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German Pages 356 [357] Year 1973
Probleme der Geschichtsmethodologie
Probleme der Geschichtsmethodologie Herausgegeben von Ernst Engelberg
AKADEMIE -VERLAG 1972
•
BERLIN
Herausgegeben von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin Zentralinstitut für Geschichte Forschungsstelle Methodologie und Geschichte der Geschichtswissenschaft Redaktionelle Bearbeitung: W. Küttler und H.-P. Jaeck
Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 Copyright 1972 by Akademie-Verlag GmbH Lizenznummer: 202 • 100/34/72 Umschlaggestaltung: Rolf Kunze Herstellung: IV/2/14 VEB Druckerei „Gottfried Wilhelm Leibniz", 445 Gräfenhainichen/DDR • 3732 Bestellnummer: 5909 • ES 14 A EDV 751 987 8 38,-
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
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Abkürzungsverzeichnis
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Ernst Engelberg: Über Theorie und Methode in der Geschichtswissenschaft
11
Wolfgang Küttler¡Gerhard Lozek: Marxistisch-leninistischer Historismus und Gesellschaftsanalyse. Die historische Gesetzmäßigkeit der Gesellschaftsformationen als Dialektik von Ereignis, Struktur und Entwicklung
33
Hans-Peter Jaeck: Bemerkungen über den Begriff und einige Aufgaben der marxistisch-leninistischen Geschichtsmethodologie .
79
Gerhard Brendler: Zur Rolle der Parteilichkeit im Erkenntnisprozeß des Historikers
103
Ernst
Engelberg: sierung
Zu methodologischen
Problemen
der
Periodi121
Helmut Meier: Erfahrungen mit der soziologischen Methode der schriftlichen Befragung bei Untersuchungen zum Stand und zu Entwicklungsproblemen des sozialistischen Geschichtsbewußtseins (Ein Beitrag zur Bedeutung soziologischer Forschungsmethoden für die Geschichtswissenschaft)
155
Rolf Barthel: Lenin über den Systemcharakter und die Widersprüche des Imperialismus
173
Peter Wiek: Informationsprobleme der Geschichtswissenschaft . . .
199
Botho Brachmann: Die Anwendung von Methoden der Informationstheorie in der Arbeit des Historikers
213
Hartmut Zwahr: Die Struktur des sich als Klasse konstituierenden deutschen Proletariats als Gegenstand der historischen Forschung
235
Rudolf Hub: Zu einigen Konzeptionen und Methoden der Schulgeschichtsschreibung in der B R D
271
6
Inhaltsverzeichnis
Karl-Heinz Noack: Zu einer Tradition der gegenwärtigen Sozialgeschichtsschreibung der B R D (Gustav Schmoller)
287
Hans Schleier: Zum Verhältnis von Historismus, Strukturgeschichte und sozialwissenschaitlichen Methoden in der gegenwärtigen Geschichtsschreibung der B R D
299
Autorenverzeichnis
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Vorwort
Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis neuer Bemühungen, die marxistisch-leninistische Geschichtsmethodologie weiterzuentwickeln. Die bisherigen Diskussionen, unter anderem auch auf einem Kolloquium, das mit internationaler Beteiligung im Juni 1970 in Berlin stattfand, kreisten einmal um die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Methode, zum anderen um die nach den Aufgaben der Geschichtsmethodologie. Anknüpfend an diese Grundfragen, sind die noch zu diskutierenden und zu klärenden Probleme folgendermaßen zu umreißen: a) Wie kann die Theorie des dialektischen und historischen Materialismus in eine für die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft wirksame Methode der materialistischen Dialektik umgesetzt werden? b) Wie können die verschiedenen Methoden, die die Entwicklung der Gesellschafts- und Naturwissenschaften hervorbringt, unter dem Hauptgesichtspunkt der materialistischen Dialektik so gesichtet und kritisch überprüft werden, daß sie zu wirksamen Forschungsinstrumenten in der Geschichtswissenschaft werden? Was die Theorie betrifft, so beziehen wir uns auf die Einheit von dialektischem und historischem Materialismus. Und wenn wir genauer untersuchen, wie diese umfassende weltanschauliche Theorie mit Hilfe der Methode der materialistischen Dialektik in konkrete Geschichtsforschung umgesetzt werden kann, dann wird unser Instrumentarium reichhaltiger und tiefer in die Probleme eindringen. Wir sind dann in der Lage, einerseits aufgeschlossen zu sein gegenüber sich neu anbietenden Methoden der verschiedenen Gesellschafts- und Naturwissenschaften, andererseits eben diese Methoden kritisch zu überprüfen. Wir haben vor allem diejenigen Methoden auszuarbeiten und wirksamer zu machen,die der Erforschung und überzeugenden Darstellung der Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung und Abfolge der ökonomischen Gesellschaftsformationen dienen. Das ist seit eh und je unsere Hauptaufgabe und Hauptschwierigkeit, zugleich der Angelpunkt unserer Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Geschichtsideologie — in welcher Form sie auch auftritt, ob in Form eines soziologisierenden Strukturalismus oder idealistischen Historismus.
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Vorwort
Was die Geschichtsmethodologie betrifft, so werden wir die Klassifizierung und die Darstellung des Zusammenwirkens der verschiedenen Methoden auf dem Boden der materialistischen Dialektik erst nach einigen Jahren bewältigen können. Aber um diese wichtige Arbeit, eine marxistisch-leninistische Historik zu schaffen, kommen wir nicht herum. Mit diesem Ausdruck sei bewußt an das methodologische Hauptwerk des deutschen bürgerlichen Historismus angeknüpft, an Droysens „Historik". Ihr haben wir unsere klassenmäßige und ideologische Antithese entgegenzusetzen. In unserem konstruktiven Bemühen um den Ausbau der Geschichtsmethodologie müssen wir stets auch den engen, organischen Zusammenhang zwischen Methodologie und Geschichte der Geschichtswissenschaft beachten. Darum enthält unser Sammelband auch Beiträge zum letzteren Themenkomplex. Die Geschichte der Geschichtswissenschaft befaßt sich mit der Genesis der historischen Theorie und Methodologie. Damit liefert sie einen wichtigen Beitrag zur weiteren Entwicklung einer Wissenschaftstheorie unseres Faches. Die Geschichte der Geschichtswissenschaft trägt auch bei zur Erforschung der politischideologischen Funktion der marxistisch-leninistischen Geschichtstheorie und -methodologie und zur Auseinandersetzung mit den verschiedenen leitenden Varianten der imperialistischen Geschichtsmethodologie. Zur materialistischen Dialektik oder, anders ausgedrückt, zur dialektischen Logik gehört nach Lenin der Grundsatz, daß „in die vollständige .Definition' eines Gegenstandes die ganze menschliche Praxis sowohl als Kriterium der Wahrheit wie auch als praktische Determinante des Zusammenhangs mit dem, was der Mensch braucht, eingehen" muß. Die Erfordernisse der gesellschaftlichen und politischen Praxis der revolutionären Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei mit ihren Fragestellungen an das geschichtliche Material tragen über und durch die Themenwahl dazu bei, die jeweils anzuwendenden Methoden mitzubestimmen. Die Erfordernisse der Praxis gehören also auch zur Methode der materialistischen Dialektik. Ließen wir diese Erfordernisse außer acht, würden wir bei aller Anerkennung allgemeiner Prinzipien des MarxismusLeninismus in einen Akademismus geraten, der sich von den Anforderungen des gesellschaftlichen und politischen Lebens entfremdet. Wir brauchen politisch zielbewußte Fragestellungen an die Geschichte. Dazu kommt noch eine andere Seite der ganzen Problematik. Wie jede Sphäre der objektiven Welt, muß auch die Geschichte in einem nie endenden, nie vollendeten Prozeß erkannt werden. Wir lenken diesen Erkenntnisprozeß, indem wir uns vom historischen Material nicht einfach passiv beeindrucken lassen, sondern aktiv an es herangehen. Aus der Vielzahl der möglichen Fragen an die Vergangenheit wählen wir nämlich diejenigen aus, die die Gegenwart aufwirft. Nur indem wir die dialektische Einheit von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und Politik beachten, wird die weitere Erarbeitung methodologischer Grundsätze wirklich fruchtbar werden für die Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung. Berlin, im März 1971
Ernst Engelberg
Abkürzungsverzeichnis
Bericht
Duisburg
Bericht
Freiburg
Bericht
{West-)Berlin
BzG DZfPh Einführung in das Studium der Geschichte GdA GWU HZ Marxistische MEW Philosophisches Wörterbuch
Philosophie
Studien Unbewältigte Vergangenheit Wörterbuch
der
Wörterbuch
Soziologie
ZfG
Kybernetik
Bericht über die 25. Versammlung (west-) deutscher Historiker in Duisburg, 1 7 . - 2 0 . Oktober 1962, Stuttgart 1963 Bericht über die 27. Versammlung (west-) deutscher Historiker in Freiburg/Breisgau, 10.—15. Oktober 1967, Stuttgart 1969 Bericht über die 26. Versammlung (west-)deutscher Historiker in (West-)Berlin, 7 . - 1 1 . Oktober 1964, Stuttgart 1965 Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin Einführung in das Studium der Geschichte, hg. v. W. Eckermann und H. Mohr, Berlin 1966 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, in acht Bänden, Berlin 1966 Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Stuttgart Historische Zeitschrift, München Marxistische Philosophie, Lehrbuch, Berlin 1967 Marx, Karl ¡Engels, Friedrich, Werke, Berlin 1955 ff. Philosophisches Wörterbuch, hg. v. Georg Klaus und Manfred Buhr, Bde 1 u. 2, 6., Überarb. u. erw. Aufl., Berlin 1969 Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, 2 Bde, hg. v. Joachim Streisand, Berlin 1965 Unbewältigte Vergangenheit. Handbuch zur Auseinandersetzung mit der westdeutschen bürgerlichen Geschichtsschreibung, hg. v. Gerhard Lozek, Helmut Meier, Walter Schmidt, Werner Berthold, Berlin 1970 Wörterbuch der Kybernetik, hg. v. Georg Klaus, Berlin 1968 Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, hg. v. Wolfgang Eichhorn I, Erich Hahn, Günter Heyden u. a., Berlin 1969 Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin
Ernst Engelberg
Über Theorie und Methode in der Geschichtswissenschaft
Angesichts der Erfolge des Sozialismus als Gesellschaftsordnung und internationales Staatensystem in den letzten zwei Jahrzehnten sah sich die imperialistische Ideologie gezwungen, die Herausforderung auch auf geschichtstheoretischem und methodologischem Gebiet anzunehmen und eigene strategische Orientierungen sowie theoretische Leitbilder zu entwickeln. Die Auseinandersetzung zwischen dem kapitalistischen und dem sozialistischen Gesellschaftssystem hat sich verschärft; auch sind die Klassenkämpfe umfassender geworden, geographisch und sachlich — in ihrem weltweiten Zusammenhang und ihrem koordinierten Erfassen aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Das erfordert eine geschlossenere und zugleich in sich differenziertere Gesamtschau von der historischen Vergangenheit — im Dienste der Gegenwart und Zukunft. Überdies vollziehen sich auf dem Boden der wissenschaftlich-technischen Revolution die Spezialisierung und zugleich Integration sowohl der Gesellschaftswissenschaften als auch der Naturwissenschaften. In diesem Prozeß entstehen eine große Anzahl neuer Disziplinen, deren Methoden sich der Geschichtswissenschaft gleichsam anbieten. Die marxistisch-leninistische Geschichtstheorie und -methodologie haben sich mit zwei Traditionen und Richtungen auseinanderzusetzen, sowohl mit dem vornehmlich deutsch-bürgerlichen Historismus als auch mit dem vornehmlich westeuropäisch-bürgerlichen Positivismus. Innerhalb der bürgerlichen Ideologie befindet sich gegenwärtig der erstere in der Defensive, der letztere in der Offensive. Vom Blickpunkt der historischen Forschung und Darstellung sei vorerst folgendes festgehalten: Der Historismus hat die Tendenz, nach der idiographischen Methode das einzelne, unwiederholbare Ereignis überzubetonen, es zwar mit anderen Ereignissen in einen linearen Kausalzusammenhang zu setzen, doch von Strukturen und Entwicklungen der Gesellschaft zu isolieren; der Historismus betrachtet die Geschichtswissenschaft als „Ereigniswissenschaft" (Windelband), die er von der „Gesetzeswissenschaft", die sich mit der Erforschung der Natur befaßt, unterscheidet. Der Positivismus, besonders in seiner gegenwärtigen Ausprägung, überbetont die Analyse von Strukturen einer Gesellschaft oder Gruppe, die sowohl von den sozialökonomischen Grundlagen als auch von ihrer historischen Ent-
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Ernst Engelberg
wicklung und von den einzelnen, tatsächlich unwiederholbaren Ereignissen isoliert werden. Historismus wie Positivismus zeichnen sich durch totales Unverständnis gegenüber der Dialektik aus und vermögen deshalb nicht, die Gesetzmäßigkeit in der Geschichte zu erkennen. Innerhalb der bürgerlichen Geschichtswissenschaft wird bei der Kontroverse um methodologische Grundanliegen die eigentliche Streitfrage — Historismus oder Positivismus — sehr oft dadurch verdunkelt, d a ß in recht verschwommener Weise Soziologie (oder Sozialwissenschaft) und Geschichtswissenschaft nebeneinander oder gar gegeneinander gestellt werden. Das zeigte sich auch auf dem X I I I . Internationalen Historikerkongreß in Moskau. Abgesehen davon, daß sofort die Frage entsteht und beantwortet werden möchte, welche Soziologie und welche Geschichtswissenschaft hier nebeneinander- oder gegenübergestellt werden, drückt man sich davor, die einfache Wahrheit zu erkennen und auszusprechen, daß die Geschichtswissenschaft eine Gesellschaftswissenschaft ist. Dem Wesen nach haben wir es mit der Geschichte des sozialen Menschen zu tun. Den hoffnungslos veralteten und verteufelt irreführenden Begriff der sogenannten Geisteswissenschaft sollte selbst ein bürgerlicher Wissenschaftler, der etwas auf sich hält, endgültig aus dem Verkehr ziehen; hier dürfte nicht einmal mehr ein falscher Zungenschlag möglich sein. Indem wir die Geschichtswissenschaft als Gesellschaftswissenschaft auffassen, haben wir bereits eine erste grobe Umgrenzung ihres Gegenstandes. Doch eine Gesellschaft schlechthin gibt es nicht, sondern nur eine jeweils konkret-historische Gesellschaftsordnung, deren grundlegender Bestandteil die Produktionsverhältnisse sind, die ihrerseits einem bestimmten Entwicklungsgrad der Produktivkräfte entsprechen. Der grundlegende Begriff des historischen Materialismus ist die ökonomische Gesellschaftsformation. Darum hat der marxistisch-leninistische Historiker alle Tatsachen, die ihm die Quellen vermitteln, im Zusammenhang mit der Struktur, der Bewegung und der Ablösung der ökonomischen Gesellschaftsformationen zu betrachten. Erst in diesem Zusammenhang wird die Tatsache eine historische und kann ihr Gewicht gemessen und bewertet werden; erst in diesem Zusammenhang wird die historische Tatsache zu einer Erscheinungsform des Gesetzmäßigen in Struktur und Entwicklung einer jeweiligen Gesellschaftsformation. Wir wissen, daß historische Tatsachen vielschichtig und vielseitig sind und ihre Systematisierung erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Wir wagen die Tatsachen, die im oben gegebenen Sinn als historisch zu bezeichnen sind, zunächst in zwei Grundtypen einzuteilen; demnach unterscheiden wir erstens Struktur- und Entwicklungselemente innerhalb einer ökonomischen Gesellschaftsformation, in der die Menschen in geschichtlich konkret bestimmten Produktions- und Klassenverhältnissen handeln, zweitens Ereignisse im Handeln und Denken der Menschen, d. h. der von Klassen geprägten Volksmassen und Persönlichkeiten. 1 1
Vgl. Bobinska, Celina, Historiker und historische Wahrheit. Zu erkenntnistheoretischen Problemen der Geschichtswissenschaft, Berlin 1967, S. 7 ff. und Boll-
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Beispielsweise bildet die Gesamtheit der Proletarier ein entscheidendes Strukturelement innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsformation. Aber wie jede historische Tatsache, ist auch das Proletariat in sich stark gegliedert. Denken wir nur an Wesen und Erscheinung des Proletariers. Dieses sein Wesen ist im Kapitalismus überall und allzeit gleich. Als Produzent besitzt er keine Produktionsmittel und ist deshalb gezwungen, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Aber wie verschieden ist — sagen wir — der Hammerschmied vom Brauereiarbeiter, der Metalldreher vom Arbeiter in der Porzellanmanufaktur, die Arbeiterin, die am Fließband angelernt wurde, vom Werkzeugschlosser usw.! Der moderne Arbeiter, der sich im Laufe der wissenschaftlich-technischen Revolution herausbildet, ist wiederum ein Problem für sich. Dabei geht es nicht allein darum, die Lebensbedingungen der Arbeiter in rein ökonomischer Hinsicht kennenzulernen, sondern auch zu wissen, welches beispielsweise ihre berufliche Eigenart, ihr direkter oder indirekter Zusammenhang mit der Entwicklung der Produktivkräfte und der innerbetrieblichen oder gesellschaftlichen Arbeitsteilung waren und sind; schließlich sind die Kampftraditionen und Kampferfahrungen von Beruf zu Beruf, von Stadt zu Stadt, von Land zu Land nicht immer gleich. Die Unterscheidung von Wesen und Erscheinung der Arbeiter kann sowohl für die Geschichtsschreibung als auch für die praktische Politik von erheblicher Bedeutung sein. Das Proletariat als entscheidendes Strukturelement innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsformation ist nicht isoliert, sondern dialektisch verbunden mit seinem Gegensatz, der Bourgeoisie. Das Kapitalverhältnis bildet die Einheit und den Kampf der Gegensätze von Proletariern und Kapitalisten. Marx schrieb in seiner Schrift „Lohnarbeit und Kapital": „Das Kapital setzt also die Lohnarbeit, die Lohnarbeit setzt das Kapital voraus. Sie bedingen sich wechselseitig; sie bringen sich wechselseitig hervor." Und auf die Behauptung einiger Ökonomen, daß die Interessen des Kapitals und die Interessen des Arbeiters dieselben seien, antwortet er: „Die Interessen des Kapitals und die Interessen der Arbeit sind dieselben, heißt nur'. Kapital und Lohnarbeit sind zwei Seiten eines und desselben Verhältnisses. Die eine bedingt die andere, wie der Wucherer und Verschwender sich wechselseitig bedingen." 2 Die beiden gegensätzlichen Klassen bedingen also einander, durchdringen sich, und obwohl die Interessen der beiden Klassen sich schnurstracks gegenüberstehen, sind sie doch im Kapitalismus insofern identisch, als sie zwei notwendige Glieder im Kapitalverhältnis sind. Die beiden Gegensätze in der widerspruchsvollen Einheit einer gesellschaftlichen Struktur bringen nun notwendigerweise eine Bewegung und schließlich eine Entwicklung hervor, die zur Lösung dieser Widersprüche in einer prin-
2
hagen, Peter, Soziologie und Geschichte, Berlin 1966, S. 140ff. — Der Verfasser dieses Aufsatzes verdankt beiden Arbeiten manche Denkanstöße, versucht jedoch, ausgehend von der Kategorie der Gesellschaftsformation, andere Lösungen hinsichtlich der Systematisierung des Begriffs Tatsache. Marx, Karl, Lohnarbeit und Kapital, in: Marx, Karl/Engels, Friedrich, Werke, (im folgenden: MEW), Bd 6, Berlin 1959, S. 410/411.
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zipiell neuen, höheren Einheit führen. Wer Struktur sagt, muß gerade in der Geschichte Entwicklung mitdenken. Struktur und Entwicklung schlagen ständig ineinander über. Bewegung und Entwicklung drücken sich in einer Unzahl von Ereignissen aus. Und Ereignisse bilden, wie wir festgestellt haben, neben dem Struktur- und Entwicklungselement den anderen Grundtypus der historischen Tatsache. In direkter Beziehung zum Strukturverhältnis von Kapital und Arbeit stehen solche Ereignisse wie Streiks. Im Vergleich zu solch komplizierten, selbst wieder aus ungezählten Ereignissen zusammengesetzten Ereignissen, wie Krieg und Revolution, sind Streiks relativ einfach zu erfassen. Aber auch sie haben methodisch ihre Tücken; wer sich mit Streikstatistik beschäftigt und dabei ökonomische und politische Streiks unterscheiden soll, weiß davon ein Lied zu singen. Methodisch weniger schwierig ist es, daß das Ereignis des Streiks als Ganzes in sich eine Reihe von Ereignissen enthält, wie Streikaufruf, wie überhaupt Aktionen der Gewerkschaft und Partei, Versammlungen, Verhandlungen, Polizeiaufgebot, Tarifabschluß usw. Entscheidend ist jedoch noch dies: Das Ereignis eines Streiks kann, auch wenn er in seinem Umfang, in der Art der Forderungen und in seinem Ablauf noch so präzise analysiert und dargestellt wird, nur dann in seiner historischpolitischen Bedeutung erfaßt werden, wenn er im Zusammenhang mit der Gesamtheit der Klassenbeziehungen, der Intensität der politischen Kämpfe und dem Charakter der jeweiligen Epoche und Periode gesehen und gewertet wird. Streiks von etwa gleichem Umfang und etwa gleichen Forderungen erhalten ein verschiedenes Gewicht, je nachdem sie in der relativ friedlichen Periode des Kapitalismus oder in einer revolutionär zugespitzten Situation stattfinden. Auch von dieser Sicht her erkennen wir die methodische Bedeutung der Periodisierung, d. h. der Bestimmung des historischen Platzes eines jeweiligen Zeitabschnittes. Das Verhältnis zwischen den beiden Tatsachentypen (Struktur- und Entwicklungselement einerseits und Ereignis andererseits) ist bei den entsprechenden Beispielen, die sich auf das Proletariat (mit seinem notwendigen Korrelat der Bourgeoisie) und auf ein solches Klassenkampfereignis wie Streik beziehen, relativ einfach. Weit komplizierter und methodisch schwieriger zu bewältigen ist der Fall, wo wir es mit solchen Struktur- und Entwicklungselementen zu tun haben wie Konzentration der Produktion und des Kapitals, Umschlag in das Monopol, Veränderungen in den herrschenden Klassen, wie überhaupt in der Klassenstruktur, ihrer bewußtseinsmäßigen Widerspiegelung in den Ideologien der verschiedenen Klassen, oder mit solchen Ereignissen wie diplomatischen Aktionen, Vertragsabschlüssen, parlamentarischen Interventionen, Gesetzen, Demonstrationen usw. Die Beispiele deuten schon an, daß sich beide Tatsachen typen sowohl auf die Basis als auch auf den Überbau beziehen können und auch hier in einem unmittelbaren oder vermittelten Verhältnis zueinander stehen. Die Konzentration der Produktion und des Kapitals als Struktur- und Entwicklungselemente stehen in Deutschland beispielsweise mit solchen Ereignissen des Jahres 1870, wie der Gründung der Deutschen Bank am 10. März und der Aktiennovelle vom 11. Juni,
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in unmittelbarer Beziehung. Oder: Der wissenschaftliche Sozialismus ist ein dem Bereich des Überbaus zugehörendes Struktur- und Entwicklungselement, aber die Veröffentlichung des „Manifests der Kommunistischen Partei" ist ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung, die Bekundung einer ideologischen Revolution und damit der Vorbote der sozialen und politischen Weltrevolution des Großen Oktober von 1917 und in seiner abschließenden Parole — Proletarier aller Länder vereinigt Euch! — bis heute das tägliche Losungswort der Zeitungen der kommunistischen und Arbeiterparteien auf dem weiten Erdenrund. Das Einzelereignis vom Februar 1848 ist, genau besehen, unerhört vielschichtig; es steht in Zusammenhang mit der ökonomischen, politischen und ideologischen Entwicklung der dreißiger und vierziger Jahre in Europa und Nordamerika, mit dem Vorabend der internationalen Revolution von 1848/49 und, wie wir festgestellt haben, mit einer kolossalen Fernwirkung. Ein Ereignis kann als historische Tatsache also nur dann richtig und voll gewürdigt werden, wenn es nicht nur in seinem zeitgenössischen Strukturzusammenhang, sondern auch nach dem Grad seines fernwirkenden Entwicklungszusammenhangs betrachtet wird. Es wird Aufgabe der Methodologie und Geschichte der Geschichtswissenschaft sein, das Verhältnis zwischen den beiden grundlegenden und zugleich vielschichtigen Tatsachentypen einerseits und andererseits den vielartigen Quellen, die ihrerseits gesellschaftliche Tatsachen 3 sind, zu untersuchen. Die Quellen als die von der Vergangenheit überlieferten Tatsachen bedeuten mehr und zugleich weniger als die beiden grundlegenden Tatsachentypen. Sie bedeuten mehr durch ihre handgreifliche, sinnlich wahrnehmbare, den Hauch des Unmittelbaren vermittelnde Materialität; sie bedeuten weniger (mitunter weit weniger), weil sie, einzeln genommen, nach ihrem Inhalt wie nach ihrer Form (behördlicher Schriftverkehr, Urkunde, Privatbrief, diplomatischer Erlaß oder Bericht, Vertrag, Chronik, Artikel, Rede, Aufruf, Parteiprogramm, zeitgenössische Statistik, Gesetz, Gegenstände aller Art, Architektur usw.) in ihrer Aussage beschränkt sind gegenüber den durch kritische Analyse eruierten Tatsachen im Sinne eines Ereignisses oder eines Struktur- und Entwicklungselements. Quellen als gesellschaftliche Tatsachen sind voneinander isolierte Ausgangsstoiie der historischen Analyse; hingegen sind Ereignisse oder Struktur- und Entwicklungselemente möglichst viele Zusammenhänge herstellende Resultate dieser Analyse und in diesem Sinne erst vollgültige historische Tatsachen. Museale Gegenstände, historische Bauten, Archivalien, Originalausgaben usw. sind durch ihre ursprüngliche Materialität in ihrer Aussagekraft stärker und zugleich schwächer (wesentlich schwächer) als die wissenschaftliche Geschichtsliteratur, soweit sich diese um eine inhaltlich adäquate und zugleich formgerechte Widerspiegelung der gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge der Vergangenheit bemüht. Ohne daß wir schon in der Lage sind, die Problematik weiter auszuführen, sei dies festgehalten: Es zeichnet sich bereits ab, daß die Unterscheidung der verschiedenen Tatsachentypen (die jedoch in einem Zusammenhang untereinander 3
Vgl. Bobinska,
Celina, a. a. O., S. 38 ff.
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Ernst Engelberg
stehen) für die Ausarbeitung konkreter und zielgerichteter Methoden der Forschung und Darstellung (zu der auch Ausstellungen und Museen gehören) von großer Bedeutung ist.
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Wenn wissenschaftsgeschichtlich gesehen der Tatsachentypus Ereignis eine vorrangige Rolle spielte, dann war dies nicht allein auf den Historismus, sondern auch auf die Quellenlage zurückzuführen; die Chroniken, historischen Berichte und diplomatischen Akten gaben zunächst für die Ereignisse mehr her als für die Struktur- und Entwicklungselemente. Mit den allgemeinen ideologisch-politischen, d. h. letzten Endes klassenmäßigen Entwicklungsbedingungen für die Methode der Geschichtswissenschaft waren auch die internen Voraussetzungen ihrer Entwicklung verbunden. Der seit langem angeblich zunächst empirisch ausgerichtete und mit der Philologie verschwisterte Historismus verlangt vor allem Versenkung ins Einzelne, das aufgehellt werden soll durch „Kritik, Penetration und Präzision" (v. Below). Das bedeutet Kritik an der Herkunft der Quellen, Penetration in ihre inhaltliche Aussage und Präzision der historischen Tatsachen, vor allem im Sinne der Ereignisse. Die Erkenntnis, daß die historische Forschung erfordere, zu den ersten Quellen zurückzugehen und diese kritisch auf ihre Zuverlässigkeit zu überprüfen, die Hinwendung zum rein Tatsächlichen sind Bestandteile der marxistischleninistischen Geschichtswissenschaft geworden. Wir wollen hier auf die Schwächen der traditionellen, schon hoch ausgebildeten, aber die klassenmäßige Analyse vernachlässigenden Quellenkritik nicht eingehen, vielmehr für einen Augenblick unterstellen, daß sie die historischen Tatsachen so genau wie nur möglich zu reproduzieren vermöchte. Das Resultat selbst der präzisesten Quellenkritik wäre nur eine mehr oder weniger große Anzahl von isolierten Tatsachen. 4 Darum wird auch der bürgerliche Historiker gleichsam spontan danach gedrängt, die mehr oder weniger zuverlässig ermittelten Tatsachen nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung miteinander zu verbinden. In diesem Bemühen — ob es auf der Grundlage der reinen Quellenaussagen ganz erfolgreich sein kann, sei vorerst dahingestellt — zeigt sich schon das Suchen nach Zusammenhängen. Wer aber nach Zusammenhängen sucht, läßt sich — ob er sich das eingesteht oder nicht — von theoretischen Uberlegungen leiten. Ein theorieloser Empirismus erweist sich also bereits im Ansatz als Illusion. Tatsächlich entwickelte der Empirismus in einigen Jahrzehnten theoretische Auffassungen, für die sich der Sammelbegriff des bereits erwähnten Historismus 4
Vgl. Gropp, Rugard Otto, Voraussetzungen und Aufbau der Geschichtswissen-
schaft, in: Pädagogik, 4. Jg., 1949, S. 497. — Diese über zwanzig Jahre alte Arbeit ist auch heute noch lesenswert.
Über Theorie und Methode
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einbürgerte. Ein einheitlich begründetes System bildet der Historismus keineswegs. Aber es sind doch einige Grundzüge im Halbdunkel quasi-theoretischer Erörterungen und historiographischer Darlegungen zu erkennen. Der Gesetzmäßigkeit werden die „Freiheit" und der „Zufall" entgegengesetzt. „Die geschichtliche Entwicklung", schreibt Aloys Meister, „ist keine exakt einsetzende gesetzmäßige Folge der Tatsachen, sie ist vielmehr vom freien Willen des Menschen und vom Zufall abhängig." 5 Sofort entsteht ein Widerspruch zwischen Freiheit und Kausalität, den der Historismus auf eklektische Weise lösen will, indem er erklärt, daß sowohl Kausalität als auch Freiheit in der Geschichte bestehen. So sagt Otto Hintze: „Alle Kausalerklärung der historischen Zusammenhänge vermag nur bis zu dem Punkt vorzudringen, wo wir vor der ursprünglichen qualitativen Bestimmtheit des individuellen Lebens als der letzten Ursache historischen Geschehens angelangt sind." 6 Mit anderen Worten: Der Historismus neigt dazu, die letzte entscheidende Ursache im Ursachlosen zu suchen.7 Der Historismus treibt dann den Kultus des „individuellen Lebens" so weit, daß er nicht zu umgehende Formen des gesellschaftlichen Lebens, wie Volk, Nation, Staat, Kirche, Stände, Klassen, als „Total-Individualitäten" ansieht und behandelt. Dabei werden unversehens Volk/Nation/Staat zur obersten „TotalIndividualität" gemacht. Wenn man ferner bedenkt, daß alle diese sogenannten Individualitäten als „geistige Einheiten", die in sich selbst zentriert seien, betrachtet werden, dann ist unschwer einzusehen, daß mit diesem Gedankenspiel von der „Total-Individualität" der Nationalismus theoretisch begründet wird. Jede Nation ist danach eine in sich geschlossene Wesenseinheit, die die Tendenz hat, sich anderen Nationen entgegenzusetzen, andererseits eine Änderung durch den Klassenkampf ausschließt. Der marxistisch-leninistische Gedanke, daß die nationale Frage eine Klassenfrage sei, steht außerhalb der Betrachtungsweise des Historismus. Den Individualitätsgedanken weitertreibend, haben nach der Auffassung des Historismus nicht nur das Individuum und jede Gemeinschaft einen Mittelpunkt in sich selbst, auch jede Geschichtsepoche sei durch ihre spezifische Geistesverfassung begrenzt. Denken wir nur an jenen aristokratisch-bürgerlichen Glaubenssatz Rankes, daß jede Epoche unmittelbar zu Gott sei. Der Historismus lehnt innerhalb der Aufklärung sowohl den falschen Gedanken von der ewig gleichbleibenden Natur des Menschen als auch den richtigen Gedanken des geschichtlichen und menschlichen Fortschritts ab. Der aus dieser Einstellung heraus notwendig folgende Relativismus der weltanschaulichen und ideologisch-politischen Werte ist jedoch für die Herrschaftserhaltung der Bourgeoisie auf die Dauer gefährlich. Darum wollte der Historismus der in ihm liegenden Tendenz nach einem Relativismus schon zu Beginn unseres 5
Meister, Aloys, Grundzüge der historischen Methode, 3. Aufl., 1923, S. 4 (Grundriß der Geschichtswissenschaft, B d I, Abt. 6). 6 Hintze, Otto, Zur Theorie der Geschichte, Leipzig 1942, S. 16. ? Vgl. Gropp, Rugard Otto, a. a. O., S. 633. 2
Engelberg, Geschichtsmethodologie
Leipzig-Berlin
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Ernst Engelberg
Jahrhunderts dadurch begegnen, daß er u. a. anstelle der Wertbeurteilung, wie sie für die bürgerlich-fortschrittliche Aufklärung charakteristisch war, die Wertbeziehuug setzte. Der Wille und die Fähigkeit zur Beurteilung geschichtlich handelnder Persönlichkeiten nach allgemeinen Humanitätsidealen, wie sie für die bürgerlichen Aufklärer charakteristisch waren, kamen den imperialistischen Historikern abhanden. Der zentrale Wert, auf den sich immer stärker ihr geschichtliches Forschen und Darstellen beziehen sollte, war der Staat, der nicht in seinem Zusammenhang mit den klassenmäßigen Grundlagen gesehen wurde, sondern als etwas Selbständiges, im Grunde keinen sittlichen Geboten Unterworfenes. Es bildeten sich allmählich Wertbestimmungen heraus, auf die sich die imperialistischen Historiker bei der Sichtung des historischen Faktenmaterials und der Darstellung des historischen Geschehens mehr oder weniger bewußt bezogen. Diese Wertbestimmungen waren das Primat des Staates vor der Gesellschaft ; Primat der Politik vor der Wirtschaft; Primat der äußeren vor der inneren Politik; Staat ist gleich Macht. Welche Funktion solche Wertbestimmungen in Fragen der Innenpolitik hatten, das verriet Georg von Below, wenn er erklärte, „daß die Lebenstriebe der Staaten geschichtlich mehr bedeuten als die der Massen" .8 Nach dieser Doktrin verstößt derjenige, der den Klassenkampf grundsätzlich bejaht, gegen die Interessen der Nation. Von dieser Grundauffassung her wurden gerade die erzreaktionären Parteien mit Selbstverständlichkeit als angeblich nationale bezeichnet, während die Partei der Arbeiterklasse als antinational diskreditiert wurde. Die genannten Wertbestimmungen sind als Gegengewicht zu den Tendenzen des Relativismus im Historismus zugleich pragmatische Klassenkampfregeln der imperialistischen Bourgeoisie. Der bürgerliche Historismus war und ist nicht nur idealistisch und undialektisch, sondern auch nationalistisch und antidemokratisch. Ungelöste und in der vorliegenden Form auch nicht zu lösende Widersprüche (Freiheit und Kausalität, Relativismus und Wertbestimmung usw.) mit sich schleppend, ist der Historismus verschwommen bis zum Irrationalen und zugleich voller pragmatischer Raffinessen in Begriffsunterscheidungen (z. B.Wertbeurteiluug, Wertbeziehuug). In seiner apologetischen Weise enthüllt dies alles Friedrich Meinecke selbst, indem er schreibt: „Denn überall handelt es sich nicht nur um begrifflich zu fassende und in -ismen summarisch unterzubringende Züge des Denkens, sondern um lebendiges Gesamtleben, seelische Totalitäten der Einzelnen wie der Gemeinschaften und der Generationen — wie sie eben der Historismus zu sehen gelernt hat." 9 Der bürgerliche Historismus ist aus dem Empirismus entstanden und fußt auf diesem, denn es hat sich gezeigt, daß der Empirismus ohne Theorie ein Unding ist. Die vom Historismus unterschiedene große Strömung im bürgerlichen Ge8
9
Below, Georg v., Die deutsche Geschichtsschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unseren Tagen, Leipzig 1916, S. 115. Meinecke, Friedrich, Die Entstehung des Historismus, 2. Aufl., München-Berlin 1946, S. 5.
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schichtsdenken und -schreiben, der Positivismus, spielte in der bürgerlichen deutschen Historiographie im Unterschied zu Frankreich und England eine unvergleichlich geringere Rolle ; er beruhte zwar auch auf dem Empirismus, der sich jedoch nicht auf das Einzelne, das Unwiederholbare, das Individuelle konzentrierte, sondern, um mit Auguste Comte zu sprechen, auf die „soziale Statik" und „soziale Dynamik", auf soziale Strukturen und Prozesse. Die Vertreter des Positivismus mokierten sich oft genug über diejenigen Historiker, die das Einzelne mit großer Sorgfalt untersuchten, während umgekehrt die Vertreter des Historismus mit bösem Blick auf die Vernachlässigung der Quellenkritik und die voreiligen Verallgemeinerungen beispielsweise bei einem so hervorragenden positivistischen Geschichtsschreiber wie Hippolyte Taine deuteten. Wenn Comte die Politik als „soziale Physik" bezeichnete, dann drückte er damit das Bestreben des Positivismus aus, die Geschichtswissenschaft auf die Ebene der Naturwissenschaft zu stellen. Es ging ihm um die Entdeckung der „unveränderlichen Naturgesetze" im Bereich der menschlichen Natur und Gesellschaft. Im Unterschied zum Historismus hat der Positivismus die Tendenz, die Willensfreiheit zu leugnen. Am schärfsten hat dies der deutsche Literaturhistoriker Wilhelm Scherer formuliert : „Denn wir glauben mit Buckle, daß der Determinismus, das demokratische Dogma vom unfreien Willen, diese Zentrallehre des Protestantismus, der Eckstein aller wahren Erfassung der Geschichte sei. Wir glauben mit Buckle, daß die Ziele der historischen Wissenschaft mit denen der Naturwissenschaft insofern wesentlich verwandt seien, als wir die Erkenntnis der Geistesmächte suchen, um sie zu beherrschen, wie mit Hilfe der Naturwissenschaften die physischen Kräfte in menschlichen Dienst gezwungen werden." 10 Es zeigt sich, daß der Positivismus keineswegs materialistisch ist, sondern von idealistischen Grundpositionen ausgeht, zumindest in der Grundfrage der Philosophie, zum Verhältnis von Materialismus und Idealismus, keine klare Position einnimmt. Auf seine Weise hat Taine seine idealistische Grundposition folgendermaßen formuliert : „Ebenso wie im Grunde die Astronomie ein Problem der Mechanik und die Physiologie ein Problem der Chemie ist, ebenso ist im Grunde die Geschichte ein Problem der Psychologie." 11 Das Bestreben der Positivisten, Gesellschaftswissenschaft und Naturwissenschaft gleichzusetzen, drückt sich bei Taine mit fast naiver Direktheit aus: „Ob die Tatsachen physisch oder sittlich sind, das macht nichts aus, sie haben Ursachen ; es gibt deren für den Ehrgeiz, für den Mut, für die Wahrhaftigkeit, wie für die Verdauung, die Muskelbewegung, die Körperwärme. Das Laster und die Tugend sind Produkte wie Vitriol und der Zucker." 12 10 11
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2»
Scherer, Wilhelm, Zur Geschichte der deutschen Sprache, Berlin 1868, S. V I I I f . Taine, Hippolyte, Histoire de la littérature anglaise, Bd I, Paris 1869, S. X I V . Deutsche Übersetzung der hier wiedergegebenen Zitate nach Wagner, Fritz, Geschichtswissenschaft, Freiburg-München 1966, S. 240ff. (Orbis Academicus — Problemgeschichten der Wissenschaft. Dokumente und Darstellungen). Taine, Hippolyte, a. a. O., S. X V .
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Obwohl wir auf den Neopositivismus nicht eingehen können, sei doch seine frappierende Übereinstimmung mit naturwissenschaftlichen Grundtendenzen des ursprünglichen Positivismus hier angemerkt. Karl Raimund Popper schrieb in seinem „Elend des Historizismus": Das soziale Leben ist „eine Naturerscheinung . . welche das psychische Leben von Individuen voraussetzt, also die Psychologie, die ihrerseits die Biologie voraussetzt, die wiederum Chemie und Physik voraussetzt. Die Tatsache, daß die Soziologie in der Hierarchie der Wissenschaften an letzter Stelle steht, zeigt uns deutlich die ungeheure Komplexität der Faktoren,die das soziale Leben bestimmen." 13 Hat der bürgerliche Historismus hinsichtlich der Erforschung des Individuellen und der sogenannten letzten Ursache in der mehr oder weniger langen Kausalkette, in der die erforschten Tatsachen verknüpft werden, starke irrationale Züge, so ist der Positivismus auch auf dem Boden des Idealismus weit stärker rationalistisch. Verschiedenheit und Gleichartigkeit zwischen Positivismus und Historismus zeigen sich gerade bei dem Geschichtsschreiber Taine, der rational ein System in den menschlichen Gefühlen und Gedanken erkennen will und dabei als „ersten Beweger" dieses Systems „gewisse allgemeine Züge, gewisse Charakterzüge des Geistes und des Herzens" sieht. Auf der anderen Seite interessieren ihn jene Charakterzüge — und hier kommt er dem Historismus sehr nahe —, „die den Menschen einer Rasse, eines Jahrhunderts oder eines Landes gemeinsam sind". 14 In dem Interesse für „seelische Totalitäten . . . der Gemeinschaften und der Generationen" (Meinecke) sind Positivismus und Historismus fast deckungsgleich. Die Gemeinsamkeit in diesem Punkte wurzelt im bürgerlichen Nationalismus, in der nationalen Mystik beider. In der Kampfstellung gegen den in der deutschen bürgerlichen Historiographie vorherrschenden Historismus hat der deutsche Vertreter des Positivismus, Wilhelm Scherer, die Differenzen deutlicher ausgesprochen. Er gibt zwar zu, daß die Quellenkritik, die Methode der Feststellung des Tatsächlichen bis zur „äußersten Feinheit" gebracht sei, ohne natürlich die Schwäche dieser Methode zu erkennen. Aber dann geht er zur Attacke über: „Wir sind es endlich müde, in der bloßen gedankenlosen Anhäufung wohlgesichteten Materials den höchsten Triumph der Forschung zu erblicken. Vergebens, daß uns geistreiche Subtilität einbilden will, es gebe eine eigene, geschichtlicher Betrachtung allein zustehende Methode, die .nicht erklärt, nicht entwickelt, sondern versteht'. Auch die verschiedenen zum Teil tiefsinnigen Theorien, in denen das Stichwort der Ideen als der Stern über Bethlehem erscheint, haben für uns wenig Anziehungskraft." 15 Indem sich Wilhelm Scherer von der irrationalistischen Erkenntnistheorie, die das intuitive Verstehen in den Mittelpunkt rückt, und auch von jener Ideengeschichte distanziert, die geschichtsphilosophische Vorstellungen von außen in 13
Popper, Raimund, Das Elend des Historizismus, Tübingen 1969, S. 10. " Taine, Hippolyte, a. a. O., S. XVIII. is Scherer, Wilhelm, a. a. O., S. VIII.
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das rein Tatsächliche hineininterpretiert, will er die Geschichte „als eine lückenlose Kette von Ursachen und Wirkungen" betrachten. 16 Wenn Scherer die gewissenhafte Untersuchung des Tatsächlichen als „erste und unerläßliche Forderung" betont, dann sagt er mit gleichem Nachdruck: „Aber die Einzeltatsache als solche hat für uns an Wert verloren. Was uns interessiert, ist vielmehr das Gesetz, welches daran zur Erscheinung kommt. Daher die ungemeine Bedeutung, welche die Lehre von der Unfreiheit des Willens, von der strengen Kausalität auch in der Erforschung des geistigen Lebens erlangt hat." 1 7 Bei dem Suchen nach Gesetzen kommt es Scherer auch auf „die Zusammenfassung des Verwandten, das sich bietet, zu einem Realen, Allgemeinen" an. 18 Dieser Methode liegt die bei Positivisten wie Neopositivisten beliebte Faktorentheorie zugrunde. Die verschiedenen Seiten des sozialen Ganzen und die verschiedenen Formen und Äußerungen der gesellschaftlichen Tätigkeit des Menschen (Ökonomie, Recht, Moral, Religion usw.) werden dabei isoliert und treten als selbständige Kräfte miteinander in Wechselwirkung. 19 Indem die Einzeltatsachen zunächst nur in einer linearen Kausalkette und vornehmlich nur in abgegrenzten Sphären der gesellschaftlichen Tätigkeit betrachtet und untersucht werden, wird die Totalität der Gesellschaft, die auf der jeweiligen Entwicklungsstufe der Produktion beruht, außer acht gelassen. Nur wenn der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang auf der Basis der Produktionsverhältnisse berücksichtigt wird, erhält die Einzeltatsache — wie das eingangs genannte Beispiel des Streiks erhellen mag — in ihrem äußeren Ablauf und ihrer inneren Notwendigkeit den historisch richtigen Platz. Erst im Struktur- und Entwicklungszusammenhang einer ökonomischen Gesellschaftsformation kann in der Einzeltatsache das Gesetz zum Ausdruck kommen. Der Positivismus will das gesellschaftliche Gesetz nicht als Ausdruck des Wesens der Erscheinungen fassen; auch negiert er den Unterschied zwischen Wesen und Erscheinung, Inhalt und Form. Trotz seines Unverständnisses gegenüber einem Denken in dialektischen Zusammenhängen hat der Positivismus bedeutende Anstöße für die Entwicklung der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte gegeben. Dabei ließ er sich nicht nur von seiner methodischen Auffassung, die gegen den Kultus des Individuellen gerichtet war, leiten, sondern auch von politischen Auffassungen vornehmlich im Sinne des Liberalismus und der bürgerlichen Demokratie. Diese beiden politischen Richtungen interessierten sich im Kampfe gegen absolutistische Staatsomnipotenz vornehmlich für die Entwicklung der materiellen und geistigen Kultur, dabei auch der verschiedenen Interessengruppen. Manchmal nahmen Histo« Derselbe, Kleine Schriften, Bd 2, Berlin 1893, S. 67. 17 Derselbe, Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich, S. 412. is Derselbe, Kleine Schriften, Bd 2, S. 68. 19 Vgl. Kon, I. S., Die Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts. Kritischer Abriß, Bd I: Die Geschichtsphilosophie der Epoche des Imperialismus, Berlin 1964, S. 51.
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riker eine Mittlerstellung ein zwischen Historismus und Positivismus. Das kommt u. a. in Auffassungen eines Karl Wilhelm Nitzsch zum Ausdruck, der einmal meinte, daß die Taten menschlicher Freiheit durch die Naturgewalt der materiellen Interessen beschränkt seien.20 *
Bei allen Bemühungen um rationale Erkenntnis kausaler Zusammenhänge und historischer Gesetze, bei allen Verdiensten um die Erforschung von Struktur- und Entwicklungselementen in Wirtschaft und Gesellschaft kommt auch der Positivismus ebensowenig über Borniertheiten hinaus wie der Historismus. Hat der Historismus die Tatsachen mit Hilfe einer ihnen fremden Geschichtsphilosophie ausgewählt, gewertet und zusammenzufassen versucht, so glaubt der Positivismus die Philosophie so weit entbehren zu können, daß er sie bestenfalls auf Logik reduziert; auch der Positivismus vermag die Tatsachen nicht im strukturellen und sich bewegenden Gesamtzusammenhang zu sehen. Die Geschichtswissenschaft braucht jedoch eine solche philosophische Weltanschauung, d. h. wissenschaftliche Theorie, die einmal objektive Widerspiegelung der Zusammenhänge historischer Tatsachen ist, vor allem derjenigen in Form von Struktur- und Entwicklungselementen, zum andern gerade deswegen imstande ist, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftstendenzen dieser Tatsachen in ihrer Dialektik von Wesen und Erscheinung, Struktur und Ereignis, Inhalt und Form, Objekt und Subjekt, von Natur und Gesellschaft möglichst adäquat zu erfassen. Es geht darum, die Gesellschaft in ihrem eigenen Strukturund Entwicklungszusammenhang und in keinem phantastischen zu erfassen. 21 Der Kapitalismus war in der Epoche seines Aufstiegs historisch so plaziert, daß aus seiner spezifischen Klassenkonstellation eine Theorie hervorging, die die ihn hervorbringende (also vergangene) und zugleich überwindende (also zukünftige) Entwicklung zu erfassen vermochte. Diesen Zusammenhang von kapitalistischer Gesellschaft und sozialistischer Theorie hat Friedrich Engels 1847 in einer Polemik gegen den bürgerlichen Demokraten Karl Heinzen formuliert: „Der Kommunismus ist keine Doktrin, sondern eine Bewegung; er geht nicht von Prinzipien, sondern von Tatsachen aus. Die Kommunisten haben nicht diese oder jene Philosophie, sondern die ganze bisherige Geschichte und speziell ihre gegenwärtigen tatsächlichen Resultate in den zivilisierten Ländern zur Voraussetzung. Der Kommunismus ist hervorgegangen aus der großen Industrie und ihren Folgen, aus der Herstellung des Weltmarkts, aus der damit gegebenen ungehemmten Konkurrenz, aus den immer 20
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Nitzsch, Karl Wilhelm, Die Gracchen und ihre nächsten Vorgänger, Berlin 1847, S. 10. Vgl. Engels, Friedrich, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MEW, Bd 21, Berlin 1962, S. 292.
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gewaltsameren und allgemeineren Handelskrisen, die schon jetzt zu vollständigen Weltmarktkrisen geworden sind, aus der Erzeugung des Proletariats und der Konzentration des Kapitals, aus dem daraus folgenden Klassenkampfe zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Der Kommunismus, so weit er theoretisch ist, ist der theoretische Ausdruck der Stellung des Proletariats in diesem Kampfe und die theoretische Zusammenfassung der Bedingungen der Befreiung des Proletariats." 2 2 Wenn wir die theoretische Seite des Kommunismus hervorheben, dann können wir als ein Synonym getrost den dialektischen und historischen Materialismus einsetzen; wir sind allerdings dann noch eindringlicher angehalten, die vermittelnden Glieder in dem Zusammenhang von kapitalistischer Gesellschaft und sozialistischer Theorie zu ergreifen. Wir sind hier auf die drei vornehmlichsten Quellen des wissenschaftlichen Sozialismus verwiesen: die klassische bürgerliche Philosophie Deutschlands (zu der auch Ludwig Feuerbach gehört), die politische Ökonomie Englands und den utopischen Sozialismus vornehmlich Frankreichs, dann Englands und Deutschlands. In diesem umfassenden Sinne knüpft der dialektische und historische Materialismus an ein Produkt der noch fortschrittlichen Bourgeoisie und des schon bewußt fortschrittlichen Proletariats an, aber er ist eine ideologische Waffe ausschließlich des Proletariats. Das ist es eben: Bourgeoisie und Proletariat bilden eine Einheit der Gegensätze, aber in dieser Einheit bildet nur das Proletariat das über den Kapitalismus hin ausweisende Element. Jede Bewegung in Natur und Gesellschaft setzt zwei entgegengesetzte Seiten voraus, die miteinander verbunden sind. Aber diese Feststellung allein genügt nicht; es gilt auch „die bestimmte Stellung, die beide in dem Gegensatz einnehmen", zu klären. So untersucht Karl Marx in der „Heiligen Familie" jede der beiden Seiten der kapitalistischen Gesellschaft, Bourgeoisie und Proletariat. Er schreibt: „Das Privateigentum als Privateigentum, als Reichtum ist gezwungen, sich selbst und damit seinen Gegensatz, das Proletariat, im Bestehen zu erhalten. Es ist die positive Seite des Gegensatzes, das in sich selbst befriedigte Privateigentum. Das Proletariat ist umgekehrt als Proletariat gezwungen, sich selbst und damit seinen bedingenden Gegensatz, der es zum Proletariat macht, das Privateigentum, aufzuheben. Es ist die negative Seite des Gegensatzes, seine Unruhe in sich, das aufgelöste und sich auflösende Privateigent u m . . . Innerhalb des Gegensatzes ist der Privateigentümer also die konservative, der Proletarier die destruktive Partei. Von jenem geht die Aktion des Erhaltens des Gegensatzes, von diesem die Aktion seiner Vernichtung aus." 2 3 Die Bourgeoisie ist jedoch fortschrittlich gegenüber dem Feudalismus; darum sind die antifeudalen Ausprägungen ihres Denkens revolutionär und können eine Quelle des dialektischen und historischen Materialismus bilden. Da die Bourgeoisie konserativ gegenüber dem Proletariat ist, kann sie keine über den Kapita22
Engels, Friedrich, Die Kommunisten und Karl Heinzen, in: MEW, B d 4, Berlin 1959, S. 321 f. 2 J ' Engels, Friedrich, ¡Marx, Karl Die heilige Familie, in: MEW, Bd 2, Berlin 1957, S. 37.
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lismus hinausweisende Ideologie hervorbringen, ja nicht einmal die verschiedenen antifeudalen Ausprägungen ihrer Denkrichtungen zu einer Synthese zusammenfassen ; es waren Marx und Engels, die die Forderung, daß die idealistische Dialektik materialistisch und der mechanische Materialismus dialektisch werde, erfüllten. In der besonderen sozialhistorischen Stellung, die die beiden Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft einnehmen, liegt es begründet, daß die Parteilichkeit für die Arbeiterklasse die Objektivität und die Objektivität diese Parteilichkeit erfordert. In der Parteilichkeit ist zugleich begründet, daß die Theorie nicht rein anschauend sein darf, sondern der weltverändernden Praxis der Arbeiterklasse dienen soll. Die praktisch-revolutionäre Seite der Theorie zeigt sich besonders in ihrer Ausrichtung auf das sozialistisch-kommunistische Ziel. Darum sagte Engels 1847, der Kommunismus sei eine Bewegung, das heißt in Ziel und Aktion die Negation des bisher Bestehenden. Von der revolutionären Praxis der Arbeiterklasse her, und zwar hinsichtlich ihres Ziels und ihrer Aktion, braucht die Geschichtswissenschaft, wenn sie einen namhaften Beitrag sowohl für die jeweilige Ausarbeitung strategischer und taktischer Leitlinien als auch für die Entwicklung des sozialistischen Geschichtsbewußtseins leisten soll, eine den wirklichen Struktur- und Entwicklungszusammenhang adäquat widerspiegelnde Theorie und eine mit dieser wechselseitig verbundene Forschungs-iii ethode. Wir deuteten bereits die notwendige Synthese von Materialismus und Dialektik an. Diese Synthese war möglich, weil Materialismus und Dialektik vornehmlich revolutionär gegen den Feudalismus waren und ihre konservativen Komponenten gegenüber dem antikapitalistischen Proletariat noch nicht weit ausgebildet hatten. Ganz anders war die historische Stellung des Positivismus und Historismus; auch wenn der erstere, anders als der zweite, von Anfang an eindeutig antifeudal war, so kehrten beide Ideologien immer stärker und bewußter ihre konterrevolutionäre Seite gegen das sozialistische Proletariat hervor. In dieser sozialhistorischen Frontstellung liegt begründet, warum Historismus und Positivismus als Theorien wissenschaftlich hinter der klassischen bürgerlichen Philosophie zurückbleiben, ja von ihr sich bewußt abwandten und alle Versuche ihrer Synthese unfruchtbar und eklektisch bleiben müssen. Bei den Auseinandersetzungen zwischen Historismus und Positivismus geht es letzten Endes — bewußt oder unbewußt, ausgesprochen oder unausgesprochen — um die Frage, wie Theorie und Praxis der Arbeiterbewegung am wirkungsvollsten zu bekämpfen seien. Gerhard Ritter hat dies übrigens auf dem Internationalen Historikerkongreß 1955 in Rom klar ausgesprochen. 24 24
Gerhard Ritter in der Süddeutschen Zeitung vom 24-/25.9.1955: „Die westeuropäische Geschichtswissenschaft ist in ihrem Bemühen, den Kollektiverscheinungen des geschichtlichen Lebens gerecht zu werden, wirtschaftliche, soziale Verhältnisse und die Durchschnittsmentalität des Menschen zu erfassen, vielfach unsicher geworden in der Beurteilung des Verhältnisses von Individuum und Masse, von Freiheit und Gebundenheit, von ökonomischen und politischen Fak-
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Die marxistisch-leninistischen Historiker können aus dem Kampf zwischen den beiden Hauptrichtungen der bürgerlichen Geschichtsideologie im negativen wie positiven Sinne sachlich profitieren. Einmal dadurch, daß die beiden Hauptrichtungen einander ihre Schwächen und Borniertheiten aufzeigen, zum anderen, indem die marxistisch-leninistischen Historiker beispielsweise die Ergebnisse der mehr positivistisch ausgerichteten Wirtschafts- und Sozialgeschichte ausnutzen, andererseits von der Technik der Quellenkritik oder der Beobachtungs- und Charakterisierungskunst mancher Vertreter des Historismus lernen; in letztere fließen immerhin viele Bildungserlebnisse und Lebenserfahrungen ein. Dabei sind wir Marxisten-Leninisten nicht Erben des Historismus und Positivismus, sondern deren prinzipielle Gegner; wir lernen von ihnen, wie man von Gegnern lernen kann. Diese prinzipielle Abgrenzung bedeutet nicht, daß in der politischen Praxis Vertreter des Historismus oder Positivismus nicht auch Verbündete der Arbeiterklasse, beispielsweise im Kampf gegen den Faschismus oder die militaristische Reaktion, werden können. Unsere ideologische Erbschaft aber liegt vor allem in der Dialektik der klassischen deutschen Philosophie und dem Feuerbachschen Materialismus und ist eingegangen schon in die begriffliche Bezeichnung unserer Weltanschauung (unserer wissenschaftlichen Theorie): Dialektischer Materialismus. Wir wollen und können hier weder den Vorgang der Synthese von Materialismus und Dialektik, der nicht aus einer bloßen Zusammenfügung besteht, noch den Inhalt des dialektischen Materialismus darstellen, auch nicht unsere kritische Distanz gegenüber der ideologischen Erbschaft. Nur soviel sei gesagt: Der dialektische Materialismus vollendet sich im historischen Materialismus. Die Kategorien des historischen Materialismus stehen in dialektischem Zusammenhang und widerspiegeln den objektiven Struktur- und Entwicklungszusammenhang. Keine Kategorie kann ohne Bezug auf die Praxis definiert werden. Die Definition des Begriffs Klasse ist ohne das Inbeziehungsetzen zu den Begriffen Produktions- und Eigentumsverhältnisse, Produktion und Distribution usw. nicht möglich. In unmittelbarem Zusammenhang mit dem Begriff der Produktivkräfte steht der der Produktionsverhältnisse, der Begriff Staat mit dem für Klasse usw. toren. Vor allen in der französischen Historiographie breitet sich eine Neigung zu einseitig soziologischer und ökonomischer Geschichtsdeutung aus und eine innere Entfremdung gegenüber der politischen Geschichte, ja dem Staatsleben überhaupt, die gerade in unserer Epoche höchst bedenklich erscheint. Denn wie soll sich der Westen in seiner geistigen Eigenart gegenüber dem Sowjetsystem behaupten, wenn er selbst unsicher wird in seiner Einschätzung der Bedeutung ökonomisch-sozialer Motive des geschichtlichen Lebens, d. h. wenn er selbst in Gefahr gerät — bewußt oder unbewußt — in materialistische Gedankengänge abzugleiten? Ich möchte es für eine besondere Aufgabe deutscher Geschichtswissenschaft halten (die von idealistischen statt positivistischen Traditionen herkommt), sich solchen Gefahren entgegenzusetzen."
