Preußische Jahrbücher: Band 52 [Reprint 2020 ed.] 9783112349984, 9783112349977


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Preußische Jahrbücher: Band 52 [Reprint 2020 ed.]
 9783112349984, 9783112349977

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Preußische Jahrbücher Herausgegeben

von

H. von Treitschke und H. Delbrück.

Zweiundfunfzigfter Band.

Berlin, 1883. Druck und Verlag von G. Reimer.

Inhalt. Erstes Heft. (H. Fechner.) .......... Seite

Ma^ Lehmann'S Archivpublicationen.

Der Abfall der Niederlande und die ultramontane Geschichtschreibung.

1

(Th.

Wenzelburger.)......................................................................................................—

36

Die deutsche Ansiedelung in außereuropäischen Ländern...................................... Drei Stufen in der Welterkenntniß.

Politische Correspondenz: der Canalvorlage.

—52

(Edmund von Lüdinghausen-Wolff.)

DaS Krankenversicherungs-Gesetz.

. —

78

Die Ablehnung

Die kirchenpolitische Situation.................................

91



Notizen: R. Gneist, engl. DerwaltungSrecht — Martinus, Der Abgeordnete

Herr von Biömarck-Schönhausen — R. Baumstarck, Plus ultra —

E. Warner, Briefe moderner Dunkelmänner — L. Geiger, Renaissance und Humanismus — R. Schmölder, Wiedereinführung der Schuldhaft.

99



Zweites Heft. Die Umwandelung des deutschen Rechtslebens durch die Aufnahme des rö­

mischen Rechts.

(Alfred Boretjus.)........................................................ —

Positivistische Regungen in Deutschland.

105

(Hugo Sommer.)............................ —

Der Kaldonatsch-See und seine Umgebung.

128

Ein Ausflug in's Südtirol von

Dr. Mupperg.............................................................................................................. —

159

Politische Eorrespondenz: Reichszuständigkeit und Berordnungögewalt. (Klöppel.)

— Arbeitercolonieen.

(Th. v. Flottwell.) —- Der Staat und die Eisen­

bahnen in Frankreich.

(D.) — Der spanische Handelsverttag.

(D.) .

.



173

Notizen: I. H. v. Thünen, Ein'Forscherleben. — A. Thun, Geschichte der

revolutionären Bewegungen in Rußland.................................................. —

196

Drittes Heft. Die letzten Reformen deö Staatskanzlers. Eine Betrachtung am Sedan-Tage.

(Heinrich von Treitschke.)

...



(H. Corvinus.).......................................... —

201

268

Politische Eorrespondenz: Der Handelsvertrag mit Spanien und die ReichsVerfassung.

(Klöppel.) — Reisebriefe aus Oesterreich. (Septentrionalis.)

Notizen: Democracy.



Tauchnitz Edition. — Hermann Wagener, die Po­

litik Friedrich Wilhelm IV............................................................................ —

311

Viertes Heft. Die Schwankungen deö Volkswohlstandes im Deutschen Reiche.

(Dr. E. Phi­

lippi.) .............. ................................................................................................. -

313

285

IV

Inhalt.

Die neuen Regeln der Geschäftsordnung des Hauses der Gemeinen in Eng­

land.

Seite342

(O. G. Oppenheim.).................................................................

1809 und 1810.

Die norddeutsche Colonie in München

Mitgetheilt von

Fr. Reuter.........................................................................................................................—

Baiern und die Karlsbader Beschlüsse.

(Heinrich von Treitschle.)................... —

Politische Correspondenz: Men und Pesth im September 1883.

(Septen-

. ;................................................................ —

(D.) . . .

trionalis.) — Berlin.

3r64

373 383

Notizen: Dr. P. Majunke, „Der geweihte Degen DannS" oder „wie man in

Deutschland Religionskriege gemacht hat."

(E. v. Epnern.) — Luther--

schriften. (Hermann Scholz.) — Iwan Turgenjew. (Julian Schmidt.) —

Dr. Jul. Post, Arbeit statt Almosen.

(D.) — Denkwürdigkeiten des Geh.

RegierungSratbeS und PolizeidirectorS Dr. Stieber.

Bearbeitet von Dr.

(D.)................ ............................................................... ....

L. Auerbach.



3-93

Fünftes Heft. PuseyiSmuS

TractarianiSmuS —

RitualiSmuS.



(Rudolf Buddensteg,

Dresden.)....................................................................................................... —

Die Bildnisse Jean Jacques Rousseau’s.

Luther und die deutsche Nation.

411 444

(Albert Jansen.)............................ —

(Dortrag, gehalten in Darmstadt am 7. No­

vember 1883 von Heinrich Yon Treitschke.).................................................... — Politische Correspondenz: Berlin.

(E.)..........................................................................................—

Donaufrage.

Notizen: Lutherschristen II.

tioual-Gefahr".

469

(D.) — Oesterreich und Rumänien in der

487

(Hermann Scholz.) — Raoul Frary, „Die Na-

(D.) — Emil Witte, „Die sociale Krankheit und ihre

naturgemäße Behandlung durch

wirthschaftliche

Maßregeln.

(D.) —

Gustav Cohn, „Die englische Eisenbahnpolitik der letzten zehn Jahre". (D.) — Lujo Brentano, „Die christlich-sociale Bewegung in England". (D.) — Dr. Adolf HauSrath, „Kleinere Schriften religionsgeschichtlichen

Inhalts".

(D.) — Friedrich List, „DaS nationale System der poli­ (D.) — B. Gaupp, „Die Gesetzgebung deS Deut­

tischen Oekonomie".

schen Reiches von der Gründung des Norddeutschen Bundes bis auf die

Gegenwart". — M. Brückner, „Handbuch der deutschen ReichSgesetze

1867—1883".

(E. D.) — R. Ehrenberg, „Die FondSspeculation und

die Gesetzgebung".

(E. D.) — Franz v. Holzendorff, „Zeitglossen deS

gesunden Menschenverstandes". Erhaltung der Arbeit.

(E. D.) — Kant und das Princip der

(Worpitzky.)........................................................................ —

496

Sechstes Heft. Zur gegenwärtigen Lage des deutschen Sortimentsbuchhandels.

(Dr. Dziatzko.)



515

(Heinrich von Treitschke.)....



534

(R. Bertram.)........................................................

-

539

Die jüdische Einwanderung in Preußen. Die Wahl Kaiser Leopolds I. Giordano Bruno.

(A. Laffon.).......................................................................................... —

559

(Hans Delbrück.)...................................................



Die Unentgeltlichkeit deS DolköschulunterrichtS in Frankreich. (Dr. Arnold Sachse.)



593

(D.)........................................................................ —

604

Militärisches.

Politische Correspondenz: Berlin. Notizen:

Dr.

D. Lahusen, „Bremen

und seine Sonderstellung".

(D.) —

Dr. Paul Goldschmidt, „Dr. Heinrich Deitzke'S Geschichte der deutschen Freiheitskriege in den Jahren 1813 und 1814".

(D.)..........................—

609

579

Mar Lehmann's Archivpublicationen.

L)er preußische Staat hat sich fast ein Jahrhundert hindurch, ja wenn inan von den Differenzen, die sich an die Erwerbung Schlesien- knüpften, absieht, mehr al- zwei Jahrhunderte lang eine- tiefen confessionellen Frieden- erfreut, und zeitweise konnte e- scheinen, al- ob der tiefgehende Unterschied der katholischen und evangelischen Kirche nur zu einem rein äußerlichen, dem de- CeremoniellS, verflüchtigt worden sei. ES ist bezeich­ nend, daß die Anfänge de- confessionellen Hader-, der den preußischen Staat in der Gegenwart bewegt, zusammenfallen mit dem ersten Schritte de- Staatsoberhaupte-, der ihn bon der ttadttionellen Kirchenpolitik depreußischen Staate- abweichen ließ, nämlich mit dem Nachgeben Friedrich Wilhelm» III. in der kölner Mischehensache. Die ehemalige staatsrecht­ liche Position Preußens in Bezug auf die Kirche war nun zwar auch früher in ihren wesentlichen Zügen bekannt; volle-, klare- Licht in die Kenntniß derselben und in die Geschichte der staatskirchlichen Entwickelung Preußen- ist jedoch erst In den letzten Jahren durch die verdienstvollen Archivpublicationen Max Lehmann'S*) hineingekommen. Die bisher er­ schienenen drei Bände derselben reichen zwar nur bis 1757, in da», zweite Jahr de» siebenjährigen Kriege», jedoch waren die wichtigsten Be­ ziehungen de» Staat» zur katholischen Kirche bi» zu diesem Zeitpunkt auf die Dauer geordnet, die Bedingungen jener idyllischen Harmonie der Be» kenntniffe hergestellt, so daß eine Ueberschau über da» durch die bisher publtcirten Bände Gewonnene schon jetzt gerechtfertigt erscheint. Dem ersten Bande ist eine geschichtliche Darstellung vorau-geschickt, die dem Leser der abgedruckten Documente den Weg zeigt und beleuchtet; für die beiden letzten verrichtet pur ein Sach- und Namenregister diesen Führerdienst. *) Publicationen au« den K. Preußischen Staatsarchiven. Veranlaßt und unterKIltzt durch die K. Archiv-Verwaltung. Erster, zehnter und dreizehnter Band. M. Leh­ mann, Preußen und die katholische Kirche seit 1640. Erster Theil (—1740). Zweiter Theil (—1747). Dritter Theil (—1757). Leipzig. Hirzel. 1878. 1881. 1882. Preußische Jahrbücher. Bd. LIL Heft 1.

|

I. Brandenburg-Preußen ist, von dem kleinen Holland abgesehen, tn ter ganzen Welt der erste Staat gewesen, welcher die drei christlichen Confessionen, die katholische, die reformirte und die evangelisch-lutherische, nicht nur duldete, sondern auch als gleichberechtigt nebeneinander anerkannte. Dies war ein Standpunkt, der sich weit erhob über den Horizont, den da» reichsverfaffungsmäßige Recht der Fürsten, wie es der Augsburger Religionsfriede statuirte, und der westfälische Friede später erneuerte, ge­ geben hatte. In dem ersteren war jedem deutschen Fürsten gestattet, seinen Unterthanen seinen Glauben aufzuzwingen und die Andersgläubigen zu verjagen, tn dem letzteren wurde zwar den verschiedenen Confessionen Duldung zugesichert, aber doch nur mit der Einschränkung, soweit dies nicht zu Unruhen Anlaß gäbe, und, indem das Jahr 1624 ganz willkür­ lich als Normaljahr angenommen war, wurden die Kirchen auf den Be­ sitzstand dieses Jahres, des siebenten de» dreißigjährigen Kriege», gleichsam festgenagelt. Daß sich die brandenburgischen Kurfürsten über die Enge diese» Horizonte» überhaupt aufschwingen konnten, lag vor allem in der überau» vortheilhaften Stellung, die sie schon vor der Reformation der Kirche ge­ genüber eingenommen hatten. Brandenburg erfreute sich eine» Kirchen­ staats- oder Staatskirchenrecht-, wie es ähnlich nur England aufzuweisen hatte. Die recht« der Elbe angeseffenen Reich-fürsten waren schon Im Mittelalter der Kirche gegenüber besser gestellt al- die übrigen. Die Bischöfe tn jenen Gebieten waren nicht reichsunmittelbar, und speciell die von Havelberg, Brandenburg und LebuS waren brandinburgische Landstände; ihre LehnSmannschaften wurden vom Kurfürsten befehligt, sie mußten zu den Landesabgaben mitsteuern und wurden als Unterthanen bezeichnet. Kurfürst Sigismund,, der spätere Kaiser, verbot unter An­ drohung von Gewaltmaßregeln dem Bischof von Brandenburg, seine Städte zu bannen, ehe er die Klage gegen sie bet ihm angebracht hätte. Der Papst selbst untersagte den Bischöfen, weltliche Unterthanen von Brandenburg wider ihren Willen tn weltlichen Sachen vor ihr Gericht zu ziehen; fremde Bischöfe, welche auf brandenburgischem Gebiete Dtöcesanrechte hatten, mußten dieselben auf solche Geistliche, die Unterthanen der Kurfürsten waren, delegiren. Die Kurfürsten setzten sich über daAshlrecht der Geistlichkeit hinweg, machten Zuwendungen an geistliche Corporationen von ihrer Zustimmung abhängig, unterwarfen den CleruS der weltlichen Besteuerung und stellten den Vorstehern der Nonnenklöster welt­ liche Deputirte zur Seite. Albrecht Achille- verbot den Geistlichen sogar, Opferstöcke ohne seine Bewilligung aufzustellen.

Als dann Joachim II. 1539 die Reformation in Brandenburg ein*

führte, that er es unter ausdrücklicher Wahrung feiner fürstlichen Sichre»

matte.

Er schloß sich nicht an die Wittenberger Kirche an, sondern ver­

meinte bei der katholischen Kirche zu verbleiben,

Rechte Gebrauch machte,

nur daß er von dem

für die Reinheit der Lehre zu sorgen.

Diese

reine Lehre war aber freilich dieselbe, welche Luther verkündete, und die Kirchenordnung von 1540 verfügte, daß, wer sich „dieser Unserer christ*

lichen Ordnung" nicht zu vergleichen gedenke, sich an die Oerter zu be­ geben

habe,

räumen solle.

da er

seines Gefallen» gebühren

möge,

So wurde das ganze Land evangelisch,

d. h. da- Land

die BiSthümer

wurden secularisirt. Wäre eS hierbei geblieben, so würde freilich die Toleranz in Branden­ burg nicht ihren Einzug gehalten haben.

Aber da» politische Interest«,

ja die Selbsterhaltung wie» bald den Kurfürsten von Brandenburg eine Stellung in der sie umgebenden kirchlichen Welt an, welche sie über den

einseitigen lutherischen Standpunkt emporhob. Anspruch, welchen da» Hau» Brandenburg

Die» Jntereste war der

einerseits auf das clevifche

Erbe, andrerseits auf das ehemalige Orden-land Preußen hatte, und da­ mit war untrennbar da- andere, die Reformation in diesen Ländern zu

retten, verknüpft. Im Jahre 1609 starb der letzte Herzog von Cleve, der außer diesem Lande noch die Herzogthümer Jülich und Berg am Rhein und die Graf­

schaften Mark und Ravensberg ln Westfalen besessen hatte.

Ring- um­

geben von bischöflichen Gebieten, wie Köln, Münster, Lüttich, hatten die clevischen Herzöge schon im Mittelalter einen schweren Stand gegenüber

den Bischöfen gehabt, die dahin trachteten, die Diöcesanrechte, die sie in

jenen Landen hatten, auch auf das Gebiet der weltlichen Gerichtsbarkeit au-zudehnen.

Aber die Herzöge hatten den Kampf glücklich bestanden, so

daß sogar das Wort galt: „der clevifche Herzog ist Papst in seinem Ge­ biete".

Schon im 14. Jahrhundert verboten

sie ihren Geistlichen und

LehnSträgern in weltlichen Sachen die Verfügungen päpstlicher oder bischöf­

licher Richter anzunehmen, nur mit Ausnahme von Testament»-, Ehe-, ShnodalgerichtS- und geistlichen Rentensachen.

Sie hatten sogar einmal

vom Papste in einer Zeit, al» derselbe mit den Bischöfen in Conflict ge­

rathen war, da» Recht, einen Landesbischof und andere geistliche Würden­ träger zu ernennen, erhalten; da jedoch sehr bald die Beziehungen der

Curie

zu den Bischöfen sich freundlicher gestalteten,

Rechte kein Gebrauch gemacht.

wurde von jenem

Die Herzöge verboten ferner die Verge­

hungen von Gütern an die Kloster- und die Weltgeistlichkeit, verlangten

deshalb die Einreichung

von Verzeichnissen der geistlichen Befitzthümer,

1*

machten die Besteuerung de» CleruS durch auswärtige Obere von ihrer

Zustimmung abhängig Verluste

und bestraften ungehorsame Geistliche

ihre» Vermögens.

Personen,

welche

mit dem

Mandate und

geistliche

Bannbriefe unerlaubter Weise inS Land brachten, wurden in Säcken er­

tränkt; die Säcke waren zur Warnung an den Stadtthoren aufgehängt.

Als dann die Reformation kam, suchte der Herzog Johann, ein Freund

des EraSmu- von Rotterdam und dem religiös-philosophischen Jndifferen-

eine vermittelnde Kirche herzustellen,

tiSmuS zugeneigt,

womit er aber

keinen Erfolg hatte. Mark und Ravensberg wurden überwiegend lutherisch, in Berg und Jülich rangen die katholische Kirche einerseits, die reformirte und die lutherische andererseits mit einander, in Cleve drang die refor­ mirte Lehre ein, und Wesel wurde ein zweite- Genf.

Johann'» Nachfolger

Wilhelm wandte sich zum Aug-burger Bekenntniß, aber, von Karl V. be­ siegt, lehrte er zum katholischen Glauben zurück; der clevische Hof füllte

Desto

sich mit Spaniern.

eifriger war der Herzog auf dse Wahrung

seiner fürstlichen Rechte gegenüber der Kirche bedacht.

stiftungen vor sein weltliche» Gericht,

Er zog die Ehe-

gestattete den geistlichen Richtern

nur die Entscheidung über Testamente der Geistlichen in Bezug aus be­

wegliche Habe,

über Laientestamente nur dann,

wenn Vermächtnisse zu­

gunsten frommer Stiftungen von den Erben binnen Jahr und Tag nicht ausgeführt worden wären.

Die von dem Landesherr» zu geistlichen Lehen

präsentirten Candidaten durften, wenn sie im Uebrigen qualificirt befunden wurden, nicht zurückgestellt werden.

Wenn zwischen weltlichen Patronen

über da- Recht der Präsentation oder Bewidmung Streit entstand, durfte

sich der geistliche Richter nicht einmischen; ebensowenig in die Streitig­

keiten über den Besitz, die Verpachtung und die Qualität geistlicher mortifictrter Güter.

Forderungen

der

Geistlichkeit an

sollten vor da- weltliche Gericht kommen.

Send-(Shnodal-)Gertcht präjudicirte nicht

weltliche

Personen

Eine Bestrafung durch da-

der weltlichen

Justiz.

Die

Unterthanen durften wegen der Sendsachen oder anderer geistlichen Sachen auch in zweiter Instanz nicht außer Lande- geladen werden, außer wenn

sie freiwillig gingen.

Aber dabei verfolgte Wilhelm von Cleve die Ketzer:

nur gelang e- ihm sowenig, wie seinem Nachfolger Johann Wilhelm da­ mit etwa- auSzurichten; seine Landstände waren zu mächtig und richteten

sich In Betreff der Religion nach ihrem Gutdünken ein.

Als Johann

Wilhelm 1609 starb, einigten sich seine nächsten Erben, der Kurfürst

Johann

Sigismund

von Brandenburg

und

der reformirte

Pfalzgraf

Philipp Ludwig von Neuburg, um die Lande nicht an den Kaiser heim­

fallen

zu

leisteten In

lasten, zur dem

gemeinschaftlichen Besitzergreifung

derselben

und

berühmten Reversale von 1611 das Versprechen „die

katholische, römische tote auch andere christliche {Religionen an jedem Ort in öffentlichem Gebrauch und Uebung zu tontlnuiten, zu manutenireu und zuzulassen und darüber niemand in seinem Gewissen noch Exercitio zu perturbiren, zu molesttren und zu betrüben". Die- war der Anfang der brandenburgischen Toleranzpolitik, die über da« cujus regio, ejus religio deS Augsburger Religionsfriedens weit hinausging. Von großer Wichtigkeit für die Weiterenttoickelung dieses Systems war eS, daß Johann Sigismund, am Weihnachtötage 1613, zur reformirten Lehre übertrat; denn während die Lutheraner damals unduld­ sam waren und die des Calvinismus Verdächtigen verjagten, hatten die Reformirten die Duldung der Lutheraner, ja auch der Seelen zu ihrem Grundsatz erhoben. Die Dortrechter Synode ging zwar (1618) hiervon ab, aber die brandenburgischen Fürsten haben sich den Beschlüffen der­ selben niemals unterworfen, int Gegentheil sich stets der Augsburgischen Confession zugeneigt, die Unterscheidung-lehren beider Bekenntniffe für unwichtig erklärt und haben insbesondere von der strengen Gnadenwahl nichts wissen wollen; ja der Große Kurfürst hat aus dem westfälischen Frieden sogar durchgesetzt, daß die Reformirten als Aug-burgische Con­ sessionsverwandte mit in den Reichsfrieden eingeschlossen wurden. Ueber den Glaubenswechsel Johann SigiSmundS enfftand in dem lutherischen Brandenburg eine große Aufregung, weil man fürchtete, er würde daLand zwingen, seinem Schritte zu folgen. Der Dompropst in Berlin redete von dem hereinbrechenden reißenden calvinischen Wolfe und wünschte abtrünnigen Fürsten Hamann'S Galgen und Ahitophel'S Strick. Die Wegräumung der Bilder aus dem nunmehr reformirten Dom hatte einen Straßenaufruhr zur Folge, in welchem der Bruder deS Kurfürsten ver­ wundet, das Haus deS reformirten Hofpredigers geplündert wurde. Wenn nun der Kurfürst für sich Duldung in dem lutherischen Lande beanspruchte, so war die natürliche Consequenz, daß er daS Gleiche auch Anderen, auch den Katholiken gewährte. In dem Religionsedikt, vom 24. Februar 1614 heißt eS, da- unnöthige Gezänk und Disputiren auf den Kanzeln und das Antasten anderer Kirchen inner und außer des Reichs, denen man zu Richtern niemals vorgesetzt, sei der christlichen Liebe zuwider. Am 5. Februar 1615 stellte Johann Sigismund den Landständen einen Re­ vers darüber aus, daß er sie in ihrer Religion nicht bedrängen wolle, und sagte darin, er maße sich die Herrschaft über die Gewiffen Jener mit Nichten an. Diesen Grundsätzen sind die brandenburgischen Kurfürsten treu ge­ blieben. Während die Pfalz-Neuburger, welche schon 1614 katholisch wurden, in den ihnen zufallenden Gebieten von Jülich und Berg, von

Jesuiten geleitet, immer wieder das Reversale zu überschreiten, die katho­ lische Religion zur alleinigen zu machen suchten und die Protestanten lange Zeit auf eine unerhörte Weise bedrückten,

hielten die Hohenzollern in

ihrem Antheil, Cleve, Mark und Ravensberg, die Rechte der zahlreichen Katholiken heilig.

Sie bemühten sich, gestützt auf ihr Mitbesitzerrecht in

Jülich-Berg, den Protestanten auch in diesen Landen zu ihren verbrieften

Rechten zu verhelfen, aber es währte 60 Jahre, ehe sie von den bigotten Pfalz-NeubUrgern für ihre Glaubensgenossen einen erträglichen Zustand errangen.

Die Streitigkeiten und Verhandlungen darüber zogen sich bis

1672 hin. Der westfälische Friede nämlich hatte die Lage der Protestanten in Jülich und Berg sehr ungünstig gestaltet, weil er das Jahr 1624 als Normaljahr aufstellte, und obgleich der Große Kurfürst, nachdem diese Be­ stimmung getroffen war, mit Philipp Wilhelm von Neuburg übereinkam,

daS Jahr 1609, als das für den Besitzstand der Katholiken günstigste, für diese, daS Jahr 1611, als daS für die öffentliche Religionsübung der

Protestanten günstigste, für die letzteren zur Norm anzunehmen, ging der Neuburger doch immer wieder von seinen Verpflichtungen ab.

Eine kai­

serliche Commission schleppte die Sache zwölf Jahre lang hin, so daß

selbst Philipp Wilhelm die Ueberzeugung gewann, eS sei besser, auf ihre

Hilfe zu verzichten, und sich mit dem Kurfürsten dahin vertrug, daß sie Die von ihnen gemeinschaftlich

in directe Unterhandlungen treten wollten.

eingesetzte Commission ließ endlich die Normaljahre fallen und traf über jeden einzelnen Ort ihre Festsetzungen.

Der Kurfürst bewilligte, um seine

Billigkeit zu zeigen, den Katholiken in dem ganz lutherischen Ravensberg,

zum größten Unwillen seiner Unterthanen, 7 Orte zur öffentlichen Reltgionsübung; in der Grafschaft Mark'erhielten die Katholiken 10 Exercitia, d. h. Orte zur öffentlichen Religionsübung; dagegen in Berg die Lutheraner

30, in Jülich 7, die Reformirten in Berg 36, in Jülich 32 Exercitia.

Für Cleve wurde nichts festgesetzt, ein Beweis, daß der Pfalz-Neuburger

dem Kurfürsten vollkommen vertraute.

Fremden Bischöfen, namentlich

denen von Köln und Münster, räumte der Große Kurfürst keinerlei Dtöcesanrechte ein; er konnte sich dabei auf die Verordnungen seiner clevischen Vorgänger stützen, und in dieser Stellung war er unangreifbar; er

war oberster Bischof in seinen Landen.

Die geistliche Jurisdiction wurde

auf die Officiale in Emmerich, Xanten und Soest delegirt; in zweiter Instanz trat je nach Wahl das kurfürstliche Hofgericht oder eine Juristensacultät ein.

Allen von geistlichen Censuren Betroffenen wurde das Ein­

schreiten weltlicher Gerichte vorbehalten; Laien durften von Geistlichen nur

vox dem weltlichen Gericht belangt werden.

Jedoch gab der Große Kur­

fürst 1674 dem CleruS zu, daß er in Spirttualien,

Ordinationen und

Visitationen einen fremden Prälaten als Oberen anerkennen dürfe, und verzichtete 1677 auf die Einmischung in die geistlichen Censuren, 1682 auf

die in die Visitationen, wenn dieselben durch einen einheimischen Geist­ lichen erfolgten. In gleich vortheilhafter Stellung waren die Kurfürsten in Ostpreu­

ßen, dem alten Ordenslande.

Denn wenngleich der Orden eine geistliche

Corporation gewesen war, hatte er doch der übrigen Geistlichkeit gegen­

über die Stellung eines weltlichen Territorialherrn eingenommen.

Auch

in den Gebieten der vier zum Lande gehörigen Bischöfe hat der Orden

stets seine Justiz-, Finanz- und Militärhoheit aufrechterhalten; er sprach Recht in Criminalfällen, besteuerte die Geistlichen und befehligte die bi­

schöflichen Contingente.

In den nicht bischöflichen Landestheilen ernannte

der Orden alle niederen Geistlichen; für sich selbst verwaltete er das Geistliche durch seine eigenen Mitglieder.

mit Ordensbrüdern besetzt.

Drei der Domkapitel waren

Als der Ordensmeister Albrecht von Branden­

burg als der erste Fürst und der Bischof von Samland als der erste

Bischof, die dies vollzogen, lutherisch wurden (1525), schloß sich ihnen das ganze Land an; der neue Herzog trat in die Rechte des Ordens gegen­

über der Kirche ein.

In wenig Jahren gab es keinen Katholiken mehr

Indessen, Preußen stand unter polnischer LehnShoheit, und als

im Lande.

eS sich 1611 um die Mitbelehnung Johann Sigismunds von Branden­

burg handelte, mußte dieser auf Andringen des Königs von Polen den Ka­

tholiken im Herzogthum Preußen freie Religionsübung, ungestörten Besitz ihrer Kapellen und Bethäuser, freien Zutritt zu den Aemtern und den

Bau einer katholischen Kirche, sowie Errichtung einer Pfarrstelle dabei,

die unter der Diöcesangewalt des Bischofs von Ermeland stehen sollte,

versprechen.

Die ostpreußischen Stände arbeiteten bald aus Abneigung

gegen das reformirte Bekenntniß, dem sich Johann Sigismund damals zuwandte, dem Könige von Polen in die Hand; sie hätten am liebsten jenem die Ausübung des reformirten Gottesdienstes in Königsberg ver­ sagt.

Während des dreißigjährigen Krieges fanden sich auch Jesuiten in

Königsberg ein.

geduldet.

Der große Kurfürst und seine Nachfolger haben sie dort

Als sie aber unter der Regierung Friedrichs deS Großen auch

eine Pfarre in Tilsit in Besitz nehmen wollten, hinderte eS der König und rescribirte, eS solle ein Kapuziner oder Dominikaner dazu angestellt werden.

Durch den westfälischen Frieden kamen die protestantisch gewordenen BiSthümer Magdeburg, Halberstadt und Minden an Brandenburg; jedoch

waren im Magdeburgischen noch fünf, im Halberstädtischen zwölf katholische Klöster; auch bestanden in Halberstadt noch einige katholische Canontcate,

Max Lehmann'- Archivpllblicatione«.

8

in Minden war der Dom noch katholisch,

und in drei Colle-iatstiftern

daselbst hatte sich ebenfalls der katholische CultuS erhalten.

Der Große

Kurfürst beließ die Katholiken in diesem Besitzstände, obgleich ihre Recht»«

titel zum Theil höchst zweifelhafter Natur waren mungen de» westfälischen Frieden» nicht

und mit den Bestim­

überetnsttmmten,

duldete aber

nicht die Eingriffe fremder Bischöfe, da er selbst in die Rechte de» Bl«

schof» eben jenen Bestimmungen gemäß eingetreten war.

Seine Versuche

jedoch, in jenen Klöstern, welche beim Mangel jeglicher Oberaufsicht in arge Zustände geriethen, Visitationen etnzurichten, scheiterten am Wider­

stände der Aebte. Bon ihm und seinen Nachfolgern ist dann wiederholt der Versuch gemacht worden, einen landesherrlichen Generalvikar für diese Gebiete

einzusetzen,

aber die zu diesem Zwecke angeknüpften Verhand­

lungen zerschlugen sich, well der Papst Schwlerigkelten machte.

Speciell

der unter Friedrich Wilhelm I. In Aussicht genommene Abt von Neuzelle, der noch dazu kursächsischer Unterthan war,

erhob so übertriebene An­

sprüche, daß der König den ganzen Plan fallen ließ. Durch den mit Polen abgeschloffenen Frieden von Wehlau (1657) kamen die an Hinterpommern anschließenden Lande Lauenburg,

Bütow

und Draheim (Tempelburg mit zwanzig Dörfern) an Brandenburg.

Eine

polnische Herrschaft von wenigen Jahrzehnten hatte in diesen Gebieten, die völlig evangelisch waren, die katholische Kirche in Alleinbesitz gesetzt;

die lutherischen Geistlichen waren vertrieben, katholische Pfarrer eingesetzt,

der öffentliche Gottesdienst der Evangelischen verboten worden; nur die Ritterschaft In Lauenburg und Bütow behauptete die Kirchen ihre- Patro­

nat».

Der größte Theil der Bevölkerung hielt trotzdem am lutherischen

Glauben fest und befriedigte, so gut e» anging, seine Religion-bedürfnlffe tn den nächsten hinterpommerschen Kirchen, entfernt lagen.

auch wenn diese meilenweit

Al» nun der Große Kurfürst die Herrschaft dieser Gebiete

antrat, hofften die armen Bedrückten auf Verbesserung ihrer Lage; aber

da der Kurfürst Im Vertrage mit Polen die Aufrechterhaltung de» Status quo versprochen hatte, so hielt er darauf, daß die Evangelischen den

katholischen Pfarrern noch weiter Zehnten und Gebühren zahlten, und daß die Kirchen den Katholiken verblieben; nur die Anstellung evangelischer

Geistlichen und den Bau von evangelischen Kirchen auf Kosten der Ge­ meinden erlaubte er dort, wo Abhilfe dringend nothwendig schien. ähnlich waren die Verhältniffe,

Ganz

unter denen er 1686 den Schwibuffer

Krei» übernahm; auch dort war ein ganz evangelische» Land in schwerer Nothlage, indem die Kirchen den Evangelischen genommen, die lutherischen

Geistlichen verjagt, und dafür katholische Pfarrer eingesetzt waren.

