren auch in anderen, größeren, stärker urbanisierten und ansatzweise industrialisierenden Ländern in Erscheinung, vor allem in Mexico, Argentinien, Brasilien und Chile. An dieser Stelle kann nicht eingegangen 22 Vgl. im einzelnen auch H. J. Puhle, Populismus: Form oder Inhalt?, in: H. R. Otten u. M. Sicking (Hg.), Kritik und Leidenschaft. Vom Umgang mit politischen Ideen, Bielefeld 2011, S. 29–47, sowie den Beitrag in diesem Band.
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werden: erstens auf die traditionelle Schwäche des lokalen Bürgertums, das vom Staat und vom Ausland abhängig war, in dessen Interesse auch die Modernisierung stattfand; zweitens auf den interessanten Prozess des Versuchs der kulturellen Befreiung von Europa (oder später den USA) durch die Besinnung auf eigene Traditionen, wie z. B. die mexikanische Mestizenkultur und den indigenismo in Peru, der eine wichtige Funktion im Zuge der Gleichsetzung von ›campesino‹ und ›indio‹ (neuerdings: indígena) hat.23 Ebenso wenig kann drittens auf die einzelnen Phasen der antiimperialistischen Bewegungen eingegangen werden: Hier ist eine erste Welle linksliberaler, ›radikaler‹ Bewegungen seit den zwanziger Jahren in Chile, Argentinien, vorher bereits in Uruguay, zu unterscheiden von den populistischen, national revolutionären Bewegungen, Vielklassenallianzen, die immer auch Bauern einschlossen, sich in Mexico, Bolivien, Kuba und Nicaragua revolutionär und in den meisten anderen Ländern reformistisch betätigten. Diese Bewegungen waren sehr verschieden in Bezug auf ihre soziale Basis, ihre Mobilisierungskanäle und ihre politischen Interaktions- und Herrschaftstechniken. Es lassen sich grob vier Gruppen unterscheiden, demokratische ebenso wie undemokratische (dazu ausführlicher im vorhergehenden Beitrag). Insgesamt repräsentieren sie eine schon fortgeschrittene Modernisierungsstrategie, die weitgehend an die der Radikalen anschließt. Ihre Blütezeit waren die Jahre zwischen 1930 und 1965/73. Danach sind sie oft abgelöst worden von bürokratisch-autoritären Regimes, Militärregimes mit umfassenden technokratischen Zielsetzungen gesellschaftlicher Kontrolle und Modernisierung, mit Alliierten im zivilen Sektor und im Ausland.24 Auch in der ersten Phase der ›transitions from authoritarian rule‹ und der Redemokratisierung seit den 1980er Jahren haben die alten populistischen Nationalbewegungen zunächst wieder hohe Bedeutung erlangt, weil sie vielfach die einzigen nicht-autoritären Alternativen waren.25 In Peru folgten zunächst auf die Militärherrschaft die Regierungen der christdemokratischen Acción Popular (AP) und schließlich der APRA. In Bolivien übernahm bis 1989 wieder das MNR die Macht, mit den alten caudillos aus den fünfziger Jahren;
23 Vgl. ausführlicher H. J. Puhle, Lateinamerika: Probleme des Übergangs von der Agrarwirtschaft zum modernen Industriestaat, in: K. Krakau (Hg.), Lateinamerika und Nordamerika, Frankfurt 1992, S. 116–128; zum Kontext auch H. J. Puhle, ›Revolution‹ von oben und Revolution von unten in Lateinamerika. Fragen zum Vergleich politischer Stabilisierungsprobleme im 20. Jahrhundert, in: GG, Jg. 2, 1976, S. 143–159; ders., Zwischen Diktatur und Demokratie. Stufen der politischen Entwicklung in Lateinamerika im 20. Jahrhundert, in: W. L. Bernecker u. a. (Hg.), Lateinamerika 1870–2000. Geschichte und Gesellschaft, Wien 2007, S. 15–33. 24 Zum Typus vgl. D. Collier (Hg.), The New Authoritarianism in Latin America, Princeton 1979; G. O’Donnell, Modernization and Bureaucratic Authoritarianism, Berkeley 1979. 25 Vgl. dazu G. O’Donnell u. a. (Hg.), Transitions from Authoritarian Rule, 4 Bde., Baltimore 1986; J. J. Linz u. A. Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation, Baltimore 1996; Puhle, Zwischen Diktatur und Demokratie.
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Victor Paz Estenssoro, der die Minen 1952 verstaatlicht hatte, privatisierte sie wieder im Jahre 1987. In Brasilien haben – bis zum Wahlsieg Collor di Mellos – nach den Militärs insbesondere jene Gruppen dominiert, die sich auf die rechte und die linke Traditionslinie aus dem Varguismo berufen konnten. In Argentinien haben zuerst die Radikalen und dann die Peronisten wieder die Regierung übernommen, und auch im Prozess der ›transition‹ und demokratischen Konsolidierung in Chile sind besonders die traditionellen Christdemokraten – trotz ihrer dubiosen Rolle im Jahre 1973 – und auf früheren Bewegungen aufbauende demokratische Sozialisten als Träger der langjährigen Regierung der ›concertación‹ hervorgetreten, die erst im Jahre 2010 abgelöst wurde. Auf diese erste Welle ›älterer‹ Populistengruppen sind in einer Reihe von Fällen Parteien und Bewegungen gefolgt, die man zwecks Unterscheidung oft auch ›Neo-Populisten‹ genannt hat, weil ihre Führer entweder kein ›Projekt‹ mehr hatten oder in erster Linie den Staat ausbeuteten (wie Collor de Mello in Brasilien, Fujimori in Peru, Menem und Kirchner in Argentinien, Bucarám in Ecuador) oder sie inzwischen erweiterte und umfassendere Ziele proklamiert haben (wie z. B. Chávez in Venezuela oder Evo Morales in Bolivien). Darauf wird noch zurückzukommen sein. In Mexico, dem einzigen Fall der Demokratisierung eines älteren (autoritären) populistischen Regimes, finden wir eine interessante Überlagerung von älteren populistischen Traditionen und neopopulistischen Energien, besonders unter der Präsidentschaft von Salinas (PRI) und Fox (PAN). – Im Rahmen unserer Fragestellung bleibt festzuhalten, dass insgesamt die bäuerlichen Anteile an den populistischen Bewegungen und Regimes begrenzt gewesen sind. Am geringsten waren sie in Argentinien und Brasilien, und auch im Falle der Liberación Nacional in Costa Rica, im Falle der venezolanischen Acción Democrática und der peruanischen APRA. Auch in Chile waren die bäuerlichen Anteile sowohl im Fall der Christdemokraten (1964–70) wie in dem der Unidad Popular des Präsidenten Allende (1970–73) nicht ausschlaggebend.
4. Bauernbewegungen in Lateinamerika Dieser Abschnitt beschränkt sich wesentlich auf das 20. Jahrhundert, wird jedoch gelegentlich auch auf ältere Traditionen hinweisen, die dieses Jahrhundert beeinflusst und in es hineingewirkt haben, zum einen in lokalen oder regionalen Kontinuitäten, zum anderen auch wie Versatzstücke relativ isolierter Verhaltensweisen. Seit der Kolonialzeit ist der Unterschied zwischen indianisch besiedelten und nicht indianisch besiedelten Regionen wichtig gewesen. In den indianisch besiedelten Regionen des ›Zentrums‹, Peru und Mexico, sind bereits den Unabhängigkeitskämpfen zu Beginn des 19. Jahrhunderts Massenaufstände mit sozialen Zielsetzungen (der Tupac Amaru-Aufstand und die von Hidalgo 341
und Morelos geführten Revolten) vorausgegangen, wie es sie sonst nirgendwo in Iberoamerika gegeben hat, wo die ›Unabhängigkeit‹ zunächst überwiegend eine Angelegenheit der regionalen Eliten blieb. Und in der weiteren ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlaubte es hier die notorische Schwäche der neuen Staaten, dass Bauernbewegungen gelegentlich auch in die Offensive gingen, wirkliche oder vermeintliche ›alte Rechte‹ einforderten und sich mit regionalen caudillos gegen den Staat verbündeten. Erst mit dem vermehrten Einbezug Lateinamerikas in den Weltmarkt seit dem späten 19. Jahrhundert sind die defensiven Züge der bäuerlichen Erhebungen gegen Enteignung und Verdrängung wieder stärker geworden.26 Die Mobilisierungsformen von Bauern im 20. Jahrhundert variieren in Lateinamerika wie auch anderswo in der Welt: Sie reichen von Dorfgemeinschaften und größeren Verbänden von Dorfgemeinschaften (wie in der Bauernarmee von Emiliano Zapata in Morelos, Mexico) über Genossenschaften und Gewerkschaften bis hin zu Milizen und Banden sowie zu guerrilla-Gruppen. Geführt werden solche Organisationen – mit der Ausnahme von Dorfgemeinschaften – meist von auswärtigen und städtischen Eliten. Weiterhin wird immer zu differenzieren sein, inwieweit die Bauernbewegungen autochthon oder autonom bleiben oder ob sie kanalisiert werden von oben, oder jedenfalls von außen, was der gängige Fall in revolutionären Prozessen z. B. in Mexico, Bolivien und Kuba gewesen ist. Oft ist dies auch in den Fällen reformistischer Modernisierung festzustellen, wie etwa in Venezuela im Verhältnis der 1935 gegründeten Federación Campesina de Venezuela zur Acción Democrática. Die nationalrevolutionären Populisten haben darüber hinaus oft auch Agrarreformen durchgeführt, und es wäre ein anderes wichtiges Thema zu untersuchen, was Agrarreformen in Lateinamerika, Asien und Afrika im Einzelnen den Bauern angetan haben. Erfahrungsgemäß misslingen sie immer, da sie die selbstgesetzten Ziele nie erreichen, und da selbst bei relativ gutem Ergebnis die Resultate in der Regel andere sind als die, die man beabsichtigt hatte.27 In Brasilien organisierten sich in der Epoche nach der autoritären VargasHerrschaft seit den fünfziger Jahren die Ligas Camponesas unter Führung 26 Vgl. J. Golte, Bauern in Peru, Berlin 1973; ders., Determinanten des Entstehens und des Verlaufs bäuerlicher Rebellionen in den Anden vom 18. zum 20. Jahrhundert, in: JbLA, Jg. 15, 1978, S. 41–74, und die Beiträge von F. Katz und J. Coatsworth in: F. Katz (Hg.), Riot, Rebellion, and Revolution. Rural Social Conflict in Mexico, Princeton 1988. 27 Zu den Agrarreformen vgl. u. a. O. Delgado (Hg.), Reformas agrarias en la América Latina, México 1965; A. García, Sociología de la reforma agraria en América Latina, Buenos Aires 1973; A. O. Hirschman, Journeys Toward Progress, New York 1973 (1. Aufl. 1963); ders., A Bias for Hope. Essays on Development and Latin America, New Haven 1975; zur Kritik R. Stavenhagen (Hg.), Agrarian Problems and Peasant Movements in Latin America, Garden City 1970; E. Feder, The Rape of the Peasantry, Garden City 1971; ders. (Hg.), Gewalt und Ausbeutung. Lateinamerikas Landwirtschaft, Hamburg 1973; G. Huizer u. R. Stavenhagen, Peasant Movements and Land Reform in Latin America. Mexico and Bolivia, in: H. A. Landsberger (Hg.), Rural Protest, Peasants Movements and Social Change, London 1974, S. 378–409.
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des Rechtsanwalts Francisco Julião in Pernambuco und im Nordosten, in Gebieten also, die schon im 19. Jahrhundert gewisse Aufstandstraditionen (z. B. Balaiada) aufgewiesen haben.28 In diesen Bewegungen hat Paolo Freire zuerst sein später weltweit bekannt gewordenes Konzept der »concientização« praktisch erprobt. Der Militärputsch von 1964 setzte diesen Bewegungen ein Ende, und die neueren Bewegungen nach dem Ende der brasilianischen Militärdiktatur haben insbesondere weiter im Inneren und im Nordosten auch die breiteren Zusammenhänge zwischen bäuerlicher Existenz und der Umweltproblematik thematisiert. Gleichzeitig entwickelte sich vor allem im Süden des Landes mit dem Movimento dos Sem Terra (MST) eine neue Bewegung besitzloser Landarbeiter und Kleinbauern, deren Gruppen seit den 1990er Jahren in einer Reihe von Einzelstaaten zu beachtenswerten politischen Akteuren geworden sind. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das MST (offiziell gegründet 1984) als überwiegend populistische Bewegung zur Verteidigung der Interessen der durch die Großfarmen des modernen Agrarkapitalismus bedrohten Familienbetriebe begann, unter Führung reicherer Bauern, die (im klassischen Muster) die Massen der agrarischen Unterschichten mobilisierten. Die Eigendynamik seiner Mobilisierung, die Entwicklung autonomer lokaler Partizipations- und Entscheidungsstrukturen und entsprechende Schulungsprogramme haben die Gruppen des MST jedoch inzwischen weit nach ›links‹ abdriften lassen, in (teilweise sehr radikale und intransigente) ›sozialistische‹ Positionen, die sich, in unterschiedlichen Allianzen mit ›grünen‹, feministischen und anderen Gruppen des linken Spektrums, zunehmend in die breite Front der ›bunten‹ Globalisierungsgegner integriert haben, die eine ganz neue Stufe auch der bäuerlichen Protestorganisation charakterisiert.29 In Peru hat die klassische Populistenpartei APRA seit 1930 relativ wenig Erfolg in der Mobilisierung bäuerlicher Schichten gehabt. Sie hat allerdings in vielen Fällen existierende Landarbeitergewerkschaften (etwa in La Libertad) gleichschalten und unter den Primat ihrer Politik bringen können. Die Unruhen der sechziger Jahre in La Convención (Cuzco) waren überwiegend ein Streik von Teilpächtern, die im Kaffeeanbau, den sie nebenher auf eigene Rechnung betrieben, relativ gut verdienten, gegen die Dienste, die sie noch zu leisten verpflichtet waren, und gegen die entsprechende Zeitinvestition, die dem Kaffeeanbau entzogen wurde. Er wurde mit zum Anlass für die zunächst umfassend geplante und mit vielen Vorschußlorbeeren bedachte Agrarreformpolitik des Militärregimes nach 1969. Die Bewegung von La Convención wurde ge28 C. Welch, Camponeses: Brazil’s Peasant Movement in Historical Perspective (1946–2004), in: Latin American Perspectives, Jg. 36,4, 2009, S. 126–155; M. Röhrig Assunção, Pflanzer, Sklaven und Kleinbauern in der brasilianischen Provinz Maranhão, Frankfurt 1993. 29 J. P. Stédile u. B. M. Fernandes, Brava Gente: A Trajetória do MST e a Luta pela Terra no Brasil, São Paulo 1999; C. Welch, Peasants and Globalization in Latin America. A Survey of Recent Literature, in: Revista Nera, Jg. 7,5, 2004, S. 102–112; L. Vergara-Camus, The Politics of the MST: Autonomous Rural Communities, the State and Electoral Politics, in: Latin American Perspectives, Jg. 36,4, 2009, S. 178–191.