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Die Kategorie Zusammenhang, auf die wir ständig stoßen, drückt keineswegs nur die Allerweltsweisheit aus, daß alles zusammenhängt. E s geht u m die konkret gestalteten und begrifflich zu fassenden Verbindungen und Vermittlungen zwischen den historischen Tatsachen, wobei stets zu beachten ist, worauf Karl Marx in seinem Anti-Proudhon aufmerksam machte, daß die Produktionsverhältnisse jeder Gesellschaft die Basis und ein Ganzes bilden. Gerade das wird in der bürgerlichen Faktorentheorie nicht beachtet. Der historische Materialismus mit seinem in sich gegliederten System von Begriffen, die ihre funktionale Bedeutung durch die Dialektik von Basis und Überb a u erhalten, ist die allgemeine Theorie von Gesellschaft und Geschichte, ein bedeutender Teil der wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus. Zugleich ist diese Theorie auch Methode. Dazu ist grundsätzlich folgendes festzuhalten: Es m u ß einerseits die Tendenz vermieden werden, die Methode von der Theorie zu trennen, andererseits die Tendenz, ungenügend die Besonderheiten der Methode herauszuarbeiten. Die erste Tendenz f ü h r t dazu, die Methode von der Weltanschauung zu trennen, den „entideologisierten" Positivismus zu fördern oder Forschungsmethoden des bürgerlichen Historismus (z. B. Quellenkunde), die sonst noch f r u c h t b a r sein könnten, unkritisch zu übernehmen. Die zweite Tendenz macht uns unfähig, die Kategorien des dialektischen und historischen Materialismus im geschichtswissenschaftlichen Forschungsprozeß methodisch voll auszuschöpfen und eine fachbezogene Methodologie auszuarbeiten. Kein marxistisch-leninistischer Historiker wird bei der methodischen Erforschung eines mehr oder weniger großen Geschichtskomplexes der Kategorien des historischen Materialismus entbehren können. Sie sind die Orientierungspunkte bei der Analyse der historischen Tatsachen. Einige methodische Möglichkeiten solcher Begriffe wie Produktivkräfte, Klasse, Staat usw. sind bei anderer Gelegenheit erörtert worden. 2 5 Die Kategorien des historischen Materialismus können jedoch in ihrem inneren, funktional gegliederten Zusammenhang methodisch u m so fruchtbarer angewandt werden, je bewußter, systematischer u n d konsequenter die Kategorien der materialistischen Dialektik herangezogen werden, als da sind: die Einheit und der Kampf der Gegensätze, also der innere u n d äußere Widerspruch einer Erscheinung, der den Kern der Dialektik a u s m a c h t ; Wesen und Erscheinung, Notwendigkeit und Zufall, Inhalt und Form, Möglichkeit und Wirklichkeit usw. usf. Die Historiker der D D R können sich erhebliche Reserven f ü r die Verbesserung ihrer Arbeit erschließen, wenn sie die Kategorien des historischen Materialismus methodisch systematischer und tiefgründiger anwenden, als dies bisher der Fall war; auch dürfen wir es uns nicht mehr leisten, wie dies oft genug geschah, die methodischen Möglichkeiten der materialistischen Dialektik geradezu zu übersehen. Die materialistische Dialektik zeigt vor allem die methodische Seite des dialektischen Materialismus. Das Verhältnis von Theorie und Methode auf dieser 25 Engelberg, Emst, Über Gegenstand und Ziel der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft, ZfG, Ig. 16, 9/1968, S. 1124ff.
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umfassenden Ebene der marxistisch-leninistischen Weltanschauung kennzeichnete Friedrich Engels im Anti-Dühring folgendermaßen: „Selbst die formelle Logik ist vor allem Methode zur Auffindung neuer Resultate, zum Fortschreiten vom Bekannten zum Unbekannten, und dasselbe, nur in weit eminenterem Sinne, ist die Dialektik, die zudem, weil sie den engen Horizont der formellen Logik durchbricht, den Keim einer umfassenderen Weltanschauung enthält." 2 0 Hier hat Engels sowohl den Zusammenhang als auch die Differenz von dialektischem Materialismus als Weltanschauung (wissenschaftliche Theorie) und materialistischer Dialektik als Methode betont — anders als Stalin, der die Dialektik nur als Methode und den Materialismus nur als Weltanschauung ansah. Auch Lenin hat die materialistische Dialektik als Methode immer wieder sehr eindrucksvoll hervorgehoben, so wenn er die theoretisch-methodologische Quintessenz aus dem Briefwechsel von Marx und Engels zog: „Versucht man mit einem Wort auszudrücken, was sozusagen den Brennpunkt des ganzen Briefwechsels ausmacht, jenen zentralen Punkt, in dem alle Fäden des Netzes der geäußerten und erörterten Ideen zusammenlaufen, so wird dies das Wort Dialektik sein. Die Anwendung der materialistischen Dialektik bei der radikalen Umarbeitung der gesamten politischen Ökonomie, ihre Anwendung auf die Geschichte, auf die Naturwissenschaft, die Philosophie, die Politik und die Taktik der Arbeiterklasse — das ist es, was Marx und Engels vor allem interessiert, hierzu haben sie das Wesentlichste und Neueste beigetragen, das ist der geniale Schritt, den sie in der Geschichte des revolutionären Denkens vorwärts getan haben." 2 7 Materialistische Dialektik ist nun einmal die „Seele des Marxismus" (Lenin). Die Kategorien der materialistischen Dialektik sind für den Historiker methodisch deswegen unentbehrlich, weil sie Ausdruck der allgemeinsten Struktur- und Bewegungsformen der Materie in Natur und Gesellschaft sind. Durch die gleichsam kombinierte Anwendung der Kategorien des historischen Materialismus und der noch allgemeineren der materialistischen Dialektik schärfen wir unseren theoretischen Blick für eine möglichst umfassende Analyse und Synthese der historischen Tatsachen. Mindestens genau so wichtig aber ist, daß die Kategorien des historischen Materialismus im doppelten Sinne historisch abhängig sind: Ihre Bildung hängt erstens wie die aller wissenschaftlichen Kategorien von jeweils erreichten E n t wicklungsstufen der menschlichen Gesellschaft und damit auch des Denkens ab, zweitens, im Unterschied von ««¿«»"wissenschaftlichen Begriffen, von der inneren Entwicklung ihres Untersuchungsgegewstamfes. Die Geschichte der Natur vollzieht sich in wesentlich langsamerem Tempo als die Geschichte der menschlichen Gesellschaft; die Zeitabschnitte der Entwicklung der anorganischen und organischen Natur, die durch qualitative Sprünge, durch revolutionäre Umwälzungen 26 Engels, Friedrich, Anti-Dühring, iu: MEW, Bd 20, Berlin 1962, S. 125. - Hervorhebung von mir, E. E. 27 Lenin, W. / . , Der Briefwechsel zwischen Marx und Engels, in: Derselbe, Werke, Bd 19, Berlin 1960, S. 550.
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gekennzeichnet sind, währen unvergleichlich länger als die der menschlichen Gesellschaft. Die Bildung naturwissenschaftlicher Begriffe hängt zwar von der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft a b ; ihre Anwendung wird aber wenigstens nicht durch revolutionäre Veränderungen der N a t u r während der Menschengeschichte erschwert. Anders ist dies bei gesellschaftswissenschaftlichen Begriffen; solche Grundbegriffe wie Klasse oder Revolution bildeten sich in der Periode der revolutionären Umwälzung vom Feudalismus zum Kapitalismus und wurden präzisiert mit dem Aufkommen des revolutionären Proletariats. Sie waren bedeutungsvoll f ü r das wissenschaftliche Erfassen des Zeitgeschehens; ihre Anwendung auf frühere Gesellschaftsformationen war und ist möglich, ist aber — das zeigen gegenwärtige Diskussionen — mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Die Klasse der Sklaven ist von der der feudalabhängigen Bauern und der der Proletarier nicht n u r nach dem sozialhistorischen Inhalt, sondern auch nach der systemabhängigen Form verschieden. Der sozialhistorische Inhalt der Klassen der verschiedenen Gesellschaftsformationen ist zwar mit Hilfe des allgemeinen Klassenbegriffs relativ leicht zu analysieren, aber deren Form k a n n von einer im wahrsten Sinne des Wortes verwirrenden Fülle sein. Der alte Friedrich Engels h a t in einer Art Vermächtnisbrief an Franz Mehring das Verhältnis von Inhalt und F o r m in der Geschichte, wenn auch in erster Linie auf die Dialektik von Basis und Uberbau bezogen, als wesentlichen P u n k t hervorgehoben. In F o r m einer Selbstkritik m a h n t e er, „die formelle Seite über der inhaltlichen" nicht zu vernachlässigen. U n d an einer anderen Stelle schrieb er: „Es ist die alte Geschichte: I m Anfang wird stets die Form über den Inhalt vernachlässigt." 2 8 Wir stehen aber weder politisch noch wissenschaftsgeschichtlich am Anfang; u m so mehr müßte die Mahnung von Friedrich Engels von uns beherzigt werden. Die Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität der Strukturen ist in der Gesellschaft anders als in der N a t u r . Hier kommen wir nur weiter, wenn wir solche Begriffspaare der materialistischen Dialektik wie Inhalt und Form, Wesen und Erscheinung richtig erfassen und anzuwenden verstehen. Verlegenheitsformeln, daß der allgemeine Begriff (die Kategorie) ein Schema sei, das mit historischem Material angefüllt werden müßte, führen schon deswegen nicht weiter, weil gerade der allgemeine Begriff der methodische Schlüssel ist, der den Inhalt (das Wesen) einer Erscheinung erschließt. 29 Selbst bei der Anwendung weniger allgemeiner Begriffe, wie beispielsweise Absolutismus, Bonapartismus, Militarismus, Imperialismus, staatsmonopolistischer Kapitalismus, Faschismus usw., ist zu beachten, d a ß die Geschichte relativ rasch neue Seiten hervorbringt, oft gleichsam vor unseren Augen. 28 Friedrich Engels an Franz Mehring, 14.7.1893, in: MEW, Bd 39, Berlin 1968, S. 96 u. 98. M Utchenko, S. L. /Diakonoff, J.M., Social Stratification of Ancient Society, Moskau 1970, S. 8.
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Im übrigen ist die genaue Untersuchung der Entwicklungsetappen in der Begriffsbildung keineswegs so abseitig, wie es erscheinen mag. Lenin hat an die zweite Stelle derjenigen „Wissensgebiete, aus denen sich Erkenntnistheorie und Dialektik aufbauen sollen", hinter die Geschichte der Philosophie, die Geschichte der einzelnen Wissenschaften gesetzt. 30 Auch aus diesem Grunde können wir die Geschichte der Geschichtswissenschaft nicht von ihrer Methodologie trennen. Die kombinierte Anwendung der Kategorien des historischen Materialismus und der materialistischen Dialektik mündet in jene dialektischen Verfahrensweisen ein, die Lenin während der berühmten Gewerkschaftsdiskussion und in Polemik gegen Bucharin und Trotzki — ohne Vollständigkeit in Anspruch zu nehmen — folgendermaßen zusammengefaßt hat: „Um einen Gegenstand wirklich zu kennen, muß man alle seine Seiten, alle Zusammenhänge und .Vermittelungen* erfassen und erforschen. Wir werden das niemals vollständig erreichen, die Forderung der Allseitigkeit wird uns aber vor Fehlern und vor Erstarrung bewahren. Das zum ersten. Zweitens verlangt die dialektische Logik, daß man den Gegenstand in seiner Entwicklung, in seiner .Selbstbewegung' (wie Hegel manchmal sagt), in seiner Veränderung betrachte . . . Drittens muß in die vollständige .Definition' eines Gegenstandes die ganze menschliche Praxis sowohl als Kriterium der Wahrheit wie auch als praktische Determinante des Zusammenhangs eines Gegenstandes mit dem, was der Mensch braucht, eingehen. Viertens lehrt die dialektische Logik, daß es ,eine abstrakte Wahrheit nicht gibt, daß die Wahrheit immer konkret ist', wie der verstorbene Plechanow — mit Hegel — zu sagen pflegte." 31 Lenins Zusammenfassung der wichtigsten dialektischen Betrachtungs- und Verfahrensweisen ist ohne weiteres für die Analyse und Synthese in der historischen Forschung und Darstellung gültig. Lenin verlangt, daß wir historische Tatsachen in ihrem Struktur- und Entwicklungszusammenhang mit den vorhandenen konkreten Vermittlungen betrachten und darstellen. Dabei haben wir die praktischen Erfordernisse des Klassenkampfes der Arbeiterklasse als Ausgangs* und Zielpunkt zu nehmen. Im Grunde umriß Lenin sowohl die praxisbezogene Parteilichkeit wie den marxistisch-leninistischen Historismus. Allerdings muß hier angemerkt werden: Diesen letzteren Begriff gebrauchen die Historiker der DDR, im Unterschied zu den sowjetischen, sparsam und vorsichtig, da wir es mit der traditionellen Macht des junkerlich-bürgerlichen Historismus besonders stark und unmittelbar zu tun haben. Allen vier Forderungen Lenins liegt auch die Forderung zugrunde, daß wir stets empirisches Tatsachenmaterial ausreichend heranzuziehen haben. So richtete Lenin an die Adresse Bucharins die Kritik, daß er strittige Fragen „ohne das 30
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Lenin, W. I., Philosophische Konspekte, in: Derselbe, Werke, Bd 38, Berlin 1968, S. 335. Derselbe, Noch einmal die Gewerkschaften, in: Ebenda, Bd 32, Berlin 1961, S. 85.
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geringste konkrete Studium, mit bloßen Abstraktionen" 32 beurteile und dabei in Eklektizismus verfalle. Franz Mehring bemerkte einmal über das Verhältnis von Empirie und Theorie in sarkastisch-pointierter Weise: „Bei aller Verehrung für die Dialektik scheinen uns reelle Kenntnisse ohne Dialektik immer noch preiswürdiger zu sein, als Dialektik ohne reelle Kenntnisse." 3 3 Nüchterner, aber nicht weniger eindrucksvoll schrieb darüber Michail Pokrovskij: „Je komplizierter die Wissenschaft ist, umso mehr Arbeit und Zeit verschlingt die einfache Gewinnung der Tatsachen, und gerade in der Geschichte entfaltet sich die Vorarbeit zu den Ausmaßen eines großen und komplexen methodologischen Prozesses." 34 Detailkenntnisse und ihre Gewinnung sind unter diesem Aspekt Voraussetzung für die vertiefte Anwendung dialektischer Prinzipien. Es geht dabei nicht allein um den konkreten Zusammenhang von Tatsachen (siehe ihre beiden Grundtypen) mit den jeweiligen Struktur- und Entwicklungszusammenhängen sondern auch um den Vergleich der letzteren in dem gewaltigen Geschehen der Menschheits- und Weltgeschichte, um den historischen Platz der ökonomischen Gesellschaftsformationen, der Kontinente und Völker. Marx hatte einen „weiteren Überblick" und konnte gerade auch deswegen die Gesetze des historischen Materialismus „viel schneller" entdecken, so meinte Friedrich Engels bescheiden. 35 Wie dem auch sei, Faktenkenntnisse über ein enges Spezialgebiet hinaus sind von einer vertieften Anwendung der Dialektik nicht zu trennen. Die Methode des Vergleichs können wir hier nur erwähnen; sie auszubauen ist eine der dringlichsten Aufgaben der Geschichtsmethodologie. Auf jeden Fall ist das Vergleichen des historischen Materials unumgänglich, wenn solche dialektischen Gesetze wie die vom Umschlagen der Quantität in die Qualität und von der Negation der Negation aus der Theorie in Methode umgesetzt werden sollen. Wenn wir diese Entwicklungsgesetze zusammen mit dem Gesetz des Widerspruchs als innerem Entwicklungsantrieb und mit den Gesetzen des gesellschaftlichen Strukturzusammenhangs von Basis und Uberbau methodisch richtig anwenden, dann erkennen wir — allerdings in einem nie endenden Erkenntnisprozeß — immer mehr „einen einheitlichen, gesetzmäßigen Weltprozeß der Bewegung" 3 6 in Natur und Gesellschaft. Eine solche Weltanschauung erlaubt weder eine Trennung von Natur- und Gesellschaftswissenschaften noch eine Verwischung ihrer Besonderheiten in Gegenstand und Methode. Auch bürgerliche Wissenschaftspolitiker erklären, „daß das Problem der unglückseligen Spaltung der Gesamtwissenschaft in einen sog. naturwissenschaftlichen und einen geistes( ^wissenschaftlichen Bereich eine we32 Ebenda, S. 86. Mehring, Franz, Kant, Dietzgen, Mach und der historische Materialismus, in: Derselbe, Philosophische Aufsätze, Berlin 1961, S. 213 (Gesammelte Schriften, Bd 13). 34 Zit. nach: Bobiiiska, Celina, a. a. O., S. 28. 35 Friedrich Engels an Franz Mehring, in: MEW, Bd 39, S. 96. 3 ® Lenin, W. / . , Karl Marx, in : Derselbe, Werke, Bd 21, Berlin 1960, S. 43. 33
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sentliche Rolle spielt. Dabei genügt die häufig gestellte Forderung nach einer einfachen Synthese oder Rekombination der beiden Bereiche nicht, sondern es muß vielmehr die historisch entstandene Kluft zwischen beiden Bereichen aufgefüllt werden. Im Anfang dieser Arbeiten wird eine Selbstbesinnung der Wissenschaft stehen müssen, bei der einer biologisch-kybernetischen Anthropologie die Rolle einer Metawissenschaft zukommen wird." 3 7 Die hier zitierten Ausführungen laufen auf die Alternative hinaus: entweder absolute Trennung von Natur- und Gesellschaftswissenschaft oder Unterordnung der letzteren unter die erstere. Die von der gesellschaftlichen Praxis (z. B . unter dem Blickpunkt des immer dringender und drängender werdenden Umweltschutzes) und von der wissenschaftlichen Forschung geforderte Einheit von Natur- und Gesellschaftswissenschaft kann nur die Weltanschauung des dialektischen Materialismus und die Methode der materialistischen Dialektik bewerkstelligen. Nicht eine biologisch-kybernetische Anthropologie schafft die Einheit von gleichberechtigten und zugleich ihre Besonderheiten wahrenden Wissenschaften ; dies ist nur möglich durch die Theorie von den allgemeinen Strukturund Bewegungsgesetzen in Natur, Gesellschaft und Denken. Der Hinweis auf die Besonderheiten der Wissenschaften ist kein Vorbehalt gegenüber ihrer Einheit, sondern ein Dienst an ihr. Nur wenn die einzelnen Wissenschaften die Besonderheiten ihrer praktischen Zwecke und ihres Forschungsgegenstandes berücksichtigen und verfolgen, können sie ihren spezifischen Beitrag zur Erkenntnis des Weltprozesses in Natur und Gesellschaft und zu seiner praktischen Beherrschung durch die Menschen leisten. Die Geschichtswissenschaft ist wie jede andere Wissenschaft bestrebt, das Wesen der Erscheinungen in Begriffen und Gesetzen zu erfassen. Doch wissen wir, daß sich die Dialektik von Wesen und Erscheinungen in der Gesellschaft kompliziert, weil deren Gesetze im Gegensatz zu den Naturgesetzen nicht unabhängig vom tätigen Menschen wirken. Die Geschichtswissenschaft, deren Gegenstand besonders vielschichtig ist, hat die spezielle Aufgabe, die Widerspiegelung der gesellschaftlichen Totalität in ihrer konkreten Entwicklung in Raum und Zeit anzustreben — dabei Tiefe des Gesetzes und Reichtum der Erscheinungen organisch miteinander verbindend. Ohne das immerwährende Erforschen und das tiefe Erleben der Dialektik von Wesen und Erscheinungen können die Vertreter der revolutionären Arbeiterklasse weder wirksame Geschichte schreiben noch wirksame Politik machen. 37
Lysen, H. W., Probleme humanitärer Wissenschaftspolitik, in: Zeitschrift für Grenzprobleme der Wissenschaft, Jg. 1, 1970, H. 1, S. 20.
Wolfgang Küttler¡Gerhard
Lozek
Marxistisch-leninistischer Historismus und Gesellschaftsanalyse. Die historische Gesetzmäßigkeit der Gesellschaftsformationen als Dialektik von Ereignis, Struktur und Entwicklung*
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Im ursprünglichen Manuskript der gemeinsamen Arbeit von Marx und Engels „Die deutsche Ideologie" findet sich der bemerkenswerte Satz: „Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte." 1 In der Endfassung ist dieser Satz gestrichen; es ist nicht bekannt warum, vielleicht sollten spätere Historikergenerationen vor Selbstüberschätzung bewahrt werden. Indes läßt die Aussage in äußerster gedanklicher Prägnanz die Grundhaltung des Marxismus zur Geschichte deutlich werden. Wie die weiteren Ausführungen erkennen lassen, meinten Marx und Engels in erster Linie die „Geschichte der Menschen", mit dem Vokabular unserer Zeit ausgedrückt: die Entwicklung der Gesellschaft im allgemeinen und der Gesellschaftswissenschaften im besonderen. Die historische Betrachtungsweise auf der Grundlage der objektiv gegebenen materiellen gesellschaftlichen Bedingungen — ein wissenschaftlich begründeter materialistischer Historismus — wurde damit als ein theoretisch-methodologisches Grundprinzip aller Wissenschaften, besonders aber jeder gesellschaftswissenschaftlichen, einschließlich der geschichtswissenschaftlichen Forschung, Lehre und Darstellung, charakterisiert. Dieses Prinzip konsequent und schöpferisch anwendend, kennzeichnete später Lenin als „das Allerwichtigste" bei der Untersuchung und Bestimmung gesellschaftlicher Prozesse und Aufgaben, „den grundlegenden historischen Zusammenhang nicht außer acht zu lassen, jede Frage von dem Standpunkt aus zu betrachten, wie eine bestimmte Erscheinung in der Geschichte entstanden ist, welche Hauptetappen diese Erscheinung in ihrer Entwicklung durchlaufen hat, und vom Standpunkt * Die vorliegende Studie beruht auf den Ausarbeitungen zu einem Referat der Verfasser, das auf dem Kolloquium „Die Geschichtswissenschaft als Gesellschaftswissenschaft" am 9. Juni 1970 gehalten und in der ZfG, Jg. 18, 9/1970, S. 1117ff., abgedruckt worden ist. Sie berücksichtigt einige Diskussionen des X I I I . Internationalen Historikerkongresses in Moskau zum „Großen Thema" der Sektion Methodologie: „Der Historiker und die Sozialwissenschaften". 1 Marx, KarljEngels, Friedrich, Die deutsche Ideologie, in: MEW, B d 3, Berlin 1959, S. 18. 3
Engclberg,
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dieser ihrer Entwicklung aus zu untersuchen, was aus der betreffenden Sache jetzt geworden ist". 2 I m marxistisch-leninistischen Historismus ist die konkrete geschichtliche Forschung, die Erforschung der vielfältigen, unwiederholbaren Ereignisse untrennbar verknüpft mit der Aufdeckung und Untersuchung der Struktur- und Entwicklungsgesetze in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das ist nur möglich auf der Grundlage der materialistischen Dialektik als der umfassenden und universellen Methode der Erkenntnis der objektiven Realität, in der die historische und die logisch-systematische Analyse von Natur und Gesellschaft eine untrennbare Einheit bilden. Daher enthält die marxistisch-leninistische Theorie einer jeden Wissenschaft die dialektische Einheit des Logischen und Historischen, entsprechend der objektiven Dialektik von Struktur, Bewegung und Entwicklung in allen Bereichen der materiellen Welt. Die Einzelwissenschaften unterscheiden sich also nicht dadurch, daß sie die eine oder andere Seite ausschließen, sondern daß sie entsprechend ihrem Gegenstand und ihren speziellen Methoden einen historischen und einen systematisch-logischen Ausgangs- und Zielpunkt besitzen. Demzufolge bilden im marxistisch-leninistischen Historismus das Historische und das Logische im Erkenntnisprozeß, die historische und die logische Methode, in Übereinstimmung mit der objektiven gesellschaftlichen Realität, eine Synthese, eine Einheit, in der das Historische als bestimmender Aspekt erscheint. In den systematischen Wissenschaften dagegen überwiegt innerhalb dieser Einheit das Logische gegenüber dem Historischen. Die eine Seite erscheint jeweils als Voraussetzung der anderen. Es kann keine allgemeine Gesellschaftstheorie ohne Geschichte und keine Geschichtswissenschaft ohne gesicherte wissenschaftliche Gesellschaftstheorie geben. Wenn die marxistisch-leninistischen Historiker den bürgerlichen „Historismus" — gleich welcher Prägung — ablehnen, dann nicht etwa wegen der postulierten „historischen Methode", sondern auf Grund seiner theoretisch-weltanschaulichen Grundposition. Diese Position, bei den vorherrschenden historiographischen Strömungen der imperialistischen Länder von den reaktionären Klasseninteressen der Ausbeutergesellschaft geprägt, kennzeichnet vor allem die Leugnung des gesetzmäßigen Charakters des geschichtlichen Gesamtprozesses. In seiner extrem-dogmatischen Form leugnet dieser „Historismus" absolut jede gesetzmäßige Erscheinung in der Geschichte und erklärt das Einmalige, Unwiederholbare zum eigentlichen Wesen der Geschichte. Aber auch in seinen elastischeren und „moderneren" Erscheinungsformen, die einen Gesetzesbegriff zumindest als heuristisches Prinzip anerkennen oder gar in Teilbereichen der Gesellschaft von „Gesetzen" sprechen, geht es letztlich darum, die wesentlichen und bestimmenden Struktur- und Entwicklungsgesetze der Gesellschaft sowie den gesetzmäßigen geschichtlichen Entwicklungsprozeß als Ganzes zu ignorieren und zu bestreiten, so daß auch in diesem Vorgehen zwangsläufig die dialektische Einheit des Historischen und des Logischen mißachtet wird. Infolge ihrer Gebundenheit 2
Lenin,
W. I., Über den Staat, in: Derselbe, Werke, Bd 29, Berlin 1961, S. 463.
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an reaktionäre Klasseninteressen ist keine der bürgerlichen Geschichts- und Gesellschaftsauffassungen in der Lage, den Geschichtsprozeß in seiner Totalität und Komplexität zu erfassen. Die Einheit und Wechselwirkung des Historischen und Logischen besitzt, wie bereits angedeutet, besonders in den einzelnen gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen ihre Spezifik. In der jeweiligen Spezifik dieser Wechselbeziehung finden zugleich die methodologischen Unterschiede der einzelnen marxistischleninistischen Gesellschaftswissenschaften ihren Ausdruck, beispielsweise auch die Unterschiede zwischen Geschichte und Soziologie. Sieht man einmal von der starken Differenziertheit des Gegenstandes ab, so besitzt, grob gesprochen, in der Soziologie die logische Methode, die von der Vielfalt der konkret-historischen Erscheinungen abstrahierende Analyse, Kennzeichnung und Systematisierung der gesellschaftlichen Struktur- und Entwicklungsgesetze, den Vorrang ; andererseits dominiert in der Geschichtswissenschaft, welche die vergangene Entwicklung der Gesellschaft und die ihr zugrunde liegenden objektiven Gesetze in der Vielfalt der konkret-historischen Ereignisse und Erscheinungen untersucht, naturgemäß die historische Methode gegenüber der logischen. Die enge Beziehung beider Methoden kennzeichnete Engels, wenn er davon sprach, daß die „logische Betrachtungsweise" im Grunde mit der historischen übereinstimme, „nur entkleidet der historischen Form und der störenden Zufälligkeiten". 3 Daraus wird deutlich, daß die Geschichtswissenschaft und die Soziologie eng verbundene gesellschaftswissenschaftliche Disziplinen mit jeweils spezifischen, unverzichtbaren Funktionen darstellen, deren Methodologie sich allerdings auf der gemeinsamen Grundlage der materialistischen Dialektik gegenseitig durchdringen, befruchten und ergänzen muß. Wie sich zwangsläufig jedes Ignorieren des Werdens und Gewordenseins eines beliebigen gesellschaftlichen Phänomens gegen den Wissenschaftscharakter der Soziologie und ihr verwandter Disziplinen richtet, so müssen sich jede Leugnung, aber auch Abwertung oder Subjektivierung des Gesetzesbegriffes gegen die Historie und Historiographie als Wissenschaft auswirken. Selbst die bürgerliche Soziologie und Historiographie zeigen, daß sich die Einheit des Historischen und Logischen unter dem Zwang der objektiven historischen Gegebenheiten in beschränktem Umfange auch spontan durchsetzt. 4 In zunehmendem Maße versuchen sogar bürgerliche Geschichtsideologen in Reaktion auf die verstärkte Ausstrahlung der marxistisch-leninistischen 3 Engels, Friedrich, Karl Marx, „Zur Kritik der Politischen Ökonomie" (Rezension), in: MEW, Bd 13, Berlin 1961, S. 475. 4 Das zeigte sich auch in den Beiträgen bürgerlicher Historiker auf dem X I I I . Internationalen Historikerkongreß in Moskau. Vgl. Schieder, Theodor, Unterschiede zwischen historischer und sozial-wissenschaftlicher Methode, Moskau 1970; Papadopoullos, Theodore, La méthode des sciences sociales dans la recherche historique, Moskau 1970; Hexter, J. H., History, the social sciences, and quantification, Moskau 1970; Sestan, Ernesto, Storia degli avvenimenti e storia delle struture, Moskau 1970; Dubuc. Alfred, L'Histoire au carrefour des sciences humains^ Moskau 1970. 3»
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Theorie und Praxis durch begrenzte Zugeständnisse, die als „Modernisierung" ihres geschichtsphilosophischen und methodologischen Instrumentariums angepriesen werden, dem tiefen theoretischen und praktischen Dilemma ihrer Disziplin beizukommen. Infolge ihrer reaktionären Klassenfunktion sind sie jedoch außerstande, die Einheit und Wechselwirkung des Historischen und des Logischen als methodologisches Grundprinzip in seiner vollen Tragweite, d. h. in seinen tatsächlichen gesetzmäßigen Zusammenhängen zu erfassen und anzuwenden. Dazu sind allein die marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften in der Lage, deren Aufgabe und Ziel es in Übereinstimmung mit den objektiven Interessen der sozialistischen Gesellschaft ist, die bestimmenden Struktur- und Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft, insbesondere in der modernen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, allseitig und praxisbezogen zu erforschen. Die Theorie und Praxis des Klassenkampfes in Vergangenheit und Gegenwart sowie die Erkenntnis von der geschichtsbildenden Rolle der Volksmassen beweisen überzeugend, daß die marxistische Auffassung von der Existenz und dem Wirken objektiver historischer Gesetze absolut nichts gemein hat mit der ihr häufig unterstellten Unterschätzung des handelnden geschichtlichen Subjekts, des Menschen; ebensowenig ist sie voluntaristisch, wie man es insbesondere vom Leninismus, dem Marxismus unserer Epoche, behauptet. In der bewußten Anwendung der Einheit und Wechselbeziehung des Historischen und des Logischen in der Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung besitzt der marxistischleninistische Historismus ein zuverlässiges methodologisches Instrument zur Aufdeckung der historischen Wahrheit in ihrer ganzen Vielfalt und Totalität. Die gewachsenen Erfordernisse der sozialistischen Bewußtseinsbildung 5 und die Meisterung der wissenschaftlich-technischen Revolution in der sozialistischen Gesellschaft verlangen eine zunehmende theoretische Integration und Systematisierung aller Wissenschaften, die sich mit der Gesellschaft und ihrer Entwicklung befassen. Die Komplexität der gesellschaftlichen Entwicklung, der immer feiner gegliederte voll entwickelte Organismus der sozialistischen Gesellschaft verlangen eine tiefere, alle Teilbereiche umfassende dynamische Gesellschaftsanalyse:0 Unter diesem Aspekt stellt sich heute die Frage der Einheit und der Wechsel. Wirkung von historischem Prinzip und systematisch-theoretischer VerallgemeL nerung als Grundfrage jeder geschichtswissenschaftlichen Forschung und Dar. Stellung auf einer qualitativ höheren Erkenntnisstufe von neuem. Ihre grund. 5
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Vgl. Streisand, Joachim, Geschichtsbild und Geschichtsbewußtsein bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, in: ZfG, Jg. 17, 1, 2/1969, S. 33ff.; Geschichtsbewußtsein und sozialistische Gesellschaft. Beiträge zur Rolle der Geschichtswissenschaft, des Geschichtsunterrichtes und der Geschichtspropaganda bei der Entwicklung des sozialistischen Bewußtseins, hg. v. Helmut MeierI Walter Schmidt, Berlin 1970. Vgl. Hager, Kurt, Die entwickelte sozialistische Gesellschaft, Aufgaben der Gesellschaftswissenschaften nach dem VIII. Parteitag der SED, Berlin 1971, S. 7.
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sätzliche Beantwortung durch den dialektischen und historischen Materialismus — die Erkenntnis der allgemeinen Entwicklungs- und Strukturgesetze der Gesellschaft — muß unter den Bedingungen einer wachsenden theoretischen Integration und einer ebenso rasch fortschreitenden Spezialisierung der Gesellschaftswissenschaften in möglichst effektive Methoden zur Erforschung der gesellschaftlichen Prozesse umgesetzt werden. 7 Sowohl aus den Erfordernissen der gesellschaftlichen Praxis des entwickelten Sozialismus als auch aus der verschärften ideologischen Klassenauseinandersetzung mit dem Imperialismus ergibt sich für die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft gegenwärtig die vordringliche methodologische Aufgabe, den vielfältigen konkreten Entwicklungsprozeß der menschlichen Gesellschaft und die ihm zugrunde liegenden Gesetze unter Berücksichtigung der Totalität des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses zu untersuchen. Dadurch sind zugleich grundsätzliche Fragen an die Geschichtsmethodologie gestellt; sie muß ihr Verhältnis nicht nur zu den spezifischen Methoden der benachbarten systematischen Gesellschaftswissenschaften, sondern auch zur Theorie und Methode allgemeiner Querschnittsdisziplinen bestimmen. 8 Dabei darf die Einheit des dialektischen und historischen Materialismus nicht zugunsten von Spezialdisziplinen aufgelöst werden. Deren Methoden können die Arbeit des Historikers erleichtern, aber nicht etwa seine weltanschauliche und methodologische Ausgangsbasis bilden. Gesellschaftsanalyse ist die Untersuchung des höchstentwickelten und kompliziertesten materiellen Organismus. Die Reduzierung der Methoden zu seiner Untersuchung auf eine kybernetische Systemtheorie bedeutet Mißachtung der eigentlichen Qualität gesellschaftlicher Prozesse. Die Einheit des Logischen und Historischen ist eine dialektische Einheit 9 , die die Identität der Gegensätze Struktur und Entwicklung darstellt. Historisch erscheint sie in der Vielfalt der gesellschaftlichen Prozesse, in den Ereignissen, aus denen die lebendige Geschichte besteht. Die Ereignisse sind die verbindenden Glieder zwischen Struktur und Entwicklung in der Geschichte. Historische Gesellschaftsanalyse bedeutet vor allem, die Dialektik von Ereignis, Struktur und Entwicklung im historischen Gesamtprozeß zu erfassen und die dabei gewonnenen methodologischen Erkenntnisse in wissenschaftlich exakte und politisch wirksame Geschichtsforschung und -Schreibung umzusetzen, d. h., allgemein betrachtet, die Spezifik der dialektischen Einheit des Logi' Vgl. bes. Heppener, Sieglinde / Wrona, Vera, Die materialistische Geschichtsauffassung — wissenschaftliche Grundlage der marxistisch-leninistischen Theorie des Sozialismus, in: DZfPh, Jg. 17, Sonderheft 1969, S. 33ff. 8 Vgl. Klaus, Georg I Schuhe, Hans, Sinn, Gesetz und Fortschritt in der Geschichte, Berlin 1967; ferner die Beiträge von B. Brachmann und P. Wiek in diesem Band. 9 Zur Einheit des Logischen und Historischen in der historischen Methode vgl. bes. Gedö, Andras, Die Einheit von Geschichtlichkeit und Objektivität der Erkenntnis, in: DZfPh, Jg. 18, 7/1970, S. 825fi.
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Logischen und des Historischen in der Geschichtswissenschaft auf der Höhe des heutigen Wissensstandes zu durchdenken. Die folgende Untersuchung soll am geschichtsmethodologischen Grundproblem der gesetzmäßigen Abfolge der Gesellschaftsformationen in offensiver Auseinandersetzung mit den wichtigsten modernen Strömungen der bürgerlichen Geschichtsmethodologie und -theorie einen Beitrag zur Bestimmung des Verhältnisses von materialistischem Historismus und Gesellschaftsanalyse in der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft leisten. Diese Problematik ist so umfassend und vielschichtig, und ihre Konkretisierung für die Geschichtsforschung steht noch so am Anfang, daß im Rahmen dieser Studie keine abschließenden Ergebnisse vorgetragen werden können. Die Untersuchung soll jedoch zur weiteren Diskussion eines theoretischen und methodologischen Kernproblems unserer Geschichtswissenschaft anregen.
II Wie bereits einleitend betont, spiegelt sich die objektive Dialektik von gesellschaftlichen Strukturen und Entwicklungen in der Einheit und im Wechselverhältnis der verschiedenen Gesellschaftswissenschaften wider. Die geschichtliche Entwicklung in unserer Epoche, die durch immer kompliziertere Zusammenhänge und Auseinandersetzungen bestimmt wird, hat auch die bürgerlichen Geschichts- und Gesellschaftstheoretiker zur Auseinandersetzung mit diesen Problemen gezwungen. So hat in den letzten Jahren in der bürgerlichen Historiographie das Interesse an theoretischen und methodologischen Fragen erheblich zugenommen. Inhalt und Zielsetzung unterscheiden sich jedoch prinzipiell von dem Anliegen der marxistisch-leninistischen Historiker. Geht es in der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft im wesentlichen darum, in Übereinstimmung mit den objektiven historischen Entwicklungstendenzen eine noch effektivere Umsetzung der Theorie und Methode des dialektischen und historischen Materialismus in unserer speziellen Wissenschaftsdisziplin entsprechend den neuen Erfordernissen des gesellschaftlichen Fortschritts in der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus und bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der D D R zu erreichen, so sind die Diskussionen der bürgerlichen Historiker letztlich Ausdruck der Krise des imperialistischen Gesellschaftssystems und seiner Ideologie. Nicht zufällig wird der Beginn der Krise der bürgerlichen Geschichtsideologie und Geschichtsschreibung seit jener Zeit datiert, als um die Jahrhundertwende die Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolutionen begann. Damit entstanden hinsichtlich der gesellschaftlichen Entwicklungsperspektive neue Fragen, die mit den traditionellen Mitteln bürgerlichen historischen Denkens nicht mehr erfaßt und beantwortet werden konnten. Der von der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution ausgelöste weltweite Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus ließ vollends den Widerspruch deutlich werden, der zwischen
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der bürgerlichen Geschichtsschreibung einerseits und dem tatsächlichen Geschichtsverlauf andererseits existierte und sich ständig weiter verschärfte. Die Krise des historisch überholten Gesellschaftssystems wurde zur generellen „Krise der Historie" erklärt. 10 Die neue Qualität des ideologischen Klassenkampfes in der Gegenwart f ü h r t e zu einer enormen Steigerung des Ideologiebedarfs des staatsmonopolistischen Herrschaftssystems, insbesondere in der Bundesrepublik infolge der unmittelbaren Konfrontation mit dem Sozialismus auf deutschem Boden. Dieser Ideologiebedarf resultiert letztlich aus dem Bestreben, in Reaktion auf den MarxismusLeninismus ein gesellschaftliches Bewußtsein zu entwickeln, das ebenso für die angestrebte reaktionäre Formierung im Innern wie als Mittel der ideologischen Diversion gegen den Sozialismus geeignet erscheint. Vor allem soll eine Zukunftsträchtigkeit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung vorgegaukelt und ein dementsprechend verfälschtes Perspektivbewußtsein erzeugt werden. Der Versuch, dieses Vorgehen umfassend pseudowissenschaftlich zu begründen und politisch wirksam werden zu lassen, führt zwangsläufig zu einer erhöhten Nachfrage nach geeigneter Theorie und Methodologie. Diese Tendenzen beeinflussen ungeachtet aller bürgerlichen Ideologiekritik (die letztlich auf einer bewußten Verfälschung des Ideologiebegriffs beruht und die imperialistische Ideologie tarnen soll) 11 nachhaltig die Entwicklung der bürgerlichen „Sozialwissenschaften", nicht zuletzt der bürgerlichen Historiographie. Der auch in den bürgerlichen „Sozialwissenschaften" vor sich gehende Integrationsprozeß wird dadurch erheblich forciert und im reaktionären Sinne politisiert. Ahnlich wie andere Disziplinen werden die Geschichtsschreibung und Geschichtsideologie durch eine zunehmende Einordnung in das Gesamtsystem der bürgerlichen Ideologie gekennzeichnet. Die bürgerlichen Historiker sind unter diesen Bedingungen gezwungen, ihr theoretisch-methodologisches Instrumentarium zu erweitern. Die reaktionären Klassenpositionen setzen dem jedoch unüberschreitbare Grenzen. Vor allem soll weiterhin jede Möglichkeit einer einheitlichen wissenschaftlichen Gesellschaftsund Geschichtstheorie geleugnet werden. Zugleich soll die einzig wissenschaftliche Gesellschaftstheorie des Marxismus-Leninismus noch zielgerichteter bekämpft werden. Es ist ein Teufelskreis, in dem sich die bürgerliche Geschichtstheorie und -methodologie befindet: auf der einen Seite der Schrei nach mehr 10
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Diese Auffassung wurde erneut auf dem westdeutschen Historikerkongreß 1970 in Köln u. a. in dem Schlußwortvortrag von R. Koselleck vertreten; vgl. Frenzel, Ivo, Die Historiker auf dem Katheder: ratlos, in: Süddeutsche Zeitung v. 11./12. 4. 1970; vgl. ferner Gerteis, Klaus, Geschichte im Todeskampf, in: Die Welt v. 24.] 0.1970. Vgl. Müller, Klaus, Ideologie und Gesellschaft. Zur These von der Entideologisierung der Gesellschaft, in: DZfPh, Jg. 14, 12/1966, S. 1489ff.; Rauh, HansChristoph, Auseinandersetzungen um das Ideologieproblem, in: DZfPh, Jg. 16, 9/1968, S. 1123 ff. ; Hahn, Erich, Ideologie. Zur Auseinandersetzung zwischen marxistischer und bürgerlicher Ideologietheorie, Berlin 1969.
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Theorie, auf der anderen die panische Angst vor der wirklich wissenschaftlichen Gesamttheorie. Die gegenwärtigen Auswirkungen dieser Krisensituation werden an anderer Stelle noch ausführlicher zu behandeln sein. Die Beratungen des X I I I . Internationalen Historikerkongresses in Moskau zum „Großen Thema" Methodologie zeigten mit aller Deutlichkeit die Unfähigkeit der bürgerlichen Geschichtsmethodologie, die Dialektik von Struktur und Ereignis in der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu erfassen. Der italienische Historiker E. Sestan, der sich speziell mit diesem Thema beschäftigte, kam über die subjektivistische Feststellung nicht hinaus, daß einerseits historische Ereignisse oder Tatsachen nur dann existieren, „wenn der Historiker sie für ein unentbehrliches oder allgemein wichtiges Moment im Kontext des historischen Themas hält" 12, und daß andererseits Strukturen in der Geschichte letztlich nur Verstandeskonstruktionen des betrachtenden Forschers sein könnten. Sestan kritisiert zwar die reine Ereignisgeschichte als unbefriedigend und gesteht den Ergebnissen der Strukturmethode zwingende innere Logik zu, stellt aber zugleich fest, daß eben diese in sich zwingenden Entwürfe außerhalb des Reichs der Fakten und daher ohne echte Beziehung zu diesen konstruiert seien. 13 Das mag sicher auf viele willkürliche Konstruktionen von Strukturzusammenhängen zutreffen, ebenso wie ja auch die Konfrontation von Ereignis- und Strukturgeschichte gewiß tatsächliche Erscheinungen der älteren und neuesten bürgerlichen Historiographiegeschichte widerspiegelt. Zur wissenschaftlichen Lösung des Problems ist Sestans agnostizistische Ausgangsposition jedoch völlig ungeeignet. Papadopoullos (Zypern) konzedierte demgegenüber die Realität „organisierter und kristallisierter Zustände", also objektiv existierender und erkennbarer Strukturen in der Geschichte. Auch er schließt dann aber von der raumzeitlichen Relativität gesellschaftlicher Strukturen sowie von ihrer Inkongruenz mit der komplexen Vielfalt des Historischen auf die Unmöglichkeit oder mindestens Fragwürdigkeit universeller Gesetzeserkenntnis in der Geschichte. w Schieder erkennt die „Faktizität" struktureller Zusammenhänge in der Geschichte und sie widerspiegelnder historischer Verallgemeinerungen in gewissem Sinne an, leugnet jedoch prinzipiell ihre gesellschaftstheoretische und prognostische Verwertbarkeit für die gesellschaftliche Praxis. 15 Allen drei Auffassungen ist gemeinsam, daß exakte Kriterien der Verifizierung einer allgemeinen Theorie der Geschichte fehlen oder überhaupt in Frage gestellt werden. Den Systemen, Strukturen und Gesetzen werden die in der Geschichte handelnden Individuen sowie die von ihnen hervorgebrachten Ereignisse weiterhin gegenübergestellt — spätestens dann, wenn es um ihren universellen, objektiven, gesetzmäßigen Zusammenhang im Übergang von Geschichte, Gegenwart und Zukunft geht. 12
Sestan, Ernesto, Storia degli avvenimenti . . ., a. a. O., S. 11, 20. « Ebenda, S. 25. 14 Papadopoullos, Theodore, La méthode . . ., a. a. O., S. l f f . , 7ff. 15 Schieder, Theodor, Unterschiede . . ., a. a. O., S. 4f.
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Zweifellos ist das Ereignis jenes Element der gesellschaftlichen Realität, das die Vielfalt und Komplexität des Historischen am unmittelbarsten verkörpert und das der Historiker, wenn er an seinen Stoff herangeht, in Form der Quellen oder des direkten Erlebens zunächst vor sich hat. 1 0 Der Mensch als geschichtliches Subjekt greift im Ereignis und durch das Ereignis in das historische Geschehen ein; durch die Vielfalt der Ereignisse machen die Menschen ihre Geschichte. Die Ereignisse sind also die Ebene des direkten Kontakts zwischen den Menschen und ihrer Geschichte, und zwar im doppelten Sinne der unmittelbaren gesellschaftlichen Praxis und der Erkenntnis geschichtlicher Prozesse. Nichtsdestoweniger sind die Ereignisse unabhängig vom Willen der Menschen allgemein und auch unabhängig vom thematischen Kontext des Historikers real, objektiv existent, und der Zusammenhang zwischen ihnen ist nicht konstruiert, sondern ebenfalls wirklich wie in der Vergangenheit, so in der Gegenwart. Das Ereignis als Element des historischen Gesamtprozesses ist wie dieser selbst, wenn man einen Ausschnitt der Geschichte für sich nimmt, in seiner Totalität einzig, individuell, unwiederholbar; aber es ist zugleich die Erscheinungsform des Allgemeinen, Wesentlichen und Wiederholbaren. Ohne Mithilfe der Theorie wäre der Kontakt mit der Geschichte als Summe von Ereignissen „eine chaotische Vorstellung des Ganzen". Durch nähere Bestimmung gelangt man zu immer einfacheren Begriffen, „von dem vorgestellten Konkreten auf immer dünnere Abstrakta . . . Von da wäre nun die Reise wieder rückwärts anzutreten. . .," bis man wieder bei der Erscheinung „anlangte, diesmal aber nicht als bei einer chaotischen Vorstellung eines Ganzen, sondern als einer reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen". 17 Der Historiker muß den Weg, den Marx für die systematisch-theoretische Methode der politischen Ökonomie nur als gegebene Voraussetzung ansah, immer wieder von neuem gehen 18 , d. h., er muß, auf der Grundlage der allgemeinen Theorie des historischen Prozesses, ausgehend von der Vielfalt des Materials, in dem sich die wirklichen Ereignisse mehr oder weniger genau widerspiegeln, für jede Zeit und jede Region jene allgemeinen einfachen Bestimmungen ermitteln, die eine gedankliche Reproduktion der konkreten gesellschaftlichen Totalität innerhalb der räumlich und zeitlich bestimmten historischen Wirklichkeit gestatten. 1 " 16
Vgl. BobiAska, Celina, Historiker und historische Wahrheit, Berlin 1967, S. 7 ff. (Vom erkenntnistheoretischen Standpunkt steht hier allerdings der Begriff der historischen Tatsache im Mittelpunkt.) 17 Marx, Karl, Einleitung (zur Kritik der politischen Ökonomie), in: MEW, Bd 13, S. 631. 18 Über die historische Forschungsmethode im „Kapital" vgl. Bregel', E.Ja., „Kapital" K. Marksa kak istoriceskij trud, in: Marks — istorik, Moskau 1968, S. 174ff. *9 Vgl .Bollhagen, Peter, Soziologie und Geschichte, Berlin 1966, S. 123 ff.; Engelberg, Emst, Über Gegenstand und Ziel der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft, in: ZfG, Jg. 16, 9/1968, S. 1142f.
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Insofern zielt die geschichtswissenschaftliche Methode auf das Logische — das Allgemeine, die Struktur, den gesetzmäßigen Zusammenhang — in seiner historischen Form, Variationsbreite und Verkleidung. Die Reproduktion der konkreten historischen Wirklichkeit ist wie in jedem beliebigen wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß das Ergebnis, nicht die Voraussetzung der wissenschaftlichen Analyse, sie vollzieht sich also in umgekehrter Reihenfolge im Vergleich zur Anschauung, die von der konkreten Vielfalt des Geschehens ausgeht. Das Konkrete nicht als Chaos, sondern als „die Zusammenfassung vieler Bestimmungen" 2 0 ist erfaßbar nur auf der Grundlage des vorherigen Vordringens zum Allgemeinen, von den Ereignissen zu den Systemen und Strukturen sowie den allgemeinen Entwicklungs- und Strukturgesetzen, in denen und nach denen sich die gesellschaftliche Bewegung vollzieht. Der dialektische und historische Materialismus betrachtet die Entwicklung der Gesellschaft als die ununterbrochene Veränderung und Bewegung der höchsten und kompliziertesten Existenzform der Materie, fortschreitend vom Niederen zum Höheren, im Kampf und in der Einheit der Gegensätze, in quantitativen Wandlungen und qualitativen Sprüngen und durch die dialektische Aufhebung des Einfachen im Komplizierten. 21 Wie alle Entwicklungen vollzieht sich auch die Geschichte der Menschheit durch die Entstehung, Wandlung und Ablösung von Strukturen. Der Begriff „Struktur" steht in der Geschichte in einem untrennbaren Zusammenhang mit der jeweiligen gesellschaftlichen Totalität; er kann ebenso wie der Systembegriff nur auf diese bezogen sinnvoll verwendet werden. Die Struktur der Gesellschaft umfaßt im allgemeinsten Sinne die Relationen, die die verschiedenen Elemente einer historisch gewordenen und sich entwickelnden gesellschaftlichen Totalität (Gesamtsystem) miteinander verknüpfen. 22 Diese Totalität ist nach Marx' genialer Entdeckung die Kategorie der ökonomischen Gesellschaftsformation, durch die die Frage nach der Grundstruktur der Gesellschaft gelöst wie auch der Anwendungsbereich des allgemeinen Systembegriffs für die Gesellschaftsanalyse bestimmt wird. 23 Durch diese Kategorie wird jede idiographische, d. h. den gesetzmäßigen Zusammenhang auflösende bzw. leugnende Betrachtung des historischen Geschehens ebenso überwunden wie seine — heute in der bürgerlichen Soziologie und Geschichtsschreibung mo20
Marx, Karl, Einleitung (zur Kritik der politischen Ökonomie), in: MEW, B d 13, S. 632. 2 * Vgl. Lenin, W. I., Philosophische Hefte. Zur Frage der Dialektik, in: Derselbe, Werke, Bd 38, S. 339. 22 Kröber, Günter, Die Kategorie „Struktur" und der kategorische Strukturalismus, in: DZfPh, Jg. 16, 11/1968, S. 1314; vgl. ferner: Philosophisches Wörterbuch, Bd 2, S. 1046; Wörterbuch der Kybernetik, S. 625; Marxistische Philosophie, S. 219, 233; Laitko, Hubert, Struktur und Dialektik, in: DZfPh, Jg. 16, 6/1968, S. 674 ff. 23 Vgl. Eichhorn I, Wolfgang, Zur philosophischen Analyse gesellschaftlicher Systeme, in: DZfPh, Jg. 17, 3/1969, S. 279ff.