Der

Kurfürst hielt jedoch auch' hier streng darauf, daß die Evangelischen den

P^rrern weiter zollten; er beschränkte sich darauf, einen lutherischen Geist­ lichen, der auf dem Rathhause Gottesdienst halten mußte und von der kurfürstlichen Kammer besoldet wurde, nach SchwibuS zu berufen. In Folge des AuSsterbenS de» älteren Zweiges der Dränier kam 1702 die Grafschaft Lingen in Westfalen, durch den Utrechter Frieden 1713 da» bisher spanische Oberquartier von Geldern an Brandenburg, jene» katho­ lisch, aber durch die oranischen Beamten bedrückt und de» öffentlichen Gottes­ dienste» beraubt, diese» ebenfalls ganz katholisch und unter der Diöcesangewalt de» Bischof» von Roermonde stehend. Friedrich, der erste Königvon Preußen, ließ in Geldern alle», wie e» war, aber auch in Lingen blieb alle» beim Alten, al» Friedrich I. den Bischof von Münster von der Bedrückung seiner evangelischen Unterthanen nicht abzuhalten ver­ mochte; nur hieraus ist die mit der brandenburgischen Toleranz so wenig stimmende Härte der Maßregel, daß den lingen'schen Katholiken, welche Taufe und Trauung außer Lande- nachsuchten, Geldstrafen auferlegt wur­ den, zu erklären. Brandenburg und Pommern waren ganz evangelisch, aber die zahl­ reichen katholischen Soldaten, welche in der preußischen Armee dienten, waren- Anlaß, daß Friedrich I. und Friedrich Wilhelm I. in mehreren Garnisonen dieser Provinzen katholischen Gottesdienst etnrichteten, an dem natürlich auch Civilpersonen theilnehmen durften. Dasselbe Recht wurde nach mancherlei Wechselfällen auch den katholischen Gesandtschaftskapellen In Berlin beigelegt. Die Bedrückungen, welchen die Protestanten In fremden Ländern, na­ mentlich in Frankreich und Polen, ausgesetzt waren, gaben den branden­ burgisch-preußischen Herrschern wiederholt Anlaß, RetörsionSmaßregeln zu ergreifen, die ihnen deshalb In reichem Maße zu Gebote standen, weil sie von den durch den westfälischen Frieden und andere Verträge ihnen verliehenen Befugnissen keinen vollen Gebrauch gemacht hatten. Da gaben sie wohl einmal den Mindener Dom den Evangelischen, sie legten Be­ schlag auf die Hälfte der Einkünfte der halberstädtischen und magdeburgi« scheu Klöster, sie setzten Commissionen ein, um zu untersuchen, welche dieser Klöster nicht zu Recht beständen, sie verfügten die Ausweisung der Jesuiten au- Königsberg, sie verboten in Berlin den Gesandtschaftsgeistlichen, In Abwesenheit der Gesandten Gottesdienst zu halten; immer aber wurden solche Verordnungen bald wieder zurückgenommen, meistentheilS, ehe sie noch zur Ausführung gebracht waren. So blieb es denn dabei: Brandenburg-Preußen war der toleranteste Staat der Welt, und schon lange, vor Friedrich dem Großen ist von feinen Vorfahren so manche- kräftige Wort in diesem Sinne gesprochen worden.

Nicht blos, daß in jedem Landestheile nach Recht und Vertrag die RÄigion, gleichviel welche, geschützt wurde; auch zu den Aemtern hatten Katho­ liken^ Reformirte und Lutheraner gleichermaßen Zutritt, wenn auch in Fällen gleicher Tüchtigkeit verschiedengläubiger Bewerber den Reformtrten der Vorzug gegeben wurde. Aber schon Georg Wilhelm hatte den katholischen Grafen Adam Schwarzenberg znm Minister; auch Friedrich Wilhelm I. erwie» dem katholischen Obersten Walrave hohe Gunst, und unter Friedrich dem I. waren die Jesuiten Vota und Wolff bei Hofe wohl angesehen; hatte der letztere doch wesentlichen Antheil an den Unter­ handlungen, die zur Erhebung Friedrichs III. zum Könige führten. II. Ganz neue Schwierigkeiten für das Verhältniß Preußen- zur katho­ lischen Kirche ergaben sich aus der Erwerbung Schlesiens durch Friedrich den Gxoßen. Dieses Land hatte ein eigenes BiSthum, und wenn es im Anfänge dem großen Könige von Jntereffe erschienen war, daß er nun einen Bischof zum Unterthan hatte, der in vielen geistlichen Angelegen­ heiten für die preußischen Katholiken eine Instanz zu bilden geeignet war, so wurde die Situation doch wieder dadurch schwierig, daß der bisherige Landesherr katholisch, die Stellung desselben gegenüber der schlesischen Kirche bei weitem nicht so günstig gewesen war, wie diejenige der Sou­ veräne Spanien-, Frankreichs, Polen- und der Republik Venedig, endlich daß ein großer Theil de- schlesischen CleruS sich dem neuen protestanti­ schen Lande-Herrn von Anfang an sehr abgeneigt zeigte. Insbesondere daS breSlauer Domkapitel bestand aus lauter gut kaiserlich Gesinnten mit einziger Ausnahme des Grafen Philipp Gotthard Schaffgotfch, der sich durch feine Gewandtheit, feinen Geist und feine, wie eS schien, dem Könige aufrichtig ergebene Gesinnung die Huld desselben in hohem Grade gewann. Begreiflicherweise fiel sein Einfluß beim Domkapitel gar nicht tnS Gewicht, und so stürzte diese- während de- ersten schlesischen Kriege- sich in eine sehr lästige Schuldverbindltchkeit dadurch, daß eS 50000 Thaler aufnahm, um sie dem Wiener Hofe zu überreichen; noch im zweiten schlesischen Kriege unterhielten die Domherren dem königlichen Verbote zum Trotz eine eifrige Correspondenz nach Oesterreich. Friedrich der Große hielt edeShalb für nöthig, zwei ihm besonder- feindlich gesinnte Domherren, den Grafen AlmeSloe und den v. Gellhorn, in Magdeburg zu internireu. Mit vollem Rechte sah Friedrich im Domkapitel und einigen anderen Conventen die Heerde einer beständigen Verschwörung gegen seine Herr­ schaft. Im zweiten schlesischen Kriege leisteten die katholischen Pfarrer und Schulmeister läng- de- Gebirge- den Oesterretchern Kundschafter-

dtenste; ein Geistlicher wurde wegen Correspondenz mit österreichischm Officieren nach Küstrin geschafft. Selbst außerhalb Schlesien» zeigte die preußische katholische Geistlichkeit unverhohlene Sympathie mit der öster­ reichischen Sache; der Pfarrer von Königsberg wollte die Dankfeier für die Schlacht bei Molwitz nicht ohne Bewilligung des Bischofs von Ermeland abhalten. Friedrich der Große seinerseits war keineswegs mit Borurtheilen gegen die katholische Kirche nach Schlesien gekommen. Sein berühmter Ausspruch (vom 22. Juni 1740), daß in seinen Landen jeder nach seiner Fa^on selig werden solle, und daß man nur darauf zu sehen habe, daß keine Religion der andern Abbruch thue, bezog sich auf eine Klage deö geistlichen Departements darüber, daß die katholische Geistlichkeit in Berlin die für Soldatenkinder errichteten katholischen Schulen zur Proselytenmacherei an evangelischen Kindern benützte. Nichts lag ihm ferner, als die Absicht, die katholische Religion zu bedrücken, aber er war gewillt, gegenüber der katholischen Kirche auf alle diejenigen Rechte eines Sou­ verän» Anspruch zu erheben, welche ihm für die Sicherheit seiner Herr­ schaft in Schlesien erforderlich schienen, damit die katholische Kirche diese» Lande» nicht einen Staat im Staate bilde, und die Geistlichkeit ihm nicht die Gemüther seiner Unterthanen entfremde. Diesem Standpunkte gemäß versprach er in seinem NotificationSpatente vom 15. Januar 1742, welches die staatsrechtliche Grundlage der katholischen Kirchenverhältniffe in Schlesien unter der preußischen Herr­ schaft bildet, den Status quo der katholischen Religion (nicht Kirche!) in Schlesien zu erhalten, behielt sich aber alle aus seiner obersten Gewalt al» Souverän und aus der Eroberung herfließenden Rechte vor. Die Spiritualien mit Einschluß der Ordinationen und Visitationen überließ er dem bischöflichen Consistorium und dem Generalvicariat, welche» er in dieser AmtSbefugniß au» landesherrlicher Machtvollkommenheit bestätigte; die Appellationen von den Sprüchen der bischöflichen Behörden durften aber nicht mehr nach Wien an den dortigen Nuntius, sondern mußten an da» Tribunal in Berlin gehen, welche» die Sachen ganz nach den Priwcipien der katholischen Kirche entscheiden sollte. Alle Civil-, Criminal-, Feudal-, FiScal-, Patronats-, Zehnten-, StuprumS-, Alimenten-, MitgiftrestitutionS- und academische Sachen sollten an die Oberamt-regierungen (d. h. Obergerichte) in Breslau und Glogau gehen, an welchen zu diesem Zweck Consistorien errichtet wurden. Diese sollten auS dem weltlichen Richtercollegium, einem katholischen, zwei evangelischen Geistlichen und zwei weltlichen Beisitzern, bestehen. Auch die Priestertestaments- und Hospital­ sachen sollten an die Oberämter gehen. Bei schweren Strafen wurden

Max Lehmann'S Archivpublicationen.

12

die Katholiken angewiesen die Ehe- und AufgebotSdiSpense bet den Ober­ ämtern nachzusuchen; die Appellationen von denselben sollten ebenfalls an

das Berliner Tribunal gehen.

Ein Reglement über das dabei einzu­

schlagende Verfahren und über die Stolgebühren wurde zugleich in Aussicht

gestellt. Friedrich der Große hatte dieses Patent mitten im ersten schlesischen

Kriege erlassen^ und da Schlesien nicht zum deutschen Reiche gehörte, so

war er im Besitz aller Vortheile, die ihm als Souverän und Eroberer zustande»; kein Tractat, kein Lehnöverhältniß beschränkte sein Recht.

Er

hätte gerade so gut daS cujus regio, ejus religio, welches die Habs­ burger trotz deS MajeftätsbriefeS mit solcher Härte einst gegen die Evan­ gelischen in Böhmen und Schlesien geltend gemacht hatten, verkünden und

die katholische Kirche expropriiren können.

ES war ein Akt freier Gnade —

natürlich auch der politischen Klugheit — wenn er der katholischen Kirche

ihre Religionsübung und ihren Besitz garantirte.

Dennoch versetzte sein

Verfahren den CleruS und die katholischen Höfe anderer Länder in große

Aufregung und fand sogleich den heftigsten Widerspruch bei dem geistlichen Oberhirten, dem Fürstbischof von BreSlau, Cardinal Grafen Sinzendorf. Derselbe remonstrirte zuerst am 25. Januar 1742 wegen der Ehesachen,

indem er erklärte, daß durch die Verweisung derselben an daS Oberamt die Gewissen der Katholiken beschwert würden.

Der Etatsminister und

Großkanzler Freiherr von Cocccji, dem die schlesischen Kirchensachen zuge­ wiesen waren, erwiderte ihm aber, die Evangelischen hätten unter öster­

reichischer Herrschaft ihre Matrimonialsachen ja an daS bischöfliche Con-

sistorium bringen müssen; also könnten sich die Katholiken nicht beklagen, wenn der König nach denselben Principien verführe; wenn die Gewissen

der Katholiken durch eine Entscheidung des Oberamts bedrängt würden, so könnten sie ja leicht beruhigt werden; denn die Geistlichkeit brauchte ihnen ja blos den erforderlichen Dispens zu ertheilen.

Damit ließ sich

Sinzendorf natürlicherweise nicht abfertigen, sondern reichte im Februar 1742 eine ausführliche Denkschrift ein, in welcher er sämmtliche dem Oberamt

überwiesene Sachen für daö bischöfliche Gericht reclamirte, und welcher er ein ausführliches Verzeichniß aller Befugnisse des bischöflichen Consi-

storiumS und GeneralvicariatS beifügte.

Die katholischen Höfe wurden

durch ihn und den Papst ausgestachelt; der letztere, Benedict XIV. schrieb an den Minister von Frankreich, Cardinal Fleury: „Nous sommes effrayte du Systeme du marquis de Brandenbourg“, und Fleury verwandte sich für seine Sache bei Friedrich.

Dieser aber erfreute sich einer unangreif­

baren Position und konnte sogar darauf Hinweisen, daß die Jmprägna-

tionö-, Alimenten-, MitgiftS-, Patronats-, Zehnten-, Priestertestaments-

und Hospttalsachen schon unter der österreichischen Herrschaft an die Ober­

amtsregierungen gegangen waren, so daß der üble Wille der Geistlichkeit in diesem Punkte offenbar war.

In den Gesprächen, die Sinzendorf mit Cocceji und dem Minister

für Schlesien, dem Grafen Münchow, in diesen Angelegenheiten pflag,

kam man auch auf den alten Plan eine- allgemeinen, für alle preußischen Reichslande außer den clevischen und für Schlesien zu errichtenden Generalvicariats zu sprechen, welches unter den früheren Regierungen nicht

zu Stande gekommen war.

Sinzendorf zeigte sich nicht abgeneigt, da er

hoffte, dadurch einige Modificationen des Edicts zu erlangen; auch der König ergriff den Plan mit Lebhaftigkeit und erklärte sich sofort bereit,

jenen selbst zum Generalvicar zu ernennen.

eine Instruction für ihn aufgesetzt,

Am 16. April 1742 wurde

derzufolge er seinen Sitz in Berlin

aufschlagen und dort ein geistliches Tribunal errichten sollte, an das aus allen Ländern des Königs außer den clevischen Landen und Ostpreußen

appcllirt werden dürfte; der Generalvicar sollte dem Könige einen körper­

lichen Eid schwören und die Jura circa sacra et spiritualia im Namen

deS Königs verwalten; die Ehedispense in Schlesien sollten fortan an daS bischöfliche Consistorium in BreSlau gehen, die Appellationen von dem­

selben an den Generalvicar. ttonS-,

Alimenten-,

Nur die geistlichen- StiflungS-, Jmprägna-

RestitutionS-,

Patronats-,

Zehnten-,

Zinsen-

und

PriestertestamenlSsachen sollten nach wie vor den Oberämtern zustehen.

Sinzendorf zögerte anfänglich; als er aber über den Geldpunkt beruhigt

wurde — er sollte als Generalvicar neben seinen Einkünften als Bischof von BreSlau noch 20000 Thaler beziehen — erwärmte er sich für daS Projekt und

befürwortete es beim Papste.

Dieser

aber schleppte die

Sache nach Gewohnheit der Curie jahrelang hin, und schließlich kam doch

keine Einigung zu Stande, weil der Papst verlangte, daß er als oberster Richter aller preußischen Katholiken

officiell

anerkannt

werden

sollte,

worauf der König, schon weil dies gegen seine vom westfälischen Frieden

stammenden Rechte eines summus episcopus auch der katholischen Unter­

thanen war, nicht einging.

Sinzendorf versuchte in der Zwischenzeit die

Matrimonial- und Gelöbnißsachen an sich zu ziehen und die Appellationen an daS Tribunal in Berlin abzuwenden; auch wurde später noch, im

Mai 1744 eine Commission zur Regelung der Kirchensachen eingesetzt;

aber zugleich wurde Sinzendorf bedeutet, daß die in Aussicht gestellten Commissionen erst in Kraft treten könnten, wenn das Generalvicariat ein­ gerichtet sei, und so verblieb es bei den Bestimmungen deS NotificationS-

patents.

Dieses hatte auch durch den Artikel 6 deS BreSlau-Berliner

FrtevenS von 1742,

der der katholichen Religion aufs neue den statug

quo garantirte, keine Aenderung erfahren, da der Status quo nicht der vor dem Kriege, sondern der jur Zeit deS Friedensschlusses war, also den

Recht-zustand de» NotistcationSpatenteS mit einschloß.

Im Jahre 1746

beauftragte der Papst den Weihbischof zu Hildesheim Fretherrn v. Twtckel mit der Visitation der brandenburgischen Klöster und Kirchen, und dieser

suchte die Bestallung

als Genernlvicar

Preußen und Cleve) beim König nach; Cocceji 1732 für den Abt

(natürlich

nicht

für Schlesien,

zu diesem Zweck wurde die von

von Neuzelle verfaßte Instruction hervorge­

sucht, aber da als Bedingung seiner Jnstallirung die Niederlassung de» Btcar»

in Preußen verlangt wurde,

kam auch diese Mission nicht zur

Ausführung. Ueber einzelne Matrimonial- und Kindererziehungssachen gab e» fast

forllvührend Differenzen. Dieselben betrafen folgende Fälle.

Ein gewiffer

Andreas Sternetzkh au» Schimmerau bei Oppeln trug beim Oberamt zu BreSlau darauf an, daß ihm die Ehe mit feine» verstorbenen Weibe»

Schwester, einer Evangelischen, gestattet würde, und da sie schon im Concubtnat mit ihm, nicht ohne Folgen davon zu erfahren, lebte, bewilligte

ihm jene» seine Bitte und machte, um seine Copulation zu. erwirken, An­

zeige davon beim bischöflichen Consistorium.

Sinzendorf aber that Ein­

spruch, weil nur der Papst in Fällen der Mischehen Di»pen» ertheilen könne, und al» nun Sternetzkh darum einkam, von einem evangelischen

Geistlichen sich trauen kaffen zu dürfen, nahm da» Oberamt Anstand und berichtete an den König, der die Entscheidung traf, daß in solchen Fällen die Petenten angewiesen würden, die kanonische Dispensation nachzusuchen,

dann aber beim Oberamt um Genehmigung der Ehe etnkommen sollten, bei strenger Strafe im UnterlaffungSfalle.

Die bezügliche CabinetSordre

wurde am 29. September 1742 erlassen. Der preußische Gesandte

am Dresdner Hofe,

Graf Otto Leopold

Beeß wünschte die Ehe seine» zur katholischen Kirche übergetretenen Sohn»

mit einer KathoMn cassirt zu sehen und fragte beim Oberamt an, welcher Justizkammer er den Antrag zu stellen habe.

bei

Cocceji schlug vor,

dem Cardinal Sinzendorf über die Gültigkeit der Ehe die Cognition zu überlassen, den königlichen Behörden aber die über die Civilwirkungen vorzubehalten.

Der König entschied auch so, und al» der junge Graf

Beeß sich dem Gerichte nicht stellte, der Cardinal aber gegen da» Ver­

fahren protestirte,

erklärte der König die Ehe in Bezug auf die Civil­

wirkungen für ungültig, die Kinder au» derselben für nicht succession»-

fähig und wie» die Einsprache Sinzendorf» damit zurück, daß der Streit

gar nicht zwischen zwei katholischen Ehegatten, sondern zwischen Vater und

Sohn schwebe (Rescr. vom 14. September 1743).

Landrath v. SchimonSky zu Neiße war am 12. September 1740 durch da- bischöfliche Consistortum »erurthetlt worden, seine von ihm entwichene Ehefrau wieder aufzunehmen, hatte aber bei der Nuntiatur in Wien Be­

rufung dagegen eingelegt.

Nach der preußischen Besitzergreifung wandte

er sich an da- Obertribunal in Berlin, und diese- fragte beim König an, wie e- sich verhalten solle.

Der König war Willen-, diese und ähnliche

Appellationen dem künftigen Generalvicariat vorzubehalten und für das­

selbe aufzuheben, da sich aber diese Sache hinzog, bewilligte er zunächst

eine Vertagung auf drei Monate.

SchimonSky indeß protestirte, weil

Sinzendorf selbst als

in Aussicht genommen

Generalvicar

war,

und

Stnzendorf berichtete darüber an den Papst; auch bat er den König, die

Sache noch wie weisen.

früher dem Nuntius in Dresden oder Wien zu über­

Darauf ging der König nicht ein, sondern verlangte, daß Sinzen»

dorf Commissarien zu einem Judicium delegatum ernennen solle. ' Der Cardinal schlug dm Abt von Neuzelle vor, der König aber verlangte, daß eS ein Einheimischer sein solle, und da SchimonSky Mitgift und Morgen­

gabe zurückgegeben hatte,

auch

keinen Anspruch auf Scheidung machte,

weil die Civilwirkungen der Ehe durch das Oberamt aufgehoben worden waren, cassirte der König (20. August 1743) seinen Proceß beim bischöf­

lichen Consistortum und verbot, den SchimonSky zur Alimentation an­ zuhalten. Frau v. Schmiedel,

geb. Baronesse Stillfried,

wollte

von

ihrem

Manne geschieden sein; der König wandte sich deshalb an Sinzendorf,

dieser lehnte die Sache ab, weil die Klägerin in der Grafschaft Glatz,

also in der Diöcese Prag, domictlire, und der König antwortete ihr in­ folge davon, daß er nicht- thun könne, zumal auch beide Gatten katho­ lisch seien. Der Scharfrichter Neumeister in

Schweidnitz

wollte sich Wit der

Tochtee de- bre-lauer Scharfrichter» Thinel vermählen; er war katholisch,

die Braut evangelisch und mit ihm im 3. Grade verwandt.

Da» bischöf­

liche Consistortum wie- ihn ab, da- Oberamt desgleichen, der Papst aber willigte gegen da- Versprechen katholischer Kindererziehung ein.

Da cassirte „was

der König den Spruch de- Papstes

mit der Motivirung:

maßen Wir so wenig dem römischen Papste al- einiger andern

Puissance einzuräumen gemeint sind, Unsern schlesischen Unterthanen In Sachen, welche in das Polizeiwesen einschlagen (dergleichen die Erziehung

der Kinder unstreitig ist), Gesetze und Verordnungen, am wenigsten aber

solche vorzuschreiben, wodurch die Unsern sämmtlichen Unterthanen gnä­ digst erstattete Gewissensfreiheit

schmälert werden

auf einige Weise eingeschränkt und ge­

könnte", untersagte den Brautleuten die Heirath bet

FestungS- und Spinnhausstrafe und ließ an die Eltern der Braut den

Befehl ergehen, in keiner Weise ihre Einwilligung zur Ehe zu geben oder

zu conniviren.

Da indeß daS bischöfliche Consistortum die Dispen­

sation ohne die bedenkliche Clausel auSferttgte,

auch die Hei-

rathspacta die evangelische Kindererziehung sestsetzten, ertheilte daS Oberamt die Erlaubniß zur Ehe, die auch vollzogen wurde.

Ein polnischer Kaufmann, Namens Friese, der lange im Hause deS Kaufmanns Contessa in BreSlau gewohnt hatte, erhob Anspruch auf die

Hand der Tochter desselben, der Vater aber verweigerte die Einwilligung.

DaS bischöfliche Consistorium nahm sich deS Friese an, weil nach dem

Tridentinum eine Ehe auch ohne väterlichen ConsenS gültig sei; Friedrich

der Große aber verlangte, daß Friese sich in BreSlau niederlassen sollte, und bestand auf der väterlichen Einwilligung.

Die Tochter verzichtete

schließlich; Friese bezeigte auch keine Lust, sich in Breslau niederzulassen. Der König aber erließ infolge dieser Sache am 22. April 1747 ein Edict, „daß in denen schlesisch- und glatzischen Landen die Eheverbindungen nicht

anders als mit freiwilliger Einstimmung der Parteien sowohl als der

Eltern und Grundobrigkcitcn, auch nach vorgängigem öffentlichen Aufgebot durch priesterliche Einsegnung vollzogen werden, widrigen Falls aber un­

gültig und kraftlos sein, auch diejenigen, welche sich außer Landes trauen lassen, nachdrücklich bestraft werden sollen". Den zuwiderhandelnden Geist­

lichen wurde mit Suspension und Remotiom, den Zeugen und Helfern

mit exemplarischen LeibeS- und Geldstrafen gedroht. Die Bestimmung betreffs der Einstimmung der Parteien bezog sich auf den Mißbrauch, daß Personen, die in fleischlichem Verkehr gestanden, zwangsweise auf Mandat der Obrigkeit zuweilen getraut wurden,

unterließ.

wobei man auch daS Aufgebot

Die Zustimmung der Grundobrigkeit wurde für nöthig

er­

achtet, damit ihre GutSunterthanen sich ihnen nicht entzögen.

Gräfin Leopoldine von AlmeSloe wünschte von ihrem Ehegatten ge­

trennt zu leben und trug beim bischöflichen Consistorium darauf an, daß

eS ein Verbot des gemeinsamen Lebens an jenen ergehen lasse.

Da daS

Consistorium Schwierigkeiten machte, bat die Gräfin Friedrich den Großen,

die Sache an das Oberamt zu verweisen, dies aber lehnte der König ab.

Jnbetreff der Einsegnung

der Mischehen entschied der König an­

fänglich aufgrund des bis dahin in Schlesien herrschenden Gebrauchs der katholischen Kirche, den er auch auf Mischehen anwandte, daß das Auf­

gebot in den Parochien der Braut und des Bräutigams zu erfolgen, der Pfarrer der Braut die Trauung vollziehen, der des Bräutigams die Ein­

leitung vornehmen solle,

aber, wenn die Gebühren an die ordentlichen

Pfarrer gezahlt wurden, auch die Trauung von einem auswärtigen Pfarrer

vorgenommen werden durfte (17. December 1743); später aber entschied er (19. Mai 1744), das Oberamt solle sich bemühen, dergleichen Streitig­

keiten gütlich beizulgen, „damit derjenige Theil, welcher nach den Prin-

cipiis seiner Religion am wenigsten Ursache hat, sich deswegen einen Gewissensscrupel zu machen, sich durch vernünftiges Nachgeben dem schwächeren

und hierunter mit Borurtheil befangenen Theile gefällig erzeige, um da­ durch nicht allein den Grund einer guten und christlichen Harmonie in

dem

vorseienden Ehestände zu legen, sondern

auch allen Samen der

Uneinigkeit und Widerwillens zwischen beiden Religionsverwandten so viel

möglich aus dem Wege zu räumen".

Wenn mit Güte nichts zu erreichen

sei, solle das Oberamt nach der früheren Ordre entscheiden.

Jnbetreff der Kindererziehung bestand

in Schlesien bei Mischehen

der Gebrauch, daß die Kinder je nach ihrem Geschlechte der Religion der Eltern folgten, wenn nicht etwas Besonderes darüber stipulirt wurde.

Friedrich fand dies ganz billig und gerecht. Er hielt deshalb den evangeli­ schen Componisten Rieck an, seine Tochter, weil die Mutter katholisch war, katholisch erziehen zu lassen, nur dürfe das nicht zum Vorwande genommen

werden, sie der väterlichen Gewalt zu entziehen, auch sei ihr unbenommen,

wenn sie ad annos discretionis komme, sich frei zu entscheiden (9. April

1745).

Auch hierbei berief sich Friedrich auf seinen

Grundsatz

der

Gewissensfreiheit und auf seinen Willen, Jeden bei seinen bürgerlichen

Gerechtsamen zu

schützen.

Einer Frau v. Wildau (oder Waldau) ver-

willigte er ganz entsprechend die evangelische Erziehung ihrer Kinder, aber ließ ihnen die Wahl frei, wenn sie in die betreffenden Jahre kämen.

Später setzte er dafür das 14. Jahr fest. Wie er sich dem GewiffenSzwang des Versprechens'katholischer Kindererziehung gegenüber verhielt, sahen wir schon oben bei der Neumeister'schen Sache.

dieser Art war folgender.

Ein anderer Fall

Der CuratuS Bartsch zu Lüben hatte dem

Georg Cramer die Absolution verweigert, weil er seine Kinder evangelisch erziehen ließ.

Cramer wandte sich an daS Oberamt zu Glogau, das auch

die Beschwerde annahm, Sinzendorf aber sah darin eine Verletzung deS

status quo und der „Gewissensfreiheit" und bat den König, die Beicht­

sache an daS bischöfliche Officialat, die Erziehungssache an das Oberamt zu verweisen.

Der König billigte eS, daß das glogauische Oberamt die

Sache angenommen, willigte aber andererseits ein, daß derlei Beichtsachen an daS bischöfliche Gericht kämen, insinuirte jedoch dem Cardinal sehr ernst­

lich, daß er seine Geistlichen anweisen sollte, sich dergleichen GewissenSbedingungen nie mehr zu erlauben, widrigenfalls er auch solche Sachen an

die Oberämter verweisen werde.

In einem Falle gab der König sogar daS Recht der evangelischen 2

Preußische Jahrbücher. Bd. LIL Heft 1.

Kirche preis.

Die gräflich Arco'schen Eheleute

Kirche übergetreten und hatten ihre Kinder starb die Gräfin, dann der Graf Arco.

waren

zur reformirtm

reformirt erzogen.

Zuerst

Mehrere Tage vor seinem Tode

hatte er, wahrscheinlich in äußerster Schwäche, da er schon delirirte, sich

bewegen lasten, da» katholische Abendmahl zu nehmen, drei Tage später aber ließ er e» sich, wie der Arzt und vier Zeugen bekundeten, bei vollem Bewußtsein von einem reformirten Geistlichen reichen.

Nun wollte die

Großmutter der Hinterbliebenen Kinder, eine Katholikin, sie katholisch er­ ziehen lassen, und den Vorstellungen Sinzendorf» und de» Dompropste»

Schaffgotsch gelang e»,

den König zur Einwilligung

unter Umstoßung

einer früheren Ordre zu bewegen (21. December 1746), weil Jene ihm davon eine besondere Wirkung auf die Katholiken und den Cleru» in

Aussicht stellten.

Dieser Erfolg ist in keiner Weise zu Tage getreten.

Auch in einer etwas dunkeln Sache bewies er fast übergroße Milde und Mäßigung.

Noch zur

österreichischen Zett hatte der Generalvicar

Domherr Freiherr v. Oexle die Tochter eines Evangelischen, Fräulein

v. Eschwiller, entführt und in ein Kloster gebracht, und die Eltern wurden

noch dazu durch Entscheid de» bischöflichen Gericht» zur Alimentation an­

gehalten.

Jetzt wandte sich die Mutter,

welche katholisch war,

Oberamt, welche» auch die Klage annahm.

an da»

Da» Mädchen leugnete indeß

die Thatsache der Entführung und erklärte, katholisch bleiben zu wollen; dennoch scheint diese Erklärung nicht au» Ueberzeugung hervorgegangen zu

Der König ließ die Mutter abweisen und verwarnen, verwies aber

sein.

den v. Oexle mit der Alimentatlon-klage an das Oberamt.

Stnzendorf

aber nahm sie seinerseits an und untersuchte die Sache; die Parteien er­

schienen,

und die Beklagten schoben dem Kläger den Eid zu.

An dem

dazu anberaumten-Termine erschien aber da» Mädchen nicht und machte, wie Sinzendorf dem König meldete, neue Umtriebe; er verlangte zugleich, der König solle ihn in seinen kirchlichen Rechten schützen. jedoch,

die

Sache

gehöre, weil rein civil,

Dieser entschied

an» Oberamt (1743, den

14. September). Au» allen diesen Fällen ist zu ersehen, daß Friedrich sich streng aller Uebergriffe in da» rein geistliche Gebiet enthielt, ja die Katholiken an-

wie», ihre Dispense bet den geistlichen Behörden nachzusuchen; daß er in manchen Fällen sogar unberechtigten Forderungen der Katholiken nachgab,

aber

seinen

weltlichen

Tribunalen -durchaus die

civile,

auf dingliche

Rechte bezügliche Jurisdiction wahrte, und diese als unumgängliches Cor-

relat der geistlichen Jurisdiction, in Mischehesachen aber al» allein zu­ ständig betrachtete.

Die Matrimonial- und Erziehung-angelegenheiten, die Frage der

Verwaltung des Vermögens der Kirchengemeinden und die Beziehungen

der katholischen Kirche zu den Evangelischen wurden schließlich durch eine Commission geregelt,

die Im Jahre 1750 in BreSlau infolge der vom

katholischen Cleru» erhobenen Religion-beschwerden vom Könige eingesetzt wurde.

Sie bestand au- dem Minister Grafen Münchow, dem Groß­

kanzler v. Cocceji, dem Bischof Schaffgotsch, dem außerdem die Dom­

herren Freiherr v. Oexle und v. Langen assistirten; da Schaffgotsch sich wei­

gerte, die zuerst ebenfalls zugezogenen evangelischen Geistlichen als gleichen Ranges anzuerkennen, mußten statt ihrer Juristen in die Commission be­

rufen werden.

Die wichtigsten Punkte, welche auS den Verhandlungen

dieser Commission resultirten, waren folgende:

Der Uebertritt von einer

zur andern Confession .ist unbehindert; in keinem Falle darf einem Ster­ benden oder Kranken der gewünschte Beichtvater versagt werden, evangelischen Delinquenten auf dem Dome nicht.

selbst

Die Erziehung de-

Kinde- richtet sich nach der Confession der Eltern je nach dem Geschlecht;

Antenuptialpacta sind

ungültig.

Jedoch dürfen die

Kinder der Erziehung wegen den Eltern nicht entrissen werden.

Spon-

salienstreitigkeiten gemischter Paare gehören vor da» Oberamt; jedoch ist der katholische Theil nicht befugt, ohne päpstlichen DiSpenS eine neue Ehe einzugehen; nur der Civileffect wird durch die. Scheidung bewirkt.

beide Theile katholisch sind,

Wenn

ist das bischöfliche Consistorium erste, da-

Synodalgericht zweite Instanz.

Grundherrschaften,

die

au- Religion»-

gründen den HeirathSconsenS verweigern, werden in die Kosten verurtheilt

und zahlen 10 Thaler Strafe.

Katholische Unterthanen haben ihren Ehe-

di-penS auch beim Oberamt zu produciren; die Kosten bei demselben be­ tragen

nur die Hälfte derer beim Consistorium,

für Arme gar nicht-.

Auch Soldatenbräute haben dem ordentlichen Pfarrer Stolgebühren zu

entrichten.

Im Ferneren traf die Commission genaue Bestimmungen über

die Verwaltung de- Kirchenvermögens und über Reparaturen der Pfarrund Kirchengebäude durch Pfarrer, Kirchenväter und Patron.

Ohne Zu«

stimmung de- Bischofs und des Patron- sollte au- der Kirchenkaffe kein Geld ausgeliehen werden. — Au den katholischen Feiertagen sollen, außer

in der Erntezeit, die katholischen Unterthanen nicht zur Arbeit herange­

zogen werden.

spectiren.