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führt von dem Trotzkisten Hugo Blanco, und auch in zahlreichen Unruhen in Bolivien und in der guerrilla in Kolumbien in den sechziger Jahren waren trotz kistische Einflüsse städtischer Eliten unverkennbar.30 Ein ganzes Trotzkismussyndrom finden wir in der zentralamerikanischen guerrilla seit den dreißiger Jahren. Trotzkistische Zielsetzungen und Interpretationen hatten eine große Attraktion für die radikalen städtischen Intellektuellen und Studenten mit dem Drang zur Tat, die oft zu den Führern bäuerlicher Bewegungen wurden (und die in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen vielleicht Anarchisten oder Blanquisten geworden wären). Trotzkismus war attraktiv, weil er den Widerstand auf Dauer stellte (›Permanente Revolution‹) und weil er in den Jahrzehnten vor der Breitenwirkung der Revolutionen von Mao Tse Tung und Castro ein konkurrenzloses ideologisches Angebot mit internationaler Affiliation machen konnte. Über die eigentlichen Beweggründe oder Meinungen der Bauern sagen diese Zusammenhänge allerdings relativ wenig aus. Trotzkistische Elemente, Versatzstücke oder Propagandapunkte finden wir in den dreißiger Jahren insbesondere in der Sandinobewegung in Nicaragua (nicht zu verwechseln mit der späteren Sandinistenbewegung, die keine Bauernbewegung, sondern eine klassenübergreifende Populistenbewegung war), die aus Bauernrevolten in den nördlichen Bergen der Segovias hervorgegangen war; in El Salvador in der Bewegung von Farabundo Martí, die in der blutigen ›Matanza‹ von 1932 niedergeschlagen wurde. Beide Bewegungen waren regional sehr eng begrenzt.31 Auch in den seit der Errichtung des Militärregimes im Jahre 1954 bis in die zweite Hälfte der 1990er Jahre (und in einigen Enklaven bis heute) kontinuierlichen Repressionen, in der Gewaltsamkeit und Violenz in Guatemala hat es eine dauerhafte Beteiligung von Bauern gegeben, insbesondere im Protest gegen die Repression auf den haciendas und Plantagen im Norden, und städtische Führungseliten, die oft Trotzkisten waren (z. B. Jon Sosa, Turcios Lima).32 Die sandinistische Revolution in Nicaragua (1979), die guerrilla in El Salvador, die gegenrevolutionären Aktivitäten der von der Reagan Administration geförderten ›Contras‹ und der sich in den 1980er Jahren aufschaukelnde zentralamerikanische Bürgerkrieg (dessen Folgen noch lange nicht überwunden 30 W. Craig, Jr., Peru: The Peasant Movement of La Convención, in: H. A. Landsberger (Hg.), Latin American Peasant Movements, Ithaca 1969, S. 276–278; H. Blanco, Tierra o Muerte. Las luchas campesinas en el Perú, México 1972; E. R. Wolf, Die Phasen des ländlichen Protests in Lateinamerika, in: E. Feder (Hg.), Gewalt und Ausbeutung. Lateinamerikas Landwirtschaft, Hamburg 1973, S. 273–286; R. Gott, Rural Guerrilla in Latin America, Harmondsworth 1973 (1. Aufl. 1970). 31 G. Selser, Sandino, General de hombres libres, San José 1979; V. Wünderich, Sandino. Eine politische Biographie, Wuppertal 1995; problematisch T. P. Anderson, El Salvador’s Communist Revolt of 1932, Lincoln 1971. 32 Gott, Rural Guerrilla, S. 6–149; S. Jonas, Guatemala: Land of Eternal Struggle, in: R. H. Chilcote u. J. C. Edelstein (Hg.), Latin America. The Struggle with Dependency and Beyond, New York 1974, S. 89–219, bes. 148 ff.
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sind) haben allerdings isolierbare ›bäuerliche‹ Aktivitäten für eine ganze Zeit mehr in den Hintergrund treten lassen, obwohl Bauern an allen aufständischen, revolutionären und guerrilla-Bewegungen beteiligt waren und die meisten Programme der insurgenten Bewegungen auch agrarreformerische Ziele aufwiesen.33 In Mexico finden wir neuere Bauernbewegungen seit dem Beginn der libe ralen Landpolitik und der Ausweitung der haciendas in den 1840er Jahren. Die ganze zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts dauerte der Rassenkrieg in Yuca tán, die guerra de castas, eine Bauernbewegung gegen die haciendas, die genau an der ›Grenze‹, an der Peripherie der besiedelten Regionen stattfand, die auch weiterhin anfällig für Bauernrevolten blieb.34 Die Grenzregion ist auch im Norden wichtig: Hier gab es den Aufstand der Yaqui-Indianer35 und später die Bewegung von Pancho Villa in der Revolution. Die Bewegung von P ancho Villa war keine reine Bauernbewegung, sondern eine gemischte Bewegung von Militärkolonisten, Bauern, Banditen, ländlichen und kleinstädtischen Proletariern, die eine Berufsarmee mit bäuerlichen Zügen bildeten. Wenn den Soldaten Villas auch am Ende Land versprochen wurde, so war dessen Politik doch nicht primär auf Agrarreformen gerichtet. Im Gegenteil wurden die unter der Herrschaft von Pancho Villa enteigneten Latifundien staatlich verwaltet, und ihre Erträge flossen einer zentralen Kasse zu, die vor allem den Sold für die Armee finanzierte.36 Der klassische Fall einer relativ homogenen und reinen Bauernbewegung ist die Revolution in Morelos unter der Führung von Emiliano Zapata, in der die militärisch organisierten (und schlecht finanzierten) Dorfgemeinschaften Front machten gegen die Zuckerhaciendas, die sie zunehmend verdrängt hatten. Die Zapata-Bewegung ist gekennzeichnet durch bestimmte Stufen: juristischer Protest, dann politischer Protest, schließlich Gewalt. Ihr Agrarprogramm, das klar auf Landverteilung abzielte (Plan von Ayala), wurde zum Vorbild für die ent33 W. LaFeber, Inevitable Revolutions. The United States in Central America, New York 1984; M. Diskin (Hg.), Trouble in Our Backyard. Central America and the United States in the Eighties, New York 1983; W. Grabendorff u. a. (Hg.), Political Change in Central America: Internal and External Dimensions, Boulder 1984; E. J. Wood, Insurgent Collective Action and Civil War in El Salvador, Cambridge 2003; S. Kurtenbach, Ende gut, alles gut? Vom Krieg zum Frieden in Zentralamerika, in: S. Kurtenbach u. a. (Hg.), Zentralamerika heute. Politik, Wirtschaft, Kultur, Frankfurt 2008, S. 253–277. 34 I. Buisson, Gewalt und Gegengewalt im ›guerra de castas‹ in Yukatan, 1847–1853, in: JbLA, Jg. 15, 1978, S. 7–28; B. Riese, Kulturelle Aspekte indianischer Gewalt im Kastenkrieg in Yukatan, in: Ebd., S. 29–40; E. Montalvo Ortega, Revolts and Peasant Mobilization in Yucatán, in: F. Katz (Hg.), Riot, 295–317. 35 E. Hu-De Hart, Peasant Rebellion in the Northwest: The Yaqui Indians of Sonora, 1740– 1976, in: Ebd., S. 141–175. 36 F. Katz, The Life and Times of Pancho Villa, Stanford 1998, sowie ders., Agrarian Changes in Northern Mexico in the Period of Villista Rule, 1913–1915, in: J. W. Wilkie u. a. (Hg.), Contemporary Mexico, Berkeley 1976, S. 259–273; ders., Pancho Villa, Peasant Movements and Agrarian Reform in Northern Mexico, in: D. A. Brading (Hg.), Caudillo and Peasant in the Mexican Revolution, Cambridge 1980, S. 59–75.
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sprechenden Passagen der mexikanischen Verfassung von 1917. Die ZapataBewegung war stark in ihrem eigenen Gebiet, außerhalb dieses Gebiets war sie jedoch schwach und unerfahren und konnte schließlich von den Armeen der Revolutionsgenerale zerschlagen werden.37 Ebenso blieben die schwächeren Bewegungen von Primo Tapia in Michoacán und von Ursulo Galván in Veracruz kurzlebig und erwiesen sich anfällig gegenüber der Gleichschaltung von oben (Tejeda in Veracruz), insbesondere durch die späteren Partei- und Verbandsgründungen der sonorensischen Revolutionselite. Die Reformpolitik des Präsidenten Cárdenas in den dreißiger Jahren betonte noch einmal die agrarreformerischen Komponenten der mexikanischen Revolution und förderte gerade dadurch die endgültige Gleichschaltung aller regionalen bäuerlichen und ländlichen Bewegungen zum ›sector campesino‹ der mexikanischen Staatspartei der Revolution.38 Unter dem von der Zapata-Bewegung inspirierten Verfassungsartikel konnten insbesondere landbesitzende Ausländer enteignet und große Latifundien zerschlagen sowie kollektive Betriebe (ejidos) errichtet werden, die 1960 43 Prozent der bebauten Fläche des Landes ausmachten. Eine weitere agrarreformerische Welle gegen Ende der fünfziger Jahre wurde ausgelöst durch Aufstände und Landbesetzungen in einigen traditionell resistenten nördlichen Gebieten (Cananea). Deren Intensität ging jedoch ebenso wie der Anteil der ejido-Betriebe seit den 1970er Jahren durch die Ausweitung des Agrobusiness wieder zurück, z. B. des berühmten ›Erdbeerimperialismus‹ in Michoacán, durch weitere Kartellierung und Kommerzialisierung der Landwirtschaft.39 Eine neue Stufe erreichten Bauernprotest, Bauernorganisation und Bauernbewegung in Mexico erst wieder im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mit dem Aufstieg der Zapatistenbewegung in Chiapas. Die Zapatistas des EZLN sind nicht nur eine Protest- und guerrilla-Bewegung ganz neuer Art (mehr dazu weiter unten), sie stehen auch für die breite Front und bunte Reihe mobilisierter, basispartizipatorischer, mikroautonomistischer und gleichzeitig international gut vernetzter Allianzen fundamentaler Globalisierungskritiker, die neben den Zielsetzungen 37 J. Womack, Jr., Zapata and the Mexican Revolution, New York 1968; A. Warman, … Y venimos a contradecir. Los campesinos de Morelos y el estado nacional, México 1976. 38 H. Fowler-Salamini, Revolutionary Caudillos in the 1920s: Francisco Múgica and Adalberto Tejeda, in: D. A. Brading (Hg.), Caudillo and Peasant in the Mexican Revolution, Cambridge 1980, S. 169–192; Purnell, Popular Movements; H. W. Tobler, Die mexikanische Revolution, Frankfurt 1984; ders., Peasants and the Shaping of the Revolutionary State, 1910–1940, in: F. Katz (Hg.), Riot, S. 487–518; L. González, Los días del presidente Cárdenas (Historia de la Revolución Mexicana 15), México 1981; A. Hernández Chávez, La mecánica Cardenista (Historia de la Revolución Mexicana 16), México 1979. 39 E. N. Simpson, The Ejido: Mexico’s Way Out, Chapel Hill 1937; Huizer u. Stavenhagen, Peasant Movements, S. 382 ff.; R. Rott, Kleinbauern im Transformationsprozess des Agrar sektors: Das mexikanische Beispiel, Saarbrücken 1978; E. Feder, Erdbeer-Imperialismus. Studien zur Agrarstruktur Lateinamerikas, Frankfurt 1980; das Gewicht des kontinuierlichen Einflusses der USA betont u. a. D. Nugent (Hg.), Rural Revolt in Mexico. U. S. Intervention and the Domain of Subaltern Politics, Durham 1998.
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von Arbeiter- und Bauernbewegungen auch solche der Frauen- und Umweltbewegungen und oft auch (wie in diesem Fall) neuer Bewegungen von ›ethnic revival‹ mit politischen Zielen aufgenommen haben.40 In Bolivien hat es seit Beginn des 20. Jahrhunderts in bestimmten Gebieten mit freien Bauern vereinzelte Aufstände gegeben, von denen die bekanntesten die unter Führung von Willka Zárate nach 1898, diejenigen um 1927 und vor allen Dingen die Bauernbewegung von Ucureña in Cochabamba unter Führung von José Rojas seit 1936 gewesen sind. Die Forderungen der letzteren wurden außerdem auch von den aus dem Chaco-Krieg heimkehrenden militärischen und zivilen Reformeliten unterstützt. Die Aufnahme der von der Ucureña-Bewe gung propagierten Forderung nach moderater Agrarreform in das Programm der späteren Revolutionspartei MNR wurde 1944 von den Organisationen der Großgrundbesitzer (die ebenfalls am MNR partizipierten) torpediert. Die Bauern konnten sich seit 1945 zunächst nur auf den Kongressen der indígenas artikulieren. Die MNR-Revolution von 1952 hatte vorerst kein Agrar programm. Erst ein Jahr später, 1953, konnte die Rojas-Bewegung ein umfassendes Agrarreformgesetz und eine entsprechende Beteiligung eines neuen Bauernverbandes, der CNTCB (Confederación Nacional de Trabajadores Campesinos de Bolivia), am nachrevolutionären Regime durchsetzen.41 Die Agrarreform war in Bolivien (auf Grund der unterschiedlichen Höhenlagen und Bodenwerte einerseits und der agrarischen Traditionen andererseits) ungeheuer schwer durchzuführen, blieb immer wieder in Ansätzen stecken, hatte aber einen hohen politischen Symbolwert auf Grund der in der revolutionären Anerkennung der Bürgerrechte angelegten Tendenzen zur Integration der illi teraten indianischen Bauern in die Bahnen nationaler Politik. In Bolivien hat es allerdings bis ans Ende des 20. Jahrhunderts zunächst keine Versuche zur Wiederbelebung kommunaler Betriebsformen gegeben (wie z. B. in Mexico). Auch in Bolivien bedeutete die Beteiligung der organisierten Bauernbewegung am nachrevolutionären Regime einen Schritt weg von deren Autonomie. Ein weiterer entscheidender Schritt zu deren Gleichschaltung und deren Einbau in das jetzt militärisch geführte Revolutionsregime war die Gründung der Bauernmilizen in Cochabamba durch den Präsidenten Barrientos nach 1964. Die erste Bauernmobilisierung in Santa Cruz durch den späteren Generalspräsidenten Banzer sicherte ab 1970 die caudillistische Hausmacht eines neuen, im Ansatz bürokratisch-autoritären Regimes, das auf dem Land durchaus auch Refeudalisierungstendenzen beförderte. Dass die bolivianischen Agrarrefor40 Vgl. Anm. 3 sowie J. Nash, Mayan Visions: The Quest for Autonomy in an Age of Globalization, New York 2001; R. Menchu, Trenzando el futuro: luchas campesinas en la historia reciente de Guatemala, Donostia 1992; M. Edelman, Peasants Against Globalization. Rural Social Movements in Costa Rica, Stanford 1999 (ohne ethnische Einfärbung); zum Gesamtkomplex A. A. Desmarais, La Vía Campesina. Globalization and the Power of Peasants, Peterborough, Ont. 2007. 41 Huizer u. Stavenhagen, Peasant Movements, S. 392–399.