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dem gewordene — Reduzierung auf willkürlich gesetzte Strukturzusammenhänge. 2 4 Die bahnbrechende Entdeckung der Kategorie der ökonomischen Gesellschaftsformation ermöglichte es Marx, in konsequenter Anwendung des dialektischen Materialismus auf die menschliche Gesellschaft die Geschichte der Menschheit als naturgesetzlichen und naturgeschichtlichen Vorgang zu analysieren. Damit wurde auf Grund der Erkenntnis von der Einheit der materiellen Welt der bisher unüberbrückbar erscheinende Gegensatz zwischen Natur- und Gesellschaftswissenschaften überwunden und die Betrachtung gesellschaftlicher Vorgänge erst eigentlich in den Rang der Wissenschaft erhoben. Entscheidend dafür war die Erkenntnis, daß die materiellen Verhältnisse der Menschen die Grundlage ihrer Geschichte sind und daß die Produktion und Reproduktion des materiellen Lebens sowie die Beziehungen, die die Menschen dabei zueinander eingehen, die Gesamtheit der gesellschaftlichen Erscheinungen in allen Bereichen der Gesellschaft letztlich bestimmen. Nur von dieser Grundposition aus ist es möglich, das Wirken gesellschaftlicher Gesetze zu erkennen. Der grundlegende Strukturaspekt eines gegebenen gesellschaftlichen Gesamtsystems besteht in seiner ökonomischen Beschaffenheit, im Charakter der Produktionsverhältnisse, die insgesamt die Basis der Gesellschaft darstellen, und spiegelt somit relativ stabile, wiederholbare, aber historisch bestimmte und historisch begrenzte Grundverhältnisse einer gegebenen sozialökonomischen Formation wider. Das revolutionäre, vorwärtstreibende Element der gesellschaftlichen Entwicklung sind dagegen die Produktivkräfte in ihrem dialektischen Wechselverhältnis zu den Produktionsverhältnissen. Die Kategorie der Gesellschaftsformation enthält jedoch nicht nur die grundsätzliche Einheit des Wesens der Gesetze in Natur und Gesellschaft, sondern vor allem auch den qualitativen Unterschied ihrer Wirkungsweise, der in der Ausstattung des Menschen mit Bewußtsein und in der notwendigen Vermittlung aller seiner Handlungen durch das Bewußtsein besteht. Marx unterschied zwischen der ökonomischen Grundstruktur, der Basis der Gesellschaft, d. h. den Produktionsverhältnissen auf ihren verschiedenen Entwicklungsstufen, und dem von dieser Grundstruktur hervorgebrachten, aber relativ selbständigen Überbau und erkannte im materiell bestimmten dialektischen Wechselverhältnis von Basis und Überbau den grundlegenden Entwicklungs- und Strukturzusammenhang der menschlichen Gesellschaft. Damit war eine wesentliche Grundlage des Gesetzesbegriffs, das Kriterium der Wiederholbarkeit, für die Entwicklung der Gesellschaft insgesamt mit allen ihren Teilbereichen nachweisbar, wie Lenin in Auseinandersetzungen mit subjektivistischen Gesellschaftstheorien hervorhob: „. . . die Analyse der materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse bot sofort die Möglichkeit, die Wiederholung und Regelmäßigkeit festzustellen und die Zustände in den verschiedenen Ländern 24
Vgl. Kröber, Günter, Die Kategorie „Struktur" . . ., a . a . O . , S. 1315; Hahn, Erich, Lenin und die Soziologie, in: DZfPh, Jg. 18, Sonderheft 1970, S. 188ff.
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verallgemeinernd zu dem Grundbegriff der Gesellschaftsformation zusammenzufassen . . . Entscheidend ist nun aber, daß Marx sich mit diesem Gerippe nicht zufriedengegeben, sich nicht auf die .ökonomische Theorie* im üblichen Sinne beschränkt hat, sondern, obwohl er die Struktur und die Entwicklung der betreffenden Gesellschaftsformation ausschließlich aus den Produktionsvernältnissen erklärt, dennoch überall und immer wieder dem diesen Produktionsverhältnissen entsprechenden Uberbau nachgegangen ist und so das Gerippe mit Fleisch und Blut umgeben hat." 2 5 Beides zusammen macht erst den gesellschaftlichen Gesamtorganismus sowohl in seiner Struktur als auch in seiner Entwicklung aus, der durch einen flachen Ökonomismus nicht zu erfassen wäre. Die Geschichte ist ein aus Handlungen mit Bewußtsein begabter Wesen und aus einer unendlichen Vielzahl nicht unmittelbar determinierter Entscheidungssituationen zusammengesetzter Prozeß. Die entscheidende Funktion der ökonomischen Verhältnisse, welche die grundlegenden Voraussetzungen geschichtlichen Handelns zu jedem gegebenen Zeitpunkt bilden, schließt daher die relativ freie Alternative des geschichtlichen Subjekts nicht aus, sondern sie bestimmt lediglich das Feld der möglichen Entscheidungen, durch die sie sich realisiert. Es gibt kein geschichtliches Ereignis, keine Entscheidung historischer Persönlichkeiten außerhalb der bestehenden Grundbedingungen und unabhängig von ihnen; aber es gibt ebensowenig eine fatalistische Vorherbestimmung konkreten geschichtlichen Handelns durch Strukturen und Gesetze. Im übrigen hat die moderne Auffassung des naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriffs deutlich werden lassen, daß auch in der Natur der Determinismus nicht eine gewisse Variationsbreite von Verhaltensmöglichkeiten ausschließt. In der Gesellschaft kommt diesen Variationsmöglichkeiten jedoch infolge der Ausstattung der Handelnden mit Bewußtsein eine weit höhere qualitative Bedeutung zu. Gesellschaftliche Strukturen können sich eben nur in alternativen Handlungen der Menschen kristallisieren und werden somit im Rahmen der durch die ökonomischen Verhältnisse gegebenen Bedingungen selbst alternativ gestaltet, wobei sich Form und Inhalt dieser Alternativität im Ablauf und Wechsel der Gesellschaftsformationen qualitativ verändern. 26 Der Umschlag von Struktur und Entwicklung geschieht also in der Geschichte durch den handelnden Menschen, der jedoch nicht als absolutes Individuum, sondern immer nur im Rahmen gesellschaftlicher Verhältnisse, als gesellschaftliches Wesen, geschichtlich wirksam werden kann. Seit Ausgang der Urgemeinschaft ist die grundlegende soziale Struktur- und Organisationsform des Menschen die Klasse. 25
26
Lenin, W. I., Was sind die „Volksfreunde" und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?, in: Derselbe, Werke, Bd 1, Berlin 1963, S. 131f.; zum Problemkomplex vgl. Hoffmann, Ernst, Über die Kategorie der Gesellschaftsformation im Werk W. I. Lenins, in: ZfG, Jg. 18, 5/1970, S. 588ff.; Hahn, Erich, Lenin und die Soziologie, a. a. O., S. 184 ff. Vgl. Wörterbuch Soziologie, S. 163 f.
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Zwischen dem dialektischen Wechselverhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen und der Entwicklung der gesellschaftlichen Beziehungen als Ganzes sind in der Geschichte aller Klassengesellschaften die Klassen bzw. der Klassenkampf das entscheidende Mittlerglied. „Wir haben . . . den Klassenkampf", schrieben Marx und Engels, „als nächste treibende Macht der Geschichte und speziell den Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat als den großen Hebel der modernen sozialen Umwälzung hervorgehoben". 2 7 Durch ihre Klassenzugehörigkeit werden sich die Menschen ihrer Stellung im gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozeß bewußt, und der Kampf um die Struktur und Entwicklung der Gesellschaft wird zwischen den Klassen und in den Klassen ausgetragen. Klassen und Klassenkampf sind die "wichtigsten in den geschichtlichen Ereignissen in Erscheinung tretenden Triebkräfte, die auf der Grundlage der materiellen Verhältnisse und ihrer Veränderung den gesamten Organismus der Gesellschaft formen und umformen. Die Ereignisse des Klassenkampfes — in den Revolutionen als „Lokomotiven der Geschichte"28 kulminierend — sind folglich die bestimmenden Glieder des gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozesses bis zur endgültigen Überwindung der Ausbeutergesellschaft. Klassenkampf und Revolution sind Grundkategorien des historischen Materialismus, die die entscheidenden Faktoren für die Durchsetzung des gesellschaftlichen Fortschritts und die Ablösung der historisch bedingten und begrenzten antagonistischen Gesellschaftsformationen im Rahmen der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung unmittelbar zum Ausdruck bringen. Sie ermöglichen es dem Historiker festzustellen, wie sich die Veränderungen des materiellen Produktionsund Reproduktionsprozesses auf die Gesellschaft als Ganzes übertragen, und zwar sowohl unter dem Aspekt der Struktur, da die Klassenbeziehungen die Grundlage der jeweiligen Sozialstruktur bilden, als auch unter dem Aspekt der Ereignisse und der Entwicklung.
III Gesellschaftsformationen und ihre gesetzmäßige Abfolge, Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, von Basis und Überbau; Klassen und Klassenkampf; gesellschaftlicher Fortschritt als Entwicklung vom Niederen zum Höheren sind jene grundlegenden allgemeinen Bestimmungen, die es dem Historiker ermöglichen, die historischen Erscheinungen wirklich zu konkretisieren, d. h. die Mannigfaltigkeit ihrer Zusammenhänge zu erkennen. Bleibt im Erkenntnisprozeß das historische Ereignis ohne Kenntnis dieser BestimMarx, Karl/Engels, Friedrich, Zirkularbrief an Bebel, Liebknecht, Bracke u. a., in: MEW, Bd 19, Berlin 1969, S. 165; vgl. Engelberg, Ernst, Über Gegenstand und Ziel . . ., a. a. O., S. 1128f. 28 Marx, Karl, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: MEW, Bd 7, Berlin 1969, S. 85. 27
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mungen arm, isoliert, als Nur-Individuelles, Nur-Einmaliges selbst für den reinen Individualisten irrelevant — da dieser mindestens die Beziehung zu sich selbst sucht —, wird es durch diese Bestimmungen reich an Aussagen, Beziehungen und Lehren. Der Historiker soll die Ereignisse nicht zur abstrakten Struktur erstarren lassen, aber er kann sie nur dann forschend und darstellend reproduzieren, wenn er in ihnen das sozialökonomische Wesen der Gesellschaft erfaßt. Marx charakterisiert in der Einleitung zum dritten Band seines Werkes „Das Kapital" wesentliche Seiten der historischen Untersuchungsmethode, wenn er sich nach der systematisch-theoretischen Analyse des Kapitalismus die Aufgabe stellt, „die konkreten Formen aufzufinden und darzustellen, welche aus dem Bewegungsprozeß des Kapitals, als Ganzes betrachtet, hervorwachsen. In ihrer wirklichen Bewegung treten sich die Kapitale in solchen konkreten Formen gegenüber, für die die Gestalt des Kapitals im unmittelbaren Produktionsprozeß, wie seine Gestalt im Zirkulationsprozeß, nur als besondere Momente erscheinen. Die Gestaltungen des Kapitals, wie wir sie in diesem Buch entwickeln, nähern sich also schrittweis der Form, worin sie auf der Oberfläche der Gesellschaft, in der Aktion der verschiedenen Kapitale aufeinander, der Konkurrenz, und im gewöhnlichen Bewußtsein der Produktionsagenten selbst auftreten." 2 9 Diese vielfältige Überschneidung der verschiedenen Struktur- und Entwicklungszusammenhänge, die Marx hier am Beispiel der Erscheinungsform des Kapitalverhältnisses demonstriert, verdichtet sich punktuell in den historischen Ereignissen, die als vermittelndes Glied zwischen Strukturen und Entwicklungen fungieren und in denen die Struktur- und Entwicklungsgesetze der Gesellschaft wirken. Ein historisches Ereignis im allgemeinsten Sinne ist jede gesellschaftlich bezogene Handlung der Menschen; das Ereignis ist insofern ungeachtet seiner Komplexität und Relativität im jeweils zu betrachtenden historischen Zusammenhang das Einzelne des historischen Prozesses. Historische Ereignisse sind vielgestaltig und vielgliedrig; sie können je nach der Spezifik der Darstellung und der Genauigkeit der Analyse wieder in unendlich viele kleinere Einheiten aufgelöst werden. Weltgeschichtlich gesehen ist die Große Sozialistische Oktoberrevolution ein einzelnes Ereignis; ebenso sind aber auch der I I . Allrussische Sowjetkongreß und in dessen Rahmen wiederum die Verkündung des Dekrets über den Frieden und des Dekrets über den Boden, die Ausrufung der Sowjetmacht oder der Auszug der menschewistischen Abgeordneten historische Ereignisse innerhalb dieses großen Ereigniskomplexes. Daraus folgt, daß die Dialektik von Struktur und Entwicklung in einem anderen als dem bisher untersuchten Bezug auch innerhalb der Ereignisse selbst festzustellen ist. Eine Revolution untergliedert sich in Etappen, die ihre Entwicklung kennzeichnen, und in eine Vielzahl revolutionärer Handlungen, die als Elemente des Revolutionsgeschehens in bestimmten Beziehungen zueinander stehen und die Struktur des Ereigniskomplexes der Revolution insgesamt ausmachen. Es gibt folgst Derselbe, Das Kapital, Dritter Band, in: M E W , Bd 25, Berlin 1968, S. 33.
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lieh auch spezifische Entwicklungs- und Strukturzusammenhänge innerhalb bestimmter Typen von Ereignissen. Das gilt nicht nur für die bürgerlichen und die sozialistischen Revolutionen, sondern auch für Sklavenaufstände, Bauernkriege, Arbeiterstreiks, imperialistische Kriege, nationale Befreiungskriege usw. Die Wertigkeit der Ereignisse und Ereigniskomplexe für den hier zu untersuchenden allgemeinen Entwicklungs- und Strukturzusammenhang des gesellschaftlichen Prozesses ist jedoch vor allem nach dem Wirkungsgrad verschieden, den sie für die Vermittlung zwischen den grundlegenden Veränderungen in der materiellen Produktion und dem Gesamtorganismus der Gesellschaft besitzen. Dieser Wirkungsgrad ist, wie schon angedeutet, bei Ereignissen des Klassenkampfes am größten und kulminiert in den Revolutionen, die als Ereigniskomplexe zugleich direkter Umschlag von der einen Gesellschaftsformation in eine andere sind oder verschiedene Entwicklungsstufen innerhalb dieses Umschlags bilden. Die Ereignisse des Jahres 1917 in Rußland, die den bisher tiefsten Einschnitt der Weltgeschichte bedeuten, zeigen die Dialektik von Ereignis, Struktur und Entwicklung in höchster Verdichtung und bei besonders deutlichem Zusammenwirken aller dafür relevanter Faktoren. Die bürgerlich-demokratische Februarrevolution überwand zunächst die meisten im sozialökonomischen und besonders im politischen Leben Rußlands noch im Kapitalismus und Imperialismus fortbestehenden Relikte des Feudalismus und war so zunächst ein entscheidender Schritt zur vollen Durchsetzung des bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwicklungsbestimmenden kapitalistischen Gesellschaftssystems in allen wichtigen Bereichen auch des politischen Überbaus. Unter imperialistischen Entwicklungsbedingungen und Klassenantagonismen reproduzierte die Februarrevolution auch das seit Jahrzehnten systemfestigende und systemtragende Klassenbündnis zwischen Gutsbesitzern und Bourgeoisie in Form der provisorischen Regierung, jetzt allerdings unter Führung der Bourgeoisie. 30 Aber gleichzeitig schuf diese Revolution in Form der Sowjets die Keime einer grundsätzlich neuen, die Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft sprengenden Staatsmacht der Arbeiter und Bauern. Die Doppelherrschaft zeigte den von Lenin in den Aprilthesen genial erfaßten Übergangscharakter der Revolution an: nämlich zum einen die volle Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft, die Reproduktion des Typs der bürgerlichen Revolution, der durch die Lösung der Machtfrage zugunsten der Bourgeoisie charakterisiert ist, zum anderen aber die Vorbereitung der neuen, sozialistischen Revolution, die im Imperialismus objektiv herangereift war, d. h. die Überwindung der Grundstruktur des Kapitalismus und damit der antagonistischen Klassengesellschaft überhaupt gegen die Konterrevolution der imperialistischen Bourgeoisie und der Gutsbesitzer. 3 1 30
Vgl. Lenin, W. /., Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution, in: Derselbe, Werke, Bd 24, Berlin 1959, S. 41. Vgl. derselbe, Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution. Thesen, in: Ebenda, S. 4f.; Briefe über die Taktik, in: Ebenda, S. 24ff.; Über die Doppelherrschaft, in: Ebenda, S. 20ff.; Die Aufgaben des Proletariats in unserer
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Die Ereignisse von der Februar- bis zur Oktoberrevolution sind geprägt durch das erbitterte Ringen systemstabilisierender und systemsprengender Kräfte und Faktoren. Die Bourgeoisie war gezwungen, in kürzester Zeit alle Varianten der Stabilisierung des imperialistischen Systems durchzuspielen: den bürgerlichdemokratischen Pluralismus, das Bündnis mit sozialdemokratischen und kleinbürgerlichen Parteien, schließlich den alleinigen Einsatz rechtssozialistischer und linksbürgerlicher Kräfte bis hin zum Versuch des Staatsstreiches und der offenen Militärdiktatur. Die Fortführung der Revolution hing maßgeblich von der Entwicklung des subjektiven Faktors, daß heißt der konsequent revolutionären Strategie und Taktik der Partei Lenins und ihrem Einfluß auf die Massen ab. Nur dadurch war es möglich, die revolutionären Potenzen der Sowjets in die Lösung der Machtfrage umzusetzen. Die Kräfte des internationalen Monopolkapitals konnten infolge des Krieges zunächst nicht oder nur ungenügend zur Stabilisierung der bürgerlichen Ordnung in Rußland intervenieren. Der Sieg der sozialistischen Revolution bedeutete den Beginn, den entscheidenden ersten Schritt der Entstehung des Sozialismus als Gesellschaftssystem. Aber das Nebeneinander der verschiedenen sozialökonomischen und politischen Strukturen auf dem Gebiet des riesigen Landes sowie wichtiger ökonomischer Grundlagen und Machtpositionen des — politisch im Zentrum überwundenen — kapitalistischen Systems blieben zunächst bestehen. Dennoch markierte die Oktoberrevolution mit der Errichtung der Staatsmacht der Arbeiterklasse den entscheidenden Umschwung in der bestimmenden Entwicklungsrichtung, nach der sich die Vielfalt von heterogenen gesellschaftlichen Elementen und Strukturen bewegte. War bis dahin die kapitalistische Formation der Generalnenner der unterschiedlichen Entwicklungsprozesse und Strukturzusammenhänge im Zentrum, in den entwickelten und in den zurückgebliebenen, teilweise noch feudal und vorfeudal strukturierten Randgebieten gewesen, so wurde es jetzt der beginnende Übergang zum Sozialismus in Gestalt der Sowjetmacht. Daran änderte sich auch nichts, als mit der Neuen Ökonomischen Politik sogar eine verhältnismäßig breite Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse einsetzte. Da die Staatsmacht und die entscheidenden ökonomischen Positionen in den Händen der Arbeiterklasse waren, hatte diese jedoch von vornherein eine ganz andere Funktion, als sie der kapitalistische Reproduktionsprozeß im bürgerlichen Gesellschaftssystem erfüllt.^ Die Große Sozialistische Oktoberrevolution enthält nicht nur die entscheidenden Grundzüge der sozialistischen Revolution, sondern sie stellt gleichzeitig in ihrer Vorgeschichte und ihren Auswirkungen das klassische Beispiel für die strukturüberwindende und strukturschaffende Funktion großer revolutionärer Ereignisse dar.
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Revolution, in: Ebenda, S. 44ff.; ferner Mine, I. I., Istorija Velikogo Oktjabrja, B d 1, Moskau 1967, S. 8 f. Vgl. Istorija SSSR s drevnejsich vremen do nasich dnej, B d 8, Moskau 1970, S. 70 ff.
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Mit dem beginnenden Übergang zum Sozialismus entstand eine neue Qualität im Charakter und im Wechselverhältnis gesellschaftlicher Strukturen und E n t wicklungen und der sie bestimmenden Triebkräfte. In diesen Erkenntnissen begegnen sich historische Analyse und gesellschaftliche Praxis unmittelbar ; nur das umfassende Studium der gesellschaftlichen E n t wicklung und des sozialökonomischen Wesens der geschichtlichen Prozesse ermöglichte Lenin und der Partei der Bolschewiki die Ausarbeitung der revolutionären Strategie und Taktik, durch die die weltgeschichtliche Wende zum Sozialismus zunächst in Rußland herbeigeführt werden konnte. 3 3 Die allseitige Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen menschlichen Handlungen und geschichtlichen Struktur- und Entwicklungsgesetzen bezieht sich nicht nur auf die Vergangenheit als etwas Abgeschlossenes, sondern auch auf die Gegenwart und Zukunft. Bei der historischen Gesellschaftsanalyse geht es nicht darum, die Geschichte physikalisch zu determinieren und die individuelle Entscheidungsfreiheit zu leugnen, sondern von der Geschichtserkenntnis her zusammen mit den anderen Gesellschaftswissenschaften Voraussetzungen für freiere, d. h. die objektiven Bedingungen und Perspektiven der gesellschaftlichen Praxis richtig einschätzende gesellschaftliche Entscheidungen zu schaffen. Losgelöst von der dialektisch-materialistischen Gesellschaftstheorie und von diesem praktischen gesellschaftlichen Bezug bleibt die Strukturmethode auch im günstigsten Falle auf die Erklärung von Teilbereichen und Teilerscheinungen des Geschichtsprozesses beschränkt, kann sie die Vielzahl der Strukturen und die widerstreitenden Tendenzen im deren Entstehung, Reife und Ablösung ebensowenig ordnen und erfassen wie die Determinanten der historischen Ereignisse. Beurteilt man die gegenwärtigen Versuche zur Modernisierung der bürgerlichen Historiographie, die äußerlich mit ähnlichen Begriffen und Methoden operiert, so zeigt sich das Ungenügen jeder verabsolutierten Strukturmethode in der Geschichtsforschung ebenso wie ihre Verwendungsfähigkeit für reaktionäre imperialistische Geschichts- und Gesellschaftskonzeptionen.
IV Die imperialistische Geschichtsideologie bedient sich heute bei der Auseinandersetzung mit dem Sozialismus vorrangig soziologisierender Methoden und Theorien. „Das neue Wort heißt Strukturgeschichte", interpretierte eine großbürgerliche Zeitung den westdeutschen Historikerkongreß in Köln 1970.34 Diese „Strukturgeschichte" erregt bereits seit Ende der fünfziger Jahre immer stärker das Interesse der führenden westdeutschen Historiker; sie wird offenbar als das theoretisch-methodologische Kernstück einer „neuen geschichtlichen Sehweise", der Sozialgeschichte angesehen. 33 34
Vgl. besonders Krasin, Ju., A., Lenin, revoljucija, sovremennost', Moskau 1967. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 7.4.1970.
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Die klassische Frage bürgerlicher deutscher Historiker und Geschichtsphilosophen nach den Qualitätsunterschieden zwischen „Kulturwissenschaften" (als gesetzesunabhängigen „Geisteswissenschaften") und Naturwissenschaften (als „Gesetzeswissenschaften") 35 hat sich vor allem im Zusammenhang mit den nach 1945 einsetzenden weit- und gesellschaftspolitischen Veränderungen in einem längeren Prozeß zu der Frage nach dem Verhältnis zwischen bürgerlicher Geschichtswissenschaft und bürgerlicher „Sozialwissenschaft" gewandelt. Geblieben sind das Kernproblem bürgerlicher Geschichtstheorie und -methodologie, die Leugnung des gesetzmäßigen Charakters der geschichtlichen Gesamtentwickhmg und ihrer objektiven Triebkräfte, und damit im Zusammenhang die aus der Klassenposition bürgerlicher Historiker erwachsende Unfähigkeit, das Wechselverhältnis zwischen Logischem und Historischem, zwischen den Kategorien des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen im Geschichtsprozeß exakt zu erfassen. Geblieben ist die Krise der bürgerlichen Geschichtsideologie. Die neuen Bedingungen der ideologischen Klassenauseinandersetzung zwingen jedoch die bürgerlichen Historiker dazu, vor allem im Bereich der Geschichtsideologie und -methodologie verstärkt nach Auswegen zu suchen. Hier sind die objektiven Ursachen zu sehen für das besondere Interesse beispielsweise der Führungskräfte im westdeutschen Historikerverband an der Frage nach der gegenwärtigen Stellung und Rolle der „Geschichte im System der Geistesund Sozialwissenschaften".36 Wenn auf dem XIII. Internationalen Historikerkongreß in Moskau als methodologisches Generalthema „Der Historiker und die Sozialwissenschaften" zur Debatte stand 37 , so könnte ein oberflächlicher Vergleich den Eindruck erwecken, als handele es sich hier um eine Problematik, die gleichermaßen alle Historiker, sowohl die reaktionären bürgerlichen Kräfte als auch die marxistisch-leninistischen und anderen progressiven Geschichtswissenschaftler, berührt. Indes geht es hier bei formal ähnlicher Fragestellung um inhaltlich völlig unterschiedliche, ja diametral entgegengesetzte Anliegen und Zielsetzungen. Für die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft gilt es ihre von Anfang an auf Grund der materialistisch-dialektischen Theorie und Methode prinzipiell geklärte Position und Funktion im System der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften unter den neuen Bedingungen der Entwick53
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Vgl. Fiedler, Frank, Methodologische Auseinandersetzungen in der Zeit des Übergangs zum Imperialismus (Dilthey, Windelband, Rickert), in: Studien, Bd 2, S. 153 ff. ; vgl. ferner Wagner, Fritz, Moderne Geschichtsschreibung. Ausblick auf eine Philosophie der Geschichtsschreibung, (West-)Berlin 1960, S. 111. So lautete das von Theodor Schieder gehaltene Hauptreferat auf dem westdeutschen Historikerkongreß 1967 in Freiburg, vgl. Becker, Gerhard, Historie in der Krise. Der westdeutsche Historikertag 1967 in Freiburg i. Br., in: ZfG, Jg. 16, 2/1968, S. 206 ff. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen marxistisch-leninistischen und bürgerlichen Historikern standen die Beiträge von Papadopoullos, Theodore, La méthode . . ., a. a. O., und Schieder, Theodor, Unterschiede . . ., a. a. O.,
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lung der Gesellschaft und der Wissenschaften weiterzuentwickeln und auf eine neue, höhere Stufe zu heben. F ü r die imperialistische Geschichtsschreibung und Geschichtsideologie geht es in erster Linie darum, ihre Position und Funktion als Strategie- und bewußtseinsbildendes Instrument des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Konkurrenz gegenüber den immer stärker vordringenden bürgerlichen soziologischen und politologischen Disziplinen sowie der von ihnen praktizierten „Strukturmethoden" durch entsprechende Modifikationen zu behaupten und ideologisch-politisch möglichst effektiver zu gestalten. Diesen als „Modernisierung" ausgegebenen Anpassungsprozeß der imperialistischen Historiographie kennzeichnet der von Anfang an der bürgerlichen Ideologie inhärente unlösbare Widerspruch zwischen historischem und unhistorischem Herangehen, zwischen historischen und systematischen Disziplinen und Richtungen. Die neuen Intégrations- und Spezialisierungsentwicklungen der marxistischleninistischen Gesellschaftswissenschaften unterliegen ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten, die wiederum primär durch die Struktur- und Entwicklungsgesetze des sozialistischen Gesellschaftssystems bestimmt werden. Die gegenwärtige interdisziplinäre Entwicklung der bürgerlichen „Geistes- und Sozialwissenschaften" wird dagegen durch die objektiven gesetzmäßigen Bedürfnisse des staatsmonopolistischen Kapitalismus bestimmt, wobei sich die unlösbaren inneren Widersprüche der bürgerlichen Ideologie insgesamt verschärfen. Diese absolut entgegengesetzte geschichtstheoretische und methodologische Grundsituation führte auf dem Internationalen Historikerkongreß zwangsläufig zur prinzipiellen Auseinandersetzung zwischen den marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaftlern und anderen progressiven Historikern einerseits und den reaktionären bürgerlichen Geschichtsideologen andererseits. Dabei ging es vornehmlich um das Verhältnis der Geschichtswissenschaft zu den anderen Gesellschaftswissenschaften — vor allem zur Soziologie und Philosophie —, um den gesetzmäßigen Charakter des Geschichtsprozesses sowie die B e ziehung zwischen qualitativen und quantitativen Methoden in der Geschichtswissenschaft. Die Fragwürdigkeit bürgerlicher Geschichtsmethodologie zeigte sich bereits in der Benutzung des sehr verschwommenen Begriffes der „Sozialwissenschaften" und in dem Versuch, sie mehr oder weniger den „historischen Wissenschaften" entgegenzustellen. Wenn es seit jeher das Hauptanliegen bürgerlicher Ideologen war, den gesetzmäßigen Gang der gesellschaftlichen Entwicklung zu leugnen, so sehen sie sich heute auch in diesem Bereich gezwungen, raffiniertere Mittel einzusetzen. Wie bereits in einem anderen Zusammenhang angedeutet, war beispielsweise Papadopoullos durchaus bereit, in gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Teilgebieten die Existenz und das Wirken von Gesetzen anzuerkennen 3 8 ; auch Schieder konzedierte einen Einfluß „naturwissenschaftlicher Axiomatik" und „naturwissenschaftlicher Denkmodelle" auf die historischen Wissenschaften und die „Sozial38 Vgl. Papadopoullos. Theodore, La méthode . . ., a. a. O., S. 9, 13 ff. 4*
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Wissenschaften" 39 , womit zweifellos auch die Kategorie der Gesetze zumindest berührt wird. Diese und andere Zugeständnisse an die historische Realität sind jedoch unverkennbar darauf gerichtet, den gesetzmäßigen Charakter des Geschichtsprozesses als Ganzes weiter absolut zu leugnen. In diesem Sinne wird den einzelnen „Sozialwissenschaften" partiell die Berücksichtigung einiger „sozialer Gesetze" zugestanden; die Geschichtswissenschaft, die den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozeß untersucht, soll dagegen in ihrem Wesen als eine Sonderdisziplin, als „keine exakte Wissenschaft" hingestellt werden'"0, die sich demzufolge inhaltlich und methodologisch erheblich von den „Sozialwissenschaften" unterscheide. Auch Papadopoullos kommt trotz aller Zugeständnisse an den Gesetzesbegriff über diese Kardinalthese grundsätzlich nicht hinaus. In dem Bestreben, dem Marxismus eine brauchbare gesellschafts- und geschichtstheoretische Alternative entgegenzusetzen, besteht allerdings in den heute dominierenden Richtungen bürgerlicher Historiographie darüber Einigkeit, Geschichtsideologie und Geschichtsschreibung durch die Übernahme „sozialwissenschaftlicher Methoden" ideologisch und politisch wirksamer zu gestalten. In diesem Sinne wird generell — bei graduellen Unterschieden — eine stärkere gegenseitige Durchdringung von Geschichte und Soziologie gefordert. Hier ordnen sich nicht zuletzt die neuesten Versuche ein, die Bedeutung der quantitativen Methoden — vornehmlich der mathematischen Methoden bis hin zur EDV — willkürlich zu überhöhen und inhaltliche, theoretisch-weltanschauliche Grundfragen zu ignorieren. Alle Versuche der führenden Historiker, die bürgerliche Geschichtsschreibung theoretisch und methodologisch einheitlich auszurichten, können jedoch nicht über ihre erheblichen Differenzen hinwegtäuschen. Die allgemeine theoretischmethodologische Unsicherheit und Zerfahrenheit führt nicht selten dazu, daß manche bürgerlichen Historiker aus der Sperrzone imperialistischer Ideologie ausbrechen und sich progressivem Gedankengut zuwenden. Zweifellos gibt es solche Tendenzen — wenn auch in der Bundesrepublik weitaus seltener als in anderen Ländern —, die beachtet werden müssen/' 1 Die Notwendigkeit, diese theoretische Entwicklung in der bürgerlichen Historiographie außerordentlich differenziert zu werten, darf jedoch nicht über die von den führenden Historikern des Imperialismus angestrebten reaktionären Zielsetzungen hinwegtäuschen. Ihnen geht es letztlich darum, die bürgerliche Geschichtsideologie auf die Bedürfnisse des staatsmonopolistischen Herrschaftssystems im allgemeinen und auf die Erfordernisse der Klassenauseinandersetzung mit dem Sozialismus im besonderen einzustellen. Deshalb sind ihre Anstrengungen in erster Linie darauf gerichtet, die marxistisch-leninistische Geschichts39 40
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Vgl. Schieder, Theodor, Unterschiede . . a. a. O., S. 11 f. Vgl. Wenn die Scheuklappen fielen. Kritischer Rückblick auf den Moskauer Historikerkongreß, in: Frankfurter Rundschau v. 29.8.1970. Vgl. Kachk, / . , Brauchen wir eine neue Geschichtswissenschaft? In: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, 1/1970, S. 96 ff.
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auffassung und Geschichtsschreibung zielgerichteter zu bekämpfen. Diesem Grundanliegen sind alle weiteren theoretisch-methodologischen Manipulationen zugeordnet. Eine entsprechend modifizierte Geschichtstheorie und -methodologie soll dazu beitragen, die Integrationsfähigkeit der bürgerlichen Geschichtswissenschaft innerhalb der bürgerlichen Ideologie zu erhöhen, die methodologische Flexibilität der bürgerlichen Historiographie zu vergrößern und die vorherrschenden imperialistischen Gesellschaftslehren mittels einer alle Geschichtsperioden einschließenden „Gesamtansicht der Vergangenheit" 4 2 historisch umfassend zu begründen. Die herkömmliche bürgerliche Geschichtstheorie und -methodologie in Gestalt des sogenannten deutschen Historismus' 13 ist (von ihrer politischen Kompromittierung ganz abgesehen) der neuen Situation nicht mehr gewachsen — was nicht bedeutet, daß sie keinen Einfluß mehr hätte. Aber die diesem reaktionären Historismus eigene Verabsolutierung des Besonderen und Einzelnen in der Geschichte mittels der dogmatisierten individualisierenden Methode, die damit verknüpfte einseitige Orientierung auf die politische Geschichte, auf den „Staat" als die wichtigste „geschichtlich gewordene Individualität"' 1 ''', und nicht zuletzt die traditionelle Animosität gegenüber den in den westlichen imperialistischen Ländern dominierenden positivistischen Gesellschaftslehren machen ihn für die Bewältigung der neuen Probleme ungeeignet; seine Position verschärft zugleich in extremer Weise die Krise der bürgerlichen Geschichtsideologie und Geschichtsschreibung in der BRD. Es zeugt nur von der Tiefe dieser Krise, wenn man sich gezwungen sieht, gegen ehemalige Tabus zu verstoßen. In dem Bemühen, einen Ausweg aus der geschichtsideologischen Krisensituation zu finden, sind hauptsächlich zwei Tendenzen zu erkennen : Erstens das Bestreben, die bürgerliche Historiographie als eigenständige Disziplin faktisch aufzulösen und in den Sozialwissenschaften — hauptsächlich in der Soziologie und Politologie — aufgehen zu lassen. Kennzeichnend hierfür sind ein extrem ahistorischer Soziologismus und Strukturalismus. Diese Auffassungen werden k a u m von Historikern, sondern namentlich von Soziologen und Philosophen vertreten/* 5 Trotz Äußerungen dieser theoretisch-methodologischen Modeerscheinungen kann die imperialistische Gesellschaft nicht auf eine Geschichtsideologie und auf die spezifisch bewußtseins- und strategiebildende Funktion der bürgerlichen '•2 Vgl. Fischer-Lexikon, Geschichte, hg. v. Waldemar Besson, Frankfurt/M. 1961, S. 89. 4:1 Vgl. Meinecke, Friedrich, Die Entstehung des Historismus, 2 Bde, MünchenBerlin 1936. 44 Derselbe, Weltbürgertum und Nationalstaat, München 1962, S. 72, (Werke, Bd 5). 45 Vgl. Bericht Freiburg, Beilage zur Zeitschrift GWU, 1/1969. Das Bestreben, die bürgerliche Historiographie in der Soziologie und Politologie aufgehen zu lassen, kommt am deutlichsten in der Liquidierung des Geschichtsunterrichts und der Einführung des Faches „Gemeinschaftskunde" in den oberen Klassen der westdeutschen Gymnasien zum Ausdruck.
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Historiker und ihrer Disziplin verzichten. Es kann deshalb als sicher angenommen werden, daß sich diese Variante letztlich nicht durchsetzen wird. Zweitens äußert sich eine andere Tendenz in dem Bemühen, eine Kompromißlösung zwischen der bürgerlichen Historiographie und den anderen „Sozialwissenschaften" — namentlich der Soziologie — in Gestalt der „Sozialgeschichte" zu erreichen. Wird auch eine begrenzte Soziologisierung der Historiographie zugestanden, so soll doch umgekehrt mit ihrer Hilfe eine allgemeine Historisierung der „Sozialwissenschaften" erreicht werden. Als das methodologische Kernstück dieser Art Sozialgeschichte wird eine „strukturgeschichtliche Betrachtungsweise" angesehen.46 Diese Konzeption gewinnt immer mehr an Einfluß, und da sie für die bürgerlichen Historiker einige brennende Fragen zu lösen scheint, ohne die Grundsubstanz der bürgerlichen Geschichtsideologie und Geschichtsschreibung anzurühren, wird sie sich zweifellos weiter durchsetzen und — soweit sie es nicht schon ist — zur vorherrschenden Erscheinung im theoretisch-methodologischen Bereich werden. Was die konkrete Beziehung zwischen Geschichte und „Sozialwissenschaften", von „historischer und sozialwissenschaftlicher Methode" anbelangt, so gibt es darüber allerdings unterschiedliche Auffassungen. Das erklärt sich nicht zuletzt auch daraus, daß sich zu der erwähnten „struktur- und sozialgeschichtlichen Betrachtungsweise" bürgerliche Historiker der unterschiedlichsten politisch-ideologischen Richtungen bekennen — was für die Differenzierung im theoretisch-methodologischen Bereich komplizierte Probleme aufwirft, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. 47 46
Bedeutenden Einfluß erlangten vornehmlich folgende Publikationen: Brunner, Otto, Neue Wege der Sozialgeschichte, Göttingen 1956; Conze, Werner, Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht, Köln-Opladen 1957; Schieder, Theodor, Strukturen und Persönlichkeiten in der Geschichte, in: HZ, Bd 195, 1962, S. 265 ff.; derselbe, Der Typus in der Geschichtswissenschaft, in: Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit, München 1958, S. 172 ff.; Bosl, Karl, Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa. Ausgewählte Beiträge zu einer Strukturanalyse der mittelalterlichen Welt, München-Wien 1964; Pitz, Ernst, Geschichtliche Strukturen. Betrachtungen zur angeblichen Grundlagenkrise der Geschichtswissenschaft, in: HZ, Bd 198, 1964, S. 265ff.; Moderne deutsche Sozialgeschichte, hg. v. HansUlrich Wehler, Köln-(West-)Berlin 1966. Vgl. ferner Brunner, Otto, Das Fach „Geschichte" und die historischen Wissenschaften, Hamburg 1959; Wagner Fritz, Moderne Geschichtsschreibung . . . a. a. O.; Besson, Waldemar, Geschichte als Politische Wissenschaft. Zum Verhältnis von nationalstaatlichem und historischem Denken, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 14.12.1962; Bosl, Karl, Der „soziologische Aspekt" in der Geschichte. Wertfreie Geschichtswissenschaft und Idealtypus, in: HZ, Bd 201, 1965, S. 613 ff.
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Vgl. Lozek, Gerhard, Zur Methodologie einer wirksamen Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Geschichtsschreibung. Das Problem der Strukturelemente und die Hauptrichtung der Auseinandersetzung, in: ZfG, Jg. 18, 5/1970, S. 608ff.
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Während einige der bürgerlichen Historiker dazu neigen, die Geschichte als eine Spezialdisziplin der „SozialWissenschaften" — etwa als „angewandte Sozialwissenschaft" 4 8 — zu betrachten, stellen andere die Geschichte nach wie vor als eigenständige Disziplin neben die „Sozialwissenschaften". Am weitesten verbreitet ist die Auffassung von der Notwendigkeit einer gegenseitigen theoretischmethodologischen Durchdringung 4 9 ; jeweils die eine wird zum „Hilfsmittel" oder auch zur „Hilfswissenschaft" der anderen erklärt. Davon ausgehend, wird schließlich die strukturorientierte „Sozialgeschichte" nicht als „historische Einzeldisziplin", sondern als „Aspekt", „Betrachtungsweise" und „hermeneutisches Prinzip" aufgefaßt, denen für alle Bereiche und Zeiträume der Geschichte „universale Geltung" zukomme. 5 0 Die charakterisierten Bestrebungen der westdeutschen Historiker treffen sich mit einem analogen Vorgehen der vorherrschenden geschichtsideologischen Strömungen in den modernen imperialistischen Ländern, vornehmlich in den USA. 5 1 Das historisch-politische Denken im allgemeinen und das bürgerliche Geschichtsdenken im besonderen hatte in den westlichen imperialistischen Ländern eine etwas andere Entwicklung genommen als in Deutschland. Die erfolgreichen bürgerlichen Revolutionen, namentlich in England und noch mehr in Frankreich, führten dazu, daß hier die bürgerlichen Fortschrittsideen nachhaltiger wirkten. Das förderte im Bereich der Gesellschaftslehren die Orientierung auf gesellschaftliche Entwicklungsprobleme und führte frühzeitig zu einer soziologisch geprägten Denkweise. In Frankreich und England äußerte sich dies in der Herausbildung und im Einfluß des Positivismus (A. Comte, H. Spencer, J . S. Mill). 5 2 Die angedeuteten Unterschiede zum bürgerlichen „deutschen Historismus" können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch dem Positivismus von Anfang an die unlösbaren Widersprüche einer bürgerlichen Ideologie innewohnten und seine Grundauffassungen von Beginn an gegen die progressivste gesellschaftliche Kraft, das aufkommende und rasch erstarkende Proletariat, und seine 48
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Diese Auffassung, die offenbar an die unwissenschaftliche Differenzierung zwischen sogenannten theoretischen Sozialwissenschaften einerseits und sogenannten angewandten Sozialwissenschaften andererseits anknüpft, läuft letztlich — falls sie ernst genommen wird — auf eine Trennung zwischen Theorie und Geschichte bzw. auf den Verzicht der theoretischen Durchdringung der Geschichte hinaus und würde zwangsläufig wieder bei der idiographischen Methode enden. Vgl. Conze, Werner, Sozialgeschichte, in: Moderne deutsche Sozialgeschichte, a. a. O., S. 19ff.; Schieder, Theodor, Strukturen und Persönlichkeiten . . a. a. O.; Bosl, Karl, Frühformen der Gesellschaft. . . , a. a. O., S. 478ff. Vgl. ebenda, S. 478, 489; Mommsen, Hans, Sozialgeschichte, in: Moderne deutsche Sozialgeschichte, a. a. O., S. 34; Fischer-Lexikon, Geschichte, a. a. O., S. 231. Vgl. Loesdau, Alfred, Historisch-politische und geschichtstheoretische Grundprobleme der modernen imperialistischen USA-Historiographie, Phil. Diss. Berlin 1968, S. 61 ff. (Ms.). Vgl. Kon, I.S., Der Positivismus in der Soziologie. Geschichtlicher Abriß, Berlin 1968.
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historische Mission gerichtet waren. Dieser reaktionäre Grundzug der stärker soziologisch ausgerichteten bürgerlichen Denkweisen kommt später unverhüllt im Pragmatismus der bürgerlich-imperialistischen USA-Historiographie (besonders unter dem Einfluß von W. James und J . Dewey) 5:! zum Ausdruck, einer geschichtsphilosophischen Konzeption, die bereits in der Phase des Übergangs zum Monopolkapitalismus entstand. In unserem Jahrhundert, vor allem seit Beginn der neuen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, hat sich der reaktionäre Charakter sowohl der pragmatischen als auch der neopositivistischen Auffassungen voll ausgeprägt, und keine noch so flexibel gehandhabten soziologischen oder sozialwissenschaftlichen Methoden können verdecken, daß wir es hierbei mit eindeutig reaktionären, imperialistischen Gesellschaftslehren zu tun haben, die den gesetzmäßigen historischen Fortschritt mit ihren Mitteln zu verhindern suchen. Während westdeutsche Historiker die Übernahme bürgerlicher soziologischer und philosophischer Lehren aus anderen imperialistischen Ländern als Zeichen der ideologischen „Aussöhnung mit dem Westen" deklarieren, behaupten Historiker dieser Länder vor allem die „Überlegenheit der westlichen Historiographie" gegenüber dem „deutschen Idealismus" (gemeint ist der bürgerliche „deutsche Historismus") einerseits und gegenüber dem historischen Materialismus andererseits. Infolge eines „Methodenpluralismus" kenne die „westliche Historiographie" keine Krisenerscheinungen.5^ In dieser Argumentation, vor allem in den Versuchen, sich mit einer Kritik am sogenannten Historizismus (Popper) 55 über den Gegensatz von Idealismus und Materialismus zu stellen, widerspiegelt sich unverkennbar neopositivistisches Gedankengut. Doch sowohl beim Neopositivismus als auch beim Pragmatismus und ihrer geschichtsideologischen Umsetzung handelt es sich ebenfalls um idealistische Auffassungen, die letztlich darauf hinauslaufen, die objektiven Gesetzmäßigkeiten und Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung zu leugnen. Das dabei angewandte geschichtsphilosophische und methodologische Instrumentarium ist jedoch beweglicher als beim „deutschen Historismus" und umfaßt einen größeren gesellschaftspolitischen Spielraum. Es ist bis zu einem gewissen Grade imstande, sich auf neue Probleme, wie sie durch die gesellschaftliche und technisch-wissenschaftliche Entwicklung im staatsmonoplistischen Kapitalismus sowie in der Klassenauseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus hervorgerufen werden, einzustellen. Diese Flexibilität ist hauptsächlich auf den dem Neo53
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Vgl. Wels, Harry K., Der Pragmatismus — eine Philosophie des Imperialismus, Berlin 1 9 5 7 ; Loesdau, Alfred, Historisch-politische und geschichtstheoretische Grundprobleme . . ., a. a. O., S. 83ff. Vgl. Iggers, Georg G., Geschichtswissenschaft, in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie, hg. v. C. D. Kernig in Zusammenarbeit mit Z. K. Brzezinski u. a., B d 2, Freiburg-Basel-Wien 1968, Sp. 9 2 6 - 9 2 8 . Vgl. ferner Hexter, J. H., History . . a. a. O. Popper, Karl Raimund, The Poverty of Historicism, Boston 1957 (deutsch: Derselbe, Das Elend des Historizismus, Tübingen 1965).
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positivismus eigenen methodologischen Eklektizismus sowie die Orientierung auf die Gesellschaftsanalyse zurückzuführen. I m Unterschied zu der vom „deutschen Historismus" vorgenommenen Verabsolutierung des Staatlichen ermöglicht die Erhebung „des Gesellschaftlichen" zur zentralen theoretisch-methodologischen Kategorie naturgemäß eine erhebliche Ausweitung der Geschichtsbetrachtung und -analyse. Früher ängstlich gemiedene Bereiche der Historie, vor allem bestimmte soziale und auch ökonomische Entwicklungen — so die Geschichte der Arbeiterbewegung, Entwicklungen im Bereich der materiellen P r o d u k t i v k r ä f t e u. a. — können nunmehr einbezogen, der geschichtliche Gesamtprozeß zugleich mit noch elastischeren Mitteln verfälscht werden. Ausgeschlossen bleiben nämlich nach wie vor die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der gesamtgesellschaftlichen E n t wicklung, negiert bleiben in erster Linie die sozial-ökonomische Grundkategorie der Gesellschaftsformation und damit für unsere Zeit der gesetzmäßige gesellschaftliche Fortschritt zum Sozialismus und Kommunismus. Dabei sind diese flexibleren Varianten imperialistischer Geschichts- und Gesellschaftsbetrachtung in ihrer entscheidenden konzeptionellen Anlage u n d Aussage im Vergleich zum konservativen bürgerlichen Historismus nicht weniger, sondern nur raffinierter u n d unter Einbeziehung möglichst vieler Bereiche des gesellschaftlichen Lebens auf die Machtfrage und damit auch auf „das Staatliche", „den S t a a t " im Sinne der Machtinteressen der Monopolbourgeoisie und ihres imperialistischen Herrschaftssystems angelegt. Aus dem Gesagten wird bereits deutlich, daß die Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus sowohl prinzipielle wissenschafts-theoretische als auch philosophisch-weltanschauliche Probleme berührt. F ü r die geschichtsideologische Auseinandersetzung gilt es vornehmlich zwei Probleme grundsätzlich zu unterscheiden: 5 0 erstens den Strukturalismus als bürgerliche Modephilosophie und angestrebter Grundzug einer allgemeinen imperialistischen Wissenschaftstheorie und zweitens die Struktur-Methode als legitimes Verfahren der Geschichts- u n d Gesellschaftsanalyse, wenn sie philosophisch-weltanschaulich und theoretischmethodologisch richtig, d. h. in Übereinstimmung mit der objektiven Realität, erfaßt wird. Der philosophische Strukturalismus, hauptsächlich aus der bürgerlichen Linguistik hergeleitet, verabsolutiert die strukturelle Methode zur allgemeinverbindlichen, einzig wissenschaftlichen Methode. 57 Werden damit in erster Linie die Strukturen von der sie bestimmenden Gesellschaftsformation gelöst u n d sowohl die dialektische Einheit von S t r u k t u r u n d Prozeß als auch von Logischem und Historischem mißachtet, so gipfelt das Ganze in dem Versuch, die Menschen u n d vor allem die Klassen, den subjektiven Faktor, a b z u 56 57
Vgl. Kröber, Günter, Die Kategorie „Struktur" . . . , & . a. O., S. 1310ff. Vgl. Lévi-Strauss, Claude, Strukturale Anthropologie, Frankfurt/M. 1957; Sebag, Luden, Marxismus und Strukturalismus, Frankfurt/M. 1967; Greimas, A.J., Structure et histoire, in: Les temps modernes, 1966, Nr. 22. — Zur marxistischleninistischen Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus vgl. Schober, Rita, Im Banne der Sprache. Strukturalismus in der Nouvelle Critique, Halle 1968.
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werten oder gar aus der Geschichte zu eliminieren. In der Leugnung der geschichtsgestaltenden Kraft der Volksmassen widerspiegelt sich der antihumane Charakter auch dieser spätbürgerlichen Philosophie. Die Praktizierung ahistorischer und undialektischer Methoden ist-ein Hauptmerkmal dieses Strukturalismus. Wie schon erwähnt, stellt er die bürgerliche Historiographie überhaupt in Frage. Von diesem Strukturalismus grundsätzlich zu unterscheiden ist die einzelwissenschaftliche und gesamtgesellschaftliche Strukturanalyse und -methode. Das international zunehmende Interesse in den Gesellschaftswissenschaften an der Erforschung struktureller Zusammenhänge ist Ausdruck eines echten wissenschaftlichen Anliegens. Der Marxismus-Leninismus bedient sich bewußt der Strukturmethode, und zwar auf der Grundlage der materialistischen Dialektik in dem bereits eingangs dargelegten Sinne. „Ökonomische Struktur" und „Klassenstruktur" zählen zu den zentralen Kategorien marxistisch-leninistischer Gesellschaftsforschung. Der Marxismus hat überhaupt erstmalig die wissenschaftliche Strukturanalyse auf die Gesellschaft angewandt. Das Kardinalproblem der im Marxismus-Leninismus angewandten Strukturmethode besteht gerade darin, daß sie stets in Beziehung zur Analyse der Gesamtgesellschaft, zur systematisch-historischen Analyse der jeweiligen Gesellschaftsformation gesetzt wird.68 Diese kann jedoch nicht ausschließlich mittels der Strukturmethode erfolgen, dazu ist eine breite methodologische Palette der gesellschaftlichen Forschung notwendig, wobei die Dialektik stets die universelle, einheitliche, jedes spezifische Vorgehen bestimmende Grundlage bleiben muß. Der Marxismus-Leninismus geht von der dialektischen Einheit von Ereignis, Struktur und Entwicklung im Zusammenhang mit der jeweiligen Gesellschaftsformation aus und wertet sie unter dem Aspekt dieses Gesamtsystems. Wie bereits ausgeführt, fungieren dabei als entscheidendes Mittlerglied der Klassenkampf und mit ihm die bestimmenden subjektiven Faktoren in der Geschichte, die Volksmassen im allgemeinen und die Arbeiterklasse in unserer Zeit im besonderen. Wenn sich jetzt die bürgerliche Geschichtsschreibung mit einigen Jahrzehnten Verspätung auf die strukturelle Methode besinnt, dann in erster Linie mit dem Ziel, in einer Art „Flucht nach vorn" den MarxismusLeninismus zu unterlaufen und diese Methode gegen ihn zu kehren. Das meinte wohl auch der gegenwärtige Vorsitzende des westdeutschen Historikerverbandes, Theodor Schieder, als er darauf spekulierte, den „Marxismus mit eigenen Waffen" schlagen zu können. 59 Mit den gesellschaftswissenschaftlichen Forschungsmethoden verhält es sich indes ähnlich wie mit den geschichtlichen Tatsachen. Man kann sich bei der 58
59
Vgl. Zuletzt Mérei, Gyula, Structuralisme, analyse structuraliste, marxisme, Szeged 1971 (Acta Histórica, Tarn. X X X V I I ) . Schieder, Theodor, Grundfragen der neueren deutschen Geschichte, in: HZ, Bd 192, 1961, S. 3 f.; vgl. ferner Bartsch, Günter, Den Kommunismus mit seinen eigenen Waffen schlagen, in: Die Neue Gesellschaft, 5/1961, S. 376.
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Geschichtsanalyse durchaus'auf reale Tatsachen stützen und — durch ihre willkürliche Auswahl, Wertung und Einordnung — doch zu einer völlig falschen Geschichtsdarstellung kommen. Die bürgerliche Geschichtsschreibung der Gegenwart existiert ja letztlich von solchen Tatsachen-Manipulationen. Auch eine richtige Forschungsmethode, wie beispielsweise die strukturelle Methode, kann — losgelöst von den grundlegenden historischen Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten — der Geschichtsfälschung dienen. Entscheidend ist, mit welcher gesellschaftspolitischen Absicht und Zielstellung, im Interesse welcher gesellschaftlichen Kräfte eine Forschungsmethode benutzt wird, welcher theoretischen und politischen, d. h. klassenmäßigen Grundposition sie zugeordnet ist. Bei den charakterisierten Manipulationen führender bürgerlicher Historiker handelt es sich um eine deformierte Anwendung der Strukturmethode. Diese Methode wird mit verschiedenartiger Zielsetzung eingesetzt. Hinsichtlich der inneren Entwicklung der bürgerlichen Geschichtsmethodologie dominiert der Versuch, mit Hilfe „geschichtlicher Strukturen" die extreme Einseitigkeit der herkömmlichen individualisierenden Methode zu korrigieren und eine teilweise Verknüpfung von individualisierender und generalisierender (speziell „typologisierender" oder „strukturierender") Methode bei Bewahrung des Wesensgehaltes der ersteren zu erreichen. 60 Durch die zeitliche und räumliche Ausdehnung und Stabilit ä t der Struktur, ihre größere Komplexität gegenüber dem Ereignis, erhält man in der Tat eine Möglichkeit, die Kategorie des Allgemeinen in der Geschichte zumindest partiell zu erfassen und gegenüber dem Besonderen und Einzelnen abzuheben. 61 Die unüberschreitbaren Grenzen bürgerlicher Geschichtsauffassung bilden jedoch wie eh und je die Gesetzmäßigkeiten des geschichtlichen Gesamtprozesses. Demzufolge besteht das eigentliche Hauptziel der modifizierten bürgerlichen Geschichtsmethodologie darin, dem dialektischen und historischen Materialismus entgegenzuwirken. Es sind vor allem vier Aspekte zu berücksichtigen: Erstens: Negierung des Begriffs der Gesellschaftsformation als der wissenschaftlichen Grundkategorie der gesamten geschichtlichen Entwicklung. An ihrer Stelle erscheint eine Vielzahl von „sozialen Strukturen", die bestenfalls unter willkürlich gesetzten „Zyklen", „Stadien" oder „Kulturen" zusammengefaßt 60
61
Vgl. Fischer-Lexikon, Geschichte, S. 88, 314; Conze, Werner, Die Strukturgeschichte . . ., S. 14, 43; Mommsen, Hans, Politische Wissenschaft und Geschichtswissenschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 14.11.1962, S. 583; derselbe, Sozialgeschichte, a. a. O., S. 34. Das wird beispielsweise auch bei Hans-Ulrich Wehler deutlich, der mit seinem Buch: „Bismarck und der Imperialismus", Köln-(West-)Berlin 1959, als Streiter einer die bürgerliche Geschichtsbetrachtung revolutionierenden Strukturmethode anerkannt sein möchte, in Wirklichkeit jedoch die Grundprinzipien herkömmlicher bürgerlicher Geschichtstheorie und -methodologie in keiner Weise antastet. Vgl. Pitz, Ernst, Geschichtliche Strukturen . . ., a . a . O . , S. 271, 288; Schieder, Theodor, Strukturen und Persönlichkeiten . . ., a. a. O., S. 161 ff.; derselbe, Der Typus . . ., in: Staat und Gesellschaft im Wandel . . ., a. a. O., S. 182; FischerLexikon, Geschichte, S. 320.