Die vier staatlichen Bußtage haben die Katholiken zu re-

In Ortschaften, in denen nur die Katholiken Glocken haben,

sollen sie auch für die Evangelischen geläutet werden, außer während de-

katholischen Gottesdienste-, besonder- während de- Meßopfer-; die Kirch­

höfe sollen gemeinsam sein.

Proceffe gegen Geistliche werden beim Ober­

amt geführt; sollen letztere persönlich erscheinen, so muß eS beim Bischof

angezeigt werden, damit der h. Dienst keine Störung erleide. 2*

Wenn ad-

Max Lehmann'« Lrchivpublicalionen.

20

lige Personen in Nonnenklöstern sterben, hat die Oberin eS beim Ober­

amt zu melden und die Effecten

in- Sprechzimmer zu tranSportiren,

worauf der OberamtSfecretär die Versiegelung vornimmt.

nießen keine Sportelfreiheit.

Geistliche ge­

Sie sind verbunden, auch solche Edicte von

der Kanzel zu verlesen. In denen Androhung der Todesstrafe vorkommt (die- bezog sich hauptsächlich auf Desertionen).

Die Frage von der Com-

petenz des Bischofs in Erbschaftssachen de» katholischen Cleru», ferner in

der Jurisdiction deffelben als Fürst von Neiße, endlich von der Gerichts­ barkeit des Domkapitels und der Stifter sollen beim k. Fiscus tnstruirt

werden, und der König wird nach Billigkeit eine Entscheidung treffen, die

dem Reglement angehängt werden soll.

Auch die Evangelischen hatten

mehrere Gravamina erhoben, die ihre Erledigung fanden; besonders sollten

katholische Pfarrer nicht mehr Evangelische ohne Aufgebot trauen, was häufig wegen anticlpirten concubitus geschehen war, und die katholischen ControverSprediger sollten sich mäßigen.

Später, im siebenjährigen Kriege,

wurden die ControverSpredtgten gänzlich verboten. bührentaxe wurde von der Commission aufgestellt.

seine Freude

Auch eine Stolge-

Benedict XIV. sprach

über die Beilegung der Beschwerdm aus und lobte den

König am 15. August 1750 öffentlich dafür in einer Allocution,

wie er

dies schon früher gethan hatte, al» der König den Bau der katholischen Kirche in Berlin gestattete und eine Beihilfe dazu bewilligte.

Am 21. Juni 1753 erschien ferner ein königliche» Edtct, welche» die Testamente der Geistlichen regelte.

getroffen:

Darin waren folgende Anordnungen

Kein OrdenSgetstlicher darf ein Testament machen, keiner eine

Erbschaft annehmen, wohl aber darf er von den Verwandten 4 Procent von dem ihm zugedachten Capital genießen; Weltgeistliche dürfen nur den

3. Theil de» von ihrem Benefiz herrührenden Vermögen» einem Kloster, Stift oder einer frommen Corporation vermachen, da» übrige kommt den legitimen Erben zu.

An Stifter darf überhaupt nicht mehr al» 500 rtl.

legirt werden, außer an Armen- und Waisenhäuser, Hospitäler und die

Klöster der barmherzigen Brüder und der Eltsabettnerinnen in BreSlau, ferner behufs Almosenertheilung und Stipendien,

unter Vorbehalt der königlichen Genehmigung. Naturalien auf den Satz von 500 rtl. Capital

auch zu Reparaturen

Ebenso sind Legate an zu reductren.

An aus­

wärtige Stifter darf gar nichts vermacht werden, außer an Gnadenorte

bis zu 500 Thalern.

Die Mitgift für den Eintritt in ein Kloster soll

bei geringen Klöstern 500, bet den höheren Orden 1000,

bei adligen

Stiftern 1500—2000 rtl. betragen dürfen, abgesehen von der Ausstattung

und den Reisekosten.

Wer ein Legat,

wird in duplum verurtheilt.

da» nicht gestattet ist,

annimmt,

Stirbt ein Weltgeistltcher, so muß da» In-

Max Lehmann'« Archj»Publicationen.

21

ventar dem Oberamt bei 100 Ducaten Strafe eingesandt werden. Alle Testamente an ftemde Körperschaften sind dem Oberamt bei Strafe der Confiscation oder des DuplumS einzusenden. DaS Edict hat keine rück­ wirkende Kraft. Später wurde gestattet, daß für Seelenmessen noch 500 Thaler besonders legirt werden könnten. Der Bischof Schaffgotsch remonstrirte zwar gegen die Bestimmungen deS EdictS, wurde aber leicht widerlegt, da eS sich hier gar nicht um Ktrchenbesitz handelte, sondern um Einschränkung der Testirfreihett der Laien; überdies konnte als Präjudiz angeführt werden, daß auch die öster­ reichische Regierung stets das Verbot circa immobilia aufrechterhalten hatte. Ferner suchte der König dem übermäßigen Anwachsen der Geist­ lichkeit zu steuern; er machte den Eintritt in ein Kloster schon von einer Genehmigung durch die Regierung abhängig und setzte als Altersgrenze für die Ableistung der Ordensgelübde das zurückgelegte 22. Jahr fest, und ging ungeachtet aller Remonstrationen des Bischofs Schaffgotsch nicht von dieser Bestimmung ab. Um die große Einbuße, die die ländliche Arbeit und damit der öffentliche Wohlstand durch die große Anzahl der katholischen Feiertage erlitt, zu verringern, strebte Friedrich der Großen danach, sie entweder abzuschaffen oder die kirchliche Feier auf die folgenden Sonntage zu ver­ legen. Er erlangte auch wirklich die Einziehung von einer Anzahl Or­ dens- und lokaler Feste vom. Papste, aber auf das zweite Anliegen ging die Curie nicht ein. Nur wurde von derselben gestattet, daß die Messe und die sonstige Kirchenfeler an solchen Tagen bi- 8 Uhr früh beendigt werden könnte; jedoch sollten die katholischen Unterthanen, wie wir schon bet dem Reglement von 1750 sahen, nicht wider ihren Willen von den evangelischen Gutsherren zur Frohnarbeit herangezogen werden. Bon seiner Landeshoheit machte Friedrich auch in der Heranziehung der geistlichen Güter zur Grundsteuer oder Contributton Gebrauch. Dteselbe hatte schon unter der katserlichen Herrschaft bestanden und war an­ fänglich von ihm sehr hoch, nämlich auf 65 V, Procent vom Reinerträge, bemeffen worden. Auf die Vorstellungen SinzendorfS und des MinisterMünchow ermäßigte er aber für die Stifter den Satz aüf 50 Procent; Pfarrer und Schulmeister sollten nur 287, Procent, so viel wie der Adel, zahlen. Für seine Person erlangte Sinzendorf eine Herabminderung der Contributlon von 21000 auf 10000 Thaler. Al- der Bischof Schaff­ gotsch später bei den Verhandlungen, die er mit Cocceji über die Ver­ mächtnisse an Geistliche pflag, über die Armuth der Stifter klagte, sagte dieser, der König werde, um sich davon Ueberzeugung zu verschaffen, die Fundationen und Rechnungen derselben untersuchen lassen, und al- der

Bischof sich dagegen auf da« Trtdenttnum berief, konnte er sehr leicht widerlegt werden, da eS in Schlesien auch vom Bischof nur In Bezug aus die Glaubenssätze publicirt, und vom Landesherrn überhaupt niemals be­ stätigt oder anerkannt worden war. Der damalige (1754) schlesische Minister Massow trug auch wirklich, weil ihm zu Ohren gekommen war, daß daS bischöfliche VtcartatSamt die Einkünfte von Pfarreien an sich ziehe und diese durch schlecht besoldete Bicare verwalten lasse, auf Nieder­ setzung einer Commission behufs Untersuchung der fundationSmäßigen StiftSrevenuen und der eingeschlichenen Mißbräuche an. Dies gab den Anlaß zu weiteren Untersuchungen über die königlichen Gerechtsame. DaS breSlauer Oberamt reichte am 29. April 1754 eine Denkschrift ein, in welcher. auS zahlreichen Vorfällen der österreichischen Zeit daS Recht der Regierung, die Rechnungsablage von der Geistlichkeit zu fordern, daRecht der Sperre , und der Nachlaßinventur, ja sagar der Heranziehung geistlicher Unterthanen (d. h. der Bauern auf Stift-gütern) zu Staat»frohnden nachgewtesen wurde. Schaffgotsch suchte die Angelegenheit zu seinem Vortheil zu wenden, indem er den Vorschlag des verstorbenen Bicepräsidenten d'Alenyon, daß eine geistliche Commission eingesetzt wer­ den möge, die da» Recht des Exequatur für päpstliche Bullen, die Bestätigung der Wahlen, die Controle der Rechnungen, die Inventur geist­ licher Nachläffe und daS Recht der Strafen gegen Contravententen auSüben sollte, wieder aufbrachte; da aber Massow nachwleS, daß d'Alentzvn sich nur durch Schaffgotsch einst hatte überreden lassen, diese Vorschläge zu machen, so wurde er damit abgewiesen. DaS erste Stift, über dessen Vermögensverwaltung eine Untersuchung verhängt wurde, war da- von Schaffgotsch als Abt verwaltete Augustinerchorherrenstift zu St. Marta auf dem Sande. (Als später da» BtSthum Breslau unter Sequester kam, zeigte e» sich, daß Bischof und Domkapitel überhaupt, niemals einen JahreSetat aufgestellt hatten, und daß die Einkünfte um 50 Procent höher waren, als die Selbstangaben beider lauteten.) Um der Sicherheit seine» Staat» willen verbot Friedrich der Große die Verleihung geistlicher Stellen und Pfründen an Fremde, und nur au» Gefälligkeit für den Cardinal Sinzendorf machte er eine Ausnahme mit dem Grafen Kolowrat, dem er eine Maltesercommende verlieh. Auch fremde Mönche duldete er nicht, besonder» keine böhmischen Jesuiten; nur französische Jesuiten sah er gern und erwirkte vom Jesuitengeneral Retz, mit dem er in freundlichen Beziehungen stand, die Uebersiedelung mehrerer französischer OrdenSmttglteder in die Collegien zu Glogau und BreSlau, hauptsächlich um dem Einflüsse der österreichisch-gesinnten schlesischen Jesuiten zu begegnen, dann aber auch, um da» Schul- und Universität»-

wesen zu verbessern. Die einheimischen Jesuiten lntriguirten aber unablässig gegen die Eindringlinge, so daß diese nach wenigen Jahren unter verschiedenen Vorwänden sich die Erlaubniß zur Rückkehr auSbaten. AlS die glatzer Jesuiten 1757 dem Brande ihres Stifts, dessen Räume zuin Theil für militärische Zwecke benutzt wurden, unthätig und sichtlich ver­ gnügt zusahen, verbot er den Wiederaufbau des Kloster» und nöthigte sie, ihr Domicil zu verlegen, worauf sie sich nach Liegnitz begaben. AuS den gleichen Gründen der Staatspolizei wünschte der König eine Regulirung der geistlichen Diöcesen nach Maßgabe der Landesgrenzen. ES gehörten nämlich Theile von Oberschlesien zur olmützer und zur krakauer, die Grafschaft Glatz zur Prager Diöcese, während da» BiSthum Breslau sich, wie bekannt, auch über einen großen Theil de» österreichi­ schen Schlesien» erstreckt. Friedrich wollte ohne Weitere» die geistliche Gerichtsbarkeit über die Grafschaft Glatz dem Cardinal Sinzendorf über­ weisen ; aber die» fand begreiflicherweise unübersteigliche Hindernisse, und Sinzendorf selbst konnte unmöglich darauf eingehen. Friedrich beharrte indeß bei dem Verbote, Appellationen an einen außer Lande» ansässigen Prälaten gelangen zu lassen. E» gelang jedoch dem Canonicu» Bastiani, der sich in Sachen der Einsetzung Schaffgotsch'» al» Bischof 1748 längere Zeit in Rom aufhtelt, die ganze Appellation-angelegenheit für Conststorialsachen, wozu auch die EhegertchtSbarkett gehört, zur Zufriedenheit de» Kö­ nig» wie de» Papste» zur ordnen. Beide kamen auf Grund der Basttanischen Unterhandlung überein, daß die Appellation vom Spruche de» bischöflichen Consistorium» zu BreSlau an den sächsisch-polnischen Nuntiu» in Dresden ergehen, und dieser die Sache an bestimmte zu ernennende Synodalrichter in Schlesien delegiren sollte; auch die dritte Instanz sollte einem dieser Synodalrichter zustehen. Al» solche Richter fungirten in den folgenden Jahren die Aebte von Heinrichs», LeubuS-Kämenz und St. Vincenz zu Breslau. In gleicher Weife wurden Synodalgerichte für den olmützer und krakauer Antheil errichtet. Der Erzbischof von Prag dagegen erwies sich, ebenso wie der Papst, in Bezug auf die Grafschaft Glatz unzugänglich, weshalb der König dort direkt oder durch den Com­ mandanten von Glatz (längere Zeit war die» FouquL) seine lande-hoheit­ lichen Rechte au-übte. Durch die Vermittlung de- Bischof- Schaffgotsch erlangte der König 1753 vom Papste und den Orden-generalen wenig­ sten- die Trennung der schlesischen Klöster von den böhmischen und mähri­ schen Orden-provinzen; nur mit dem Paulinerkloster zu Oberglogau, dem einzigen diese- Orden- in Schlesien, welche«, zu der polnischen Provinz gehörte, verstattete er eine Ausnahme. Auch daß Schlesier im Auslande studirten, sah der König nicht gern; wer es dennoch that, verlor sein

Recht auf Anstellung.

Ebenso litt er nicht, daß die schlesischen Magnaten

und Edelleute ihre Kinder zur Erziehung in ausländische Klöster schickten, außer in ganz besonderen Fällen, die seiner Resolution unterlagen.

Dagegen hielt Friedrich sich streng an sein Versprechen, den Besitz­

stand der katholischen Kirche in Schlesien aufrecht zu erhalten. Evangelischen waren nach dem

Den

westfälischen Frieden alle Kirchen ge­

nommen worden, nur in den piastischen Fürstenthümern Liegnitz, Brieg, Wohlau und in Münsterberg-OelS, ferner in der Stadt Breslau blieb die Religionsfreiheit bestehen; in Glogau und Schweidnitz wurde den

Evangelischen je eine Kirche verstattet.

Im altranstädter Frieden hatte

dann Karl XII. sich vom Kaiser die Rückerstattung von 125 Kirchen an die Evangelischen erzwungen; dazu war ihnen aus kaiserlicher „Gnade" noch 6 Kirchen zu bauen verwilligt worden in Hirschberg, LandeShut,

Militsch, Teschen, Freistadt und Sagan.

Weite Landstriche waren von

Evangelischen fast ausschließlich bevölkert, aber die Kirchen waren katho­ lisch, die Pfarrer derselben hatten zwar reiche Pfründen, aber keine Pfarr­

kinder; sie lasen wohl pro forma des Jahrs ein oder einige Male in den Kirchen Messen, wozu sie die Zuhörer sich aus anderen Dörfern her­

zuholen mußten; die Evangelischen dagegen waren genöthigt, vielfach zwei, wenn sie

drei Meilen nach der nächsten evangelischen Kirche zu gehen,

ihre religiösen Bedürfnisse befriedigen wollten; viele hielten in den Wäl­ dern ihren Gottesdienst ab.

zur Taufe starben,

Oft kam es vor, daß Kinder auf dem Wege

daß Sterbende ohne Abendmahl verschieden.

Die

evangelische Bevölkerung in den Fürstenthümern Jauer und Schweidnitz hatte nur die Kirchen in Schweidnitz, Landeshut, Hirschberg zur Verfü­

gung, die Evangelischen der Greifenberger Gegend gingen nach Wies«,

dem ersten lausitzischen Orte unmittelbar bei Greifenberg.

Die Stolge-

bühren mußten für alle kirchlichen Orte ebenso wie die Zehnten den

katholischen Pfarrern erlegt werden, den evangelischen Geistlichen mußte natürlich für dieselben Acte auch gezahlt werden. Als nun in Friedrich dem Großen die Schlesier einen evangelischen

Landesherrn erhielten, fiel begreiflicherweise das Verbot evangelischer Re­ ligionsübung von selbst weg.

ES kamen bet der Regierung eine große

Anzahl Gesuche evangelischer Gemeinden um Errichtung von

Kirchen,

Schulen und Bethäusern, um Anstellung von Geistlichen und Lehrern ein. Den Reigen eröffnete Kupferberg mit 14 Dörfern,

dann kam der Graf

Hochberg für seine ausgedehnte Fürstenstein'sche Herrschaft,

zu der die

drei Mediatstädte Waldenburg, GotteSberg und Friedland gehörten; dann

kamen mehr und mehr Dörfer besonders auS dem Glogauischen und der Gegend von Freiburg.

Immer wurde resolvirt,

daß sie Kirchen oder

Bethäuser erbauen, Geistliche und

Lehrer anstellen dürften, aber den

Pfarrern nach wie vor Zehnten und Stolgebühren zu entrichten hätten;

den Gemeinden aber, welche leerstehende katholische Kirchen in Anspruch nahmen, wurden ihre Gesuche rund abgeschlagen.

Dies. widerfuhr selbst

den Gemeinden Adelsbach und LieberSdorf bei Freiburg, welche nachwiesen, daß ihre Kirchen ihnen erst 1688 widerrechtlich genommen, und sie im

altranstädter Pakte nur vergessen worden seien.

Mehreren Dörfern im

Glogauschen wurde sogar der Bau von Bethäusern versagt, weil dadurch

den

geschmälert

evangelischen Geistlichen ihre Einnahmen

benachbarten

wurden, und weil, wie die Oberamtsregierung meinte,

das Gesuch blos gestellt hätten,

die Gutsherren

um ihrem Biere — bei den aus dem

Bethause zurückkehrenden Bauern — bessern Absatz zu verschaffen. Viele

evangelische Gemeinden strengten bei den Oberämtern Processe an, um solche Kirchen, die ihnen widerrechtlich genommen waren, wiederzuerlan­ gen, und

wirklich

ergingen auch von jenen Edicte,

durch welche die

Pfarrer zur Rückzahlung der unrechtmäßig bezogenen Einkünfte angehalten wurden.

Der König aber ließ 1748 alle diese Processe niederschlagen

und gab strengen Befehl, daß nur über Fälle, die nach 1740 vorge­ kommen wären, Klagen Hinfort angenommen werden dürften.

Anderer­

seits steuerte er der offenbaren Ungerechtigkeit, mit welcher die kaiserliche Regierung

in allen niederschlesischen Städten

als Bedingung

für

ein

Bürgermeister- oder RathSamt die katholische Confession festgestellt hatte,

und ordnete an, daß in diesen überwiegend evangelischen Städten Bürger­

meister, Kämmerer und ShndicuS evangelisch sein sollten. am katholischen

Clerus

während der österreichischen

Da er ferner

Occupation 1757

schlimme Erfahrungen machte, hob er die Bestimmung auf, daß die

Evangelischen an die katholischen Pfarrer Stolgebühren entrichten müßten, und

ließ in ganz evangelischen Dörfern die katholischen Pfarrer und

Schulmeister beseitigen.

Von der Verordnung, die in manchen Werken

erwähnt ist, daß Katholiken keine Stellen mit mehr als 400 Thaler Be­

soldung erhalten sollten, hat sich in den Akten des Geheimen Staatsar­ chivs nichts gefunden.

In und außer Schlesien gestattete

er dagegen,

weit über die zu Recht bestehenden Verträge und Constitutionen hinaus nicht nur in katholischen, sondern auch in ganz evangelischen Landestheilen

die Gründung katholischer Schulen und Kirchen, wie in Leobschütz, Cre­ feld,. Lingen, Ossenberg, Tilsit und Berlin.

Da er zum Bau der Hed-

wigSkirche in seiner Hauptstadt auch noch eine ansehnliche Beihilfe gab, wurde ihm, wie schon erwähnt, daS Lob des Papstes reichlich zu Theil,

der es in einer feierlichen Allocution verkündete (20. November 1747).

III. . Die mannigfaltigsten Hindernisse, die Friedrich dem Großen bet der Einrichtung seiner Herrschaft in Schlesien von den Prälaten und Domgeistlichen entgegengestellt wurden, brachten in ihm früh den Entschluß zur Reife, seinen königlichen Willen bei Besetzung der einflußreichen geistlichen Stellen geltend zu machen, um nicht entschiedene Feinde ungestört und un­ angreifbar in seinem Staate gegen sich agitiren zu laffen. Als die Stelle eines AbtS beim Stifte der regultrten Augusttner-Chorherren auf dem Sande zu Breslau frei wurde, bewog er diesen Convent durch allerdings sehr energische Vorstellungen, seinen Schützling, den Domherrn Schaffgotsch, dazu zu postultren, d. h. einstimmig zu wählen. Besonders aber lag ihm daran, bet Zetten einen Nachfolger für den kränklichen Cardinal Sinzendorf zu bestellen; er ließ deswegen durch diesen selbst beim Papste über die Einsetzung eben deflelben Schaffgotsch als Cöadjutor unterhan­ deln. Das Domkapitel zeigte sich aber diesem Ansinnen unzugänglich, wohl hauptsächlich, weil Schaffgotsch Friedrich dem Großen wenigstens dem Anscheine nach ergeben war; aber eS konnte auch geltend machen, daß Friedrichs Schützling Freimaurer war, daß er einen anstößigen Lebens­ wandel führe; daß ferner zum bischöflichen Amte und demzufolge auch zur Coadjutorie ein Alter von 30 Jahren gehöre, Schaffgotsch also, der erst 27 Jahre alt war, eines päpstlichen Dispenses bedürfe. Der Papst zog die Sache hin;, endlich erklärte er sich bereit, einen Commiffar in der Person des dresdner Nuntius Archinto zur Untersuchung der ganzen Sache nach Breslau zu schicken. Sinzendorf schlug, um allen solchen Differenzen für die Zukunft vorzubeugen, dem Könige vor, er solle beim Papste die­ selben Rechte, welche die Könige von Frankreich (durch das Concordat von 1515) besäßen, beanspruchen. Da aber der König fürchtete, dies werde nur als ein neues Mittel der Verschleppung, wie er sie in der GeneralvtcariatSsache genugsam kennen gelernt hatte, dienen, befahl er dem Grafen Münchow kurzweg, den 16. März 1744 vor dem versammelten Domkapitel die Einsetzung Schaffgotsch'- als Coadjutor auf dem Wege der Nomination zu vollstrecken. Dies geschah auch, und des König» Wille wurde von den Domherren respectirt, auch ohne daß die päpstliche Be­ stätigung erfolgte. Schaffgotsch fungirte, zum Fürsten ernannt, als Coadjutor. Zwei Jahre später starb der Abt des MatthiaöklosterS. Friedrich gestattete den Kreuzherren desselben, drei Candidaten zu Präsentiren. Der Convent that dies; da aber die Namen der Präsentirten dem Könige nicht zusagten, nominirte er einen vierten, Hellmann. Die Kreuzherren fügten sich und waren auch zufrieden mit der Wahl, weil der Gewählte einer

aus ihrer Mitte war.

Dieser Fall aber bewog Maria Theresia, auf

Grund des berliner und dresdner Friedens zu remonstriren.

Indeß wies

Friedrich sie energisch ab, indem er darauf aufmerksam machte, daß er

sich auch nicht in die geistlichen Wahlen Böhmen- mische, und daß der Status quo der des Friedensschlüsse» sei.

Damit nicht zufrieden, ließ er

durch den GeneralfiScal Gloxin Nachforschungen über die Rechte der Landes­

herren gegenüber der Kirche in Schlesien machen. Die Resultate derselben sind in einer vom 10. September 1746 datirten Denkschrift niedergelegt. In derselben wird nachgewiesen, daß auch die österreichische Regierung

Bischöfe, Aebte und Aebtissinnen mit Umstoßung der Wahlfreiheit ernannt Die von Gloxin angeführten Thatsachen, die dies beweisen sollen,

habe.

sind

folgende.

Kaiser Rudolph II. setzte den vom Domkapitel eigen­

mächtig gewählten Bonaventura Hahn ab und denominirte den Paulus

Albertus 1599 zum Bischof; 1624 schlug da- Domkapitel den Erzherzog Leopold Wilhelm vor, mußte aber auf Befehl Ferdinand- II. den polni­

schen Prinzen Carl Ferdinand wählen; 1664 wurde auf Befehl Leopold-1.

Sebastian von Rostock erwählt; 1682, al» da» Capitel gegen de» KaiserWunsch den Bischof von Olmütz wählte und dessen Wahl vor hohem

Altar schon publicirt war, protestirte der sogleich von Wien abgeschickte Commissar Graf Nostitz dagegen und setzte durch, daß Franz Ludwig von

Pfalz-Neuburg postulirt wurde.

Auch 1732 setzte der kaiserliche Commissar

durch, daß da- Domkapitel von der Wahl veö Bischof- von Leitmeritz

abstand und Sinzendorf wählte.

Abteien verfahren.

In ähnlicher Weise wurde mit den

Al- die Nonnen in Trebnitz 1705 gegen deö Kaiser»

ausdrücklichen Willen eine Polin zur Aebtissin wählten, hoben die kaiser­ lichen Commtssarien die Wahl auf; der Kaiser drohte, alle Temporalien

zu sequestriren und zwei deutschen Jungfern die Administration zu über­ geben.

Die» wurde auch zur Ausführung gebracht, und als die Nonnen

an den Papst appellirten, ließen die Commifsarien durch den Abt von Leubus auf das Stift ein Interdikt legen und die drei Rädelsführerinnen .als Gefangene bet geringer Kost einsperren.

Der Kaiser sandte 30 Mann

mit einem Lieutenant nach Trebnitz und ließ jene drei in. andere Klöster

tranSportiren, das Kloster aber absperren, um die übrigen Nonnen durch Hunger zum Gehorsam zu bringen. Erfolg; sie wählten nun eine Deutsche.

Die- hatte auch den gewünschten

Im Jahr 1719, als der Abt zu

St. Matthias wegen Ehebruchs resigniren mußte, bestimmte der Kaiser, daß bei Lebzeiten desselben kein neuer Abt erwählt werden, sondern daS

Stift bis zu seinem Tode administrirt werden sollte. Gloxin folgert auS allen diesen Thatsachen, daß den Herzogen von

Schlesien dasselbe Recht, wie den Königen von Polen zustehe, die Tempo-

Max Lehmann'» Archivpublicationen.

28

ralien von den Spiritualien zu separiren und admmistrtren zu lassen. Die freie Wahl sei in Schlesien eine Unmöglichkeit, weil die Herzoge

souverän seien und dieselbe Stellung der Kirche gegenüber hätten wie die Könige von Ungarn, Polen und Böhmen.

Dies sei auch daraus zu er­

sehen, daß 1) alle Stifter und Klöster in Schlesien Domänen und Kam­

mergüter seien, 2) daß dieselben keine possessorischen Akte ohne landes­ herrliche Genehmigung vornehmen könnten, 3) daß der Landesherr über

ihre Güter frei disponiren könne, 4) daß er die Stifter visitiren,

ihre

Verwaltung untersuchen, und ihre weltlichen Beamten ein« und absetzen

könne, 5) daß dem Landesherrn alle Verlassenschaften der Bischöfe, Aebte, Aebtissinnen, Prioren und Priorinnen gehören, 6) bet Vakanzen dem

Landesherrn die Einkünfte gebühren, 7) er die Präbenden invaliden

Officieren geben könne.

Die Berufung auf den Status quo bezeichnet

Gloxin als Dummheit und Malice; die Application des im deutschen

Reich gültigen Rechts der Bi-thümer und Stifter fei für Schlesien un­ statthaft.

Diese Deduktionen machten einen nachhaltigen Eindruck König.

auf den

AIS der Cardinal Stnzendorf am 28. September 1747 starb,

befahl er sofort dem Minister Münchow den Coadjutor Schaffgotsch in die Temporalten des BiSthumS einzusetzen, die Verwaltung der Spiri­

tualien aber dem Generalvtcar Grafen AlmeSlos und dem Domherrn

Grafen Frankenberg zu überlassen.

Münchow berief das Domkapitel am

2. Oktober Nachmittag- 4 Uhr in den Capitelsaal und verkündete ihm

den Willen deS-KöntgS.

Er brachte auch die Domherren dazu, Schaff­

gotsch durch Handschlag zu huldigen, und übergab ihm die Schlüssel, die

ihm der Dechant ohne Schwierigkeit ausgeliefert hatte, worauf der neue. Bischof nach einer vorher mit Münchow verabredeten Formel einen Protest gegen die nicht kanonische Jnstallirung verlas.

Münchow öffnete hierauf

die Räume der bischöflichen Residenz, versiegelte aber das vorgefundene

Geld und die Pretiosen in Gewölben.

Darauf knüpfte er Unterhand­

lungen mit dem Domkapitel über die Anerkennung Schaffgotsch'S an, und

dieses zeigte sich derselben nicht abgeneigt, wenn der König 1) in künftigen Fällen dem Domkapitel daS Recht einräumte, drei Candidaten für den

bischöflichen Stuhl zur Auswahl zu präsentiren, 2) wenn dem Domkapitel die Einkünfte deS Sterbejahres gelaffen würden, und 3) wenn Schaffgotsch

bis zur erlangten Anerkennung durch päpstliche Bulle die Spiritualien und

Temporalten auSzuüben gehindert würde.

Der König war geneigt, den

ersten Punkt zu bewilligen, in Betreff deS zweiten sagte er, das sei eine

Privatsache zwischen Schaffgotsch und dem Kapitel, den dritten Punkt ge­ stand er nur in Bezug auf die Spiritualien zu.

Darauf beauftragte er

den kurfürstlich pfälzischen Geschäftsträger am päpstlichen Hofe, Coltrolini,

Schaffgotsch'S Sache beim Papste zu führen; Schaffgotsch selbst sandte den beim König in hoher Gunst stehenden Stift-geistlichen Bastiani, einen ge­ borenen Venetianer und ehemaligen Hau-caplan SinzendorfS, wenngleich

er in ihm einen unangenehmen Rivalen in der königlichen Gunst sah, zu dem gleichen Zwecke nach Rom, und Beide fanden den Papst Benedict XIV.,

der Friedrich- Größe aufrichtig bewunderte und ihm für seine den Katho­ liken bewiesene Gerechtigkeit und Duldsamkeit dankbar war, von Anfang an geneigt, den vereinten Wünschen des Königs und des Bischofs Genüge

zu thun, wenn nur irgendwie die Angelegenheit Schaffgotsch'S mit den kanonischen Satzungen in Einklang gebracht werden könne.

Der Haupt­

anstoß war hierbei weniger der Akt der Nomination, den der König hatte

vollziehen lassen — sagte doch der Papst einmal tat Gespräch mit Bastiani,

die Wahl sei doch immer nur eine Formalität, und der Sou­

verän werde sie stet- auf den, den er wolle, zu lenken wissen —, sondern vielmehr da- leichtfertige Leben, dem Schaffgotsch besonders früher ergeben gewesen war; aber auch diese Schwierigkeiten wußte der Papst zu

ebnen.

Bastiani hatte eine große Anzahl günstiger Zeugnisse, welche von

schlesischen Prälaten ausgestellt waren, schon mit nach Rom genommen;

jetzt erklärte sich der Papst bereit, Schaffgotsch anzuerkennen, wenn sich darthun ließe, daß er in den letzten zwei Jahren sich eines moralischen Lebenswandels befleißigt habe, und ordnete zu diesem Zweck den Nuntiu-

am sächsisch-polnischen $ofe, Archinto, mit geeigneten Instructionen nach

Breölau ab, um dort an Ort und Stelle ein Zeugenverhör vorzunehmen. Diese- fiel denn auch. Dank der diplomatischen Gewandtheit Ärchinto'S,

welcher nicht anstand, den erbittertsten Gegner Schaffgotsch'S, AlmeSloe, für fast unzurechnungsfähig auszugeben, für den Ernannten günstig aus, und der

Papst hätte wohl ohne Weiteres die Ernennung auch seinerseits vollzogen, wenn nicht bald tat Anfänge der Unterhandlungen das Domkapitel als

Bedingung seiner Unterwerfung jene drei, von Münchow großentheilacceptlrten Bedingungen und dazu noch als vierte die Beseitigung der Religionsbeschwerden, worunter hauptsächlich die Instanz deS Oberamts

über dem bischöflichen Consistorium und die Gerichtsbarkeit deffelben in Matrimonialsachen gemeint war, dem Papste insinuirt hätte.

Coltrolini

ging auch auf die Anträge ein, und der König bewilligte die Bedingungen in der früher zugestandenen Form, nur daß er-an Stelle der Präsentation

von drei Candidaten die Wahl durch daS Domkapitel unter Borsitz eine-

königlichen CommiffarS, dem unter österreichischer Herrschaft gehandhabten

ModuS entsprechend setzen ließ.