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men nach 1953 aber zumindest in bestimmten Gebieten in der Mentalität der Bauern Spuren hinterlassen hatten, zeigte 1967 auch die Erfolglosigkeit (mit Todesfolge) des Che Guevara und seiner guerrilleros im bolivianischen Dschungel.42 Wie in Mexico brauchte auch in Bolivien das neue Regime die organisierten Bauern, übernahm dafür deren Forderungen nach Agrarreformen, und schaltete sie später weitgehend gleich, ohne damit allerdings bäuerlichen Widerstand völlig ausschalten zu können. Periodisch kam er wieder hoch, besonders im Widerstand der überwiegend indigenen Coca-Bauern (zuerst meistens in Cochabamba) gegen die – auch unter dem Druck der USA verfügten – Produktionsbeschränkungen und die neoliberale Marktpolitik der letzten Präsidenten des MNR bis 2005. In diesem Jahr markierte die Wahl des Führers der Gewerkschaft der Coca-Bauern, Evo Morales, zum Staatspräsidenten (noch dazu erstmals in jüngerer Zeit mit absoluter Stimmenmehrheit) einen bedeutsamen Wendepunkt der bolivianischen Politik und auch im Verhältnis der ›Bauern‹ zum Staat. Auffallend sind allerdings auch bestimmte Kontinuitäten: Zum einen stehen neben vielen anderen Punkten auch die agrarpolitischen Ziele (= umfassende Agrarreform) der Regierung Morales und des sie tragenden Movimiento al Socialismo (MAS) deutlich in der Tradition der MNR-Revolution von 1952/53, auch wenn sie eine breitere und inklusivere Geltung beanspruchen und die Forderungen der indigenen Gemeinschaften zusätzlich berücksichtigen. Zum anderen haben auch die Bauernorganisationen nach einigen kurzen Jahren des ›honeymoon‹ mit dem Präsidenten (der immer noch gleichzeitig Vorsitzender seiner Bauern gewerkschaft ist) seit der zweiten Amtszeit von Morales periodisch wieder zur alten Praxis von Bauernprotest und Landarbeiterstreiks gegen die Regierung (und das System) zurückgefunden.43 Auch die Revolution in Kuba war keine Bauernrevolution. Sie war die Revolution der von Castro geführten Bewegung des 26. Juli, der Bewegung einer kleinen Elite mit einem blanquistischen Aufstandskonzept. Von den 125 Mann, die an dem erfolglosen Sturm auf die Moncada-Kaserne im Jahre 1953 beteiligt waren, war kaum einer ein Bauer; auch unter den 82 Besatzungsmitgliedern der ›Granma‹ (von denen 12 die erste Woche überlebten) war kein Bauer; die meisten waren revolutionäre Intellektuelle. Für den versprengten Haufen der dezimierten Castrobewegung war es allerdings ein Glück, dass sie sich in die S ierra Maestra im kubanischen Oriente zurückziehen konnte, denn nur in 42 H. J. Puhle, Tradition und Reformpolitik in Bolivien, Hannover 1970; J. M. Malloy u. R. S. Thorn (Hg.), Beyond the Revolution. Bolivia since 1952, Pittsburgh 1971; W. J. McEwen, Changing Rural Society. A Study of Communities in Bolivia, New York 1975; R. Gott, Rural Guerrilla, S. 467–561. 43 J. Wolff, Umbruch in Bolivien. Vom Zusammenbruch der ›paktierten Demokratie‹ zur Regierung Morales, in: P. Birle (Hg.), Lateinamerika im Wandel, Baden-Baden 2010, S. 211– 228; Bertelsmann Transformation Index 2010, Bolivia Country Report, http://www.bertelsmann-transformation-index.de/104.0.html (26.12.2009); J. Ströbele-Gregor, Demokratische Revolution in Bolivien?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 41–42, 2010, S. 19–24.
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dieser R egion war es möglich, auch auf dem Land Anhänger zu werben. Unter den in der Regel gewerkschaftlich organisierten Zuckerarbeitern im Rest des Landes wäre dies kaum erfolgreich gewesen. Die Sierra Maestra dagegen war ein Rückzugsgebiet aus der Zentralzone vertriebener Bauern mit eigenem Land (colonos), die dieses Land behalten und mehr Land erwerben wollten. C astro konnte hier erfolgreich sein wie sonst nirgends, weil er diesen Bauern eine Agrarreform versprach. Juan Martínez Alier, Verena Stolcke und andere haben dann auch diese colonos als eine Art ›Ersatzbourgeoisie‹ in der kubanischen Revolution interpretiert.44 Wichtig ist allerdings gerade auch im Vergleich der drei größeren revolutionären Prozesse des 20. Jahrhunderts in Mexico, Bolivien und Kuba, dass hier auch die Bauern, selbst wenn sie durchweg keine oder nur in enger regionaler oder zeitlicher Begrenzung eine führende Rolle spielten, am Ende von den unter Führung anderer Gruppen, in der Regel breiterer Vielklassenbewegungen, eingeleiteten gesamtgesellschaftlichen Umwälzungen profitiert haben, in Mexico durch die cardenistischen Reformen, in Bolivien zumindest durch die Ausweitung der Bürgerrechte und der Partizipation, in Kuba durch die frühen Agrarreformen, und in allen drei Ländern nicht zuletzt dadurch, dass die nachrevolutionären Systeme insgesamt sowohl für das alltägliche Leben als auch für die politische Artikulation der Bauern bessere Bedingungen boten als die vorrevolutionären Systeme: ein klassischer Fall für bescheidene und begrenzte, partielle und sektorale, immer relative, aber doch klar identifizierbare ›Moderni sierungsleistungen‹. Allerdings scheinen auf längere Sicht diese Modernisierungsleistungen in den revolutionierten Ländern und darüber hinaus nicht ausgereicht zu haben. Für diesen Eindruck spricht vor allem die intensive Beteiligung bäuerlicher strata und Organisationen (in dem weiten Sinne unserer Ausgangsdefinition) an jener neuen Welle gesamtgesellschaftlicher Radikalisierungen seit den 1990er Jahren, die man – nicht nur in Lateinamerika – oft unter der Überschrift ›Antiglobalisierungsproteste‹ zusammengefasst hat. Die entsprechenden breiten, in der Regel schichtenübergreifenden sozialen Bewegungen wollen jedoch durchweg nicht nur protestieren, sondern die Gesellschaften dezidiert so umgestalten, dass deren Mehrheiten nicht länger nur ›Opfer‹ der beschleunigten transnationalen ökonomischen und politischen Verflechtungsprozesse (›Globalisierung‹) sind, sondern diese aktiv menschenfreundlicher mitgestalten und insbesondere durch ›empowerment‹ Hilfen für die Schwächeren bereitstellen können. Kernpunkt ihrer Programme ist die Eindämmung und Begrenzung der liberalen Marktmechanismen (›Washington consensus‹) und des ungebremsten Vordrin-
44 S. W. Mintz, Foreword, in: R. Guerra y Sánchez, Sugar and Society in the Caribbean. An Economic History of Cuban Agriculture, New Haven 1964, S. XI–XLIV; E. R. Wolf, Peasant Wars, S. 251–273; T. Szulc, Fidel. A Critical Portrait, New York 1986; J. u. V. Martinez Alier, Cuba: Economía y sociedad, Paris 1972.
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gens transnationaler Großkonzerne durch wirksame Staatsintervention und vermehrte gesellschaftliche Organisation.45 Diese Forderung entspricht in der Richtung den Programmen der antiimperialistischen Radikalen und Populisten seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, geht jedoch auch über diese hinaus. Die Ziele reflektieren zum einen die zugespitzten Charakteristika des neueren Globalisierungsschubs, das höhere Tempo, die umfassenderen Dimensionen (z. B. des Vordringens agroindustrieller Großkonzerne oder Pharmazieunternehmen aufs Land, etwa im Vergleich zu den Plantagen und Haciendas im vorrevolutionären Mexico), die größeren Zwänge, die eingeschränkten Spielräume staatlicher Regulierung, aber auch die stärkere Präsenz und Wirkung transnationaler Verflechtungen und Einflüsse bis hinein in die Lebenswelt der Menschen, wie sie z. B. auch in den Folgen der Zunahme von Migration und in der Bedeutung zum Ausdruck kommt, die die Geldüberweisungen von nach Nordamerika oder Europa ausgewanderten Familienmitgliedern (remesas/remittances) auch für (teil-) bäuerliche Haushalte in einem andinen Seitental haben können.46 Zum anderen haben sich – im Unterschied zu den Konstellationen vor hundert Jahren – gravierende und zunehmend radikalisierende Enttäuschungen akkumuliert über die Misserfolge bisheriger revolutionärer oder reformistischer Politiken, insbesondere in der Bekämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit (die in den Ländern Lateinamerikas ausgeprägter ist als in den anderen Südkontinenten) und der Vermehrung von Partizipation. Entsprechend richten sich die neuen Bewegungen auch gegen die paktierte Politik der (meistens weißen) urbanen politischen Eliten und fordern mehr Partizipation und Inklusion (und institutionelle Mechanismen, die dies garantieren können) für die große Masse der Ärmeren und Schwächeren sowie der überwiegend bäuerlichen Landbewohner. Da letztere in vielen Ländern (besonders der Anden) mehrheitlich indígenas sind, wurden die Forderungen über ihren sozioökonomischen Kern hinaus47 zusätzlich mit ›ethnischen‹ Kategorien aufgeladen: Es werden gleichzeitig mehr Rechte und Leistungen für die Bauern und andere Deklassierte gefordert und mehr Rechte, Leistungen und lokale Autonomien für die indigenen Gemeinschaften und ›Nationen‹, bzw. zunächst einmal deren An45 Vgl. Anm. 2 sowie J. Petras, The New Development Politics. The Age of Empire Building and New Social Movements, Aldershot 2003; ders. u. H. Veltmeyer, Social Movements and State Power. Argentina, Brazil, Bolivia, Ecuador, London 2005. 46 I. Wehr (Hg.), Un continente en movimiento: Migraciones en América Latina, Madrid 2006; S. Kurtenbach u. a. (Hg.), Die Andenregion – neuer Krisenbogen in Lateinamerika, Frankfurt 2004. 47 Zu den neueren bäuerlichen Bewegungen insgesamt: C. Welch, Peasants and Globalization; T. Brass (Hg.), Latin American Peasants, London 2003; A. H. Akram-Lodhi u. C. Kay (Hg.), Peasants and Globalization. Political Economy, Rural Transformation and the Agrarian Question, London 2008; M. Teubal, Agrarian Reform and Social Movements in the Age of Globalization: Latin America at the Dawn of the Twenty-first Century, in: Latin American Perspectives, Jg. 36,4, 2009, S. 9–20.
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erkennung und Emanzipation.48 Eine ähnliche Parallelität der Forderungen hat es in Ansätzen schon einmal in den indigenistischen Populistenbewegungen der 1920er und 30er Jahre gegeben. Jene sind allerdings in diesem Punkt über nostalgische oder utopische Erklärungen nicht hinausgekommen, während die gegenwärtigen neuen Bewegungen dort, wo sie regieren, bereits institutionelle Reformen eingeleitet haben, z. T. in problematischen verfassungsgebenden Prozessen einer multiethnischen ›Neugründung‹ des Staates (Bolivien, Ecuador, Venezuela). Wenn die bäuerlichen Segmente dieser neuen Bewegungen und die Bauern organisationen auch überwiegend – wie gelegentlich schon zuvor – eingebunden blieben in breitere Allianzen, aus denen sie oftmals erst größere Wirkungskraft entfalten konnten, so haben sie doch ihren Eigensinn, ihre Widerständigkeit, ihr politisches Einflusspotential und oft sogar ihre Protestformen durchweg weiter bewahren und weiter entwickeln können, ein Umstand, dem neuere Forschungsparadigmen vom ›Ende des Bauerntums‹ (das schon oft verheißen wurde) oder seinem ›postmodernen‹ oder ›subalternen‹ Charakter nicht unbedingt immer gerecht geworden sind.49 Gute Beispiele dafür sind, neben der CONAIE in Ecuador,50 die diversen Bauernorganisationen innerhalb des in Bolivien regierenden MAS, die sowohl verschiedene Produktionssektoren und Regionen als auch verschiedene Ethnien (oder ethnische Mischungen) re präsentieren und in der Vergangenheit oft zu hochgradiger Fragmentierung geneigt haben. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts haben sie die Bewegung und Partei des Präsidentschaftskandidaten Evo Morales und ab 2005 dessen Regierung unterstützt und teilen überwiegend deren agrarische Reformprogrammatik. Gleichzeitig sind sie, in unterschiedlichen Zusammensetzungen und Rollen und in sehr verschiedenen regionalen und lokalen Zusammenhängen, aber auch in jüngerer Zeit Träger des Protests geblieben, gegen das Vordringen agroindustrieller Grossbetriebe, korrupte Funktionsträger, illegitimen Zwang und zahlreiche als ›ungerecht‹ oder inkonsequent empfundene Absichten und Maßnahmen der Regierung, insbesondere gegen bestimmte Vorhaben der Erdgas- und 48 Vgl. Anm. 3 sowie J. Hristov, Social Class and Ethnicity/Race in the Dynamics of Indigenous Peasant Movements: The Case of the CRIC in Colombia, in: Latin American Perspectives, Jg. 26,4, 2009, S. 41–63; zur lokalistischen Zentriertheit J. D. Cameron, Hacia la Alcaldía: The Municipalization of Peasant Politics in the Andes, in: Latin American Perspectives, Jg. 36,4, 2009, S. 64–82; M. S. Grindle, Going Local. Decentralization, Democratization, and the Promise of Good Governance, Princeton 2007. 49 A. W. Pereira, The End of the Peasantry. The Rural Labor Movement in Northeast Brazil, 1961–1988, Pittsburgh 1997; G. Otero, Farewell to the Peasantry? Political Class Formation in Rural Mexico, Boulder 1998; T. Brass, Peasants, Populism and Postmodernism. The Return of the Agrarian Myth, London 2000; J. Rabesa, Without History. Subaltern Studies, the Zapatista Insurgency, and the Specter of History, Pittsburgh 2010; G. C. Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2007. 50 J. Wolff, Turbulente Stabilität. Die Demokratie in Südamerika diesseits ferner Ideale, BadenBaden 2008.
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Erdölausbeutung, das neue Projekt des Lithiumabbaus und die Vermarktung geschützter Naturressourcen (›Neo-Extraktivismus‹).51 Einen ganz anderen und kategorial neuen Typ einer bäuerlichen Protest bewegung repräsentiert seit den 1990er Jahren die Zapatistische Nationale Befreiungsarmee (EZLN) im mexikanischen Chiapas, die sich auch von den älteren mexikanischen oder zentralamerikanischen Aufstands- und guerrillaBewegungen stark unterscheidet. Die guerrilleros, deren Führer keine Bauern sind, sondern eher Literaten, haben die Gewalt durch das Wort ersetzt, sind zur ›Diskursguerrilla‹ geworden und zum Prototyp von Revolutionären im Informationszeitalter. Sie sitzen (und ›kämpfen‹ gerade nicht) im Lakandonenwald in Chiapas, aber sie kommunizieren und interagieren elektronisch, sind weltweit vernetzt, setzen bedeutsame symbolische Zeichen (die gerade bei revolutionären Zielsetzungen wichtig sind) und haben es, als sie noch aktiver waren, sogar vermocht, die staatliche Begrenzung zu transzendieren: Sie haben konkrete soziale und politische Zustände in Chiapas als Menschenrechtsverletzungen gegenüber den global vernetzten einschlägigen Organisationen und Bewegungen denunziert, die dann ihrerseits internationalen Druck auf die mexikanische Regierung und das Parlament organisierten. Darauf mussten beide mit inneren Reformen reagieren, die man auf der internen Schiene nicht erreicht hätte, schon gar nicht mit Gewalt. Auch wenn es in den letzten Jahren um die Zapatistas stiller geworden ist, haben sie doch dem bäuerlichen Protest und Aufstand eines seiner möglichen Zukunftsszenarien gezeigt.52 Nach diesem knappen Überblick einschließlich kurzem Ausblick auf einige sich andeutende neuere Entwicklungstendenzen können jetzt die am Anfang gestellten Ausgangsfragen zu den Charakteristika und Wirkungsmechanismen bäuerlicher Bewegungen wieder aufgenommen werden, die sich im wesentlichen auf das 20. Jahrhundert, vor dem Einsetzen der neueren beschleunigten Globalisierungswelle und ihrer Folgen an dessen Ende, beziehen.