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werden. 62 Als Kampfansage gegen die marxistisch-leninistische Definition der Gesellschaftsformationen des Kapitalismus und des Kommunismus wurde für die „moderne Welt" die „Industriegesellschaft" zur „Grundstruktur" deklariert 6 ' 1 . Zweitens soll die historische Erkenntnis verdeckt werden, wonach die Geschichte einen gesetzmäßigen Bewegungsablauf fortschreitender Gesellschaftsformationen darstellt. In diesem Sinne wird der Entwicklung „geschichtlicher Strukturen" in der Regel jede Kausalität abgesprochen. 6/ ' Dem wissenschaftlichen Gesetzesbegriff als Widerspiegelung objektiver gesellschaftlicher Realität wird der fast ausschließlich heuristisch verstandene, von Max Weber ausgehende Begriff des Typischen (Typus, Idealtypus) entgegengesetzt 65 . Drittens wird der Klassenkampf als die entscheidende geschichtliche Triebkraft der Ausbeutergesellschaften sowie des Kampfes zwischen Sozialismus und Imperialismus in der Gegenwart geleugnet. Die geschichtliche Bewegung wird nach wie vor hauptsächlich irrationalen Ursachen des Fühlens und Handelns historischer Persönlichkeiten oder auch „Gruppen" und „Verbänden" zugeschrieben, deren Klassencharakter entweder geleugnet oder verfälscht wird 66 . Schließlich charakterisiert viertens jene geschichtsmethodologischen Manipulationen eine verfälschte und in jedem Falle antisozialistische Revolutionsauffassung in der Geschichte. Der Revolutionsbegriff wird willkürlich auf revolutionäre und konterrevolutionäre Ereignisse und Bewegungen angewandt, häufig wird an seiner Stelle der völlig nebulose Begriff des „sozialen Wandels" benutzt. 6 7 Die genannten Zielsetzungen der „Strukturgeschichte" und ,,-methode" lassen das Unvermögen der bürgerlichen Ideologen deutlich werden, eine echte, der Geschichtswissenschaft eigene Synthese des Historischen und des Logischen zu schaffen. Das ist mit den Mitteln des bürgerlichen Geschichtsdenkens auch absolut unmöglich. ,i2
Diese Begriffe charakterisieren die meisten weltgeschichtlichen oder gesellschaftstheoretischen Schriften und Aussagen bürgerlicher Historiker, Geschichtsphilosophen und Soziologen; hier sei nur auf Othmar F. Anderle, Karl Bosl, Otto Brunner, Werner Conze, Karl Dietrich Erdmann, Hans Freyer, Alfred Heuß, Fritz Kern, Golo Mann, Theodor Schieder oder auch Arnold J. Toynbee, Walt W. Rostow und Pitirim Sorokin verwiesen. Ii:l Vgl. Brunner, Otto, Das Fach „Geschichte" . . ., a. a. O., S. 13; Dietrich, Gerhard, Vergleichende Geschichtsbetrachtung und Zeitgeschichte, in: Geschichte und Gegenwartsbewußtsein, Göttingen 1963, S. 204. Vgl. Bosl, Karl, Der „soziologische Aspekt" . . a. a. O., S. 613; Pitz, Ernst, Geschichtliche Strukturen . . ., a. a. O., S. 289, 293. «5 Vgl. Bosl, Karl, Frühformen der Gesellschaft . . ., a . a . O . , S. 472, 484f., 489; Schieder, Theodor, Der Typus . . . , in: Staat und Gesellschaft im Wandel .. ., a. a. O., S. 172 ff. fiB Vgl. Moderne deutsche Sozialgeschichte, a . a . O . , besonders S. 111 ff., 369ff.; Mommsen, Hans, Arbeiterbewegung, in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft . . ., Bd 1, a. a. O., 1966, Sp. 273ff.; Bosl, Karl, Frühformen der Gesellschaft . . ., a. a. O., S. 482. 67 Vgl. Fischer-Lexikon, Geschichte, S. 308 ff.
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Zusammenfassend kann festgestellt werden: Die „sozialwissenschaftlich" orientierte „Strukturgeschichte" mit ihrer konzeptionellen Hauptkomponente in Gestalt der Lehre von der „Industriegesellschaft" entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein Versuch der führenden bürgerlichen Historiker, in gezielter Abwehr und Bekämpfung des historischen Materialismus zu einem theoretischen und methodologischen Instrumentarium zu kommen, das es ermöglicht, die geschichtlichen Prozesse im allgemeinen und die Entwicklungstendenzen der modernen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus im besonderen im Sinne der reaktionären Interessen der Monopolbourgeoisie zu erfassen und zu deuten. Es wäre verfehlt, diese theoretisch-methodologischen Erscheinungen in der bürgerlichen Geschichtsschreibung als progressiv zu werten und sie ungeachtet gelegentlicher Anleihen gar als „Annäherung" an den Marxismus anzusehen. Bei den Führungskräften und den vorherrschenden Strömungen der bürgerlichen Historiographie tragen sie eindeutig reaktionären Charakter. Dabei übersehen wir keinesfalls, daß es in kapitalistischen Ländern auch einige Historiker gibt, die die Strukturmethode tatsächlich als Instrument historischer Wahrheitsfindung anwenden. Für die reaktionären Kräfte hat die von ihnen verfälschte Strukturmethode den Vorzug, daß es ohne Beeinträchtigung der reaktionären Klasseninteressen möglich wird, den Gegenstand bürgerlicher Geschichtsforschung auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungsprozesse auszuweiten und neue gesellschaftliche Bereiche — darunter vor allem die Geschichte der Arbeiterbewegung — einzubeziehen, gleichzeitig bleibt man weiterhin der Notwendigkeit enthoben, auf die objektiven Gesetzmäßigkeiten und Triebkräfte der Geschichte einzugehen. Daraus erklärt sich nicht zuletzt auch die schon erwähnte Tatsache, daß die „Struktur-" und „Sozialgeschichte" von bürgerlichen Historikern fast aller Schattierungen, von rechtskonservativen bis zu revisionistischen Positionen, vertreten wird. Das bezieht sich letztlich auch auf die geschichts-theoretische und -methodologische Position. Hier reicht die Palette vom primitiven Ökonomismus bis zum extremsten Idealismus. Als ein Vertreter des letzteren erwies sich beispielsweise der bürgerliche französische Historiker A. Dupront auf dem X I I I . Internationalen Historikerkongreß in Moskau. Für ihn ist die Sprache ein „Mysterium", dem „Schöpferkraft" zukomme. E r bezieht das auch auf die Historiographie, so daß bei ihm letztlich nicht nur die sprachlichen, sondern auch die historischen Strukturen zu einem göttlichen Schöpfungsakt werden. 68 Die charakterisierten geschichtsideologischen Modifikationen haben jedoch noch eine andere, von den reaktionären Historikern gewiß nicht beabsichtigte Wirkung. Durch die infolge der grundlegend veränderten weltpolitischen Bedingungen und insbesondere als Reaktion auf die wachsende Ausstrahlung des Marxismus-Leninismus erzwungene, wenn auch sehr begrenzte und dazu noch entstellte «8 Vgl. Dupront,
A., Langage et histoire, Moskau 1970, S. 9f., 11, 16, 3 5 - 3 7 , 67.
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Berücksichtigung realer Kategorien des Geschichtsprozesses werden in die bürgerliche Geschichtsideologie im Grunde wesensfremde Elemente einbezogen, welche die Krisenanfälligkeit und Labilität der bürgerlichen Historiographie nicht mindern, sondern erhöhen. Ähnlich wie die Maßnahmen zum Ausbau des staatsmonopolistischen Herrschaftssystems nicht seine zunehmende Labilität beseitigen können, so können auch nicht die „Anpassungsmaßnahmen" reaktionärer Historiker verhindern, daß ihre Ideologie immer anfälliger wird. Das begünstigt zweifellos die erfolgreiche Auseinandersetzung der marxistischen Historiker und anderen Gesellschaftswissenschaftler mit dieser Ideologie und ihren Trägern. V Wie bereits ausgeführt, sind Ereignisse, Strukturen und Entwicklungen in ihrem objektiven dialektischen Wechselverhältnis nur in Verbindung mit dem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang zu erfassen, der durch die Kategorie der Gesellschaftsformation definiert wird. Von hier aus sind die speziellen geschichtsmethodologischen Fragen der Gesellschaftsanalyse und ihrer Umsetzung in konkrete Geschichtschreibung zu stellen: Wie wirken Struktur- und Entwicklungsgesetze in der Geschichte? Wie verhalten sich die jeweiligen Gesellschaftsformationen zu ihren Teilbereichen und Elementen und zu anderen Formationen sowie zu ihren inneren und äußeren Widersprüchen? Worin besteht im einzelnen die Formationsfunktion der Ereignisse? Wie sind die bestimmenden Tendenzen der konkret-historischen Entwicklung exakt zu erfassen? Wie kann in der Vielfalt der Ereignisse der Umschlag von der Herrschaft einer Formation zur nächsthöheren Ordnung festgestellt werden? Welche Kriterien gibt es, um die Umsetzung von Veränderungen der Basis in gesamtgesellschaftliche Veränderungen zu erfassen? Diese und andere theoretische und methodische Fragen lassen sich grundsätzlich nur durch die Feststellung der letztlich bestimmenden Rolle der Produktivkräfte und der Notwendigkeit der Übereinstimmung ihres Charakters mit den jeweils herrschenden Produktionsverhältnissen, durch die allgemeine Anerkennung des Klassenkampfes als Haupttriebkraft der historischen Entwicklung in den antagonistischen Gesellschaftsformationen beantworten. Zu ihrer allseitigen Klärung bedarf es jedoch der Analyse aller Ereignisse, Struktur- und Entwicklungsbereiche, über die sich die sozialökonomischen Verhältnisse dem Gesamtgefüge der Gesellschaft vermitteln. Zunächst muß sich der Historiker wie jeder Gesellschaftswissenschaftler der Spezifik gesellschaftlicher Systeme bewußt sein, die sich aus der besonderen Stellung der gesellschaftlichen Entwicklung unter anderen Bewegungsformen der Materie ergibt. Jede Gesellschaftsformation besitzt ihre eigene Dynamik, wobei sich das Entwicklungstempo im Verlaufe der Geschichte fortschreitend erhöht und mit dem weltweiten Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus in dieser Hinsicht eine
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völlig neue Stufe erreicht wird. Man kann geradezu von einer Gesetzmäßigkeit der sich gewissermaßen in geometrischer Progression steigernden Dynamik gesellschaftlicher Prozesse in unserer Zeit sprechen. Mit der aufsteigenden Entwicklung und Ablösung der Gesellschaftsformationen wird somit die Relation von Struktur und Entwicklung immer vielschichtiger. Vergegenwärtigen wir uns zunächst, in welchem Sinne allgemein zwischen Struktur- und Entwicklungsgesetzen zu unterscheiden ist. 69 Entwicklungsgesetze beziehen sich grundsätzlich auf Prozesse und wirken unmittelbar zeitabhängig; sie sind notwendige, allgemeine und wesentliche Zusammenhänge zwischen den Entwicklungszuständen materieller Systeme. Strukturgesetze beziehen sich dagegen auf die Zusammenhänge gleicher Strukturen und weisen keine unmittelbare Zeitabhängigkeit auf. Beide Typen von Gesetzen lassen sich in der Natur klar voneinander abgrenzen; man vergleiche z. B. die Bewegungsgesetze der klassischen Mechanik und die Gesetze der Atomstruktur. Dennoch sind sie auch in der Natur nur relativ voneinander zu trennen, da Struktur und Entwicklung, Werden und Gewordenes in der objektiven Realität eine dialektische Einheit bilden. Das eine ist stets im anderen dialektisch aufgehoben; und die Abgrenzung im Denken ist somit immer eine Vereinfachung, aber sie ist notwendig, um die verschiedenen Seiten der objektiven Realität zu erfassen. Grundsätzlich gilt das für die Gesellschaft genauso wie für alle anderen Bereiche der materiellen Welt. Da sich aber die Gesellschaft als die höchste Existenzform der Materie schneller und komplexer entwickelt als alle Bereiche der Natur, vollzieht sich der Umschlag von Strukturen und Entwicklungen in der Gesellschaft auch bedeutend rascher und vielseitiger als in der Natur. Darüber hinaus erhält die dialektische Beziehung von Struktur und Prozeß in der Gesellschaft durch die Bewußtheit der handelnden Individuen eine neue Qualität. Die Elemente der Struktur und der Entwicklung sind folglich in den Gesellschaftsformationen nur schwer voneinander zu unterscheiden. Die Struktur als „geronnene Dynamik", als „Querschnitt durch die Entwicklung eines Systems zu einem bestimmten Zeitpunkt" 70 ist selbst für eine solche Querschnittsanalyse stets ambivalent in bezug auf Stabilität und Veränderung. Beweis dafür sind die verschiedenartigen Ubergangsstrukturen, wie z. B. der Kolonat in der Spätantike, die junkerliche Gutsherrschaft, die Manufaktur mit noch feudal abhängigen Arbeitern oder in der Gegenwart ein Privatbetrieb mit staatlicher Beteiligung innerhalb der sozialistischen Gesellschaft. Die höhere Komplexität von Strukturen und Entwicklungen in der Gesellschaft zeigt sich ganz deutlich, wenn man wie in der Natur Struktur- und Entwicklungsgesetze in der Geschichte definieren will. P. Bollhagen schlägt daher für komplexe historische Gesetzmäßigkeiten eine Einteilung in genetisch-strukturelle und strukturell-genetische Gesetze vor, um den ständigen Umschlag zugleich mit dem Uberwiegen eines der beiden Aspekte ausdrücken zu können. 71 69 70 71
Vgl. Philosophisches Wörterbuch, Bd 1, S. 445. Kröber, Günter, Die Kategorie „Struktur" . . ., a. a. O., S. 1314. Bollhagen, Peter, Gesetzmäßigkeit und Gesellschaft. Zur Theorie gesellschaft-
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Struktur- und Entwicklungsgesetze wirken in der Gesellschaft so komplex, daß sie nur bei ganz klarer und eindeutiger Festlegung des jeweiligen Bezugsystems abgegrenzt werden können, so z. B. in der Soziologie.72 Beispielsweise bezieht sich das Gesetz des Übergangs vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus eindeutig auf einen bestimmten, zeitlich abgrenzbaren Entwicklungsprozeß im Kapitalismus. Der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit als strukturelles Grundgesetz dieser Formation ist dagegen innerhalb der Qualität des Kapitalismus seinem Wesen nach nicht direkt zeitabhängig. Trotz aller Veränderungen existiert dieses Strukturgesetz sowohl im Kapitalismus der fieien Konkurrenz als auch im Imperialismus. Andererseits zeigt sich darin nichtnur die strukturelle Stabilität des Kapitalismus, solange er als System besteht, sondern zugleich der Grundwiderspruch dieser Formation, der im Verlaufe ihres Entwicklungsprozesses durch den Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse zur zunehmenden Instabilität und schließlich zur Sprengung der Formation führt. Das strukturelle Grundgesetz des Kapitalismus ist also relativ unabhängig von •der Zeit nur unter dem Aspekt der Existenz des Kapitalismus. Bezogen auf die geschichtliche Entwicklung als Ganzes, verändert es in den verschiedenen Stadien dieser Formation seine gesellschaftliche Funktion, wirkt in Abhängigkeit von der Entstehung, vollen Entwicklung und Überwindung des Kapitalismus unterschiedlich und ist somit zeit- und prozeßabhängig. Unter dem Aspekt der Struktur ist der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit die relativ stabile Existenzgrundlage des kapitalistischen Systems. Unter dem Aspekt der Entwicklung kann er Bestandteil und Triebkraft sehr verschiedener Prozesse und Entwicklungsgesetze sein: des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus, in dessen Verlauf er entsteht, der vollen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und schließlich ihres Untergangs und damit des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, womit er sich aufhebt. Gesellschaftliche Struktur- und Entwicklungsgesetze sind stets historisch begrenzt und im gesellschaftlichen Gesamtprozeß als organische Einheit zu betrachten; sie verflechten und überschneiden sich nicht nur, sondern können auch ineinander umschlagen, Bestandteile neu entstehender Gesetze werden oder selbst modifizierte, abgeleitete Gesetze hervorbringen. Dies wird in Epochen des Übergangs von einer Gesellschaftsformation zur anderen deutlich, wenn entgegengesetzte Gesellschaftssysteme oder Elemente verschiedener Gesellschaftsordnungen in der Sozialstruktur ein und desselben Landes oder im internationalen Maßstab aufeinander einwirken. Z.B. beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus bringt diese vielfältige Auseinandersetzung und Durchkreuzung, wie in anderem Zusammenhang bereits angedeutet,alternative Entwicklungsformen mit modifizierten Strukturen hervor. licher Gesetze, Berlin 1967, besonders S. 123 ff. Bollhagen bezeichnet diesen komplexen T y p als Hauptform gesellschaftlicher Gesetze neben einfachen kausalen und funktional-strukturellen Gesetzen; vgl. ebenda, S. 76ff., 91ff.; vgl. derselbe, Soziologie und Geschichte, a. a. O., Abschn. II—IV, besonders S. 185ff. .72 Wörterbuch Soziologie, S. 163.
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In der Entwicklung der antagonistischen Gesellschaftsformationen hängt die alternative Ausprägung gesellschaftlicher Prozesse vom jeweiligen Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen Klassen und Schichten ab. Es ergibt sich dadurch eine relativ große Variationsbreite der Alternativen. Die Französische Revolution von 1789 bedeutete nicht nur in Frankreich allein die Wende zur Herrschaft des Kapitalismus, sondern sie gab auch die Impulse zur Überwindung des Feudalismus und endgültigen Durchsetzung des Kapitalismus als herrschendes Weltsystem. Wie der Übergang zum Kapitalismus aber vollzogen wurde, ob durch die demokratische Revolution und die revolutionäre Überwindung des gesamten alten Systems oder durch einen allmählichen Übergang durch Reformen unter Beibehaltung feudaler Herrschaftsformen und Konservierung wesentlicher Relikte der alten Basis, blieb für jedes Land und jeden Übergang alternativ. Für die Geschichtsmethodologie ergibt sich hieraus die Frage, wie z. B. beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus in Ländern mit verschiedenen Entwicklungs- und Strukturtypen die inhaltlichen Modifizierungen der betreffenden Gesetzmäßigkeit bestimmt werden können und wie sie sich auswirkten. Lenin weist mehrfach darauf hin, daß die verschiedenen Typen der bürgerlichen Revolution und der Entwicklung des Kapitalismus nicht nur für die bürgerliche Gesellschaft im jeweiligen Lande, sondern darüber hinaus für die Voraussetzungen und Bedingungen der Arbeiterbewegung und der proletarischen Revolution wesentlich sind. 73 Sehr wichtig ist dabei die grundsätzliche Feststellung Lenins, daß die Konsequenz der Durchsetzung der bürgerlichen Ordnung und ihr Entwicklungsgrad entscheidend davon abhängen, wie stark die Volksmassen — Bauern, Kleinbürger und später vor allem die Arbeiterklasse — die bürgerliche Umwälzung beeinflussen, wieweit sie diese vorantreiben und ob sie selbst partielle Siege auf den Höhepunkten der antifeudalen Klassenschlachten erringen können. Das jeweilige Maß der bürgerlichen Demokratie ist nicht das eigenständige Produkt der Bourgeoisie, sondern in erster Linie das Resultat des Klassenkampfes der Bauern, Plebejer und Kleinbürger sowie besonders des Proletariats auf den verschiedenen Entwicklungsstufen der bürgerlichen Revolution. 74 Ausgehend von grundsätzlichen Veränderungen der ökonomischen Verhältnisse und der Klassenbeziehungen, resultieren die Vielgestaltigkeit und Komplexität der Struktur- und Entwicklungszusammenhänge auch aus der immer ausgeprägteren Komplexität der Gesellschaft selbst. Wie Marx an der Entstehung und Durchsetzung des Kapitalismus nachgewiesen hat, wächst und entwickelt sich jede Gesellschaftsformation zusammen mit 73
74
Vgl. Persov, M. S., Die Verallgemeinerung der Erfahrungen der Geschichte in den Arbeiten W. I. Lenins aus der Periode der Oktoberrevolution, in: W. I. Lenin und die Geschichtswissenschaft, Berlin 1970, S. 105ff. Küttler, Wolfgang, Lenins historisch-politische Konzeption des russischen Absolutismus, in: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas, Bd 14/1, 1970, S. 96 ff. Vgl. dazu besonders Schmidt, Walter, Lenin über die deutsche Arbeiterbewegung von ihren Anfängen bis 1871, in: BzG, Jg. 12, Sonderheft 1970, S. 33ff., vor allem S. 40 ff.
5 Engelberg, Geschichtsmethodologie
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ihren Bedingungen. 75 Einmal entstanden, hat sie als „organisches System" die Fähigkeit, „alle Elemente der Gesellschaft sich unterzuordnen, oder die ihm noch fehlenden Organe aus ihr heraus zu schaffen. Es wird so historisch zur Totalität." 7 0 Die sich bildenden wesentlichen Elemente einer neuen höheren Gesellschaftsformation führen sowohl zum qualitativen Funktionswandel bestehender als auch zur Schaffung neuer Strukturen — ein Vorgang, der die Überwindung des Alten bedingt und der wiederum ganz allgemein — von Formation zu Formation in aufsteigender Linie immer vielschichtiger — die gesellschaftliche Entwicklung als Ganzes ständig bereichert. In diesem Prozeß entstehen die verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche, wie Ökonomie, Staat, Recht, Kunst und Wissenschaft, nebst ihren entsprechenden Strukturen, wobei die Entwicklung der Produktivkräfte, der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der materiellen und kulturellen Bedürfnisse auch die Untergliederung und Ausgestaltung ständig vorantreibt. So bildet sich schon in den entwickelten antagonistischen Gesellschaftsformationen ein immer mannigfaltiger gegliedertes und immer schwerer durchschaubares, riesiges Gefüge wechselseitig voneinander abhängiger und aufeinander einwirkender Teilbereiche des gesellschaftlichen Lebens sowohl innerhalb der ökonomischen Basis als auch im ideologis chen, politischen und geistig-kulturellen Überbau heraus. Sie alle bringen wiederum einen eigenen, relativ selbständigen Struktur- und Entwicklungszusammenhang hervor. 77 Wie bereits ausgeführt, werden die gesetzmäßigen Beziehungen zwischen dieser Vielfalt von Struktur- und Entwicklungselementen im wirklichen gesellschaftlichen Prozeß transparent erst durch die Kategorie der ökonomischen Gesellschaftsformation, die es ermöglicht, die objektiven Grundlagen und die treibenden Kräfte dieses Prozesses zu bestimmen. Aus der Analyse der materiellen Grundstruktur ergeben sich gewissermaßen die Hierarchie der Teilsysteme bzw. Teilstrukturen sowie der verschiedenen in ihnen wirkenden Widersprüche und damit die Möglichkeit, deren Funktion in der jeweiligen Formation zu bestimmen. Für den Historiker ist es ein schwieriges methodologisches Problem, bei der Untersuchung konkreter Ereignisse jeweils das immer durch mehr oder weniger viele Kettenglieder vermittelte Verhältnis zwischen der materiellen Grundstruktur und dem zu betrachtenden gesellschaftlichen Teilbereich adäquat zu erfassen. Die primäre Funktion der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen und des Klassenkampfes bei der Ausbildung, Reife und Ablösung einer Formation vermittelt sich in einem beliebigen konkreten Zusammenhang in sehr unterschiedlicher Weise. In bezug auf die Entwicklung des Rechts schreibt Marx: „Der eigentlich schwierige Punkt, hier zu erörtern, ist aber der, wie die Produktionsverhältnisse 75 76 77
Vgl. Marx, Karl, D a s Kapital, Dritter Band, in: MEW, Bd 25, S. 206. Derselbe, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 189. Vgl. Marxistische Philosophie, S. 288ff.; Wörterbuch Soziologie, S. 472f.
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als Rechtsverhältnisse in ungleiche Entwicklung t r e t e n . " 7 8 Dieses ungleiche Verhältnis der Teilsysteme zur Grundstruktur einer Formation enthält interessante methodische u n d theoretische Fragen. Beispielsweise wirken vor allem in revolutionären Übergangsepochen Teilbereiche des Uberbaus nicht n u r über die Durchbrechung oder Stabilisierung der alten bzw. der neuen Produktionsverhältnisse, sondern direkt auf die Entwicklung dei P r o d u k t i v k r ä f t e zurück. 7 9 Bei der Funktion des Staates, der marxistisch-leninistischen Partei, der sozialistischen Ideologie und der Wissenschaft im Sozialismus ist diese unmittelbare Einwirkung besonders offensichtlich und ergibt sich aus der wachsenden Rolle des subjektiven Faktors bei der Gestaltung des sozialistischen Gesellschaftssystems. In den Übergangsepochen zwischen antagonistischen Formationen bzw. zur E n t s t e h u n g der ersten Klassengesellschaft sind ähnliche Erscheinungen auf niederer Entwicklungsstufe zu beobachten, die als systembildende oder systemüberwindende Faktoren noch viel zu wenig erforscht sind. Das Christentum war nicht nur ein entscheidendes Element bei der Ausprägung des politischen u n d ideologischen Überbaus der Feudalgesellschaft u n d bei der Durchsetzung feudaler Produktionsverhältnisse gegenüber den Überresten der Gentilordnung. Uber die Regeln der mit Siedlung u n d Landesausbau befaßten Mönchsorden, über eine Vielzahl von Verhaltensregeln im täglichen Leben beeinflußte die Kirche auch unmittelbar die Entwicklung der wichtigsten P r o d u k t i v k r a f t , der Menschen, u n d ihr Verhältnis zur materiellen Produktion. Die Reformation war in ihren verschiedenen Spielarten, in aufsteigender Linie repräsentiert durch Luther, Zwingli u n d Calvin, nicht n u r schlechthin das notwendige Vorspiel der bürgerlichen Gesellschaft auf ideologischer Ebene, sondern ein konstitutives Element f ü r die E n t wicklung der P r o d u k t i v k r ä f t e im Kapitalismus der Manufakturperiode. Das sozialökonomische Grundverhältnis bzw. der gesellschaftliche Grundwiderspruch Sklavenhalter — Sklave, Feudalherr — Höriger bzw. Leibeigener, K a pitalist — Lohnarbeiter gibt den allgemeinen Maßstab u n d den Rahmen, in d e m innerhalb der jeweiligen Gesellschaftsformation ihre Teilstrukturen selbständig funktionieren und eigene spezifische Züge u n d Wirkungen hervorbringen. Diese relative Selbständigkeit k a n n erst durch die historische Bestimmung begriffen werden; m a n k a n n die Spezifik des Dominats, des Absolutismus oder des staats• monopolistischen Systems nicht erfassen, wenn m a n nicht die Gesellschaftsformation u n d deren niedergehende Entwicklungsphase kennt, zu der diese Herrschaftssysteme gehören. Andererseits besteht schon in der Entwicklung u n d Gliederung von Teilsystemen aus der Gesellschaft heraus das Kriterium der Unterscheidung, das den Betrachter dazu zwingt, die relative Eigenständigkeit u n d nicht nur die Ableitung aus den letztlich bestimmenden Entwicklungen u n d Strukturen als Aufgabe seiner Arbeit anzusehen. 78
Marx, Karl, Einleitung (zur Kritik der politischen Ökonomie), in: MEW, Bd 13,
79
Vgl. Engelberg, Ernst, Uber Gegenstand und Ziel . . ., a. a. O., S. 1124ff.
5*
S. 640.
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Schwierig ist die verallgemeinernde theoretische Arbeit des Historikers aber nicht nur durch die Vielfalt der Kombinationen zwischen den Strukturelementen ein und derselben Gesellschaftsformation, sondern mehr noch durch die Überschneidung und Durchkreuzung der Elemente der untersuchten Formation — je nach dem Charakter des jeweiligen Entwicklungsstadiums — mit den Resten früherer oder mit den Keimen neuer, über das Bestehende hinausweisender gesellschaftlicher Verhältnisse.80 Die Mehrzahl der zu untersuchenden historischen Erscheinungen bleibt im Bereich der Evolution, der allmählichen Veränderungen und Wandlungen innerhalb bestehender Grundstrukturen. Die Struktur eines gegebenen gesellschaftlichen Systems ist relativ stabil; sie stabilisiert sich durch ihre Reproduktion im ökonomischen Bereich und mit Hilfe aller anderen gesellschaftlichen Teilsysteme und ihrer Strukturen. Diese Stabilität „macht sich . . . übrigens von selbst, sobald die beständige Reproduktion der Basis des bestehenden Zustandes, des ihm zugrunde hegenden Verhältnisses, im Lauf der Zeit geregelte und geordnete Form annimmt; und diese Regel und Ordnung ist selbst ein unentbehrliches Moment jeder Produktionsweise, die gesellschaftliche Festigkeit und Unabhängigkeit von bloßem Zufall oder Willkür annehmen soll. Sie ist eben die Form . . . ihrer relativen Emanzipation von bloßer Willkür und bloßem Zufall."«! Aber jede wiederholte Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen ist zugleich auch Veränderung, durch die Neues entsteht. Ein schwieriges Forschungsproblem, das immer wieder für die verschiedenen Epochen und Länder heiß umstritten ist, besteht in der richtigen Bestimmung des Qualitätsumschlags innerhalb der gesellschaftlichen Evolution.82 Die Entwicklung der Ware-Geld-Beziehungen und des Städtewesens im Hochfeudalismus weist zweifellos schon tendenziell über den Rahmen der Feudalordnung hinaus, ist aber zunächst ein systemfestigendes, die Feudalgesellschaft zur vollen Reife ausbildendes Element. Sogar im Krisenstadium der betreffenden Gesellschaftsformation haben z. B. der Kolonat in der Spätantike bzw. die Gutsherrschaft und Leibeigenschaft im Spätfeudalismus zunächst eine systemfestigende Funktion. Andererseits reflektieren sie direkt oder indirekt die Einwirkung systemsprengender Klassenkräfte von innen und außen auf Sklavenhalterordnung und Feudalismus in ihren Spätphasen. Bei grundsätzlich anderer historischer Konstellation weist das staatsmonopohstische System als Versuch zur Stabilisierung des Imperialismus ähnliche Merkmale auf. Grundsätzlich ist die materialistische Kategorie der Gesellschaftsformation der objektive Maßstab der Vergleichbarkeit von Ereignissen, Strukturen und Entwicklungen, und zwar nicht nur in dem Sinne, daß die allgemeinen Zusam80
81 82
Hinsichtlich der kapitalistischen Formation vgl. Marx, Karl, Einleitung (zur Kritik der politischen Ökonomie), in: MEW, Bd 13, S. 636. Marx, Karl, Das Kapital, Dritter Band, in: MEW, Bd 25, S. 801. Vgl. Engelberg, Ernst, Fragen der Evolution und Revolution in der Weltgeschichte, in: ZfG, Jg. 13, Sonderheft 1965, S. 9ff.
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menhänge innerhalb einer gegebenen Formation in allen Ländern und zu allen Zeiten, in denen sie herrscht, vergleichbar sind, sondern auch unter dem Aspekt der Abfolge, des Aufstiegs und des Niedergangs der Formationen in bezug auf den gesamten Ablauf der Geschichte.83 Marx weist in „Das Kapital" am Beispiel verschiedener Kategorien, deren Inhalte in mehreren oder allen Gesellschaftsformationen relevant sind, wie z. B. Produktion, Arbeit, Rente, Privateigentum, Mehrarbeit, Leitung und Unterordnung, Kooperation usw.84 umfassend nach, daß von der historisch konkreten Erscheinungsform nur dann abstrahiert werden kann, wenn es um das Verhältnis der Gesellschaft bzw. des Menschen überhaupt zur Natur, um die Unterscheidung der gesellschaftlichen Bewegung von anderen Bewegungsformen der Materie geht. Die wesentliche Verschiedenheit der gesellschaftlichen Erscheinungen kann nur durch die konkrete historische Bestimmung der Produktion, der menschlichen Arbeit, des Mehrprodukts oder des Staates, des Rechts und der Ideologie auf den verschiedenen Entwicklungsstufen, d. h. im Rahmen der jeweils herrschenden Gesellschaftsformation, erkannt werden. 85 Der umgekehrte Weg, die Reduzierung des Entwickelten, Historisch-Konkreten auf das Abstrakte, Allgemeine, so z. B. der Versuch, Kapitalismus und Sozialismus durch Technik und Industrie zu erklären oder die Arbeit des Lohnarbeiters im Kapitalismus als menschliche Arbeit schlechthin zu interpretieren, führt zur Verschleierung oder Negierung der historischen Gesetzmäßigkeiten und ihrer Wirkungsweise. Die schematische Übertragung allgemeiner Merkmale des Wechselverhältnisses von Mensch und Natur auf gesamtgesellschaftliche Beziehungen und Prozesse, wie sie in der Theorie von der „Industriegesellschaft" vorgenommen wird, bringt auf diese Weise geschichtsfälschende Ergebnisse hervor. 83
Vgl. dazu die Auseinandersetzung mit Übertreibungen der Strukturmethode vor allem bei der Analyse der vorkapitalistischen Formationen bei Danilov, A., K voprosuometodologiiistoriceskojnauki, in: Kommunist,5/1969, S.68ff.(deutsch: Derselbe, Zur Methodologie der Geschichtswissenschaft, in: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, 12/1969, S. 1246ff.). «< Vgl. Marx, Karl, Das Kapital, Erster Band, in: MEW, Bd 23, Berlin 1962, S. 183, 194f., 249f., 353f., 641; derselbe, Das Kapital, Dritter Band, in: MEW, B d 25, S. 397ff., 647 ff., 798ff. 85 Vgl. derselbe, Das Kapital, Dritter Band, in: MEW, B d 25, S. 885.
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VI Historische Gesellschaftsanalyse bedeutet die Erforschung der gegenseitigen Beziehungen der verschiedenen Elemente und Strukturen zum gesellschaftlichen Ganzen in seiner konkreten raumzeitlichen Beziehung, sie deckt den Zusammenhang zwischen Grundstruktur und Teilstrukturen im vielschichtigen Gesellschaftsprozeß auf. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß sich dieser Zusammenhang in erster Linie durch die gesellschaftlichen Klassen vermittelt, in denen der Mensch als Subjekt der Geschichte handelt. Der subjektive Faktor entscheidet ganz wesentlich über die Art und Weise der Durchsetzung gesellschaftlicher Gesetze, über die konkrete Gestaltung historischer Systeme und Strukturen. Im folgenden soll diese vielseitige Thematik an einem zentralen Problem — der Frage der Macht — untersucht werden. Die Lösung der Machtfrage hat eine entscheidende Systemfunktion zu erfüllen; sie bestimmt bei den Übergängen von einer antagonistischen Formation zur anderen den Grad, das Tempo und die Reife der Entwicklung der höheren gesellschaftlichen Formation sowohl in ihrer ökonomischen Grundstruktur als auch im Verhältnis der Klassen zueinander. Seit dem Ende der Urgesellschaft sind Klassenkampf und Revolution in allen Übergangsepochen notwendig, um den Umschlag von einer Formation zur anderen vorzubereiten und durchzusetzen; der Kapitalismus konnte im Weltmaßstab erst nach der Stufenfolge bürgerlicher Revolutionen seit dem 16. Jahrhundert siegen. 86 Der Umschlag von einer Klassengesellschaft in die andere, der letztlich durch zumeist über einen längeren Zeitraum vor sich gehende qualitative Veränderungen im Wechselverhältnis zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen gekennzeichnet ist, kommt im vielfältigen Geschichtsprozeß stets an der Ausformung und Lösung der Machtfrage — gleich, ob in Form einer politischen Revolution oder einer Serie revolutionierender Klassenkämpfe —, d. h. an den entsprechenden Qualitätsveränderungen im Klassenkampf, zum Ausdruck. 87 Dabei ist zu berücksichtigen, daß gesellschaftliche Klassen nicht nur jeweils in den großen Entwicklungsstadien der Geschichte unterschiedlich in Erscheinung treten, sondern daß sie auch in ihrer inneren Strukturform, in der Schärfe ihrer Ausprägung und Abgrenzung sowie in der Tiefe und Reife ihrer Gegensätze eine Entwicklung durchmachen. Die Klassengegensätze sind zweifellos in den vorkapitalistischen Formationen stärker durch eine Vielzahl urwüchsiger Bindungen 86
Vgl. Steinmetz, Max, Ref ormation und Bauernkrieg in Deutschland als frühbürgerliche Revolution, in: ZfG, Jg. 13, Sonderheft 1965, S. 35ff.; Schilfert, Gerhard, Die Revolutionen beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, in: ZfG, Jg. 17, 6/1969, S. 704ff.; Kompan, E. S„ W. I. Lenin über Klassen, Stände und Klassenkampf in der Feudalgesellschaft, in: W. I. Lenin und die Geschichtswissenschaft, a. a. O., S. 173ff. 87 Vgl. Lenin, IV. / . , Über die Doppelherrschaft, in: Derselbe, Werke, Bd 24, S. 20.
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und Verhältnisse überwuchert und verschleiert als im Kapitalismus, jedoch läßt sich ihre bestimmende Rolle im historischen Prozeß auch in der Antike und im frühen Feudalismus nachweisen. 88 Die Dialektik von Struktur und Entwicklung wirkt nicht getrennt auf zwei Ebenen, in der Produktionsweise und erst dann auch in allen anderen Bereichen und im Gesamtsystem der Gesellschaft. Vielmehr besteht ein untrennbarer Zusammenhang in dem Sinne, daß eine Krise in der materiellen Sphäre immer daran erkennbar wird, daß auf diese oder jene Weise die Machtfrage als Frage der sozialen Umwälzung aufgeworfen wird. Darin gerade äußert sich die von Marx eindeutig nachgewiesene grundsätzliche Einheit von sozialem und politischem Inhalt einer Revolution: „Jede Revolution löst die alte Gesellschaft auf; insofern ist sie sozial. Jede Revolution stürzt die alte Gewalt; insofern ist sie politisch." 89 Die Lösung beider Aufgaben kennzeichnet den Gesamtprozeß des Umschlags von einer Gesellschaftsformation zur anderen; dieser kann sehr verschiedene, sowohl revolutionäre als auch evolutionäre Formen annehmen und ist mit dem Abschluß einer Revolution im engeren Sinne, z. B. der Großen Französischen Revolution im Jahre 1794, noch keineswegs beendet. Sowohl der revolutionäre Gesamtprozeß als auch die Revolutionen, die in seinen verschiedenen Stadien auftreten können — Lenin bezeichnete den ganzen Zeitraum von 1789 bis 1871 in Frankreich als Zyklus der bürgerlichen Revolutionen 90 —, sind immer zugleich politisch und sozial. Je nach dem konkreten Bezug ist es jedoch methodisch zweckmäßig, zwischen der sozialen Revolution im umfassenden Sinne des gesamtgesellschaftlichen Umwälzungsprozesses und der politisch-sozialen Revolution im engeren Sinne eines durch eindeutig fixierbare politische Daten abgegrenzten Ereigniskomplexes im Rahmen dieses umfassenderen Vorgangs zu unterscheiden. 9 1 Ein sehr wichtiges methodologisches Problem, das sich bei der Beurteilung revolutionärer Erhebungen ebenso wie bei der weit- und nationalgeschichtlichen Periodisierung stellt, ist nun, wie in der vielfältigen Wechselwirkung zwischen den objektiv meßbaren Vorgängen im Basisbereich und den Veränderungen des gesellschaftlichen Gesamtsystems jeweils der Umschlag oder die wesentlichen Stufen des Umschlags in eine neue, höhere Gesellschaftsformation exakt bestimmt werden können. Diese Frage ist eng mit dem Begriff der Epoche verbunden, der gerade hinsichtlich der Dialektik von Struktur und Entwicklung noch einer gründlichen theoretischen Analyse bedarf — ein Forschungsproblem, auf das in diesem Rahmen nur hingewiesen werden kann. 9 2 88
Zu diesem Problem vgl. Günther, Rigobert, Revolution und Evolution im Weströmischen Reich zur Zeit der Spätantike, in: ZfG, Jg. 13, Sonderheft 1965,S. 19ff. 89 Marx, Karl, Kritische Randglossen zu dem Artikel eines Preußen, in: MEW, Bd 1, Berlin 1956, S. 409. 90 Vgl. I.enin, W. /., Notizen eines Publizisten, in: Derselbe, Werke, Bd 16, Berlin 1962, S. 201. !)1 Vgl. Engelberg, Ernst, Fragen der Evolution und Revolution . . ., a. a. O., S. lOf. 512 Vgl. besonders Shukow, E. M., Lenin und der Begriff der „Epoche" in der Weltgeschichte, in W. I. Lenin und die Geschichtswissenschaft . . ., a. a. O., S. 37 ff.;
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Bei der Überwindung der Ausbeutergesellschaft in ihrer letzten und höchsten Stufe, dem imperialistischen Stadium des Kapitalismus, ist die Lösung der Machtfrage dann selbst Voraussetzung des Übergangs; sie entscheidet nicht über seine Form, sondern über seine Realisierung überhaupt; d. h., der Kapitalismus kann in einem gegebenen Lande entstehen — wenngleich in dieser oder jener Hinsicht deformiert — auch ohne siegreiche politische Revolution der Bourgeoisie, aber der Sozialismus kann sich nur nach der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse und ihrer Klassen verbündeten entwickeln. Von der Stellung der Klassen- und Machtfrage aus wird es möglich, den Beginn der jeweiligen Übergangsepoche zu erfassen. Keimformen von Feudalverhältnissen reifen in der sich zersetzenden Urgesellschaft oder in der niedergehenden Sklavenhalterordnung in Europa über einen sehr langen Zeitraum heran; der Umschlag von der beginnenden Zersetzung zur wirklichen Überwindung der alten Verhältnisse aber als Folge eines bestimmten Reifegrades der Elemente des Neuen wird gesamtgesellschaftlich wirksam erst durch die beginnende tatsächliche Sprengung des römischen Herrschaftssystems und die allmähliche Entstehung frühfeudaler Machtzentren und Staaten. Vor- und Frühformen kapitalistischer Verhältnisse sind in Mittel- und Westeuropa seit dem 13. und 14. Jahrhundert feststellbar. Vom Beginn der Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus kann man jedoch erst zu dem Zeitpunkt sprechen, da der im Prozeß der ursprünglichen Akkumulation entstehende Frühkapitalismus seinen systemsprengenden Reifegrad durch die ersten großen, das Feudalsystem in wichtigen Grundlagen als Ganzes angreifenden Klassenauseinandersetzungen beweist, nämlich seit den frühbürgerlichen Revolutionen des 16. Jahrhunderts. Die Genesis des Neuen wird unmittelbar hervorgebracht durch die Dialektik zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Aus dem Konflikt zwischen beiden folgt die Krise des bestehenden Gesellschaftssystems. „Daß der Moment einer solchen Krise gekommen," schreibt Marx, „zeigt sich, sobald der Widerspruch und Gegensatz zwischen . . . der bestimmten historischen Gestalt der ihnen entsprechenden Produktionsverhältnisse einerseits, und den Produktivkräften, der Produktionsfähigkeit und der Entwicklung ihrer Agentien andrerseits, Breite und Tiefe gewinnt." 93 Die entscheidenden Ereignisse, in denen dies in allen antagonistischen Formationen gesamtgesellschaftlich wirksam wird, sind die Höhepunkte des Klassenkampfes, gipfelnd in den Revolutionen, durch die eine historisch begrenzte und überlebte Gesellschaftsordnung ganz oder teilweise zerstört und durch ein neues, höher entwickeltes System ersetzt wird. Die Stabilität einer historisch bestimmten gesamtgesellschaftlichen Struktur, des Systems einer gegebenen Gesellschaftsformation ist letztlich abhängig von Engelberg, Ernst, Zu methodolgischen Problemen der Periodisierung, in diesem Band. 93 Marx, Karl, Das Kapital, Dritter Band, in: MEW, Bd 25, S. 891.
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ihrer Übereinstimmung mit der Entwicklung der materiellen Produktion. Die herrschende Klasse kann jedoch auch auf den eingetretenen Konflikt zwischen der ökonomischen Grundstruktur und der Entwicklung der Produktivkräfte reagieren, wie das bei aller Unterschiedlichkeit der historischen Bedingungen die Herrschaftssysteme in den Spätphasen der Sklavenhalterordnung, des Feudalismus und des Kapitalismus beweisen. Keine überlebte antagonistische Formation bricht sozusagen im ökonomischen Selbstlauf zusammen; zu ihrer Überwindung bedarf es immer revolutionärer gesellschaftlicher Kräfte und eines erbitterten Klassenkampfes, der freilich, wie das Beispiel des Römischen Reiches zeigt, sehr unterschiedliche Formen annehmen und sich auch im Wechselverhältnis innerer und äußerer Triebkräfte vollziehen kann. Die wissenschaftliche Unhaltbarkeit aller strukturgeschichtlichen und soziologisierenden bürgerlichen Geschichtstheorien der Gegenwart liegt besonders darin, daß sie direkt von der industriellen Entwicklung auf eine zwangsläufige Evolution der gesamten Gesellschaft schließen. Dadurch soll eine modernisierte imperialistische Ordnung als Zielprojektion der Geschichte vorgestellt werden. Das Kernstück dieser Geschichtsmanipulationen bildet die ahistorische Zusammenfassung der Formationen des Kapitalismus und des Sozialismus/Kommunismus unter einer angeblichen „Grundstruktur Industriegesellschaft". Dadurch wird versucht, sowohl die unterschiedlichen sozialökonomischen Phasen des Kapitalismus der freien Konkurrenz, des Monopolkapitalismus und des staatsmonopolistischen Kapitalismus als auch und vor allem die gesetzmäßig entstandene neue Gesellschaftsformation des Sozialismus/Kommunismus unter der Konstruktion der „Industriegesellschaft" im wahrsten Sinne des Wortes „verschwinden" zu lassen. Damit können hauptsächlich jene grundlegenden Gesetzmäßigkeiten unbeachtet gelassen werden, die das revolutionäre Entstehen der modernen Epoche des Ubergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus bewirkten und heute verstärkt weiter wirken. Der Angriff gegen die Kategorie der Gesellschaftsformation und die damit verknüpfte Leugnung und Verfälschung der gesetzmäßigen Entwicklungstendenzen der modernen Epoche sind mit weiteren „strukturgeschichtlichen" Manipulationen verbunden. So vor allem mit der Verbannung des Klassenkampfes in das 19. Jahrhundert und damit der Ignorierung der Klassenstrukturen und des Klassenkampfes im kapitalistischen System der Gegenwart, der einseitig technizistischen Auslegung der modernen Produktivkräfte und damit der Negierung der Arbeiterklasse als der entscheidenden sozialen Triebkraft unserer Zeit. Auf diese Weise wird der materialistischen Dialektik die bürgerliche Faktorentheorie entgegengesetzt, welche die entscheidenden Kausalzusammenhänge und die Haupttriebkräfte der Geschichte und damit deren grundlegende, von dem jeweiligen Gesellschaftssystem geprägte objektiven Gesetzmäßigkeiten mißachtet. 9 4 Zur Entwicklung und Überwindung einer Formation bedarf es immer des aktiven Handelns sozialer Kräfte, die den objektiv herangereiften Konflikt 94
Vgl. Unbewältigte
Vergangenheit,
S. 24 ff.
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ausfechten. In den antagonistischen Klassengesellschaften und in der Übergangsepoche zum Sozialismus erfüllt der Klassenkampf dabei die entscheidende Funktion. In der Anerkennung oder Negierung der entscheidenden Rolle der Klassen und des Klassenkampfes sowie der Revolutionen bei der Durchsetzung wie bei der Ablösung von Gesellschaftsformationen vom Ende der Urgesellschaft bis zur gegenwärtigen Epoche wird der grundsätzliche Unterschied zwischen marxistisch-leninistischem Historismus und bürgerlicher Strukturmethode besonders deutlich. In der Beantwortung dieser Frage liegt auch das Urteil über die Wertigkeit historischer Ereignisse, über die historische Betrachtung gesellschaftlicher Strukturen und Entwicklungen begründet. Erst nach der revolutionären Überwindung des Klassenantagonismus in der sozialistischen Gesellschaft stellt sich das hier erörterte Problem für die innere Entwicklung der sozialistischen Länder auf andere Weise dar. Die sozialistische Revolution leitet eine grundlegende qualitative Wende im Charakter und im Zusammenhang sowie in der Wirkungsweise gesellschaftlicher Entwicklungs- und Strukturgesetze ein. In den Übergängen von einer antagonistischen Formation zur anderen setzt sich die notwendige Übereinstimmung zwischen dem evolutionären Ausreifen neuer Verhältnisse, dem Agieren der Klassen und der revolutionären Lösung der Machtfrage nur stufenweise durch — räumlich wie zeitlich inkongruent, über eine mehr oder weniger große Divergenz zwischen den ausreifenden neuen sozialökonomischen Elementen und der politischen Macht der das Neue repräsentierenden Klassenkräfte. Beim Übergang zum Sozialismus ist die Entstehung und Ausbildung der neuen Ordnung erst möglich durch die revolutionäre Lösung der Machtfrage. Der Imperialismus bereitet, wie Lenin mehrfach hervorgehoben hat, objektiv den Sozialismus vor 95 , aber der Sozialismus kann sich in keiner Form vor der politischen Revolution der Arbeiterklasse und ihrer Klassenverbündeten auszubilden beginnen. Hier fallen also Revolution und Beginn des Übergangs direkt zusammen; die historische Alternative heißt grundsätzlich Sozialismus oder Kapitalismus, es geht nicht wie bei den antagonistischen Formationen um diesen oder jenen verschiedenen Entwicklungstyp, sondern um die Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft auf der Grundlage ihrer allgemeingültigen Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten. Die sozialistische Revolution und der Aufbau des Sozialismus schaffen ein gesellschaftliches Gesamtsystem, das sich in Struktur und Dynamik grundsätzlich von den antagonistischen Gesellschaftsformationen unterscheidet. Mit dem Verschwinden des Klassenantagonismus verliert auch der Klassenkampf im Sozialismus seine Funktion als nächstes vermittelndes Glied zwischen 95
Vgl. Lenin, W. I., Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll, in: Derselbe, Werke, Bd 25, Berlin 1960, S. 368ff.
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der ökonomischen Grundstruktur und dem gesellschaftlichen Gesamtsystem. E r ist nicht mehr die bestimmende innere Triebkraft der gesellschaftlichen E n t wicklung, sondern wirkt im wesentlichen von außen und nach außen in Form der Klassenauseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus. Bezogen auf die Dialektik von Struktur und Entwicklung, verändern sich dadurch der Charakter der Widersprüche und die Qualität der Einheit und des Kampfes der Gegensätze in der Gesellschaft sowie die Triebkräfte und Faktoren, die zur Lösung der Widersprüche und zur Entwicklung und Veränderung gesellschaftlicher Strukturen führen. In den vorsozialistischen Klassengesellschaften waren es antagonistische, d. h. unversöhnliche und unüberbrückbare Gegensätze zwischen den jeweiligen Hauptklassen, die schließlich zur Sprengung des Systems und seiner Struktur führten und eine neue, höherentwickelte Gesellschaftsformation schufen. Die Entwicklung des Sozialismus/Kommunismus wird durch nichtantagonistische Widersprüche bestimmt, die auf der Grundlage prinzipiell gemeinsamer gesellschaftlicher Interessen erkannt und gelöst werden können, bevor sie zum Konflikt führen. 96 An Stelle des unversöhnlichen Kampfes antagonistischer Klassen tritt die Ubereinstimmung der persönlichen materiellen Interessen der Werktätigen mit den gesellschaftlichen Erfordernissen; jedoch geschieht das nicht ohne Widersprüche zwischen den verschiedenen Klassen, Schichten und ihren Interessen. 97 Der subjektive Faktor, die Führungstätigkeit der marxistisch-leninistischen Partei und der sozialistischen Staatsmacht erhalten außerordentliche Bedeutung für die Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft: „Denn, je umfassender der sozialistische Aufbau, je komplizierter die Aufgaben, desto größer die Rolle und Verantwortung der Partei." 0 8 Die Gesetze der gesellschaftlichen Struktur und Entwicklung existieren weiter objektiv, außerhalb des menschlichen Bewußtseins, aber nicht mehr als spontan wirkende, unkontrollierte, den Menschen gegenüber fremd erscheinende Mächte, sondern sie setzen sich durch über die bewußte Planung, Leitung und Gestaltung der Gesellschaft durch die marxistisch-leninistische Partei der Arbeiterklasse, die sozialistische Staatsmacht und alle Werktätigen. 9 9 Aus den qualitativen Unterschieden des geschichtlichen Prozesses im Sozialismus und in den vorangegangenen Gesellschaftsformationen ergibt sich eine 96
97 98
99
Vgl. a. u. Stiehler, Gottfried, Der dialektische Widerspruch und der Aufbau des Sozialismus, in: Einheit, Jg. 22, 3/1967, S. 319ff.; Schmidt, Erwin, Die objektiven Grundlagen der Dialektik von gesellschaftlichen, kollektiven und individuellen Interessen im Sozialismus, in: DZfPh, Jg. 16, 2/1968, S. 152ff.; Bollhagen, Peter, Gesetzmäßigkeit und Gesellschaft . . ., a. a. O., S. 199ff. Hager, Kurt, Die entwickelte sozialistische Gesellschaft . . . a. a. O., S. 22. Bericht des Zentralkomitees an den VIII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berichterstatter: Genosse Erich Honecker, in: Protokoll der Verhandlungen des VIII. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 1. bis 3. Beratungstag, Berlin 1971, S. 100. Vgl .Großer, Günther I Klemm, Dieter, Über die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten
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Fülle methodologischer Probleme. Nur einige seien angedeutet: I m konkreten historischen Verlauf können sich die Machtfrage und die sozialistische Revolution, wie die Geschichte unserer Epoche beweist, j e nach den internationalen und nationalen Voraussetzungen und Kräfteverhältnissen im Rahmen der allgemeinen Grundzüge des Ubergangs zum Sozialismus ebenfalls in unterschiedlichen Formen entwickeln. Dabei ist die Einwirkung der weltweiten Klassenauseinandersetzung auf die jeweiligen Übergangsprozesse ein wichtiges Problem, das methodisch auch Hinweise auf die Dialektik innerer und äußerer Faktoren bei revolutionären Übergangsprozessen früherer Geschichtsepochen enthält. Die Herausbildung der Grundlagen des Sozialismus in der Übergangsperiode ist ein weiterer Gegenstand historischer Gesellschaftsanalyse in der zeitgeschichtlichen Forschung. Die Geschichte der D D R ist ein Beispiel für die Entwicklung des sozialistischen Gesellschaftssystems und seiner Teilbereiche bei weitgehender Heranziehung von bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten und allmählicher Umwandlung der sozialökonomischen Verhältnisse, aus denen diese hervorgegangen sind. Die Analyse der historischen Möglichkeiten der Umwandlung noch fortbestehender kapitalistischer Verhältnisse bei gleichzeitiger Schaffung neuer gesellschaftlicher Grundlagen nach dem Sieg der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten — ein Problem, das Lenin im Jahre 1917 und in den ersten Jahren der Sowjetmacht häufig beschäftigte 1 0 0 — ist eine hochaktuelle Forschungsaufgabe der Historiker. Überhaupt bietet die zeitgeschichtliche Gesellschaftsanalyse vor allem hinsichtlich der Geschichte der sozialistischen Gesellschaft die direkte Möglichkeit der Praxisbeziehung und der komplexen Zusammenarbeit mit anderen Gesellschaftswissenschaften. 101 Die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung erreicht im Sozialismus eine neue Stufe und nimmt rascher zu als in der gesamten vorausgegangenen Geschichte. Der Anteil der qualitativen Veränderung an der gesellschaftlichen Reproduktion wächst mit der vollen Entfaltung des Sozialismus. 102 Bedeutende Ereignisse der Geschichte des sozialistischen Systems wie Parteitage, sozialistische Wettbewerbe, wichtige Reformen auf Teilgebieten, Konferenzen gesellschaftlicher Organisationen bringen demzufolge die Grundzüge der sozialistides sozialistischen Aufbaus, in: DZfPh, Jg. 17, 3/1969, S. 270; Bollhagen, Peter, Gesetzmäßigkeit und Gesellschaft . . ., a. a. O., S. 190ff.; Heyden, Günter, Persönlichkeit und Gemeinschaft in der sozialistischen Gesellschaft, in: DZfPh, Jg. 16, 1/1968, S. 36 ff.; Eichhorn II, Wolf gang, Subjektiver Faktor und Persönlichkeitsentwicklung in der sozialistischen Gesellschaftsformation, in: DZfPh, Jg. 16, 2/1968, S. 134 ff. 100 Vgl. bes. Lenin, W. I., Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll, in: Derselbe, Werke, Bd 25, S. 367ff. 101 Ygi. Hager, Kurt, Die Aufgaben der Gesellschaftswissenschaften in unserer Zeit. Referat auf der 9. Tagung des ZK der SED, 22.-25. Oktober 1968, Berlin 1968. 102 Vgl. Ley, Hermann, Philosophische Probleme der wissenschaftlichen Leitung des gesamtgesellschaftlichen Lebensprozesses der sozialistischen Gesellschaft, in: DZfPh, Jg. 17, Sonderheft 1969, S. 140 ff.
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sehen Gesellschaft deutlicher zum Ausdruck, als die Ereignisse in früheren Geschichtsepochen die entsprechenden Struktur- und Entwicklungsgesetze erkennen lassen. Durch die neue Qualität des Wechselverhältnisses von Struktur und Entwicklung in der sozialistischen Gesellschaft stellen sich nicht nur viele neue geschichtsmethodologische Probleme ein. Gleichzeitig wächst vielmehr auch die Bedeutung der allgemeinen Erforschung und Verallgemeinerung der Geschichte der menschlichen Gesellschaft, wird die historische Gesellschaftsanalyse zum Bedürfnis für das richtige Verständnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge im Sozialismus. In diesem Sinne vor allem gilt die grundsätzliche Feststellung, daß die Weiterentwicklung und Perspektive der Geschichte als Wissenschaft nicht in der Auflösung, sondern in der konsequenten methodischen Anwendung, allseitigen Erforschung und theoretischen Bereicherung der Kategorie der Gesellschaftsformation besteht. Politische und wissenschaftliche Bedeutung dieser Grundkategorie fallen dabei zusammen. Sie weist den Weg, um Schwierigkeiten der Forschung zu überwinden, und zwar sowohl durch ihre bis jetzt erzielten gesicherten theoretischen Ergebnisse, als auch besonders durch das Studium und die Erschließung der genialen dialektisch-materialistischen Methode, mit deren Hilfe sie gewonnen wurde. Sie ist vor allem aber die Voraussetzung für die Erkenntnis der Totalität der gesellschaftlichen Entwicklung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Kategorie der ökonomischen Gesellschaftsformation ist zugleich Waffe der politisch-ideologischen Auseinandersetzung und Grundlage für die Entscheidungsfindung der revolutionären Arbeiterklasse für ihre Strategie und Taktik sowie die Prognose gesellschaftlicher Prozesse. Die Beherrschung der Methode, den hier erörterten dialektischen Zusammenhang von Ereignis, Struktur und Entwicklung in seinen raumzeitlichen historischen Beziehungen zu erfassen, ist eine wesentliche Voraussetzung, um die gegenwärtigen Aufgaben unserer historischen Forschung zu bewältigen.