Da aber Bastiani nach Berlin berichtete,

der Papst würde auch ohnedies zugestimmt haben, und seine Meinung

dahin äußerte, daß der König auf dem Nominationsrechte bestehen solle,

so schöpfte Münchow daraus die Hoffnung, daß vom Papst noch mehr zu erlangen sei, und auf seinen Vorschlag hin beauftragte der König Bastiani, ihm beim Papste das Recht der Nomination zu den Prälaturen und geist­ lichen Stellen, welches er schon 1743 bei der Coadjutorernennung in An­ spruch genommen hatte, mit Ausnahme des bischöflichen Stuhls selbst,,

ferner die Trennung der Grafschaft Glatz von der Präger Diöcese auSzu-

wirken, setzte jedoch hinzu, er besorge, daß so viele Verlangen auf einmal

dem Papste zu viel werden dürften, und gab deshalb Befehl, nicht eher mit diesen Anliegen vorzurücken, als bis die Bestätigung Schaffgotsch'S erlangt sei.

Diese wurde am 5. Mär; 1748 vollzogen; aber von diesem

Momente an zeigte sich der Papst nicht mehr so zugänglich wie bisher. Daran war vorzugsweise die plötzlich veränderte Haltung des neuen Bi­

schofs schuld.

Er scheute sich nicht, die bäuerlichen Gutsunterthanen katho­

lischen Glaubens in Schlesien, welche evangelische Herren hatten, für be­

drückt auszugeben, weil sie genöthigt würden, an den katholischen Festtagen

zu arbeiten.

Das Domkapitel und wohl auch Schaffgotsch selbst hatten

dem Nuntius Archinto, als er in Breslau weilte, ein klägliches Bild des

elenden Zustandes, in dem sich die Katholiken und der CleruS Schlesiens

unter Friedrichs Herrschaft befänden, entworfen; die 50 Procent Contrtbution, die Beschränkung deS Eintritts in den geistlichen Stand und das Verbot der Appellationen nach Rom bildeten bie. Hauptbeschwerdepunkte. Ohne dem Könige etwas davon zu melden, hielt Schaffgotsch, kaum Bi­

schof geworden, beim Papste, und zwar durch Vermittelung Bastiani'S, für seinen jüngsten Bruder Ceslaus um eine Domherrenstelle an, während der König dieselbe Bastiani zugedacht hatte und ihn beauftragte,

seinerseits darum zu bewerben.

sich

Darauf verleumdete Schaffgotsch den ihm

lästig gewordenen Bastiani beim Papst theils wegen seines Lebenswan­

dels, theils dadurch, daß er ihm vorwarf, ohne Auftrag um das NominationSrecht eingekommen zu fein, ja sogar, die Anregung gegeben zu

haben, daß der König ihm die Bewerbung um das Canonicat aufgetragen habe, während in Wahrheit Bastiani in loyalster Weise für CeSlauS das­

selbe erbeten hatte.

Schaffgotsch ließ bei seinem Banquier Belloni in

Rom die Geldzahlungen für Bastiani sistiren, um ihn, dem Willen des

Königs entgegen, zur Rückkehr zu zwingen.

Bastiani ließ es unterdeß an

nichts fehlen, um dem Papste das NominationSrecht annehmbar erscheinen

zu lassen, er verwies zu diesem Zwecke auf das gleiche Recht der Könige

von Frankreich, die eS durch das Concordat von 1515 erhalten hatten; ferner auf das unbestrittene Recht der Fundatoren und ihrer Rechtsnach­

folger, kraft dessen das Ernennungsrecht für alle schlesischen Stifter von

den

Plasten auf

ihren

Descendenten

Friedrich II.

übergegangen sei.

Schaffgotsch intriguirte unterdessen auch in BreSlau, und Bastiant mußte

sich selbst von Münchow eine Correctur gefallen lassen, der ihn belehrte, daß der Papst ein NominationSrecht, auf da- er zu Gunsten des König­

verzichten könne, nur auf die Klöster zu St. Vincenz In BreSlau, zu Czar-

nowanz und auf einen Theil der Domcanonicate zu BreSlau habe,

da

die übrigen Prälaturen der Bestätigung der Ordenögeneräle und de» Bi­ schof- unterlägen.

Dennoch erklärte der Papst in Gegenwart Bastian!'-

ohne Umschweife, daß da- NominationSrecht des Königs zu allen geist­ lichen Stellen nicht

der geringsten Beanstandung unterläge, wenn der

König katholisch wäre; aber einem Protestanten könne eS nicht zngestanden

werden.

Er ließ sich von diesem Standpunkt auch nicht durch den Hin­

weis auf Georg II. von England, der in Minorca mit Zustimmung der Curie da- Ernennung-recht au-übte, abbringen.

Ebensowenig erfüllte er

den Wunsch de- König- in Betreff der Grafschaft Glatz.

Der König rief

daher Bastiani ab und erklärte, al- Souverän und Nachfolger der Piasten

bedürfe er gar nicht der päpstlichen Bestätigung de- Nomination-rechte-, und er sei berechtigt, die Wahl und Jnstallirung eine- ihm nicht ge­

nehmen Prälaten zu hindern.

Jngleichen erhob er seitdem auf da- Recht

de- Exequatur, auf da- ihn Bastiani von Rom au- aufmerksam gemacht

hatte, Anspruch.

An Schaffgotsch sollte aber der König die Erfahrung machen, da- NominationSrecht nicht die Bürgschaft dafür geben könne,

Ernannte ihm auch treu und zuverlässig sei.

daß

daß der

Der König kam, als der

entgegengesetzte Fall bei Schaffgotsch eintraf, in desto größere Verlegen­

heit, als er seine Jnstallirung ja im Widerspruche mit dem ganzen Dom­ kapitel durchgesetzt hatte.

Er mußte daher, so lange eS nur anging, ihn

zu decken und in Schutz zu nehmen suchen sogar in Fällen, wo Schaff-

gotsch'S Lebenswandel aufs Neue öffentliche- Aergerniß zu geben drohte, und Schaffgotsch wußte die Situation, in der sich sein Beschützer befand,

lange Zeit hindurch au-zunutzen, um sich als Bischof größere Machtbefugnisse zu verschaffen und sich seiner Gegner zu entledigen.

Kaum daß er

vom Papste bestätigt war, gab er dem Könige Anlaß zu gerechten Klagen, weil er nicht sofort nach Berlin kam, um die Huldigung zu leisten. dächtig mußte eS auch dem Könige erscheinen,

Ver-

daß er unaufhörlich den

Abbö Bastiani, den er al» redlichen und treuen Anhänger de» König» haßte, verleumdete, ihm seine Unterstützung entzog und ihm seine Beloh­ nungen und Pfründen zu verkümmern suchte.

Dennoch verlangte Schaff­

gotsch, al» Bastiani au» Rom abberufen wurde, die Vollmacht zur Fort­

setzung der Unterhandlung über die Lostrennung der Grafschaft Glatz von

der Prager Diöcese.

Auch führte er später die Verhandlungen über die

Trennung der schlesischen Klöster von den fremden Ordensprovinzen mit dem Papste.

Als das Reglement über den Eintritt in den geistlichen

Stand erlassen war, wußte er sich vom Könige das Recht auszuwirken, daß er die Licenzzettel dazu, wenn vorher Anmeldung beim Oberamt er­ gangen war, zu ertheilen habe.

In ähnlicher Weise verschaffte er sich

vom Papste das Recht der Aufsicht über die schlesischen Klöster und der Confirmation der vom Könige ernannten Siebte und Aebtissinnen.

Von

letzterem wiederum erhielt er die Aufsicht der von Jesuiten geleiteten Uni­

versität Breslau.

Allmählich aber wurde dem Könige klar, daß er sich in

Schaffgotsch getäuscht habe. Schon 1750 übertrat dieser die Verordnung, daß die Appellation von Sprüchen des bischöflichen Gerichts in Temporaliensachen

vor die weltlichen Gerichte gehöre, indem er in einem Proceß des Domherrn Freiherrn von SierStorpff gegen seinen Bruder CeslauS Jenen mit seiner

Appellation an den Papst verwies, was freilich die sofortige Jntercession deS OberamtS zur Folge hatte. In den Verhandlungen mit dem Minister Massow

über die Vermächtnisse an Geistliche bestritt Schaffgotsch geradezu die Com-

petenz des Königs in den Temporalien. Massow sprach seine Verwunderung über die hardiesse des Bischofs aUS und klagte, er nehme sich mehr und mehr heraus. Friedrich der Große war schon 1753 auf die Ansicht gekommen,

daß Schaffgotsch „double et traltre“ sei, und hatte Massow bei seinem

Amtsantritt vor ihm gewarnt, auch ihm aufgetragen, ihn scharf zu über­ wachen.

Dennoch brachte eS der Bischof dahin, daß Massow ihm den

Platz räumen mußte.

Schon früher hatte er versucht, den Großkanzler

v. Cocceji, der an der Spitze der geistlichen Angelegenheiten Schlesiens stand, zu verdrängeg.

Er hatte ihm fälschlich mißfällige Aeußerungen

über die Geistlichkeit in den Mund gelegt und war in den König ge­

drungen ihn durch Massow in der Verwaltung der Kirchensachen ersetzen

zu lassen; Cocceji hatte aber den Ungrund jener Verleumdungen nachge­ wiesen und ihn noch dazu beschämt, indem er ihm die Beweise dafür in die Hände spielte, daß gerade er, Cocceji, beantragt hatte, das Maximum

der Vermächtnisse für Seelenmessen von 500 auf 1500 Thaler zu erhöhen.

Besser gelang es ihm mit Massow, und dieser konnte um so bedauernSwerther erscheinen, als Friedrich selbst ihn vor Schaffgotsch gewarnt hatte.

Massow beantragte, wie oben schon erwähnt, die Niedersetzung einer Com­

mission behufS Untersuchung der fundationSmäßigen StiftSrevenüen und der eingeschlichenen Mißbräuche.

Dies gab,

wie oben schon

erwähnt

wurde, Anlaß zu weiteren Erhebungen über die königlichen Gerechtsame. DaS Oberamt reichte am- 29. April 1754 eine Denkschrift ein, in welcher

auS zahlreichen Vorfällen der österreichischen Zeit daS Recht der Regierung,

vom CleruS die Rechnungsablage zu fordern, das Recht der Sperre und

Nachlaßinventur, ja der Heranziehung geistlicher Unterthanen zu StaatSfrohnden.

Als

nun

die Augustinerchorherren auf dem

Sande 1755

bittere Klage über die Wirthschaft ihres Abtes, eben des Bischofs Schaff-

gotfch, führten, setzte der König auf Massow'S Vorschlag eine Commission zur Untersuchung der Stiftsverwaltung ein und ließ die Forstbedtenten des Stifts in Eid nehmen, daß sie nichts ohne Genehmigung der Kammer

vornehmen wollten; der Forstrath Rehdantz wurde zum Commissar für

die Verwaltung der Stiftsforsten ernannt.

Schaffgotsch wußte es aber

beim Könige durchzusetzen, daß er einen Delegirten zu der Commission

ernennen durfte, auch wohnte er selbst den Sitzungen bei und schüchterte

dadurch die Zeugen ein.

Als nun die Commission durch den Gang der

Enqußte von selbst darauf geführt wurde, Thatsachen, die den Lebens­

wandel des Bischofs betrafen, festzustellen, beklagte sich Schaffgotsch aufs Bitterste beim Könige, und da eS diesem darum zu thun war, daß sein

Schützling, so wenig derselbe auch Dankbarkeit bewies, beim Publicum nicht blosgestellt würde, ertheilte er Massow einen Verweis und ließ den besonders

eifrigen

KriegSrath

v. Platen

Königsberg

nach

versetzen.

Massow, der sich nicht bewußt war, die Geschäfte anders als fach- und

pflichtgemäß geführt zu haben, nahm sich dies zu Herzen und kam um seinen Abschied ein, den er auch in schlichter, wenig gnädiger Weise er­ hielt.

Die Untersuchung wurde eingestellt.

DieS war für Schaffgotsch

ein um so größerer Triumph, als er seit dem Frühjahr 1754 dreimal dem

König Anlaß zu gerechtem Unwillen gegeben hatte. Massow nach dem

Ableben der Oberin

des

Im April 1754 hatte

AugustinerinnenstiftS zu

St. Anna in Breslau den Nachlaß derselben im Sprechzimmer versiegeln

lassen wollen, Schaffgotsch hatte sich aber erst schriftlich, dann selbst per­ sönlich dem widersetzt, bis Massow endlich den Bischof, der sich an die

Thür des Klosters posürt hatte, durch Gerichtsdiener bei Seite schieben ließ.

Ungefähr um dieselbe Zeit publicirte Schaffgotsch ein päpstliches

Breve, durch welches eine größere Anzahl Feiertage cassirt wurden; in demselben war die Abschaffung der Feiertage durch die „Calamitäten und

Drangsale der armseligen Inwohner der Stadt und des BiSthumS Bres­ lau und die gegenwärtigen unglückseligen Zeiten" motivirt, auch dazu be­ merkt, daß dem Papst über diesen Zustand Meldung gemacht worden sei. Der König war höchlich aufgebracht über diesen PassuS und ertheilte dem

Bischof einen scharfen Verweis sowohl über sein Verhalten im Annen­ kloster, wie über das Breve; er warf ihm Undankbarkeit vor und be­

schuldigte ihn, daß er gegen seine Souveränitätsrechte „sapire und minire",

Schaffgotsch producirte ein Concept zu seinem Briese an den Papst, in Preußische Jahrbücher. Bd. LIL Heft 1. Z

Max Lehmann'S Archivpublicationen.

34

welchem er um Ausdehnung des Breves, das ursprünglich für Oesterreich

bestimmt war, bat, und wieS nach, daß in jenem der incriminirte Passus nicht vörkam; auch nahm der König die Entschuldigung an, besonders da auch der Papst intervenirte und jenen Passus mit dem Curialstyl ent­

schuldigte; die Wahrheit aber war, daß Schaffgotsch in früheren Briefen

allerdings sich jener Ausdrücke bedient hatte, um den Papst glauben zu machen, daß sich die Katholiken Schlesiens in jämmerlicher Lage befändm.

Endlich hatte Schaffgotsch in einem Processe, den Bastiani mit dem Dom­

kapitel wegen widerrechtlicher Vorenthaltung seiner CanonicatSeinkünfte führte, jenen mit der Appellation an den Papst verwiesen.

zog ihm einen Verweis vom Könige zu.

Auch dies

Bastiani wandte sich ganz correct

an'S Oberamt, und dieses ließ im April 1755 daS Domarchiv mit Ge­

walt amtlich öffnen, um die Capitelprotokolle zu extrahiren, da Bischof und Capitel sich standhaft weigerten,

sie herauszugeben.

Der Bischof

suchte darauf Bastiani seine Temporalien zu sperren, der König aber,

dem jedes den Bischof betreffende Aergerniß widerwärtig war, nöthigte

Beide (Januar 1756), sich zu vertragen; Bastiani leistete formelle Abbitte, erhielt aber materiell Recht.

Infolge deS Verdrusses, den ihm der verfängliche PaffuS in dem päpstlichen Breve bereitet hatte, befahl der König (26. April 1754), daß

alle Bullen zuerst der Regierung eingereicht werden müßten, ehe sie ver­ öffentlicht werden dürften.

Er machte damit von einem Rechte Gebrauch,

dessen sich Venedig, Neapel und Spanien unbestritten bedienten.

Proceß Bastiani's

gegen den Bischof entschied

In dem

er, dergleichen Sachen

sollten an's Oberamt kommen, die Direction des Processes sollte aber stets der schlesische Minister in der Hand behalten.

In die Stelle eines

solchen kam im November 1755 Schlabrendorf; aber auch dieser brauchte nicht lange seines Amtes zu walten, um zu der Ueberzeugung zu kommen, daß Schaffgotsch höchst unzuverlässig nnd intrigant sei. Der siebenjährige Krieg verschärfte den Gegensatz zwischen dem preu­

ßischen Staate und der katholischen Kirche um so mehr, als auf den weisen Benedict XIV. der streitbare Clemens XIII. gefolgt war.

Es kam vor,

daß katholische Geistliche die Desertion katholischer Soldaten begünstigten. Einen Dominicaner Jordan in Neiße, dem dies Schuld gegeben wurde,

begnadigte Friedrich.

Schaffgotsch mußte darauf einen Hirtenbrief erlassen,

in welchem vor Desertion gewarnt wurde.

Als aber ein neuer Fall dieser

Art vorkam, hatte der König keine Nachsicht; den Caplan Faulhaber in

Glatz, der einem Soldaten auf Befragen gesagt hatte, die Sünde der Desertion könne vergeben werden, ließ Fouqus unter ausdrücklicher Zu­

stimmung Friedrichs henken.

Vorsichtshalber versetzte Friedrich die katho-

lischen Zoll- und Accisebeamten von der Grenze nach dem Innern und befahl, daß in den Grenzstädten keine katholischen Magistratsmitglieder sein durften; später hob er die Stolgebühr- und Zinspflicht der Evangeli­

schen an die katholischen Pfarrer und ebenso die katholischen Pfarrer- und Lehrerstellen in ganz evangelischen Dörfern auf. Anfang des Krieges eine loyale Haltung.

Schaffgotsch bewahrte im

Als der Kaiser beim Reichstage

eine Klageschrift einreichte, in welcher Friedrich dem Großen die Verletzung

des status quo der katholischen Religion schuld gegeben wurde, arbeitete

Schaffgotsch selbst eine Denkschrift aus (d. d. 23. November 1756), welche die Grundlosigkeit der österreichischen Klagepunkte aufs Klarste nachwieS.

Als aber am Tage vor der Schlacht bei Leuthen der österreichische Feld-

kriegscommissar Graf Kolowrat ihm befahl, sich auf den österreichischen Antheil seines Biöthumö zu begeben,

folgte er diesem Befehl, der in

Widerspruch mit seinen Pflichten als preußischer Landesbischof und Unter­ than stand, und ging nach Johannisberg.

in Preußen unhaltbar gemacht.

Damit hatte er seine Position

Bis zu diesem Moment führen uns die

bisher erschienenen drei Bände der Lehmann'schen Publicationen.

Der

nächste Band muß die Zeit des bischöflichen Interregnums bringen, die für

die Temporalien-Admintstration des Stifts und die Frage von der Ab­ setzung

oder Stellvertretung

eines Bischofs

von hoher Wichtigkeit ist.

Man hat ein Recht, dieser neuen Publication mit Spannung entgegen­

zusehen.

H. Fechner.

Der Abfall der Niederlande und die ultramontane Geschichtschreibung. (Mathias Koch, Untersuchungen Uber die Empörung und den Abfall der Niederlande; Leipzig 1860; F. I. Holzwarth, der Abfall der Niederlande, Schaffhausen 1872; W. J. F. Nuyens, geschiedenis der nederlandsche beroerten in de XVIe eeuw Amsterdam 1870.)

Im letzten Decennium haben die Niederlande verschiedene Male Ge­ legenheit gehabt, den dreihundertjährigen Gedenktag einiger wichtigen und

entscheidenden Ereignisse aus dem Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien zu feiern.

Kein einziger dieser Tage jedoch

hat sich zu einer allgemeinen

Volksfeier erhoben; im Gegentheil, gerade bei dieser Gelegenheit gähnte

die Kluft, die zwischen den Staatsbürgern eines und desselben Landes besteht, weiter als je.

Denn der katholische, oder was hier ziemlich dasselbe

ist, der ultramontane Theil deS Volkes, betrachtet den Unabhängigkeits­ kampf gegen Spanien mit ganz andern Augen als wir eS gewöhnt sind.

AIS am 1. April 1872 .der dreihundertjährige Gedenktag der Einnahme

Brielles durch die Wassergeusen im größten Theile deS Landes festlich begangen wurde, beging der katholische Pöbel in Nord-Brabant und Lim­

burg. scheußliche Excesse, bewarf die in den Schaufenstern ausgestellten Büsten des Schweigers mit Koth, ein katholischer Geistlicher drohte seinem

protestantischen Collegen in einem anonymen Briefe, für den Fall, daß seine Gemeinde eS sich einfallen ließe, eine Feier zu veranstalten, mit einer

Tracht Prügel, und ein Officier, der in einem Limburgischen Garnisons­

platze die militärische Feier commandirte, wagte es, der drohenden Hal­ tung der Bevölkerung wegen nicht, ohne eine ihm zur Bedeckung gegebene Compagnie Infanterie die üblichen Ehrensalven abfeuern zu lassen, und

Frau und Kinder hatte er, ihrer persönlichen Sicherheit wegen, auf die Hauptwache bringen müssen.

Einige Jahre vorher, im Jahre 1868, als

in Heiligerlee der Grundstein zu einem den ersten Sieg über die Spanier

verherrlichenden Monument gelegt wurde, waren aus der Mitte des ultra-

montanen Lager- sehr energische Proteste gegen die .Anmaßung" ergangen, geschichtliche Thatsachen, welche bei dem katholischen Theil der Bevöl­ kerung nur schmerzliche Erinnerungen Hervorrufen müssen, durch eine nationale Feier verherrlichen zu wollen, und an demselben Tage, an welchem man in Heiligerlee dankbar Ludwig'- von Nasiau und seine- den Heldentod gestorbenen Bruder- gedachte, tagte in Amsterdam eine Katholikenversammlung, in welcher der Geistliche Brouwer- den Ausstand gegen Spanien eine fluchwürdige, verabscheung-werthe That nannte, Wilhelm von Oranien al- Pflicht- und ehrvergessenen Hochverräther darstellte und schließlich die Hoffnung aussprach, die Freude noch zu erleben, daß auch das Haus Oranien wieder in den Schooß der alleinseligmachenden Kirche zurück­ kehren würde. Man glaube ja nicht, daß solche Borfälle nur die Symptome eine- in acuter Weise auftretenden religiösen Fanatismus feien, sie sind nur die konsequente Folge und das dankbare Resultat einer rastlosen Jahrzehnte langen Bearbeitung der katholischen Massen. Die oft vorgebrachte Be­ hauptung, daß daS Geheimniß des die Massen zum Cadavergehorfam zwingenden Einflusses der Geistlichkeit, lediglich in der thierischen Unwissen­ heit der ersteren liege, hält bei genauerem Zusehen nur da Stich, wo neben dem katholischen Cultus ein anderer nicht erlaubt oder dessen Aus­ übung ' wenigstens erschwert ist; hat aber die katholische Kirche mit dem Protestantismus als einem ihr mit staatlicher Gleichberechtigung gegen­ überstehenden Factor zu rechnen, hat vollends der letztere daS intellektuelle und materielle Uebergewicht erlangt, dann verlangt daS Lebensinteresse und der Selbsterhaltungstrieb der ersteren die Taktik zu verändern: die Wissenschaft wird nicht mehr ignorirt, sondern im eigenen Interesse zu verwerthen versucht. Mit Ausnahme der ihrer unanfechtbaren Resultate wegen-nicht wohl zu verwendenden Naturwissenschaften sieht man deshalb die „katholische" Wissenschaft mit der freien in unermüdlichem Wettstreite ringen, die Resultate der letzteren bald annehmend, bald bestätigend, noch häufiger aber sie bestreitend und verwerfend. In Belgien hat Perln den Versuch gemacht, die Nationalökonomie zu katholisiren und eS wird wohl seit der Reformation kaum eine geschichtliche Periode namhaft gemacht werden können, welche sich ReconstructtonSversuchen 'von katholischer Seite entzogen hätte. Und hier steht man ja auf dem ergiebigsten und ge­ wissermaßen auch unanfechtbarsten Boden: ist schon der beiderseitige Stand­ punkt ein prinzipiell verschiedener, so steht ja auf dem Gebiete der geschicht­ lichen Forschung oft eine subjektive Ansicht einer anderen nicht mit mathe­ matischer Sicherheit zu beweisenden Schlußfolgerung mit verhältnißmäßig gleichem Werthe gegenüber.

38

Der Abfall der Niederlande und die ultramontane Geschichtschreibung.

Nirgend- hat man in dieser Beziehung mit solchem Erfolg operirt, al- in der Behandlung des Unabhängigkeitskampfes gegen Spanien, und

während in Deutschland die Bekanntschaft mit Leo, Gfrörer, Onno Klopp

und Holzwarth sich wesentlich auf gelehrte Kreise beschränkt, hat man in

Holland in neuerer Zeit dafür gesorgt, daß der katholische Theil deS Volkes die Geschichte seiner Vergangenheit auch vom katholischen Stand­ punkt auffaßt, der konsequent zu den oben namhaft gemachten Aeußerungen

ultramontanen Kraftbewußtseins führt.

Jeder Bauer in Nord-Brabant

oder Limburg ist heutzutage auf Befragen sofort bereit, zu erklären, daß Oranien den Aufstand gegen Spanien nur unternommen habe, um die katholische Religion aüSzurotten und seine ehrgeizigen Pläne zu realisiren.

Leicht war die Arbeit allerdings nicht; ein von einem katholischen holländischen Geistlichen van der Horst im Jahre 1850 in diesem Sinne gemachter Versuch nahm ein klägliches Ende.

Derselbe hatte nämlich die

Heirath Wilhelms von Oranien mit Anna von Sachsen zum Vorwurf

einer für ersteren nichts weniger als schmeichelhaften Untersuchung ge­

nommen.

Da ihm

selber so ziemlich alle Eigenschaften und Voraus­

setzungen abgingen, ohne welche man sich, auch bei den bescheidensten An­

sprüchen, einen Historiker gar nicht denken kann, so war eS für einen Ge­ schichtsforscher, wie Bakhuizen van den Brink, eine verhältnißmäßig leichte Mühe, den.unberufenen Gegner In die Schranken des Stillschweigens

zurückzuweisen.

„Nachdem ich meinen Gegner geschlagen zu haben glaube",

sagt derselbe am Schlusie der Vorrede zu seiner Gegenschrift, „habe ich

ihn noch einmal auftecht hingestellt, umgekehrt und an den Haare« ge­ zogen, um zu sehen, ob er recht todt sei.

Ich glaube dies bejahen zu

dürfen und darum schreibe ich ohne alle Bitterkeit auf seinen Grabstein:

Lector sincere, Deus die isti miserere*)!“ Der Wunsch nach dem Auftreten einer solchen historischen Richtung wurde in Holland von keinem Geringeren ausgesprochen als von dem

Historiker Fruin in Leiden.

„Verhältnißmäßig nur wenige unserer Land-

genossen", sagt derselbe, „wußten von anderen Märtyrern als von den

zahllosen Schlachtopfern -der Inquisition, sie wußten nicht, daß in unserem

Lande auch Katholiken ihres Glaubens wegen hingerichtet wurden ....

Unsere protestantischen Geschichtschreiber

fühlen sich nicht dazu berufen,

die von den Aufrührern begangenen Gräuel gegen die Katholiken weit­

läufig zu erzählen, sie deuten sie nur an, um sie zu verurtheilen ....

Wir weisen absichtlich auf diese Lücke in unserer historischen Literatur, und wir hoffen, daß bald ein Katholik sich der Aufgabe unterziehen wird,

*) B. 0. Bakhuizen van den Brink, het huwelyk van Willem van Oranje met Anna van Laxen, historisch-kritisch onderzocht, Amsterdam, 1853.

vom Standpunkte seiner Kirche aus, aber ohne blindes Borurtheil,

die Geschichte unseres Volkes zu beschreiben."

Schneller als Fruin sich

wohl selbst gedacht haben mag, sollte dieser Wunsch in Erfüllung gehen; schon

im Jahre 1865 erschien der erste Band des Werkes von NuhenS und in demselben Jahre auch Holzwarth'S erster Band „Abfall der Niederlande".

Inwiefern aber Beide der Forderung der Unparteilichkeit gerecht geworden sind, sollen die folgenden Zeilen zeigen.

ES versteht sich von selbst, daß

der Charakter eines solchen GeschichtSwerkeS

ein vorherrschend kritisch­

polemischer sein muß, wie denn auch nicht nur NuhenS, sondern auch Holzwarth und Koch den Hauptvertreter der entgegengesetzten Richtung,

Motley, zum Zielpunkt ihrer Angriffe und Widerlegungsversuche machen.

Ueber die trefflichen Eigenschaften des Werkes dieses letzter«, das im

eigentlichen Sinne des Wortes ein Kunstwerk genannt zu werden verdient, viele Worte zu machen, hieße Eulen nach Athen tragen und die Gegner

erkennen auch die Ueberlegenheit Motley'S in der Bewältigung des Stoffes,

der trefflichen Anordnung und der glanzvollen Darstellung vollkommen an.

Don einzelnen Ungenauigkeiten abgesehen, die übrigens dem Werth des Ganzen nicht den mindesten Abbruch thun, ist die Anschauung Motley'S

im großen Ganzen von den competentesten Fachmännern Hollands als die ihrige acceptirt und die manchmal kleinliche Polemik von NuhenS kann nur

dazu beitragen, diese Ansicht noch mehr zu befestigen.

Fruin charakterisirt

daS Gebühren und den Werth dieser ultramontanen Kritik sehr trefflich durch das Beispiel deS Bildhauers Falcourt, des Schöpfers des Reiter­

standbildes PeterS deö Großen, der in einem Bortrage in Rom seinen

Zuhörern überzeugend bewies, daß sein Pferd von einer Menge häßlicher

Fehler frei sei, welche z. B. daS Pferd des antiken Marcuö Aurelius ent­

stellten, aber schließlich doch daS Bekenntniß ablegen mußte: „Apr6s tont, messieurs, il saut avouer, que cette vilaine t6te lä est vivante et

que la mienne est morte.“ Ein Beispiel mag. die Art und illustriren.

Weise dieser

katholischen Kritik

AIS Gouda im Jahre 1572 zu den Oranischen übergegangen

war, mußte einer der Bürgermeister fliehen.

Die einzige Quelle, welche

diesen Vorfall berichtet, sagt: Einer, der Bürgermeister kam in daS HauS einer Wittwe und bat sie, ihn zu verbergen; sie zeigte ihm ein Spinde und als

er fragte, ob er da sicher fei, antwortete sie: „O ja, Herr

Bürgermeister, mein Mann hat so manchmal darin gesessen, als ihr und andere ihn gesucht habt und der Gerichtsdiener davorstand."

Motley

läßt die Wittwe am Schluffe sagen: „Hier lag mein Mann verborgen, alS ihr mit den Gerichtsdienern Haussuchung gehalten habt, um ihn wegen

der Religion auf das Blutgerüst zu bringen, tretet nur ruhig ein, ich will

Der Abfall der Niederlande und die ultramontane Geschichtschreibung.

40

für eure Sicherheit Bürge sein."

Nutzens und Holzwarth erheben über

diese Ausschmückung ein Zetergeschrei, obwohl Niemand im Ernste wird behaupten wollen, daß Motley dadurch der Geschichte Gewalt angethan

oder eine positive Unwahrheit gesagt hat.

Jedenfalls hat man sich auf

katholischer Seite noch viel größerer und den thatsächlichen Charakter ge­

radezu entstellender Willkürlichkeiten schuldig gemacht.

Der schon

ge­

nannte BrouwerS, dem unbegreiflicherweise selbst Groen van Prinsterer

die Ehre einer Widerlegung hat angedeihen lassen, citirt aus den Archives

de la maison d’Orange-Nassau einen Brief Ludwigs von Nassau an seinen

Bruder Johann und zwar folgende Stelle: „Da uns auch die Bilderstürmerei bei vielen ein großes Geschrei und bösen Namen macht, so bitte ich E. L.

wollen unsere anderen Bundesgenossen bei Jedermann entschuldigen helfen, da dies in Wahrheit durch ein gemeines, nichtswürdiges, ge­

ringes und armes Volk ohne unser und der anderen Borwissen

und Einwilligung geschehen ist."

Brouwers läßt die gesperrt ge­

druckten Worte einfach weg, um mit einem halben Citate die Theilnahme

Ludwig's am Bildersturm, die gar nicht nachweisbar ist und niemals

stattgefunden hat, zu beweisen!

Aehnlich Holzwarth, der mit sichtlicher

Genugthuung erzählt, wie in Cambrai ein Sectirer um die

Erlaubniß

gebeten habe, predigen zu dürfen, daß aber schon nach drei Stunden auf

Befehl des Bischofs sein Haupt auf dem Marktplatze gefallen sei, dabei aber unterlassen hat zu berichten, daß dieser Sectirer im Falle eines ab­

schlägigen Bescheides um die Befugniß gebeten habe, auswandern zu dürfen.

Die Hauptaufgabe einer solchen Geschichtschreibung mußte aber nicht nur darin bestehen, der bisherigen fest eingewurzelten Anschauungsweise

entgegenzutreten, sondern es mußten für eine der wichtigsten Epochen der neueren Geschichte geradezu neue Fundamente gelegt und neue Ursachen

aufgefunden werden, ganz abgesehen davon, daß ihr noch die Pflicht oblag,

Personen und Dinge zu rechtfertigen, oder wenigstens zu entschuldigen, bei

deren Nennung auch dem fanatischsten Katholiken die Schamröthe ins Ge­ sicht steigen muß. Andererseits mußten mit dem reichsten Apparat histori­

scher Kritik viele bis dahin als unumstößlich angenommene Thatsachen

bestritten, oder wo dies schlechterdings unmöglich war, unter einem ganz anderen, manchmal dem entgegengesetzten Sehwinkel gezeigt werden, so daß allein schon der enorme Aufwand von Dialectik, die oft mehr als will­

kürliche Gruppirung der Thatsachen, die in fortwährender Wiederholung präsumirten Motive der handelnden Personen und die danach geschaffenen Charakterbilder derselben auch eine des kritischen Scharfblickes durchaus

nicht baare Natur leicht überraschen und bestechen konnte. Willen,

Am

guten

in dieser Hinsicht das Aeußerste zu leisten, hat eS bei keinem

hiesset Geschichtschreiber gefehlt, und wenn auch das Können hinter dem

Woollen weit zurückgeblieben ist, so haben diese Bemühungen doch da-

bleiibende Resultat aufzuweisen, daß sie daö heilsame Correctiv gegen eine einseitige Geschichtsbetrachtung liefern.