5. Bauern und Politik Hier sind für die ›klassische‹ Periode (grosso modo bis 1990) vier Punkte zu behandeln, die sich stichwortartig zuspitzen lassen auf die Fragen: wann? was? wer? und auf den Versuch eines Fazits. 1. Wann brechen Bauernrevolten aus und wann organisieren sich Bauernbewegungen? Die vergleichende Forschung einiger Jahrzehnte hat hier beein 51 Vgl. Anm. 43. 52 A. Huffschmid, Diskursguerrilla: Wortergreifung und Widersinn, Heidelberg 2004; Y. Le Bot (Hg.), Subcomandante Marcos. El sueño zapatista, Barcelona 1997; C. Tello Díaz, La rebelión de las Cañadas. Origen y ascenso del EZLN, México 1995; J. Womack, Jr., Chiapas, el Obispo de San Cristóbal y la revuelta zapatista, México 1998.
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druckendes Material zusammengetragen. Es ist (erstens) insbesondere auf Momente absoluter und relativer Statusdeprivation verwiesen worden, auf gestiegene Erwartungen, die nicht erfüllt wurden, auf Schübe zusätzlicher Frustration und Verschlechterung der Lage, insgesamt also mehr auf Erscheinungen von Status-Inkongruenz als von absoluter Verelendung und Misere, und unter den Umweltfaktoren (zweitens) auf die Zündwirkung – der Entrechtung durch Großgrundbesitzer und Staat, – des Aufstiegs anderer Schichten, – der Auflösung alter Ordnungsfaktoren (›Entfeudalisierung‹) und – der Verbreitung neuer Ideologien. Eine besondere Beschleunigungswirkung konnte (drittens) nachweislich auch haben: – eine besonders harsche und intransigente Ablehnung gemäßigter, oft zunächst auf dem Wege der Beschwerde vorgebrachter bäuerlicher Forderungen, oder – ein besonders auffälliges Anziehen der Repressionsschraube gegenüber den Bauern, obwohl im Allgemeinen die Repression von oben den Aufruhr auch relativ lange eindämmen kann. Gute Voraussetzungen boten noch funktionierende Dorfgemeinschaftsstrukturen, eine relativ homogene Interessenlage in der Region (also wenig interne Spannungen zwischen bäuerlichen Gruppen) und, sehr wichtig, geeignete Führungspersonen mit Lebens- und Organisationserfahrungen auch außerhalb der engeren bäuerlichen Region. In Lateinamerika hatten im 20. Jahrhundert alle Anführer bäuerlicher Erhebungen solche Erfahrungen in den Städten oder sogar im Ausland gesammelt. Wichtig sind hier auch die Kontakte zu städtischen Bewegungen. Als Bremsfaktoren wirkten demgegenüber neben obrigkeitlicher Repression und großen nationalen Apparaten (auch der Parteien und Regimegewerkschaften) und deren integrativen Ideologien insbesondere Isolierung und Zersplitterung, personalistische Orientierungen und Querelen und – vor allem – jene Mechanismen, die man die ›eskapistischen Tröstungen‹ am Rande von bäuerlicher Organisation und Mobilisierung nennen kann: individuelle Kompensationen, die die Bauern veranlassen, um persönlicher kurzfristiger Vorteile willen die Bewegung zu verlassen.53 2. Welche Ziele haben Bauernbewegungen oder Bauernrebellionen? Das überwiegende Muster scheint hier zu sein, dass die Ziele zunächst eng und gemäßigt 53 H. A. Landsberger, Peasant Unrest: Themes and Variations, in: ders. (Hg.), Rural Protest, Peasant Movements and Social Change, London 1974, S. 1–64; ders. u. C. N. Hewitt, Ten Sources of Weakness and Cleavage in Latin American Peasant Movements, in: R. Staven hagen (Hg.), Agrarian Problems and Peasant Movements in Latin America, Garden City 1970, S. 559–583; E. R. Wolf, Peasants.
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sind und erst im Fortgang des Konflikts weiter gespannt werden. Die Radikalisierung erfolgt allmählich, in der Interaktion, die Gewalt steht am Ende. Die Radikalität der Forderungen bezieht sich zuerst auf die Mittel und erst danach auf die Ziele. In manchen Fällen gibt es aufsteigende Sequenzen wie: Wiederherstellung bestimmter alter Rechte, Wiederherstellung der alten Ordnung, Landverteilung, Etablierung einer neuen Ordnung. Natürlich hängt die Entwicklung bäuerlichen Protests und seiner Ziele auch entscheidend ab von der Lage des jeweiligen Gegners, also vor allem der landwirtschaftlichen Großbetriebe der Region: – In der Phase der Ausdehnung von Haciendas auf Kosten der Dorfgemeinschaften und der Bauern und der Ausweitung der Hacienda- und Plantagenökonomie insgesamt in der Region generiert sich bäuerlicher Widerstand, primär mit dem Ziel der Wiederherstellung der Besitzrechte am Land und der Landverteilung. Hierher gehören die meisten Rebellionen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber auch noch einige der besonders spektakulären im 20. Jahrhundert, z. B. die Zapata-Bewegung in Morelos und die Bewegung in Ucureña/Cochabamba in Bolivien. Beide stehen in einem nationalrevolutionären Kontext, in beiden Fällen führten revolutionäre Agrarreformen zur Umverteilung, in beiden Fällen wurde die Bauernbewegung von der revolutionären Bewegung kanalisiert. – In Phasen der ökonomischen Stabilisierung der Großbetriebe, der Intensivie rung der Produktion und der engeren Zusammenarbeit mit industriellen und städtischen Sektoren, die immer auch Phasen vermehrter Disziplinierung der Arbeit sind, rebelliert vor allem das ländliche Proletariat, also die landlosen Arbeiter oder Arbeitslosen, oft angelehnt an städtische Gewerkschaftsforderungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Gute Beispiele dafür sind die Streiks und Manifestationen der Zucker- und Baumwollarbeiter in der Region von La Libertad an der Nordküste Perus, die sich gewerkschaftlich organisierten und am Ende sogar in sanften Angestelltengewerkschaften mobilisiert waren, die Streiks auf den Plantagen der United Fruit Company in Kolumbien gegen die Arbeitsvermittler um 1928 oder die Streiks der Landund Zuckerarbeiter in Kuba in den dreißiger Jahren. Aber gleichzeitig lehnen sich oft auch Kleinstbesitzer auf, auf der Suche nach neuen ökonomischen Chancen gegen die Konkurrenz der Großbetriebe im Bereich der bescheidenen eigenen Produktion. Beispiele dafür sind die Rebellionen der Kaffeearbeiter in Kolumbien nach 1930 oder in La Convención, Cuzco in den fünfziger Jahren. – In der Phase der Auflösung oder des Umbaus der Großbetriebe, ganz besonders im Zuge von Agrarreformen, kommt es oft gleichzeitig zu Landbesetzungen, zur Übernahme der Betriebe durch die Bauern und Arbeiter und zu gewerkschaftlichen Arbeitskämpfen.54 54 E. R. Wolf, Die Phasen des ländlichen Protests in Lateinamerika, in: E. Feder (Hg.), Gewalt und Ausbeutung. Lateinamerikas Landwirtschaft, Hamburg 1973, S. 273–286; E. R. Wolf,
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3. Wer initiiert die Rebellionen oder organisiert die Bewegungen? Nach allem, was die vergleichende empirische Forschung dazu bisher zu Tage gefördert hat, sind es nicht die ganz Armen und ganz Entrechteten. Deren Widerstand kann nur ausnahmsweise, und dann mit massiver Hilfe von außen, z. B. durch Armeen, erfolgreich sein, wie in bestimmten Gebieten Mexicos, Russlands oder Chinas. Initiatoren des Protests und Organisatoren der Bewegungen sind vor allem die, die Eric Wolf die »taktisch beweglichen« Bauern genannt hat, die weniger armen, weniger rückständigen, weniger isolierten, bessergestellten mittleren Bauern in relativ stadtnahen, relativ dicht bevölkerten Regionen. Wenn diese Regionen im staatlichen Kontext periphere Regionen sind, ist dies meist auch ein Vorteil, da die Kontrolle geringer ist und der Austausch über die Grenze möglich (vgl. den Norden und den Süden Mexicos sowie den Süden Chinas). Diese Bauern sind durchweg auch besonders sensibel für ökonomische und politische Veränderungen. Beispiele dafür finden wir in der Bauernbewegung von Morelos, in Cochabamba in Bolivien, im Osten Kubas und in Pernambuco in Brasilien sowie auch in bestimmten Gebieten Russlands, in China (Kiangsi, Kwangdong, Hunan) und in Vietnam. Hinweise auf die mögliche Zusammenarbeit mit anderen Arbeitern, z. B. im Bergbau oder in der Industrie, bieten die Mobilisierungen in Cananea und La Laguna, Mexico sowie auch Streiks und Agitationen in so gut wie allen Zuckerfabriken der Karibik und Zentral amerikas, in Brasilien, Ecuador und Peru. 4. Was lässt sich zusammenfassend über Bauernbewegungen in Lateinamerika sagen? Es fällt auf, dass sie im Ganzen relativ schwach waren, und dies nicht nur im Vergleich zu den gemeinhin für bedeutsamer und gewissermaßen ›reiner‹ gehaltenen revolutionären Bauernbewegungen in China oder Vietnam. Die soziale Realität wird hier vielfach durch den ideologischen Stellenwert verdunkelt, der den Bauern als vermeintlichen Trägern der revolutionären Bewegung zugeschrieben wird. Auch in Lateinamerika gibt es diese Zuschreibung unter orthodoxen Linken, die sich auf Lenin und Mao berufen. Rodolfo Stavenhagen hat schon vor über vierzig Jahren gegen jene »falsche« These polemisiert, dass nur die Allianz von campesinos und Arbeitern auf der Basis einer fälschlich angenommenen identischen Interessenlage beider Gruppen in Lateinamerika politischen Fortschritt erzwingen könne.55 Schon die Arbeiterbewegungen sind, jedenfalls als autonome Bewegungen und nicht als Mobilisierungs- und Kontrollinstrumente irgendwelcher Regimes, in Lateinamerika im 20. Jahrhundert verhältnismäßig schwach gewesen – unter anderem auch ein Ergebnis des abhängigen Kapitalismus –, aber die Bauern bewegungen waren noch wesentlich schwächer, und sie sind es durchweg noch,
Peasant Wars, S. 276–302; V. V. Magagna, Communities of Grain. Rural Rebellion in Comparative Perspective, Ithaca 1991. 55 R. Stavenhagen, Sieben Trugschlüsse über Lateinamerika (1968), in: E. Feder (Hg.), Gewalt und Ausbeutung. Lateinamerikas Landwirtschaft, Hamburg 1973, S. 43–64, bes. 60–63.
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besonders in den größeren, ökonomisch, sozial und politisch entwickelteren Ländern.56 Bauernbewegungen sind lokal und meistens auch zeitlich eng begrenzt geblieben und haben nur selten autonome Strukturen gebildet, die weiterwirkten. Viele von ihnen sind von Anfang an stark von außen beeinflusst oder gar organisiert und geführt worden (von trotzkistischen oder Guerrillagruppen oder Parteien). In den größeren Ländern mit bedeutenden revolutionären oder reformistischen Nationalbewegungen sind die stärkeren Bauernbewegungen in der Regel in die breiteren Kanäle der antiimperialistischen Populisten integriert worden, dominiert von Parteien oder Militärs. Wenn die Umstände günstig waren, wie in Mexico oder Bolivien, konnten sie vorher die Berücksichtigung ihrer agrarischen Forderungen wenigstens teilweise erzwingen, deren politische Verwaltung ihnen dann jedoch aus der Hand genommen wurde. Und in einer ganzen Reihe von Ländern geschah nicht einmal dies, z. B. in Argentinien, Brasilien, Venezuela oder Kolumbien. In Lateinamerika haben im 20. Jahrhundert Bauern keine Revolutionen gemacht, jedenfalls nicht allein und auch nicht primär. Sie haben einige Revolutionen unterstützt, wenigstens zeitweise, und konnten, allerdings selten, in bestimmten Phasen dieser Revolutionen entscheidende Akzente setzen, in Mexico und Bolivien mehr als in Kuba und Nicaragua. In ähnlicher Differenzierung haben sie auch durchweg von den umwälzenden Modernisierungen der größeren Revolutionen profitiert. Auch ihre Rebellionen blieben begrenzt und haben selten die Politik bleibend prägen können, aus vielen Gründen, die in der Regel angelegt waren in jenen bäuerlichen Existenzbedingungen, die anfangs skizziert worden sind. Ihre Koalitionsfähigkeit und damit auch ihre Politikfähigkeit sind zweifellos begrenzt geblieben. Gleichzeitig hat aber, auch unterhalb dieser Schwelle, der stetige Widerstand der Bauern – auf welcher Stelle der Rebellionsskala und in welcher Form auch immer – als ein permanenter Stachel im Fleisch nahezu aller lateinamerikanischen Gesellschaften gewirkt und – als struktureller Zwang – beständig den unzureichenden und ungerechten Status quo in Frage gestellt. Daran haben allem Anschein nach auch das Aufkommen der breiteren globalisierungskritischen Allianzen mit bäuerlicher Beteiligung am Ende des 20. Jahrhunderts und die Nutzung neuer elektronischer Techniken und der Mechanismen einer transnationalisierten Informationsgesellschaft nichts wesentliches geändert. Hier scheint mir die wichtigste Funktion der bäuerlichen Resistenz zu liegen. Denn sozialer Fortschritt kann nach aller Erfahrung nur dann wirklich werden, wenn die, die ihn vor allem brauchen, ihn auch unüberhörbar einfordern.
56 Zum Gesamtkontext sozialer Bewegungen vgl. S. Eckstein (Hg.), Power and Popular Protest. Latin American Social Movements, Berkeley 2001 (1. Aufl. 1989); N. Böttcher u. a. (Hg.), Los buenos, los malos y los feos. Poder y resistencia en América Latina, Madrid 2005.