Hans-Peter
Jaeck
Bemerkungen über den Begriff und einige Aufgaben der marxistisch-leninistischen Geschichtsmethodologie
Die gegenwärtigen Hauptaufgaben der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft ergeben sich aus ihrer Strategie- und bewußtseinsbildenden Funktion 1 und aus den Notwendigkeiten der ideologischen Klassenauseinandersetzung 2 . Sie bilden den Ausgangs- und Zielpunkt auch der folgenden Überlegungen, werden jedoch — entsprechend der Gliederung der vorliegenden Arbeit nach dem Grundzyklus wissenschaftlicher Forschung — nicht an den Anfang gestellt, sondern im Zusammenhang mit den Voraussetzungen der Geschichtsforschung, der Problemsituation usw. behandelt. Die marxistisch-leninistische Geschichtsmethodologie rückt, wie methodologische3 und heuristische 4 Fragestellungen überhaupt, gerade in der gegenwärtigen Situation in das Zentrum der Aufmerksamkeit, in einer gesellschaftlich-politischen Situation, die auch für die Wissenschaft gekennzeichnet ist durch die ökonomischen, sozialen, politischen und ideologischen Aufgaben der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution und der weltweiten Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus. Die marxistisch-leninistische Geschichtsmethodologie kann und muß — wie die allgemeine marxistisch-leninistische Wissenschaftsmethodologie überhaupt — als ein wirksames Mittel zur Qualifizierung der Forschung und Lehre gelten und damit zur Lösung der gegenwärtigen Probleme beitragen. Was ist, was bedeutet Methodologie und speziell Wissenschaftsmethodologie ? Die Definitionen, die in den letzten Jahren von marxistisch-leninistischen Philo* Vgl. Schmidt, Walter, Geschichtswissenschaft und Geschichtsbewußtsein, in: ZfG, 15. Jg., 2/1967, S. 205 ff. 2 Vgl. Unbewältigte Vergangenheit. 3 Vgl. Philosophenkongreß der D D R 1970, Teil IV: Wissenschaft und Sozialismus, Berlin 1970; Kühne, Gerhard u. a., Die Leninschen Prinzipien der sozialistischen Wissenschaftspolitik und -Organisation und ihre Anwendung in der D D R , in: DZfPh, 11/1970, S. 1412 ff. 4 Vgl. Müller, Johannes, Grundlagen der systematischen Heuristik (Schriften zur sozialistischen Wirtschaftsführung), Berlin 1970.
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Hans-Peter Jaeck
sophen gegeben wurden 5 , lassen sich etwa folgendermaßen zusammenfassen: Methodologie ist die Theorie der Methoden, die in bzw. von einer Wissenschaft zur Erreichung ihrer Erkenntnisziele angewandt werden. Die Methodologie liefert eine Darstellung des Methodensystems. Sie schafft Klarheit über das dialektische Verhältnis von philosophischer, allgemein- und einzelwissenschaftlicher Methode im wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß. Das wesentüche Ziel jeder Methodentheorie ist es, Aussagen darüber zu machen, wie durch philosophischweltanschauliche und theoretische Fundierung der Methoden, durch ihre Präzisierung und Erweiterung eine höhere Effektivität wissenschaftlicher Erkenntnis erreicht werden kann. Bezieht man das Kriterium der Optimalität in die Bestimmung einer Methode oder Methodik als „richtig" (gegenstandsadäquat) ein und ist man sich der Dialektik von relativer und absoluter Wahrheit bewußt, so könnte man der von B. Fogarasi gegebenen kurzen Definition der Methodologie im allgemeinsten Sinne als „Theorie der richtigen Methode" 6 beistimmen. Eine allgemein gehaltene Definition der marxistisch-leninistischen Geschichtsmethodologie läßt sich analog dazu bilden. Daß es die Geschichtsmethodologie mit der Gesamtheit der Methoden geschichtswissenschaftlicher Forschung zu t u n hat und nicht nur mit den philosophischen und logischen Methoden, unterstreicht G. Schilfert in seinem Definitionsversuch. 7 Er charakterisiert die Methodologie als „Lehre von den Verfahren, die in der jeweiligen Wissenschaft zur Erreichung ihrer Ziele angestrebt werden müssen". 8 Im Begriff der Wissenschaftsmethode9 bildet das Erkenntnisziel das dominierende Merkmal. Wenn wir über den Begriff der geschichtswissenschaftlichen Methodik dem Wesen und den Aufgaben der Geschichtsmethodologie näherkommen wollen, so müssen wir ausgehen von den geschichtswissenschaftlichen Zielen und Aufgaben. Die spezifische Zielsetzung der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft, die sie mit keiner der systematischen Gesellschaftswissenschaften teilt, besteht darin, ein Gesamtbild der historischen Entwicklung in ihrer Komplexität, in ihrer Dialektik von Objekt und Subjekt, Struktur, Ereignis und Entwicklung zu geben. Die Totalität des Bestehenden muß als eine Totalität des Gewordenen erkannt und in ihrem Werden analysiert und beschrieben werden. 10 5
Vgl. u. a .Philosophisches Wörterbuch, Bd 2, S. 721 ff.; Wörterbuch Soziologie, S. 287 ff.; Bellmann, R./Laitko, Hubert, Methode und Methodologie der wissenschaftlichen Erkenntnis. Bemerkungen zum Begriff, in: Wege des Erkennens. Philosophische Beiträge zur Methodologie der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, hg. v. H. Laitko und R. Bellmann, Berlin 1969, S. 39ff. « Fogarasi, Bela, Logik, Berlin 1955, S. 399. 7 Schilfert, Gerhard, Die Geschichtswissenschaft als Gesellschaftswissenschaft, in: Deutsche Historiker-Gesellschaft, Hauptreferate des III. Kongresses, 19.—22. März 1965, hg. v. Präsidium der DHG, Berlin 1965, S. 65 ff. 8 Ebenda, S. 90. 9 Vgl. Philosophisches Wörterbuch, Bd 2, S. 717ff.; Wörterbuch Soziologie,S. 281 ff.; Logik der wissenschaftlichen Forschung, hg. v. P. W. Kopnin und M. W. Popowitsch, Berlin 1969, S. 373, 388 f. 10 Vgl. Engelberg, Ernst, Über Theorie und Methode in der Geschichtswissenschaft,
Über einige Aufgaben der Geschichtsmethodologie
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Wie geschieht das? Jeder wissenschaftliche Erkenntnis- und Forschungsprozeß besteht, methodologisch gesehen, aus einem komplizierten System von praktischen Handlungen und Denkoperationen, die auf die Abbildung des Forschungsobjekts gerichtet sind. Wiederholt verwies Lenin auf die Notwendigkeit, im Interesse der ständigen Weiterentwicklung der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Beherrschung, Gestaltung, Planung der gesellschaftlichen Verhältnisse diese Erkenntnis- und Forschungsprozesse genau zu untersuchen. „In der Erkenntnistheorie", forderte er, „muß man, ebenso wie auf allen anderen Gebieten der Wissenschaft, dialektisch denken, d. h. unsere Erkenntnis nicht für etwas Fertiges und Unveränderliches halten, sondern untersuchen, auf welche Weise das Wissen aus Nichtwissen entsteht, wie unvollkommenes, nicht exaktes Wissen vollkommener und exakter wird." 11 Das Material der Geschichtsforschung und -darstellung bilden die historischen Quellen in ihrer ganzen Vielfalt. Ein kompliziertes System von Methoden, ein hoher Prozentsatz des Kraft- und Zeitaufwandes des Historikers muß dazu dienen, den tatsächlichen Aussagewert der Quellen zu ermitteln. Dieser Prozeß der Tatsachengewinnung, der der Tatsachenordnung und -Verarbeitung vorausgehen muß, bildet in dieser Form ein Spezifikum der Geschichtswissenschaft. Die Betonung dieser Besonderheit darf jedoch nicht das Allgemeine und Wesentliche des Forschungsprozesses verdecken. Ungeachtet dessen, daß zu bestimmten Zeiten die Kompilation, das Sammeln historischer „Fakten", überwog, bilden den Anfang der eigentlichen Geschichtsforschung nicht das Sammeln der Quellen und ihre kritische Erschließung, sondern das Aufwerfen von Problemen, deren Lösung angestrebt wird. Das Sammeln von „Fakten" ist Voraussetzung, nicht aber Ausgangspunkt systematischer Forschung.12 Die marxistisch-leninistische allgemeine Wissenschaftsmethodologie unterscheidet klar zwischen der objektiven, sich aus der gesellschaftlichen (einschließlich der wissenschaftlichen) Praxis ergebenden Problemsituation, dem objektiven Widerspruch zwischen vorhandenem Wissen und neuen praktischen Anforderungen, und der Form, in der sich der Wissenschaftler dieses Widerspruchs mehr oder weniger bewußt wird, dem Problem.13 Echte Probleme existieren — im
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im vorliegenden Bd, S. 11 ff.; derselbe, ü b e r Gegenstand und Ziel der marxistischleninistischen Geschichtswissenschaft, in: ZfG, 16. Jg., 9/1968, S. 1141 ff.; Bensing, Manfred, Probleme der wissenschaftlichen Zeitgeschichtsforschung und -darstellung bei Marx und Engels, in: Jahrbuch für Geschichte, B d 4, Berlin 1969, S. 192; Kon, I.S., Die Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts. Kritischer Abriß, Bd 2, a. a. O., S. 132. Lenin, W. / . , Materialismus und Empiriokritizismus, in: Derselbe, Werke, Bd 14, Berlin 1962, S. 96. Kopnin, P. V., Dialektik — Logik — Erkenntnistheorie. Lenins philosophisches Denken - Erbe und Aktualität, Berlin 1970, S. 331 f. Vgl. ebenda; Philosophisches Wörterbuch, B d 2, S. 8 7 5 f . ; Parthey, Heinrich, Gesetzeserkenntnis mittels erklärender Hypothesen, in: Der Gesetzesbegriff in der Philosophie und den Einzelwissenschaften, hg. v. G. Kröber, Berlin 1968, S. 148 ff. Engelberg, Geschichtsmethodologie
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Unterschied zu Pseudoproblemen — nicht unabhängig von objektiven ProblemSituationen. Seiner gedanklichen Struktur nach ist das Problem ein System von Aussagen über bereits vorhandenes und nicht in Frage stehendes Wissen, das den notwendigen Ausgangspunkt der Problemlösung bildet, und Fragen, die sich unmittelbar auf das noch nicht Erkannte beziehen.14 Die großen Probleme der Geschichtsforschung resultieren aus objektiven Problemsituationen der gesellschaftlichen Entwicklung, aus der Praxis des Klassenkampfes, schließlich aus den objektiven Erfordernissen der bewußten Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft. Historiographiegeschichtliche Untersuchungen15 und Untersuchungen über die Funktion der Geschichtswissenschaft im Sozialismus, in der Auseinandersetzung mit dem Imperialismus und im imperialistischen System führen zu diesem Ergebnis. Die wesentlichen Erkenntnisse der bürgerlichen Historiographie in ihrer progressiven Phase und der marxistischen Geschichtswissenschaft seit Marx und Engels sind nur denkbar und waren nur möglich als Lösung von Problemen, die der Klassenkampf auf die Tagesordnung setzte. Die geniale Leistung von Karl Marx und Friedrich Engels, die wissenschaftliche Gesellschaftstheorie und Geschichtsauffassung, ist bekanntlich nicht das Ergebnis isolierter akademischer Forschung. Das trifft bereits für die bedeutendste methodische Errungenschaft der Geschichtswissenschaft vor Marx zu, die Durchsetzung wissenschaftlicher Prinzipien der Quellenkritik. Sie hängt mit dem Kampf des aufstrebenden Bürgertums gegen die Ideologie und die Institutionen der Feudalordnung zusammen. In der Kritik an durch die Entwicklung des Denkens überholten Autoritäten wurden die Grundprinzipien der Quellenkritik im Ansatz entwickelt, in den Geschichtsdarstellungen der Aufklärer, die nach politischen Argumenten in der Vergangenheit suchten, erprobt. Wesentlich zur theoretischen Vertiefung und Systematisierung der quellenkritischen Methodik aber trugen auch Forscher bei, die im Gegenstoß gegen die Aufklärung in deren übertriebenem Skeptizismus, in bestimmten Vereinfachungen und weltanschaulichen Beschränktheiten die Chance erkannten, die historischen Zeugnisse ihrer politischen (oder klerikalen) Konzeption als wissenschaftlich gesichert zu erweisen, ein Beispiel dafür, wie kompliziert der Zusammenhang von Politik und Geschichtswissenschaft ist. Die Problemsituation des Quellenmangels auf bestimmten Gebieten (Altertum, Mittelalter) erwies sich als Stimulans bei der Entwicklung der quellenkritischen Methode, und zwar sowohl bei den Aufklärungshistorikern als auch bei deren Gegnern. Letzten Endes aberlebte auch die methodologische Leistung der Bollandisten, Mabillons, Rankes und der Mittelalterhistoriographie des 19. Jahrhunderts wesentlich davon, daß ihre inzwischen verachteten pyrrhonistischen oder aufklärerischen Vorgänger die Tabus des Buchstabenglaubens erschüttert hatten. Bereits aus diesem Beispiel geht hervor, daß die Geschichtsmethodologie die gesellschaftlich-politischen Voraussetzungen (nicht nur die weltanschaulichen, )4 15
Ebenda. Vgl. Studien, 2 Bde.
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philosophischen und wissenschaftlichen) in ihre Untersuchungen einbeziehen und bewerten muß. Sie ist nicht ideologiefrei.16 Die marxistisch-leninistische Geschichtsmethodologie stützt sich bewußt auf die Weltanschauung der Arbeiterklasse, den dialektischen und historischen Materialismus, der die wissenschaftliche Theorie der Gesellschaft hervorbrachte und damit die Methode revolutionierte. Die geniale Synthese von Karl Marx und Friedrich Engels geht zurück auf eine objektive Problemsituation von gewaltiger Tragweite — den Konflikt zwischen der alle menschlichen Werte unter die Füße tretenden Kapitalistenklasse und der Klasse der Proletarier, die ihren Widerstand physisch und theoretisch zu artikulieren begann. Sie bildet die Lösung des von Karl Marx und Friedrich Engels erkannten und formulierten Problems — die Mittel und Möglichkeiten zur Aufhebung dieses Konflikts nicht in Utopien, sondern in der Analyse der Realität des kapitalistischen Gesellschaftsystems, im Studium der Geschichte seiner Entstehung und des Kampfes der Arbeiterklasse zu finden. Dabei ist, so lautete die geniale Hypothese17 von Marx und Engels, von der Analyse der materiellen Grundlage der Gesellschaft, der Produktionsverhältnisse und des Charakters der Produktivkräfte, auszugehen. Der Erkenntnisweg vom Problem über die Hypothese zur wissenschaftlichen Theorie nahm einen bedeutenden Teil der Lebensarbeit der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus in Anspruch. Das große Problem der Suche nach den immanenten Bewegungsgesetzen der bürgerlichen Gesellschaft und der menschlichen Gesellschaft überhaupt gliederte sich in eine Vielzahl spezieller Probleme und Fragen unterschiedlicher Wissenschafts- und Wissensbereiche. Marx und Engels gelangten dabei — wie später auch Lenin bei seinen Forschungen über den Imperialismus und die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland — zu grundlegenden allgemeinen methodentheoretischen Erkenntnissen, die heute die Grundprinzipien der marxistisch-leninistischen Wissenschaftsmethodologie bilden (so z. B. die dialektische Methode des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten, das Prinzip der Einheit des Logischen und Historischen, die Praxis als Ausgangspunkt und Kriterium der Erkenntnis, der konkrete Charakter der Wahrheit). Im Zusammenhang mit dem Übergang von der Problemsituation zum Problem sind Fragen zu beantworten, von denen hier nur einige genannt werden können. Wie, auf welche Weise spiegelt sich die objektive gesellschaftliche Problemsituation in den Problemstellungen der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft wider? In welchen Spezialdisziplinen der Geschichtswissenschaft, bei der Erforschung und Darstellung welcher Zeitabschnitte und Teilbereiche werden objektive gesellschaftliche Problemsituationen zuerst und vorrangig wirksam? Inwiefern besitzt auch die alte und mittelalterliche Geschichte unter diesem Gesichtspunkt Relevanz? 16 17
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Vgl. Unbewältigte Vergangenheit. Vgl. Lenin, W. / . , W a s sind die „Volksfreude" und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?, in: Derselbe, Werke, B d 1, S. 129ff.
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Auf Grund kollektiver Erfahrungen und Erkenntnisse sowie prognostischer Einschätzung der wichtigsten gesellschaftlichen Erfordernisse werden in den richtungweisenden Beschlüssen der SED und den Forschungsplänen der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft der D D R die Schwerpunkte der Forschung und Lehre festgelegt. Bei der Widerspiegelung grundlegender gesellschaftlicher Problemsituationen treten bereits in dieser Phase eine Reihe von Vermittlungen in Erscheinung: Leitungswissenschaften, Massenmedien, Pädagogik und Geschichtspropaganda sind auf möglichst anwendungsbereite Ergebnisse der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft angewiesen — das wissenschaftliche Geschichtsbewußtsein ist grundlegender Bestandteil des sozialistischen Staatsbewußtseins. 18 Die erstrangige Bedeutung der Zeitgeschichte bei der Erarbeitung von Grundlagen für die Lösung der Gegenwartsprobleme ist unbestritten. Aber auch an jeden einzelnen Bereich der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft treten heute die großen gesellschaftlichen Probleme heran, und zwar unter doppeltem Aspekt: Einerseits vollzieht sich die ideologische Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus auf allen Gebieten der Gesellschaftswissenschaften; die methodologische Überlegenheit des dialektischen und historischen Materialismus muß in allen Bereichen der Geschichtswissenschaft unter Beweis gestellt werden. Andererseits beruht die Weiterentwicklung der Gesellschaftstheorie und Geschichtsauffassung des Marxismus-Leninismus auf der Verallgemeinerung der Gesimterfahrung der Menschheit. Die allgemeine Methodologie unterscheidet nach dem angestrebten Erkenntnisziel mehrere Problemtypen (Erklärung, Beschreibung, Explikation, Prognose, Beweis, Definition) 19 , deren Bedeutung in der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft zu untersuchen notwendig sein wird. Hier soll nur als vorläufige These formuliert werden, daß das Problem in der Geschichtswissenschaft wahrscheinlich vor allem als spezifische Einheit von Erklärungs- und Beschreibungsproblem in Erscheinung tritt. Der komplexe Vorgang der Problemanalyse20 soll hier nur insoweit behandelt werden, als er den Ausgangspunkt für eine Betrachtung des Verhältnisses von Theorie und Methode und des Verhältnisses der Geschichtswissenschaft zur marxistisch-leninistischen Philosophie und den systematischen Gesellschaftswissenschaften bildet. Die Problemanalyse, die „Analyse der Bedingungen und Methoden, die eine Problemlösung gestatten" 2 1 , dient zunächst der Unterscheidung zwischen dem, was bereits bekannt, und dem, was noch unbekannt ist. Die wissenschaftliche Frage ist in exakter methodologischer Terminologie nicht mit dem Problem identisch. „Fragen", schreibt H. Parthey, „sind charakteristisch für Probleme, reichen jedoch nicht aus, um ein Problem vollständig auszudrücken. Wenn in der 18
Vgl. Schmidt, Walter, Geschichtswissenschaft . . ., a. a. O. Vgl. Parthey, Heinrich, Gesetzeserkenntnis . . ., a. a. O., S. 155. 20 Vgl. ebenda, S. 147ff.; Philosophisches Wörterbuch, Bd 2, S. 875f. 21 Philosophisches Wörterbuch, B d 2, S. 876. 19
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wissenschaftlichen Forschung von einem Problem gesprochen wird, dann ist bereits ein bestimmtes Wissen über den Gegenstand, auf den sich das Problem bezieht, gegeben. Dieses Wissen steht nicht in Frage. Es muß bei der Formulierung eines Problems in Sätzen erfaßt werden, die Aussagen bedeuten. Ein Satzsystem, das ein Problem bedeutet, besteht damit aus Aussage- und Fragesätzen." 2 2 Wenn immer wieder von der entscheidenden Bedeutung der Fragestellung für Verlauf bzw. Methode und Resultat geschichtswissenschaftlicher Forschungen gesprochen wird, so bezieht sich diese Feststellung auf das Problem und die Frage im oben dargelegten Sinne. „Man muß die Dinge richtig fragen, dann geben sie Antwort", meinte bereits der bürgerliche Geschichtsmethodologe J . G. Droysen. „Die Frage und das Suchen aus der Frage, das ist der erste Schritt der historischen Forschung." 23 Droysen war sich sowohl darüber im klaren, daß „nicht jeder beliebige Einfall" für eine echte historische Frage gelten könne, als auch darüber, daß eine sorgfältige Untersuchung und Zusammenfassung des schon Bekannten der eigentlichen Forschung vorangehen müsse. Allerdings war er geneigt, in der Fragestellung vor allem die „Kunst", die „Genialität" des Historikers zu sehen, „die Quellen ins Kreuzverhör zu nehmen", ohne nach dem objektiven Ursprung, der Determiniertheit der Problem- und Fragestellung durch die gesellschaftliche und die wissenschaftliche Praxis zu fragen. 24 Die weitere Entwicklung, genauer: der Verfall der bürgerlichen Geschichtsmethodologie hat gezeigt, daß eine subjektivistische Interpretation der gegenwartsabhängigen Fragestellung immer zum Zweifel an der objektiven Wahrheit historischen Wissens führt. 25 Bei der Sichtung und Analyse des schon gegebenen Wissens, das der eigentlichen Fragestellung und Problemlösung vorangeht, wird deutlich, in welchem Maße sich der Historiker nicht einfach auf bekannte Fakten, sondern auf theoretisches Wissen stützt, das in Weltanschauung, Gesellschaftstheorie und Geschichtsauffassung, Theorien, Kategorien, Begriffen der Geschichte und anderer Wissenschaften, in der Darstellung der Tatsachen und den Tatsachen selbst und schließlich in methodischem Wissen akkumuliert ist. Die marxistisch-leninistische Geschichtsmethodologie hat bei der Analyse der verschiedenen Strömungen der bürgerlich-imperialistischen Geschichtsschreibung Strukturelemente herausgearbeitet, die für die bürgerliche Geschichtsforschung und -Schreibung insgesamt typisch sind.26 Diese Strukturelemente 22
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Parthey, Heinrich, Gesetzeserkenntnis . . ., a. a. O., S. 149. Droysen, Johann Gustav, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hg. v. J . Hübner, 5. Aufl., Darmstadt 1967, S. 35f. Vgl. ebenda, S. 34 ff. Vgl. Mommsen, Hans, Historische Methode, in: Fischer-Lexikon, Geschichte, hg. v. W . Besson, Frankfurt/M. 1961. Vgl. Lozek, Gerhard, Über die Strukturelemente des Geschichtsdenkens und die internationale Zusammenarbeit der Historiker, in: ZfG, 1 / 1 9 6 6 ; derselbe, Probleme einer politisch wirksamen Auseinandersetzung mit der westdeutschen Geschichtsschreibung, in: Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde, 2/1969, S. 136ff.
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(historisch-politische Konzeption, Geschichtstheorie, Geschichtsbild bzw. -darstellung und Fachmethodik) existieren begrifflich — wenn auch bei grundsätzlichen Unterschieden des Inhalts — auch in der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft. 27 Ihre Dialektik ist die des gesamten geschichtswissenschaftlichen Forschungsprozesses, vom Problem bis zur Geschichtsdarstellung. Die bestimmende Funktion der historisch-politischen Konzeption, die G. Lozek auf Grund historiographiegeschichtlicher Untersuchungen konstatierte, wird durch eine systematische Untersuchung des geschichtswissenschaftlichen Forschungsprozesses nur unterstrichen. Die Analyse der genannten Strukturelemente kann ebenfalls zur Systematisierung des für die Lösung des geschichtswissenschaftlichen Problems vorgegebenen Wissens dienen. I m folgenden soll versucht werden, empirisch und annäherungsweise in die Komplexität der geschichtswissenschaftlichen Problemanalyse und damit in die Problematik des Verhältnisses von Theorie, Fragestellung und Methode, d. h. in die Dialektik der Strukturelemente, vorzudringen. Das Thema der hier als Beispiel herangezogenen eigenen Forschungsarbeit des Verfassers lautet: Die deutsche Annexion Kameruns 1884. 2 8 Als grundlegende Problemsituationen können betrachtet werden: 1. der Widerspruch zwischen der Kontinuität Kolonialismus — Neokolonialismus im imperialistischen Westdeutschland und dem Streben der sozialistischen D D R , diese Entwicklung im Interesse der deutschen Arbeiterklasse zu beenden und durch ein Verhältnis der Freundschaft und Zusammenarbeit mit den jungen Nationalstaaten Afrikas zu ersetzen; 2. der Widerspruch zwischen den Aussagen neu erschlossener Quellen (der Akten des ehemaligen Reichskolonialamtes) und der Darstellung der Annexion in früheren und zeitgenössischen bürgerlichen Geschichtswerken. Die Formulierung des Problems setzt geschichtstheoretische Überlegungen voraus. Welche der sich aus einem Vergleich zwischen den bisherigen Darstellungen und den neuen Fakten ergebenden Widersprüche sind als die wesentlichen zu betrachten? Für einen marxistischen Historiker ist es von durchaus sekundärer Bedeutung, etwa mit dem amerikanischen Historiker H. R . Rudin 2 9 darüber zu streiten, ob der Apparat der kolonialen Ausbeutung Kameruns mehr oder weniger perfekt organisiert war oder welche deutschen Kolonialbeamten in dieser Hinsicht mehr oder weniger Bedeutsames „leisteten". Vielmehr geht es um
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und 3/1969, S. 225 ff.; derselbe, Zur Methodologie einer wirksamen Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Geschichtsschreibung. Das Problem der Strukturelemente und die Hauptrichtung der Auseinandersetzung, in: ZfG, 5/1970; Unbewältigte Vergangenheit, S. 18 ff. Lozek, Gerhard, Zur Methodologie . . ., a. a. O., S. 613f. Jaeck, Hans-Peter, Die deutsche Annexion, in: Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft. Studien, hg. v. H. Stoecker, Bd 1, Berlin 1960, S. 29ff. Rudin, Harry R., Germans in the Cameroons 1884—1914. A Case Study in Modern Imperialism, New Häven 1938.
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den Nachweis, daß die Maßnahmen und Verbrechen der deutschen Kolonialpolitik in Kamerun organischer Bestandteil eines inhumanen Gesellschaftssystems waren, und um die Feststellung, wie sich die imperialistische deutsche Kolonialherrschaft auf die ökonomische und soziale Lage und Entwicklung der Afrikaner auswirkte. Die Grundlagen des Systems der kapitalistischen und imperialistischen Kolonialpolitik sind in marxistischer Sicht ökonomischer Natur. In dem hier dargelegten Sinne muß man also von der entscheidenden Bedeutung der dialektisch-materialistischen Fragestellung30 (genauer: Problemformulierung) sprechen. E s genügt nicht, nur mit dem Willen an den historischen Stoff heranzugehen, ihn mit der Methode des dialektischen und historischen Materialismus zu erforschen und darzustellen. 31 Wichtigstes vorgegebenes Wissen in dem hier genannten Beispiel waren historisch-soziologische Theorien, in denen die Prinzipien und Kategorien des historischen Materialismus bereits vermittelt, in ihrer methodischen Anwendung auf spezielle Probleme der Geschichte erscheinen. Gemeint sind hier z. B . die Marxsche Theorie der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals, Marx' Erkenntnisse über Kolonialhandel und Kolonialexpansion sowie Teile der Leninschen Imperialismustheorie, die sich auf den ökonomisch-politischen Einfluß der Großbanken und die imperialistische Kolonialexpansion beziehen. Wie bei jedem wissenschaftlichen Thema ergab sich eine ganze Hierarchie von Problemen und Fragen. Einige davon lauteten: Worin bestanden die wirtschaftlichen Interessen der Initiatoren und Förderer des Annexionsprojekts? Was waren die Ursachen dafür, daß Bismarck sich entgegen früheren „Grundsätzen" entschloß, private Erwerbungen deutscher Kaufleute in Kamerun unter den „Schutz des Reiches" zu stellen? Gaben die Afrikaner ihr Land freiwillig oder unter — welcher Art von — Zwang preis? I m Prozeß der Problemanalyse kristallisierten sich schließlich eine Reihe von Fragen folgender Art heraus: 1. Wie lassen sich über die Profite der Woermannfaktoreien und die internationale Konkurrenz im westafrikanischen Schnaps- und Palmölhandel genaue Angaben erzielen? 2. Wie lassen sich nähere Angaben über die ökonomische Lage und gesellschaftliche Organisation der Bewohner Kameruns um 1884 gewinnen, die von der Einseitigkeit frei sind, die den Berichten der Kaufleute, Kolonialbeamten, Militärs und Reisenden anhaftet? So präzisierte Fragen sind der Ausgangspunkt einer zielgerichteten, systematischen Suche nach neuen Quellen, der Übernahme bekannter oder der E n t wicklung neuer Methoden der Analyse des bekannten oder eines neuen Quellentyps. Hier beginnt die eigentliche Problemlösung. Für die Beantwortung der ersten Frage mußten Statistiken ausgewertet, Kalkulationen rekonstruiert, Preise verglichen, Währungsparitäten in Erfahrung 30 31
Vgl. Einführung in das Studium der Geschichte, S. 499. Vgl. Engelberg, Ernst, Über Gegenstand und Ziel . . ., a. a. O.. S. 1144.
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gebracht werden. Für die Beantwortung der zweiten Frage werden in Zukunft auch Quellen der materiellen Kultur, mündliche Tradition sowie Sprache, Sitten, Mythen usw. herangezogen werden müssen, zu deren Analyse es ethnologischer, sprachwissenschaftlicher und anderer Methoden bedarf. Die Prinzipien und Verfahren der Quellensuche aus der Frage heraus — der historischen Heuristik — in ihrem Zusammenhang zu erforschen und darzulegen, stellt nach Ansicht des Verfassers eine notwendige und lohnende Aufgabe der marxistisch-leninistischen Geschichtsmethodologie dar. Sie kann auf diesem Gebiet, das sich viel schwerer abgrenzen läßt, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, nicht nur an — bei aller gebotenen Kritik — bedenkenswerte Überlegungen des bedeutendsten unter den bürgerlichen Geschichtsmethodologen J. G. Droysen 32 anknüpfen. C. Bobinska 33 hat nachgewiesen, daß und in welcher Weise der dialektische und historische Materialismus und die bewußte Parteinahme für die jeweils fortschrittliche Klasse der Gesellschaft und die Volksmassen auch für die Heuristik eine entscheidende Präzisierung der Methode bedeuten. Ein solches Herangehen bewahrt den Historiker davor, der „Suggestion der Quellen" zu erliegen, macht ihm immer wieder bewußt, daß Quellen aus gesellschaftlichen Konflikten hervorgehen, befähigt ihn, Quellenlücken zu erkennen, und fordert von ihm, das Ubergewicht der Quellen der herrschenden Klassen systematisch auszugleichen. 3/1 Im Prozeß der Forschung vollziehen sich eine fortschreitende Präzisierung und Abwandlung der Fragen. 35 Wenn man diesen Prozeß richtig verstehen will, genügt es dann festzustellen, daß bestimmte Fragen bzw. Fragenkomplexe aus einem bestimmten globalen Problem erwachsen und durch die genaue Kenntnis der Quellen konkretisiert werden? 36 Oder ist es notwendig, zwischen Problem und Frage auch im Einzelfall sorgfältig zu unterscheiden? Scheinbare Fragen, die ins Unbekannte vorzustoßen scheinen, sind oft Probleme, die sich einer Problembearbeitung unterziehen lassen und für deren Lösung Wissen vorgegeben ist, über das nur der einzelne Forscher nicht verfügt, aber die eigene Wissenschaft, oder die eigene Forschungsdisziplin nicht, wohl aber eine andere Wissenschaft, d. h. die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Die besondere Schwierigkeit, Probleme von Fragen in dem hier angegebenen Sinn zu unterscheiden, liegt sicherlich in der besonderen Komplexität des Gegenstandes der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft begründet. J e größer das beim Historiker vorhandene Wissen über das Wesen der Gesellschaft und ihre historische Entwicklung, desto präziser werden seine Fragen lauten. Dieses Wissen vermehrt sich: 32
Droysen, Johann Gustav, Historik . . . , & . a. O., S. 31 ff., 84ff. Bobiiiska, Celina, Historiker und historische Wahrheit. Zu erkenntnistheoretischen Problemen der Geschichtswissenschaft, Berlin 1967, S. 60 ff. 34 Ebenda; vgl. auch Einführung in das Studium der Geschichte, S. 264ff. 35 Vgl. Bobinska, Celina, Historiker und historische Wahrheit . . ., a. a. O., S. 82f. 3« Vgl. ebenda, S. 83. 33
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1. durch genauere Kenntnis ihm vorliegender Quellen, d. h. der historischen Fakten; 2. durch genauere Kenntnis des Wesens dieser Tatsachen, ihrer inneren Dialektik, ihres dialektischen Zusammenhangs mit anderen Teilsystemen der Gesellschaft, früheren oder späteren Perioden der Geschichte, schließlich durch Wissen um ihren Platz im Gesamtsystem der Gesellschaft und in der historischen Entwicklung, im Wechsel der Gesellschaftsformationen. Das aus den Quellen neu gewonnene Wissen geht unter diesem oder jenem Aspekt bzw. unter diesem oder jenem theoretischen Zusammenhang in das unter 2. genannte Wissen ein. Es vermag gegebene Begriffe oder Theorien zu stützen, zu präzisieren oder zu erweitern. Es bildet das empirische Moment, das nach theoretischer Verarbeitung für die wissenschaftliche Fragestellung und Methode wieder wirksam wird ,:!7 Hier soll jedoch zunächst auf einen sehr wichtigen Teilaspekt der methodischen Funktion des vorgegebenen Wissens verwiesen werden. Die entscheidende Bedeutung der Prinzipien und Kategorien des dialektischen und historischen Materialismus, des wissenschaftlichen Geschichtsbildes, der Theorien, Kategorien und Begriffe der Geschichtswissenschaft selbst gilt für das Gesamtsystem der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften. Die Dialektik des Logischen und Historischen, das Verhältnis von Theorie und Methode erscheinen jedoch auch in Gestalt des Verhältnisses anderer Wissenschaften und besonders der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften zur Geschichtswissensch af t. 3 8 In jedem Falle, wo spezifisches „Sachwissen" erforderlich wird, greift der Historiker auf Theorien, Begriffe und Methoden anderer Wissenschaften oder Wissensbereiche zurück. Ein flüchtiger Blick auf die in unserem Beispiel genannten Fragen zeigt, daß Kenntnisse und Methoden folgender Gebiete notwendig sind: Statistik, Außenhandel, kaufmännisches Rechnen, Warenkunde (Frage 1); Archäologie, Ethnologie, Sprachwissenschaft (Frage 2). Darin, daß Kenntnisse, d. h. Theorien, Begriffe und Methoden anderer Wissenschaften in der Geschichtswissenschaft verwendet werden können und müssen, steckt seit jeher ein gewaltiges Reservoir für die Ausdehnung historischer Kenntnisse. Dieser Sachverhalt ist seit langem bekannt, jedoch erst in der jüngsten Vergangenheit wurde er, zwingenden gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Notwendigkeiten folgend, Gegenstand systematischer Untersuchung. Erstens fordert die Gestaltung und Weiterentwicklung der sozialistischen Gesellschaft ein zielbewußtes, effektives Zusammenwirken aller marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften. Zweitens bedient sich die bürgerlich-imperia3' Vgl. ebenda, S. 80ff. 3 8 Vgl. u. a. Einführung in das Studium der Geschichte, S. 252ff.; Schilfert, Gerhard, Die Geschichtswissenschaft . . ., a . a . O . , S. 590ff.; Bollhagen, Peter, Soziologie und Geschichte, Berlin 1966; Die Klassifikation der Wissenschaften als philosophisches Problem, hg. v. R. Rochhausen, Berlin 1968.
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listische Geschichtsschreibung immer raffinierterer Methoden, die von Teilwahrheiten über die tatsächliche Struktur der Gesellschaft ausgehen. Technizistisch-funktionalistische Gesellschaftskonzeptionen haben sich durchgesetzt, immer neue Anleihen bei den bürgerlichen Sozialwissenschaften (Soziologie, Psychologie, Sozialpsychologie, Verhaltensforschung, Anthropologie etc.) werden aufgenommen. Die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft sieht sich damit vor die dringende Aufgabe gestellt, den davon ausgehenden unwissenschaftlichen Geschichtskonzeptionen und -darstellungen eine vertiefte Kenntnis der gesellschaftlichen Systemdialektik entgegenzustellen, in der dem Klassenkampf, entgegen den Versicherungen bürgerlich-imperialistischer Ideologen, innerhalb des imperialistischen Systems und in der Systemauseinandersetzung die entscheidende ereignis- und strukturbestimmende Funktion zukommt. Drittens schließlich widerspiegelte sich die wachsende Komplexität objektiver und subjektiver gesellschaftlicher Zusammenhänge in der Entstehung von Querschnittswissenschaften, deren methodische Bedeutung für die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft genauer Untersuchung bedarf. Methoden der marxistisch-leninistischen politischen Ökonomie, Soziologie, Psychologie, Sozialpsychologie sowie mathematisch-statistische Methoden werden — wenn auch vielleicht noch nicht oft und exakt genug — seit langem in der Geschichtswissenschaft angewandt. Dagegen sind die Methoden und Erkenntnisse der marxistischleninistischen Organisationswissenschaft, der Informationstheorie, der allgemeinen Kybernetik, der Spieltheorie, der allgemeinen Systemtheorie usw. für den Historiker noch weitgehend Neuland. Zu beachten ist, daß Erkenntnisse und Methoden dieser Wissenschaften, vor allem der marxistisch-leninistischen Organisationswissenschaft, heute bereits in den Quellen angewendet erscheinen, die der Historiker einer Darstellung der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft notwendig zugrunde legen muß. 3 9 Wie die Geschichtswissenschaft auf die Erkenntnisse und Methoden der systematischen Gesellschaftswissenschaften, so sind diese auf die Methoden der Geschichtswissenschaft und das wissenschaftliche Geschichtsbild unmittelbar angewiesen. „Das Allersicherste in der Gesellschaftswissenschaft", schrieb Lenin, „. . . besteht darin, den grundlegenden historischen Zusammenhang nicht außer acht zu lassen, jede Frage von dem Standpunkt aus zu betrachten, wie eine bestimmte Erscheinung in der Geschichte entstanden ist, welche Hauptetappen diese Erscheinung in ihrer Entwicklung durchlaufen hat, und vom Standpunkt dieser ihrer Entwicklung aus zu untersuchen, was aus der betreffenden Sache jetzt geworden ist." 40 Es handelt sich also nicht um ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis, sondern um die allgemeine dialektische Beziehung des Logischen und Historischen, die den wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß in seiner Gesamtheit charakterisiert. Die Geschichtsmethodologie, die die Interaktion der Methoden von ihrem fachspezifischen Gesichtspunkt aus untersucht, ist auf39
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Vgl. Brachmann, Botho, Die Anwendung von Methoden der Information in der Arbeit des Historikers, im vorliegenden Band, S. 214 f. u. 216. Lenin, W. I., Über den Staat, in: Derselbe, Werke, Bd 29, S. 463.
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gefordert, ihren Beitrag zur Erforschung des aktuell-realen und potentiellrealisierbaren Zusammenwirkens der vorwiegend historischen oder systematischen Disziplinen im einheitlichen Gesamtsystem der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften zu leisten. Dabei muß sie stets von den gesellschaftlichen Hauptaufgaben ausgehen. Die Wissenschaftsqualifikation der Geschichte besteht nicht nur — wie bürgerliche Methodologen immer wieder erklären — darin, daß sie mit wissenschaftlichen Methoden die Tatsächlichkeit der in den Quellen widergespiegelten Ereignisse feststellt. Die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft formuliert selbst wissenschaftliche Begriffe und Theorien, liefert nicht nur Beschreibungen, sondern Erklärungen, Definitionen, Beweise, Prognosen, erkennt Gesetze. In der Frage, wie das geschieht u n d geschehen kann, liegt die ganze Problematik der dialektischen Wechselbeziehung zwischen gesellschaftlicher Praxis, philosophischer, allgemein- und einzelwissenschaftlicher Theorie und Methode im geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisprozeß, also der gesamte Problembereich der marxistisch-leninistischen Geschichtsmethodologie. Die Komplexität des Problems mag verständlich machen, warum hier keine Aussagen mit Anspruch auf Vollständigkeit oder absolute Gültigkeit versucht werden können. Den Ausgangspunkt der Untersuchung müssen zweifellos die methoden-theoretischen Aussagen der Klassiker des Marxismus-Leninismus, empirische wissenschaftsgeschichtlich-methodologische Forschungen (zunächst am Werk der Klassiker) und die bereits vorliegenden Kenntnisse der allgemeinen Methodologie über Abstraktion und Begriffsbildung 41 die Hypothese und ihre Verifizierung 42 , über den Gesetzesbegriff 43 u n d den Aufbau wissenschaftlicher Theorien bilden. Für die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft liegen darüber hinaus in den Arbeiten von Bobinska 44 , Bollhagen 45 , G. Klaus und H. Schulze 46 , Engel41
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4(i
Vgl. u. a. Philosophisches Wörterbuch; Wörterbuch Soziologie; Klaus, Georg, Moderne Logik. Abriß der formalen Logik, 5., berichtigte Aufl., Berlin 1970; Bollhagen, Peter, Soziologie und Geschichte, a. a. O.; derselbe, Gesetzmäßigkeit und Gesellschaft. Zur Theorie gesellschaftlicher Gesetze, Berlin 1967; Kumpf, Fritz, Probleme der Dialektik in Lenins Imperialismus-Analyse. Eine Studie zur dialektischen Logik, Berlin 1968; Einführung in das Studium der Geschichte. Vgl. neben den in der Anmerkung 41 genannten Arbeiten: Logik der wissenschaftlichen Forschung, a. a. O., Kopnin, P. V., Dialektik — Logik — Erkenntnistheorie . . ., a. a. O.; Parthey, Heinrich, Gesetzeserkenntnis . . ., a. a. O.; Grunwald, Manfred ¡Lesser, Horst, Wesen und Struktur der Hypothese und ihre Stellung in den Wissenschaften, in: DZfPh, 7/1967, S. 867ff.; Die wissenschaftliche Hypothese, hg. v. H. Korch, Berlin 1972. Vgl. neben den unter den Anmerkungen 41 und 42 genannten Arbeiten: Der Gesetzesbegriff . . ., hg. v. G. Kröber, a. a. O. BobMska, Celina, Historiker und historische Wahrheit . . ., a. a. O. Bollhagen, Peter, Soziologie und Geschichte, a. a. O.; derselbe, Gesetzmäßigkeit und Gesellschaft . . ., a. a. O.; derselbe, Die Spezifik der Einheit des Logischen und Historischen in der Geschichtswissenschaft, in: DZfPh, 1/1964, S. 22ff. Klaus, Georg / Schulze, Hans, Sinn, Gesetz, Fortschritt in der Geschichte, Berlin 1967.
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berg 47 , in der „Einführung in das Studium der Geschichte" 48 sowie in zahlreichen Arbeiten über das Verhältnis von historischem Materialismus, Geschichtswissenschaft und Soziologie wertvolle Ansätze für die weitere Forschung vor. Die Frage nach den Möglichkeiten der wissenschaftlichen Gesellschaftsprognose in unserer Zeit 49 und dem spezifischen Anteil der Geschichtswissenschaft daran 5 0 hängt unmittelbar mit den Problemen der Gesetzeserkenntnis zusammen. An dieser Stelle soll lediglich versucht werden, einige Zusammenhänge im Verhältnis von Empirie und Theorie, von Frage, Hypothese und den Kriterien ihrer Bestätigung an Hand des gewählten Beispiels anschaulich zu machen. Die Frage nach den Ursachen der Bismarckschen Kolonialannexionen von 1884/85 spitzte sich im Rahmen der speziellen Themenstellung und der dafür ausgewählten Quellen auf die Frage zu, ob und wie H. von Kusserow, Schwager des Chefs der Disconto-Gesellschaft, Adolf von Hansemann, seine Stellung als Legationsrat im Auswärtigen Amt dazu benutzte, die Kolonialprojekte der Disconto-Gesellschaft und damit auch Woermanns zu fördern. Tatsächlich ließ sich nachweisen, daß Kusserow es nicht verschmähte, seinem Vorgesetzten, der koloniale Annexionen aus außen- wie aus innenpolitischen Rücksichten zunächst ablehnte, eine Falschinformation zuzuleiten, die eine ernsthafte Diskriminierung des deutschen Handels in Westafrika signalisierte. Für diesen oder jenen bürgerlichen Historiker, der bei der Lösung eines Erklärungsproblems den Bereich des Subjektiven nicht verläßt und überdies die politische Persönlichkeit Bismarcks völlig verkennt, mag eine „Erklärung" dieser Art ausreichen. Dem marxistisch-leninistischen Historiker aber muß klar sein, daß die Ursachen der Bismarckschen Kolonialannexionen in einem ganzen Komplex wirtschaftlicher, innen- und außenpolitischer Zusammenhänge zu suchen sind, nicht in Roßtäuschertricks eines Ministerialbeamten. Die ursprüngliche Frage nach den Beweggründen der Reichsregierung im Falle der Annexion Kameruns weitet sich bei Heranziehung gleichgerichteter Fragen, die den ganzen Umfang der Kolonialinteressen, -projekte und schließlich vorgenommenen Annexionen in West-, Südwest-, Ostafrika und im Pazifischen Ozean betreffen, zu einem Komplex von Fragen aus, bei deren Bearbeitung die ganze Vielfalt der Zusammenhänge ins Blickfeld gelangt. Nur der dialektische und historische Materialismus befähigt den Gesellschaftswissenschaftler, „in dem komplizierten Netz der sozialen Erscheinungen wichtige 47 48 49
50
Engelberg, Ernst, Über Gegenstand und Ziel . . ., a. a. O. Einführung in das Studium der Geschichte. Vgl. Kurt Hager, Die Aufgaben der Gesellschaftswissenschaften in unserer Zeit, Referat auf der 9. Tagung des ZK der SED, 2 2 . - 2 5 . Oktober 1968, Berlin 1968; ferner u. a.: Grundmann, Siegfried, Weltanschauliche Probleme der Gesellschaftsprognostik, in: DZfPh. 19. Jg.' 4. 6, 1971, S. 701 ff. Vgl. Engelberg, Ernst, Über Gegenstand und Ziel . . ., a. a. O., S. 1128f., 1132f., 1144; Klaus, Georg/Schulze, Hans, Sinn, Gesetz, Fortschritt . . ., a. a. O., S. 40ff.; Bensing, Manfred, Probleme . . ., a. a. O., S. 202f. u. a.
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Erscheinungen von unwichtigen zu unterscheiden" undobjektive Kriterien für notwendige Abgrenzungen zu finden.51 Der dialektische und historische Materialismus erfaßt in der Kategorie der ökonomischen Gesellschaftsformation die Gesellschaft als ein System, in dem die ökonomischen Verhältnisse die letztlich bestimmenden sind. Je genauer sich der Historiker dieser Systemdialektik in der Gesellschaft bewußt ist — sei es auch zunächst nur in ihrer allgemeinen, philosophischen Begriffsgestalt — desto exakter wird seine Hypothese ausfallen. Die Prinzipien des dialektischen und historischen Materialismus treten also auch bei der Aufstellung der Hypothese als vorordnende, forschungsorientierende Prinzipien in Erscheinung, die das Feld der möglichen Lösungen abgrenzen. Die Erklärung der Bismarckschen Kolonialannexionen ist also in einem Systemzusammenhang zu suchen, in dem die kapitalistischen Produktionsverhältnisse das entscheidende Strukturelement bilden. Empirische Forschungen haben nicht nur diesen allgemeinen Zusammenhang bestätigt, sondern auch eine mitunter praktizierte Vereinfachung korrigiert. Sie bestand darin, daß die deutschen Kolonialannexionen von 1884/85 als imperialistische charakterisiert, im vollen Sinne der Leninschen Imperialismustheorie interpretiert wurden. 5 2 Nachgewiesen ist dagegen, daß die deutsche Kolonialpolitik der 80er und 90er Jahre eine „Kolonialpolitik der Übergangszeit vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Imperialismus" war. „Wurde sie auch ursprünglich vom Großkapital inauguriert, um die ökonomische Basis des entstehenden Monopolkapitals zu festigen, so realisierten sich diese Erwartungen erst nach der Jahrhundertwende." 5:! Die Kolonialpolitik Bismarcks wurzelte in der Wirtschaftslage der 80er Jahre, f ü r die in Deutschland ein relativer Kapitalüberschuß 5 4 sowie eine ausgedehnte Börsenspekulation 55 charakteristisch waren. Weitere wirtschaftliche, innen- und außenpolitische Momente wirkten mittelbar und unmittelbar bei der Auslösung der kolonialen Expansion mit: der Ubergang vom Freihandel zum Schutzzoll, das Bemühen um eine bessere Position des deutschen Kapitals im internationalen Konkurrenzkampf, das Einsteigen des Finanzkapitals, der Schwerindustrie und des Junkertums in das Kolonialgeschäft und die Kolonialpropaganda, die Verbindung Hansemann — von Kusserow, das Bestreben der herrschenden Klasse, die soziale Frage zu exportieren und schließlich — ein sehr wesentliches Moment — die günstige internationale Situation in der Mitte der 80er Jahre. 5 6 51 52
55
56
Lenin, W. I., Was sind die „Volksfreunde" . . ., in: Derselbe, Werke, B d 1, S. 130. Vgl. Drechsler, Horst, Siidwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft, Berlin 1966, S. lOff. Ebenda, S. 14. " Ebenda, S. 12. Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft, hg. v. H. Stoecker, Bd 1, Berlin 1960, S. 18. Engelberg, Ernst, Deutschland 1871—1897 (Deutschland in der Übergangsperiode zum Imperialismus). Lehrbuch der deutschen Geschichte. Beiträge, B d 8, Berlin 1965, S. 214ff.
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Die deutsche Kolonialpolitik der 80er und 90er Jahre ist ein gesetzmäßiges Ergebnis der Entwicklung des kapitalistischen Systems. Zudem ist die Kolonialexpansion eine internationale Erscheinung. Die Analogie legt die Vermutung gesetzmäßiger Zusammenhänge nahe, aber erst die marxistische Kategorie der ökonomischen Gesellschaftsformation bietet „dann die Möglichkeit, von der Beschreibung der gesellschaftlichen Erscheinungen . . . zu ihrer streng wissenschaftlichen Analyse überzugehen, die beispielsweise das hervorhebt, was das eine kapitalistische Land von einem anderen unterscheidet, und das untersucht, was ihnen allen gemeinsam ist". 57 Was über Ursachen und Wesen der deutschen Kolonialpolitik von der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft heute ausgesagt wird, kann als theoretisch gesichert gelten. Hypothetisches bedarf der Verifikation — wie hier am Beispiel der Beurteilung der Bismarckschen Kolonialpolitik gezeigt -, auch wenn es sich „nur" um ein Moment des Werdens einer in ihrem Wesen erkannten gesellschaftlichen Erscheinung handelt. Dieses Werden in seinem strukturellgenetischen Gesamtzusammenhang abzubilden ist ja die eigentliche Aufgabe des marxistisch-leninistischen Historikers. Die dialektische Methode verbietet ihm jedes schematische Illustrieren und bloße Einordnen in schon bekannte Zusammenhänge. Er erforscht die konkreten historischen Ereignisse, die Interessen, Motive, Willensakte von Klassen, Schichten und Individuen, durch deren Handeln sich historische Gesetze erst realisieren. Die Dialektik verpflichtet ihn wie alle marxistischen Gesellschaftswissenschaftler zur präzisen Erforschung der ganzen „Gesetzeshierarchie", mit der wir es in Gesellschaft und Geschichte zu tun haben. Er strebt nach der Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten, ohne zu vergessen, daß der Zufall die Erscheinungsform der Notwendigkeit ist. Für die marxistisch-leninistische Geschichtsmethodologie ist die intensive Beschäftigung mit dem Problem der Hypothesenverifizierung bzw. den Kriterien der historischen Wahrheit um so notwendiger, als die bürgerliche Philosophie des Neopositivismus gerade für diese Phase des wissenschaftlichen Forschungsprozesses die Argumente zu besitzen glaubt, mit denen die Wahrheit der Theorie des dialektischen und historischen Materialismus ins Wanken zu bringen sei. Der Neopositivismus, der in zunehmenden Maße in die bürgerlich-imperialistische Geschichtsphilosophie eindringt, geht von einem induktionistischempirischen, nur wissenschaftslogischen Standpunkt, also subjektiv-idealistisch, an das Problem heran. Ihn charakterisiert die Ignorierung des Vorgangs der Theoriebildung, der Versuch, die theoretischen Kenntnisse als gegeben anzusehen, ohne die Berücksichtigung ihres Werdens auf der Grundlage des Prozesses der Praxis. 58 K. R. Popper erklärt, wie eine Theorie gefunden werde, sei eine völlig private Angelegenheit; nur die Frage, wie sie geprüft wurde, hält er für wissenschaftlich relevant. Eine Verifikation hält er prinzipiell nicht für 57 58
Lenin, W. / . , Was sind die „Volksfreunde" . . ., in: Derselbe, Werke, Bd 1, S. 131. Vgl. Logik der wissenschaftlichen Forschung, a. a. O., S. 76.
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ausreichend; er tritt für eine methodische Falsifikation ein. Eine wissenschaftliche Hypothese kann nach seiner Ansicht nur dann als wissenschaftliche Theorie gelten, wenn sie allen systematischen Bemühungen, sie zu widerlegen, widerstanden hat. 5 9 Da es nach Popper in der Geschichte keine Gesetze von irgendwelcher Relevanz gibt, sondern höchstens Tendenzen, Regelmäßigkeiten, kann es seiner Meinung nach auch keine wissenschaftliche Theorie der Geschichte geben, sondern nur „selektive Standpunkte", „historische Interpretationen". Popper führt das Kriterium der Falsifikation vor allem gegen die marxistische Theorie ins Treffen. Da er ihre Fruchtbarkeit nicht leugnen kann, versucht er sie wissenschaftslogisch in Mißkredit zu bringen. Er wirft den Marxisten vor, sie mißverständen das Faktum, daß mit ihrer Theorie viele Tatsachen geordnet und interpretiert werden könnten, als Beweis und Bewährung ihrer Interpretation. 6 0 Die dialektisch-materialistischen Auffassungen von der gesellschaftlichen Praxis als Ausgangspunkt der Theoriebildung und Kriterium der Wahrheit und über die Dialektik von relativer und absoluter Wahrheit widerlegen Poppers erkenntnistheoretischen Subjektivismus und Skeptizismus. Die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft ist eine vollgültige Wissenschaft, deren überprüften und überprüfbaren Aussagen (relative und absolute) Wahrheit zukommt, nicht nur Wahrscheinlichkeit. In diesem Zusammenhang sind die Ausführungen von Bobinska 61 über das System der Kriterien der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Praxis, das dem marxistischen Historiker zu Gebote steht, von besonderem Interesse. Das Problem der geschichtswissenschaftlichen Theorie- und Begriffsbildung ist in engem Zusammenhang mit der Spezifik der Formulierung historischer Gesetzmäßigkeiten zu sehen. 62 In allen Sphären, in allen Teilbereichen der Gesellschaft begegnen wir Gesetzen, wesentlichen, d. h. notwendigen und allgemeinen Zusammenhängen. Wenn wir ihre Erforschung ins Auge fassen, kommen wir stets auf die hier wiederholt beschriebene forschungsorientierende Funktion des dialektischen und historischen Materialismus sowie auf die Notwendigkeit der interdisziplinären gesellschaftswissenschaftlichen Forschung und der Nutzung „fachfremder" Methoden zurück. Zur Charakterisierung der Arten und Typen gesellschaftlicher Gesetze (kausaler, funktionaler, struktureller, genetischer) sowie zur Klärung des Wesens u n d der Spezifik des gesellschaftlichen Gesetzes ist von marxistischen Philosophen — 59
60
61 62
Vgl. Popper, Karl Raimund, Das Elend des Historizismus, 2., unveränderte Aufl., Tübingen 1969 (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften. Studien in den Grenzbereichen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, B d 3). Vgl. ebenda, S. 118ff.; vgl. dazu Kon, I. S., Die Geschichtsphilosophie. . ., a. a. O., B d 1, S. 275 ff. Bobinska, Celina, Historiker und historische Wahrheit . . a . a. O., S. 84ff. Vgl. Engelberg, Ernst, Uber Gegenstand und Ziel . . ., a. a. O., S. 1141.