Die Verdienste von Nutzens und

Hollzwarth sind deshalb • von der Kritik gebührend anerkannt worden, naimentlich zeichnet sich das Werk des letzteren nicht nur durch Eleganz der.- Darstellung, sondern auch durch eine in der That sehr maßvolle Hal-

tunig auS, Vorzüge, welche man dem Werke von Nutzens, dessen Lapidarstill die Lectüre gerade nicht besonders genußreich und einladend macht,

nichht in dieser unbedingten Weise nachrühmen kann.

Wenn diese Geschichtschreibung den specifisch katholischen Standpunkt,

auff dem sie faktisch steht, treu und konsequent durchführen würde, mit andreren Worten, .wenn ihre geschichtliche Darstellung weiter nichts als die

strilkte Widerlegung der von PiuS IX. in seiner Enctzclica verdammten

motdernen Zeitforderung der religiösen Toleranz wäre, dann bliebe dem

Gexgner, eingedenk deS: contra principia negantem non est disputandum niHtS übrig, als die Feder niederzulegen. Aber statt zu sagen: der Auf-

stamd gegen Spanien war eine Empörung gegen die alleinseligmachende Kircche, die Mittel, die Philipp II. und Alba zur Unterdrückung der Re-

forMation anwendeten, waren hart, selbst grausam, aber nothwendig, denn

daSl Uebel, daS sie auSrotten mußten, die Häresie, war das entsetzlichste vom allen, der Aufstand ist überdies eine Auflehnung gegen den legitimen

Fürrsten — statt dieser von dem einmal eingenommenen Standpunkt auS une:rbittlich geforderten Consequenz subsistuirt sich doch unter der Hand und

mit: innerer Nothwendigkeit daS modern-liberale Prinzip der GewiffenS-

freilheit.

Denn wenn nach dem siegreichen Durchdringen der Reformation

die Sache so dargestellt wird, als ob eS den Reformirten nur

um die

Derrtilgung der katholischen Kirche, durchaus nicht um Religionsfreiheit zu thum gewesen wäre, so daß also Philipp und Alba hinterher nicht alS die glülhendsten Feinde der Gewissensfreiheit, sondern, nur alö die Vertheidiger

der katholischen Kirche und deren bedrohten Existenz auftreten, so hat man sich damit, wenn auch unbewußt, auf den Boden der modernen GewiffenSfreilheit gestellt.

Noch viel deutlicher wird dies, wenn man sich den spä­

terem Zustand der katholischen Kirche in den Niederlanden vergegenwärtigt, bereen strenge Behandlung seitens der protestantischen Regierung lediglich dem

Trieb der Selbsterhaltung und der

Nothwehr zuzuschreiben ist;

denmqch wurden die Katholiken als solche, sofern sie sich den Gesetzen gemäß betrugen, nicht belästigt, wiewohl keine Religionsfreiheit, hatten sie doch Gewissensfreiheit.

Wer aber, wie hier wieder geschieht, sich letztere ohne

die erstere nicht denken kann, und dieses den Katholiken gelassene Recht

42

Der Abfall der Niederlande und di« nltramontane Geschichtschreibung.

einfach Heuchelet zu nennen beliebt, der operirt wieder mit modernen Be­ griffen, da man nur an die Inquisition zu denken braucht, um zu be­

greifen, daß Gewissensfreiheit allein ohne Religionsfreiheit, damals einen sehr hohen Werth hatte, wie ja denn auch von den Sectirern an die Re­

gierung im" Anfänge gar keine weitergehendere Forderungen gestellt wurden. Freilich ein Mann vorn Schlage Louis VeuillotS wüßte sich aus diesen Widersprüchen mit Leichtigkeit zu ziehen, denn er argumentirte einfach so: die Protestanten bekennen selbst, nicht im ausschließlichen Besitze der Wahr­

heit zu sein, folglich sind sie verpflichtet unS zu dulden, wenn sie im Be­

sitze der Gewalt sind; sind wir dies aber, dann müssen wir intolerant

sein, denn wir sind

im Besitze der

Wahrheit.

Auf diesem chnischen

Standpunkte steht allerdings das im Jahre 1852 erschienene Werk Champagnac'S über Wilhelm den Schweiger, das schon seiner groben histori­ schen Irrthümer wegen nicht weiter in Betracht kommen kann.

Sowohl Holzwarth als Ruhens finden die letzte Ursache des Auf­ standes in der Unzufriedenheit des Adels, der nach dem Regierungsantritt

Philipps II. sich der bevorzugten Stellung, deren er sich unter Karl V. erfreut hatte, beraubt sah und mit Begierde sich der religiösen Frage be­

mächtigte, um die Verlegenheit der Regierung noch zu vermehren.

Zwar

wird mit anerkennungSwerther Offenheit das sich gegenseitig abstoßende

Wesen deS niederländischen und spanischen DolkScharakterS dargelegt, auch wird dem Systemwechsel, der die Regierung Philipp'« kennzeichnete, und der den Adel erbittern mußte, gebührend Rechnung getragen, allein schon

bei der Darstellung deS Kampfes gegen Granvella wird Licht und Schatten in sehr willkürlicher Weise vertheilt.

Unzählige Male wird der unersätt­

liche Ehrgeiz der Seigneurs hervorgehoben, die nicht dulden konnten, daß

der ihnen allen geistig weit überlegene Cardinal durch die Statthalterin als sein fügsames

regierte.

Werkzeug mit unumschränkter

Machtvollkommenheit

ES ist sicher eine höchst einseitige und mechanische Auffaffung

der Sachlage, wenn man den Grund des Zerwürfniffes nur in der Rang­ erhöhung deS Cardinals suchts, während namentlich Oranien früher mit

demselben in bestem, man kann beinahe sagen in herzlichstem Einvernehmen lebte.

Der Grund der Erbitterung war vielmehr bei den Seigneurs der­

selbe, wie später bei der Statthalterin selbst: der Cardinal hatte vergeffen,

daß aus den früheren Fähndrichen, denen er seine Protectton geschenkt hatte, mit der Zeit Feldherrn und Staatsmänner geworden waren, und daß

immer eine Zeit kommen muß, in der die Protection als eine demüthigende Last empfunden wird; nicht allein die Intriguen OranienS, EgmontS und

Horne'S haben Granvella bei der Statthalterin in Mißcredit gebracht, sondern diese wurde der fortwährenden Bevormundung, welche sie der Cardinal in

unvorsichtiger Weise im Bewußtsein seiner Unentbehrlichkeit fühlen ließ,

endlich müde, und sie setzte deshalb auch seine Entfernung aus den Nieder­ landen bei dem Könige durch.

Ueberhaupt ist es merkwürdig, wie man

sich auf katholischer Seite in der Würdigung des Cardinals als Staats­

mannes förmlich zu überbieten sucht, eine Neigung, der sich selbst Groen

van Prinsterer nicht hat entziehen können, wiewohl man doch berechtigt ist,

gerade bei einem Staatsmanne in erster Linie nach dem zu fragen, was

er geleistet und bleibend zu Stande gebracht hat. Und wenn nun, wie hier, die Thatsachen so laut und vernehmlich sprechen, wenn auch der ein­ seitigste Bewunderer zugeben muß, daß alles, was seine Hand berührte,

in Verwirrung kam, dann wird man sich wohl das richtige Urtheil über den Werth derartiger Taxationen leicht bilden können. „Es ist unzweifelhaft, daß der hohe Adel nicht mit der klargedachten

Absicht, die Niederlande der spanischen Herrschaft zu entreißen oder sie dem

katholischen Glauben abtrünnig zu machen, in die Opposition eingetreten

ist.

Aber nachdem diese den beabsichtigten Erfolg nicht hatte und die un­

fähige Königsgewalt ihr doch das Haupt nicht abschlug im ersten Augen­ blicke, da sie es erhob, wurde zu Angriffsmitteln der bedenklichsten Art

und

geschritten,

das

um

so verwegener

und

nachdrucksvoller,

als die

Majestät immer nur als ein Popanz und nirgends als reale Wirklichkeit sich zeigte, immer nur versprach oder drohte, jede entscheidende That ins

Endlose verzögerte und keine mit dem erforderlichen Nachdrucke begleitete. Es wurde das Volk zur Unzufriedenheit um jeden Preis aufgeregt, und

da die religiöse Frage am mächtigsten sich erwies, die Geister

zu verwirren Brandfackel

worfen.

und die Gemüther

aufzuregen,

so wurde die

der religiösen Zwietracht unter die Nation ge­

Jetzt aber war an einen Stillstand nicht mehr zu denken, weder

von Seiten

deö Königs,

noch von

Seiten der Niederlande.

In den

Niederlanden mußte man entweder zur Vasallentreue zurückkehren oder mit

den Waffen in der Hand der Königsgewalt gegenübertreten." Dies ist im Allgemeinen der Standpunkt, von welchem Holzwarth und seine Richtung den Aufstand betrachten.

Der Schwerpunkt der Be­

weisführung liegt in der Rolle, welche er dem religiösen Factor zutheilt. Bei ihm wird der letztere zur Nebensache und durch die unzählige Male

wiederholte Versicherung,

daß die Reformation von außen dem Volke

förmlich aufgedrungen, die religiöse Frage an den Haaren herbeigezogen

worden sei, ist der Weg, den die weitere Argumentation einzuschlagen hat, ein für allemal gegeben.

Mit großer Breite werden die Zustände unter

Karl V., das sporadische Auftreten der Reformation und die Glaubenstreue

des Volkes, sowie dessen Anhänglichkeit an die Kirche geschildert.

Da

44

Der Abfall der Niederlande und die ultramontane Geschichlschreibnug.

Philipp in der Regierungsweise und den staatsrechtlichen Grundlagen der

Provinzen nicht daS Geringste veränderte, sondern die Placate, welche der Kaiser gegen das Eindringen der Reformation von Zeit zu Zeit publiciren

ließ, einfach ausführte, so kann auch dem religiösen Moment nur eine, untergeordnete Bedeutung gegeben werden.

Holzwarth weist darauf hin, daß die Reformation erst in der zweiten Hälfte deS 16. Jahrhunderts in die Niederlande Eingang gefunden habe,

also zu einer Zeit, wo der Protestantismus als kirchenbildendes Prinzip sich schon ausgelebt hatte; ja, wenn in der ersten Hälfte deS 16. Jahr­

hunderts, wo so recht eigentlich der Weizen für eine Revolution, wie die niederländische, geblüht hätte, die Reformation ihr Haupt erhoben und dem Aufstande ihren eigentlichen Charakter aufgedrückt hätte, dann, aber auch nur dann könnte man sie als ein selbständiges Moment betrachten.

Man darf sich billig wundern, daß Holzwarth, der sonst bei jeder Gelegenheit, namentlich wo diese gegen die Berechtigung des Aufstandes

verwerthet werden kann, ungemeinen Scharfsinn und eine seltene historische CombinationSgabe an den Tag legt, gerade hier mit großer Oberflächlich­

keit

zu

Werke gegangen

Philipp II. ganz

ist.

dieselbe?

War denn die Zeit von Karl V. Hatte

nicht

Innsbruck schmählich Schiffbruch gelitten ?

die

nnb

Politik deS ersteren bei

War in Deutschland nicht der

Beweis geliefert worden, daß zwei Religionen in einem und demselben Staate friedlich neben einander bestehen konnten?

Rangen damals nicht

in Frankreich zwei große religiöse Parteien um die Herrschaft, oder je nach dem Ausgange deS Kampfes um Gleichberechtigung?

Und endlich

oder vor Allem war seitdem nicht in England unter einer klugen und ent­ schlossenen Königin die Reformation zur Herrschaft gelangt?

Und glaubt

man in der That, daß die Niederlande, die in regem Handelsverkehr mit allen diesen Ländern standen, von dieser Bewegung unberührt geblieben sein sollten?

Allerdings, wenn eS nach dem Willen Granvella's und des

Königs gegangen wäre, dann hätte man die Niederlande als ein von der

Welt abgeschlossenes und für sich allein bestehendes Land betrachten können, gegen welche Anschauungsweise Oranten wiederholt protestiren mußte.

Mit der Berufung auf die Katholicität des niederländischen Volkes

hat es eine eigenthümliche Bewandtniß, und wenn man sich auch wohl hüten wird, mit Koch aus der strengen Rechtgläubigkeit der heutigen bel­ gischen Katholiken auf ihre Vorfahren im 16. Jahrhundert zu schließen

oder auS der Thatsache, daß die Reformation den Katholicismus in dm Niederlanden zwar besiegen aber nicht vernichten konnte, den Beweis zu

liefern, daß der Abfall zu der neuen Lehre nur durch fortgesetzte Mittel

der Gewalt herbeigeführt werden konnte



so wird man doch zu der

Der Abfall der Niederlande und die nltramontane Geschichtschreibung.

45

Frage berechtigt sein, warum Karl V. genöthigt war, die Placate stets zu wiederholen und zu verschärfen, warum sie unter Margaretha wiederholt

erneuert werden mußten, und warum man nicht müde wurde, die Statt­

halter zur rücksichtslosen Durchführung derselben aufzufordern.

Hätte da»

Bolik in der That so innig und mit solcher Ueberzeugung an der katholi­

schen Kirche gehangen, dann hätte eS die fremden Lehrer und Prediger nicht angehört, geschweige sie freundlich ausgenommen, oft vor den Häschern

der Regierung verborgen, und sich ihrer Verhaftung häufig mit den Waffen in der Hand widersetzt.

Wenn Holzwarth sich zur geschichtsphilosophischen

Betrachtung erhebt und sagt: „WaS in einem Volke liegt als sein eigenste» Wesen, wa» au» dem Innern eine» Volke» heraus zur Gestaltung und Darstellung sich ringt, da» hindert kein Kaiser Karl, davor sinkt unmächtig

auch seine siegreiche Hand gelähmt herab", so wird e» auch un» vergönnt sein zu sagen: Kein Adel in der Welt und wäre er der einflußreichste und glänzendste gewesen, hätte in verhältnißmäßig so kurzer Zeit die an und

für sich trägen und

gegen die Reformation indifferenten Messen ihren

Anschauungen und althergebrachten Ueberzeugungen entfremden wenn deren Grundlagen nicht schon vorher gewankt hätten.

können,

Die Zünfte

in Antwerpen schafften die jährlichen Messen ab, CardinalShut und Mönch­ kutte wurden mit Vorliebe zu öffentlichen Mummereien gewählt und die

Rederhkerökamer», zunftmäßig organisirt, schossen bei ihren Aufführungen

die beißendsten Satiren gegen Papst, Mönche, Ablässe, Wallfahrten und andere kirchliche Institutionen ab, und wa» wie überall, so auch hier, dem

Umsichgreifen der Reformatton am meisten in die Hand wirkte, die sitt­

liche Versunkenheit eine» großen Theile» des gegnerischer Seite ohn? Weitere» zugegeben.

Cleru», wird auch auf

Also nicht der Adel zog die

religiöse Frage an den Haaren herbei, sondern er fand sie vor und be­

nutzte sie als Agitationsmittel, um bald darauf selbst unter ihren alles

mit sich fortreißenden Einfluß zu kommen.

Die Reformatton trat in den

Niederlanden nicht nur al- kirchen-, sondern als staatenbildendes Element auf.

UebrigenS geht aus allen katholischen Darstellungen mehr als zur

Genüge hervor^ daß sie in den evangelischen Predigern doch etwas mehr sahen, als bloße oranische politische Emissäre, und daß sie sich wohl bewußt find, vor dem beginnenden Kampfe zwischen zwei großen Prinzipien zu

stehen.

DieS beweisen die fortwährenden Klagen über die verderbliche

Schwäche Margaretha'S, wenn sie sich zur Milderung der Placate be­ wegen ließ, der häufige Gebrauch von Wörtern, wie Frechheit, Scham­

losigkeit n. s. w., womit daS Austreten der Prediger charakterisirt wird, und endlich die kaum verhehlte Freude über Fälle, wo die Häresie in ziem­

lich summarischer Weise behandelt wurde.

Oder kann man eine glän-

46

Der Abfall der Niederlande und die ultramontane Geschichtschreibung.

zendere kobrede auf die den reformatorischen Ideen innewohnende lebens­ volle Kraft finden, als bei NuyenS, wenn er sagt:

„Die Reformation

erschütterte bis in die Grundfesten Alles, was einer Nation theuer und lieb ist: die Religion, die Ueberlieferung der Väter, das gesellschaftliche Leben, mit einem Worte Alles.

Sitten, Gewohnheiten, Gesetze, Einrichtungen,

Studien, Künste, selbst Volksbelustigungen hatten den Katholicismus zur Grundlage.

Wenn nun Männer auftreten, welche dies Alles umwerfen,

. . . . dann ist die Frage, ob der Fürst diesen Angriff dulden darf." Wenn sich auch darüber streiten läßt, ob die von Nuyens gemachte Schluß­

folgerung einen besonders feinen historischen Sinn verräth, so geht jeden­ falls daraus hervor, daß die katholische Religion der Nation eben nicht mehr so heilig und theuer war.

Wenn also von gegnerischer Seite darauf hingewiesen wird- daß die

Reformation in den Niederlanden viel später als in Deutschland auftrat, und damit der zufällige, künstliche, nicht aus der Volksentwicklung selbst herausgewachsene Charakter derselben bewiesen werden soll, so wird uns

diese Jahrzehnte lange stille Wirksamkeit der reformatorischen Ideen, diese schrittweise Erziehung des Volkes für dieselbe, diese Unausrottbarkeit der auf den niederländischen Boden einmal verpflanzten neuen Lehre gerade zu dem entgegengesetzten Resultat führen.

Eben dieses im Anfänge vor­

sichtige, man kann fast sagen sceptische Verhalten gegen die Reformation,

das auch mit dem sonstigen Charakter des niederländischen Volkes so treu übereinstimmt, erklärt in unseren Augen zum guten Theil die nachherige

expansive Kraft, die der Protestantismus in den nördlichen Niederlanden später entfalten konnte.

Denselben Verlauf haben wir ja auch im Norden

Deutschlands; während die habsburgischen Erbländer im Fluge der Refor­ mation zufielen, aber mit verhältnißmäßig leichter Mühe vom Jesuiten­

orden dem Katholicismus zurückerobert wurden, hat die Reformation im

Norden Deutschlands, wo sie langsam

und

mißtrauisch ausgenommen

wurde, die tiefsten Wurzeln geschlagen und die nachhaltigste Kraft entfaltet. Waö ferner die Behandlung des Charakters der auf beiden Seiten

in den Vordergrund tretenden Personen betrifft, so handelte es sich haupt­ sächlich darum, Schatten und Licht auf eine der bisherigen Anschauungs­ weise entgegengesetzte Manier zu vertheilen, und man überzeugt sich leicht,

daß eö nur eines sehr geringen Combinationsvermögens, einer mehr oder weniger nachdrücklichen Betonung dieser oder jener Thatsache und einiger

historischen Licenz in der Erklärung der Motive bei den handelnden Per­

sonen bedarf, um zu dem gewünschten Resultate zu gelangen.

Oranien

durfte also nicht mehr als der bewußte Vorkämpfer der nationalen Unab-

hängigkeit und Gewissensfreiheit, Philipp nicht mehr in ausschließlichem Lichte des grausamen Tyrannen erscheinen.

vorgezeichnet.

Der Weg dazu war vvn selbst

Man legte nämlich den Nachdruck auf die administrativen

und politischen Mißgriffe deS Königs, die auch mit der größten Breite sammt und sonders aufgezählt werden, um ihn dann auf religiösem Ge­ biete desto fleckenlloser darzustellen. „Wir können Philipp unsere Bewunde­ rung nicht versagen, wie der von Natur träge, nachgiebige und ängstliche

Monarch plötzlich einen unverdroffenen Eifer in der Ausrottung der Ketzerei

entwickelte", ruft Nuyens emphatisch aus.

Muß man hier nicht an das

Wort von Thomas Buckle denken, daß die Menschheit unter pflichtgetreuen

Thoren viel mehr gelitten hat als unter verständigen Bösewichtern?

Denn

ein Volk empfindet und beurtheilt die Handlungen seine- Fürsten nicht nach den ihnen zu Grunde liegenden Motiven, sondern nach den ihm er­

wünschten und verhaßten Folgen.

ES kommt dabei sehr wenig darauf an,

wenn man auf den Unterschied der damaligen und jetzigen Zeit auf­ merksam macht und nicht müde wird, davor zu warnen mit dem Maßstabe

moderner

Anschauungen frühere Jahrhunderte zu beurtheilen.

Wurde

aber schon darauf hingewiesen, daß man zwischen ReligionS- und GewiffenSfreiheit keinen Unterschied

mache,

man erlaubt

sich

noch den

weiteren Schritt, um die Forderung der letzteren für jene Zeit alS voll­

ständig unbegründet abzuweisen und dadurch die blutige Verfolgung und Bestrafung Andersdenkender zu rechtfertigen.

Daß aber jener Zeit der Be­

griff religiöser Duldsamkeit durchaus nicht so fern gelegen hat, als man

eS auf katholischer Seite vorkommen lassen will, beweisen die wiederholten, sowohl schriftlichen als mündlichen Aeußerungen OranienS und anderer vor­

nehmer Edler, in welchen als das einzige Mittel, um der immer mehr überhandnehmenden Unzufriedenheit die Spitze abzubrechen, die vollständige

Aufhebung der Placate verlangt wird, eS beweist dies ebenso die tief im Bolle durchgedrungene und bei manchen Gelegenheiten, besonders Hin­

richtungen, ausgesprochene Ueberzeugung, daß eS nicht erlaubt sei, einen Menschen wegen seines Glaubens zu tödten.

Dem in Spanien gestorbenen

Marquis von Berg hatte eS Philipp geradezu als Gotteslästerung an­ gerechnet, weil er den Decan von St. Gudula in Brüffel gefragt hatte,

wo eS denn in der heil. Schrift stehe, daß man die Häretiker verbrennen

müsse? Wenn Koch sich über die hirnlose Todtschlägerei, mit der man gegen Philipp fortfährt, beklagt, so muß er diesen Vorwurf hauptsächlich au

Leute seiner eigenen Partei, besonders an Holzwarth adressiren, der ihm so ziemlich alle Tugenden und Eigenschaften abspricht, ohne welche der

Beherrscher eines so großen Reiches sich gar nicht denken läßt.

Aber wie

48

Der Abfall der Niederlande und die ultramantane Geschichtschreibung.

gesagt, die Fehler, die an ihm gerügt werden, sind durchaus intellectueller Natur; es ist aber sehr auffallend, wenn Holzwarth, der dem Könige sonst tieferen Blick in die Berhältniffe abspricht und wiederholt versichert, daß

er sür daS große Reich zu klein gewesen, doch wieder schmählich auS der

Rolle fällt, indem er zur Rechtfertigung der Sendung Alba'S nicht nur eine allgemeine Combination der europäischen Protestanten, welche den

Hebel in den Niederlande« einsetzen wollten, construirt, sondern auch

Philipp, den politischen Idioten, diese- Netz durchschauen und zerreißen läßt.

Dagegen muß man sich die unverhältnißmäßige Kürze vergegenwär­

tigen, mit der Philipp'- perfide Heuchelei in Egmont'S Proceß, sowie

seine feige, heimtückische Grausamkeit gegen Montignh, wie auch da-

famose Heuchelstück im Walde von Segovia verurtheilt werden, während man die Tiraden, in denen Oranien sein Sündenregister vorgehalten wird,

nicht lang und breit genug machen kann. Die ergiebigste und dankbarste Rolle für diese Anschauungsweise, bietet jedoch der Herzog von Alba.

Denn mit vollem Rechte kann man

ja sagen, daß seine Rasereien den Kampf zu einem nationalen Unab­

hängigkeitskampf gemacht haben, und daß erst durch ihn daS Volk in den Streit, der bisher fast ausschließlich vom Adel geführt wurde, als solches

eingetreten ist.

Mehr als einmal wurde es in den Niederlanden schon

laut ausgesprochen, daß man, im Grunde genommen, dem Herzog zu großem Danke verpflichtet sein müffe, weil ohne ihn daS Volk dem bleiernen

Schlafe anheimgefallen wäre, der sich in tödtender Weise auf die anderen Länder der spanischen

Monarchie gelegt hat.

Holzwarth und Nutzens

legen, wie sich leicht denken läßt, den Hauptnachdruck auf die politischen Mißgriffe Alba'S, auf die Verletzung der Privilegien, willkürliche Rechts­ pflege, Einführung des zehnten Pfennigs und auf die Art und Weife, wie die spanischen Soldaten im Lande hausten.

Man wird sich aber doch die

Frage vorlegen können, wen denn eigentlich daS Volk in dem mit ge­

weihtem Hut und Degen vom Papst beschenkten Herzog sah?

Gewiß

Niemand anders als den Vertreter der katholischen Kirche, in deren Jnter-

effe er die Ströme Blutes vergoß, als die logische Fortsetzung der Ver­ folgung Andersdenkender unter Margaretha und Granvella, die an der

strengen Ausführung der Placate, d. h. an der Hinrichtung aller Reformirten nur durch den Widerstand OranienS und der anderen gehindert

wurden, wiewohl der gute Wille bei diesen beiden nicht gefehlt hat.

Den

bigotten Herzog aber vollständig fallen zu lassen, ging auf der andern Seite auch nicht an.

Nutzen- behauptet, man thue ihm Unrecht, wenn

man ihn kurzweg einen blutdürstigen Menschen nenne, denn er habe al»

Soldat in Allem au- Pflichtgefühl gehandelt; Holzwarth nennt ihn einen

49

Der Abfall der Niederlande und die ultromontane Geschichtschreibung.

furchtbaren aber keinen schlechten Menschen, und Koch bemerkt trocken, der Kurfürst von Sachsen habe die Aechter auf noch viel grausamere Weise hinrichten lassen, als auf Alba'S Befehl jemals geschehen sei.

Allerding­

darf man nicht in den Fehler verfallen, Alba in unverhältnißmäßiger

Weise zu belasten, um Philipp in

entsprechendem Verhältniß

zu ent­

schuldigen, der Unterschied zwischen beiden bestand nur darin, daß die

Grausamkeit deö letzteren eine feige und heimtückische war, während Alba mit der Brutalität eines rohen LanzknechteS vorging.

Merkwürdigkeits­

halber soll hier noch angeführt werden, daß Holzwarth ■ jur Beschönigung der Massenmorde sich auf den Gemeinplatz beruft, daß in damaliger

Zeit daS Menschenleben überhaupt weniger Werth gehabt hätte alS heute,

ein Standpunkt, der jedoch, wenn eS um blutige Verfolgung der Katho­

liken durch die Protestanten handelt, natürlich seine Gültigkeit verliert. Die ganze Wucht deS Widerwillens und deS Hasses dieser Partei

concentrirt sich aber auf den Prinzen von Oranien, den Schöpfer deS

Staates, den der Protestantismus groß gemacht hat. „Wenn zum ManneScharakter unbeugsamer Muth, starkmüthigeS Ausharren in verzweifelter Lage, tapferes Ertragen jedweden Unglückes und kühnes Wagen gehört", urtheilt Holzwarth über ihn, „so war er ein Mann in der vollen Be­

deutung deS Wortes."

„Aber", setzt er sogleich hinzu, „meine Studien

haben mich zum entschiedenen Gegner OranienS gemacht, ich misbillige

seine Absichten und verabscheue die Mittel, die er zu ihrer Ausführung gebrauchte."

Während sonst der objective Historiker sein Urtheil nach den

Thaten eines Mannes und dem von ihm erreichten Resultate zu reguliren hat und sagen müßte: ich verabscheue Oranien, weil er schlecht gehandelt

hat, heißt eS hier umgekehrt, weil ich ihn verabscheue, hat er schlecht ge­

handelt.

Von diesem Grundsatz geht auch NuhenS aus, während wir mit

Koch, der in dem Prinzen weiter nichts sieht, als den anmaßenden, über­

müthigen Aristokraten, der nur für selbstsüchtige Zwecke arbeitete, der durch ein verschwenderisches Leben in Schulden gestürzt, im Erlangen und

Besitze der Staatsgewalt ein AuSkunftSmittel, eine Rettung aus den finan­

ziellen Verlegenheiten suchte, — nicht weiter zu rechnen haben.

Allen

Handlungen des Prinzen werden unedle Triebfedern substituirt; wird er

nicht müde, gegen die Anwendung der Placate Vorstellungen bei Mar­ garetha zu machen, so geschieht dies allein, um ihr Schwierigkeiten zu be­

reiten; die von dem Prinzen gegen Granvella geleitete Agitation war eine

künstliche, dem eigenen Ehrgeiz entsprungene und wenn er nach der Ent­ fernung deS Cardinals mit treuer Hingebung und vorher nie gesehenem

Eiser im StaatSrathe erscheint und bis in dir Nacht hinein arbeitet, so ist dies pure Heuchelei; mag er nach dem Bilderstürme, nachdem er selbst Preußische Jahrbücher, vd. LIL Heft 1.

4

50

Der Abfall der Niederlande und die slttamoutane Geschichtschreiboug.

die Hauptschuldigen hat hinrichten lasten, zur Mäßigung und Verzeihung rathen, so steht er doch selbst in geheimem Einverstehen mit diesen wüthen­ den Menschen. Gewiß, der Prinz war ein Mensch und stand so gut wie jeder andere unter dem Einfluffe menschlicher Leidenschaften, und Nie­ mand wird leugnen wollen und können, daß bei seiner Vaterlandsliebe auch viel Ehrgeiz, Selbstsucht und minder edle Motive mit unterliefen, wiewohl man in der Geschichte den großen Mann noch suchen muß, bei dem der Ehrgeiz nicht eine hervorragende Rolle gespielt hat. Hier da­ gegen hat Oranien nicht- ander-, al- sich selbst und seine hochfliegenden Pläne im Auge und die Nebensache wird so zur Hauptsache. Bei der Ermordung der neunzehn Mönche in Gorkum und de- Pfarrer- von St. Agatha in Delft kann auch nicht der leiseste Schatten eine- Ver­ dachte- der Theilnahme aus den Prinzen geworfen werden, im Gegentheil, sie wurden gegen seinen ausdrücklichen Befehl hiugerichtet, aber dennoch hat er die moralische Verantwortlichkeit dafür zu tragen, denn nicht Philipp, nicht Alba, sondern er hat die Zustände, welche solche Hand­ lungen ermöglichten, heraufbeschworen; ja NuyenS behauptet in die blaue Luft hinein, er habe im Geheimen gerade das gewünscht, was er öffentlich verbot. Seine Forderung der Gewissensfreiheit und Duldung der Katholiken fertigt Holzwarth mit den burschikosen Worten ab: „Man weiß, was Oranien unter Religion verstand; seine Religion war, keine zu haben", und wenn er auf der ersten Staatenversammlung für die Gleichstellung der Katholiken und Protestanten eiferte, ist dies eitel Schwindel und Heuchelet. Freilich mußte er die spätere Strenge, mit der man gegen die Katholiken auftrat, wohl billigen, „weil so viele waren, die dem Eid gegen den Papst mehr Werth beilegten, als demjenigen, den sie dem Lande geschworen hatten". ES hilft ihm nicht-, wenn er überall ver­ söhnend und vermittelnd auftritt, ja Nutzen- nimmt keinen Anstand, gestützt auf die Hinrichtung de- spanisch gesinnten Rath-pensionär- von Haarlem, Oranien auf eine Linie mit Alba zu stellen, während doch sicher im ge­ wöhnlichen Menschenleben nach der üblichen Taxation der Mörder eineeinzigen — beiläufig gesagt, wissen wir von diesem Prozeß viel zu wenig, um ein sichere- Urtheil darüber zu fällen — und der handwerksmäßige Menschenschlächter auf verschiedener Stufe stehen*). ES ist entschieden, daS Bewußtsein der Schwäche, sowohl in offensiver wie in defensiver Hin­ sicht, wenn man nothgedrungen die unmenschliche Grausamkeit der Spanier *) Die Unparteilichkeit hätte e« ferner gefordert, daß man wenigsten- eine Tugend de« Prinzen, nämlich seine Uneigennlltzigkeit und Unbestechlichkeit, nicht unerwähnt ge­ lassen hätte. Oranien steht in dieser Hinsicht so rein da und so unendlich hoch über allen feinen Gegnern, daß man allerdings in Verlegenheit gekommen wäre, ihm ein in da- übrige System passende» Motiv dafür uuterzuschieben.