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Die ›Konstruktion‹ neuer Sozialstaaten in der Auseinandersetzung mit alten Modellen: ›Pfadabhängigkeiten‹, Entscheidungen und Lernprozesse*
Der moderne Sozialstaat ist eine europäische Erfindung des 19. und 20. Jahrhunderts, die zumindest als ›regulative Idee‹ inzwischen in die ganze Welt exportiert worden ist, wie die drei älteren ›klassischen‹ europäischen Exportschlager: der moderne Staat, verstanden als Nationalstaat; die kapitalistische Industrialisierung, und die moderne rechtsstaatliche Demokratie. Insbesondere die Idee des demokratischen Sozialstaats hat als Leitbild große Attraktion und normative Kraft entfaltet, weil sie ›freedom of choice‹ mit sozialer Sicherung verbindet und undemokratischen Modellen überlegen ist. Dabei wird der Sozialstaat, im Anschluss an T. H. Marshall oder auch ältere Argumentationslinien der europäischen Sozialdemokratie, oft als eine vierte Ebene der Qualität und der Funktionen von Staatlichkeit, in aufsteigender Linie, gesehen, nach dem Rechtsstaat, dem Verfassungsstaat und dem demokratischen Staat (und vor dem ›ökologischen Verfassungsstaat‹, der später kam).1 Dies bezieht sich allerdings auf das bestmögliche Ergebnis und auf fortgeschrittenere Stufen. Wie wir wissen, entstehen Sozialstaaten allmählich, oft inkrementell, und sie sind, wie u. a. Gerhard A. Ritter wiederholt hervorgehoben hat,2 niemals fertig, auch wenn die sie betreibenden entwickelten Gesellschaften in den letzten hundert Jahren dazu tendiert haben, sie immer umfassender auszugestalten, soweit ihnen das möglich war. Dieser Umstand legt es nahe, in diesem Beitrag zwischen ›Sozialstaat‹ (für den ich im englischen auch das Wort ›welfare state‹ reservieren würde)3 einerseits und ›Sozialstaatlichkeit‹ (›welfare stateness‹), sozialstaatlichen Elementen und auf die Vermehrung und weitere Verdichtung von Sozialstaatlichkeit gerichteten Politiken anderseits zu unter* Zuerst erschienen in: U. Becker u. a. (Hg.), Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Bonn 2010, S. 197–212. 1 Vgl. T. H. Marshall, Class, Citizenship and Social Development, Westport 1973; R. Steinberg, Der ökologische Verfassungsstaat, Frankfurt 1998. 2 G. A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 1988, S. 220. 3 Dass zahlreiche Autoren zusätzlich zwischen ›welfare state‹ und ›Sozialstaat‹ (der dann sehr deutsch konnotiert bleibt) unterscheiden, betont insbesondere die unterschiedlichen Kontexte und Rahmensetzungen, erleichtert aber nicht den Vergleich.
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scheiden, auch um Missverständnisse in den einschlägigen Forschungskontexten zu vermeiden.4 In der Folge wird es überwiegend um das zweite gehen. Denn bei der ›Konstruktion‹ neuer Sozialstaaten in der Auseinandersetzung mit alten Modellen werden ja durchweg nicht ›Sozialstaaten‹ auf jenem anspruchsvollen Niveau einer umfassenden und viele Bereiche einbeziehenden Verdichtung sozialstaatlicher Mechanismen diskutiert, modifiziert, übernommen, verworfen oder neu geschaffen, das für viele Autoren erst die Bezeichnung als (selbstverständlich demokratischer) ›Sozialstaat‹ rechtfertigt: Darunter werden vielfach auf einem breiten und in der Gesellschaft weitgehend geteilten Verständnis von ›sozialer Gerechtigkeit‹ beruhende umfassende institutionelle Ordnungssysteme verstanden, die sich im 20. Jahrhundert insbesondere in den folgenden Bereichen manifestiert haben: allgemeine Verteilungsgerechtigkeit als Leitlinie staatlicher Interventionen; präventiver und korrigierender Arbeiter-/Arbeitsschutz; Mitgestaltung und Mitbestimmung am Arbeitsplatz und im Unternehmen; Arbeitsrecht und Arbeitsgerichtsbarkeit; Regelungen der Arbeitsbeziehungen, für Arbeitskonflikte, Tarifwesen und Schlichtung, sowie Sozialversicherungswerke (Kranken-, Unfall-, Invaliditäts-, Altersversicherung, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung). Darüber hinaus wird gelegentlich noch eine (dergestalt sozialstaatlich präfigurierte) staatliche ›Generalprävention‹ postuliert, die weit in den Bereich der Grundrechte und des Rechtsstaats hineinreicht und entsprechende Leitlinien für alle gesellschaftlich relevanten Politikfelder vorgibt.5 In diesem Beitrag geht es überwiegend mehr um die Politik unterhalb dieses ›threshold‹ eines entfalteten Sozialstaats. Es geht um ›Sozialstaatlichkeit‹ als Prozess (sozusagen ›Delta S‹), um die meist allmähliche, gelegentlich auch abrupt fortschreitende oder umsteuernde Vermehrung, Verdichtung oder Modifikation sozialstaatlicher Mechanismen in der Auseinandersetzung mit (meist anderswo) existierenden Vorlagen und Modellen. Charakteristisch für diese Prozesse ist eine gewisse Kleinteiligkeit. Die einzelnen Regelungen, Maßnahmen und Mechanismen werden oft aus ihren jeweiligen größeren Kontexten gelöst, und es geht selten ums ganze System. Deshalb müsste die hier plakativ vergröberte Themenformulierung genauer heißen: Die ›Konstruktion‹ neuer Sozialstaatlichkeit in der Auseinandersetzung mit den Bestandteilen, aber ge legentlich auch den Grundmustern alter Modelle.
4 Manche Autoren unterscheiden auch zwischen dem (anspruchsvollen) ›Sozialstaat‹ und (bloss) ›sozialem Staat‹. Darüber, wo genau die Linie liegt, jenseits derer vom ›Sozialstaat‹ gesprochen werden kann/sollte, herrscht allerdings in der Literatur keine Einigkeit und es gibt eine breite Varianz zwischen ›Minimalisten‹ und Maximalisten‹. 5 So zum Beispiel in der Formulierung von Klaus Tenfelde, dem ich für entsprechende Hinweise und Diskussionen sehr dankbar bin. Vgl. K. Tenfelde, Arbeiterschaft, Unternehmer und Mitbestimmung in der frühen Weimarer Republik, in: U. Becker u. a. (Hg.), Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Bonn 2010, S. 67–80, sowie: F. Nullmeier, Politische Theorie des Sozialstaats, Frankfurt 2000.
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Im Gegensatz zum entfalteten Sozialstaat jenseits des definierten ›t hreshold‹, der eindeutig nur als demokratischer Sozialstaat vorstellbar ist und ohnehin alle komparativen Vorteile auf seiner Seite hat, relativiert sich für die hier thematisierten Prozesse der Vermehrung oder Veränderung von Sozialstaatlichkeit (also der ›Delta S‹-Phase) auch das Verhältnis von Sozialstaat und Demokratie. Die Zustände können gemischter sein. Schon die Anfänge und die zunehmende Entwicklung sozialstaatlicher Einrichtungen und Mechanismen, oft in Kombination öffentlicher (nationaler wie lokaler), genossenschaftlicher, korporativer und privater Initiativen, sind keineswegs immer an demokratische Zustände gebunden gewesen, der Bau des Sozialstaats und Demokratisierung keineswegs immer Hand in Hand gegangen. Es ist zwar richtig, dass es am Ende hohe Korrelationen zwischen beiden gibt, weil es, je entwickelter eine Gesellschaft nach Ausweis der üblichen ökonomischen, sozialen und Bildungs indikatoren ist, umso wahrscheinlicher ist, dass sie sowohl demokratisch ist (und bleibt) als auch über umfassende sozialstaatliche Sicherungen verfügt. Aber erstens sagt das nichts aus über Kausalitäten, zweitens nichts über Gesellschaften, die diesen hohen Entwicklungsstand noch nicht erreicht haben, und drittens gibt es immer auch Ausnahmen. Generell gilt, dass entwickelte Demokratie ohne einen höheren Grad von Sozialstaatlichkeit schwer vorstellbar ist, Sozialstaatlichkeit (oder in der Termi nologie der Anspruchsvollen: ›soziale Staatlichkeit‹) ohne Demokratie aber sehr wohl, wie ein Blick nicht nur auf Bismarck, das NS-Regime und die DDR, sondern auch auf den Peronismus in Argentinien, das heutige Singapur und viele anderen Fälle zeigt. Die Prozesse der Vermehrung oder Veränderung von Sozialstaatlichkeit scheinen zunächst einmal ›regimeblind‹ zu sein, unabhängig davon, wie stark demokratisch besetzt unsere Definition des entfalteten Sozialstaats ist. Deshalb ist es vielleicht nicht falsch, wenn man über die Proliferation von im nordatlantischen Raum entwickelter Sozialstaatlichkeit beziehungsweise sozialstaatlichen Mechanismen in die Welt und das entsprechende Aufeinandertreffen von Zuständen, Modellen und Vorstellungen aus unterschiedlichen Kontexten nachdenkt, zunächst einmal vom kompakten Leitbild des demokratischen Sozialstaats abzusehen und sich zu konzentrieren auf das, was im einzelnen in diesen Austausch- und ›Konstruktions‹prozessen passiert. Die folgenden Bemerkungen sind eine erste Annäherung. Sie werden sich auf die generellen Mechanismen, Bedingungen und Implikationen dieser Transfer- und Interaktionsprozesse konzentrieren, auch als Beitrag zum awareness raising, weil die diskutierten Prozesse sich unter anderem auch als viel komplexer herausgestellt haben, als sich dies der Autor am Anfang vorgestellt hatte. Dabei wird Vieles noch vorläufig bleiben müssen, manchmal möglicherweise auch ein wenig spekulativ, oder im Stadium von Hypothesen, die an vielen Stellen noch umfassender vergleichender empirischer Forschungen bedürfen. In der Folge sollen in insgesamt sieben thesenhaft verkürzten Punkten drei Fragenkomplexe behandelt werden: (1) Welche ›alten‹ Modelle gibt es, und wel364
che Rolle spielen die ominösen ›Pfadabhängigkeiten‹? (2) Wie werden sozialstaatliche Mechanismen im neuen Umfeld diskutiert, modifiziert, transferiert, kombiniert, mit dem Ziel einer (mehr oder weniger geplanten) ›Konstruktion‹ ›neuer‹ Sozialstaatlichkeit? Und (3): Welche Rolle spielen dabei konkrete Entscheidungen und Lernprozesse?
1. Welche ›alten Modelle‹ gibt es? 1.1 Trajectories und Typen Ein einheitliches Modell moderner Sozialstaatlichkeit gibt es ebenso wenig wie es ein einheitliches Muster europäischer Modernisierung gibt. Es gibt nicht nur im Weltmaßstab ›multiple modernities‹ (Eisenstadt) und ›varieties of capi talism‹,6 sondern auch schon innerhalb Europas oder des nordatlantischen Kernbereichs der Entwicklung von Sozialstaatlichkeit unterschiedliche Entwicklungswege (different trajectories) der einzelnen Gesellschaften in die Moderne. Es gibt zwar auch Gemeinsamkeiten darin, dass alle nordatlantischen Modernisierungen durch Kombinationen von Faktoren charakterisiert sind, die ineinander wirken und sich (mit einiger Vereinfachung) den drei großen Bündeln der – Bürokratisierung (und des state building), – der Industrialisierung und – der Demokratisierung (und parlamentarischen Kontrolle) zuordnen lassen. Aber die jeweiligen Mischungen dieser Faktoren sind, wie in diesem Band schon mehrfach betont, in den einzelnen Staaten (und größeren Regionen) zunächst verschieden gewesen.7 Zur Erinnerung: – Der britische Weg war gekennzeichnet durch die Dominanz von Industrialisierung und, durch sie beschleunigt, Demokratisierung und Ausweitung parlamentarischer Kontrolle, bei verspäteter und lange schwach bleibender Bürokratisierung, dann insbesondere zur Regelung der sozialen Industria lisierungsfolgen. 6 Vgl. S. N. Eisenstadt, Multiple Modernities, in: Daedalus, Bd. 129, 2000, S. 1–29; D. Sachsenmaier u. a. (Hg.), Reflections on Multiple Modernities: European, Chinese and other Interpretations, Leiden 2002; P. A. Hall u. D. Soskice (Hg.), Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford 2001. 7 Hierzu und zum folgenden ausführlicher: H. J. Puhle, Das atlantische Syndrom. Europa, Amerika und der ›Westen‹, in: J. Osterhammel u. a. (Hg.), Wege der Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2006, S. 179–199, und in diesem Band. Zum Umfeld: S. Rokkan, Staat, Nation und Demokratie in Europa (hg. P. Flora), Frankfurt 2000; D. Rueschemeyer u. a., Capitalist Development and Democracy, Chicago 1992; C. Tilly, Coercion, Capital and European States A. D. 990–1990, Oxford 1990; M. Mann, The Sources of Social Power, 2 Bde., Cambridge 1986, sowie: G. Poggi, The Development of the Modern State, Stanford 1978.
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– Der französische Weg weist als dominierenden Faktor eine Mischung aus Bürokratisierung (aus Ancien Régime und den napoleonischen Reformen) und Demokratisierung (aus der Revolution) aus, wobei die Industrialisierung später kam und die politischen und sozialen Institutionen lange nicht wesentlich geprägt hat. – Der preußisch-deutsche Weg zeigt eine dominante Mischung aus Bürokra tisierung und Industrialisierung bei lange noch defizient bleibender Demokratisierung. – Der spanische Entwicklungsweg ist dem französischen sehr ähnlich gewesen, mit etwas schwächeren Elementen der Demokratisierung und starken cleavages und Antagonismen zwischen der entwickelten Peripherie und dem weniger entwickelten Zentrum. – Die USA sind im ganzen dem britischen Weg gefolgt, der aber von Anfang an modifiziert wurde durch die früher einsetzende und größere Eigendynamik des Faktors Demokratisierung (vor und neben der Industrialisierung), den Föderalismus und die Eigenarten und Bedürfnisse der ›new nation‹ (Einwanderung, bigness, großer Markt, usw.). Und in allen Fällen hat es im 20. Jahrhundert, wie gezeigt, auch vermehrt Prozesse der Vermischung, Anähnelung und Konvergenz gegeben. Diese unterschiedlichen Grundkonstellationen haben sich auch, vielfach vermittelt, ausgewirkt auf die Ausprägungen der entsprechenden Sozialstaaten. Die einschlägigen Typologien im Gefolge von Titmuss, Wilensky und, besonders einflussreich seit den 1990er Jahren, Esping-Andersen, sind bekannt und müssen hier nicht im einzelnen entwickelt werden.8 Im wesentlichen sind es die drei Großtypen: – der konservative kontinentaleuropäische Sozialstaat (Versicherungsprinzip, soziale Differenzierung, mittlere Anspruchsvoraussetzungen, höheres Leistungsniveau, Subsidiarität; in Südeuropa noch klientelistische und informelle Züge), – der liberale Typ in den angelsächsischen Ländern (Primat individueller Verantwortung, Marktmechanismen, hohe Anspruchsvoraussetzungen, niedriges Leistungsniveau), und – der egalitäre oder ›sozialdemokratische‹ Typ skandinavischer Provenienz (Versorgungsprinzip, universell, steuerfinanziert, niedrigere Anspruchsvor aussetzungen, höhere Leistungen, insb. im ausgebauten Bereich professionalisierter sozialer Dienste). 8 R. M. Titmuss, Essays on the Welfare State, Boston 1958; ders., Social Policy, London 1974; H. L. Wilensky, The Welfare State and Equality: Structural and Ideological Roots of Public Expenditures, Berkeley 1975; ders., Comparative Social Policy. Theories, Methods, Findings, Berkeley 1985; G. Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990. Vgl. auch P. Pierson, Three Worlds of Welfare State Research, in: Comparative Political Studies, Jg. 33, 6–7, 2000, S. 791–821.