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gerade in der Auseinandersetzung mit bürgerlich-idealistischen Auffassungen — vieles geleistet worden. 63 Der Gesetzesbegriff steht im Zentrum der Auseinandersetzung nicht nur mit der bürgerlich-imperialistischen Philosophie, sondern auch mit der bürgerlichen Geschichtsmethodologie. Auch die Auseinandersetzung mit der auf Max Weber zurückgehenden Typenlehre stellt die marxistisch-leninistische Geschichtsmethodologie vor die Aufgabe, über das bereits Vorliegende hinaus 64 Aussagen über jene Kategorie der Gesetze zu machen, die die Geschichtswissenschaft formuliert, und über die Modifikationen, die das von den systematischen Gesellschaftswissenschaften formulierte Tendenzgesetz bei der Erklärung historischer Ereignisse und Prozesse erfährt. E s wurde — wie oben beschrieben — der Versuch gemacht, die deutsche Kolonialpolitik in ihrer Anfangsphase als imperialistisch zu charakterisieren. Der Fehler bestand nicht darin, Wesensgleichheit zwischen der Kolonialpolitik nach 1900 und der der 80er und 90er Jahre vorauszusetzen, anzunehmen, daß beide Formen gesetzmäßig aus dem kapitalistischen System, aus Konkurrenz und Profitjagd hervorgingen. Der Fehler bestand darin, daß der fest umrissene Begriff der imperialistischen Kolonialpolitik für die Erklärung von Ereignissen und Prozessen verwendet wurde, bei deren Stattfinden die Elemente des neuen, monopolistischen Stadiums des Kapitalismus erst im Entstehen begriffen waren und noch nicht durch ihr Zusammenwirken eine koloniale Expansion um jeden Preis, auch um den Preis internationaler Konflikte erzwangen. Begriff und Theorie der kapitalistischen und imperialistischen Kolonialpolitik standen nicht in Frage und besaßen keineswegs nur heuristische Bedeutung im Sinne bürgerlicher Geschichtsmethodologie. Die zu verifizierende Hypothese besagte, daß die Ursachen der Bismarckschen Kolonialpolitik in ganz bestimmten ökonomischen und daraus ableitbaren sozialen und politischen Momenten zu suchen sind, die eine bestimmte, der imperialistischen vorausgehende Entwicklungsphase des kapitalistischen Systems charakterisieren. Logisches und Historisches bilden im Erkenntnisprozeß eine dialektische Einheit; die Geschichtswissenschaft hat die spezifisch historischen Zusammenhänge, die Gesetze des Werdens zu erforschen. Vom Gesichtspunkt des Logischen — im Sinne der Engeischen Darlegungen über das Verhältnis von logischer und historischer Betrachtungsweise 6 5 — erscheint als Besonderheit der Formulierung des historischen Gesetzes, daß die „konkrete Form, in der sich dieses Gesetz realisiert, d. h. auch die historische Zufälligkeit mit in die Formulierung eingeht". 6 6 E s bestätigt die Bedeutung der am obengenannten Beispiel demonstrierten histori2 63
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65
m
Vgl. Der Gesetzesbegriff in der Philosophie und den Einzelwissenschaften, a. a. O.; Bollhagen, Peter, Gesetzmäßigkeit und Gesellschaft . . ., a. a. O. Vgl. Bollhagen, Peter, Gesetzmäßigkeit und Gesellschalt . . ., a. a. O.; Einführung in das Studium der Geschichte, S. 241 ff. Vgl. Engels, Friedrich, Karl Marx, „Zur Kritik der Politischen Ökonomie" (Rezension), in: MEW, Bd 13, S. 475. Einführung in das Studium der Geschichte, S. 262; vgl. auch S. 241 ff.
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sehen Betrachtungsweise bzw. Erkenntnismethode, daß Lenin in seiner Arbeit „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" die Bedeutung der „alten Motive" der Kolonialpolitik im genetisch-strukturellen Gesamtzusammenhang des Werdens des monopolkapitalistischen Systems unterstreicht. 67 Es erscheint für die marxistisch-leninistische Geschichtsmethodologie notwendig und lohnend, Begriff und Problematik des spezifisch historischen Gesetzes im Lichte neuerer Untersuchungen über den Gesetzesbegriff, den dialektischen Determinismus in der Gesellschaft, das Verhältnis von Notwendigkeit und Zufall noch eingehender zu untersuchen. Der Historiker hat es weder mit dem Zufall noch mit dem Gesetz schlechthin und auch nicht mit dem historischen Gesetz an sich zu tun. Er muß sich fragen, um welche Art, um welchen Typ eines historischen Gesetzes es sich handelt, in Abhängigkeit von Gegenstandsbereich und Fragestellung. Genauigkeit bei der Kennzeichnung des historischen Gesetzes erscheint besonders im Hinblick auf die Beurteilung des Beitrages der Geschichtswissenschaft zur Gesellschaftsprognose und strategisch-taktischen Planung notwendig. Es geht um das Erkennen historischer Möglichkeiten in Gegenwart und Zukunft, aber auch in der Vergangenheit. Ein entwickeltes Alternativdenken auf der Grundlage der materialistischen Widerspruchsdialektik 68 ist eine Grundvoraussetzung dafür. In diesen Zusammenhang gehören auch Überlegungen, die sich an das Verständnis gesellschaftlicher Gesetze als statistischer Gesetze knüpfen. Lassen sich im Ergebnis eingehender, vorwiegend zeitgeschichtlicher Forschungen Aussagen darüber machen, mit welchem Grad von Wahrscheinüchkeit eine als notwendig prognostizierte historische Veränderung früher oder später, hier oder dort eintritt? Zwar läßt sich das Zufällige (als Erscheinungsform des Notwendigen) nur eingrenzen, nicht absolut voraussagen — in welchem Ausmaß lassen sich trotzdem wissenschaftlich begründete Schätzungen abgeben? 69 Lassen sich die Methoden zur Einschätzung der Realisierbarkeit erkannter historischer Möglichkeiten verfeinern? An den Begriff des historischen Gesetzes knüpfen sich eine Vielzahl weiterer Fragen. Wie groß ist der — räumliche und zeitliche — Geltungsbereich der erkannten Zusammenhänge? Um auf das angeführte Beispiel zurückzukommen — gilt der für die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts bewiesene Zusammenhang auch für die Kolonialmächte England und Frankreich? Gilt er für den gleichen Zeitraum, einen früheren oder späteren? Welche Ursache und welche Bedeutung haben solche zeithchen Verschiebungen? Worin liegen — international gesehen — 67
68 69
7
Lenin, W. I., Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß, in: Derselbe, Werke, Bd 23, S. 305. Vgl. Engelberg, Ernst, Über Gegenstand und Ziel . . ., a. a. O. Vgl. Hörz, Herbert, Der dialektische Determinismus in Natur und Gesellschaft, Berlin 1969, S. 96ff. Engelberg, Geschichtsmethodologie
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die Übereinstimmungen, worin die nationalen Besonderheiten? Gibt es eine „klassische" Form dieses Zusammenhanges? E. Engelberg hat auf die Bedeutung des Vergleichs als Vorstufe der Erkenntnis historischer Gesetze hingewiesen. 70 Diese für die Geschichtswissenschaft überhaupt so überaus charakteristische Methode verdient es, in ihrer Struktur und ihrer Anwendung auf spezielle Probleme der geschichtswissenschaftlichen Forschung (Periodisierungsprobleme; Vergleich räumlich oder zeitlich voneinander entfernter analoger Ereignisse oder Prozesse) eingehend untersucht zu werden. 71 In der historischen Darstellung legt der Historiker das Gesamtresultat seiner Forschungen vor. Nur selten allerdings wird er sich darauf beschränken, nur das prinzipiell neue Ergebnis nebst Beweis und Beweismaterial zu vermitteln. Fast immer ist es notwendig, Bekanntes und Neues nebeneinander in dem durch Gegenstand und Problem bestimmten Zusammenhang darzustellen. Da das Problem meist als spezifische Einheit von Erklärungs- und Beschreibungsproblem erscheint (so lautete die vorläufige These), tritt das in der historischen Darstellung, die die Problemlösung enthält, deutlich in Erscheinung. Die Komplexität des Gegenstandes der Geschichtswissenschaft in seiner Dialektik von Objekt und Subjekt, Gesetzmäßigkeit und Zufall, Wesen und Erscheinung, Struktur und Ereignis bleibt erhalten, welcher Ausschnitt auch erfaßt wird, ob es sich um die Darstellung der Geschichte einer Epoche, eines Landes, einer Klasse, eines Ereignisses oder um eine Biographie handelt. Nur auf der Grundlage der Prinzipien des dialektischen und historischen Materialismus, die allerdings nicht erst bei der abschließenden Synthese, sondern in allen Phasen des Forschungsprozesses wirksam sind, ist es möglich, ein adäquates Bild historischer Erscheinungen, Ereignisse und Prozesse zu vermitteln. 72 Jeder Historiker muß sich darüber klar werden, wie er mit seiner Darstellung dem dialektischen Verhältnis von Inhalt, Zweck und Form genügt. V o m Zweck und Ziel geht die Untersuchung des Forschungsweges in der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft aus. Sie sollte deshalb auch einmünden in Erkenntnisse darüber, wie die Darstellung des Resultats dem Zweck am besten gerecht wird. A n eine Überblicksdarstellung, die den Erkenntnisstand auf einem bestimmten Gebiet sachlich wiedergeben soll, sind methodisch andere Anforderungen zu stellen als an eine Darstellung, die pädagogisch-didaktischen und geschichtspropagandistischen Zwecken genügt. Was die Monographie, die 70
71
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Engelberg, Ernst, Über Theorie und Methode in der Geschichtswissenschaft, im vorliegenden Band, S. 11 ff.; derselbe, Zu methodologischen Problemen der Periodisierung der Geschichte des deutschen Volkes, im vorliegenden Band, S. 153. Vgl. Bobitisha, Celina, Historiker und historische Wahrheit. . ., a. a. O., S. 160ff.; Kachk, J., Brauchen wir eine neue Geschichtswissenschaft?, in: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, 1/1970, S. 100; Bensing, Manfred, Probleme . . ., a. a. O., S. 190; Markarjan, E. S., Über die Grundprinzipien der vergleichenden Geschichtsforschung, in: Voprosy istorii, 7/1966 (russisch). Einführung in das Studium der Geschichte, S. 141 ff.; Kon, I. S., Die Geschichtsphilosophie . . ., Bd 2, a. a. O., S. 211 ff.
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wisssenschaftliche Analyse betrifft, so bilden die gesellschaftliche Relevanz ihres Ergebnisses und der Grad der Anwendungsbereitschaft mehr denn je das Qualitätskriterium. Und warum sollten die Ergebnisse von Analysen, die aus den Notwendigkeiten der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus entstanden, nicht polemisch vorgetragen werden? Der Geschichtsmethodologe muß sich hier mehr noch als in anderen Fragen dessen bewußt sein, daß er keine Rezepte geben kann. Festzuhalten ist jedoch, daß auch die Methoden der Darstellung der methodologischen Betrachtung unterliegen. Daß Form und Sprache der historischen Darstellung für ihre gesellschaftliche Wirksamkeit von besonderer Relevanz sind — eine Erfahrung der Gegenwartspraxis und der Geschichte —, wird durch die Ausführungen von G. Klaus und H. Schulze über den pragmatischen Aspekt der Information unterstrichen. 73 Eine Auseinandersetzung mit den Auffassungen von J. G. Droysen über die Darstellungsformen 74 erscheint notwendig und zweckmäßig, weil die bürgerliche westdeutsche Geschichtsmethodologie sie noch immer als maßgeblich betrachtet. 75 Im folgenden sollen einige Hauptgedanken des vorliegenden Aufsatzes zusammengefaßt werden. Auch die marxistisch-leninistische Geschichtsmethodologie geht bei der Formulierung ihrer Aufgaben von den gesellschaftlich-politischen Hauptaufgaben der Gegenwart aus. Sie leistet ihren Beitrag zur Lösung der Probleme, vor denen die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft und die marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften insgesamt stehen. Den spezifischen Forschungsgegenstand der marxistisch-leninistischen Geschichtsmethodologie bildet der gesamte Prozeß der geschichtswissenschaftlichen Forschung, die Struktur des Methodensystems. Der Dialektik des Logischen und Historischen folgend, muß das Studium der Wissenschaftsgeschichte 76 die systematische Analyse der geschichtswissenschaftlichen Forschungswege ergänzen. Darin eingeschlossen ist die Aufgabe, die historischen, sozialen, politischen, philosophisch-weltanschaulichen und wissenschaftlichen Voraussetzungen der Geschichtsforschung in ihrem dialektischen Zusammenhang mit der Methodik zu untersuchen. Die umfassende Klärung der Frage nach dem Verhältnis von dialektisch-materialistischer und einzelwissenschaftlicher Methode bildet die gegenwärtige Hauptaufgabe der marxistisch-leninistischen Geschichtsmethodologie. Davon ausgehend seien die folgenden Forschungskomplexe aus dem umfangreichen, ja kaum überschaubaren Problembereich der Geschichtsmethodologie wegen ihrer gegenwärtigen Bedeutung besonders herausgehoben: 73
74 75 76
7*
Klaus, Georg, Die Macht des Wortes, 5., Überarb. und erweiterte Aufl., Berlin 1969; Klaus GeorgI Schulze, Hans, Sinn, Gesetz, Fortschritt . . . , & . a. O., S. 50ff. Droysen, Johann Gustav, Historik . . ., a. a. O., S. 271 ff. Vgl. Fischer-Lexikon, Geschichte, S. 61 ff. Vgl. Berthold, Werner, Zur geschichtstheoretisch-methodologischen Bedeutung der Geschichte der Geschichtsschreibung und des historisch-politischen Denkens, in: ZfG, 1/1966, S. 98ff.
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1. die geschichtsmethodologische Auswertung des Gesamtwerkes der Klassiker des Marxismus-Leninismus77; 2. die Untersuchung der Stellung der Geschichtswissenschaft im System der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften und des Problems der Interaktion der Methoden, der Nutzung „fachfremder" Methoden in der Geschichtsforschung ; 3. die Untersuchung noch unausgeschöpfter Möglichkeiten bei der methodischen Anwendung der Prinzipien und Kategorien der materialistischen Dialektik. Einige allgemeine Bemerkungen zu diesem letzten Punkt: Die bewußte Anwendung der materialistischen Dialektik in der Geschichtsforschung muß als Hauptziel methodologischer Bemühungen um die Lösung der Hauptaufgaben der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft in der Gegenwart festgehalten werden. Bewußte Anwendung setzt Klarheit über den eigentlichen Platz der philosophischen dialektischen Methode im Prozeß der geschichtswissenschaftlichen Forschung voraus. „Die Gesetze der materialistischen Dialektik", schreibt der sowjetische Philosoph P. V. Kopnin, „widerspiegeln die allgemeinen Bewegungsgesetze der objektiven Welt. Kraft dessen begreift das Denken, wenn es den sich aus ihnen ergebenden Regeln folgt, in seinen Begriffen und Theorien das Objekt so, wie es außerhalb der Abhängigkeit vom erkennenden Subjekt existiert. Die marxistische philosophische Methode leitet die Wissenschaft bei der Erkenntnis des Objekts nach den Gesetzen des Objekts selbst." 78 Damit ist die entscheidende forschungsorientierende Funktion der dialektischen Methode sehr gut charakterisiert. Ihr Wert liegt in ihrer wissenschaftlichen Universalität, doch sie ist keine Universalmethode, die jede beliebige andere Erkenntnismethode ersetzen könnte. „Als Methode", schreibt Kopnin, „ist sie (die materialistische Dialektik — d. Verf.) darauf ausgerichtet, die objektive Realität in ihrer gesamten Konkretheit und Vielfältigkeit der Äußerungen zu erfassen. Dadurch weist sie jeder beliebigen wissenschaftlichen Methode den Platz in dem Prozeß an, die Theorie einer beliebigen konkreten Wissenschaft aufzubauen und zu entwickeln. Sie befreit sie von der Einseitigkeit und dem Anspruch auf Absolutheit." 79 J e allgemeiner das Wissen, desto universeller ist es methodisch anwendbar. Jedem marxistischen Historiker ist sicherlich klar, daß sich die Leistung der materialistischen dialektischen Methode nicht in der Schaffung des Kategoriensystems des historischen Materialismus erschöpft hat. Sie bildet eine noch immer unausgeschöpfte Reserve neuer Erkenntnismöglichkeiten, eine fortwährende positive Anregung problemlösenden Denkens. Für den Historiker stellt sie den Schlüssel dar, der ihm den Zugang zur wissenschaftlichen Erklärung der realen Vielfalt der historischen Welt öffnet. Über den wichtigen zeitgeschichtlichen Aspekt vgl. Bensing, Manfred, Probleme . . ., a. a. O. 78 Logik der wissenschaftlichen Forschung, a. a. O., S. 395 f. '9 Kopnin, P. V., Dialektik — Logik — Erkenntnistheorie . . ., a. a. O., S. 71.
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E. Engelberg hat demonstriert 80 , in welchem Maße eine konsequente dialektische Betrachtung und Analyse der Kategorien des historischen Materialismus (Produktivkräfte, Klassen, Staat usw.) Erkenntnisse zu stimulieren, Methoden zu präzisieren und die Forschung zu orientieren vermag. In die Kategorie Produktivkräfte sind, resultierend aus der gesellschaftlichen Praxis der Gegenwart, vorher weniger beachtete Merkmale eingegangen (Wissenschaft, Organisation, Kulturniveau usw.), die den schöpferischen Menschen wieder deutlich im Mittelpunkt der Produktion zeigen. Zugleich wurden die Rückwirkungen bestimmter Bereiche des Überbaus auf die Entwicklung der Produktivkräfte stärker deutlich (Wirtschaftspolitik, Volksbildung, ethische Normen). Diese Erkenntnisse können und müssen — bei Berücksichtigung der qualitativen Unterschiede — auch auf die Erforschung der Geschichte der Produktivkräfte angewendet werden. Die dialektische Betrachtung lehrt die Produktivkräfte nicht nur als homogenes Element der Produktionsweise, sondern als relativ selbständiges, in sich strukturiertes System erkennen, dessen innere Dialektik es zu analysieren gilt, wenn die Triebkräfte seiner Selbstbewegung verstanden werden sollen. Die Arbeit mit den allgemeinen Kategorien der materialistischen Dialektik sollte für den marxistischen Historiker ebenso zur Selbstverständlichkeit werden, wie es die methodologische Anwendung der Prinzipien und Kategorien der marxistischen Gesellschaftstheorie schon heute ist. Die materialistische Dialektik ist sowohl als Theorie der objektiven Dialektik, d. h. als Wissenschaft von den allgemeinsten Entwicklungs- und Strukturgesetzen der objektiven Welt (der Gesellschaft), als auch als Theorie der subjektiven Dialektik, d. h. als Erkenntnistheorie, dialektische und formale Logik, für die wissenschaftliche Forschung von grundlegender Bedeutung. Der Historiker muß deshalb nicht nur aus der Praxis der Klassiker lernen, untersuchen, wie sie die selbstgeschaffene Methode anwandten, sondern er muß auch ihre Aussagen zur Erkenntnistheorie, Logik und Wissenschaftsmethodologie gründlich studieren und die Weiterentwicklung dieser philosophischen Teildisziplinen in der Gegenwart verfolgen. Die Bemühungen der marxistisch-leninistischen Philosophie auf erkenntnistheoretischem und wissenschaftsmethodologischem Gebiet haben gerade heute — aus den bereits erwähnten gesellschaftlich-wissenschaftlichen Ursachen — eine besondere Intensität erreicht. Abschließend soll versucht werden, eine vorläufige Definition der marxistischleninistischen Geschichtsmethodologie zu formulieren: Die marxistisch-leninistische Geschichtsmethodologie ist die Theorie der in der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft angewandten Methoden im Hinblick auf die Voraussetzungen und die Spezifik ihrer Anwendung in diesem Fach. Sie analysiert das Zusammenwirken der Methoden, die Methodenstruktur der geschichtswissenschaftlichen Forschung, vor allem in ihrem Zusammenhang mit der dialektisch-materialistischen Methode. Sie untersucht den Umschlag von Theorie in Methode, erforscht und beschreibt die Dialektik der Strukturelemente fi
° Vgl. Engelberg, Ernst, Über Gegenstand und Ziel . . ., a. a. O.
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der Geschichtsforschung. Auf der erkenntnis-theoretischen Grundlage des dialektischen Materialismus, in Kenntnis der Besonderheiten des Gegenstandes und der Aufgaben der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft scheidet sie unwissenschaftliche, nichtadäquate Forschungsmethoden aus, während sie wissenschaftliche präzisiert und deren Anwendungsbereich bestimmt. Sie verweist auf noch ungenutzte Möglichkeiten der methodischen Anwendung schon vorhandenen, jedoch noch nicht aktivierten Wissens, die vor allem in den Gesetzen und Kategorien der materialistischen Dialektik und in den neuen Erkenntnissen und Methoden der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften liegen. Damit fördert sie die interdisziplinäre Zusammenarbeit der Gesellschaftswissenschaften, die für die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der D D R von wesentlicher Bedeutung ist. So liefert sie zugleich Mittel für eine effektive Gestaltung und eine ständige Weiterentwicklung der geschichtswissenschaftlichen Forschung. Die Gewinnung und Vermittlung methodentheoretischer Kenntnisse, die letztlich in einer modernen Methodik der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft systematisiert werden müssen, tragen zur Qualifizierung der Tätigkeit des einzelnen Forschers und der kollektiven Forschung bei. Die Zuversicht der marxistisch-leninistischen Geschichtsmethodologie, Wesentliches zur Geschichtsforschung beitragen zu können, gründet sich auf die Tatsache, daß ihr mit dem dialektischen und historischen Materialismus ein sicheres Wissen um die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Veränderungen zu Gebote steht, die sich gerade heute in so raschem Tempo vollziehen. Die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft verfügt damit über einen „theoretischen Vorlauf", den richtig zu nutzen angesichts der Relevanz und Schärfe der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Imperialismus und Sozialismus notwendig und dringlich ist.
Gerhard, Brendler
Zur Rolle der Parteilichkeit im Erkenntnisprozeß des Historikers
Das Verhältnis von Parteilichkeit und Objektivität gehört ganz zweifellos zu den Grundproblemen des Geschichtsdenkens in unserer Epoche. In ihm widerspiegelt sich die Frage nach der mittelbaren oder unmittelbaren Anwendung geschichtlichen Wissens in den Klassenkämpfen, nach dem Verhältnis von Politik und Wissenschaft und in engem Zusammenhang damit nach der Möglichkeit, objektive Wahrheit über Verlauf und Entwicklungstendenzen der Geschichte aufzudecken. Es ist gleichsam jener theoretische und zugleich politisch-ideologische Brennpunkt der Geschichtsmethodologie, in dem Weltanschauung und Fachmethodik, Ideologie und Erkenntnistheorie, historisch-politische Konzeption, Geschichtsbild und Geschichtsbewußtsein aufeinandertreffen und von wo aus eine Geschichtsschreibung durchschaubar wird; eine Frage, die deshalb auch immer wieder im Mittelpunkt des Parteienkampfes in der Philosophie steht. Seit Rankes berühmt-berüchtigter Formel, der Historiker habe nur zu zeigen, wie es eigentlich gewesen sei — eine Forderung, die ihren Urheber niemals von parteilicher Geschichtsinterpretation abgehalten hat —, ist viel Wasser die Elbe hinabgeflossen. Es findet sich wohl heute kaum noch jemand, der der einstigen Kanonisierung dieses Prinzips vorbehaltlos zustimmte, ohne Skrupel angemeldet zu haben. Daß im Gegenteil die Wissenschaft im allgemeinen und die Geschichtswissenschaft im besonderen nicht voraussetzungslos betrieben werden könne, wohl aber sich von Vorurteilen frei zu halten habe, ist vielmehr zu einem Gemeinplatz geworden, der jedoch gerade wegen seiner Allgemeinheit leicht akzeptiert wird und verschiedene Deutungen offenläßt. Unter dem Druck der Konfrontation mit dem Marxismus-Leninismus strebt der westdeutsche Imperialismus danach, die Potenzen der Geschichtswissenschaft zur ideologischen Stabilisierung seines Systems verstärkt zu mobilisieren. Er sieht sich immer unausweichlicher vor die Notwendigkeit gestellt, die historische Wirklichkeit nach Möglichkeiten eines Ausweges abzutasten. Damit wächst für die bürgerlichen Historiker das Dilemma zwischen der Suche nach objektiver geschichtlicher Wahrheit und den ideologischen Bedürfnissen der spätkapitalistischen Gesellschaft, die über die Verwendung ihrer Forschungsergebnisse verfügt. Neben und nach der Losung der „Entideologisierung" wird eine „Pro-Ideologie" gefordert zur Schaffung eines imperialistischen Perspektiv-
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bewußtseins, vor allem in Gestalt der Theorie der modernen Industriegesellschaft, der Konvergenz- und Evolutionstheorie sowie der Futurologie. Werturteilsfreiheit wird unter diesen Bedingungen als methodologisches Prinzip auch für antileninistisches Denken immer fragwürdiger. Innerhalb der theoretisch-ideologischen Rollenverteilung wird diesem neukantianischen Prinzip zwar noch Reverenz erwiesen, und es wird der marxistisch-leninistischen Parteilichkeit polemisch entgegengehalten, doch mehren sich die Stimmen, die seine Gültigkeit bestreiten. 1 Damit ist jedoch keineswegs gesagt, daß sich hinsichtlich der Problematik „Parteilichkeit — Objektivität" etwa eine Annäherung bürgerlichen Geschichtsdenkens an den historischen Materialismus vollzieht. Was sich in dieser Beziehung andeutet, ist vielmehr eine scharfe Konturierung der völlig entgegengesetzten Begriffe und Auffassungen von Parteilichkeit und Wissenschaft. Der Marxismus-Leninismus versteht unter Parteilichkeit eine politische Kategorie, die ein klassenbezogenes Verhalten bezeichnet, das sich in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen des Denkens, Handelns und Fühlens bemerkbar macht und sich auch auf die Wissenschaft erstreckt. In den Wissenschaften erfüllt sie neben ihrer allgemeinen politischen eine spezifische methodologische Funktion. Parteilichkeit ist, kurz gesagt, konzentrierter Ausdruck des Klassenbewußtseins. 2 Die marxistisch-leninistische Parteilichkeit unterscheidet sich von der bürgerlichen — abgesehen von ihrem entgegengesetzten Klasseninhalt — auch durch ihre Offenheit, wie dies bereits im Gründungsdokument des wissenschaftlichen Kommunismus, dem „Manifest der Kommunistischen Partei", zum Ausdruck k o m m t : „Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu 1 Krämer, Horst, Wissenschaft und Parteilichkeit, in: Sozialismus und Ideologie, hg. v. Werner Müller, Berlin 1969, S. 186fif.; Hahn, Erich, Ideologie. Zur Auseinandersetzung zwischen marxistischer und bürgerlicher Ideologietheorie. Eine Betrachtung zum XIV. Internationalen Kongreß für Philosophie 1968, Berlin 1969, S. 114ff. 2 Definitionen der Parteilichkeit geben: Engelberg, Emst, Parteilichkeit und Objektivität in der Geschichtswissenschaft, in: ZfG, Jg. 17, 1,2/1969, S. 74—79; Kramer, Horst, Wissenschaft und Parteilichkeit . . ., a. a. O., S. 191; Schliwa, Harald, Der marxistisch-leninistische Begriff der Ideologie und Wesen und Funktionen der sozialistischen Ideologie, in: Sozialismus und Ideologie, a. a. O., S. 139; Die Wissenschaft von der Wissenschaft. Philosophische Probleme der Wissenschaftstheorie. Gemeinschaftsarbeit eines Kollektivs am Institut für Philosophie der Karl-MarxUniversität Leipzig, Berlin 1968, S. 294; Klaus, Georg, Die Macht des Wortes, Berlin 1964, S. 96; Kon, I. S., Die Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts. Kritischer Abriß, Bd 2, Berlin 1964, S. 132; Bauer, Adolf I Eichhorn I, Wolf gang, u. a., Philosophie und Prognostik. Weltanschauliche und methodologische Probleme der Gesellschaftsprognose, Berlin 1968, S. 62f.; Philosophisches Wörterbuch, Bd 2; Wörterbuch Soziologie-, Heyden, Günter, Marxistisch-leninistische Parteilichkeit und ideologischer Klassenkampf, in: Lenin und die marxistische Philosophie in unserer Zeit. Zum 100. Geburtstag von W. I. Lenin, DZfPh, Sonderheft 1970, S. 123.
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verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euchl"3 Die bürgerliche Parteilichkeit hingegen ist gezwungen, sich als neutral, objektiv und über den Klassen stehend zu tarnen. Den Unterschied von Objektivismus und streitbarem Materialismus hat Lenin in „Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung" klassisch formuliert: „Der Objektivist spricht von der Notwendigkeit des gegebenen historischen Prozesses; der Materialist trifft genaue Feststellungen über die gegebene sozialökonomische Formation und die von ihr erzeugten antagonistischen Verhältnisse. Wenn der Objektivist die Notwendigkeit einer gegebenen Reihe von Tatsachen nachweist, so läuft er stets Gefahr, auf den Standpunkt eines Apologeten dieser Tatsachen zu geraten; der Materialist enthüllt die Klassengegensätze und legt damit seinen Standpunkt fest. Der Objektivist spricht von .unüberwindlichen geschichtlichen Tendenzen'; der Materialist spricht von der Klasse, die die gegebene Wirtschaftsordnung .dirigiert", und dabei in diesen oder jenen Formen Gegenwirkungen der anderen Klassen hervorruft. Auf diese Weise ist der Materialist einerseits folgerichtiger als der Objektivist und führt seinen Objektivismus gründlicher, vollständiger durch. E r begnügt sich nicht mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit des Prozesses, sondern klärt, welche sozialökonomische Formation diesem Prozeß seinen Inhalt gibt, welche Klasse diese Notwendigkeit festgelegt . . . Anderseits schließt der Materialismus sozusagen Parteilichkeit in sich ein, da er dazu verpflichtet ist, bei jeder Bewertung eines Ereignisses direkt und offen den Standpunkt einer bestimmten Gesellschaftsgruppe einzunehmen." 4 Der Historiker ist als erkennendes Subjekt an die Denkvoraussetzungen seiner Zeit gebunden, vor allem hinsichtlich der Fragestellung, mit der er an seinen Untersuchungsgegenstand herantritt. Das ist allgemein anerkannt. So schreibt Theodor Schieder: „Subjektiv ist das historische Fragen nun dadurch, daß es stets den Ansatz des betrachtenden, forschenden Subjekts mitbringt, oder anders ausgedrückt: eine Standortbestimmung eines Subjekts zu einem Objekt enthält. Es ist stets zwischen die beiden Pole der Orientierung an der jeweiligen Geschichtszeit des Handelnden und der Nachdeutung in der Geschichtszeit des Darstellenden gestellt. Es gibt darum kein endgültiges Bild der Geschichte, sondern immer nur ein stets wechselndes . . ,". 5 Diese Äußerung ist insofern bemerkenswert, als es sich hier um ein typisches bürgerliches Reflektieren über die SubjektObjekt-Relation im Erkenntnisprozeß des Historikers handelt; ein Reflek3
Marx, Karl ¡Engels, Friedrich, Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW, Bd 4, S. 493. ''Lenin, W.I., Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung, in: Derselbe, Werke, Bd 1, S. 414. 5 Schieder, Theodor, Geschichte als Wissenschaft. Eine Einführung, 2., veränd. Aufl., München-Wien 1968, S. 36.
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tieren, das theoretisch im subjektiven Idealismus steckenbleibt. Der Weg vom Subjekt zum Objekt, von der „Meinung" zur Wahrheit bleibt hier verbaut, weil die Subjekt-Objekt-Beziehung als ein rein kontemplatives, wenn auch mit emotionalen Elementen durchsetztes und durchaus nicht sine ira et studio zu betreibendes Verhältnis verstanden wird, ganz zu schweigen von den sozialen Erkenntnisschranken, die sich bei einem führenden Ideologen des westdeutschen Imperialismus im theoretischen Denken auswirken. Als einzigen Ausweg verweist Schieder auf die „rationale Kontrolle" 6, unter der der Historiker seine Wertungen halten müsse. Ein vom Erkennenden unabhängiges Wahrheitskriterium, das auch fähig wäre, die „Wertungen" zu kontrollieren, gibt er nicht an. So dreht sich diese theoretische Bemühung im Kreise. Das auf Wahrheitssuche ausgezogene Subjekt wird immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen, und es bleibt ihm nur die vage Hoffnung auf den Willen „zu etwas Umfassenderem, Ganzem . . . " 7 Gegen die bewußte Parteilichkeit des Marxismus-Leninismus führt Schieder die „wertfreie Ideologieforschung" der Wissenssoziologie ins Feld. Freilich bleibt hier alles bei einer Spiegelfechterei: Zuerst zeichnet er eine Karikatur der marxistischen Lehre von Ideologie und Überbau, um zu diesem Zerrbild ironisch dann festzustellen: „Ideologie ist also Denken als Funktion einer sozialen Lage. Das Merkwürdige daran wird nur dieses, daß die Interessengebundenheit des Proletariats, weil sie im Sinne eines dialektisch verstandenen Fortschritts steht, bejaht und ihr das Recht, ja die Pflicht der Parteilichkeit zuerkannt wird, während die Parteilichkeit bourgeoisen Denkens auch moralisch vernichtet wird." 4 8 Es hätte keine Not, sich hierbei aufzuhalten, läge darin nicht Methode und käme darin nicht in geradezu klassischer Weise die Einheit von reaktionärer Parteilichkeit und theoretischer Ausweglosigkeit in den Grundfragen der Geschichtsmethodologie zum Ausdruck. Die dem Marxismus vorgeworfene moralische Vernichtung bourgeoisen Denkens trifft nicht das Wesen der Sache. Dem historischen Materialismus geht es nicht um die moralische Diffamierung der „Parteilichkeit bourgeoisen Denkens", sondern um den Nachweis ihrer klassenmäßigen und erkenntnistheoretischen Wurzeln sowie ihrer politisch-ideologischen Funktion. Dabei spielt es gar keine Rolle, ob der konkrete individuelle Träger dieser reaktionären Parteilichkeit im übrigen eine moralisch integre Person ist oder nicht. Das Problem besteht ja vielmehr gerade darin, daß eine gegen den Fortschritt, d. h. in unserer Zeit konkret gegen den real existierenden Sozialismus, gerichtete Parteilichkeit auch bei subjektiv ehrlichem Bemühen des an sie gebundenen Historikers, also unter Ausschaltung bewußter Lüge und Fälschung, kraft des inneren Zusammenhanges von parteilichem Erkenntnisziel und Erkenntnisweg ein Geschichtsbild intendiert, das in bestimmtem Maße den objektiven Gesetzmäßigkeiten widerspricht und in diesem Sinne falsch und unwahr ist. 6 7 8
Ebenda, S. 61. Ebenda. Ebenda, S. 56.
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Die bürgerliche Wissenssoziologie, die sich mit ihren Reduktionen ideologischer Phänomene auf soziale Interessenlagen als „Enthüllungshistorie" betätigt (mag sie dies auch durch die objektivistische Floskel der Wertfreiheit zu bemänteln versuchen), ist methodologisch völlig ungeeignet, die Subjekt-Objekt-Dialektik im Erkenntnisprozeß zu bewältigen und die Funktion der Parteilichkeit in diesem Zusammenhang zu erklären. Sie ist nur in der Lage, allgemeinste funktionale Beziehungen zwischen sozialen Interessenlagen und gesellschaftspolitischen Ideen zu konstatieren und Bewußtseinsstrukturen zu beschreiben. Über eine skeptische Relativierung aller geschichtlichen Erkenntnis gelangt sie jedoch nicht hinaus. I m Gegenwurf zum historischen Materialismus entstanden, erschöpft sich ihr theoretischer Gehalt in Relativismus, der die Krise des spätbürgerlichen Geschichtsdenkens repräsentiert und zugleich agnostizistisch vertieft. Mit den wissenssoziologischen Explorationen hat die marxistische Ideologietheorie nichts gemein. Sie begnügt sich nicht mit der Konstruktion eines sozialen Funktionsschemas der Bewußtseinsinhalte, reduziert sich auch nicht auf die Gleichsetzung von Ideologie und wertend-normativen Elementen des Denkens, sondern deckt vor allem den Abbildcharakter der Ideologie 9 als einer Form des Bewußtseins auf. Wird Ideologie lediglich von der funktionalen Seite her gefaßt, dann verschwindet damit der prinzipielle, qualitative Unterschied von bürgerlicher und sozialistischer Ideologie, verflüchtigt sich gleichsam in ein abstraktes, klassenunabhängiges Strukturschema funktioneller Abläufe von Bewußtseinsprozessen. Die für den Positivismus typische Trennung von Wissenschaft und Ideologie wird dann auch auf die marxistische Ideologie übertragen, deren Wissenschaftlichkeit damit negiert wird und gegen die dann hämisch genug funktionaler „Ideologieverdacht" erhoben werden kann als zeit- oder unzeitgemäße Form eines falschen Bewußtseins, nicht ohne dabei genüßlich die „Deutsche Ideologie" zu zitieren, wo Marx und Engels den Begriff Ideologie durchweg zur Bezeichnung eines verkehrten und illusionären Bewußtseins verwenden, dessen Analyse ja ihre Schrift gewidmet war. Jede rein funktionale und unkritisch kybernetisierende Betrachtung des sozialistischen Bewußtseins, zumal der marxistisch-leninistischen Ideologie als ihres Kernstücks, läuft Gefahr, dem Positivismus aufzusitzen, und entwaffnet sich vor dem Zugriff der Wissenssoziologie, deren diesbezügliche Absicht Karl Mannheim eindeutig formulierte: „Es ist zunächst leicht aufweisbar, daß der sozialistischkommunistisch Denkende das Ideologische im politischen Denken nur beim Gegner beobachtet, während sein eigenes Denken für ihn unbestritten als ein Überideologisches gilt. Der Soziologe hat keine Veranlassung, die durch den Marxismus gewonnene Einsicht nicht auch auf den Marxismus anzuwenden und auch hier von Fall zu Fall den ideologischen Charakter zu beleuchten." 10 9 10
Hahn, Erich, Ideologie . . ., a. a. O., S. 118. Mannheim, Karl, Ideologie und Utopie, Frankfurt/M. 1952, S. 109.
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Die sozialistische Ideologie beruht auf dem Marxismus-Leninismus, einer Wissenschaft, darin liegen ihre Besonderheit und die Quelle ihrer prinzipiellen Überlegenheit, die sie weit über das Maß einer funktionalen Gleichsetzung mit bürgerlichen Ideologien hinaushebt; einer funktionalen Gleichsetzung, die den Unterschied gewissermaßen nur noch im entgegengesetzten Vorzeichen gelten läßt, damit aber den „schlechten Ideologiecharakter" der verglichenen Erscheinungen als falsches Bewußtsein nur noch deutlicher hervorhebt. Nun kann man freilich der bürgerlichen Geschichtsschreibung auch in ihrer Eigenschaft als Ideologieproduzent und geistiger Wegbereiter imperialistischer Regierungsstrategien nicht schlechtweg Elemente der Wissenschaftlichkeit absprechen und sie dadurch verniedlichen. Ihr Auftrag besteht ja gerade darin, soviel wie möglich Wissen einzubringen, um die Überlebenschancen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu erhöhen. Die differentia specifica schiebt sich damit in den Wissenschaftsbegriff hinein und tritt im unterschiedlichen gesellschaftlichen Charakter der Wissenschaften zutage. Es ist nicht einerlei, ob eine Ideologie sich mit Elementen von Wissenschaft drapiert, um damit größere Attraktivität zu erlangen und mit dem Schein wissenschaftlicher Solidität dem Adressaten einen nichtsozialistischen Ausweg aus der Krise des Imperialismus zu suggerieren, oder ob eine Ideologie faktisch deckungsgleich ist mit einer Wissenschaft, die den Menschen eine einheitliche und in sich geschlossene Weltanschauung vermittelt und die ihre Bewährungsprobe in der revolutionären Praxis bestanden hat. Eine solche Wissenschaft ist der Marxismus-Leninismus mit seiner theoretischen Grundlage, dem dialektischen und historischen Materialismus. „Die unwiderstehliche Anziehungskraft, die diese Theorie auf die Sozialisten aller Länder ausübt, besteht gerade darin", schrieb Lenin, „daß sie (als das letzte Wort der Gesellschaftswissenschaft) strenge und höchste Wissenschaftlichkeit mit revolutionärem Geist vereint, und zwar nicht zufällig, nicht nur deshalb, weil der Begründer der Doktrin persönlich die Eigenschaften eines Gelehrten und eines Revolutionärs in sich vereinte, sondern weil sie diese in der Theorie selbst innerlich und untrennbar vereint. In der Tat, als Aufgabe der Theorie, als Ziel der Wissenschaft wird hier direkt die Unterstützung der Klasse der Unterdrückten in ihrem ökonomischen Kampf gestellt, wie er sich in der Wirklichkeit vollzieht." 1 1 Daß Wissenschaft nicht als Selbstzweck zu betreiben ist, daß sie sowohl als System von Erkenntnissen wie auch insbesondere als soziale Institution aufs engste mit der gesamten Gesellschaft verbunden ist, in deren Auftrag und Interesse sie wirkt, ist eine so elementare Tatsache, daß die Existenz von Parteilichkeit im Entstehungs- und Wirkungszusammenhang der Wissenschaft auch von bürgerlichen Wissenschaftstheoretikern kaum noch ernsthaft bestritten wird. Die Kontroversen verlagern sich in diesem Zusammenhang immer mehr auf die Frage, ob die sozialen Voraussetzungen des Wissenschaftsbetriebes und die sich daraus ergebenden Werthaltungen der Wissenschaftler auch in den BegrünJ
f Lenin, W. / . , Was sind die „Volksfreunde" und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?, in: Derselbe, Werke, Bd 1, S. 333/334.
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dungszusammenhang der Wissenschaft eingehen, d. h. ob sich diese Faktoren unmittelbar auf den Prozeß der Erkenntnisgewinnung auswirken. 12 Die SubjektObjekt-Dialektik im Erkenntnisprozeß steht also zur Debatte, die sich gerade für den Historiker wie für jeden Gesellschaftswissenschaftler mit äußerster Schärfe stellt und unmittelbar mit seiner praktisch-politischen Haltung zusammenhängt. Der Historiker kann seinen Untersuchungsgegenstand nicht experimentell verändern, um ihn dadurch tiefer zu erfassen und zu neuen Aussagen zu veranlassen; er kann ihn nur mehr oder minder getreu gedanklich reproduzieren. Als vergangenes Geschehen ist die Geschichte abgeschlossen, unveränderbar und auch in ihrer Konkretheit nicht wiederholbar. Einmal geschehene Ereignisse können nicht ausgelöscht und ungeschehen gemacht werden, was jedoch nicht bedeutet, daß wir deren eventuell bis in die Gegenwart nachwirkenden Folgen hilflos gegenüberstehen: Wir können sie durch Arbeit, Kampf und politische Entscheidungen beeinflussen. Darin besteht ja gerade der Sinn geschichtlicher Lehren, und jeglicher Fatalismus ist dem marxistischen Geschichtsverständnis fremd. Und doch entzieht die Nichtumkehrbarkeit der Zeit den Forschungsgegenstand des Historikers aufs gründlichste dem experimentellen Eingriff. Das, was erkannt werden soll, ist nicht mehr vorhanden; es muß erst durch den Historiker zu neuem ideellen Leben erweckt werden. In diesem Umstandliegt eine der erkenntnismäßigen Wurzeln des subjektiven Idealismus in der Geschichtsschreibung, der im Räsonnement bürgerlicher Geschichtsdenker über diesen Gegenstand immer wieder zum Vorschein kommt, wenn er sich auch nicht immer gleich bis zu Benedetto Croces Behauptung versteigen muß, Geschichte existiere nur in dem Maße, in dem es ein Bewußtsein von ihr gebe. Skepsis und Zweifel daran, überhaupt jemals gesicherte Kenntnisse über vergangenes Geschehen, objektive Wahrheit, die über die Feststellung von Banalitäten hinausginge, erlangen zu können, siedeln sich in dieser Problematik an. Es handelt sich um eine echte Schwierigkeit, deren theoretischer Kern im richtigen Erfassen der aktiven Rolle der Subjektivität im Erkenntnisprozeß besteht. Der Historiker ist also dem Verdacht ausgesetzt, entweder opportunistischer Rechtfertiger des Faktischen in der Geschichte zu sein oder aber seine eigenen subjektiven Ansichten und Werturteile, die er der Verwurzelung in seiner eigenen Gegenwart, aus der er ja beim besten oder schlechtesten Willen nicht herausspringen kann, bzw. seiner sozialen Interessenlage verdankt, in seinen Untersuchungsgegenstand hineinzuprojizieren; Gegenwärtiges in Vergangenes hineinzudeuten, zu modernisieren oder aber die Geschichte auf Grund seiner nicht abschüttelbaren Subjektivität schlicht und einfach zu verfälschen. Zunächst sei festgehalten, daß dieses Lamento nichtmarxistischer Geschichtstheoretiker — stehendes Repertoire und obligates Thema in „Einführungen" und „Betrachtungen" — fast durchweg daran krankt, daß die Erkenntnis vorwiegend kontemplativ und individuell, nicht aber als aktiver sozialer Prozeß aufgefaßt i2 Kramer, Horst, Wissenschaft und Parteilichkeit . . ., a. a. O., S. 187 ff.
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wird. Das verbaut auch das Verständnis für die Bedeutung der gesellschaftlichen Praxis, die zwar als Entstehungs- und Herkunftsbereich für die Fragestellung in den Blick tritt, nicht jedoch als Uberprüfungsfeld für die Stichhaltigkeit der gewonnenen Resultate. Aus der gesellschaftlichen Praxis und ihren vielfältigen Problemlagen herkommend, sind die Fragen, mit denen der Historiker an seinen Untersuchungsgegenstand herantritt und ihn sich zum Objekt der Erkenntnis macht, in ihren wesentlichen Bezügen parteilich. Sofern es sich nicht um akademische Scheinprobleme handelt, bezwecken die Fragen Informationsgewinnung über die historischen Wirkungsbedingungen jenes kollektiven Subjekts der Geschichte (Gruppe, Schicht, Klasse, Nation, Staat), denen sich das erkennende Subjekt verpflichtet fühlt bzw. von dem es konkret-historisch in Erkenntniswillen und -fähigkeit determiniert wird. Sinn der Informationsverarbeitung ist die möglichst exakte Abbildung des Objekts bzw. des Objektbereiches in Gestalt eines „inneren Modells" im Subjekt als Voraussetzung für erfolgreiches Einwirken auf das Objekt. Natürlich kommt nicht jede einzelne Frage unmittelbar aus der Praxis, sondern oft entstammen die Fragen auch Problemen, die sich aus der relativ selbständigen Bewegung und Entwicklung von Wissenschaft und Erkenntnis ergeben. Der Zusammenhang mit der Praxis ist dann ein indirekter, über mehrere Abstraktionsstufen vermittelter, eben ein theoretischer. Wesentliche Fragen bringen echte Orientierungsbedürfnisse des geschichtlich handelnden Subjekts zum Ausdruck. Sie bestimmen die Themenwahl, legen also fest, welcher Objektbereich vordringlich zu analysieren ist, und begründen damit im besten Sinne des Wortes die Aktualität eines Themas. Bei der Themenwahl bereits tritt also Parteilichkeit im Erkenntnisprozeß schon zum erstenmal in Aktion; hier ist sie eindeutig das bestimmende Moment. Damit ist aber ihre Rolle nicht erschöpft: Über die Methodenwahl wirkt sie weiter in die Problembearbeitung hinein, und zwar zumindest in dem Sinne, daß zwischen dem genau umgrenzten, zu untersuchenden Objektbereich und der an ihn herangetragenen Fragestellung ein Zusammenhang methodischer Art besteht. Die Wahl der Methode darf kein reiner Willkürakt sein, wenn sie das Erkenntnisziel erreichen will. Genaugenommen geht es demnach nicht um Methodenwahl, sondern um Methodenfindung; denn bei der Problembearbeitung bildet die Methode das vermittelnde Glied zwischen der Erkenntnisabsicht des Subjekts und dem Objekt. Sie muß sowohl objektgerecht sein, d. h. die Fähigkeit besitzen, das Objekt zum Sprechen zu bringen, wie sie gleichzeitig auch subjektgerecht sein muß, also dem spezifischen Erkenntnisziel des Subjekts entsprechend. Will ich also z. B . den Klasseninhalt einer bestimmten Erscheinung erkunden, dann wird eine Methode, die von vornherein kraft ihrer spezifischen Abstraktionsweise von den Klassenbeziehungen oder überhaupt von jeglichen konkreten inhaltlichen Bestimmungen — wie die Kybernetik — absieht, das Objekt zwar hinsichtlich der diesen Methoden gemäßen sonstigen wichtigen Eigenschaften abbilden, jedoch hinsichtlich der im angenommenen Falle interessierenden Eigenschaften wird das Objekt die Auskunft verweigern.
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Als methodologisches Prinzip erfordert die Parteilichkeit also in der Phase der Problembearbeitung vor allem ein Festhalten am Erkenntnisziel des gesellschaftlichen Auftrages, weil sonst zwar ebenfalls ein inneres Modell des Objekts aufgebaut werden kann, jedoch ein Modell, das an „Daseinsverfehlung" leidet, da es die gestellte Frage nicht beantwortet. Im Grunde genommen handelt es sich dabei um eine logische Folgerung aus der Themenwahl bzw. Problemfindung. In der Phase der Problembearbeitung wirkt die Parteilichkeit zum Teil in veränderter Gestalt: Sie entäußert sich in Logik und wacht über die Identität der Fragestellung. Sie darf jedoch ihre Aufmerksamkeit nur der Relation von Methode und Frage zuwenden, was nicht zu verwechseln ist mit der Vorwegnahme der „gewünschten" Antwort, da sonst der Forscher — nach dem witzigen Vergleich I. S. Kons — in die Lage eines sorglosen Schülers gerät, „der einen Blick in den Teil seines Aufgabenbuches wirft, der die Lösungen enthält". 13 Falsche Methodenwahl führt zwar zu möglicherweise richtigen Auskünften über das Objekt, bildet es aber im Rahmen eines anderen Themas ab. Die themengerechte Methode stellt sich dar als die dialektische Einheit von objektgemäßer und auftragsgerechter Problembearbeitung. In der Phase der Problembearbeitung wirkt die Parteilichkeit also nicht mehr in erster Linie direkt, sondern über die Zwischenstufen von Themenwahl und Methodenfindung, wobei die problemgerechte bzw. themengemäße Methode die entscheidende Schaltstelle bildet. Für den Historiker gilt dies vor allem hinsichtlich der Quellenkritik und der Verbindung ihrer Resultate mit den theoretischen Erkenntnissen über jene geschichtliche Periode, der die untersuchten Quellen entstammen und die in einem Geschichtsbild widerspiegelt werden soll. In diesem Sinne präformiert die Fragestellung zwar nicht die Antwort, wohl aber weitgehend den Lösungsweg. Insofern kann man von einem gewissen Vorrang der Fragen sprechen. Als methodische Schlußfolgerung ergibt sich daraus, daß Klassenposition, Parteilichkeit oder historisch-politische Konzeption einer Geschichtsschreibung nicht erst aus ihren Resultaten und Antworten auf bestimmte Probleme, sondern bereits ganz offensichtlich an ihrer Fragestellung und in etwas subtilerer Weise an ihren Methoden zu erkennen sind. Das im Erkenntnisprozeß aufgebaute innere Modell des Objekts ist eine widersprüchliche Einheit von Objektivem und Subjektivem. Es bildet das Objekt nicht mechanisch ab, ist also keine einfache Kopie des Objekts, sondern widerspiegelt in gewisser Weise zugleich die Beziehung des Subjekts zum Objekt wie auch zum Abbild. Das Objekt erscheint also in subjektiver Brechung, als subjektives Abbild. Dessen Qualität hängt folglich nicht allein vom Objekt ab, sondern immer auch zugleich vom historischen Entwicklungsstand der gesellschaftlichen Praxis, in die die Abbildgewinnung als individuell-gesellschaftlicher Erkenntnisprozeß eingebettet ist. Damit hängt auch zusammen, daß die Geschichtsschreibung nie abgeschlossen sein kann. Sie entwickelt sich mit der geschichtlichen Praxis zumindest in zweifacher Hinsicht. Einmal durch die Notwendigkeit zur 13
Kon, I. S., Die Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts . . ., a. a. O., S. 133.