Der Abfall ter Niederlande und die ultramoniane Geschichtschreibung.

51

eingesteht, dabei aber fortwährend wiederholt, die Protestanten hätten eben­ falls Gräuelthaten gegen die Katholiken begangen. Wir begreifen voll­ ständig die Unmöglichkeit, dem Manne gegenüber, ohne dessen zäheS AuSharren der Aufstand mißlungen wäre*), vorurtheilSfrei und gerecht zu fein**), so bald man einmal in dem Aufstand gegen die damalige Bor­ macht des Katholicismus und in dem Abfall von der alleinseligmachenden Kirche ein unentschuldbares Verbrechen sieht; nur muß man dann nicht mit der Prätention auftreten, eine objective Betrachtung der Geschichte zu liefern. So wenig Philipp von seinem Standpunkte aus Gewissensfreiheit gewähren konnte, so wenig kann der ultramontane Katholik von heute den damaligen Dorfechtern der Gewissensfreiheit ihr geschichtliches Recht wider­ fahren lassen. Wie man sich auch winden und drehen möge, der vom SyllabuS verurtheilte Satz: „In unseren Tagen ist eS nicht mehr gut, daß die katholische Religion mit Ausschluß aller anderen Bekenntnisse als die einzige StaatSreligion zugelassen wird", ist der alleinige diese Richtung der Geschichtschreibung beherrschende Standpunkt und vom: Roma locuta causa finita findet bekanntlich keine Berufung statt. ♦) ES macht einen beinahe komischen Eindruck, wenn jedesmal beim Fortgang des Aufstandes oder einer glücklichen Waffenthat der Anhänger OranienS der Ton gegen den letztem in eine gesteigerte Gereiztheit übergeht und wie der blinde Eifer manch­ mal förmliche Ungereimtheiten zu Tage fördert Holzwarth sagt z. B. S. 479 (2. Band): „Sonst wenn ein unterdrückte- Bolt seine Fesseln abzuwerfen im Be­ griff ist, ruft eS nach einem Befreier und muß nicht erst durch künstliche Mittel zum Ausstand gebracht werden. Wir finden nicht, daß die Niederlande nach Oranien als dem Befreier gerufen, ganz im Gegentheil ist er es, der dem Lande keine Ruhe läßt, der schürt, hetzt und es unglücklich macht, um das Volk wie ein aufgescheuchtes Wild in fein Garn zu treiben." Zehn Zeilen weiter wird aber unverfroren eonstatirt, daß der mittlere Bürger und das arme Volk treu und regelmäßig in den Leistungen waren, die der Prinz zu feinen Rüstungen nöthig hatte. **) Die Art und Weise, wie über die Ermordung des Prinzen gesprochen wird, ist geradezu empörend. Nuyens sagt in seinem kleineren GeschichtSwerk, in welchem er in Nachahmung von Victor Hugo, seinen Kindern die niederländische Geschichte erzählt, mit cynischer Trockenheit: „Endlich glückte eS einem gewissen Balthasar GerardS, ihn zu ermorden." Weniger bekannt dürste auch die in einer der letzten Sitzungen der Königl. Akademie der Wissenschaft in Amsterdam durch Fruin conftatirte Thatsache sein, daß der damalige Erzbischof von Utrecht, i. p. i., RoveniuS, die nöthigen Schritte gethan hat, um den Mörder OranienS heilig sprechen zu lassen l

Amsterdam, September 1882.

Th. Wenzelburger.

Die deutsche Ansiedelung in außereuropäischen Ländern.

ES ist ein dem Dentschthum eingeprägter nationaler Instinkt, welcher

viele seiner Angehörigen

in die Ferne treibt und mit dem Wunsch er­

füllt, sich in fernen uns fremden Ländern eine neue Heimath zu gründen.

Seit einem Jahrzehnt

ungefähr giebt

es nur noch wenige Theile des

Oceans, welche nicht bereits der Kiel eines deutschen Schiffes durchschnitten

hätte, auf allen Straßen und Plätzen des Weltverkehrs weht der Wimpel der deutschen Kausfahrtei, unter den vielen europäischen HandelsetablissementS, in transatlantischen Ländern sieht man die Deutschen voran, und

man rechnet, daß gegenwärtig mehr als 5 Millionen Ansiedler über den Erdball vertheilt sind. Das geographische Gebiet,

zogen hat und

welches die Deutschen am meisten ange­

auf dem das Deutschthum in Folge dessen zur größten

Entfaltung gelangte, ist das der Vereinigten Staaten.

Man kann die deutsche Bevölkerung derselben auf 8 ’/s Millionen, die von Canada auf 200,000 Seelen schätzen.

In den Jahren 1881 und 1882 erhielt dieselbe einen jährlichen Zu­ wachs von 248,000 resp. 230,000 Personen, welche sich auf die Haupt­

städte und Btnnenplätze vertheilten.

Unzweifelhaft behauptet die deutsche

Einwanderung in den Vereinigten Staaten von Nordamerika den ersten Rang und giebt den dortigen deutschen Niederlassungen den Charakter

eines Faktors im politischen Leben Nordamerikas.

das deutsche Element

Man rechnet jetzt, daß

ein Drittel der gesammten Einwanderung in den

Vereinigten Staaten auömacht.

Dasselbe hat seinen Mittelpunkt im Westen

und in New-Dork und Pennshlvanien, wo überall kompakte deutsche An­

siedlungen vorhanden sind, in denen die Bewohner auf dem Lande Acker­ bauer, in den Städten Kaufleute und Gewerbtreibende sind.

Ihnen ver­

dankt das Land in nicht geringem Maße die Entwicklung und den Auf­ schwung.

Nicht minder wie Engländer und Einheimische haben sie den

Boden der neuen Welt hier gegen die Indianer vertheidigt und mit ihrem Blute gedüngt.

vanien.

DaS am meisten von ihnen besetzte Gebiet ist Pennshl-

Außerdem bilden die Distrikte Ohio, Indiana, Kentukh, West­

virginia große zusammenhängende

WirthschaftSgebiete,

Deutschen in ansehnlicher Zahl vertreten sind.

auf

denen

die

Vermöge ihrer Betrieb­

samkeit, Menschenliebe und Thatkraft, sind sie zu vollberechtigten und gern

gesehenen Bürgern geworden, und haben sie sich im sozialen wie im StaatSleben eine hervorragende Stellung gesichert.

Am meisten interessiren bei der näheren Betrachtung deS Deutschthums

in den Vereinigten Staaten die Niederlassungen in den großen Handels­ emporien an der Ostküste, welche als die Hauptbrennpunkte des transat­

lantischen Verkehrs zu bezeichnen sind, New-Jork, Boston, Philadelphia,

Baltimore, Charleston und außerdem St. Louis, Chicago, St. Francisko.

New-Jork mit einer deutschen Einwohnerschaft von 151,000 Individuen, besuchten in den letzten Jahren 372 deutsche Schiffe, von denen 257 unter

Segel, 115 unter Dampf gingen, während der Auslauf 392 Fahrzeuge nachwies von denen 278 Segler, 114 Dampfer. New-Jork aus Deutschland

Die Ausfuhr dorther belief sich auf 31,575,000

36,682,000 Dollars. Dollars.

Eingeführt wurden in

im Jahre 1877 Waaren im Werthe von

Zahlen und Daten,

welche einen ungefähren Einblick in die

Frequenz der Beziehungen zu diesem großen Welthandelsplatz gestatten.

Boston, ein Haupthafen für den Getreidehandel, steht jetzt haupt­

sächlich durch seine Petroleumausfuhr mit Deutschland in Verbindung. In den letzten Jahren sandte Boston jährlich Quantitäten im Werthe von

circa

90,000 Dollar auf den deutschen Markt;

von deutschen Schiffen

liefen 22 diesen Platz an, und die 14—15000 Seelen starke deutsche Ko­

lonie daselbst erhielt einen Zuzug von 200 Personen. Charleston ist eine Hauptstation der deutschen Auswanderer, die in

Amerika landen und sich

von dort aus in das Innere begeben.

In

kommerzieller Beziehung kommt es für Deutschland weniger in Betracht. Hervorragend durch die Zahl ihrer Bewohner

und deren Antheil am

ist die Ansiedlung

in St. Louis, wo jetzt

überseeischen Geschäftsverkehr

59,000 Reichsangehörige leben.

St. Louis ist eine der größten Getreide­

börsen Nordamerikas, und Hand in Hand mit dem großartigen Pro­ duktenverkehr, der hier stattfindet, hat sich ein weit verzweigtes Verkehrs­

wesen entwickelt, das

unterhält.

wohlgeregelte Beziehungen mit dem Mutterlande

Die mit dem Beinamen „Königin am Mississippi" bezeichnete

Stadt, bildet einen,

von geographischen Verhältnissen gegebenen,

ja ge­

botenen Knotenpunkt, und einen Schlüssel für die auch deutsche Interessen berührende Handelsbewegung der ganzen Mississippi- und Missouriregion.

Die deutsche Ansiedelung in außereuropäischen Ländern.

54

In Chicago, der Hauptstadt de- Staate» Illinois, in welcher da-

deutsche Element fast V, (ca. 100,000 Seelen), der Einwohnerschaft au»-

betheiltgen sich die Deutschen an

macht,

diese Stadt zu einem Weltmarkt gemacht

einem Geschäftszweig, welcher

hat.

ES ist dies der Handel

mit Schweinefleisch, Rindfleisch und Speck, der bet dem, auch im Sommer

kühlen Klima von Chicago in den letzten Jahren einen sehr bedeutenden Aufschwung genommen und

eine

hat, welche

Industrie geschaffen

mit

verhältnißmäßig geringem Eisverbrauch, das ganze Jahr hindurch betrieben Dreiundvierztg Firmen beschäftigen sich im Ganzen mit der Ver­

wird.

packung

und Versendung

von

frischem und Salzfleisch.

Auch Getreide,

Holz, Leder und Eisenwaaren-Handel und kleinere Industrien werden an diesem Platz in sehr großem Umfang und unter Betheilignng zahlreicher

deutscher Unternehmungen

betrieben.

Der Totalwerth der gewerblichen

Erzeugnisie Chicago- wurde im Jahre 1880 auf 304,000,000 Dollar­

veranschlagt. Cincinnati,

mit einer deutschen Niederlassung,

welche ca. 50,000

Seelen zählt, hat in Bezug auf den Umfang de- deutsch kommerziellen Geschäftes

nicht die

Bedeutung

wie die beiden vorigen Städte.

Der

größte Theil der dortigen Ansiedler gehört der Arbeiter- und Handwerker­

klasse an.

Die Zahl der deutschen Firmen ist nicht groß, und demzufolge

ist auch die Theilnahme

an dem auswärtigen Geschäftsverkehr eine be­

schränkte. Auch die Stadt New-OrleanS, schaffene Entrepot

Ein-

das große von der Natur selbst ge­

für da- Stromgebiet des Mississippi und ein großer

und Ausfuhrhafen

für dasselbe, hat daS Deutschthum angezogen.

ES wohnen dort jetzt 15—16000 ReichSangehörige, die ziehungen mit Bremen

unterhalten.

New-OrleanS

namentlich Be­

hat durch die atlan­

tischen Häfen der Vereinigten Staaten Abbruch erlitten; sowohl die deutsche

Dampfschifffahrt, wie auch der Umstand, daß die dort mündenden Schienen­

wege immer weiter in das Innere htnetnretchen, beeinträchtigen den Handel

von New-Orlean-

in empfindlicher Weise.

ES fehlt an Abzugskanälen,

deren Entfernung von den atlantischen Häfen groß genug

und Kosten zu Gunsten von New-Orlean- zu sparen.

ist, um

Zeit

Zu diesem Zweck

wirft die Regierung die Augen auf Texas, auf Centralamerika, auf Bra­ silien und die Westindischen Inseln.

Aber erst eine Eisenbahnlinie zwi­

schen TexaS und New-Orlean- und Dampferverbindung resp. Centralamerika und Westindien,

nach

Brasilien

oder der projectirte Florida-Canal

werden einen Umschwung zum Besseren hervorzubringen vermögen, der auch unsern dort lebenden Land-leuten zu Gute kommen wird.

Bremen

sandte in den letztm Jahren jährlich einige 20 Schiffe nach New-OrleanS,

Die deutsche Ansiedelung in außerenropüischen Säubern.

55

ca. 90,000 Ballen Baumwolle und 850,000 Buschel Mal- al-

welche

Ladung nahmen, Artikel, für die jener Platz ein Weltmarkt ist. In der großen HandelSempore deS Westen-, St. Francisco, inner­ deren

halb

au- Bevölkerungen

aller Welttheile bestehenden Einwohner­

schaft sich 13000 Deutsche in festen Ansiedlungen befinden, ist der deutsche

Geschäftsverkehr in

letzter Zeit sehr zurückgegangen.

Neben soliden ge­

werblichen Unternehmungen und legitimen Handelsgeschäften hat die wil­

und

deste

schwindelhafteste Spekulation

Die ungünstigen

Stätte.

gerade in

GeschäftSverhältnisie

diese Schäden mehr und mehr blosgelegt.

St. Francisco

ihre

der letzten Jahre haben

Zahlreiche Kaufleute, die sich

an schwindelhaften Unternehmungen betheiligt, waren zu Liquidationen ge­

zwungen, mehrere ohne Kapital gegründete Banken, in denen für Depo­ siten gar keine Activa vorhanden waren, brachen

zusammen.

Alle dies«

Erscheinungen mußten auch die geschäftlichen Beziehungen und Interessen, die Deutschland hier hat, mit berühren.

Artikels,

der ein Hauptbedarfsgegenstand

da- deutsche Spiegelglas,

So fiel z. B. der Import eines auf dem dortigen Markte ist,

bei den geringen Bauten fast ganz au», und

bei der Unsolidität der Kalifornischen Firmen, bei der kurzen Verjährungs­ frist und dem kostspieligen Gerichtsverfahren in jenem Staat, waren die

Bestrebungen deutscher Fabrikanten, sich In St. Francisco neue Absatz­

stellen zu eröffnen, von keinem Erfolge.

Im Jahre 1878 besuchten nur

9 deutsche Schiffe diesen Hafen, 5 derselben kamen au- der Südsee.

Die über da» ganze Gebiet von Britisch-Kanada zerstreuten deutschen Ansiedler sind zum größeren Theil Ackerbauer, und leben namentlich in

der Provinz Ontario

in größeren Gruppen mit einander vereint, ohne

jedoch in merkantiler oder anderer Beziehung regelmäßige Verbindungen

mit dem Mutterlande zu unterhalten. In Mexico

hat

die deutsche Einwanderung und Niederlaffung von

je her nicht recht festen Boden soffen können.

Der Deutsche, welcher nach

den Vereinigten Staaten geht, findet dort ein dem germanischen Stamm

verwandtc» Volk, eine Sprache, in der sich Anklänge und Aehnlichkeiten mit der seinigen wieder finden, und die ihm nicht schwer wird zu lernen.

Sitte,

Gewohnheiten,

Lebensweise sind, wenn auch nicht der seinigen

gleich, doch derselben verwandt, und mit dem wa» er dort findet, versöhnt

er sich schnell.

Ander» in Mexiko.

Der Haupttheil de» Volke», der Zahl

nach, ist ganz verschiedener Raffe, von ganz reinem oder halb indianischem Ursprung; der andere, numerisch kleinere, aber herrschende Theil gehört einer

der deutschen ganz ftemden Nationalität an. Der Deutsche findet hier nicht nur eine durchaus fremde Sprache, sondern auch einen von dem seinigen ganz fremden Charakter, sowie andere Sitten, Gewohnheiten und Traditionen.

56

Die deutsche Ansiedelung in außereuropäischen Ländem.

Dazu kommt,

daß in dem mexikanischen Staatswesen eine gesunde

wirthschaftltche Entwicklung im Großen so lange nicht die Bevölkerung

lange nicht möglich ist, so

einer festen Regierung unterworfen wird,

die die unruhigen Elemente im Zaum hält, die Sicherheit der Besitz­ thümer und Personen garantirt und für

die Aufschließung des Landes

durch Anlage von Kommunikationen, ehrliche gewissenhafte Verwaltung,

Sorge trägt. Man besitzt keine genaue Statistik der Fremden in Mexiko; geschätzt wird

die Zahl der Deutschen

incl. Schweizer

und

Oesterreicher

auf

5—6000, wovon die Hälfte in der Hauptstadt, die nächstgrößte Zahl in

Colima und Veracruz ansässig

ist.

Dessenungeachtet hat

der deutsche

Handel alle übrigen überflügelt.

Mit Ausnahme einiger Punkte im Norden

und an der atlantischen Küste,

wo

die Amerikaner stark vertreten sind,

sind die Hauptgeschäfte in deutschen Händen. Was die Stellung der Deutschen in Mexiko betrifft, so sind dieselben

beliebter als die Engländer, aber beide stehen den Sitten und Anschauungen der Mexikaner zu fremd gegenüber.

Die kommerziellen Beziehungen zwischen den Deutsch-Mexikanern und

der Heimath sind deshalb schwer zu kontrolliren,

weil der Import deut­

scher Waaren daselbst größtentheilS über England, Frankreich, selbst New-

Uork stattfindet.

Manche Artikel, die früher einen Gegenstand lebhaften

geschäftlichen Verkehrs mit Mexiko bildeten, haben in neuerer Zeit große

Reduktionen in ihrem Absatz daselbst erfahren.

Von den einzelnen Plätzen

hat Laguno de Terminos die lebhaftesten Verbindungen mit Deutschland gehabt; im Jahre 1877 gingen 31 deutsche Schiffe von hier mit Blau­

holz, Gelb, Mahagoni und Cedernholz, Häuten und Cocosnüssen befrachtet nach Hamburg.

Die von Hamburg direct nach Mexiko bestimmten Segelschiffe führen meist Eisen- und Stahlwaaren,

führender Einfuhr,

nach dort.

Pianos, Möbel,

letzteres beides in zu­

An der pazifischen Küste Mexikos legten

im Jahre 1877 15 zu Mazatlan, 5 zu Colima, 3 zu Acopulco an.

Centralamerika Niederlassungen auf;

und Westindien das

weisen keine namhaften

deutschen

germanische Element findet sich nur in ein­

zelnen Handelshäusern und Agenturen, die z. B. in der Havanna (Cuba), dann auf verschiedenen Küstenplätzen der Inseln Portorico und Jamaica

und auf Curayao bestehen.

Bon größerer Bedeutung ist Haytt.

Hier ist die deutsche Nationa­

lität am meisten vertreten, und zwar bildet die Cultur und Versendung deS Kaffees den wichtigsten Erwerbszweig der deutschen Kolonisten.

Im

Jahre 1877 fiel auf die Hamburger Dampflinie in Port au Prince ein

Drittel, In Cap Hayli über die Hälfte,

und

in GonaiveS zwei Drittel

der Kaffeeausfuhr. Der deutsche

Schtffszahl

Schiffsverkehr macht ferner in demselben Jahre der

nach über ein Sechstel,

dem Tonnengehalt nach über ein

Viertel des Gesammtverkehrs von Hayti mit dem Auslande aus; hundert deutsche Dampfer und

31 Segler

liefen 1877 in die Seeplätze Hahtis

ein, und namentlich in GonaiveS nahm die deutsche Flagge die erste Stelle im Schiffsverkehr ein.

In den Häfen Cayes und Jacmel erscheint die deutsche Dampfschiff­ fahrt verhältnißmäßtg

schwach vertreten,

weil

die Hamburger Linie sie

nicht mehr mit ihren Passagierschiffen, sondern nur mit ihren gelegent­ lichen Frachtdampfern während der Kaffeeernte anläuft.

Dagegen hat die deutsche Segelschifffahrt in Aux-Cayes insofern ein günstiges Resultat aufzuweisen, als sie 1878 in Schiffszahl und Tonnen­

gehalt die britischen übertroffen hat.

Der deutsche Segelschiffverkehr mit

Hayti ist sehr gering; da aber die dort verkehrenden deutschen Dampfer sämmtlich der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrgesellschaft gehören, so springt eS in die Augen, daß diese Linie, welche einen großen Theil deS Handels mit Hayti und Punto Plata, die sich sonst nach andern Ländern

wenden würden, nach Deutschland zieht, bei weitem der wichtigste Faktor

für daS Blühen eines directen Handels zwischen dieser Insel und Deutsch­

land ist. In der Dominikanischen Republik fehlt der sichere und feste Boden ruhiger und geordneter staatlicher Verhältnisse zu sehr, um der wirthschaft-

ltchen Produktion und dadurch dem Handel einen gedeihlichen Aufschwung

zu gestatten. Der große Unterschied

zwischen

Nord- und Südamerika in Bezug

auf die deutsche Ansiedlung besteht darin, daß der deutsche VolkSthpuS dem

spanisch-amerikanischen an Bildung, Kraft und Zähigkeit weit überlegen ist, dem anglo-amerikanischen nur gleich steht.

Aus diesem Grunde zeigen

die deutschen Niederlassungen mehr daS Gepräge fester, innerer. Gemein­ schaft und es erhält sich ein Hauch deS nationalen Geistes in denselben.

Ein Aufgehen der Deutschen in der einheimischen Bevölkerung und

eine Entnationaltsirung der ersteren ist in Südamerika nicht zu erwarten, so lange ihr numerisches Stärkeverhältniß ein angemessenes bleibt. Außer­

dem kommt den Deutschen hier der Vortheil zu gute,

daß

ihnen

letne

englische oder amerikanische Eifersucht und Concurrenzbefürchtung Schwie­

rigkeiten in den Weg legen. Die Regierungen der südamerikanischen Freistaaten haben sich eben so

in

letzter Zeit größtenteils freundlich der deutschen Einwanderung

Die deutsche Ansiedelung in außereuropäischen Ländern.

58

namentlich

gegenübergestellt,

ist der Staat Bolivia damit vorgegangen,

indem er z. B. den Einwanderern fünfzigjährige Steuerfreiheit und andere

Vortheile sind den Deutschen in

Bortheile

zusicherte.

Brasilien

und in Süd-Chile zugesichert worden.

Aehnliche

Süd-

Viele wesentliche Be­

dingungen zum Aufblühen deutscher Kolonien sind unstreitig in einzelnen

Theilen Südamarikaö in reicher Fülle gegeben. Der Boden ist ertragreich und geeignet zum Anbau werthvoller Pro­ dukte, daß Klima ist im Ganzen gesund,

ein weit verzweigte- Netz von

schiffbaren Flüssen erleichtert Verkehr, Handel und Industrie.

Derselbe

Umstand stellt eine leichte Verbindung mit dem Meere her, worau- wieder einerseits eine mühelose Kommunikation mit-dem deutschen Mutterlande,

und andrerseits die Möglichkeit eines direkten deutschen Schutzes resultirt.

Bon

den

deutschen Niederlassungen in Südamerika nehmen zunächst

Brasilien-

in

Anspruch.

Dieselben

diejenigen

dienen nicht merkantilen

Zwecken; ihre Bewohner sind meist Landbauer, Handarbeiter oder Hand­

Ihr Gebiet umfaßt die zwischen dem 20. und 25. Grad südlicher

werker.

Breite gelegenen Südprovinzen des Kaiserreichs (Bahia, MinaS-GeraS,

Espiritu Santo, Parana, Rio de Janeiro, St. Paolo, Santa Catarina

und Rio Grande do Sul).

Die Hauptagglomeration beschränkt sich indeß

auf die drei letztgenannten, in deren Ansiedlungen ca. 160,000 Deutsche

wohnen. Die Erwerbs« und LebenSthätigkeit derselben richtet sich zum größten

Theil durauf, dem Boden die Schätze abzugewinnen, mit welchen ihn die natürliche Vegetation in verschwenderischem Maaße au-gestattet hat.

üppigster Fülle gedeihen hier die manntchfachsten Kulturgewächse, au- der Gattung der nahrungspendenden Körnerpflanzen,

nigen

der Knollen und Wurzelfrüchte,

pflanzen.

Von

den

wirthschaftlichen Leben

letzteren

wie auS derje­

de» tropischen Obste-

Orange, Pfirsich), und der unentbehrliche Genußmittel

(Banane,

liefernden LuxuS-

sei hier speciell derer gedacht,

eine Rolle spielen.

In

sowohl

welche im

Die- ist zunächst der Kaffee,

obgleich .die Qualität deffelben nur al- eine wenig werthvolle auf dem

Weltmarkt angesehen wird.

Unter dem Namen Brasil. Kaffee wird in

Europa eine gewöhnliche Sorte verstanden, nichtsdestoweniger ist die Pflege deS Kaffeebaumes Reichthümer.

einträglicher,

als

die Ausbeutung der mineralischen

Der Kolonist kann vom Staat ca. 4 Hektare für 15 Mil-

retS (= 35 Mark), die er in 5 Jahren abträgt, (mit 6 Prozent Zinsen) erhalten, ein Grundstück, welche- genügt, eine Familie von 10 Personen zu ernähren.

Ein anderer Artikel, dessen Kultur die Hände der Deutschen in Bra­ silien beschäftigt, ist da» Zuckerrohr, da» sich nur durch Schnittlinge ver-

mehrt und bereits vom Juni ab geschnitten werden kann.

Sehr geeignet

für den Anbau de» Zuckerrohre» ist der Norden von St. Catarina.

In

der hier befindlichen Colonie St. Pedro de Alcantara erzeugen die dort lebenden Ansiedler au» dem Zuckerrohr ungefähr 200,000 Liter Brannt­

wein, die ihren Absatz in dem 27 Meilen entfernten Porto Alegre finden. In der von ca. 55,000 Deutschen bewohnten Provinz Santa Catha­ rina

liegt die bestangelegte Colonie von Brasilien,

Donna FranciSka,

einem

der besten Häfen

welche durch den Hafen von San Francisco,

Südamerikas, fast in direktem Verkehr mit Europa steht.

cisca, verdankt ihr Entstehen

1849,

welcher

da-

Donna Fran­

dem Hamburger Colonisationsverein von

Territorial-Gebiet

käuflich

erwarb.

Die

Colonie

Blumenau, im Jahre 1852 von einem Braunschweiger gleichen Namen­ begründet, zählt ebenfalls zu

den größeren derartigen Niederlaffungen.

Die Hauptbeschäftigung der Bevölkerung bildet die Landwirthschaft, na­

mentlich der Ackerbau, der hier schon überwiegend von kleinen Grundbe­

sitzern betrieben wird.

Die Viehzucht ist nur in einem Theil der Provinz,

und zwar auf dem Binnenplateau, wo sie noch da- Hauptgewerbe bildet, von Bedeutung, wird aber noch in sehr primitiver Weise geleitet, und

liefert nicht die Resultate, welche bei rationeller Wirthschaft erzielt werden könnten. Al- die Kornkammer Süd-Brasilien- kann

die von etwa

102,000

Deutschen bewohnte Provinz Rio Grande do Sul bezeichnet werden.

Die

Deutschen sind hier hauptsächlich Ackerbauer, ihrer Betriebsamkeit und In­

telligenz ist e- gelungen, den Boden au- den Fesseln de- Raubbaue- zu

Noch größer würde der durchschnittliche Wohlstand sein, wenn

befreien.

Sobald aber der urbar ge­

da- Land rationeller bewirthschaftet würde.

machte Boden nach- einer Reihe von Jahren seine natürliche Fruchtbarkeit

verloren,

so

wird nicht etwa Düngung angewendet, sondern ein neue-

Stück Waldland auSgerodet und bebaut;

entwaldet,

da- ursprünglich fruchtbarste Land

sogen.

dadurch find manche Gegenden

werden den scharfen Südwinden zu sehr au-gesetzt und auch

wird auf diese Weise zuletzt auöge-

Die Früchte, welche in dieser Provinz mit Erfolg gezogen werden,

sind schwarze Bohnen,

Mai- und Kartoffeln,

seit einigen Jahren auch

Tabak, und in einigen Districten auch Reis.

Mit der Bodenwirthschaft Hand in Hand geht auch bei den Deut­ schen in Brasilien die Bienenzucht, mit recht gutem Erfolge.

Die 1839

von Oporto eingeführten Bienen produziren große Mengen von Wach-,

da- leicht gebleicht werden kann,

Honig aber wenig Wach- liefert.

während

die brasilianische Biene viel

Die Bienenzucht ist besonder- bei den

Ansiedlern im Süden beliebt, wo die mit Blumen überhäuften Wiesen

Die deutsche Ansiedelung in außereuropäischen Ländern.

60

ihre Fortpflanzung

begünstigen.

Mit ihrer Thätigkeit als Landwirthe,

Pflanzer und Bienenzüchter verbinden die Kolonisten auch Regsamkeit auf

dem Gebiete de- Gewerbefleißes.

brauerei zugewendet,

So haben sie sich namentlich der Bier­

die in Rio beispielsweise jährlich eine Produktion

von 3 Mill. Sitte» hat, ebenso ist die Hutmacheret ein Industriezweig,

der sich fast ausschließlich

in den Händen der Deutschen befindet.

AlS

Handelsstation für den Export hat nur da» an dem PatoS-See gelegene

und dadurch mit dem Atlantic in Verbindung stehende Porto Alegre Be-

deutung. Die Betheiligung der Deutschen an dem Welthandel Brasilien» ist

in neuerer Zeit sehr zurückgegangen, dustrie-Artikel

nach

obgleich

Brasilien früher

der Absatz

deutscher In-

bedeutender war al» nach Nord­

amerika, und die deutsche Einwanderung nach Brasilien im Vergleich zu der nach den Vereinigten Staaten sich wie 3 zu 100 verhielt.

Gegen­

wärtig droht Deutschland in Brasilien Gefahr, von England kommerziell überflügelt zu werden, und e» hat den Anschein,

Kaiserreiche beginnen die Engländer

al» werde diese» Land

In dem südamerikanischen

in Brasilien den Haupthandel an sich ziehen.

schon vorzugsweise die Eisenbahn­

linien zu erbauen, die Mineral- und Steinkohlenlager auSzubeuten, Gas­

anstalten, Telegraphen und Dampferfahrten einzurichten.

Der deutsche

Handel hat sich in den von so vielen Deutschen bewohnten Südprovinzen allerdings gehoben, jedoch in keinem stärkeren Maß al» in Rio selbst und

in den Nordprovinzen. in Amerika Ausbreitung

Ein andre» Gebiet, auf dem da» Deutschthum gefunden

und dem Mutterlande wirtschaftliche

Beziehungen und Verbindungen eröffnet hat, ist die Argentinische Repu­

blik.

Ueber Argentinien sind 7500 Deutsche »ertheilt, welche meist in

den fruchtbaren, durch Wasserstraßen zugänglichen Provinzen Entre Rio» und Santa Fö wohnen.

Dir

hier bestehenden Ansiedlungen liegen so,

daß sie

fast alle auf günstigen Wasierstraßen

können,

denn

die

ihre Produkte abführen

schiffbaren Ströme Uruguay, Tarana, Salado (der

300 Stunden weit in da» Innere schiffbar ist) fließen entweder in nicht

allzugroßer Entfernung

von den Kolonien

unmittelbar.

meisten Colonien ist daher ein Flußhafen nicht

Für

die

vorüber oder berühren diese

weit entfernt. Meist hat hier der Landwirth wegen de» Absätze» seiner Produkte

wenig Beschwerlichkeiten, da der Käufer oft gleich neben dem Hause be»

Kolonisten erhandelt, was dieser zu Geld machen will.

Santa F6 und

Rosario sind für jene Gegenden Häfen von großer Wichtigkeit.

Obgleich

die Argentinische Republik ein große» von der Natur reich gesegnete» Land ist, da» einst die Kornkammer für die Industriestaaten Europa» werden

dürfte, kann man eS zur Zeit noch keinen Ackerbaustaat nennen, da die weiten Flächen nur zum kleinsten Theile angebaut sind und hauptsächlich

der Viehzucht dienen.

Auch hier ist das germanische Element als Träger

und Förderer des Ackerbaues aufgetreten, und hat viel dazu betgetragen dem Boden jene schöpferische Belebung zu geben, welche mit der bestimm»

teren Entwicklung der Besitz und Eigenthumsverhältnisse Hand In Hand

zu gehen pflegt.

Die einträglichste Cultur ist die des Weizens, gegen den

Mats haben die Kolonisten noch Dorurtheile, Bohnen und Erbsen sind empfehlenSwerthe Produkte, auch Kartoffeln und Pataten (süße Kartoffeln) werden gepflegt.

AIS Oelfrucht baut man die Erdnuß; Baumwolle ist

leicht zu kulliviren, der Taback, besonders der von Santa FS ist von aus­ gezeichneter Qualität, Obst und Wein gedeihen

in edleren Fruchtarten,

wenn man sie gegen die rauhen Südwinde schützt.

Mehr als in Bra­

silien, lenkt naturgemäß der deutsche Bewohner Argentinien- feine Auf­

merksamkeit auf die Viehzucht, den Haupterwerb der Eingebornen, welcher in hohem Grade einträglich ist.

Der gegenwärtig in der Argentina aus

der Rinderzucht gezogene Gewinn ist sehr beträchtlich; eS giebt einzelne

Schlächtereien, In denen jährlich 60,000 Thiere geschlachtet werden, im Ganzen rechnet man

eine Million geschlachteter Rinder

und

im Jahre.