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Darüber hinaus sind eine ganze Reihe modifizierter Subtypen oder Mischtypen entwickelt worden, z. B. von Leibfried, Castles-Mitchell, Siaroff, Ferrera (für Südeuropa), Bonoli, Korpi-Palme und anderen, insbesondere auch die gender related Typologien.9 Auch für die Sozialstaatlichkeit gilt: Es gibt unterschiedliche Formen und Mischungen, bedingt durch unterschiedliche trajectories der dahinterstehenden Entwicklung, und mithin auch ein variationsreiches Modellangebot für die latecomers. 1.2 Mischungen und ›Pfadabhängigkeit‹ Die unterschiedlichen Grundlinien und Muster der älteren Systeme sozialer Sicherung haben sich im 20. Jahrhundert erstaunlich kontinuierlich erhalten und sind immer noch erkennbar. Sie haben nicht nur zahlreiche politische Regimewechsel überdauert (zum Beispiel in Deutschland fünf, in Spanien vier, in Frankreich drei), darunter auch solche von Diktaturen zu Demokratien und umgekehrt (ein weiteres Argument für die ›Regimeblindheit‹ vieler sozialstaatlicher Elemente), sondern auch ein kurzes Jahrhundert zunehmender sektoraler Mischungen, Konvergenzen und Hybridisierungen sozialstaatlicher Mechanismen, die die typologischen Trennlinien etwas eingeebnet haben. In manchen Bereichen dominiert inzwischen auch in den älteren Sozialstaaten eine Art Bismarck-liberal-Beveridge-skandinavischer Mix, zum Teil unabhängig davon, ob wir von den klassischen engeren Bereichen von ›Sozialpolitik‹ und den diversen Versicherungs- und Leistungssystemen (vor allem Renten-, Unfall-, Kranken-, Arbeitslosenversicherung, ›welfare‹/Sozialhilfe) ausgehen oder den Terminus weiter fassen und auch die direkt relevanten Bereiche der Steuer- und Wirtschaftspolitik, Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Migrationspolitik, und so weiter einbeziehen. Letzteres ist zweifellos geboten, wenn wir Sozialstaatlichkeit um 9 S. Leibfried (Hg.), Welfare State Futures, Cambridge 2001; F. G. Castles u. D. Mitchell, Three worlds of welfare capitalism or four?, Canberra 1990; F. G. Castles (Hg.), Families of Nations. Patterns of Public Policy in Western Democracies, Aldershot 1993; A. Siaroff, Work, Welfare and Gender Equality: a New Typology, in: D. Sainsbury (Hg.), Gendering Welfare States, London 1994, S. 82–100; M. Ferrera, The Southern Model of Welfare in Social Europe, in: Journal of European Social Policy, Jg. 6,1, 1996, S. 17–37; G. Bonoli, Classifying Welfare States: a Two-Dimension Approach, in: Journal of Social Policy, Jg. 26,3, 1997, S. 351–372; W. Korpi u. J. Palme, The Paradox of Redistribution and Strategies of Equality: Welfare State Institutions, Inequality and Poverty in the Western Countries, in: American Sociological Review, Jg. 63,5, 1998, S. 661–687. Vgl. ferner: G. V. Rimlinger, Welfare Policy and Industrialization in Europe, America and Russia, New York 1971; H. Heclo, Modern Social Politics in Britain and Sweden, New Haven 1974; J. S. O’Connor, Convergence or Divergence? Change in Welfare Effort in OECD Countries, 1960–1980, in: European Journal of Political Research, Jg. 16,3, 1988, S. 277–299; M. G. Schmidt (Hg.), Wohlfahrtsstaatliche Politik. Institutionen, Prozesse und Leistungsprofil, Opladen 2000; F. X. Kaufmann, Varianten des Wohlfahrtsstaates. Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich, Frankfurt 2003.
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fassend wahrnehmen wollen, aber so viel schwieriger zu rechnen, dass es vor allem in die einschlägigen Indikatorenwerke meist nicht eingeht. Die erkennbare lange Persistenz der Ausgangsmuster, trotz aller Mischungen und Überlagerungen, hat auch dem Argument der ›Pfadabhängigkeit‹ sozialstaatlicher Entwicklungen Auftrieb gegeben. Das ist nicht unberechtigt; man muss es nur richtig verstehen, auf dem Hintergrund der unterschiedlichen trajectories: Pfadabhängigkeit ist keine Zwangsjacke. Die gemeinten Entwicklungspfade sind keine Gräben, aus denen man nicht mehr herauskann, sondern eher mehr oder weniger ausgefahrene Wege, denen man folgt, weil man ihnen bisher gefolgt ist, und die zu verlassen meistens mit höheren Kosten verbunden wäre. Jedenfalls nimmt man das zunächst einmal an. Kluge Interpreten wie Douglass North oder Paul Pierson haben deshalb ›path dependence‹ eng an die Dynamik von ›increasing returns‹ gebunden, aber gleichzeitig auch Flexibilität konstatiert und die Bedeutung von ›timing and sequence‹, von ›critical junctures‹ (wie schon Ruth und David Collier), von Kontingenz und Entscheidungen hervorgehoben.10 ›Pfadabhängigkeit‹ heißt praktisch vor allem, dass bestimmte bisherige Entwicklungsverläufe bestimmte Wahrscheinlichkeiten bedingen, wenn die Akteure nicht bewusst anders entscheiden. Diese andere Entscheidung ist aber möglich (›agency matters‹). Und sie wird konditioniert von den Konstellationen des Umfelds, insbesondere den Interessen der Einflussgruppen, und in der Demokratie auch von der Unterstützung durch die Bürger. Die grundsätzliche Flexibilität und Offenheit des ›Pfadabhängigen‹ und die zahlreichen Mischungen von einzelnen Elementen der Sozialstaatlichkeit, über die Trennlinien der ursprünglichen Großtypen hinweg, die dadurch zunehmend fragmentiert und hybridisiert werden, bedingen, dass sich das ohnehin schon breite Modellangebot für die Konstrukteure ›neuer‹ Sozialstaatlichkeit noch weiter auffächert und vergrößert. Grundsätzlich könnte man ›aus dem Vollen schöpfen‹, umso mehr, je später man kommt.
10 D. C. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge 1990; P. Pierson, Increasing Returns, Path Dependence, and the Study of Politics, in: The American Political Science Review, Jg. 94, 2, 2000, S. 251–267; ders., Politics in Time. History, Institutions, and Social Analysis, Princeton 2004; R. B. Collier u. D. Collier, Shaping the Political Arena, Princeton 1991. Vgl. auch K. Thelen, Historical Institutionalism and Comparative Politics, in: Annual Review of Political Science, Bd. 2, 1999, S. 369–404.
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2. Wie wird ›neue‹ Sozialstaatlichkeit ›konstruiert‹? 2.1 Complete models do not travel Die ›Konstruktion‹ ›neuer‹ Sozialstaatlichkeit geschieht meistens nicht in Form der Umsetzung einheitlicher Konzepte und Blaupausen, sondern weniger systematisch. Auch hier gilt durchweg die Erkenntnis aus der Regimeforschung: Complete models do not travel. ›Konstruiert‹ werden in den meisten Fällen (abgesehen möglicherweise von wenigen totalitären Diktaturen) nicht ›Sozialstaaten‹, sondern allenfalls sektorale Teilbereiche, und oft wieder nur Teile davon, manchmal sogar in inkrementellen Schritten, in kurzfristiger Antwort auf die jeweils letzte Krise oder punktuelle Pressionen und Forderungen. Diese Schritte können sich am Ende allerdings aufaddieren und gewinnen allmählich eine erkennbare ›Gestalt‹, die sich weiter verfestigen (möglicherweise gar als ›Typ‹ etablieren) kann. Die unsystematischen Sozialreformen des New Deal in den USA scheinen insoweit ›typischer‹ zu sein als etwa die Umsetzung des Beveridge Plans in Grossbritannien nach 1945. Die Anregungen und Vorbilder für einzelne Massnahmen können dabei durchaus auch aus unterschiedlichen Quellen und ›Modellen‹ stammen; Mischung, Hybridität (›mestizaje‹) ist der Normalfall. Es gibt zwar bestimmte Prägungen und Wahrscheinlichkeiten, entsprechend den Entwicklungswegen und Rahmenbedingungen, aber man lernt, kommuniziert, nimmt wahr, übernimmt, und zwar selektiv. Selektivität ist hier ganz zentral. – Aber wovon hängt das konkrete Ergebnis der Auswahl jeweils ab? 2.2 Wovon hängt die ›Konstruktion‹ neuer Sozialstaatlichkeit ab? Die Konstruktion ›neuer‹ Sozialstaatlichkeit hängt zunächst einmal vom konkreten Leistungs- und Reformbedarf in einer Gesellschaft ab und von der Liefer- und Reformfähigkeit der jeweiligen ›Konstrukteure‹, sozusagen der demand und der supply side sozialstaatlicher Reformen. Die beiden Seiten kann man aber nicht immer klar trennen. Zahlreiche Grundbedingungen und -konstellationen sind wichtig für beide: Sie charakterisieren die Probleme und sie umreißen gleichzeitig das vorhandene Potential zu deren Bearbeitung. Dies bezieht sich einmal auf die Konstellationen des Vierecks der zentralen Bedingungscluster der Anforderungen an soziale Sicherung, zwischen den Eckpunkten: Demographische (und Wanderungs-) Entwicklung, Haushaltsstruktur/ Familie (also der gesellschaftlichen Seite), Markt und Staat. Es bezieht sich auf die ökonomische Leistungsfähigkeit des Gemeinwesens insgesamt sowie auf die sozialen und kulturellen Erwartungen und Werte, auf vorhandenes oder fehlendes Vertrauen (zwischen den Bürgern und zwischen Bürgern und Eliten). Diese Faktoren und Konstellationen entsprechen in der Regel den Entwicklungswegen 369
der jeweiligen Gesellschaften und konstituieren bestimmte ›confining condi tions‹ (Kirchheimer)11 und Kanäle für weitere Gestaltung, die wichtig sind für die Auseinandersetzung mit den Bestandteilen der vorhandenen Modelle von Sozialstaatlichkeit. Die Selektivität möglicher Übernahmen greift dabei auf (mindestens) zwei Stufen: erstens entlang der Frage, was von dem Modellangebot in diese Kanäle passt und nicht gegebenen Bedingungen (unter anderem der Leistungsfähigkeit), Erwartungen und Werten widerspricht (selectivity 1); und zweitens mit der Frage, was aus dem Modellangebot die Akteure wollen (selectivity 2). Letzteres richtet sich unter anderem nach drängenden Problemlagen (zum Beispiel der Notwendigkeit, irgendeinen Ersatz für die weggefallenen betrieblichen Sozialleistungen in ehemals kommunistischen Ländern zu finden), der Abwägung politischer Prioritäten und Opportunitäten, oder kurzfristigen Erwartungen. 2.3 Zeitlichkeit, ›leapfrogging‹, sozialstaatliches ›Minimum‹ Dabei sind drei Fragen besonders interessant: Erstens die Frage nach den jeweiligen Kontinuitäten, Diskontinuitäten und Sequenzierungen. Beim Transfer von sozialstaatlichen Mechanismen aus einem älteren Sozialstaat in einen allmählich entstehenden jüngeren ist zudem das implizierte Entwicklungsgefälle wichtig, was nicht nur zu ungleichgewichtigen und ungleichen Lernprozessen führen kann, sondern auch zur Gleichzeitigkeit von typologisch Ungleichzeitigem und zu funktional unterschiedlichen Wirkungen derselben Mechanismen in unterschiedlichen Kontexten. Sozialstaatlichkeit mag oft regimeblind sein; kontextblind ist sie nicht. Die zweite Frage bezieht sich auf ein gegenläufiges Verhältnis, nämlich darauf, ob es in den Prozessen der ›Konstruktion‹ von neuer Sozialstaatlichkeit auch jene Phänomene geben kann, die wir in anderen Zusammenhängen, besonders der Regimewechsel-, Demokratisierungs- und Parteienforschung, mit dem schönen Begriff des ›leapfrogging‹ bezeichnet haben.12 Gemeint ist damit ein Potential neuer strategischer Vorteile für die latecomers, das sich daraus ergeben kann, dass sie gerade aufgrund ihres Entwicklungsrückstands, besonders mangelnder institutioneller Auffächerung und Verfestigung, imstande sind, bestimmte Stufen und Stadien der klassischen Modernisierungsmuster und -sequenzen zu überspringen (wie der Frosch) und sich damit zeitraubende Wege zu ersparen. Zeitweise erschien es in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten so, als 11 Zu ›confining conditions‹ als Analysekategorie vgl. O. Kirchheimer, Confining Conditions and Revolutionary Breakthroughs, in: American Political Science Review, Jg. 59, 1965, S. 964–974. 12 Zu den Mechanismen des ›leapfrogging‹ vgl. R. Gunther u. a. (Hg.), The Politics of Demo cratic Consolidation. Southern Europe in Comparative Perspective, Baltimore 1995, bes. Introduction u. Conclusion, S. 1–32 u. 389–413.