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Darstellung der jüngsten Geschichte und zur Verarbeitung ihres Stoffs sowie zweitens auch hinsichtlich der vertieften Erkenntnis eines bereits in Geschichtsbildern dargestellten und theoretisch reflektierten Stoffs. Darin konkretisiert sich für die Geschichtswissenschaft der asymptotische Weg zur absoluten Wahrheit. Subjektivität ist im Erkenntnisprozeß immer gegenwärtig, auch und gerade in Form der Parteilichkeit, eben weil die Erkenntnis kein passives, einmaliges Erleiden einer Einwirkung des Objekts auf das Subjekt ist, wie dies der vulgäre und mechanische Materialismus interpretierte, sondern Inhalt und Resultat eines aktiven prozeßhaften Einwirkens des Subjekts auf das Objekt im Rahmen der historisch-konkreten gesellschaftlichen Praxis. Die Subjektivität im Erkenntnisprozeß darf freilich nicht reduziert werden auf die individuellen Besonderheiten und Fähigkeiten des Forschers, die natürlich mitwirken, die dies aber gerade vermöge ihrer gesellschaftlichen Qualitäten leisten. Eine Besonderheit des gesellschaftlichen Erkenntnisprozesses besteht darin, daß er kein von den einzelnen Individuen geschiedenes substantiiertes Dasein führt, sondern sich nur in Gestalt individueller Erkenntnisprozesse verwirklichen kann, die als das Besondere auftreten, in dem und über das sich das Allgemeine realisiert. In dieser Beziehung tritt eine spezielle Wirkungsweise der Parteilichkeit zutage: Sie verklammert den individuellen Erkenntnisprozeß mit dem gesellschaftlichen, indem sie den individuellen Erkenntnisdrang an den gesellschaftlichen Bedürfnissen orientiert. Der Historiker wird hinsichtlich der Beweisführung stets von neuem auf die Quellen verwiesen, die ihm aber selbst bei größter Gewissenhaftigkeit und Akribie nie mehr als Daten, wenn auch mitunter in großer Fülle, bieten können. Die Richtigkeit, Echtheit, Authentizität der Quellen und die Zuverlässigkeit der Daten festzustellen ist die wohl zeitaufwendigste Aufgabe, vor die sich der Historiker gestellt sieht. Sie kann mit Aussicht auf Erfolg angegangen werden, da die Quellenkritik hierfür zuverlässige Methoden ausgearbeitet hat. Und trotzdem: So verbürgt die Daten auch sein mögen — ohne Hinzutreten der Theorie bieten sie nur ungenießbare Faktologie, kein ideologie- oder strategiebildendes Geschichtsbild, keine wissenschaftliche Erkenntnis im vollen Sinne des Wortes. Das ist die Stunde des Positivismus, jetzt spielt er seine Trümpfe aus: Die Zusammenfassung der Daten zu Fakten, dieser zu Ereignissen und Ereignisketten und der Aufbau eines Geschichtsbildes aus ihnen sind der Ort, wo die Subjektivität, ja die Individualität des Geschichtsschreibers voll zur Geltung kommt, wo er deshalb jegliche Parteilichkeit tunlichst auszuschalten, nur dem Gegenstande hingegeben, seiner Wissenschaft zu dienen habe. — In dieser Problemlage verbirgt sich eine der gnoseologischen Ursachen des Objektivismus und der Erhebung der Wertfreiheit zum methodologischen Prinzip der Positivismus sowie der Suggestion, die von dieser neutralistisch-positivistischen Haltung auf viele bürgerliche Historiker ausstrahlt. Nun kann jedoch das Mitschwingen der Parteilichkeit bei der Methodenwahl infolge der Irreversibilität der Zeit und des sich daraus ergebenden unwiderruf-
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liehen Verschwundenseins des Objekts, das nur noch an seinen Spuren erschlossen werden kann, in der geschichtlichen Forschung und Deutung nie so wirken wie etwa die experimentelle Veränderung des Untersuchungsgegenstandes in der Physik. Eine „Unschärferelation" als Folge der Parteilichkeit hat der Historiker nicht zu befürchten, genausowenig, wie er etwa in den Genuß einer informationellen Rückkopplung durch Retroaussagen kommen kann. 14 Ein Luther z. B. oder ein Wallenstein können ihren Biographen keine Auskunft mehr geben oder die Urteile des Publikums berichtigen, wie verquer diese auch sein mögen. Die Unschärfen, die sich als Folge reaktionärer Parteilichkeit einstellen können, sind anderer Art: Die Absicht, eine gewünschte politische Aussage oder Haltung durch ein diesem Ziel adäquates Geschichtsbild nahezulegen, kann zu einer entsprechenden Faktenwahl bei der Beweisführung verleiten. Es ist das berüchtigte Herbeizerren der Fakten, das sich als methodischer Opportunismus in der Begründung und im Aufbau unwissenschaftlicher Geschichtsbilder verheerend auswirkt. So unterhöhlt reaktionäre Parteilichkeit die Wissenschaftlichkeit und führt zum methodischen Bankrott der imperialistischen Geschichtsschreibung, worüber in dem Handbuch „Unbewältigte Vergangenheit" ein schier erdrückendes Beweismaterial zusammengetragen und einer detaillierten Analyse unterzogen wurde, als deren Ergebnis vermerkt ist: „Je reaktionärer die historischpolitische Konzeption, je subjektivistischer die geschichtstheoretische Position ist — um so verzerrter ist das Geschichtsbild." 15 Bei einem solchen Vorgehen schiebt sich ein Prisma subjektiver Gesichtspunkte zwischen Subjekt und Objekt und wird zum Spiegel, in dem der Betrachter nicht mehr die objektive Realität erkennt, sondern nur immer wieder sich selbst bestaunt. Lenin charakterisierte dieses Verfahren in dem Aufsatz „Statistik und Soziologie" wie folgt: „Auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Erscheinungen gibt es ein außerordentlich verbreitetes und ebenso fehlerhaftes Verfahren, nämlich das Herausgreifen einzelner Tatsachen und das Jonglieren mit Beispielen. Beispiele einfach zusammentragen macht keine Mühe, hat aber auch keine oder nur rein negative Bedeutung, denn worauf es ankommt, das ist die konkrete historische Situation, auf die sich die einzelnen Fälle beziehen. Tatsachen sind, nimmt man sie in ihrer Gesamtheit, in ihrem Zusammenhang, nicht nur .hartnäckige' sondern auch unbedingt beweiskräftige Dinge. Nimmt man aber einzelne Tatsachen, losgelöst vom Ganzen, losgelöst aus ihrem Zusammenhang, sind die Daten lückenhaft, sind sie willkürlich herausgegriffen, dann ist das eben nur ein Jonglieren mit Daten oder etwas noch Schlimmeres." 16 Mit dem marxistisch-leninistischen Prinzip der Parteilichkeit hat ein solches Verfahren nichts zu tun. Walter Ulbricht hat dies in einer Beratung mit der Intelligenz im Jahre 1959 eindeutig zum Ausdruck gebracht: „Wenn wir dieAuf14
Bauer, Adolf /Eichhorn I, Wolfgang, u. a., Philosophie und Prognostik . . ,,a. a O., S. 114/115. 15 Unbewältigte Vergangenheit, S. 24. 16 Lenin, W. I., Statistik und Soziologie, in: Derselbe, Werke, Bd 23, Berlin 1957, S. 285. 8
Engelberg, Geschlchtsmethodologie
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fassung von der notwendigen Verbindung von Wissenschaft und Politik vertreten, so bedeutet das nicht, daß unsere Partei den Wissenschaftlern die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Arbeit vorschreibt, sondern es geht uns darum, daß die Wissenschaft helfen möge, daß durch die Erforschung und Ausnutzung der Gesetze der Natur und Gesellschaft das Leben der Werktätigen noch reicher und schöner wird. Wir verlangen von der Wissenschaft keine Verfälschung der Wirklichkeit wie die herrschenden Klassen der kapitalistischen Länder, sondern sind an der Entdeckung objektiver Wahrheit interessiert." 1 7 Das Ordnen der Fakten, ihre Deutung und Zusammenschau in einem Geschichtsbild sind nur über eine Theorie möglich. Fakten und Theorie bedingen sich gegenseitig: Die Fakten vermitteln die Theorie zur objektiven Realität; die Theorie erfaßt die Fakten in ihren wesentlichen Zusammenhängen, deutet sie als Momente objektiver Gesetzmäßigkeiten, als deren Sichtbarwerden und Erscheinen. Sie kann dies nur, wenn sie mehr ist als nur eine verallgemeinernde Zusammenfassung der im zu untersuchenden Objektbereich festzustellenden Fakten, da wir uns sonst in einem Circulus vitiosus bewegen, zumal die Fakten selbst bereits das Resümee empirischer Daten darstellen. 18 Die Leistungsfähigkeit der deutenden Theorie hängt nicht zuletzt vom Umfang des Objektfeldes ab, dessen Informationsgehalt in ihr verarbeitet wird. Der angedeutete Zirkelschluß ist für den Bereich der Geschichtswissenschaft nur zu durchstoßen, wenn als Explicans eine philosophische Theorie zugrunde gelegt wird, die das Wesen des Geschichtlichen in ihrem Begriffs- und Kategoriengefüge nicht faktologisch abbildet, sondern eben philosophisch, d. h. hinsichtlich der übergreifenden Gesetzmäßigkeiten, die die Geschichtswissenschaft insgesamt als Gesellschaftswissenschaft anspricht, sie in das System der Gesellschaftswissenschaften einordnet, weltanschaulich zur gesellschaftlichen Praxis vermittelt und sie aus der zünftlerischen Enge reiner Fachgelehrsamkeit hinausführt. Die Theorie spielt eine selbständige Rolle gegenüber den Tatsachen und darf nicht mit einer Faktenverallgemeinerung verwechselt oder auf eine solche reduziert werden. Klassisches Beispiel für die belebende Wirkung des historischen Materialismus auf ein Geschichtsbild und seine Fakten ist „Der deutsche Bauernkrieg" von Friedrich Engels. Engels hat für dieses Werk keine eigenen Quellenstudien getrieben. Das ganze Faktenmaterial entnahm er Wilhelm Zimmermanns „Großem deutschen Bauernkrieg", worauf er ausdrücklich in seiner Vorbemerkung zu der Ausgabe von 1870 hinwies. 19 Und doch entstand ein völlig neues Werk, das eine ganze Epoche deutete durch Einordnung in den Gesamtverlauf der deutschen Geschichte unter dem Gesichtspunkt der Klasseninteressen des Proletariats. E s 17 18
19
Ulbricht, Walter, Freiheit, Wissenschaft und Sozialismus, Berlin 1959, S. 32. Hahn, Erich, Historischer Materialismus und marxistische Soziologie. Studien zu methodologischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen der soziologischen Forschung, Berlin 1968, S. 179. Engels, Friedrich, Vorbemerkung zum zweiten Abdruck (1870) „Der deutsche Bauernkrieg", in: MEW, Bd 16, Berlin 1962, S. 393.
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ist geradezu erfrischend, wie unbekümmert um akademische Skrupel vor etwaigen Anachronismen und Inkommensurabilitäten Friedrich Engels ohne Umschweife den Bauernkrieg mit der Revolution von 1848/49 verglich, dabei Ähnlichkeiten und Unterschiede zeigte und die ganze Betrachtung in der aktualisierten Lehre zusammenfaßte: „Die Revolution von 1848 bis 1850 kann daher nicht enden wie die von 1525." 2 0 Engels demonstrierte mit diesem Werk eine entscheidende Besonderheit der dialektisch-materialistischen Parteilichkeit in der Geschichtsschreibung: ihre Verbindung zum aktuellen politischen Kampf der Arbeiterklasse, dem sie bewußt dient. Die Geschichtsschreibung ist dabei keinesweges in erster Linie die Gebende etwa in dem Sinne eines gnädigen Sichherablassens zur Belehrung der Arbeiter, wie dies für liberale Wohlfahrtsapostel und Kathedersozialisten charakteristisch ist. Sie ist vielmehr in Wahrheit die Nehmende: Die hochentwickelten historischen Orientierungs- und Kampfesbedürfnisse der Arbeiterklasse vertiefen die Methodologie des geschichtswisssenschaftlichen Erkennens in einem Maße, wie dies keine „reine" Theorie, Philosophie oder die Bedürfnisse irgendeiner anderen Klasse vermögen; denn die Teilnahme am politisch-ideologischen Kampf der Arbeiterklasse ist die wichtigste Form der Praxis für den Historiker. Theorien können bekanntlich als Systeme von Aussagen über materielle und ideelle Sachverhalte interpretiert werden, deren Wahrheitsgehalt direkt, meist aber über Vermittlungen hinweg in der Praxis überprüft werden kann. Ein wesentliches Testverfahren zur Feststellung des Wahrheitsgehaltes einer gesellschaftlichen Theorie besteht darin, aus ihr Hypothesen bzw. Prognosen über noch unbekannte oder künftige Sachverhalte abzuleiten. Wird ein solcher vorausgesagter Sachverhalt entdeckt oder trifft die Voraussage ein, dann erhöht sich damit die Zuverlässigkeit des der Voraussage zugrunde gelegten Aussagensystems, freilich ohne damit alle das Gesamtsystem aufbauenden Teilaussagen unmodifizierbar festgelegt zu haben. Mit dem Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Rußland und dem Aufbau des Sozialismus ist der Marxismus-Leninismus in seinen Grundzügen vom Kriterium der Praxis bestätigt worden. Mit seiner Hilfe hat die Arbeiterklasse die Welt verändert, der Geschichte einen neuen Lauf gegeben. Die auf seiner Grundlage aufgestellten Prognosen sind in ihren wichtigsten Zügen eingetroffen. E r ist damit im Prinzip unwiderlegbar geworden. Die Anreicherung und Verallgemeinerung neuer revolutionärer Erfahrungen machen seine bisherigen Aussagen nicht falsch, sie präzisieren sie und fügen ihnen neue hinzu. Von der Praxis als dem ausschlaggebenden Kriterium der Wahrheit bestätigt, vermittelt der historische Materialismus zwischen ihr und dem historischen Erkenntnisprozeß und spielt gegenüber der Geschichtswissenschaft die Rolle eines sekundären Wahrheitskriteriums. Für die Beweisführung in geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen ist dies von außerordentlicher Wichtigkeit, unter anderem auch deshalb, weil sich hieraus gewissermaßen eine Ersatzleistung für das 20
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Derselbe, Der deutsche Bauernkrieg, in: Ebenda, B d 7, S. 413.
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Gerhard Brendler
Experiment ergibt, das der Historiker in dem direkten und unmittelbaren Sinne eines verändernden Eingriffs in den Untersuchungsgegenstand nicht durchführen kann. Die Praxis testet deshalb nicht das einzelne Untersuchungsergebnis direkt, sondern das Geschichtsverständnis. In der Hinführung zur Praxis besteht die wesentlichste Funktion der Parteilichkeit im Erkenntnisprozeß des Historikers. Als besondere Form des Problemverhaltens orientiert das Prinzip der Parteilichkeit auf praxisbezogene, gesellschaftlich relevante Themenwahl, verpflichtet mit der themengerechten Methodenwahl zum Festhalten am praxisorientierten Erkenntnisziel und führt über die deutende Theorie die Problembearbeitung als theoretisch-erkennende Aneignung der Wirklichkeit zur praktisch-geistigen Bewältigung der Geschichte, realisiert so den ideologischen Gehalt des Themas, verwirklicht die dialektische Einheit von Politik und Wissenschaft. Der gesellschaftliche Sinn von Geschichtsbildern besteht darin, das gesellschaftliche Verhalten des Adressaten zu beeinflussen, sein Bewußtsein über die Vermittlung eines bestimmten Wissens zu bilden. Selbst dann, wenn ein Geschichtsbild auf nackte Faktologie reduziert ist, also eigentlich schon gar nicht mehr als Geschichts-„bild" anzusprechen wäre, sondern als Zeittafel, chronologische oder synchronoptische Tabelle, ist es möglich, durch das darin gebotene Tatsachenmaterial den Leser zu in-„formieren", zu beeinflussen oder zu manipulieren. Genaue Bestimmung der Parteilichkeit eines Werkes bzw. eines Geschichtsbildes, historiographischer Strömungen oder Theoreme ist daher eine Grundforderung der marxistisch-leninistischen Geschichtsmethodologie. Die Wirkung der Parteilichkeit eines Geschichtsbildes beruht nicht allein auf dessen Informationsgehalt und seiner spezifischen parteilichen „Färbung". Ihre Realisierung hängt nicht zuletzt vom Adressaten ab, der das ihm entgegengehaltene Geschichtsbild in eine Wenn-Dann-Beziehung hineinstellt. Innerhalb einer solchen wird es zur Basisaussage für politisch-moralische Werturteile und Handlungsdirektiven.21 Über Normen und Überzeugungen kann es Haltungen und Motive beeinflussen und schließlich persönlichkeitsbildend wirken. Geschieht dies in massenhaftem Umfange, dann erweist sich das Geschichtsbild als Träger ideeller Massenkraft, als Träger einer Idee, die zur materiellen Gewalt wird. Karl Marx schrieb: „. . . die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem demonstriert, und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird." 22 Die Massenkraft eines Geschichtsbildes hängt also davon ab, inwieweit es fähig ist, Interessen zu mobilisieren, zu begründen und ins Bewußtsein zu heben, eben — um es noch einmal mit Marx zu sagen — „ad hominem" zu demonstrieren, wobei die marxistische Parteilichkeit sich nicht damit begnügt, schlechtZum Problem siehe: Loeser, Franz, Deontik. Planung und Leitung der moralischen Entwicklung, Berlin 1966; Eichhorn I, Wolf gang, Wie ist Ethik als Wissenschaft möglich?, Berlin 1965. 22 Marx, Karl, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW, Bd 1, S. 385. 21
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hin Interessen der Arbeiter anzusprechen oder etwa diese Interessen auf spontane Bedürfnisse des Tages zu reduzieren. Ihr geht es um den wissenschaftlichen Ausdruck dieser Interessen, verstanden als die historischen Bedürfnisse der Klasse im Kampf um die Macht für die Verwirklichung ihrer historischen Mission. Diese Unterscheidung zwischen den unmittelbaren Tagesinteressen und den langfristigen Klasseninteressen ist sowohl für die Kunst der politischen Führung als auch für die parteiliche marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft wichtig. Die Parteilichkeit orientiert dabei auf die Priorität der objektiven Gesetzmäßigkeiten, die den langfristigen Klasseninteressen zugrunde liegen. Als Subjektivität ist Parteilichkeit im erkennenden Subjekt nicht ausklammerbar . Sie ist keine überwindbare, zufällige psychologische Eigenart, sondern gesellschaftlich bedingter objektiver Tatbestand, ideeller Widerschein des gesellschaftlichen Seins, kein Bewußtseinskomplex, sondern gesellschaftliche Qualität des Subjekts; wobei es vielleicht nicht überflüssig ist, darauf hinzuweisen, daß „Subjekt" hier immer im philosophischen Sinne gebraucht wird, also als Bezeichnung für den gesellschaftlichen Menschen als bewußt Handelnden in der Subjekt-Objekt-Relation der Praxis. Subjekt ist also nicht ohne weiteres gleichzusetzen mit Individuum und Subjektivität nicht mit Individualität. Subjektqualität erlangt das Individuum nur, indem es als Teil eines umfassenderen Ganzen in der gesellschaftlichen Praxis tätig handelnd und verändernd auf seine Umwelt einwirkt und diese damit zum Objekt macht. Außerhalb des Bezuges zur gesellschaftlichen Praxis ist der Subjektbegriff sinnlos. Die Begriffe Subjekt und Objekt stellen sinnvolle Abstraktionen dar, die der Unterscheidung der beiden wesentlichen Seiten der Praxis dienen. Für die theoretische Erfassung der Rolle der Parteilichkeit im Erkenntnisprozeß sind sie grundlegend. Hinsichtlich der Subjekt-Objekt-Problematik ergibt sich eine weitere Erkenntnis über die Parteilichkeit, nämlich ihre Rolle als Vermittler zwischen dem Subjekt der Erkenntnis und dem Subjekt der Geschichte, die im Falle des Historikers besondere Bedeutung hat. Ein mehrstufiges Verhältnis ist hier zu beobachten: Da sich die gesellschaftliche Erkenntnis immer nur in individuelle Erkenntnisakten realisieren kann—wovon schon die Rede war —, muß sich der um Erkenntnis bemühte einzelne Wissenschaftler einordnen in den gesellschaftlichen Erkenntnisprozeß, seine Individualität damit zum Teil des gesellschaftlichen Subjekts der Erkenntnis steigern. Es hängt nun alles davon ab, welchem gesellschaftlichem Subjekt der Erkenntnis sich der Historiker integriert, welchem handelndem Subjekt der Geschichte er sich parteilich verbindet. Hemmende oder fördernde Wirkung der Parteilichkeit widerspiegelt die Stellung des den Erkennenden integrierenden Subjekts der Geschichte zum Fortschritt, weil davon die Orientierungsbedürfnisse und die aus ihnen abgeleiteten Erkenntnisziele sowie die Erkenntnistiefe determiniert werden. Im praktischen Lebensprozeß konstituiert sich der vergesellschaftete Mensch als Subjekt der Geschichte, macht sich die Umwelt zum Objekt, vergegenständlicht seine Wesenskräfte, arbeitet und kämpft sich empor und vervollkommnet
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Gerhard Brendler
seine geschichtsgestaltenden Qualitäten. Er vermag dies nicht als isoliertes Einzelwesen, sondern nur in der Vergesellschaftung, als soziales Wesen. Seit der Auflösung der Urgemeinschaft ist die Klasse zur bestimmenden Grundform der Vergesellschaftung und der sozialen Ordnung geworden und der Klassenkampf zum Hauptinhalt der Geschichte, zur entscheidenden Triebkraft des Fortschritts. Der Klassencharakter einer Gesellschaft determiniert das praktische und theoretische Verhalten der Mitglieder der Gesellschaft. Er umgrenzt einen vom jeweiligen historischen Entwicklungsstand bestimmten objektiven Spielraum für realisierbare Zielstellungen, in dem sich das vergesellschaftete Individuum bewegt; er beeinflußt aber auch diese Zielstellungen selbst. Freilich darf diese Determiniertheit nicht mechanisch und undialektisch aufgefaßt oder etwa nur auf systemkonformes und systemstabilisierendes Verhalten im Rahmen einer gegebenen sozialökonomischen Formation bezogen werden. Auch und gerade der die Grenzen der Formation überwindende, systemsprengende und Fortschritt schaffende Klassenkampf hängt in Charakter, Zielstellungen und Resultaten vom Entwicklungsstand der gesellschaftlichen Praxis ab, der er selbst als wesentliches Element zugehört. Bewußtsein, Ideologie, theoretisches Verhalten und wissenschaftliches Erkennen sind in diesen objektiven Zusammenhang einbezogen. Sich-frei-Dünken von der Gesellschaft ist eine reaktionäre Utopie, bestenfalls eine Abwehrhaltung zaghafter Intellektueller, die geistige Distanz zu einer überlebten Gesellschaftsordnung gewinnen wollen, denen aber Mut und Konsequenz fehlen, sich auf den Standpunkt der zukunftsträchtigen Klasse zu stellen. Lenin hat im November 1905 in der Schrift über „Parteiorganisation und Parteiliteratur" das Gerede bürgerlicher Individualisten über absolute Freiheit des Denkens als Heuchelei entlarvt und dazu kurz und bündig formuliert: „Man kann nicht zugleich in der Gesellschaft leben und frei von ihr sein." 23 Die Klassen agieren als kollektive Geschichtssubjekte, die einander wechselseitig als Objekte setzen und den jeweiligen ökonomischen Gesellschaftsformationen ihre unverwechselbare Physiognomie verleihen. Sie vermitteln den einzelnen zur Gesellschaft, determinieren seine Stellung in den Produktionsverhältnissen, speziell hinsichtlich des Eigentums an Produktionsmitteln, und prägen das gesellschaftliche Bewußtsein. Diese Klassenbindung ist ein objektiver Zusammenhang des jeweils historisch-konkreten gesellschaftlichen Seins, ein von Einsicht, Willen, Zustimmung oder Ablehnung unabhängiger Tatbestand. Die Arbeiterklasse ist ein Subjekt der Geschichte von besonderer Qualität. Ihre historische Mission, die Klassenherrschaft der Bourgeoisie zu brechen, mit ihrer eigenen Befreiung vom Joch der kapitalistischen Ausbeutung zugleich jegliche des Menschen durch den Menschen zu überwinden und eine klassenlose Gesellschaft aufzubauen, konzentriert das Fortschrittsinteresse der Menschheit in ihrem Klasseninteresse, bringt beide zur Deckung und bewirkt 33
Lenin, W. / . , Parteiorganisation und Parteiliteratur, in: Derselbe, Werke, Bd 10, Berlin 1958, S. 33.
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erstmals in der Geschichte die volle Übereinstimmung der Parteilichkeit einer Klasse mit dem Bedürfnis nach objektiver Wahrheit. Die Interessen der Arbeiterklasse stimmen mit dem gesellschaftlichen Fortschritt überein. Deshalb hat sie es auch nicht nötig, die Geschichte zu verfälschen, sondern ist im Gegenteil an der Aufdeckung der historischen Wahrheit interessiert, da sie diese nicht zu fürchten h a t ; „. . . im Gegenteil," schrieb Engels, „je rücksichtsloser und unbefangener die Wissenschaft vorgeht, desto mehr befindet sie sich im Einklang mit den Interessen und Strebungen der Arbeiter." 24 Die Arbeiterklasse ist geradezu auf die volle und unverkürzte Kenntnis der geschichtlichen Wahrheit angewiesen, da sie nur unter dieser Voraussetzung ihre welthistorische Befreiungsmission verwirklichen kann. Kenntnis der Wahrheit ist Realisierungsbedingung der proletarischen Klassenziele. Mit der Entstehung, Herausbildung und Entwicklung der Partei vollzog sich ein qualitativer Sprung in der Subjektqualität der Arbeiterklasse: Sie schuf sich damit ein kollektives Führungs- und Erkenntnisorgan. Mit ihren wissenschaftlichen Grundlagen, ihrer Politik und ihrem demokratisch-zentralisierten Organisationsaufbau sichert die Partei die Einheit des Willens und des Handelns der Arbeiterklasse, vermittelt über die Bündnispolitik und ihre gesamtgesellschaftliche Führungsrolle das Klassenbewußtsein der Arbeiterklasse, faßt die gesamte sozialistische Gesellschaft zu einem einheitlich handelnden Subjekt der Geschichte zusammen und potenziert damit die Geschichtsmächtigkeit ihrer Klasse. Die Arbeiterklasse ist das höchstorganisierte Subjekt der Geschichte; das ist der entscheidende Gesichtspunkt für die Begründung ihrer führenden Rolle, die sich über die Partei verwirklicht. Sie ist mit der entwickeltsten Form des sozialistischen Eigentums verbunden; ihr Eigentum ist identisch mit dem gesamtgesellschaftlichen Eigentum; sie besitzt somit keine Sonderinteressen gegenüber der Gesellschaft. In der industriellen Großproduktion konzentriert, arbeitet sie mit den modernsten Produktionsmitteln und hat den höchsten Vergesellschaftungsgrad erreicht. Die Orientierung auf die Arbeiterklasse und ihre Partei ist die inhaltliche Grundbestimmung des marxistisch-leninistischen Prinzips der Parteilichkeit. Die Integrierung in den kollektiven Erkenntnisprozeß dieses höchstentwickelten Subjekts der Geschichte bedeutet einen durch nichts wettzumachenden Erkenntnisvorteil für den Historiker, eine Erkenntnischance für jeden Wissenschaftler. 24
Engels, Friedrich, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MEW, B. 21, S. 307.
Ernst
Engelberg
Zu methodologischen Problemen der Periodisierung
Die Periodisierung, fürs erste und in allgemeiner Weise gekennzeichnet alsSetzen von Zäsuren und Bestimmen des Inhalts und des historischen Platzes der einzelnen Zeitabschnitte innerhalb der Weltgeschichte, soll uns helfen, tiefer zu dringen im Erkennen des objektiven Geschehens. Diese Kennzeichnung, die später zu präzisieren ist, genügt vorläufig, um uns von jeglichem bürgerlichen Subjektivismus zu distanzieren, der in der Periodisierung eine Konvention sieht, auf die man sich je nach Gutdünken einigen kann. Dabei ist dieses Gutdünken seinerseits durch den bürgerlichen Klassenstandpunkt mit seiner jeweiligen historisch-politischen Konzeption determiniert. Wir können das objektive Geschehen, beruhend auf der materialistischen Dialektik, auch unter dem Gesichtspunkt der Periodisierung nur dann erkennen, wenn wir — erkenntnistheoretisch-methodologisch ausgedrückt — die dialektische Logik anwenden. Zu ihr gehört, nach Lenin, der Grundsatz, daß „in die vollständige .Definition' eines Gegenstandes die ganze menschliche Praxis sowohl als Kriterium der Wahrheit wie auch als praktische Determinante des Zusammenhangs eines Gegenstandes mit dem, was der Mensch braucht, eingehen" muß.1 Von allen Formen der gesellschaftlichen Praxis, deren Grundlage die Produktion ist, spielt für die Geschichtswissenschaft der politische Kampf eine besonders wichtige Rolle. Die Praxis des Klassenkampfes ist Ausgangspunkt und Ziel der Erkenntnis. Der Klassenauftrag jeglicher Geschichtswissenschaft spiegelt sich in der politischen Konzeption wider, von der sie in ihrer Gesamtheit, wie immer das beim Historiker subjektiv im einzelnen sein mag, stets ausgeht. In der politischen Konzeption zeigt sich am klarsten die Verbindung von Wissenschaft und Politik ; dort zeigt sich die praktische Determinante des Zusammenhangs eines in der Vergangenheit liegenden Forschungsgegenstandes mit dem, was der von Klasseninteressen geleitete und im Klassenkampf stehende Mensch in der Gegenwart und für die Zukunft braucht. In Anlehnung an Lenin haben wir auch die Frage nach dem Praxiskriterium der historischen Wahrheit zu stellen. Die Geschichte der Geschichtswissenschaft beweist, daß früher oder später nur solche historischen 1
Lenin, W. I., Noch einmal die Gewerkschaften (1921), in: Derselbe, Werke, Bd 32, S. 85.
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Untersuchungen vor dem Kriterium der gesellschaftlichen Praxis bestehen, die Verallgemeinerungen mit dem mehr oder weniger bewußten Zweck enthalten, Probleme und Widersprüche der Gegenwart im Sinne des Fortschritts zu lösen. So besteht ein dialektischer Zusammenhang zwischen der Parteilichkeit für eine fortschrittliche Klasse und der Objektivität der historischen Erkenntnis. Der marxistisch-leninistische Historiker hat heute davon auszugehen, daß der Kampf zwischen den beiden entgegengesetzten gesellschaftlichen Systemen den Hauptwiderspruch unserer Epoche, der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, darstellt.2 Die Historiker der DDR haben mit ihren Mitteln dazu beizutragen, daß sich 1. das sozialistische Bewußtsein der Bevölkerung der DDR vertieft und das entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus vervollkommnet, 2. die drei revolutionären Hauptströmungen der Gegenwart, nämlich das sozialistische Weltsystem, die Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Ländern und die national-revolutionäre Befreiungsbewegung, miteinander vereinen und dadurch den Prozeß des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus vertiefen und zugleich beschleunigen. Aus dieser Zielsetzung ergeben sich zwei Leitlinien, die sich beziehen erstens auf die Gesetzmäßigkeit und den Fortschritt in der Geschichte, mit dem Klassenkampf als ,,nächste(r) treibende(r) Macht" 3 , zweitens auf den Demokratismus, die historische Rolle der Volksmassen. Beide Leitlinien berühren aufs empfindlichste den ideologischen Nerv der imperialistischen Historiker, die von jeher diese Grundauffassung des historischen Materialismus bekämpften und bekämpfen, auch wenn sie hierin manchmal in einer flexibleren Taktik scheinbare Konzessionen machen; beide Leitlinien sind konstruktiv für die Sache des Sozialismus und destruktiv gegenüber dem Imperialismus. In den beiden Leitlinien sind folgende konzeptionelle Grundgedanken enthalten: Ihr Hauptinhalt seit der urkommunistischen Gesellschaftsformation ist der ununterbrochene Klassenkampf auf der Grundlage der ökonomischen Entwicklung, der Kampf der ausgebeuteten und unterdrückten Klassen gegen die ausbeutenden und unterdrückenden Klassen um die Durchsetzung des gesellschaftlichen Fortschritts im Interesse des Volkes, insbesondere der Kampf der jeweils progressiven und der werktätigen Klassen und Schichten für die Beseitigung überlebter Gesellschaftsformationen und den Aufbau einer höheren Gesellschaftsformation. Mit der Entwicklung der revolutionären Arbeiterbewegung erhielt der Klassenkampf eine neue Qualität. 2
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Die Aufgaben des Kampfes gegen den Imperialismus in der gegenwärtigen E t a p p e und die Aktionseinheit der kommunistischen und Arbeiterparteien und aller antiimperialistischen Kräfte, in: Internationale Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien, Moskau 1969, Berlin 1969, S. 13. Marx, Karl ¡Engels, Friedrich, Zirkularbrief an Bebel, Liebknecht, Bracke u. a., in: M E W , Bd 19, S. 165. (Hervorhebung von mir - d. Verf.)
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Für das Verständnis der weltgeschichtlichen Entwicklungstendenzen in unserer Zeit und damit auch der Perspektive des deutschen Volkes bildet die Große Sozialistische Oktoberrevolution Grundlage und Ausgangspunkt. D a die Geschichte eines jeden Volkes stets in die Weltgeschichte eingebettet ist, sei noch kurz dieses umrissen: Die Weltgeschichte ( i m weiteren Sinne) umschließt die Entwicklung der Menschheit von ihren frühen Gesellschaftsformationen bis zur Gegenwart. Die Weltgeschichte (im engeren Sinne) beginnt mit der Ausbildung des Weltmarktes, den der Kapitalismus schuf. E r s t in der Zusammenschau dieser beiden Aspekte der Weltgeschichte wird die Einheit der Menschheit im Auge behalten. In der gesetzmäßigen Aufeinanderfolge der Gesellschaftsformationen bilden die Revolutionen K n o t e n p u n k t e . Wir wissen, d a ß einzelne Länder in der revolutionären Ablösung einer Gesellschaftsordnung durch eine andere Vorkämpfer sind, ihre Revolutionen sind weltgeschichtliche Einschnitte, die auch f ü r die Periodisierung der Geschichte anderer Völker bedeutungsvoll sind; denken wir an 1789, denken wir vor allem aber an 1917. Nicht nur einzelne Länder, sondern auch einzelne Kontinente können Vorkämpfer in der revolutionären Ablösung einer Gesellschaftsordnung durch eine andere sein. D a r u m sollte das Problem des Europazentrismus etwas umsichtiger, als dies gemeinhin geschieht, behandelt werden. Unabdingbar ist es, gegen die Überheblichkeit kolonialer Unterdrücker u n d f ü r die Gleichheit aller Menschen, gleich welcher Rasse, zu k ä m p f e n ; doch dürfen wir andererseits die weltgeschichtliche Tatsache nicht verschleiern, daß sich zuerst in E u r o p a der revolutionäre Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, vom Kapitalismus zum Sozialismus vollzog u n d daß in E u r o p a der wissenschaftliche Sozialismus geboren wurde. Das alles erfordert, daß wir den Platz und den Inhalt der Gesellschaftsformationen und der einzelnen Epochen u n d Perioden in der historischen Gesamtentwicklung sehr genau umreißen, so schwierig dies auch sein mag. Bei all dem darf allerdings nicht übersehen werden, daß erst mit dem Kommunismus die sogenannte Vorgeschichte der Menschheit abgeschlossen ist u n d die wahre Menschengeschichte beginnt. Wir müssen daher alle bewußten und unbewußten Tendenzen einer historischpolitischen und moralischen Gleichsetzung der Epochen ebenso vermeiden wie linken Überradikalismus, der alles historisch Gewordene negiert. Marx bezeichnete den Kommunismus als das aufgelöste Rätsel der Geschichte, als „vollständige, bewußt u n d innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen f ü r sich als eines gesellschaftlichen, d. h. menschlichen Menschen"/» Vergessen wir also nicht: Zwischen der kommunistischen Gesellschaft der Z u k u n f t u n d der klassenlosen Urgemeinschaft spannt n u r die Geschichte der 4
Marx, Karl, Ökonomisch-philosophische gänzungsband, Erster Teil, S. 536.
Manuskripte (1844), in: MEW, Er-
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Klassenkämpfe und -bündnisse den weltgeschichtlichen Bogen; da setzt sich erst durch den Klassenkampf unter Führung jener Klasse, die die neu heranreifende Produktionsweise jeweilig repräsentiert, die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, also das geschichtliche Grundgesetz, das nach Ablösung einer Gesellschaftsformation durch eine andere notwendigerweise drängt, in der einen oder anderen Form durch. Es ist notwendig, den Klassenkampf in seiner dialektischen Einheit von ökonomischem, politischem und ideologischem Kampf zu erfassen und dabei die politische Auseinandersetzung als Kern des Klassenkampfes deutlich zu machen. Wir verstehen unter Politik „konzentrierte Ökonomik" 5, d. h. konzentrierten Ausdruck der ökonomischen Klasseninteressen. Die Politik ist also durch die Wirtschaft bedingt, wirkt aber auf vielfältige Weise und über alle Bereiche des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens auf die Wirtschaft wieder zurück; auf keinen Fall ist die Politik selbständig und unabhängig von der Wirtschaft. 6 Die Politik ist nach umfassender Auffassung von Lenin das Verhältnis zwischen den Klassen, aber auch zwischen den Völkern und Staaten; dabei wird für die Politik, die stets Klassenkampf ist, die Erringung oder Erhaltung der Staatsmacht das Wesentliche. Der reaktionär-opportunistischen, subjektivistischen Auffassung von der Politik als der Kunst des Möglichen können die Marxisten-Leninisten die fortschrittlich-mutige, wissenschaftliche Auffassung von der Politik als der Kunst, das als historischnotwendig Er kannte durchzusetzen, gegenüberstellen. Damit stoßen wir auf die Dialektik von Möglichkeit und Notwendigkeit. Was notwendig ist, ist auch möglich, und was möglich ist, muß notwendig durchgesetzt werden durch die Politik. Das Umschlagen der Möglichkeit in Notwendigkeit ist in der Dialektik nicht weniger wesentlich als das viel zitierte Umschlagen von Quantität in Qualität. 7 Methodisch ist noch ein anderer Hinweis Lenins beachtenswert. Er sagte auf dem VII. Parteitag der K P R (B) im März 1918: „. . . die Politik beginnt dort, wo man mit Millionen zu tun h a t ; nicht dort, wo man mit Tausenden, sondern dort, wo man mit Millionen zu tun hat, beginnt erst die ernste Politik . . .". 8 Dieser Hinweis auf die Gewalt der Volksmassen veranlaßt uns, auch dort, wo wir es mit den höchsten Sphären der Kabinettspolitik zu tun haben, zu erforschen, ob und wieweit, bewußt oder unbewußt, Massen im Spiele sind. Unter diesem Blickpunkt haben wir auch den Satz von Friedrich Engels zu beachten, daß es in der Politik der antagonistischen Klassengesellschaften nur zwei entscheidende Mächte gibt, die organisierte Staatsgewalt und die Gewalt der Volksmassen. 9 5
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Lenin, W. I., X I . Parteitag der K P R (B), in: Derselbe, Werke, Bd 33, Berlin 1962, S. 302. Gleserman, G., Das Leninsche Prinzip der Wechselbeziehung zwischen Politik und Wirtschaft, in: Neues Deutschland v. 9. Februar 1969. Luppol, I., Lenin und die Philosophie, Berlin 1929, S. 15. Lenin, W.I., Siebenter Parteitag der K P R (B), in: Derselbe, Werke, B d 2 7 , Berlin 1960, S. 86. Vgl. Engels, Friedrich, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, in: MEW, Bd 21, S. 431.
Zu methodologischen Problemen der Periodisierung
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Die Geschichte der verschiedenen Völker soll zeigen, wie das Volk in unlöslichem Zusammenhang mit der gesetzmäßigen Entwicklung und Abfolge der ökonomischen Gesellschaftsformationen produzierte, gegen Ausbeutung und Unterdrückung kämpfte, gegen alle Widrigkeiten eines harten Lebens und einer aufgezwungenen Bildungsnot seine Sprache und Kultur schuf, zuweilen irregeleitet und mißbraucht wurde, Mißerfolge oder Erfolge erzielte, wie es unter der Hegemonie jener Klasse, die die jeweils neu heranreifende Produktionsweise repräsentierte, den gesetzmäßigen Fortschritt der Gesellschaft durchsetzte, wie ihm schließlich in der Arbeiterklasse zum ersten Mal in seinem jahrtausendelangen Schaffen, Leiden und Kämpfen eine solche Führungskraft heranwuchs, die keine Ausbeuter und Unterdrücker umfaßte. Das Volk ist der Held der Geschichte — in der still wirkenden Kraft seines täglichen Lebens und Produzierens und auf dem lauten Schauplatz der politischen Aktion. Der Demokratismus in der marxistisch-leninistischen Geschichtsauffassung erfordert, daß die jeweiligen Gesellschafts- und Staatsordnungen vorrangig nach dem sozialen und politischen Gewicht, das die Volksmassen in ihnen einnehmen, beurteilt und diese — letzten Endes — in der Produktion und in der Politik besonders in Zeiten revolutionären Umbruchs für den Fortschritt in der Geschichte als entscheidend angesehen werden; dieser Demokratismus findet seine imperialistische Gegenthese in dem offenen oder neuerdings mehr verschleierten Verächtlichmachen, zumindest Negieren der Volksmassen. Wir zeigen statt dessen die im ganzen aufsteigende Linie im Kampf der Volksmassen, bis sich dank der revolutionären Arbeiterklasse und ihrer Partei heute die sozialistische Demokratie entwickelt und alle früheren Demokratien an Bewußtheit, Organisiertheit und Konsequenz übertrifft. Die hier vorangestellte ideologisch-politische Konzeption, die sich von den beiden Grundgedanken, nämlich von dem gesetzmäßigen Fortschritt in der Geschichte und der ihn in der einen oder anderen Weise durchsetzenden K r a f t der Volksmassen, leiten läßt, beeinflußt in hohem Maße die Methodologie der Periodisierung. *
Schon in früheren Disskusionen über Methoden der Periodisierung der Geschichte wurde festgestellt, daß man streng einheitliche, gleichsam starre und universell gültige Kriterien für die Setzung von Zäsuren im Ablauf des geschichtlichen Geschehens nicht festlegen kann. Anders ausgedrückt: Wir dürfen bestimmte Arten von Fakten, die sich auf die Basis oder auf den Uberbau einer jeweiligen Gesellschaftsformation beziehen, nicht isolieren und zum alleinigen Periodisierungskriterium nehmen. Bei der Zäsurensetzung haben wir es im Hinblick auf die Dialektik von Basis und Uberbau mit einem ganzen Bündel von Fakten zu tun, die allerdings nach methodisch klaren Richtlinien zu beurteilen sind.
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Alle für die Periodisierung relevanten Fakten müssen im Zusammenhang mit dieser Dialektik betrachtet und gewertet werden. Dabei wird dem Klassenkampf eine besondere Bedeutung zugemessen. Damit kommen wir auf unsere konzeptionellen Grundgedanken zurück . Die Geschichte ist die höchste und komplizierteste Bewegungsform der Materie; überdies fordert die Eigenart der Geschichte die chronologisch-genetische Darstellung, die Beachtung des chronologischen Zusammenhangs der Ereignisse. 10 Bei dieser Sachlage ist die Periodisierung eines der unumgänglichen Mittel, um die Ordnung des geschichtlichen Materials zu erleichtern. Wenn das Setzen von Zäsuren, wie wir bereits festgestellt haben, nicht nach starren Kriterien möglich ist, dann kann das keinen Verzicht auf methodologische Prinzipien bedeuten. Die Periodisierung benötigt in ihrer Methodologie eine solche Einheit des Logischen und Historischen, die der Eigenart des historischen Materials, das es zu ordnen gilt, entspricht. Darum ist als begrifflicher Ausgangspunkt für die Periodisierung der Weltgeschichte und ihrer geographisch-ethnisch oder strukturell untergliederten Teilbereiche eine solche Kategorie notwendig, die den Strukturund Entwicklungszusammenhang der Geschichte in sich vereinigt. Dieses Erfordernis erfüllt die Kategorie der ökonomischen Gesellschaftsformation; sie widerspiegelt die umfassendste und allgemeinste sozial-historische Totalität. An der Anerkennung oder Leugnung der Lehre von den sozialökonomischen Gesellschaftsformationen und ihrer gesetzmäßigen Abfolge in aufsteigender Linie, vom Niederen zum Höheren, scheiden sich die Geister für oder wider den dialektischen und historischen Materialismus in den Gesellschaftswissenschaften. Die Kategorie der ökonomischen Gesellschaftsformation erfaßt das letztlich grundlegende und bewegende Verhältnis, von dem aus alle gesellschaftlichen Beziehungen historisch entstehen und sich zum System ausbilden: die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Die Lehre von den sozialökonomischen Formationen geht von der chronologisch ersten und inhaltlich bestimmenden gesellschaftlichen Beziehung, der materiellen Produktion, aus. Sie schafft damit das objektive Bezugssystem für die Ein- und Zuordnung der verschiedenen komplizierten Teilbereiche der Gesellschaft in ihrem Struktur- und Entwicklungszusammenhang. Dieses Bezugssystem ist — in allgemeinster Weise ausgedrückt — durch die Dialektik von Basis und Überbau und ihr vermittelndes Kettenglied, den Klassenkampf, gegeben. Jedes aus den Beziehungen der Menschen im Produktionsprozeß erwachsene Teilsystem der Gesellschaft — zum Beispiel Staat, Recht, Ideologie, Kunst und deren verschiedene Teilbereiche — besitzt, einmal entstanden, eine relative Selbständigkeit und wirkt auf alle anderen Teilsysteme sowie auch auf die grundlegende Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen zurück. Dabei sind die Wechselwirkung der gesellschaftlichen Bereiche untereinander, 10
Bollhagen, Peter, Das Spezifische der Einheit des Logischen und Historischen in der Geschichtswissenschaft, in: DZfPh, 12. Jg., 1/1964, S. 29 und 32f.
Zu methodologischen Problemen der Periodisierung
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auch die Rückwirkung der Teilbereiche des Überbaus auf die Basis recht verschieden in Zeiten der Evolution und Revolution. Aus allen diesen Gründen entstehen mit dem quantitativen u n d qualitativen Wachstum der gesellschaftlichen Beziehungen jene Vielfalt u n d Kompliziertheit von Ereignissen und Zäsuren, die uns für jeden konkreten Fall die Entscheidung über allgemeine und spezielle Periodisierungseinschnitte erschwert. Diese objektive Spezifik der gesellschaftlichen Bewegung ist auch der eigentliche G r u n d dafür, warum wir bestimmte Arten von Fakten, die sich auf die Basis oder auf den Überbau einer jeweiligen Gesellschaftsformation beziehen, nicht zu alleinigen Periodisierungskriterien nehmen dürfen. Darüber hinaus haben wir folgende Eigenart der Widerspruchsdialektik zu berücksichtigen: Die Widersprüche (die Impulse jeglicher Entwicklung), die sich in der Geschichte vor allem in den Produktions- und Klassenverhältnissen offenbaren, wirken nicht n u r in isolierten Zeitpunkten, sondern wirken an jedem Ort, zu jeder Zeit und in jeder Erscheinung; die Widersprüche zeigen sich auch in einer Unzahl von Formen und Arten, führen zu mannigfaltigen Lösungen, partiellen oder vollständigen, zeitweiligen oder endgültigen. 1 1 Auf der Basis des jeweiligen Grund- bzw. Hauptwiderspruchs vollzieht sich die geschichtliche E n t wicklung in einem Komplex von Widersprüchen 1 2 , die — wie gesagt — mannigfaltige Formen annehmen und zu vielfältigen Lösungen — bis zur Änderung des ökonomischen und sozialen Gesamtsystems (der ökonomischen Gesellschaftsformation) — führen. Indem wir von den Widersprüchen in der Gesellschaft sprechen, sind wir in besonders eindringlicher Weise auf die Frage verwiesen, welche methodologische Bedeutung die Lehre vom Klassenkampf hat. Marx u n d Engels sahen im Struktur* und Entwicklungszusammenhang der gesellschaftlichen Totalität, d. h. im historisch veränderlichen System der jeweiligen Zusammenhänge u n d Wechselwirkungen zwischen Produktivkräften, Produktionsverhältnissen u n d Überbau, die Klasse, die eine ökonomische und zugleich soziale Kategorie ist, als entscheidendes Mittelglied zwischen Basis und Überbau der antagonistischen ökonomischen Gesellschaftsformationen. Dabei wies Marx darauf hin, „daß in einem vermittelten Verhältnis das vermittelnde Glied stets die zentrale Rolle gegenüber den Polen dieser Beziehung spielt". 1 3 Wenn Marx in seinem berühmten Brief an Weydemeyer vom 5. März 1852 schrieb, daß die Existenz der Klassen an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden sei u n d der Klassenkampf im Kapitalismus notwendig zur D i k t a t u r des Proletariats führe, dann ist daraus methodologisch f ü r die Periodisierung folgende Konsequenz zu ziehen: Wir haben die Klasse stets im Zusammenhang mit der Dialektik von Basis u n d Überbau zu sehen. Dies ist auch notwendig, u m uns von solchen junkerlich-bürgerlichen Auffassungen abzugrenzen, die die Politik als Maßstab 11
Marxistische Philosophie, S. 454f., 457f. 12 Ebenda, S. 456, 466, 483. 13 Marx, Karl, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 237.
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für die Periodisierung verabsolutieren und hypostasieren. 14 Im Klassenkampf tritt die Dialektik von objektiven und subjektiven Faktoren, die für die Geschichte so charakteristisch ist, besonders sichtbar zutage. Ein besonderes Augenmerk ist stets auf die die Entwicklung tragenden und sie vorwärtstreibenden gesellschaftlichen Kräfte zu richten, zum Beispiel seit dem 19. Jahrhundert auf die historische Mission der Arbeiterklasse. In der revolutionären Arbeiterklasse nimmt das bewußte Element der subjektiven Kräfte der Geschichte eine neue, bisher nie gekannte hohe Qualität an; das zeigt sich insbesondere in der Entstehung und Entwicklung der revolutionären Partei der Arbeiterklasse. Das ist ein neuer Beweis dafür, daß der Klassenkampf die Schaltstation ist, über die die Menschen Geschichte machen. Aus allen diesen Gründen werden wir bei der Setzung von Periodisierungseinschnitten solche markanten Ereignisse — meist tatsächlich eine Summe von Fakten — berücksichtigen müssen, die eine Veränderung in den Beziehungen und Kräfteverhältnissen zwischen den Klassen und Klassenfraktionen zueinander bzw. zum Staat, aber auch der Staaten und Völker zueinander ausdrücken. Wir haben sowohl den inneren als auch äußeren, den regionalen und auch internationalen Aspekt der Klassenbeziehungen zu berücksichtigen. Dabei müssen wir selbstverständlich die Entwicklung der Klassen und der Klassenkämpfe stets auf dem Boden und im Zusammenhang mit der jeweiligen Entwicklungsstufe der Produktionsweise sehen. Sonst würden wir den Boden des Materialismus verlassen und die Dialektik von Basis und Uberbau übersehen, das Wechselverhältnis von Ökonomie und Politik nicht richtig herausarbeiten. Immer wieder werden wir zum komplexen Denken, zum Blick auf die gesellschaftliche Totalität, auf das Gesamtsystem der gesellschaftlichen Beziehungen, auf die ökonomische Gesellschaftsformation gezwungen. Naturgemäß werden für die Periodisierung Ereignisse des politischen Klassenkampfes—nie zu übersehen: stets auf der Basis der Entwicklung der Produktionsverhältnisse — vorrangige Berücksichtigung finden müssen. Der Systemcharakter der gesellschaftlichen Struktur schließt jedoch nicht aus, sondern erfordert sogar, daß auch Momente aus anderen Bereichen des Klassenkampfes (des ökonomischen, militärischen, ideologischen, kulturellen) für die Zäsuren herangezogen werden und oft besonderes Gewicht haben. Obwohl die einzelnen Teilbereiche der gesellschaftlichen Struktur und Entwicklung relativ selbständig sind15, dürfen sie nicht klassenindifferent periodisiert werden; Klassenstruktur und Klassenkampf stellen nun einmal den wesentlichen Zusammenhang von Struktur und Entwicklung der Gesellschaft her. Es gibt keinen noch so speziellen Teilbereich der Gesellschaft, der von ihm unabhängig wäre. Aus diesem Grunde darf man aus der relativen Selbständigkeit der gesellschaftlichen Teilbereiche — die Schwierigkeiten der Periodisierung gleich14
16
Vgl. Below, Georg v., Über historische Periodisierung mit besonderem Blick auf die Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit, Berlin 1925, S. 18. Ich stütze mich teilweise auf eine Materialsammlung von Dr. Helmut Bleiber.
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sam fliehend und dem Prinzip des geringsten Widerstandes nachgebend — nicht allzu voreilig den Schluß ziehen, daß es in der Regel keinen Synchronismus in der Entwicklung und Ausbildung der verschiedenen Sphären der Gesellschaft gebe. Als Beispiel für das zeitliche Auseinanderfallen der Entwicklung verschiedener struktureller Bereiche der Gesellschaft wird manchmal folgendes angeführt. Erst seit der Großen Französischen Revolution datiere die Geschichte der kapitalistischen Gesellschaftsformation in Deutschland. Demgegenüber sei längst vor dem Beginn der bürgerlichen Umwälzung und damit dem Beginn der kapitalistischen Gesellschaftsformation eine bürgerliche Literatur vorhanden, und zwar nicht nur in Ansätzen und keimhaften Elementen, sondern in voller Blüte, eine Literatur, die den Charakter der gesamtliterarischen Entwicklung ihrer Zeit bestimmt habe. Diese Argumentation geht von einer falschen Methodologie aus, indem man bestrebt ist, aus den Produktionsverhältnissen unvermittelt — ohne bewußte Beachtung der Klassenbewegung — auf die Überbauerscheinungen zu schließen; überdies wird bei dieser Argumentation der Charakter der Epoche vor 1789 als Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus nicht beachtet. W i r d jedoch die Literatur als Uberbauerscheinung im Zusammenhang mit der Klassenbewegung, die in der Entwicklungsstufe der Produktion und in den nationalen und internationalen Entwicklungsbedingungen der Politik wurzelt, betrachtet, dann werden wir durch die Verwobenheit und das zeitliche Zusammenfallen der politischen und ökonomischen Wirkungsbedingungen des Bürgertums einerseits und seiner Kunst und Philosophie andererseits verblüfft. Kunst und Philosophie erweisen sich als wichtigste Waffen im Klassenkampf des deutschen Bürgertums während des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts. Wenn die Lehre vom Klassenkampf in der Periodisierung methodologisch richtig angewandt wird, dann gibt es wahrscheinlich mehr Kongruenz als Diskrepanz in dem chronologisch-genetischen Ablauf der verschiedenen Teilbereiche der Gesellschaft. Auf jeden Fall sollten marxistisch-leninistische Gesellschaftswissenschaftler, wie politische Historiker, Wirtschafts-, Literatur- und Kunsthistoriker usw., im gegenwärtigen Stadium ihrer Periodisierungsbemühungen ihre Aufmerksamkeit mehr auf das zeitliche Zusammen- als auf das Auseinanderfallen der gesellschaftlichen Teilbereiche richten. Eines ist jedoch methodologisch unabdingbar: Es gibt keine Periodisierung der einzelnen Bereiche in Basis und Überbau für sich und an sich. Es sind in der Periodisierung noch andere Zusammenhänge zu beachten. W i e schon angedeutet, sind sowohl innen- wie außenpolitische Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Wenn in früheren Diskussionen mit Recht gesagt wurde, daß bei der Setzung von Zäsuren unter Umständen eine Summe von historischen Fakten zu berücksichtigen ist, dann geht es um jene Fakten, die sich auf die verschiedenen Aspekte des Klassenkampfes beziehen. W i r stoßen ja bei der Periodisierungsarbeit auf Schritt und Tritt auf die Bündelung derartiger Fakten. Dabei bedeutet Bündelung von Fakten nicht einfach ihr summierendes Zusammenfassen, sondern erfordert darüber hinaus die Analyse des spezifischen Gewichts, 9
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das die einzelnen Fakten historisch jeweilig besitzen — besonders im Sinne des Weiterwirkens. Wenn Einschnitte in der Geschichte vor allem dort zu sehen und zu fixieren sind, wo mehr oder weniger ausgeprägte qualitative Veränderungen im Wechselspiel von Basis und Überbau, von Ökonomie und Klassenkampf Situation, am augenfälligsten zum Ausdruck kommen, dann sind möglichst konkrete historische Daten oder doch einige mehr oder weniger dicht nebeneinander liegende Daten zu wählen. Die Neigung, Einschnitte im geschichtlichen Verlauf über viele Jahrzehnte und manchmal Jahrhunderte zu erstrecken, kann leicht zur Verwischung der qualitativen Veränderung führen. Um Periodisierungseinschnitte zu fixieren, haben wir solche charakteristischen, d. h. qualitative Veränderungen anzeigende Daten zu suchen, die uns gestatten, im eben angedeuteten Sinne Bündel von Fakten zu erfassen, die in der zeitlichen Nähe dieser Daten liegen. Mit unseren Ausführungen über die Bedeutung der Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen Produktivkräften, Produktions- und Klassen Verhältnissen und ihren Überbauerscheinungen für die Periodisierung kommen wir wiederum auf das Problem der Widersprüche zurück, die mit wechselnder Intensität und in einer Unzahl von Formen und Arten auftreten und somit auch zu mannigfaltigen Lösungen, partiellen oder vollständigen, zeitweiligen oder endgültigen führen. Somit müssen wir die eingangs gegebene formale Kennzeichnung der Periodisierung als Setzen von Zäsuren und Bestimmen des Inhalts der einzelnen Zeitabschnitte inhaltlich vertiefen und präzisieren. Die Periodisierung soll die Entwicklung und Lösung von Widersprüchen, die sich in der Dialektik von Produktivkräften, Produktions- und Klassenverhältnissen und ihren Überbauerscheinungen zeigen, im Zusammenhang mit der gesetzmäßigen Abfolge der Gesellschaftsformationen und deren verschiedenen qualitativen Phasen zum Ausdruck bringen. Indem die Klasse und ihre Bewegung die entscheidenden Kettenglieder zwischen der Basis und dem Überbau einer antagonistischen Klassengesellschaft darstellen, soll die Periodisierung auch zeigen, welche Klasse jeweils der Hegemon in der Befreiungsbewegung der Volksmassen ist; stets zielt die Periodisierung darauf ab, qualitative Veränderungen im Sinne des gesellschaftlichen Fortschritts zu kennzeichnen. Um die Bedeutung und den historischen Platz der verschiedenen Periodisierungsabschnitte annähernd adäquat zu kennzeichnen, ist ein System von Begriffen notwendig. Es werden solche Begriffe wie Epoche, Hauptperiode, Periode, Etappe, Phase angewendet. Wir sprechen von einer Begriffshierarchie im System der Periodisierung. Wir müssen uns jedoch darüber Rechenschaft ablegen, daß wir den Inhalt dieser Begriffe, ihre Abgrenzung und zugleich ihren inneren Zusammenhang noch nicht mit der nötigen Klarheit erfaßt haben. Wir werden dies tun müssen, indem wir unsere theoretischen Überlegungen anknüpfen an die Erfahrungen, die wir bei der Anwendung dieser Begriffe, das heißt bei der Bewältigung des historischen Materials, machen werden. Unsere weiteren Unter-
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suchungen werden ergeben, daß wir beispielsweise den Begriff der Hauptperiode differenzierter auffassen und anwenden müssen. Die ökonomische Gesellschaftsformation ist der grundlegende Periodisierungsbegriff. Da jedoch während der bisherigen Geschichte die verschiedenen Gesellschaftsformationen niemals in reiner Form existieren, sich weltgeschichtlich selbst nach den bedeutsamsten Revolutionen nur etappenweise durchsetzen, ja auch gleichzeitig nebeneinander existierten, ferner ihre Zeit der Entstehung, Blüte und des Niedergangs hatten, reicht die einfache abstrakte Einteilung nach Gesellschaftsformationen nicht aus. Es entstand deshalb das Bedürfnis und die Notwendigkeit, den Begriff der Epoche zu verwenden, und zwar a) als Synonym des Begriffs der Gesellschaftsformation, die in den entwicklungsbestimmenden Zentren der Weltgeschichte jeweils dominiert, b) zur Bezeichnung für den Zeitraum des Übergangs von einer Gesellschaftsformation in eine andere, c) für große Entwicklungsstadien innerhalb einer Gesellschaftsformation oder innerhalb einer Übergangsepoche. Daraus folgt, daß wir den Begriff der Epoche in unauflöslicher dialektischer Verbindung mit dem Grundbegriff der ökonomischen Gesellschaftsformationen und ihrer Abfolge gebrauchen. Lenin hat den Begriff der Epoche unter verschiedenen Aspekten und politischen Bezugssystemen verwendet 16 — unter dem Teilaspekt des Charakters der Kriege (Epoche der nationalen Kriege) oder der historischen Rolle der Bourgeoisie (Fortschritt oder Reaktion), dann unter dem Aspekt eines neuen Entwicklungsstadiums einer Gesellschaftsordnung (Imperialismus — höchstes und letztes Stadium des Kapitalismus). Nach der Oktoberrevolution kam zu diesem Aspekt noch ein weiterer hinzu; in verschiedenen Dokumenten 1 7 verwendete Lenin den Begriff der Epoche zur grundsätzlichen Abgrenzung und zur Kennzeichnung des Kampfes der beiden Gesellschaftsysteme Kapitalismus und Sozialismus. Diesen letzten und umfassenden Anwendungsbereich des Begriffs Epoche bei Lenin haben wir besonders bei der Gesamtdarstellung zu berücksichtigen, zumal wir die verstärkten Angriffe auf die marxistische Theorie von der gesetzmäßigen Abfolge der sozialökonomischen Gesellschaftsformationen zurückzuweisen haben. Indem Lenin den Begriff der Epoche unter verschiedenen Aspekten und politischen Bezugssystemen verwendet hat, wendete er die eingangs gekennzeichnete Methodologie an, nämlich den Erkenntnisprozeß in Beziehung zur Praxis, zu dem, was der Klassenkampf jeweils braucht, zu setzen. Ja, der Leninismus selbst entstand aus der Analyse der neuen Epoche, die mit dem Imperialismus, dem letzten Stadium des Kapitalismus, anhob; der Leninismus erweiterte sich schließlich zum Marxismus unserer Epoche, zur Epoche des Ubergangs vom Kapitalismus 16
17
9*
Ich stütze mich im folgenden auf Material über den EpochenbegrifE bei Lenin, das Dr. Wolfgang Küttler zusammengefaßt hat. Vgl .Lenin, W.I., Antwort auf den offenen Brief eines Spezialisten (1919), in: Derselbe, Werke, Bd 29, S. 216; vgl. Shukov, E. M., Lenin und der Begriff der Epoche in der Weltgeschichte in: W. I. Lenin und die Geschichtswissenschaft, Berlin 1970.