Noch bedeutender ist der Gewinn auS der SchaafSzucht: während nämlich

eine geographische Quadratmeile guten Weidelandes ungefähr 4000 Stück Vieh sammt den für die Bewachung dienenden Pferden und Maulthieren

ernährt, können auf demselben Terrain leicht 24,000 Schaafe gehalten werden.

Leicht kann der Ansiedler eine Heerde von 1500 bis 2000 Stück

mit einem Antheil von l/3 oder '/» der Wolle und Vermehrung erwerben,

wobei er noch Kost und Wohnung erhält, so daß er sich bald eine selb­ ständige Stellung zu erringen vermag.

Bedeutender als die Zahl der

Deutschen ist die Betheiligung der deutschen Handelsflotte an dem Verkehr In den Argentinischen Häfen.

Der Antheil der deutschen Rhederei ist ein

von Jahr zu Jahr steigender und zwar wie überall In der Welt unter

Zunahme der Dampfer und Abnahme der Segelschiffe.

Im ganzen hat

die Zahl der deutschen Schiffe abgenommen, der Tonnengehalt ist aber beständig gewachsen, da die Dampfschiffe eine größere Tragkraft besitzen

als die Segler.

So betrug die Tonnenzahl der von Deutschland ange­

kommenen und dahin abgegangenen Fahrzeuge in Prozenten der Tonnen­

zahl sämmtlicher gelaufenen Schiffe und zwar der von Deutschland ge­ kommenen 1870 1,88, 1876 10,64 und der nach Deutschland abgegangenen

1870 0,25, 1876, 10,02.

Der dtrecte Verkehr mit Deutschland nimmt

jetzt bereits die dritte Stelle ein, und hat sich dem von Frankreich schon bedeutend genähert, dem englischen aber Konkurrenz gemacht.

Die Haupt-

Die deutsche Ansiedelung in außereuropäische» Ländern.

62

bezugSartikel von Deutschland sind hauptsächlich außer Alkohol, Gewebe und Kleidungsstücke; die HauptauSfuhrwaare ist Schaafwolle die auf dem Umwege über Antwerpen nach Deutschland gelangt und von der beispiels­ weise in den Jahren 1878/80 alljährlich gegen 97,000 Gentner exportirt

wurden. BuenoS-AireS

die Hauptstadt des Landes ist der Sitz einer etwa

3000 Personen zählenden deutschen Kolonie

auf welche etwa 60 deutsche

Häuser kommen, welche den Exporthandel fast ganz, den Jmporthandel zu

seinem wesentlichen Theile an sich gezogen haben und unter denen die be­ deutendste Firma einen jährlichen Umsatz von etwa 150 Millionen Mark

aufweist.

ES handeln diese Firmen

mit Importartikeln

aller Länder,

unter welchen die deutschen bis jetzt nicht die allgemein bevorzugten sind; manche von diesen Häusern stehen

mit Frankreich und England in so

regem Geschäftsverkehr, daß sie ein gute» Stück französischen oder engli­ schen Handel- repräsentiren.

Ebenso exportiren die dortigen deutschen

Häuser nur zum geringen Theil direkt nach Deutschland.

oben

genannten, kommen

noch folgende Waaren

Außer den schon

nach dem La Plata:

Eisen- und Kurzwaaren Kolonialartikel und Jndustrieerzeugnisse, Farbe­ waaren, Droguen, Goldwaaren, Schuh, Hut und diverse Gegenstände. Montevideo, die Hauptstadt des Argentinien benachbarten Staates

Uruguh ist seit einer Reihe von Jahren schon ebenfalls zu einem, mit

Vorliebe von Deutschen gewählten Niederlassungsgebiet geworden; bewohnt

ist dieselbe von etwa 3000 Deutschen, die sich mit den Engländern in den Besitz deS Handels gesetzt haben.

Derselbe bezieht sich hier ebenfalls wie

In Argentinien auf den Export von Fleisch,

fabrikaten.

Fellen, Wolle und Fleisch­

Dank der Initiative eines Hamburger Industriellen wurde

hier 1864 bereits mit der Anlage der bekannten Fleischextraktfabrik (Fratz

Bento») begonnen, welche jetzt die ganze Welt mit dem von Liebig er­

fundenen Fleischsaft versorgt und zum Ausgangspunkt eines Kulturwerkes an den Ufern des UrugatzflusfeS geworden ist, das dem deutschen Namen

zur Ehre gereicht.

Die früher öde Sandebene hat sich im Laufe der Zett

in eine freundliche ertragreiche Landschaft verwandelt, auf welcher deutsche

Intelligenz und Betriebsamkeit eine gedeihliche Arbeit-- und Produktions­ stätte geschaffen hat. In den letzten Jahren stellte sich die Produktion von Fratz BentoS

im Durchschnitt auf 147,000 Thterhäute, 465,200 Pfund getrocknetes und gesalzenes Fleisch, 60—10,000 Gentner Talg, 6000 Tonnen Guano.

Verschiffung

dieser Quantitäten waren

400 bi» 500 Tonnen Laderaum.

im Ganzen 44 Schiffe

Zur

von je

E» könnte nur vortheilhaft fein, wenn

Deutsche nöthig Schaaf- und Rindviehzüchter mit ihren Erfahrungen und

leidlichem Capital sich an dieser Ausbeute bethetligten, wenn sie das er­ giebige Land einem reichlicheren Ackerbau erschlössen, die Fabrikate deut­

Gewerbtreibenden in Kauf gegen Nahrungsmittel nähmen; dies

scher

würde zugleich den Hamburger und Bremer Handel Deutschlands gebüh­ rend beschäftigen, und einen Menschenstamm bilden, auf den sich die

deutsche Macht gelegentlich zu stützen vermöchte. Land ist trotz aller Spekulationsankäufe, welche besonders und natur­

gemäß auf das Terrain am Strom gerichtet waren, noch zu vielen Hun­

derten

von Quadratmeilen zu haben, und zwar ist guter brauchbarer

Boden für 100,000 bis 200,000 M. die Quadratmeile, d. h. 5—10 M. der preußische Morgen, verkäuflich.

Es

ist

eine erfreuliche Thatsache, daß

an der ganzen Westküste

Amerikas bi» nach Oregon hinauf, die Deutschen unter allen Ausländern in vorderster Reihe stehen, und alle andern Fremden überflügelt haben.

Sowohl als Kaufleute wie als Handwerker haben sie durch Thatkraft und

Betriebsamkeit eine geachtete Stellung zu erwerben gewußt; in den Wissen­ schaften und Künsten sind Deutsche die besten Lehrmeister, und man schätzt sie al» die geschicktesten und zuverlässigsten Verwalter von Bergwerken,

Landgütern und gewerblichen Etablissement».

Auch haben sie einen großen

Theil der Küstenschifffahrt in ihren Händen, und e» giebt kaum einen

Theil menschlicher Werkthätigkeit in welchem sie sich nicht der Gesellschaft in ihrer neuen Heimath nützlich machten.

Die Handelshäuser Chile'»

unterhalten gern ausgedehnte Verbindungen mit Deutschen, junge deutsche

Kaufleute, welche die erforderlichen Sprachkenntnisse besitzen, werden in chilenischen Häusern gern

ausgenommen.

Auch den deutschen Gewerb­

treibenden geht e» gut, und auf ihren Schildern dient die deutsche Firma als Empfehlung für pünktliche Ablieferung und zuverlässige Arbeit. In Chile wohnen die Deutschen, von denen dort etwa 4600 leben,

meist in den südlicheren Landestheilen, in einer Breite, die etwa der­ jenigen von Italien entspricht.

Auch hier ist der Getreidebau (obenan die

Kultur des Weizen») der Haupterwerb der Kolonisten, deren Ernten die

Goldfelder von Kalifornien und später von Australien mit Fruchtkorn ver­ sorgten.

Chilenischer Weizen, auf deutschen Besitzungen gewachsen, kommt

auch auf den europäischen Markt und geht nach England.

Der Flachsbau

liefert im Süden von Chile vorzügliche Erträge, ist aber kein Ausfuhr­ artikel.

Wein und Hopfen gedeihen vom 33.—40. Grad südlicher Breite,

gut, und der in den chilenischen Kolonien gewonnene Taback entwickelt ein

besondres Aroma.

Auf der landwirthschaftlichen Ausstellung von Santiago

de Chile im Jahre 1870 zeichneten sich die deutschen Landwirthe der dortigen

Niederlaffungen und deutsche Industrielle besonders au».

Die in Valpa-

64

Die deutsche Ansiedelung In außereuropäischen Ländern.

ratso lebenden Deutschen (etwa 1000) gehören

meist

dem Kaufmanns­

stande an und unterhalten geschäftliche Beziehungen'mit Gladbach

und

Barmen?

Gegenstand derselben sind die Erzeugnisse der rheinischen Textil­

industrie.

Die in Peru und zwar in den Städten Lima, Jquique und

Arica früher bestandenen deutschen Kolonien sind in Folge deS Krieges

sehr zusammengeschmolzen.

Ein Haupthandelsartikel,

deutschen Händen befand,

dort

der sich

in

der Salpeter liegt, bei der allgemeinen Auf­

lösung aller Verhältnisse daselbst, fast gänzlich darnieder; ist Peru jetzt

von den Fremden sehr gemieden und war das letztere als Handelöstation

bis zum Kriege mit Chile in steter Zunahme und Aufschwung; im letzten Jahre liefen 12 Segler unter deutscher Flagge dort ein, ebenso machten

die Dampfer der Hamburger KoSmoSlinie dort monatlich einmal Station. AIS ein ganz vorgeschobener Posten des Deutschthums muß in Peru die

Kolonie am Pozuzufluß bezeichnet werden, in der etwa 400 Personen, da­ von 328 Deutsche leben, welche die Naturerzeugnisse, die sie dem Boden abgewtnnen selbst verbrauchen.

Diese Niederlassung bietet

daS einzige

Beispiel, daß eine in den Tropen angelegte Ackerbaukolonie von Ange­

hörigen eines nordischen VolkSstammeS, au» eigener Kraft emporkommt

und

gedeiht.

Staate

In dem

Kolumbien

waren

früher

die

beiden

Schwesterstädte Barangutlla und Sabanilla, das letztere durch seine Lage im Centrum des MagdalenenstromeS in sehr günstiger Position für den Schifffahrtverkehr, sozusagen deutsche Factoreten.

Beide durch eine, von angesehenen Handelsfirmen angelegte Eisen­ bahn

verbundene

unterhielten

Städte,

Bremen, Hamburg und Altona hin.

sehr regen

Exportverkehr nach

Bis zum Jahre 1876 betrug bei­

spielsweise der Bezug Bremen» an Kolumbischen Produkten (Baumwolle, Kaffee, Häute, Hölzer, Taback, Elfenbeinnüsse) in mittleren Zahlen etwa

7 Millionen Kilogramm,

int Werth

13 Millionen Mark, der

Bezug

Hamburg» 2 Millionen Kilogramm, mit einem Werth von etwa» über

2 Millionen. fahren.

Diese Zahlen haben neuerdtng» eine Verminderung

er­

Die andauernden Revolutionen und Kämpfe lähmten Handel und

Wandel, beschränkten die Au»- und Einfuhr und lockerten, die Bztehungen mit Deutschland. Die Hamburger Packet-Aktien-Gesellschaft stellte in Folge dessen auch ihre Fahrten ein und schickte nur kleine Frachtdampfer nach

Sabavilla.

So kam e», daß für die deutschen Märkte allmälig immer

mehr der Verkehr der beiden Niederlassungen verloren ging.

In Vene­

zuela bilden die Deutschen etwa 12 Procent der ausländischen Bevölkerung

und sind zumeist Kaufleute, deutschen Gemeinden sind 1700 Jndviduen leben,

Apotheker und Handwerker.

außer in

Die stärksten

der Hauptstadt Caracas wo etwa

in den Au»- und Einfuhrhäfen Puerto Cabello

La Guahra und Ciudad Bolivar.

Bis in die ersten siebziger Jahre

stellte sich die Betheiligung Deutschland- an den Venezuelaischen Handel

auf etwa 4 bi- 5 Mill. Doll, jährlich.

In diesem Verhältniß ist in

neuerer Zeit ein großer Umschwung eingetreten, theils durch den Rück­ gang in der Produktion, theils in Folge von ungünstigen Konjunkturen,

namentlich hat unter diesen Kalamitäten der Baumwollen, Taback, Kaffee und Jndigohandel gelitten.

Die Deutschen genießen ein großen Ansehen in Venezuela und wurden

häufig schon in der Presse des Landes als die sittlichsten und fleißigsten

unter allen Ausländern und als diejenigen, welche am thätigsten die Bil­

dung befördern, bezeichnet.

Zu verschiedenen Malen ist eS auch betont

worden, in wie hohem Maße sich dieselben durch Arbeitsamkeit und Ge­ wissenhaftigkeit im Geschäftsverkehr, die Sympathien der Einheimischen

erworben haben.

Regelmäßige Dampfverbindung besteht zwischen Vene­

zuela einerseits und Hamburg und Bremen, anderseits schon seit dem Jahre 1871.

Nächst Amerika ist Australien der von Deutschen in stätiger Niederlaffung

bewohnte Welttheil.

Die Bevölkerung

deffelben gleicht einer

Musterkarte aller Nationen auf welcher die Angelsachsen mit 90 Procent vertreten sind.

Von den Deutschen leben etwa 100,000 in den verschie­

denen Kolonien, deutsche Sprache und Sitte haben sich vornehmlich in Südaustralten erhalten, durch neu ankommenden Zuwachs wird der alte Bestand beständig aufgefrischt und auch in Queensland im Osten, wohin sich die deutsche Einwanderung in den letzten Jahren in besonderem Grade

wandte, ist daS Deutschthum erheblich erstarkt. deutschen Namen auf der Karte SüdaustralienS.

Ueberall begegnet man

Deutsche Energie und

Intelligenz hat sich auf allen Gebieten deS öffentlichen Lebens Erfolge er­ kämpft und unter den verdienstvollsten Männern, welche Australien aufzuweisen hat, befinden sich nicht wenige unserer Landsleute.

Hand in Hand

mit dem persönlichen Wirken einzelner besonderer Kapazitäten, strebt auch die deutsche Presse in dem fünften Welttheil danach nationales Gefühl zu

erhalten und zu beleben, wo eS englischen Einflüssen zu erliegen droht, sowie Im deutschen Sinne Reformen auf staatlichem Gebiet anzustreben. DaS Deutschthum Australien- charakterisirt ein Zug, welcher in jeder

Beziehung abweichend ist von demjenigen in den andern Erdcheilen.

DaS

ist der Mangel an direkten Beziehungen zwischen den dortigen Kolonien und Deutschland.

Die sehr bedeutende Stellung, welche die australischen

Niederlassungen im Welthandel einnehmen, ist in dem Reichthum deS Landes an werthvollen Rohprodukten jeder Art und dem dadurch ermög-

lichten Export derselben zu suchen. Preußische Jahrbücher. Bd. LIL

Heft 1.

5

66

Die deutsche Ansiedelung in außereuropäischen Ländern.

Diese Produkte, namentlich Wolle von welcher die englischaustraltschen Kolonien allein über 3 Millionen Gentner produziren, ferner edle und unedle Metalle, Häute u. s. w. finden fast ausschließlich in London ihren

Absatz,' so daß der dortige Markt

als der wichtigste Stapelplatz fast

sämmtlicher australischer Produkte anzusehen

ist.

Der direkte Verkehr

Australiens mit Deutschland und den andern europäischen Ländern, sowie auch mit den Vereinigten Staaten von Amerika ist dem gegenüber so ver­

schwindend, daß London zugleich auch der für den australischen Export und

Import maßgebende Geldmarkt geworden ist. Der größere Theil der deutschen Kolonisten bewohnt die Provinzen

Neu-Süd-WaleS und Victoria.

Dieselben sind hier unter der ackerbauen­

den Klaffe zahlreich vertreten, und erfreuen sich. Dank der günstigen Be­ dingungen, unter denen in Australien Land erworben werden kann, und ihrer Thätigkeit und Bedürfnißlosigkeit im Ganzen eine» glücklichen und

unabhängigen Loses. Mit wenig Erfolg haben deutsche Gewerbtreibende schon seit einiger Zeit Anstrengungen gemacht, sich auf dem australischen Markte einen Platz

zu erobern.

Der Mangel an Qualität der Waare ebenso wie die ge­

schäftliche Schwerfälligkeit und Unbeholfenheit der deutschen Häuser, sind

Faktoren die dem Handel hemmend in den Weg treten, und ihn an keiner Stelle recht aufkommen lassen.

Jmportirt werden von Deutschland in

Australien namentlich Artikel der Tuchfabrtkatton, doch hat daS Bestreben der deutschen Fabrikanten, ihre Waare durch wohlfeile- Angebot anzubringen, ohne irgend welches Bemühen zu zeigen in der Beschaffenheit

derselben mit derjenigen anderer Industrieländer zu wetteifern, den Absatz bisher sehr beeinträchtigt.

Im Verkehr mit größeren Häusern zeigten sich

die deutschen Fabrikanten ferner nicht koulant genug, paßten sie sich nicht genug den fremden VerhSltntffen an und unterlagen deshalb der Konkurrenz

anderer Länder.

Die deutsche Flagge war mit durchschnittlich 30 Kauf-

fahrtetfahrern In den beiden Haupthäfen Sidney und Melbourne vertreten. In Asien

fehlt daS Element der

stark besetzten deutschen Nieder-

laffungen, wie sie in Amerika und Australien theils als selbständige An­ siedlungen, theils als Mitglieder größerer Gemeinden angetroffen werden.

Nur in Syrien existiren in den sogenannten Tempelgemeinden Genoffen­

schaften, die einen selbständigen nationalen Charakter bewahrt haben. Dafür sind deutsche Arbeit und deutsches Kapital hier auf fast alle Plätze vertheUt, welche, sei eS durch zugängliche Lage, sei eS durch den nachträg­

lichen Ertragretchthum oder den Gewerbefleiß der Bevölkerung, zu Mittel­ punkten des Well- und des Lokalverkehrs geworden und durch tausend Fäden mit der Kulturwelt Europas verbunden sind.

Die deutsche Ansiedelung in außereuro^Lisch« Andern.

67

Die Wohnstätten der deutschen Tempelgemetnden in Syrien bilden die

Küstenstädte Jaffa, Kaifa, Beyrut und deren Umgebungen.

Die

Gesammtzahl der Palästina bewohnenden Deutschen beläuft sich circa auf 900 Personen.

Hiervon kommen auf Kaifa etwa- über 400, etwa» über

200 auf Jaffa 130 auf Sarona und

Jerusalem und Umgegend.

etwa» über 130 Kolonisten auf

Die Mitglieder dieser Tempelkolonien ver­

folgen vorzugsweise religiöse Ziele und setzen ihren geistigen Bestrebungen alle übrigen Interessen hintenan. Ihre Erwerb-zweige bestehen in Ackerbau

und Weinbau, während ihre industrielle Thätigkeit durch den Mangel an Kapitalien beschränkt ist, und außer den gewöhnlichen Handwerken, na­

mentlich im Baugewerk nur wenige etwa» bedeutende Geschäfte umfaßt, unter denen namentlich einige Schneidemühlen den ersten Platz einnehmen.

Unter den in Syrien speziell in Beyrut lebenden Deutschen befinden sich nur einige 30 der Tempelgenoffenschaft angehörige Personen, während alle

übrigen Reich-angehörige Kaufleute oder Gewerbtreibende sind, die zu den Tempelgemeinden in keiner Beziehung stehen.

Die Matrikeln de- Con-

sulate- wiesen im Jahre 1877 253 Personen nach, von denen 90 Reich-angehörige und 193 Schutzgenossen waren.

Handel-interessen spielen bei

den Mitgliedern der Tempelgemeinden nur eine Nebenrolle.

Die» trifft

insbesondere für Jaffa zu — die Kolonisten in Sarona die sich mit Ackerbau und Weinkultur beschäftigen, erzielte bis jetzt keine nennenswerthen

Erfolge, Kaifa hingegen hat günstigere Resultate aufzuweisen; eine Oliven­

seifenfabrik setzte für 10,000 Mark, eine Dreherei, die aus Olivenholz

Sachen schnitzt für 6000 Mark Waaren in einem der letzten Jahre ab,

allein auch in Kaifa ist die große Mehrzahl der Kolonisten auf Acker« und Weinbau angewiesen, und dieselben haben nach ihrer Angabe in neuerer

Zeit viel Verluste aufzuweisen gehabt.

WaS speziell die Verhältnisse der

kaufmännischen deutschen Firmen in Beyrut anbelangt, so sind dieselben

relativ günstig zu nennen, doch leiden alle mehr oder weniger unter der

Ungunst der Zeit.

Läßt sich bei den unvollkommenen syrischen ZollamtS-

verhältniffen auch nicht genau angeben, welchen Umsatz Deutschland jährlich erreicht, so kann man doch den Gesammtwerth der jährlich auS Drusch« land nach Syrien importirten Waaren auf 6—7 Millionen Mark an­

nehmen.

Leider ist in Syrien wie auch an anderen Stellen die Thatsache

zu konstatiren, daß der deutsche Handel in den letzten Jahren in beständiger

Abnahme geblieben ist und einen nicht geringen Theil seiner früheren Erträge

an England und Frankreich abgegeben hat.

Augenblicklich sind die Be­

ziehungen zwischen Deutschland und Syrien auf einen so bescheidenen Verkehr herabgesunken, daß die deutschen Kaufleute gezwungen sind für diesen Aus­

fall in der gesteigerten Einfuhr fremder Fabrikate einen Ersatz zu suchen.

68

Die deutsche Ansiedelung in außereuropäischen Ländern.

Trägt auch die Verwirrung im Orient und die dort herrschende all­ gemeine Rechtsunsicherheit unstreitig einen Theil an dieser Lage der Dinge, so ist doch der Rückgang der deutschen Industrie die hauptsächliche Veranlassung derselben. BiS vor wenig Jahren noch besaß die Industrie Schlesiens, Sachsens und Rheinpreußens in Syrien das Monopol in wollenen Geweben; jetzt dagegen stellt Oesterreich das weitaus stärkste Kontingent zum syrischen Tuchhandel. Ebenso deckten bisher die Plätze Remscheid, Solingen, Iserlohn fast ausschließlich den Bedarf Syrien- an Eisen und Stahlwaaren. Gegenwärtig verdrängt da- französische dadeutsche Fabrikat, welche- so lange jede Konkurrenz ferngehalten hat. Ist auch in einigen Zweigen der deutschen Gewerbethätigkeit eine gewisse Ueberlegenhett noch jetzt nicht abzusprechen, so wird doch ihre Konkurrenz, fähigkelt anderseits durch das Fehlen jeder direkten Dampfschiffsverbin­ dung sowie durch theüre Bahnfracht beeinträchtigt. Alle dem deutschen Exporthandel nach der Levante hin zu Gebote stehenden Verkehrswege über Triest, Venedig, Marseille, Antwerpen sind in dem Vergleich zu den Transportmitteln anderer Länder mangelhaft und der deutschen Industrie schädigend, und dieser Mangel ist gewiß ein Hauptfaktor in den Ursachen der Verkümmerung, welcher die deutschen Handelsverbindungen auf den syrischen Märkten anheim gefallen sind. Im englisch-indischen Kaiserreich umschließen einige der größeren Hafenplätze, namentlich Bombay, Madras, und Kalkutta, kleine deutsche Kolonien in der Zahl von 20 bi- 30 Individuen von denen der größere Theil Angestellte in englischen Häusern sind. Auch Ceylon, wo ungefähr 80 Deutsche wohnen, die theil- alKaffeepflanzer, theil- in den Komtoiren englischer und einiger deutscher Firmen thätig sind, hat da- Deutschthum dadurch an Boden verloren, daß der Hauptbeförderer de- Liberischen Kaffee-, welcher ein Reich-angehöriger war jüngst durch den Tod seinen von Erfolg gekrönten Bestrebungen zur Verpflanzung dieser Frucht zu früh entrissen worden ist. In Htnterindien ist die Hauptstadt von Siam, Bangkok zwar nicht al- Sitz einer größeren deutschen Niederlassung zu bezeichnen, doch ist dasselbe dadurch immerhin bedeutend für den Handel in Ostasien geworden, daß deutsche Schiffe die Vermittler de- Verkehr- geworden sind, der sich zwischen diesem Reich und holländisch Indien entwickelt hat. Da- überseeische Importgeschäft in Bangkok ist fast monopolisirt von den Engländern und auch die Ansicht verbreitet, daß die englischen Fa­ brikate besser und solider seien al- die deutschen, weshalb die Siamesen e- auch vorziehen, ihre Bestellungen und Aufträge nach England hin zu ertheilen; dennoch hat sich in Deutschland ein Absatzgebiet für Kurzwaaren,

Quincatllerten, Luxusgegenstände in Korb,

Steingut,

Bronze,

Glas,

Leder, plattirten und Achalwaaren, Parfümerien, Tapeten,-Stahl und Etsensachen, Papier in bunter Manntchfaltigkeit und Auswahl zu erhalten

gewußt.

Namentlich ist die Hamburger Rhederei an der Einfuhr nach

Siam betheiligt.

In den letzten Jahren entsandte dieselbe durchschnittlich

einige sechzig Fahrzeuge dorthin, von denen einige vierzig Barkschiffe

waren. Von größerer Bedeutung als

der vorstehend

benannte Platz

ist

Singapore für Deutschland, jene große maritime Karavanserei, welche

man auch wohl als das Alexandria des Ostens bezeichnet hat, und über dessen QuaiS und durch dessen Docks der ganze Waaren- und Produkten­

reichthum der malahischen, indischen, britischen und chinesischen HandelSwelt zieht. Singapore ist im wahren Sinne des Wortes eine kommerzielle Hauptstadt für die Regionen Hinterindiens, welche für den indischen

Archipelagus die Eingangs- und AuSgangSpforte, und ein großes Sammel­

Die schon angedeuteten vielfachen Beziehungen dieses Em­

becken bildet.

poriums haben dasselbe zu einer Hauptelappe in dem Verkehr Deutsch­ lands mit China gemacht. Namentlich hat Hamburg hier eine seiner Hauptstationen in Ostasien, und Hamburger vertreten deshalb auch daselbst numerisch am stärksten das Deutsche Reich.

Singapore sah in den letzten Jahren etwa 250, (davon

75 Dampfer) deutsche Kauffartheifahrer in seinem Hafen, welche englische

Steinkohlen, Stückgüter, Glas, Galanterie und Kurzwaaren von Hamburg,

Reis von Bangkok und Sargon, Thee und Seide aus China Perlmutter­

schalen aus dem Sulu-Archipel und Produkte des Malahischen Archipels brachten, resp, nach Europa und Amerika verschifften.

In China ruht der Schwerpunkt der Beziehungen zwischen Deutschen und Chinesen auf der nicht unbedeutenden Theilnahme der deutschen Flagge an der Küstenschifffahrt und auf dem auS amtlichen Aufstellungen nicht

gut zu ersehenden ansehnlichen Antheil deutscher Arbeitskraft und

deut­

schen Kapitals im Weltverkehr Chinas mit nichtdeutschen Ländern, insbe­ sondere mit England, den'Bereinigten Staaten von Nordamerika und

Frankreich.

Verschwindend klein in den Dangzehäfen ist die deutsche

Handelsbetheiligung verhältnißmäßig unbedeutend an den größeren Plätzen, welche als die Mittelpunkte des Ein- und Ausfuhrhandels bezeichnet werden können; nicht unerheblich dagegen, d. h. zwischen 13 und 32 Prozent de-

GefammthandelS betragend, in denjenigen Häfen, welche als AuS- und Eingangspunkte für den Küstenverkehr angesehen werden können, und in

denen die Segelschifffahrt immer noch eine Rolle spielt. - So nimmt z. B.

Die deutsche Ansiedelung in außereuropäischen Ländern.

70

in Canton und Hongkong die Sabotage mit Stapelartikeln in steigendem Maße deutsche Firmen in Anspruch, während da» überseeische Geschäft in englischen und amerikanischen Händen bleibt.

An dem ersten Platz (Canton)

verkehrten 1877 z. B. 46 deutsche Schiffe. Von denselben waren 19 Dampfer

und 27 Segelschiffe; bi» auf 10 nach überseeischen Häfen entsandte Fahr­ Der Hauptantheil an

zeuge dienten diese sämmtlich der Küstenschifffahrt.

der Dampfschifffahrt fällt einigen Hamburger Firmen zu, welche mit ihren

Verkehrsmitteln die Verbindung mit Kanton Shanghai, Wuhu, Saigon und

kleineren chinesischen

Häfen unterhalten.

leben

In Canton

40 Reich-angehörige, und sind 5 Firmen etablirt.

etwa

Hongkong von wo au»

1877 12 Dampfer und 90 Segelschiffe unter deutscher Flagge theil» den Dienst an der Küste versehen, theil» zwischen den in den angrenzenden Meeren liegenden Inseln mit Güterfracht fuhren,

und wo da» deutsche

Speditionsgeschäft einen günstigen Boden gesunden, hat neuerdings durch das Sinken der Frachtpreise Einbuße erlitten.

Dieser Umstand erklärt

sich aus der täglich steigenden Konkurrenz, welche die chinesische Schifffahrt den fremden Flaggen macht.

Wie sehr die Zahl der Küstendampfer zu­

nimmt, geht z. B. darau» hervor, daß 1873 344 Schiffe, 1874 aber schon 890 Schiffe Fahrten unternahmen.

So ist die deutsche Schifffahrt in den

Gewäffern China- allmälig schon etwa» überflügelt worden, obgleich ihrer

Konkurrenzfähigkeit sehr zu Statten kam, daß sich deutsche Schiffsführer

bei den Chinesen

mehr beliebt gemacht haben,

al- diejenigen

anderer

Völker. — Al- die vornehmlichsten Sitze wo deutsche Jntereffen ihre Aus­

breitung in China gefunden haben, dürfen Tientsin und Amoy bezeichnet werden. — Shangai mit einer deutschen Kolonie von etwa 200 Personen,

26 kaufmännischen Firmen, 10 Versicherungsgesellschaften zur See ist wohl der Mittelpunkt für die merkantilen Beziehungen, die zwischen dem Reich und China

bestehen,

der Antheil der deutschen Firmen

an fast

Zweigen des Importgeschäfte» daselbst ist ein sehr erheblicher. beschränken sich nicht nur

bringen auch englische,

allen

Dieselben

auf die Einfuhr deutscher Produkte, sondern

französische, belgische Produkte auf den Markt.

Ein Hauptabsatzartikel für den deutschen Handel sind Waffen, welche von

der Filiale eine» rheinischen Hause» auf den Markt gebracht werden.

In

dem Hafen von Shangai verkehrten in den letzten Jahren durchschnittlich 180—190 deutsche Fahrzeuge, von denen die eine Hälfte Segelschiffe, die

andere Dampfschiffe waren.

Amoh woselbst 40 Deutsche leben und drei

deutsche Handelshäuser bestehen, wurde in den letzten Jahren von etwa 108 Schiffen

eigener Nationalität besucht;

auch

hier wo

die deutsche

Schifffahrt ebenfalls dem Interesse des Küstenhandels dient, ist in letzterer Zeit eine fühlbare Verminderung der Frequenz eingetreten, dagegen ist

der ersteren ein neues und lohnende- Feld der Thätigkeit in der An­ bahnung von Beziehungen nach den Häfen Formosa'- hin eröffnet worden. In Amoh ist, wie in Kanton, da- Zurückgehen der Frachten von den dentschen Schiff-häfen sehr empfunden worden. Die Dampfschifffahrt strebt darnach Mit der Zeit den ganzen chinesischen Handel zu monopolisiren. In den letzten Jahren hat dieselbe auch den größten Theil der Waaren und Passagierbeförderung nach Brilisch-Ostindten und Cochinchina an sich gezogen, und nur noch Formosa und die nördlichen Häfen China-, sowie Java, Siam und Japan gewähren den Segelschiffen einen mehr oder minder konkurrenzfreien, die Kosten deckenden Erwerb. — Tlentsien, wo 23 Deutsche wohnen und 3 Firmen begründet sind, ist da- Centrum de« Handel- für Nordchina. Von Tlentsien hat sich die deutsche Segel­ schifffahrt in Folge der sehr niedrigen Frachten neuerdings etwas zurück­ gezogen. Nur 39 Fahrzeuge, zum größten Theil konsigntrt an chinesische Firmen, verkehrten daselbst; nach dem Tonnengehalt repräsentirte dies eine Bethellignng der deutschen Flagge mit etwa 30 Procent an der Segelschifffahrt. Das kaufmännische Geschäft beschränkte sich auf die Ein­ fuhr von Nähnadeln, Rohmettallen, Metallknöpfen, Fensterglas, Farben, Zündhölzern, Uhren, die In Tlentsien einen Markt für die benachbarten Provinzen des Binnenlandes finden. Einträglicher für das deutsche kaufmännische Geschäft war die Be­ theiligung an dem Export von thierischen Produkten der Mongolei, die In Tlentsien ihren HauptauSgangSpunkt haben. Dieser Produktenhandel ist noch einer großen Erweiterung fähig, und namentlich dürfte die Kameelwolle, deren Quantität sich In neuerer Zeit verdreifacht hat zu einem Stapelartikel TientsienS werden. Von den größeren, im Verkehr mit der Außenwelt stehenden Häfen und Küstenplätzen Chinas, zählt Swatan etwa 30 und Schefoo 24 Reichsangehörige unter feinen Ein­ wohnern. Die Gesammtzahl derselben beträgt 360, mit 45 kaufmänni­ schen Firmen. Die Zahl der in Japan lebenden Deutschen betrug in letzterer Zeit etwa 270 Personen, die daselbst etablirten deutschen Handels­ häuser bezifferten sich auf 39. Die geschäftliche Thätigkeit derselben bezog sich in der Hauptsache auf den Import von Tuchstoffen (meist militärischer Bekleidung) und daneben auch auf den von Farbenwaaren (Anilin, Ber­ liner Blau, Ultramarin) medizinischen Präparaten und eine Menge klei­ nerer Jndustrieartikel wie alle Art Leibwäsche, und Unterkleider, Metall­ knöpfe, Seifen, Parfümerien, Papier, Lederwaaren, Scheeren, Spiegel, Glaöwaaren, Bleistifte, Nägel u. s. w., auch Waffenfabrikate wurden von den deutschen Häusern für die japanische Regierung geliefert. In neuster Zeit ist der Absatz deutscher Jndustrieprodukte etwas zurückgegangen.