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ob es zum Beispiel bei der Umsteuerung und Neujustierung der sozialen Sicherungssysteme (welfare state retrenchment, Privatisierung, flexiblere private/ public Kombinationen, und so weiter) gelegentlich -- und entgegen der sprichwörtlichen Feststellung von Karl Marx – sogar neue Modellfunktionen der weniger entwickelten für die entwickeltere Welt geben könnte (Stichwort: ›von Chile lernen?‹). Drittens wäre zu fragen, ob sich im Bereich des sozialstaatlichen Modelltransfers so etwas wie Giovanni Sartoris universalisierbares Minimum beim Demokratietransfer definieren oder postulieren lässt. Sartori geht, in einem vielbeachteten Artikel von 1995,13 davon aus, dass komplette Modelle in der Regel nicht übertragbar sind und dass es auch nicht sinnvoll ist, zum Beispiel in einem unterentwickelten afrikanischen Land auf die Umsetzung des vollen Programms einer leistungsfähigen sozialstaatlichen Demokratie hinzuarbeiten, mit der man nur scheitern könne. Stattdessen präpariert er in einem ›procedural sequencing‹ unter dem Imperativ der ›harm avoidance‹ aus den einschlägigen Elementen der modernen Demokratie jene Faktoren heraus, die ihm grundlegend für alles andere und deshalb auch universalisierbar und nicht verhandelbar erscheinen. Das sind vor allem die rechtsstaatlichen Garantien zum Schutz der Bürger. ›Freiheit von‹ etwas ist wichtiger als ›Freiheit zu‹ etwas; ›demo protection‹ wichtiger als ›demo power‹; Verlässlichkeit und Sicherheit wichtiger als Leistungsfähigkeit. Die Frage ist, ob es so einen harten Kern, so ein unverzichtbares, und daher unabhängig vom Kontext geltendes Minimum auch im Bereich der Sozialstaatlichkeit gibt, und wie dieses Minimum gegebenenfalls definiert werden kann. Hätte man es, könnte es bei der Prioritäten setzung helfen. Normativ wäre dies möglicherweise zu bewältigen, wenn man ausgeht vom Postulat der Freiheit von Not und Zwang, Hunger und Armut sowie der Wünschbarkeit der Basiselemente von Gerechtigkeit und von mehr freedom of choice (orientiert etwa an John Rawls und Amartya Sen).14 Problematisch wird es erst, wenn wir diese Forderungen mit den konkreten Bedingungen einer Gesellschaft (im Kongo, in Peru oder in China) kontrastieren und nach Kriterien dafür fragen, was denn nun zuerst zu tun sei. Im gegenwärtigen Bolivien zum Beispiel gibt es gute Gründe dafür, dass grundlegende Armutsbekämpfung, Mindestbildungsstandards und der Ausbau von Gesundheitsvorsorge Vorrang haben sollten, wohingegen die 1997 dekretierte modische Privatisierung der Sozialversicherung unter ›neo‹liberalem Vorzeichen fehl am Platz und kontraproduktiv war, zum Teil mit katastrophalen Folgen für die Versicherten, besonders die Schwächeren und die Frauen. Sie ist inzwischen mühsam wieder zurückgedämmt worden. Angemessener im Sinne der Prioritäten für den ›harten 13 G. Sartori, How Far Can Free Government Travel?, in: Journal of Democracy, Jg. 6,3, 1995, S. 101–111. 14 Vgl. J. Rawls, A Theory of Justice, Cambridge, MA 1971; A. Sen, Development of Freedom, New York 1999; ders., The Idea of Justice, Cambridge, MA 2009.
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Kern‹ erscheinen dagegen andere inzwischen ergriffene Maßnahmen wie die Anhebung der Mindestlöhne (mit Staatsgarantien), der Ausbau der Familienbeihilfen (einer revolutionären Errungenschaft aus den 1950er Jahren), eine erfolgreiche Alfabetisierungskampagne und die Einführung einer zusätzlichen steuerfinanzierten Bürgerrente (seit 2002/2008), also eines neuen ›skandinavischen‹ Elements im ansonsten nicht-skandinavisch geprägten bolivianischen Sozialsystem. Der zunehmende Mix aus einem breiten Modellspektrum, und aus Altetabliertem und Neuem, fällt dabei ebenso auf wie die große Abhängigkeit von den Staatseinnahmen, die derzeit aufgrund der boomenden Erdgasexporte hoch sind.15
3. Entscheidungen und Lernprozesse 3.1 Varieties of proliferation Das neuere bolivianische Beispiel kann gut illustrieren, wie gemeinhin Entscheidungen über die Übernahme, Modifikation oder Ablehnung anderswo existierender sozialstaatlicher Muster und Mechanismen ablaufen, nämlich segmentiert, ›zerhackt‹, verschoben, verwässert, hochgradig selektiv und im Er gebnis kombiniert und gemischt. Eine besondere Rolle spielen dabei noch die Weisen und Stufen der Vermittlung der Modelle, oft in der Kommunikation der ›Experten‹, samt allen zusätzlichen Filtern und Verzerrungen, die dabei hineingeraten können.16 Die ›Konstrukteure‹, also die einschlägigen technokratischen und politischen Eliten, studieren die vorhandenen Modelle und deren Elemente so, wie sie sie wahrnehmen, und entscheiden dann nach den eigenen Bedürfnissen, den Konstellationen der Akteure und des Kontext sowie den verfügbaren Ressourcen, unter Berücksichtigung der confining conditions und Konfliktlagen, der Abwägung von Prioritäten (zum Beispiel einer aktuellen Krisen bekämpfung oder der Beruhigung sozialer Spannungen), des politisch Machbaren und Zumutbaren, oft mit viel trial and error. Das ist schon lange so: So haben zum Beispiel um 1900 amerikanische Sozialpolitiker und Experten die Deutschen um ihre blühenden Institutionen bürgerlicher Sozialreform und deren professionelle Verwaltung (besonders auf der kommunalen Ebene) beneidet, konnten aber davon nicht viel in die USA importieren, weil solche Institutionen in den machine politics der amerikanischen Städte keinen Raum und keinen Hebel für Gestaltung gefunden hätten. Es blieben vor allem die privaten Einrichtungen der Fürsorge. Wie Marcus Gräser ge15 Vgl. BTI 2010: Bolivia Country Report, in: Bertelsmann Stiftung (Hg.), Transformation Index 2010, http://www.bertelsmann-transformation-index.de/104.0.html (30.01.2010). 16 Dazu ausführlicher: R. Gunther, J. R. Montero u. H. J. Puhle (Hg.), Democracy, Intermediation, and Voting on Four Continents, Oxford 2007.
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zeigt hat, ist auch dies ein Grund dafür gewesen, dass die USA länger ›Wohlfahrtsgesellschaft‹ geblieben sind und erst später ›Wohlfahrtsstaat‹ wurden.17 Gesetzgebung und Institutionenbau in dessen erster Durchbruchsphase, den Reformen des New Deal in unmittelbarer Reaktion auf die Folgen der Grossen Depression, wurden dann eindrucksvolle Belege für den unsystematischen, gemischten, segmentierten und selektiven Charakter der ›Konstruktion‹ von mehr Sozialstaatlichkeit. Nach enttäuschenden Erfahrungen mit den britischen poor laws wurde das deutsche Modell um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auch im sich modernisierenden Japan studiert, so intensiv, dass man 1896 einen japanischen ›Verein für Socialpolitik‹ gründete. Dieser blieb zwar als akademischer think tank einflussreich, aber die politischen und sozialen Prioritäten Japans waren von denen Deutschlands (und anderer europäischer Länder) so weit entfernt, dass es zu nennenswerten Übernahmen nicht kam.18 Auf der anderen Seite finden wir Uruguay, einen der modernsten und leistungsfähigsten Sozialstaaten der Zwischenkriegszeit: Das Land war dank seiner Exporterlöse reich und die Politiker und Experten der Batllistischen Reformen konnten es sich leisten, die fortgeschrittensten und teuersten sozialstaatlichen Programme aus verschiedenen europäischen Ländern zu importieren (teilweise systematisch), sie neu zu kombinieren und gelegentlich originell auszubauen.19 Im Gegensatz dazu folgten die Nachbarländer Brasilien und Argentinien in den Sozialreformen der populistischen Entwicklungsdiktaturen von Vargas und Perón mehr begrenzten südeuropäischen Mustern von Sozialstaatlichkeit mit deutlich klientelistischen Zügen und gelegentlichen Inspirationen des italienischen Faschismus.20 Und es gibt immer wieder Moden, oft ideologisch inspirierte hegemoniale Entwürfe, die sich für eine Zeit in einer Region (und darüberhinaus) etablieren können. Das beste Beispiel dafür sind die ›neo‹liberalen Experimente, die unter Anleitung der ›Chicago Boys‹ im letzten Vierteljahrhundert auch im Bereich sozialstaatlicher Sicherungen gemacht worden sind, interessanterweise nicht so sehr in den Kernländern älterer Sozialstaatlichkeit, in denen sich diese Konzepte nicht durchsetzen konnten, sondern vor allem in Entwicklungsländern, überwiegend in Lateinamerika (zuerst 1986 in Bolivien), aber auch in Afrika und Asien, und nach 1989 auch in einer Reihe osteuropäischer Länder. Hier
17 M. Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat. Bürgerliche Sozialreform und Welfare State Building in den USA und in Deutschland 1880–1940, Göttingen 2009. Vgl. auch M. Weir u. a. The Politics of Social Policy in the United States, Princeton 1988; D. T. Rodgers, Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age, Cambridge, MA 1998. 18 Vgl. W. Schwentker, Max Weber in Japan, Tübingen 2000; ferner: M. Takahashi, The Emergence of Welfare Society in Japan, Aldershot 1997. 19 Vgl. H. J. Puhle, Uruguay, in: W. L. Bernecker u. a. (Hg.), Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. 3: Lateinamerika im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1996, S. 973–1015. 20 Ein relativ frühes eigenständiges Mischmodell finden wir auch in Chile.
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ging es vor allem um Deregulierung, Dezentralisierung, eine Umverteilung der Lasten und einen Rückzug des Staates aus der Rentenversicherung, dem welfare-Bereich (social assistance) und auch der Gesundheitsvorsorge. Die vormals staatlichen Systeme wurden durchweg durch private, marktorientierte Betreiber oder durch dezentrale und gemischte social safety nets (SSN) ersetzt.21 In der ersten Runde haben sich die meisten dieser Experimente sehr eng an den Modellen der neoliberalen textbooks orientiert, sehr untypisch, aber bedingt durch hohe Abhängigkeit in Zeiten vermehrter Globalisierung, eine aggressive Nutzung des Machtgefälles durch die Modellbetreiber und Versicherer im Norden, eine enge Kopplung an die gleichzeitigen Regimewechsel von Diktaturen zu Demokratien und eingebettet in die paradigmatisch festgelegten Mechanismen internationaler Entwicklungshilfe. Da diese Reformen meist nicht funktionierten und die Probleme verschlimmert haben, sind sie inzwischen in fast allen Ländern rück-reformiert worden (zum Beispiel in Chile, Uruguay, Bolivien), und es sind ausser verschlankten Staatsagenturen zum Teil flexible Mischsysteme entstanden, die auch anderswo in der Welt als Modelle ernstgenommen und diskutiert werden, sogar in Europa. – Genau studiert werden diese Erfahrungen, wie alle anderen aus Europa, Nordamerika, Australien, Neuseeland, Polen, Russland, Japan und anderswo, in den letzten Jahrzehnten auch in China, wo man vor einer ganzen Reihe kumulierter Probleme steht und nur langsam mit der Herkules aufgabe vorankommt, völlig neue differenzierte (regionalisierte, segmentierte und für Stadt und Land verschiedene) Sozialsysteme aufzubauen, mit vielen (unsystematischen) public/private Mischungen und trial and error-Experimenten. Den Traditionen und der Bedeutung des Landes entsprechend geschieht das allerdings wieder in der eher typischen Manier: in souveräner Prüfung der Elemente der diversen Modellangebote im Lichte der Gegebenheiten, Bedürfnisse, Ziele und Prioritäten der eigenen Gesellschaft und Politik. Neuere Forschungen im lateinamerikanischen Kontext und breitere Vergleiche mit Massendaten zwischen OECD-Ländern und Nicht-OECD-Ländern haben allerdings auch gezeigt, dass in diesen Transferprozessen die politischen Konstellationen und die Prioritäten der jeweiligen Regierungen, Parlamentsmehrheiten und der entsprechenden Parteien und Koalitionen sehr wichtig sind (›Politics matter!‹). Vor allem in Entwicklungsländern lässt sich feststellen, dass der Mitteleinsatz für sozialpolitische Maßnahmen nicht, wie durchweg in OECD-Ländern, konsistent und eindeutig zur Verringerung sozialer Ungleichheit beiträgt, sondern nur dann, wenn dies in einem demokratischen Kontext geschieht: ein weiteres Argument für die strukturelle Überlegenheit 21 Vgl. C. Mesa-Lago, Structural Reform of Social Security Pensions in Latin America: Models, Characteristics, Results and Lessons, in: International Social Security Review, Jg. 54,4, 2001, S. 67–92; ders., Reassembling social security: a survey of pensions and health care reforms in Latin America, Oxford 2008, sowie auch die Beiträge in: N. Lustig (Hg.), Shielding the poor: social protection in the developing world, Washington, D. C. 2001.
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demokratischer Systeme und des demokratischen Sozialstaats gegenüber allen autoritären Modellen.22 3.2 Transkontinentale Lernprozesse und Globalisierung Die über hundertjährige Geschichte der Proliferation von Sozialstaatlichkeit aus Europa in die Welt ist zugleich eine endlose Geschichte transkontinentaler Lernprozesse gewesen. Dass diese Prozesse lange Zeit einseitig gerichtet waren, hat mit dem Vorsprung Europas und später des nordatlantischen Raums zu tun. Dies hat sich aber inzwischen geändert. Die Lernprozesse sind in (mindestens) drei Wellen verlaufen: – einer ersten Welle im Zeichen der Entstehung und Expansion der europäischen Sozialstaaten und der Etablierung des Prinzips der Sozialstaatlichkeit zwischen dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts und den 1920er Jahren; – einer zweiten Welle zwischen den 1930er und den 50er Jahren, die charakterisiert war durch die Reaktionen der älteren Sozialstaaten auf die Grosse Depression und die Entstehung neuer Sozialstaaten in Nordamerika und einigen entwickelteren Ländern des Südens (Uruguay, Argentinien, Australien, Neuseeland) sowie einige Keynesianische Erweiterungen nach 1945. – Die dritte Welle seit den 1970er Jahren ist gekennzeichnet gewesen durch Prozesse des Umbaus (oft auch Rückbaus) der Mechanismen von Sozialstaatlichkeit unter dem vereinten Druck eines neuen Typs von Krise (›Stagflation‹), der Hegemonie liberaler (oder ›neo‹liberaler) Therapierezepte, die erst in der jüngsten Finanzkrise schwächer geworden ist, und zunehmender Globalisierungstendenzen, die den transnationalen Austausch ebenso vorangetrieben haben wie die Debatten über die Grenzen von Staatstätigkeit und Staatlichkeit.23 22 Vgl. E. Huber u. a., Politics and Inequality in Latin America and the Caribbean, in: American Sociological Review, Jg. 71, 2006, S. 943–963, sowie J. Pribble, Protecting the Poor: Welfare Politics in Latin America’s Free Market Era, PhD dissertation, University of North Carolina Chapel Hill 2008. 23 Vgl. unter anderem P. Pierson, Dismantling the Welfare State: Reagan, Thatcher, and the Politics of Retrenchment in Britain and the United States, Cambridge 1994; ders. (Hg.), The New Politics of the Welfare State, Oxford 2001; C. Green-Pedersen, Welfare State Retrenchment in Denmark and the Netherlands, 1982–1998, in: Comparative Political Studies, Jg. 34,9, 2001, S. 963–985; B. Rothstein u. S. Steinmo (Hg.), Restructuring the welfare state: political institutions and policy change, New York 2002; C. Pierson, Beyond the Welfare State? The New Political Economy of Welfare, University Park 2007. Zu den Globalisierungswirkungen: G. Esping-Andersen (Hg.), Welfare States in Transition. National Adaptions in Global Economies, London 1996; E. Huber u. J. D. Stephens, Development and Crisis of the Welfare State. Parties and Politics in Global Markets, Chicago 2001; M. Glatzer u. D. Rueschemeyer (Hg.), Globalization and the Future of the Welfare State, Pittsburgh 2005; P. Genschel, Globalization and the Transformation of the Tax State, in: European Review, Jg. 13,1, 2005, S. 53–71; A. Hurrelmann u. a. (Hg.), Transforming the Golden-Age Nation State, Basingstoke 2007, und M. Castells, The Information Age, 3 Bde., Oxford 1996.