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zum Sozialismus. Im dialektischen Zusammenhang mit der Entwicklung der historischen Praxis erweiterte sich der Leninismus und mit ihm der marxistischleninistische Begriff der Epoche. *
Die Einteilung der Geschichte nach Epochen muß unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung der verschiedenen Gesellschaftsformationen und ihrer Übergänge geschehen. Die folgenden Ausführungen werden sich im wesentlichen auf die Bedeutung der Epochenemteilurig beschränken. Zu ihrer Klärung sind zunächst folgende Betrachtungen notwendig. Wenn wir oben festgestellt haben, daß die Periodisierung die Entwicklung und Lösung von Widersprüchen, die sich in der Dialektik von Produktivkräften, Produktions- und Klassenverhältnissen und ihren Überbauerscheinungen zeigen, zum Ausdruck bringen soll, dann stoßen wir notwendigerweise auf das Verhältnis von Evolution und Revolution. Zunächst müssen wir feststellen: Die Auffassung der Evolution wird noch nicht allein dadurch dialektisch, daß Sprünge in der Entwicklung zugegeben werden. Die wahrhaft dialektische Lösung der Frage lautet: Entwicklung ist Kampf von Gegensätzen. Lenin hat in seinem bekannten Fragment „Zur Frage der Dialektik" zum Entwicklungsbegriff folgendes ausgeführt: „Die beiden grundlegenden (oder die beiden möglichen? oder die beiden in der Geschichte zu beobachtenden?)Konzeptionen der Entwicklung (Evolution) sind: Entwicklung als Abnahme und Zunahme, als Wiederholung, und Entwicklung als Einheit der Gegensätze (Spaltung des Einheitlichen in einander ausschließende Gegensätze und das Wechsel Verhältnis zwischen ihnen)." 18 Die erste von Lenin angeführte Auffassung ist die von Darwin, Spencer und allen positivistischen Evolutionisten. Auch wenn man diese Vorstellung einer linearen Entwicklung durch die Einführung von Sprüngen ergänzen wollte, würde sie dadurch noch nicht dialektisch werden. Folgende Fragen drängen sich auf: Wo ist der Ursprung der Entwicklung? Wie kommt die Selbstbewegung der menschlichen Entwicklung zustande? Wo ist der Schlüssel zum Verständnis der Evolution? Die positivistischen Evolutionisten können im besten Fall nur Tatsachen konstatieren und Erscheinungen beschreiben. Darum fährt Lenin in dem erwähnten Fragment fort : „Die erste Konzeption ist tot, farblos, trocken. Die zweite lebendig. Nur die zweite liefert den Schlüssel zu der ,Selbstbewegung' alles Seienden; nur sie liefert den Schlüssel zu den ,Sprüngen', zum .Abbrechen der Allmählichkeit', zum .Umschlagen in das Gegenteil', zum Vergehen des Alten und Entstehen des Neuen. Die Einheit (Kongruenz, Identität, Wirkungsgleichheit) der Gegensätze ist bedingt, zeitweilig, vergänglich, relativ. Der Kampf der einander ausschließenden « Lenin,
W.I.,
Zur Frage der Dialektik, in: Derselbe, Werke, B d 38, S. 339.
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Gegensätze ist absolut, wie die Entwicklung, die Bewegung absolut ist." 1 9 I m Kampf der einander ausschließenden Widersprüche, die zur Lösung drängen, liegt die Quelle der „Selbstbewegung". Der Ausdruck „Selbstbewegung" bedeutet, daß der Ursprung der Entwicklung dem sich entwickelnden Gegenstand immanent, nicht aber transzendent ist. 20 Die Auffassung der positivistischen Evolutionisten kann zwar das allmähliche Anwachsen quantitativer Veränderungen und das sprunghafte Entstehen einer neuen Qualität beschreiben, aber sie kann nicht erklären, warum sich die Dinge und Erscheinungen entwickeln und sich schließlich qualitativ verändern. Das kann man nur dann, wenn man die den Erscheinungen immanenten Widersprüche (ihre Einheit und ihren Kampf) aufzeigt und deutlich macht, wie diese Widersprüche zur Lösung drängen. Wir haben also bei der Geschichtsschreibung im allgemeinen und bei der Periodisierung im besonderen darauf zu achten, daß wir nicht nur beschreiben; es gilt auch, Charakter, Formen und Lösungsmöglichkeiten der Widersprüche im dialektischen Zusammenhang von Basis und Überbau herauszuarbeiten. Noch einmal sei es gesagt: Das Verhältnis von Evolution und Revolution ist durch das Verhältnis von Quantität und Qualität nicht vollständig geklärt — zumal der Begriff der Qualität selbst im Hinblick auf die geschichtlichen Erscheinungen wiederum sehr vielschichtig ist, also nicht jedes Umschlagen von Quantität in Qualität in der gesellschaftlichen Entwicklung gleichbedeutend mit Revolution ist. Wir kommen auf diese Frage noch zurück. Vorerst sei nur noch festgestellt: Die dialektische Kategorie der Evolution ist aufs engste mit den anderen Kategorien der Dialektik verbunden, den Kategorien des Zusammenhangs, der Bewegung, des Umschlagens in das Gegenteil, der Einheit und dem Kampf der Gegensätze. Die Kategorie der Evolution geht aus ihnen hervor und enthält in gewissem Sinne sie alle; sie ist ihre Synthese. Darum stellt auch das Lehrbuch „Marxistische Philosophie" fest: „Der Entwicklungsbegriff ist äußerst komplex." 2 1 Gerade im Interesse der Periodisierung muß uns der Begriff des Zusammenhangs sowohl hinsichtlich seiner theoretischen Erfassung als auch seiner praktischen Anwendung noch viel beschäftigen. In unseren bisherigen Ausführungen haben wir den Strukturzusammenhang von Basis und Uberbau, den Zusammenhang gleichsam im raum-zeitlichen Querschnitt, in der Horizontalen behandelt. Aber es gibt auch den Zusammenhang im raum-zeitlichen Längsschnitt, in der Vertikalen, also nicht nur den Struktur-, sondern auch den Entwicklungszusammenhang. Auf dieses gleichfalls vielschichtige Problem hinzuweisen ist u m so wichtiger, als bei der Periodisierung mit ihren Zäsuren (Einschnitten) ohnehin die Gefahr besteht, daß geschichtliche Lebensfäden auseinandergerissen werden. Mit dem von Lenin vermittelten Bewußtsein, daß Einschnitte (Zäsuren) relativ is Ebenda. 0 Vgl. Luppol, I., Lenin und die Philosophie, a. a. O., S. 109ff. 21 Marxistische Philosophie, S. 339. 2
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sind, sollten wir überprüfen, ob wir nicht stärker mit den Begriffen Knoten- und Wendepunkte arbeiten sollten. Ich möchte vor allem auf folgende Aufgabe der Periodisierung mit Nachdruck hinweisen. Sie soll nicht nur die Entwicklung und Lösung von Widersprüchen, die sich vor allem im Klassenkampf zeigen, zum Ausdruck bringen, sondern zur gleichen Zeit die leitenden Tendenzen des Entwicklungsprozesses in den großen Epochen; unter Berücksichtigung des Systemcharakters der Gesellschaftsordnungen sind die grundlegenden Entwicklungstendenzen sowohl in der Basis als auch im Überbau sichtbar zu machen. So sind beispielsweise für die Periodisierung des sogenannten Mittelalters nicht allein die Entwicklungsstadien der feudalen Produktionsverhältnisse, sondern auch die des Überbaus, beispielsweise die der Dialektik von königlich-kaiserlicher Zentralgewalt, Papsttum und Fürstentum, gebührend herauszuarbeiten und in charakteristischen Zäsuren (Wendepunkten) zu fixieren. Dabei haben wir stets des bereits erwähnten Satzes von Engels eingedenk zu sein, daß in den antagonistischen Klassengesellschaften der Staatsgewalt die Gewalt der Volksmassen gegenüberseht, die wir in ihrem Bewußtsein und ihrer Organisiertheit nach charakteristischen Entwicklungsstadien zu verfolgen haben. Zum weltgeschichtlichen Entwicklungszusammenhang über Gesellschaftsformationen und Epochen hinweg gehört das von den Klassikern des wissenschaftlichen Sozialismus oft angeführte Gesetz von der Negation der Negation. Es kennzeichnet eine Entwicklung, die die bereits durchlaufenen Stadien gleichsam noch einmal durchmacht, aber anders, auf höherer Stufe, und die nicht geradlinig, sondern sozusagen in einer Art Spirale vor sich geht. 22 Ohne das Gesetz von der Negation der Negation ausdrücklich zu erwähnen, hat Friedrich Engels den weltgeschichtlichen Zusammenhang von der antiken Sklaverei bis zum Sozialismus in einer auch für die Periodisierung relevanten Weise skizziert. Im Anti-Dühring schrieb er: „Erst die Sklaverei machte die Teilung der Arbeit zwischen Ackerbau und Industrie auf größerm Maßstab möglich, und damit die Blüte der alten Welt, das Griechentum. Ohne Sklaverei kein griechischer Staat, keine griechische Kunst und Wissenschaft; ohne Sklaverei kein Römerreich. Ohne die Grundlage des Griechentums und des Römerreichs aber auch kein modernes Europa. Wir sollten nie vergessen, daß unsere ganze ökonomische, politische und intellektuelle Entwicklung einen Zustand zur Voraussetzung hat, in dem die Sklaverei ebenso notwendig wie allgemein anerkannt war. In diesem Sinne sind wir berechtigt zu sagen: Ohne antike Sklaverei kein moderner Sozialismus." 23 Aus diesen Ausführungen ist methodologisch zu schlußfolgern, daß zur Periodisierung nicht nur die Diskontinuität gehört, wie sie sich in revolutionären Zäsuren (besser gesagt: Knoten- und Wendepunkten) manifestiert, sondern auch die Kontinuität, d. h. der innere Zusammenhang, in den weltgeschichtlichen 22 23
Vgl. Lenin, W. /., Karl Marx, in: Derselbe, Werke, Bd 21, S. 42f. Engels, Friedrich, Anti-Dühring, in: MEW, Bd 20, S. 168.
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Schwerpunktzentren. Die Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität ist bedeutungsvoll, u m uns vor Übereifer im Neuerertum zu schützen. Vergegenwärtigen wir uns nun die Bedeutung der Kategorie der Revolution für die Periodisierung! In allgemeinster Weise hat das Lehrbuch „Marxistische Philosophie" die soziale Revolution als besondere Form des Qualitätsumschlages bezeichnet. (Damit ist übrigens wiederum die schon erwähnte Vielschichtigkeit des Begriffs Qualität angedeutet.) Wir alle kennen den Satz von Marx: „Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte"24 oder den von Engels: „Jede wirkliche Revolution ist eine soziale, indem sie eine neue Klasse zur Herrschaft bringt und dieser gestattet, die Gesellschaft nach ihrem Bilde umzugestalten." 2 3 So wichtig es ist, die Widersprüche in der Evolution gegenüber allen bürgerlichen Auffassungen, gegenüber den positivistischen Evolutionisten aufzuzeigen, noch wichtiger ist es festzustellen, in welcher Richtung die Lösung der Widersprüche liegt und welche Klasse die historische Mission hat, die Lösung durchzusetzen. Darum ist der Marxismus-Leninismus in einem hohen Maße eine Philosophie der Revolution. Vergessen wir auch nie die Worte von Friedrich Engels am Grabe von Karl Marx: Er war vor allem Revolutionär. Unser Hirn und Herz davon zu erfüllen, haben wir Historiker und Gesellschaftswissenschaftler um so mehr Veranlassung, als in der bürgerlichen Geschichtsschreibung gegenwärtig die Tendenz immer ausgeprägter wird, die revolutionären Höhepunkte zu entwerten und in einer evolutionären Kontinuitätslinie gleichsam einzuebnen. Das bezieht sich nicht nur auf die bürgerliche „Revolution Nr. 1", sondern selbst auf die politische und industrielle Revolution in England, und die Französische Revolution wird zu einer atlantischen und als Auftakt zur „modernen Industriegesellschaft" interpretiert. Und was die Große Sozialistische Oktoberrevolution betrifft, so entstehen in der imperialistischen Welt schon fast ganze Bibliotheken von Büchern und Schriften, die das Ziel verfolgen, die welthistorische Größe von 1917 zu entwerten. Gerade im Kampf gegen die imperialistische Ideologie der Gegenwart haben wir allen Grund, die revolutionären Höhepunkte zum vollen, ungeschmälerten Recht kommen zu lassen, wie dies Marx und Engels taten. Wo die entscheidende entwicklungsbestimmende und strukturenschaffende bzw. -überwindende Rolle des Klassenkampfes und der Revolutionen geleugnet oder abgewertet wird, dort beginnt der „moderne "Strukturalismus in der Geschichtstheorie. 26 Es ist ein Grundanliegen aller strukturanalytischen Methoden und Richtungen in der neuesten imperialistischen Geschichtsschreibung, Klassenkampf und Revolution aus den strukturbestimmenden Faktoren der Weltgeschichte auszuklammern sowie revolutionäre Zäsuren zu nivellieren und in übergreifende Strukturwandlungen aufzulösen. Damit soll der evolutionären Reform des Bestehenden mit apologetischer Absicht unbedingter Vorrang vor jeder 24
Marx, Karl, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-50, in: MEW, Bd 7, S. 85. 25 Engels, Friedrich, Soziales aus Rußland, in: MEW, Bd 18, S. 560. 2(i Vgl. Küttler, Wolf gang/Lozek, Gerhard, Marxistisch-leninistischer Historismus und Gesellschaftsanalyse . . . , in diesem Band, S. 57ff.
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revolutionären Lösung gegeben und das Fortbestehen der bürgerlichen Gesellschaft gewissermaßen aus der ganzen bisherigen Geschichte gerechtfertigt werden. Bei der Struktur- oder Systemanalyse müssen wir darauf achten, daß wir den imperialistischen Ideologen nicht auf den Leim kriechen und in Revisionismus verfallen. Bezogen auf die Periodisierung, äußert sich die Überbetonung der Struktur darin, daß die Zäsuren, die aus qualitativen Wandlungen des Bestehenden erwachsen, höher bewertet werden als Zäsuren, die revolutionäre Höheund Knotenpunkte setzen; die letzteren werden dann ausschließlich als Folge der ersteren, nicht aber unter dem Blickpunkt ihrer weiteren zukunftsweisenden Auswirkung betrachtet. Bestenfalls werden beide Zäsuren gleichbewertet. (Vergleiche die Zäsurenpaare: 1453 bzw. 1470—1517 und 1900—1917). Würden wir eine solche Methodologie befolgen, würden wir in die Nähe von Auffassungen kommen, die den evolutionären Wandel eines Gesellschaftssystems als das (auch im moralischen Sinne) Normale und den revolutionären Umbruch als pathologischen Ausnahmefall kennzeichnen, durch den eigentlich nur Versäumtes nachgeholt wird. Wir sehen also, daß die Frage, wie Höhepunkte des Klassenkampfes oder ihnen vorangehende Strukturabwandlungen bei der Zäsurensetzung zu bewerten sind, eine eminent wichtige Grundposition unserer Geschichtsauffassung berührt. Immer wieder betonen wir, daß die Grundfrage jeder Revolution stets die Frage der politischen Macht ist, eben im Sinne des Übergangs der Macht in die Hände der Klasse, welche die neuen Produktionsverhältnisse verkörpert. Die europäische Geschichte in ihrer Gesamtheit und die deutsche Geschichte insbesondere lehren uns, daß auch politische Revolutionen sich öfter in Etappen vollziehen müssen, als man es sich gemeinhin bewußt macht. Sehr oft reichen die objektiven und subjektiven Kräfte der Revolution zu einem vollständigen Sieg nicht aus, oder umgekehrt muß die Konterrevolution mehr oder weniger große Konzessionen machen, um ein Wiederaufflammen einer Revolution von unten zu verhindern. Die List des geschichtlichen Fortschritts ist oft hinter einem komplizierten Wechselspiel von Revolution und Konterrevolution verdeckt. Auch solche Erhebungen der revolutionären Volksmassen, die noch vor oder relativ kurze Zeit nach der Etablierung ihrer Macht eine Niederlage erlitten haben, können wir dann als Revolutionen ansprechen, wenn sie im nationalen und internationalen Maßstab bedeutende Veränderungen in den Klassen- und Machtverhältnissen und effektive — zumindest moralisch-politische — Voraussetzungen für die später folgenden Revolutionen schufen. Dieser letzte Aspekt ist besonders wichtig. Es sei an den Ausspruch von Lenin erinnert, daß wir alle auf den Schultern der Pariser Kommune stünden. Revolutionen gleichen sozialhistorischen Inhalts stehen stets auf die eine oder andere Weise in einem inneren Zusammenhang zueinander. Diese Tatsache ist für unsere Periodisierungsarbeit außerordentlich wichtig. Das marxistisch-leninistische Prinzip, daß eine soziale Revolution eine gesellschaftliche Umwälzung ist, in der die Herrschaft einer reaktionär gewordenen Klasse durch die Herrschaft einer anderen, progressiven Klasse ersetzt wird, ist eine methodologische Leitlinie und kein starres Kriterium. Würden wir dieses
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marxistische Prinzip zu einem starren Kriterium machen, an dem alle revolutionären Bewegungen gemessen werden, dann kämen wir zu sehr abwegigen Konsequenzen. Dann müßten wir die frühbürgerliche Revolution in Deutschland zu einer rein religiösen Bewegung oder zu einer reinen Bauernbewegung degradieren und beides voneinanderreißen. Oder: der Revolution von 1905 in Rußland müßten wir gleichfalls den Ehrentitel einer Revolution versagen. Methodologisch gesehen, würden wir die marxistisch-leninistische Definition der Revolution in undialektischer Weise anwenden, d. h., wir würden revolutionäre Erscheinungen, die in der lebendigen Geschichte in vielfacher Weise miteinander in Verbindung stehen, auseinanderreißen. Wir würden die Geschichte präzeptorhaft beurteilen, statt sie kritisch-umsichtig zu analysieren. Wir würden sie entsetzlich verarmen, statt sie in ihrem revolutionären Reichtum zu erschließen.
*
Wir sind damit an einem Punkt unserer Darlegungen angelangt, wo konkret beantwortet werden muß, welche Begriffe und Erfahrungen für die Periodisierung fruchtbar gemacht werden können — selbstverständlich unter Wahrung des marxistisch-leninistischen Historismus, indem man stets die Besonderheiten der jeweiligen historischen Entwicklungsstufen und die Dialektik von Inhalt und Form in den verschiedenen Gesellschaftsformationen berücksichtigt. Zu den Begriffen, die nach den Methoden eben dieses marxistisch-leninistischen Historismus f ü r die Periodisierung zumindest der Klassengesellschaften durchgängig berücksichtigt werden sollten, gehören u. a.: a) Begriffe des historischen Materialismus, wie Evolution als widerspruchsvolle Entwicklung, d. h. auch als Klassenkampf; Revolutionen als höchste Form des Klassenkampfes, als „Lokomotiven der Geschichte" (Marx); Verhältnis von Staat-Revolution-Staat; Systemcharakter der Gesellschaftsformation und die wechselseitige Beeinflussung der verschiedenen Bereiche in Basis und Überbau; b) Periodisierungsbegriffe, die sich auf die neuere Zeit beziehen, wie Ubergangsepoche vom Kapitalismus zum Sozialismus; letztes Stadium des Kapitalismus oder Vorabend der proletarischen Revolution; Übergangsepoche vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus (1871—1900). Zu den Erfahrungen gehören Klassikeraussagen über historische Ereignisse und zeitgeschichtliche Grundsatzerklärungen und Beschlüsse der Arbeiterpartein und der internationalen Arbeiterbewegung überhaupt. Die Auswertung der Klassikeraussagen und der Grundsatzerklärungen der Arbeiterparteien bedarf auch einer Methodik, zu der selbstverständlich in erster Linie das Berücksichtigen des marxistisch-leninistischen Historismus gehört. Es entsteht sofort die Frage: Wie sind die Klassikerzitate nicht nur hinsichtlich ihrer unmittelbaren Aussage und ihres Verhältnisses zueinander auszuwerten, sondern auch unter dem Blickpunkt der Erfahrungen der Periodisierung etwa der letzten 100 Jahre und der neuesten Zeit ? Das ist von entscheidender Bedeutung.
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Gehen wir zunächst von den unbestreitbaren Epochenjahren 1917 und 1789 aus; sie sind nicht Periodisierungseinschnitte schlechthin, die eine formale Beherrschung des geschichtlichen Stoffes erleichtern; diese Epochenjahre haben eine erstrangige Funktion inhaltlicher Art — entsprechend der Aufgabe der Periodisierung, uns zu helfen, in das objektive Geschehen tiefer einzudringen. Diese Funktion inhaltlicher Ar t besteht in zweierlei Hinsicht: Erstens zeigen die Epochenjahre jene Revolutionszeit an, in der die politische Aktivität der Volksmassen, also der Helden der Geschichte, die höchste Intensität erreicht, zweitens sind die Epochenjahre jene Daten, auf die sich sowohl die vorangehenden als auch die nachfolgenden Epochen und Hauptperioden orientieren, wodurch wesentliche Momente des historischen Platzes und Inhalts der Hauptperioden mitbestimmt werden. Methodisch kommt es darauf an, den inneren Zusammenhang, die organische Zuordnung von Epoche, Hauptperiode, Periode innerhalb des Systems oder Strukturgefüges der Periodisierung herauszuarbeiten. Jede große revolutionäre Zäsur stellt eine neue, stets höhere Qualität dar; darin zeigt sich der historische Fortschritt. Die Einzigartigkeit im weltgeschichtlichen Rang der Oktoberrevolution von 1917 duldet keinen Zweifel. Die Große Sozialistische Oktoberrevolution schuf zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die Voraussetzungen für die Abschaffung jeglicher Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Unter diesem Blickpunkt liegt bei aller Größe die Begrenzung des Epocheneinschnitts, den die Französische Revolution setzt. Vergleiche von Revolutionen haben sicherlich ihre Grenze. Wir sind andererseits vom Standpunkt der Einheit des Geschichtsprozesses in seiner aufsteigenden Linie aus dazu verpflichtet, die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Revolutionen und Übergangsepochen zu erforschen. Das ist aber nur möglich, wenn man nicht nur das Einmalige der Revolutionen, sondern auch das Allgemeine und Wiederholbare revolutionärer Übergänge deutlich macht. In der Einsicht von materialistischem Historismus und marxistischer Soziologie27 liegen die Aussagekraft und Allgemeingültigkeit der Lehre von der Abfolge der Gesellschaftsformationen. Nehmen wir die Entwicklung hin zum Epochenjahr 1917: I m Jahr 1848 mit dem „Kommunistischen Manifest", der Geburtsurkunde des wissenschaftlichen Kommunismus und der damit vollzogenen Revolution in der Theorie, wird gleichsam die Prognose auf das Jahr 1917 gegeben; die Pariser Kommune von 1871, die erste Arbeitermacht der Welt, gibt in der Praxis ein Fanal und zukunftsweisende Lehren. Um die Jahrhundertwende, wo einzelne Produktionsverfahren (z. B. Metallurgie), aber auch ganze Industriezweige (Elektrotechnik, Chemie) auf der Wissenschaft aufgebaut sind und wo man selbst den technologischen Produktionsablauf und die Betriebsorganisation nach wissenschaftlichen Grundsätzen zu gestalten beginnt, bereitet sich unsere heutige wissenschaftlich-technische Revolution vor. Der Kapitalismus als die letzte antagonistische Produktionsweise erfüllt damit seine geschichtliche Aufgabe, den Produktionsprozeß „nach der Seite der Auseinandersetzung mit der Natur wissenschaftlich zu 27
Vgl. Bollhagen, Peter, Soziologie und Geschichte, Berlin 1966.
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gestalten" 28, und macht damit selbst die Widersprüche zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen unerträglich. Die Monopole, erwachsen aus der Konzentration der Produktion, wollen sich u. a. auch den neuen Produktivkräften anpassen; in Wirklichkeit verschärfen sie die alten Widersprüche des Kapitalismus und schaffen neue. Das Zeitalter des Imperialismus ist angebrochen und stellt die proletarische Revolution auf die Tagesordnung. Im Imperialismus werden die materiellen und durch die Weiterentwicklung des Marxismus zum Leninismus auch die ideologischen Voraussetzungen für den Großen Oktober von 1917 geschaffen. Diese auf ein Epochen jähr ausgerichtete Entwicklung, die wir hier nur in kurzen Strichen skizzieren konnten, darf nicht teleologisch gedeutet werden; sie stellt vielmehr die Periodisierung unter den Aspekt einer gleichsam in die Ver gangenheit projizierten Prognose. Diese Methode zeigt, wie sich durch die Dialektik von objektiven und subjektiven Faktoren, von Notwendigkeit und Zufall, die Prognose des wissenschaftlichen Sozialismus realisiert hat. Was die Jahrzehnte nach 1917 betrifft, so sind sie zusammengefaßt in der Hauptperiode, die bis 1945 reicht. Das Jahr 1945, das J a h r der Befreiung der Völker vom Faschismus und des Beginns revolutionärer Umwälzungen unter der Führung der Arbeiterklasse, ist eingebettet in die gewaltige Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, die mit dem Jahre 1917 anhob. 29 Mit dem Mai 1945 beginnt eine neue Hauptperiode in der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. In sie fallen sozialistische Umwälzungen in einer Reihe von Ländern Europas und Asiens, die Herausbildung der sozialistischen Staatengemeinschaft, der Zerfall des imperialistischen Kolonialsystems und die Verschärfung der allgemeinen Krise des Kapitalismus, die zwei Phasen der erfolgreichsten Revolution in der deutschen Geschichte. In der darauffolgenden Hauptperiode von 1961 ab wird die wissenschaftlichtechnische Revolution, die in den 50er Jahren eingesetzt hatte und durch Atomkraft und Automation gekennzeichnet ist, in den beiden entgegengesetzten Lagern, dem sozialistischen und dem imperialistischen Staatensystem, verschieden wirksam. Wir haben den Beginn einerseits der entwickelten sozialistischen Gesellschaft des Sozialismus, andererseits einer neuen Phase des staatsmonopolistischen Herrschaftssystems. Die Meisterung der wissenschaftlich-technischen Revolution, die Entwicklung der Produktivkraft Mensch und der Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft bzw. des Kommunismus, sind mit großen Schwierigkeiten verbunden, die wiederum unter besonderen Umständen ideologischpolitische Differenzen im sozialistischen Weltsystem hervorrufen können. Die alte Gesetzmäßigkeit, daß sich die revolutionäre Arbeiterklasse und ihre Partei im Kampfe gegen „linke" und rechte opportunistische Tendenzen durchzusetzen haben, bewahrheitet sich unter neuen Umständen und in neuen Formen. 28 29
Koch, Gerhard, Gesetzmäßigkeit und Praxis, Berlin 1968, S. 130. Vgl. Küttler, Wolfgang, Neue Tendenzen im westdeutschen imperialistischen Geschichtsbild über die Große Sozialistische Oktoberrevolution, in: Informationen über die westdeutsche Ostpolitik und Ostforschung, 8. Jg., 4/1968, S. 1—14.
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Gerade in der Auseinandersetzung mit dem „linken" und rechten Opportunismus schließen sich die Völker der sozialistischen Staatengemeinschaft beim weiteren Ausbau des Sozialismus und im Kampf gegen den Imperialismus enger zusammen. Die Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus nimmt zunehmend Systemcharakter im Weltmaßstab an und verschärft sich. I m Dokument der Moskauer Beratung heißt es: „Der Imperialismus ist außerstande, seine verlorene historische Initiative wiederzuerlangen, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Die Hauptrichtung der Entwicklung der Menschheit wird vom sozialistischen Weltsystem, von der internationalen Arbeiterklasse, von allen
revolutionären Kräften bestimmt." Die Sowjetunion ist nach wie vor das Zentrum der revolutionären Weltbewegung und trägt die Hauptlast im internationalen Klassenkampf. Werfen wir nun einen Blick auf das Epochen jähr 1789 und versuchen wir auch hier, die Methode der in die Vergangenheit projizierten Prognose anzuwenden, d. h., zumindest auf eine der vorangegangenen Hauptperioden einen kurzen Blick zu werfen. Es bietet sich an, als Beginn jener Hauptperiode, die dem Epochenjahr 1789 unmittelbar vorausgeht, 1763 zu nehmen. Dieses J a h r des Sieges des fortschrittlichen Englands über das spätabsolutistische Frankreich in Nordamerika und des Endes des 7jährigen Krieges, damit der Behauptung Preußens als deutscher Großmacht und der Verfestigung des Dualismus zwischen Österreich und Preußen, ist überdies geeignet, sowohl international als auch national wichtige Entwicklungen in der Basis und im Überbau anzuzeigen: Beginn der industriellen Revolution in England, verbunden mit fortschrittlicher Agrarwirtschaft und ihren Auswirkungen auf Deutschland 3 0 ; Beginn und Entwicklung der klassischen deutschen Literatur und Philosophie. Die Zeit von 1763 bis 1789 kann, ähnlich wie die Zeit von 1898 bis 1917, als Epoche der Vorbereitung der Revolution bezeichnet werden, als Zeit der unmittelbaren Vorbereitung der bürgerlichen Revolution in Frankreich mit gewaltigen Auswirkungen vor allem in Europa. Die Zeit von 1763 bis 1789 war national wie international eine Zeit der Verschärfung aller Widersprüche im dialektischen System von Basis und Überbau, eine Zeit, in der sich die Kraft der Volksmassen in der Verbesserung der gewerblichen und landwirtschaftlichen Produktion zeigte und sich in Literatur und Philosophie — klassische Größe annehmend — widerspiegelte. Die Auswirkungen der Französischen Revolution — selbstverständlich auf der Basis der Widersprüche, die sich in den einzelnen Ländern entwickelten — sind in Europa erst mit dem Jahre 1871 abgeschlossen. Um dieses Jahr bis etwa zum Krisenjahr 1873 ist der Höhepunkt des Kapitalismus der freien Konkurrenz überschritten, was natürlich nicht sein Ende bedeutet. In Deutschland wird auf bonapartistische Weise, durch eine halbe Revolution von oben, das nach vollzogen, 30
Vgl. Eulen, F, Vom Gewerbefleiß zur Industrie. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte des 18. Jh., (West-) Berlin 1967, (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte II).
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was der demokratische Ansturm von 1848 nicht vollbringen konnte: endgültige Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, staatliche Einheit, Erhebung Deutschlands zur europäischen Großmacht und damit Veränderung in der europäischen Mächtekonstellation. Aber die Revolution von oben ist ohne die Gefahr einer Revolution von unten überhaupt nicht zu verstehen. Hier zeigt sich in besonders eigenartiger Weise die Dialektik von Volksmassen und Staat ; es ist kein Zufall, daß Engels auf diese beiden entscheidenden Mächte in der Politik der antagonistischen Klassengesellschaften in seinem Manuskript über die preußisch-deutsche Reichseinigung hingewiesen hat. Die bonapartistische Art der bürgerlichen Revolution bedeutete zugleich, daß die bürgerlich-demokratischen Forderungen der Arbeiterklasse höchst unvollständig erfüllt wurden. I m Hinblick auf die Periodisierung überschneiden sich im 19. Jahrhundert zwei Entwicklungslinien, einmal die Tendenz zur Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und des ihnen entsprechenden staatlichen Uberbaus, zum andern die Tendenz zur Eroberung der Macht der Arbeiterklasse. Anders ausgedrückt : Es überschneiden sich die Auswirkungen von 1789 und die „Vorbereitung" auf 1917; es überlagern sich die Bestrebungen nach Vollendung der bürgerlichen Revolution und nach proletarischer Revolution. 1848 und 1871 sind die hervorstechendsten Schnittpunkte dieser beiden Entwicklungslinien. Sie beide müssen in der Periodisierung zum Ausdruck kommen. Die Berücksichtigung dieser beiden sich überschneidenden Entwicklungslinien, bezogen auf die Epochenzäsuren 1789 und 1917, ist methodologisch für die zeitliche Abgrenzung und inhaltliche Bestimmung von Hauptperioden und Perioden außerordentlich wichtig. Nachdem wir die Epochenjahre 1917 und 1789 in ihren Voraussetzungen und ihren Folgen berührt haben, kommen wir auf die Frage der Bedeutung der ersten frühbürgerlichen Revolution für die Periodisierung. Im Unterschied zu den Epochenjahren 1917 und 1789 konzentrieren wir uns auf den Epocheneinschnitt der ersten frühbürgerlichen Revolution (1517—1536) selbst weit mehr als auf die ihm vorangehenden oder nachfolgenden Epochen und Hauptperioden. Wir gehen im folgenden relativ ausführlich auf die frühbürgerliche Revolution von 1517 bis 1536 ein, nicht weil wir sie über 1789 oder gar 1917 stellen wollen, sondern weil sie als Epocheneinschnitt noch näher begründet werden muß. Friedrich Engels sprach bekanntlich von drei großen Entscheidungsschlachten, die das europäische Bürgertum gegen den Feudalismus zu schlagen h a t t e : 1. „die bürgerlich-religiöse Revolution", die in Deutschland im 16. J a h r h u n d e r t begann und sich in die Schweiz schwerpunktmäßig verlagerte ; 2. die englische Revolution des 17. Jahrhunderts; 3. die Große Französische Revolution des 18. Jahrhunderts. 3 1 Hier werden diejenigen Revolutionen genannt, die a) in ihrer internationalen Wirkung weltgeschichtlich sehr weittragend waren und b) in 31
Vgl. Engels, Friedrich, Einleitung zur englischen Ausgabe (1892) „Die E n t w i c k lung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", in : M E W , Bd 19, S.533 ff. ; vgl. Lenin, W. I., Zur E i n s c h ä t z u n g der russischen Revolution (1908), in: Derselbe. Werke, B d 15. Berlin 1962, S. 47f.
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ihrem sozial-historischen Gehalt und ihrer Zielstellung einen inneren Zusammenhang haben. Engels kennzeichnete die Reformation „als einzig möglichen, populären Ausdruck der allgemeinen Bestrebungen usw.". 3 2 E r hebt also die Bedeutung der Reformation auch als revolutionäre Volksbewegung hervor, mit dem Bauernkrieg die bedeutendste des 16. Jahrhunderts, und unterscheidet sie in dieser Hinsicht zugleich von der Renaissance und dem Humanismus. Damit ist auch vom methodologischen S t a n d p u n k t ein zentrales Leitmotiv der marxistisch-leninistischen Geschichtskonzeption erneut bezeichnet, nämlich die Rolle der Volksmassen. Gerade die neuesten Forschungen haben die Gemeinsamkeiten der drei bürgerlichen Revolutionen nicht allein in bezug auf die allgemeine Ideologie, die Differenzierung der in Bewegung geratenen Klassen, sondern auch die nationalen Dimensionen der Massenbewegung, die Radikalisierung der Volksmassen und die H a n d h a b u n g ihrer revolutionären Gewalt herausgearbeitet. 3 3 Friedrich Engels betrachtete die lutherische und kalvinistische Reformation (1517—1536) als eine Einheit und als „Revolution Nr. 1 der Bourgeoisie, worin Bauernkrieg die kritische Episode". 3 4 Hier sind unterstrichen erstens der internationale Charakter der Reformation in ihren zwei zusammenhängenden H a u p t etappen, zweitens der innere Zusammenhang von Reformation und Bauernkrieg 3 3 , ein die frühbürgerliche Revolution ausmachender Zusammenhang, der umso überzeugender ist, als auch die Reformation eine vielschichtige u n d weit ausgedehnte Volksbewegung ist, eben der „populäre Ausdruck der allgemeinen Bestrebungen" (Engels) jener Zeit. Es handelt sich hier u m eine konzeptionelle Grundidee, die Engels in einem reifen, u m nicht zu sagen, abschließenden Stadium seiner Überlegungen der beabsichtigten Neubearbeitung seines „Bauernkriegs" zugrunde legen wollte. „Kritische Episode" in der Revolution Nr. 1 der Bourgeoisie heißt in dem textlichen u n d inhaltlichen Zusammenhang bei Engels nichts anderes, als d a ß bei der Entscheidung über Sieg oder Niederlage des Bauernkriegs die Entscheidung darüber fällt, wohin sich der Schwerpunkt der Revolution Nr. 1 verlagert und wo die Revolution weitergeführt wird und ihren Sieg davonträgt. I n d e m Engels die lutherische u n d kalvinistische Reformation als einheitliche „Revolution Nr. 1 der Bourgeosie" betrachtet, kann der scheinbare Widerspruch geklärt werden, daß einerseits die Niederlage des Bauernkrieges, die „kritische Episode" der Reformation, zum tragischen „Wendepunkt" (Engels) f ü r die deutsche Geschichte wurde, zum andern die Reformation, die in Deutschland eingeleitet u n d vorangebracht wurde und schließlich ihren Schwerpunkt nach der Schweiz verlagerte, eine gewaltige direkte und indirekte Nah- u n d Fernwirkung f ü r die Entwicklung des Kapitalismus in E u r o p a und in der Welt h a t t e . Marx 32 Engels, Friedrich, Zum „Bauernkrieg" (1884), in: MEW, Bd 21, S. 403. 33 Vgl. Vogler, Günter, Über den Sinn des Kampfes der Bauern im deutschen Bauernkrieg 1524-26, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1967, T. I, S. 378. 34 Engels, Friedrich, Zum „Bauernkrieg" (1884), in: MEW, B d 21, S. 402. 35 Über entgegengesetzte Auffassungen in der B R D vgl. Uribewältigte Vergangenheit.
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setzt den Beginn der „kapitalistischen Ära" nach „den ersten Dezennien des 16. Jahrhunderts" an. 36 Unter dem Gesichtspunkt der frühbürgerlichen Revolution als einer europäischen Revolution kann man sie nicht mit der Niederlage des deutschen Bauernkrieges 1526 oder der Täuferbewegung in Münster 1535, sondern nur mit dem Sieg der Kalvinschen Reformation in Genf 1536 enden lassen. Unmißverständlich sprach Engels vom „Sieg der Revolution Nr. 1, die viel europäischer als die englische und viel rascher europäisch wurde als die französische, in Schweiz, Holland, Schottland, England". 3 7 Hinsichtlich der historischen Rolle der Reformation, die gegen die römischkatholische Kirche gerichtet war, schrieb Engels: „Ehe der weltliche Feudalismus in jedem Land und im einzelnen angegriffen werden konnte, mußte diese seine zentrale, geheiligte Organisation zerstört werden." 3 8 Ich möchte vor allem auf das Müssen, d. h. die Notwendigkeit der frühbürgerlichen Revolution, hinweisen. Die „ersten Anfänge" der kapitalistischen Produktionsweise, ihr „Vorspiel" 39 , konnten ohne frühbürgerliche Revolution nicht weitergeführt und gesichert werden. Der Satz von den Revolutionen als „Lokomotiven der Geschichte" ist eben keine belletristische Phrase, sondern enthält eine der Grundeinsichten des historischen Materialismus und ist eine der Quellen des politischen Ethos der revolutionären Arbeiterklasse. Ohne Luther kein Calvin, ohne Calvin nicht jene Form des Protestantismus, die der aufkommenden Bourgeoisie als religiöse Ideologie am besten diente — nicht allein im ideologisch-politischen Kampf, sondern auch bei der Entwicklung der unternehmerischen Impulse. Der Kalvinismus entwickelte Charaktereigenschaften — wie den Antrieb zur Arbeit, zwanghaftes Pflichtgefühl, Sparsamkeit usw. —, welche die kapitalistische Produktiosweise mächtig förderten. Hier schlug nach dem dialektischen Gesetz des Umschlagens ins Gegenteil eine E n t wicklung in der Sphäre des ideologischen Überbaus um in eine Weiterentwicklung der Produktivkraft Mensch. (Wir haben uns dabei auf Friedrich Engels und nicht auf Max Weber zu berufen, der die marxistische Auffassung vom Verhältnis Kapitalismus — Kalvinismus ins Idealistische umdeutete!) Die Erschütterung und allmähliche Auflösung der geistigen Herrschaft der Kirche, mächtig gefördert durch die bürgerliche Revolution Nr. 1, haben das Denken der Menschen stärker als früher auf die Probleme der gewerblichen Produktion, auf die Verbesserung der Produktionsmethoden und der Werkzeuge gelenkt und haben zum weiteren Aufschwung der Naturwissenschaften geführt. 40 36 Marx, Karl, D a s K a p i t a l . Erster B a n d , in: M E W , B d 23, S. 743 u. 745f. Engels, Friedrich, Z u m „Bauernkrieg", in: M E W , B d 21, S. 402. 38 Derselbe, Einleitung [zur englischen Ausgabe (1892) „Die E n t w i c k l u n g des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft"], in: M E W , B d 19, S. 533 (Hervorhebungen von mir — d. Verf.). =>9 Vgl. Marx, Karl, Das Kapital. Erster Band, in: M E W , Bd 23, S. 743ff. 40 Mottek, Hans, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. E i n Grundriß, Bd 1, Berlin 1957, S. 268 ff. 37
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Der Zusammenhang zwischen der frühbürgerlichen Revolution und der E n t wicklung des Manufakturkapitalismus ist noch wenig erforscht. Tatsache ist aber, daß er sich in breiter Front erst nach der frühbürgerlichen Revolution mit ihren mannigfachen direkten und indirekten Auswirkungen entfaltete. (Die indirekte Auswirkung: Die Gegenreformation war keine bloße Restaurierung, sondern auch Reformierung des Katholizismus.) Unter diesen Gesichtspunkten haben wir auch die Auffassung von Karl Marx zu betrachten: „Obgleich die ersten Anfänge kapitalistischer Produktion uns schon im 14. und 15. Jahrhundert in einigen Städten am Mittelmeer sporadisch entgegentreten, datiert die kapitalistischeÄra erst vom 16. Jahrhundert." 4 1 Selbst wenn die seitherigen Forschungsergebnisse ein volleres Bild von den Anfängen der kapitalistischen Produktion vermitteln, so kann es keinen Zweifel geben: Die eigentliche Manufakturperiode mit ihrer auf Teilung der Arbeit beruhenden Kooperation, der „charakteristischein) Form des kapitalistischen Produktionsprozesses" 42 , setzteerst nach der frühbürgerlichen Revolution ein. E s darf also die systembildende K r a f t der ursprünglich lutherischen Ideologie und ihrer Weiterführung durch Calvin, überhaupt der frühbürgerlichen Revolution nicht übersehen werden. I m Hinblick auf die Kernfrage des Klassenkampfes und der Revolution, nämlich die Frage der Macht, ist folgendes zu sagen: Die politische T a t der frühbürgerlichen Revolution bestand doch vornehmlich darin, durch die Spaltung der katholischen Kirche das Machtgefüge des Feudalismus aufs schwerste erschüttert, bei weiten Teilen der Volksmassen die moralisch-politische Autorität der Papstkirche in ihrer Gesamtheit und nicht bloß der Kleriker im einzelnen beseitigt, den politischen Spielraum des sich international zur Bourgeoisie entwikkelnden Bürgertums erweitert, Umwandlungen im Staatensystem in Europa herbeigeführt und die bürgerlich-religiöse Ideologie in die Außenpolitik eingeführt zu haben. In diesem internationalen Zusammenhang müssen wir auch die englische Revolution des 17. Jahrhunderts sehen; sie schloß mit einem Kompromiß, der allerdings die Machtverhältnisse zugunsten der Bourgeoisie in erheblichem Maße verschob. So schrieb Engels: „Die politischen spolia optima — Ämter, Sinekuren, große Gehälter — verblieben den großen Landadelsfamilien unter der Bedingung, daß sie die ökonomischen Interessen der finanziellen, fabrizierenden und handeltreibenden Mittelklasse genügend wahrnähmen . . . Von dieser Zeit an war die Bourgeoisie ein bescheidner, aber anerkannter Bestandteil der herrschenden Klassen Englands. Mit ihnen allen hatte sie gemein das Interesse an der Niederhaltung der großen arbeitenden Masse des Volks." 4 3 I m übrigen hat Friedrich Engels hinsichtlich der Machtfrage auf ihre spezifische Problematik, die für alle bürgerlichen Revolutionen gilt, mit folgenden Worten hingewiesen: „Es scheint ein Gesetz der historischen Entwicklung, daß die Bourgeoisie in keinem Marx, Karl, Das Kapital. Erster Band, in: MEW, Bd 23, S. 743. Ebenda, S. 356. 43 Engels, Friedrich, Einleitung [zur englischen Ausgabe (1892) „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft"], in: MEW, Bd 19, S. 535. 4J
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europäischen Land die politische Macht — wenigstens nicht für längere Zeit — in derselben ausschließlichen Weise erobern kann, wie die Feudalaristokratie sie während des Mittelalters sich bewahrte." 4 4 Dieser Hinweis von Engels auf ein historisches Gesetz sollte für uns Anlaß sein, erstens die einzelnen E t a p pen und Formen der bürgerlichen Revolutionen im 19. Jahrhundert im Periodisierungssystem genau zu beachten, zweitens gerade die frühbürgerliche Revolution in bezug auf die Machtfrage nicht präzeptorhaft zu überfordern. Mit dem Sieg der bürgerlichen „Revolution Nr. 1" begann der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus; er unterscheidet sich allerdings von der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus nicht nur dem sozialökonomischen Inhalt, sondern auch der Form nach grundsätzlich. Während am Anfang der Epoche des Übergangs zum Sozialismus die klassische Revolution der Arbeiterklasse 1917 steht, kennzeichnet die klassische Revolution der Bourgeoisie das Ende der eigentlichen Übergangsepoche und den Umschlag zur weltweiten Durchsetzung des Kapitalismus. Der Sozialismus konnte erst aufgebaut werden nach der ersten siegreichen politischen Revolution der Arbeiterklasse; der Kapitalismus hingegen ging aus der ökonomischen Struktur der feudalen Gesellschaft hervor. Am Anfang der Übergangsepoche zum Kapitalismus konnte darum eine unvollständige bürgerliche Revolution stehen; zugleich mußte sie auch auf der weltgeschichtlichen Bühne ablaufen. Ohne den revolutionären Umschlag von den evolutionären Ausformungen kapitalistischer Elemente in Ökonomie und Gesellschaft, die sich bis zur „Revolution Nr. 1" ausgebildet hatten, konnte das große internationale Zentrum des Feudalismus, die Papstkirche, nicht gespalten und zur Reformierung gezwungen, konnten die ideologisch-politischen Voraussetzungen für den weiteren Befreiungskampf der Volksmassen unter der Führung des Bürgertums gegen die Herrschaft des Feudalsystems nicht geschaffen und die kapitalistische Manufaktur nicht auf breiter Front entwickelt werden. Daß der erste revolutionäre, epochenbestimmende Schlag von europäischer Bedeutung in Deutschland begann, wenn auch hier nicht erfolgreich zu E n d e ging, ist ein B e weis dafür, daß hier die Widersprüche besonders zugespitzt-waren. In der sowj etischen Geschichtswissenschaft wird die Frage der Periodisierung des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus mehr in dem Sinne des Beginns der Neuzeit gestellt. Darin besteht keine volle Entschiedenheit; so lesen wir in der sowjetischen Weltgeschichte: „Mit gewisser Berechtigung kann man als Anfang der Geschichte der Neuzeit auch das ganze 16. J h . ansehen, die Zeit also, in der die Manufaktur auftaucht und die .kapitalistische Ära' (Marx) anbricht, oder auch das Ende des 18. J h . , weil zu dieser Zeit die kapitalistische Produktionsweise unter dem Einfluß der französischen bürgerlichen Revolution von 1789 bis 1794 die Führung übernimmt." 4 5 Diese Stellungnahme fordert indirekt zur weiteren Diskussion auf. Unsere Auffassung über die Epoche des Übergangs « Engels, Friedrich, Einleitung [zur englischen Ausgabe (1892) der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft"], in: MEW, Bd 22, S. 307. « Weltgeschichte, Bd V, Berlin 1966, S. 2. 10
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vom Feudalismus zum Kapitalismus sei in folgender These zusammengefaßt: Die frühbürgerliche Revolution (die „Revolution Nr. 1 der Bourgeoisie") hat dem Manufakturkapitalismus in breiter Front zum Durchbruch verholfen; die englische bürgerliche Revolution schuf die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für die industrielle Revolution des 18. Jahrhunderts, die Große Französische Revolution, die klassische bürgerliche, eröffnete die Ära des Industriekapitalismus der freien Konkurrenz und des Weltmarktes. Was die ideologische Komponente der frühbürgerlichen Revolution betrifft, so bietet es sich an, in dieser Hinsicht die Epochenjahre miteinander zu vergleichen. Dann können wir feststellen, daß die frühbürgerliche Revolution noch von einer religiösen Weltanschauung, die bürgerliche Revolution in Frankreich von einer laizistischen (oder naturrechtlichen) 46 , die Große Sozialistische Oktoberrevolution von der Wissenschaft beherrscht waren. 47 Auch hier zeigt sich das Gesetz von der wachsenden Bewußtheit der führenden Kräfte und damit der aufsteigenden Linie des Klassenkampfes und der Volksmassen. Dieses Gesetz werden wir nur gewahr, wenn wir historische Vergleiche anstellen, die trotz der gewaltigen qualitativen Unterschiede möglich sind. Darum ist der Einwand, diese drei Revolutionen seien „inkommensurabel", methodologisch abwegig. Die historische Stellung der frühbürgerlichen Revolution kann erst voll beleuchtet werden, wenn der Charakter der vorangegangenen Entwicklung geklärt ist. Dazu können wir Erfahrungen der Periodisierung der neueren Zeit heranziehen, aus denen wir in dialektisch angemessener Weise Rückschlüsse auf frühere ziehen können. So wie der Oktoberrevolution von 1917 jene seit der Jahrhundertwende einsetzende Epoche vorausging, die materielle Voraussetzungen für den Sozialismus schuf und auch den Klassenkämpfen und kolonialen Befreiungskämpfen eine neue Qualität gab und eine Partei neuen Typus notwendig machte, so ging auch der frühbürgerlichen „Revolution Nr. 1" (1517—1536) eine Epoche voraus, die sowohl im Verhältnis zu früheren Perioden in ökonomischer, sozialer und ideologischer Hinsicht qualitativ neue Züge zeigte, als auch auf die frühbürgerliche Revolution hinwies. Erst unter dem Blickpunkt der Periodisierungserfahrungen, die sich auf die neuere Zeit beziehen, können wir scheinbare Widersprüche in den Klassikeraussagen sachgemäß lösen. Im ökonomischen und wirtschaftshistorischen Hauptwerk von Karl Marx, im Ersten Band des „Kapitals", sagt er: „Das Vorspiel der Umwälzung, welche die Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise schuf, ereignet sich im letzten Dritteides 15. und nach den ersten Dezenniendes 16. Jahrhunderts." 48 Erstens spricht Marx nur von einem Vorspiel der Umwälzung; zweitens vollzieht sich die 46
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Vgl. Heine, Heinrich, Zur Geschichte der Philosophie und Religion in Deutschland, in: Derselbe, Sämtliche Werke in 22 Bänden, Hamburg 1876, Bd 5, S. 107. Vgl. Engelberg, Ernst, Die Große Sozialistische Oktoberrevolution. Wissenschaft und Massen, Berlin 1967. Marx, Karl, Das Kapital. Erster Band, in: MEW, Bd 23, S. 745f. (Hervorhebungen von mir — d. Verf.).
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Umwälzung, die die Grundlage (!!) der kapitalistischen Produktionsweise schuf, nach den ersten Dezennien des 16. Jahrhunderts. Die Analyse dieses Satzes stimmt haargenau mit der Aussage des oben zitierten Satzes überein, wonach im 14. und 15. Jahrhundert nur „die ersten Anfänge kapitalistischer Produktion" liegen und die „kapitalistische Aera" erst vom 16. Jahrhundert datiert. Unter einem anderen Blickpunkt und in einem ganz anderen Zusammenhang stellt Friedrich Engels in Notizen zur „Dialektik der Natur" über die historische Rolle des Mittelalters und seine Abgrenzung zur Neuzeit interessante Betrachtungen an. Er schließt sie, indem er folgenden historischen Bogen spannt: „Mit der Erhebung von Konstantinopel und dem Fall Roms schließt die alte Zeit, mit dem Fall von Konstantinopel ist das Ende des Mittelalters unlösbar verknüpft." 49 Die beiden zeitlichen Umgrenzungen sind also durch 330 und durch 1453 fixiert. Uns interessiert hier nur das Jahr 1453. Mit „der letzten Hälfte des 15. Jahrhunderts" hob für Engels eine neue Epoche an. 50 Steht dies im Widerspruch zu der von uns vorgeschlagenen Epochenzäsur der Jahre 1517 bis 1536? Es gibt drei Momente, die eine solche Interpretation nicht gestatten: Erstens hat sich Engels in der Abgrenzung der Zeitalter an den damals gängigen Sprachgebrauch, alte Zeit, Mittelalter, neue Zeit gehalten; nur diese alte Terminologie, die die sich ablösenden ökonomischen Gesellschaftsformationen nicht scharf genug begrifflich erfaßt, erlaubt (ja macht im gewissen Sinne notwendig) den von Engels zeitlich fixierten Wendepunkt; zweitens hat Engels die epochale Bedeutung der frühbürgerlichen „Revolution Nr. 1" erst acht Jahre später, nach erneutem Studium des Bauernkriegs, herausgearbeitet und formuliert; drittens müssen wir, wo es irgendwie angeht, die Klassikeraussagen schöpferisch im Hinblick auf die Erfahrungen und Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte und jüngsten Vergangenheit auswerten. Indem wir die schon obenerwähnten Periodisierungsverfahren aktivieren, wird die von Engels hervorgehobene Bedeutung des Jahres 1453 und der „letzten Hälfte des 15. Jahrhunderts" nicht einfach verworfen, sondern konkretisiert. Diese Zeit von 1453 bis 1517 ist ähnlich wie die von 1900 bis 1917 die revolutionäre Vorbereitungszeit in Basis und Uberbau, der Vorabend der frühbürgerlichen Revolution, das „Vorspiel" der „kapitalistischen Aera", d. h., wie wir heute genauer sagen können, des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus. Wir können sogar die dialektisch angewandte Analogie noch weiterführen: So wie Lenin den Höhepunkt (nicht das Ende) des Kapitalismus der freien Konkurrenz etwa um das Jahr 1871 ansetzte, so müssen wir fragen, wann der Höhepunkt des Feudalismus schon vor 1453 endgültig überschritten ist. Ich verweise hier auf das Jahr 1419, den Beginn der bewaffneten, auch auf Deutschland übergreifenden Kämpfe der Hussiten. Dieses Jahr muß nach meiner Ansicht in seiner historischen Bedeutung viel stärker und klarer herausgearbeitet werden, als dies im allgemeinen geschieht. Ich möchte bei allen Vorbehalten, die der marxistisch