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Ob diese dritte Welle mit dem Einsetzen der weltweiten Finanzkrise von 2009 und der dadurch provozierten explodierenden Staatsintervention ihr Ende gefunden hat, wird man noch sehen. Die Bedingungen dieser dritten Welle haben auch die Prozesse der Überholung oder Neuerfindung der Systeme sozialer Sicherung in den früheren kommunistischen Ländern geprägt, und auch die Anfänge von grundlegender Sozialstaatlichkeit in den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt.24 Insgesamt lassen sich hinsichtlich ihrer Problematiken der ›Konstruktion‹ oder ›Rekonstruktion‹ von Sozialstaatlichkeit (und folglich auch ihrer Lerninteressen) nach meiner Zählung derzeit mindestens fünf kategorial verschiedene Ländergruppen unterscheiden: (1) Die entwickelten und umfassenden bürokratischen Sozialstaaten Europas, die ihre Agenturen und Leistungen umbauen, rückbauen, umschichten, u. a. zu neuen Mischungen von ›welfare‹ und ›workfare‹, und die sich auch zunehmend dem überwiegend neuen und noch wenig analysierten Phänomen transnationaler Mechanismen von Sozialstaatlichkeit stellen müssen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen hier die Debatte um ein ›Europäisches Sozialmodell‹25 und die Probleme, die sich aus den Rückwirkungen der verdichteten europäischen Integration (vor und nach Lissabon) auf die etablierten sozialstaatlichen Systeme der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ergeben.26 Hier ist vieles noch im Fluss, zahlreiche Bereiche sind noch nicht ausgelotet, und Politik wie Rechtsprechung tasten sich (unter anderem in der ›offenen Methode der Koordinierung‹) allmählich und konzertiert voran.27 Dabei ist die sorgfältige Registrierung der sich ergebenden Wechselwirkungen zwischen nationalen und europäischen Regelungen sowie zwischen sozial- und wirtschaftspoli24 Vgl. W. Schmähl u. S. Horstmann (Hg.), Transformation and Pension Systems in Central and Eastern Europe, Cheltenham 2002; U. Götting, Transformation der Wohlfahrtsstaaten in Mittel- und Osteuropa, Opladen 1998; L. Leisering u. a., Soziale Grundsicherung in der Weltgesellschaft: Monetäre Mindestsicherungssysteme in den Ländern des Südens und des Nordens, Bielefeld 2006, sowie grundlegend: N. Lustig (Hg.), Shielding the poor: social protection in the developing world, Washington, D. C. 2001, und G. L. Clark u. a. (Hg.), Oxford Handbook of Pensions and Retirement Income, Oxford 2006. 25 Vgl. F. W. Scharpf, The European Social Model: Coping with the Challenges of Diversity, Max Planck Institute for the Study of Societies working paper 02/8, Köln 2002; H. Kaelble u. G. Schmid (Hg.), Das europäische Sozialmodell. Auf dem Weg zum transnationalen Sozialstaat, Berlin 2004; A. Giddens, Die Zukunft des Europäischen Sozialmodells. International Policy Analysis Unit, Friedrich Ebert Stiftung, Berlin 2006. 26 Vgl. S. Leibfried, Towards a European Welfare State? On Integrating Poverty Regimes into the European Community, in: Z. Ferge u. J. E. Kolberg (Hg.), Social Policy in a Changing Europe, Frankfurt 1992, S. 245–280; C. Offe, The European Model of ›Social‹ Capitalism: Can It Survive European Integration?, in: Journal of Political Philosophy, Jg. 11,4, 2003, S. 437–469. 27 Vgl. U. Becker, Der Sozialstaat in der Europäischen Union, in: U. Becker u. a. (Hg.), Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Bonn 2010, S. 313–335.
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tischer Gesetzgebung ebenso wichtig wie das entgrenzte Lernen voneinander (im Einklang mit dem bereits skizzierten weltweiten Trend) und die Bemühung um angemessene funktionale ›Übersetzungsleistungen‹ zwischen den jeweiligen Elementen sozialstaatlicher Sicherungen. (2) Die USA, als Sonderfall, weil sie, von einer etwas niedrigeren sozialstaatlichen Dichte aus, gleichzeitig um- und rückbauen, aber auch weiter ausbauen, nämlich im Gesundheitssektor;28 (3) am anderen Ende, die am wenigsten entwickelten Länder, in denen die ersten Grundlagen sozialstaatlicher Mechanismen noch gelegt werden, vor allem in Afrika und Asien; (4) eine heterogene Gruppe weniger entwickelter Länder mit älteren sozialstaatlichen Traditionen und Institutionen, die ebenfalls umgebaut und neu ausgerichtet werden, aber oft unter äußerem Druck. Einige der besonders charakteristischen lateinamerikanischen Fälle wurden bereits erwähnt. Und schließlich: (5) die Länder, die den Übergang vom Kommunismus zu etwas anderem hinter sich haben oder noch darin stecken. Auch diese Fälle sind sehr heterogen: Zu unterscheiden ist hier vor allem zwischen den entwickelteren zentraleuro päischen Ländern, die den Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft (oder gar den Beitritt zur Europäischen Union) geschafft haben, und den weniger entwickelteren in Südost- und Osteuropa und Asien mit einer problematischeren ökonomischen, politischen (und meistens auch sozialstaatlichen) Bilanz. Dabei ist China in jeder Hinsicht ein besonderer Fall, aufgrund seiner Größe und Wirtschaftskraft, seiner institutionellen Eigenarten, der kategorialen Stadt/ Land-Unterschiede (gerade auch im Sozialsystem) sowie aufgrund der großen Experimentierfreude in einem sozialistisch-kapitalistischen Mischsystem, dessen politische und gesellschaftliche Eliten überwiegend (und oft enthusiatisch) trial and error-Verfahren folgen.29 Allen fünf Gruppen gemeinsam ist jedoch, dass sie heute alle aus demselben breiten Fundus von Modellen, Bausteinen und Elementen von Sozialstaatlichkeit schöpfen können, und zwar gleichzeitig (in ›Echtzeit‹, wie man gerne sagt). Kommunikation ist grundsätzlich grenzenlos geworden und kann in alle Richtungen gehen. Alle können von allen lernen. Zwischen den erwähnten ersten beiden Wellen der sozialstaatsrelevanten Lernprozesse und der dritten gibt es allerdings zwei wichtige Unterschiede. Zum einen hat sich die Richtung des gesamten Prozesses umgekehrt: von der Sicherung sozialstaatlicher Ziele durch ein ganzes Jahrhundert lang immer stärker vermehrte Staatstätigkeit und büro28 Vgl. US Census Bureau, Income, Poverty and Health Insurance Coverage in the United States: 2008, Washington, D. C., Sept. 2009. Zum Hintergrund unter anderem M. Gottschalk, The shadow of the welfare state: labor, business, and the politics of health care in the United States, Ithaca 2000; H. J. Aaron (Hg.), The Problem That Won’t Go Away. Reforming U. S. Health Care Financing, Washington, D. C. 1996, sowie bereits T. Skocpol, Social Policy in the United States. Future Possibilities in Historical Perspective, Princeton 1995. 29 Dazu besonders S. Heilmann, From Local Experiments to National Policy: The Origins of China’s Distinctive Policy Process, in: The China Journal, Nr. 59, 2008, S. 1–30.
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kratische Organisation hin zu (wenigstens tendenziell) weniger Staat, weniger Organisation und loserer Verkopplung. Und zweitens finden die Auseinandersetzungen über die diversen Modellangebote und die entsprechenden Lernprozesse jetzt nicht mehr nur rund um den Nordatlantik (mit den bekannten Enklaven im Süden) statt, sondern sind wirklich global geworden, und auch weniger einseitig gerichtet. Die Trennlinien zwischen ›the West and the rest‹ sind durchlässiger geworden. Es bleiben zwar im Ganzen die ungleichen Verhältnisse von Macht und Einfluss, aber es gibt auch mehr Lernprozesse in die ›andere‹ Richtung, und etwas mehr Reziprozität. Der umfassendere Modellfundus und die breitere Kommunikation könnten überdies dazu beitragen, dass die ohnehin schon stark ausgeprägte Gemischtheit und Hybridität der Systeme von Sozialstaatlichkeit noch einmal schubweise vermehrt wird. Der Einfluss der ursprünglichen Modelle westlicher Sozialstaaten mag unter den Einwirkungen der Prozesse der dritten Welle noch geringer geworden sein als er es aufgrund der vielfältigen Mischungen von Elementen unterschiedlicher typologischer Provenienz und des hohen Grads von Selektivität beim Transfer schon lange gewesen ist. Auf der anderen Seite stammen aber die allermeisten Elemente und Mechanismen von Sozialstaatlichkeit in den größten Teilen der Welt weiterhin aus dem Arsenal dieser älteren westlichen Modelle. Und das Ideal oder der normative Fluchtpunkt des ebenfalls im Westen entwickelten demokratischen Sozialstaats wirkt weiterhin als ständige Herausforderung für alle, die sich, wo auch immer, um mehr Sozialstaatlichkeit bemühen.30 Der demokratische Sozialstaat ist ohne Zweifel die überlegene Alternative. Gerade die neueren Forschungen über soziale Sicherungssysteme und sozialstaatliche Mechanismen in Ländern der ›Dritten Welt‹ haben gezeigt, dass die Bindung der Sozialstaatlichkeit an Rechtsstaat und Demokratie durchweg auch die Wirksamkeit und Qualität der Sozialstaatlichkeit deutlich verbessert.
30 Das demonstrieren auch die zahlreichen Lippenbekenntnisse von Politikern und Experten zum demokratischen Sozialstaat in allen Teilen der Welt.
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Verzeichnis der Erstveröffentlichungen Parlament, Parteien und Interessenverbände in Deutschland 1890–1914 Parlament, Parteien und Interessenverbände 1890–1914, in: M. Stürmer (Hg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870–1918, Düsseldorf 1970, 19772, S. 340–377. Transformationen des deutschen Konservatismus 1770–1980: Zehn Thesen Vom Programm zum Versatzstück. Zehn Thesen zum deutschen Konservatismus, in: Kursbuch, H. 73, 1983, S. 45–60. Was kommt nach den ›catch-all parties‹? Parteien zwischen Modernisierung und Fragmentierung Parteienstaat in der Krise: Parteien und Politik zwischen Modernisierung und Fragmentierung, Wiener Vorlesungen im Rathaus Bd. 92, Wien 2002 (© Picus Verlag. Gesellschaft m.b.H., Friedrich-Schmidt-Platz 4, 1080 Wien). Populismus: Form oder Inhalt? Protest oder Projekt? Populismus: Form oder Inhalt?, in: H. R. Otten u. M. Sicking (Hg.), Kritik und Leidenschaft. Vom Umgang mit politischen Ideen, Bielefeld 2011, S. 29–47; z. T. ergänzt aus: Old and New Populisms in the 21st Century: Continuities and Change, in: A. Ostheimer de Sosa u. M. Borchard (Hg.), Populism Within Europe and Beyond Its Borders, Baden-Baden 2016, in Vorbereitung (© Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG). Interessenverbände im Wandel Originalbeitrag auf der Grundlage einer englischen Version: Interest Groups, History of, in: J. D. Wright (Hg.), International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, 2nd edition, Bd. 12, Oxford 2015, S. 371–377 (© Elsevier 2015). Demokratisierungsprobleme in Europa und Amerika Demokratisierungsprobleme in Europa und Amerika, in: H. Brunkhorst u. P. Niesen (Hg.), Das Recht der Republik, Frankfurt 1999, S. 317–345. ›Embedded Democracy‹ und ›Defekte Demokratien‹: Demokratische Konsolidierung und ihre Teilregime ›Embedded Democracy‹ und ›Defekte Demokratien‹: Probleme demokratischer Konsolidierung und ihrer Teilregime, in: M. Beisheim u. G. F. Schuppert (Hg.), Staatszerfall und Governance, Baden-Baden 2007, S. 122–143. Demokratisierung, Europäisierung, Modernisierung: Parteienentwicklungen in Südeuropa seit den 1970er Jahren Demokratisierung, Europäisierung, Modernisierung: Parteienentwicklungen in Südeuropa seit den 1970er Jahren, in: H.-J. Veen u. a. (Hg.), Parteien in jungen Demokratien. Zwischen Fragilität und Stabilisierung in Ostmitteleuropa, Köln 2008, S. 13–36.
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Vom Wohlfahrtsausschuss zum Wohlfahrtsstaat: Bürokratisierung, Industrialisierung, Demokratisierung Vom Wohlfahrtsausschuss zum Wohlfahrtsstaat. Entwicklungstendenzen staatlicher Aufgabenstellung und Verwaltungsprobleme im Zeichen von Industrialisierung und Demokratisierung, in: G. A. Ritter (Hg.), Vom Wohlfahrtsausschuss zum Wohlfahrtsstaat, Köln 1973, S. 29–68. Probleme der spanischen Modernisierung im 19. und 20. Jahrhundert Probleme der spanischen Modernisierung im 19. und 20. Jahrhundert, in: Jb. f. Geschichte von Staat, Wirtschaft, und Gesellschaft Lateinamerikas, Jg. 31, 1994, S. 305–328. Nationalismus und Demokratie in Europa Originalbeitrag auf der Basis eines Vortrags zum Thema ›Old and New Nationalisms and Democracy in Europe‹ (University of Helsinki, Dezember 2008; Georgetown University, März 2010); für die deutsche Version wurden auch Textpasssagen herangezogen aus: Staaten, Nationen und Regionen in Europa, Wiener Vorlesungen im Rathaus Bd. 37, Wien 1995 (© Picus Verlag. Gesellschaft m.b.H., Friedrich-Schmidt-Platz 4, 1080 Wien), und: Neue Nationalismen in Osteuropa – eine sechste Welle?, in: E. Jahn (Hg.), Nationalismus im spät- und postkommunistischen Europa, Bd. 1, Baden-Baden 2008, S. 162–182. Unabhängigkeit, Staatenbildung und gesellschaftliche Entwicklung in Nord- und Südamerika Unabhängigkeit, Staatenbildung und gesellschaftliche Entwicklung in Nord- und Südamerika, in: D. Junker u. a. (Hg.), Lateinamerika am Ende des 20. Jahrhunderts, München 1994, S. 27–48. Das atlantische Syndrom. Europa, Amerika und der ›Westen‹ Das atlantische Syndrom. Europa, Amerika und der ›Westen‹, in: J. Osterhammel u. a. (Hg.), Wege der Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2006, S. 179–199. Bauern, Widerstand und Politik in der außereuropäischen Welt Bauern, Widerstand und Politik in Lateinamerika, Asien, Afrika. Einige Vorbemerkungen über Begriffe und über die Leistungen und Grenzen bäuerlicher Resistenz, in: M. Mann u. H. W. Tobler (Hg.), Bauernwiderstand: Asien und Lateinamerika in der Neuzeit, Wien 2012, S. 27–68. Die ›Konstruktion‹ neuer Sozialstaaten in der Auseinandersetzung mit alten Modellen: ›Pfadabhängigkeiten‹, Entscheidungen und Lernprozesse Die ›Konstruktion‹ neuer Sozialstaaten in der Auseinandersetzung mit alten Modellen: ›Pfadabhängigkeiten‹, Entscheidungen und Lernprozesse, in: U. Becker u. a. (Hg.), Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Bonn 2010, S. 197–212.
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