72

Die deutsche Ansiedelung in außereuropäischen Andern.

Dieser Rückgang hatte seinen Grund allerdings theilwelse in der liebet« füllung deS Marktes mit den betreffenden Artikeln, wie z. B. Tuchstoffen, noch mehr aber in den schlechten, unreellen Lieferungen, welche sich in allerneuster Zeit in Bezug auf Wollstoffe etwa- gebessert haben, wodurch dann wieder größere Aufnahme für dieselben erlangt worden ist. Ein anderer wichtiger Faktor, der dem deutschen Handel In Japan immer noch einen merklichen Abbruch thut, ist die ungleich größere Schnelligkeit, mit welcher von England und Frankreich aus die Aufträge ausgeführt werden. Der Hauptgrund indeß, warum der vaterländische Gewerbfleiß sich noch keine festen Märkte in Japan erobert hat, liegt wohl immer darin, daß die Leistungen der deutschen Industrie entweder zu sehr hinter denen der anderen konkurrirenden Länder zurückstehen, oder daß sie sich den lokalen Bedürfnissen der ausländischen Märkte nicht anzupassen verstanden haben. Nicht Mangel an Solidität der GeschäftSprinzipien, noch fehlende Umsicht und Rührigkeit, tragen die Schuld daran, daß die Vertreter des deutschen HandelSstandrS auf diesen Märkten OstasienS keine besonders geistigen Erfolge aufzuwetsen haben, sondern vielmehr der Mangel an Geschick und Neigung etwaige Unzulänglichkeiten des Geschäftsverkehrs mit der Heimath, durch besondere Opfer oder Anstrengungen ihrerseits auszugleichen. Die Ausfuhr, welche von den deutschen Häusern den deutschen Märkten zuge« führt wurde, war namentlich in letzter Zeit ansehnlich In Lackwaaren, von einem gewissen Nutzwerth (Thee-, Handschuh-, Kartenkasten, Brod- und Messerkörbe, Schaaken zu Geräth rc.) die auS der japanischen Provinz Aids» kommen. Auch in den beiden Hauptstädten Tokio und Dokohama hat zwar die Fabrikation von Lacksachen in der letzten Zeit wesentlich zu­ genommen, wegen der viel höheren Preise aber hat die daselbst ange­ fertigte Waare in Deutschland weit geringeren Absatz gefunden. Der Unterschied zwischen den beiden, von den deutschen Händlern sehr in daS Auge gefaßten Industrien besteht darin, daß In Aidsu der Lack direkt auf das Holz aufgetragen wird, während man in Tokio und Dokohama das Holz erst mit Gips überzieht, und auf dieser Fläche die Bearbeitung vor­ nimmt. Den Schifffahrtöverkehr mit Deutschland vermitteln in Dokohama 24 Schiffe, die ihrer HeimathSangehörigkeit nach aus der Provinz SchleswigHolstein, Hamburg und auS Bremen herstammten; aus Hiogo-Osaka liefen 13 deutsche Fahrzeuge auS und 15 ein. Diese Zahlen zeigen bei den beiden Plätzen eine Vermehrung der Frequenz im Vergleich zu den Vor­ jahren. Der Umstand, daß die japanische Regierung während der Satzumarevolution alle disponiblen Dampfer zu Transportzwecken mit Beschlag belegte, gab der deutschen Segelschifffahrt Gelegenheit, dem Küstenhandel dienstbar zu sein. — Die Nachfrage, deren sich die deutschen Schiffer bet

dieser Gelegenheit erfreuten, ließ erkennen, daß die japanischen Verschiffer, wenn sie sich Schiffe fremder Nationalität zu bedienen genöthigt sind, die

deutsche Flagge bevorzugen. muthung zu erwecken,

Diese Wahrnehmung ist geeignet, die Ver­

daß sich der deutschen Rhederei in Japan, wenn

mit der Zeit noch einige Häfen der Ost- und Westküste, in denen na»

inentlich Reis zur Verschiffung kommt, dem fremden Handel erschließen

werden, ein lohnende- Feld der Thätigkeit darbieten könnte. Von dem ostasiatischen Kulturstaat Japan wendet sich der Blick den

Eilanden der Südsee zu, um auch der auf jener in Abgeschiedenheit ver­ senkten Inselwelt lebenden Stammeögenoffen zu gedenken. ES ist hinlänglich bekannt, wie inmitten dieser, durch eine ungeheure

Entfernung von der Welt getrennten Gruppen von kleinen Kontinenten

ein Kulturwerk entstanden ist, das dem deutschen Namen zur Zierde gereicht, und in rühmlicher Weise Zeugniß ablegt von dem Unternehmungssinn, der Thatkraft,

Ausdauer, Betriebsamkeit und Intelligenz deö deutschen

Seefahrers wie des deutschen Kaufmanns. Ist auch der Charakter, den die hier entstandenen Niederlassungen

tragen, fast ausschließlich der von kaufmännischen und Handelsfaktoreien,

so zeigt die jüngst erfolgte Errichtung eines Berufskonsulats daselbst doch den Werth und die Bedeutung, welche denselben in politischer und wirth-

schaftlicher Beziehung beiwohnt.

Durch die mit den beiden Regierungen

von Tonga-Samoa abgeschloffenen Verträge, vermöge deren die völker­ rechtlichen Beziehungen Deutschlands zu jenem Archipel geregelt worden

sind, ist nunmehr der Ausbreitung und Befestigung Deutschlands daselbst

ein fester Boden gegeben worden, auf welchem daffelbe feine kulturellen Bestrebungen ungehindert weiter verfolgen, und dadurch dem überseeischen kaufmännischen Geschäft neue Quellen des Erwerbes, und dem nationalen

Wohlstand neue Mittel und Wege des Gewinnes eröffnen kann. Zu den, diese neue Stätte des deutschen AnsiedlerthumS bildenden JnsAgebieten, zunächst im Allgemeinen übergehend, ist hervorzuheben, daß

der Hauptartikel deS natürlichen Reichthums um den sich das ganze Er­ werbsleben und die Kulturthätigkeit dort dreht, die Kokospalme ist.

Wie bedeutend die Kultur und der Ertrag dieses BaumeS ist, erhellt daraus, daß von den verschiedenen australischen Inselgruppen im Jahre 1878 allein von deutschen Häusern 244,791 Centner Kopra (der getrocknete und

in Stücke geschnittene Kern der Frucht) im Werthe von 4896,000 Mark

nach Europa verladen wurden.

Den Werth und die Bedeutung der

übrigen Produkte ersieht man aus den nachstehenden Ziffern des deutschen

Exporthandels welche angeben: 11,000 Ctr. Baumwolle im Werthe von

1,108,000 Mark, 16,300 Ctr. Candlenüffe im Werthe von 244,000 Mark,

74

Die deutsche Ansiedelung in außereuropäischen Ländern.

232 Ctr. KokoSgarn im Werthe von 6000 Mark, 4250 Ctr. Perlschalen

im Werthe von 638,000 M., 9 Ctr. Schildpatt im Werthe von 14,000 M.

Die GesammtauSfuhr nach Europa

belief

deutscher Häuser während de- Jähre- 1878

sich auf 7 Millionen Mark.

Der Mittelpunkt der

deutschen Niederlassungen und de- ganzen Handel- in der Südsee ist die

Samoagruppe.

In Folge ihrer geographischen Lage ein centrale- Glied

Polynesien- bildend,

liegt sie auf dem Wege der Schiffe,

die

von San

Francisco nach Neu Seeland, von Panama nach Sydney, von Valparaiso

nach China-Japan gehen, dabei außerhalb der Orkanregton, und zeichnet sich durch Produktion-fähigkeit und natürlichen Reichthum au-.

Die Hauptstadt Apia,

auf der Insel Upola gelegen, ist daher die

Stätte, in welcher sich die meisten Interessen konzentriren.

Hier befindet

sich ein weiter Hafen, welcher für eine sehr -roße Zahl von Schiffen alle

Bequemlichkeiten bietet.

Hier operirt auch die

Plantagengesellschaft der Südseeinseln"

welche auf der gesammten Samoagruppe

Land erworben hat.

„Deutsche Handels- und

(ein Hamburger Unternehmen), bereits

gegen 120,000 Acre-

Neben derselben giebt e» noch einige kleinere deutsche

Firmen; beide taffen eS sich angelegen sein, in «»-gedehnten, sorglich ge­ pflegten Pflanzungen die KokoSnußpalmen, ferner Baumwolle, Zuckerrohr

und Rei- zu ziehen, und demnächst zum England und Hamburg

zu verschiffen.

halten jetzt 120,000 Kokospalmenbäume,

Transport

nach

Australien,

Die deutschen Pflanzungen ent­ von denen die Hälfte ertrags­

fähig ist; jährlich werden Taufende hinzugepflanzt, um den Bestand all-

mälig auSzudehnen. nisse ist vielseitig;

Die Verwendung des BaumeS und feiner Erzeug­

die Milch der Nuß

dient den Bewohnern zum Ge­

tränk, der Kern zur Nahrung, der Stamm zum Bau und als Heizma-

terial, die Blätter zur Dachbedeckung, zu Körben und Matten, die weiche

Schale der Nuß liefert die Faser. Theestrauch zusammen.

Man pflanzt den Baum jetzt mit dem

In den ersten Jahren liefert die Theestaude ihre

Produkte, dann nach ungefähr 6 Jahren überragt sie die Palme und biese

wird dann ertragfähig.

Die volle Reife erlangt sie in 10 Jahren und

liefert auf gutem Boden 100 Nüsse im Jahr.

Der Exporthandel der deutschen Firmen auf den SamoaS befrachtet die abgehenden Schiffe außer mit den schon genannten Artikeln noch mit Kokosöl, b6che de mer und einigen Gewürzen.

In guten Jahren be­

zifferten sich die bisher von den beiden hervorragendsten deutschen Häusern

von den Samoaplantagen ausgeführten Kopra auf 5500 Tons.

Nach

einer Angabe belief sich das im letzten Jahre von Deutschen exporttrte

Quantum

Baumwolle auf

1,700,000 Pfund;

durchschnittlich

geht ein

Drittel derselben nach England über die Kolonien, und zwei Drittel der

sämmtlichen Produkte nach Hamburg.

Die Baumwollstaude wird gleich-

zeilig mit der KokoSnußpalme gepflanzt und liefert reichliche Ernte.

Der

Baumwollstrauch wächst schnell und liefert ein Produkt von schöner schnee­ weißer Qualität.

und erfordert

Er liefert zwei Ernten im Jahre,

regelrechter Cultur nur wenig Arbeit.

bei

Ein Acre produzirt 500 Pfund

jährlich. Die Einfuhr von Deutschland, in Manufakturwaaren, Kurz- und Galanteriewaaren,

Waffen,

Munition, Chemikalien, Droguen, Taback,

Holz, Baumaterial, Lebensmitteln bestehend,

kommt von den englischen

Kolonien, Hamburg und Liverpool, doch ist eS schwer den Werth der Im­

porte festzustellen. Den von ungefähr 50 Deutschen bewohnten Samoainseln, in Bezug auf Produktion-fähigkeit und Ertragreichthum, sowie

auf

Kultur- und

BerkehrSverhältniffe in vieler Beziehung gleichstehend, aber in räumlicher

Bedeutung

sie

nicht erreichend sind die Tongainseln,

deutschen Anbaue- und

deutscher

Arbeitsamkeit

ein zweite- Feld

geworden.

WaS

dem

Deutschthum hier ganz besonder- zu Statten kommt, ist die Hinneigung,

welche die Regierung von Tonga mehrfach dem Reiche gegenüber gezeigt hat.

Dieser Umstand

ist deshalb nicht ohne Bedeutung, weil der ge­

nannte Staat die beste Organisation besitzt und nur in dem hohen Alter

des dort regierenden Souverän» und der sich bereit- ankündlgenden Erbfolgeschwiertgkeiten eine Gefahr liegt.

Der Ausbreitung

des Deutschthum»

auf den Inseln der Südsee

haben die deutschen Pflanzer und Ansiedler auf der Samoa- und Tonga­

großen Borschub

gruppe dadurch

geleistet, daß sie die ihnen sehr man­

gelnden Arbeitskräfte au» den Bewohnern der nördlichen Jnselrethen de» großen australischen Archipel», insbesondere der Marshall'S-, Kingsmill-,

Salomons-, Duke of Aork-Jnseln, welche einen Ueberschuß an Menschen

haben und in Folge deffen bisweilen von HungerSnoth heimgesucht sind,

rekrutirten und die engagirten Arbeiter nach den erstgenannten Eilanden

hinüberführten.

Die Bevölkerungen der kleinen Inselgruppen deS Süd­

seearchipels gingen stets gern auf das ihnen gemachte Anerbieten ein und pünktliche Einhaltung der

übernommenen Verpflichtungen, sowie Fern­

haltung von jeder Bedrückung und Einschränkung und von aller entwür­

den deutschen Unternehmern

digenden Behandlung,

sicherten

solche- Zutrauen,

dergleichen Arbeitskontrakte

daß

bald ein

in - Polynesien

jetzt

häufig vorkommend geworden sind. Um zu verhindern, daß diese, dem Aufschwung und der Förderung

der vaterländischen Jntereffen sehr'werthvolle Hilfsquelle» bietenden Be­

völkerungsbezirke, dem deutschen Ansiedlerthum verloren gehen, haben die

76

Die deutsche Ansiedelung in außereuropäischen Ländern.

Vertreter des Reichs in jenen Ländern da, wo schon eine gewisse Civili­

sation vorhanden war, mit den Regierungen FreundfchaftSverträge abge­ schlossen, und wo dies nicht der Fall, Kohlenstationen und Depotpunkte

käuflich erworben, um durch diese Schritte der deutschen Regierung die

Mittel an die Hand zu geben, einem Ausschluß oder Beschränkung der Benutzung dieser Gebiete von apderer Seite zuvorzukommen.

So wurden

auf dem Duke of Jork-Inseln die Häfen Makada und Mioko käuflich

erworben und in Jaluit eine Kohlenstation eingerichtet.

Ganz neuerdings ist der Abschluß ähnlicher Verträge auf die ostpo­ lynesischen Inselgruppen ausgedehnt, und zunächst das Augenmerk auf die Anknüpfung diplomatischer Verbindungen mit den Cook-Austral (Tubaiai)

und denselben zunächst liegenden Inseln gerichtet worden.

Dank diesen

Umständen ist der deutsche Einfluß und die deutsche Machtstellung im Be­ griff im südlichen Theile des ArchipalS ganz aus sich selbst heraus an

Boden zu gewinnen und immer festeren.Fuß zu fassen.

Apia ist jetzt eine deutsche Flottenstation und der Sitz eines Berufs­ konsulates, welches dort errichtet worden ist, um den Hamburger Handels­ verbindungen kräftigen Schutz zu leihen, und eine nach einheitlichen Ge­ sichtspunkten geleitete Vertretung ihrer Interessen zu gewähren.

Als mit

den eben genannten kaufmännischen Unternehmungen in Zusammenhang stehend ist noch der kommerziellen Station deS Hauses Godefroy auf Tahiti (Gesellschaftsinseln) zu gedenken, welche die mehr nach den östlichen

Theilen deS Stillen Oceans gehenden Beziehungen wahrzunehmen hat,

und den Handel der dort gelegenen Inselgruppen ebenso beherrscht als daS Etablissement zu Apia die westlichen Reviere. Die ganz in der nordamerikanischen Machtregion liegenden Hawai

oder Sandwich Inseln sind seit einiger Zeit ebenfalls zu einer Station des überseeischen deutschen Handels geworden. In Honululu, dem Haupthafenplatz derselben bestehen drei deutsche

Häuser, welche Import, Export und Kommissionsgeschäfte betreiben und unter hawaischer Flagge zwischen Bremen und Honululu fahren lassen.

Die deutsche Kolonie ist etwa 120 Personen stark und gehört, soweit sie nicht in den genannten Handelshäusern angestellt ist, meist dem Hand­

werkerstande an.

Außerhalb der Hauptstadt befinden

sich

etwa

noch

70 — 80 Deutsche, die als Plantagenbesitzer, Viehzüchter und Landwirthe

ebenfalls ein Vermögen erworben haben. Bis vor kurzer Zeit machte sich der Mangel eines Handelsvertrages

zwischen dem deutschen Reiche und der Inseln sehr fühlbar, da die Re­ gierung der letzteren einen Zoll von 25 Procent auf deutsche Leinen und

Seidenwaaren, Kleidungsstücke und ähnliches erhob, die auch nach dem

Eintreffey der Nachricht über die Zollerhöhung bei den hawaiischen Kon­

sulaten in Deutschland verschifft worden waren.

Dieser Uebelstand, sowie

auch die aus dem Handelsvertrag zwischen den Vereinigten Staaten und

Hawaii sich ergebenden Benachtheiligungen der deutschen Ein- und Aus­

fuhr, werden durch die nunmehr zum Abschluß

gelangte Uebereinkunft

zwischen dem Deutschen Reich und Hawaii ihre Erledigung finden, zumal

der Bedarf des dortigen Marktes an allen Arten

von Produkten und

Manufakten in letzter Zeit beträchtlich zugenommen hat.

Wie auf den Inselgruppen Polynesiens, so bleibt indeß auch hier der Mangel an Arbeitskräften ein Hinderniß, welches dem noch schnelleren Aufblühen des unter so glücklichen klimatischen und Bodensverhältnissen

liegenden Gebietes von Hawaii entgegensteht. Die in geringem Maße entwickelte Cultur-politischen und sozialen

Verkehrsverhältnisse Afrikas haben zusammengewirkt, um die deutsche An­ siedlung von diesem Welttheil fern zu halten.

Nur in den Gestadeländern, deren Küsten das Becken des MittelmeereS im Süden umsäumen, giebt es einzelne Punkte, welche theils durch

ihre Weltlage, theils wegen deS an ihnen stattfindenden internationalen

Verkehrs, theils weil sie große EntrepotS und Lagerstätten darstellen, deutsche Elemente angezogen haben. ES sind dies in der Hauptsache Alexandrien und Cairo, jenes der

Knotenpunkt des großen internationalen Verkehrs, wo zwei verschiedene Kultursphären einander berühren und wo die Erzeugnisse und. Fabrikate

derselben in geschäftiger Hast ausgetauscht werden, dieses wegen der Vor­ züge die es als klimatischer Kurort besitzt, und in diesem Sinne häufig

kleine deutsche Kolonien in seinen Mauern sehend.

An anderen Stellen hat sich die deutsche Niederlassung in dem hier genannten Sinne auf Afrikas Boden keine dauernde Stätte gegründet.

Drei Stufen in der Welterkenntniß. Von

Edmund von Lüdinghausen-Wolff.

Es giebt in der Weltbetrachtung drei Stufen.

Auf jeder derselben

stellt sich uns der Weltinhalt als ein anderer dar. Die unterste und ursprüngliche ist die naiv-sinnliche, oder rein empi­ rische Weltbetrachtung, wie wir sie bei der großen Menge finden.

Die

nächsthöhere, zweite Stufe ist die der physikalischen Weltbetrachtung, wie

wir sie bei den heutigen Physikern und den, nicht bloß experimentirenden,

sondern auch denkenden Naturforschern antreffen.

Die dritte endlich und

höchste Stufe ist die philosophische Weltbetrachtung, zu welcher sich das

Denken in der kritischen Philosophie emporgeschwungen hat. Auf der ersten Stufe wird die Welt als dasjenige angesehen, ckls

was sie uns erscheint.

Sie besteht darnach aus Stoff, dem auf ganz ge-

heimnißvolle Weise gewisse Kräfte innewohnen, oder anhaften und der

sich in stetiger Ausdehnung in mannigfaltigsten Gestaltungen ausbreitet. Dieser Stoff ist hier noch außerdem mit den mannigfachsten Eigenschaften

begabt, wie z. B. eine Farbe zu haben, weich, hart, warm oder kalt zu

sein, irgend einen Geschmack zu haben, oder tönen zu können.

Kurz, alles

in der Welt, wie es sich vielfarbig und gestaltenreich vor unseren Sinnen

auSbreitet und unser poetisches Gefühl entzückt, ist auf dieser Stufe der Weltbetrachtung, identisch mit der realen, auch an sich, ohne einen an­

schauenden Intellekt vorhandenen Welt, wie sie ein gütiger Schöpfer in'S Dasein gerufen hat und wie sie auch ebenso vorhanden wäre, wenn eS

auch kein Auge gebe, das sie sehe, keine Hand, die sie fühlte, kein Ohr, daS sie vernehme und kein dankbares Gemüth, das sich ihrer erfreute. Der praktische Verstand fühlt sich in dieser Weltauffassung befriedigt, der Poet findet findet in ihr den Stoff zu seinen gefälligen Träumereien,

aber für den tiefer Denkenden und nach Wahrheit forschenden Verstand

löst sich eine solche Welt immer mehr und mehr auf in eine Welt der

Erscheinung, eine Welt, deren ganzes Gewand, darin sie uns entgegen­ tritt, nur ein Gewebe subjectiv physischer Reactionen ist.

Die Welt, wie wir sie sehen und anschauen, büßt nicht nur, bet einem jeden Schritt, mit welchem die Erkenntniß weiter hineindringt, ein Stück

nach dem anderen von ihrer schönen Gewandung ein, nein, noch mehr, sie

muß vor derselben,

Schritt vor Schritt, wie ein Nebelbild entweichen.

Der Prachtbau der von uns geschauten Außenwelt, er wird immer mehr und mehr zu einer Welt, wie sie sich nur in einem sehenden Auge, in

einer fühlenden Hand und in einem denkenden Verstände darstellt.

Die

Außenwelt löst sich immer mehr und mehr in eine Innenwelt von Em­

pfindungen, Vorstellungen und Gedanken auf.

Schon, wenn wir uns auf die zweite Stufe der Weltbetrachtung, auf den Boden der physikalischen Erforschung stellen, so ist der Blick, der sich

uns hier eröffnet, ein gänzlich verschiedener von dem auf der ersten Stufe: Fast alles, was sich uns dort darbot, ist hier entschwunden, und waS wir

hier schauen ist von ganz anderer Art.

Dort stellte sich uns Alles in Farben und als Stoff dar.

Der ge­

färbte, seinen Raum stetig erfüllende Stoff bildet dort den ausschließlichen Inhalt des empirischen WeltbaueS. Sehen wir nun zu, wie es mit Stoff, Licht und Farbe auf. der zweiten Stufe steht: Wie nehmen diese sich von dem Standorte des Physikers auS?

Zunächst Licht und Farbe. Hier giebt es weder Licht noch Farbe mehr. — Seitdem die Unten»

lationstheorie zur Herrschaft erhoben worden ist, ist das Licht und seine

Modificationen, die Farben, diese vornehmlichste Form in welcher die Dinge sich uns offenbaren und worin der Zauber ihrer Schönheit besteht, gänzlich aus der sogenannten Außenwelt verbannt und in das innere Ge­

biet des subjektiven Empfindens verlegt worden.

Hier giebt eS in der

Welt weder Licht, noch giebt eS Farben mehr und was da ist und an ihre Stelle tritt, ist etwas ganz anderes, nämlich: gungsbewegungen gewisser Atome.

verschiedene Schwin­

Diese Schwingungsbewegungen find,

als solche, weder hell, noch sind sie dunkel, diese Bewegungen sind weder

blau, noch sind sie roth, noch grün u. drgl. m. sondern sie sind nur ge­ schwindere oder weniger geschwinde.

Wie eS in der Welt nichts Schmer­

zendes, als solches, giebt, ebenso giebt eS auch weder Licht noch Farben

in der objectiven Welt, sondern nur in einer Licht und Farben empfinden­ den Seele.

Licht und Farben sind nichts, als subjektive EmpfindungSer-

regungey, welche, durch diese Schwingungen veranlaßt, in unserem eigenen

Gemüthe geboren werden.

Es giebt daher in der Welt weder etwa- Helle», noch etwas Dunkles, noch überhaupt irgend etwas in irgend welcher Zwischenstufe von Hell

und Dunkel; denn das Dunkle, wie eine jede Zwischenstufe zwischen Hell und Dunkel sind ebenso Gesichtsempfindungen wie die Helligkeit.

Femer

ist alles in der Welt farblo»; es kommt ihren Dingen auch nicht einmal

Auch giebt eS hier endlich weder Durchsichtiges,

das allerfahleste Grau zu.

noch Undurchsichtiges, denn Durchsichtiges hat ein Durchscheinen von Licht

und Farbe zu seiner Voraussetzung und das Undurchsichtige setzt wiederum HelleS, Dunkles, oder irgend Gefärbtes voraus.

Wenn das schöne Gewand der Farben der eigentlichen Welt auch

bliebe sie, wird man meinen dennoch dabei in

gänzlich entrissen ist, so

ihrer Nacktheit, in welcher wir sie, mit Abstrartion aller Färbung, dächten, bestehen.

Die Hauptgrundlage ihres Vorhandenseins wäre ihr immer

geblieben und diese wäre — der Stoffl

Der widerstandleistende, undurch­

dringliche, einen Raum in stetiger Ausdehnung erfüllende Stoff.

Wäre

die Welt uns auch nicht sichtbar, so bestände sie dennoch als dieselbe in

handgreiflicher Weise fort.

ES dürfte wohl auf den ersten Blick uns so scheinen, doch sehen wir

uns genauer auf dem Standorte der physikalischen Weltbetrachtung um,

so vermögen wir, so sehr wir uns auch darnach umsehen mögen, nirgends,

auch nur die geringste Spur von einem solchen Stoffe zu entdecken. Nehmen wir z. B. einen

beliebigen, von uns angeschauten Stoff­

körper, etwa eine Metallkugel.

Ist nun dasjenige, was wir hier wahr­

nehmen,, auch abgesehen von unserer Wahrnehmung, als solches, vorhan­ den? — Was. wir hier wahrnehmen ist ein einheitliches Ding,

Körper, eine Metallkugek.

ein Ding, sondern

ein

Der Physiker aber lehrt uns, hier wäre nicht

eine, zahllose Menge von Dingen da, die von ein­

ander unterschieden und

sogar -in verhältnißmäßig großen Entfernungen

von einander getrennt sind und welche Atome heißen.

Er lehrt unS, daß

das hier Vorhandene ebensowenig ein Körper, als etwa unser, in biftont

zerstreuten Weltkörpern bestehendes Sonnensystem ein Körper genannt

werden dürfte. Hier ist schon eine weite Kluft zwischen dem eigentlichen Dinge und der Anschauung von dem Dinge begründet: das eine gleicht nicht mehr dem anderen, hier, ein einheitlicher seinen Raum stetig erfüllender Körper,

dort, eine unzählige Vielheit durch Raum von einander getrennter Dinge.

Obwohl damit eine gewisse Inkongruenz zwischen dem wahrgenom­ menen Dinge und dem Dinge selbst, ausgesprochen Ist, so ist dadurch aber immer noch nicht dem Dinge der stoffliche Charakter Im Allgemeinen

abgesprochen.

ES können ja die Atome immerhin auS Stoff bestehen.

und eS wäre der Stoff damit nur aus dem einen Dinge in die vielen Dinge, in die Atome, aus denen er besteht, verlegt. Wie gewiffe Nebelgruppen am Firmamente uns als ein stetig erfüllter Körper erscheinen und sich dennoch in dem Fernrohr in eine Menge von selbständigen stoff­ lichen Körpern auflösen, ebenso möge eS sich auch mit unserer Metallkugel verhalten; wenn hier auch nicht' ein einheitlicher Körper da ist, sondern eine Vielheit gesonderter Atome, so könnten immerhin diese. Atome auS Stoff bestehen und Körper sein. Doch eS sieht der Physiker sich gemüffigt uns auch diese Täuschung zu benehmen. Er lehrt: WaS dir hier al» die einheitliche, ihren Körper stetig auSsüllende Metallkugel erscheint, besteht in Wahrheit nicht bloß auS einer Menge von gesonderten und selbständigen Dingen, sondern selbst auch diese Dinge, welche durch ihr Dasein diese Erscheinung begründen, die Atome, sind weder Stoff, noch sind sie Körper. Nach dem Bisherigen konnten nur noch allein die Atome die Re­ präsentanten der Stofflichkeit und Körperlichkeit sein. Doch auch audieser ihrer allerletzten Stellung mußte die Physik den Stoff verbannen und ihn In das Gebiet der Erscheinung verweisen. Für den Physiker giebt eS schlechthin keinen Stoff Im eigentlichen Sinne des Worte», denn die Atome, in welche sich für ihn der ganze Weltbau auflöst und die allein noch die Träger der Stofflichkeit sein könnten, die Atome, so lehrt un» die heutige Physik, sind nothwendig stofflo», erfüllen schlechthin gar keinen Raum, sind absolut auSdehnunglo» und unkörperlich (Ampöre, Cauchy, Weber, v. Dettingen und fast ausnahmslos alle neueren Physiker). Wo in der heutigen Physik, sagt Herr von Hartmann, von Atomen die Rede ist, versteht man darunter lediglich nur Kräfte und wo noch daselbst das Wort „Stoff" oder „Materie" gebraucht wird, versteht man darunter ein System stoffloser Kräfte und ein immaterielles Dynamidensystem. WaS nun endlich alle die übrigen Eigenschaften der Dinge anbetrifft, welche von ünS ausschließlich durch den Tüstsinn perctpirt werden, als die Undurchdringlichkeit und Temperatur, so fallen sie gleichfalls mit dem bisherigen in der Weltbetrachtung deS Physiker» fort. Bei der fchlechthinnigen Stoff- und Raumlosigkeit der Atome, welche allein den Weltinhalt au»machen, kann selbstverständlich ebensowenig von einer Durchdringlichkeit, wie von einer Undurchdringlichkeit die Rede sein; e» kann eben nur von einer repulsiven Kraft, die gewisse Näherung-verhältnisse auöschließt, ge­ sprochen werden. WaS aber die Temperatur schließlich anbelangt, da» heißt Wärme und Kälte, so lehrt man un», daß sie ebenso, wie da- Licht Preußische Jahrbücher. Dd. LIL Heft 1. ß

nur Empfindungen sind und, wie diese-, durch Atombewegungen veran­

laßt erst in unserer empfindenden Seele geboren werden.

Von dem phy­

sikalischen Gesichtspunkt aus, giebt es keine Wärme, als solche, in der Welt, sondern nur verschiedene SchwingungSbewegungen und diese Bewe­

gungen sind weder warm noch kalt noch lau zu nennen.

Mr sehen also, daß alles das, waS sich uns von dem Standpunkte der naiv-sinnlichen Weltbetrachtung aus, als die Welt darbot, sowohl die

Temperatur, das Licht und die Farbe, der Stoff, wie überhaupt eine jede

körperliche Erfüllung des Raume», schon auf der nächsthöheren Stufe, auf der Stufe der physikalischen Weltbetrachtung nicht nur in Frage, sondern gänzlich in Abrede gestellt wird. Hier sehen wir schon die Unterscheidung gemacht zwischen der Welt

der Erscheinung (phainomena) und einer Welt an sich (noumena).

Es

ist dieses eine hochwichtige und durchgreifende Unterscheidung, welche in

der kritischen Philosophie gemacht wurde und zu welcher die heutige Na-

turwiffenschaft, auf ganz anderen Pfaden wandelnd, sich endlich bestätigend angelangt sieht.

an

sich -alö

Auch hier sind schon Welt der Erscheinung und Welt

grundverschieden einander entgegengesetzt:

Erstere

ist

eine

empfundene und vorgestellte Welt, letztere ist gänzlich unvorstellbar und

schlechthin transscendental.

Schon sich eine Vorstellung machen zu wollen von einem Dinge, das

weder irgend Helles, noch auch irgend Dunkles, noch auch im' absolutesten Sinne etwas Gefärbtes, noch irgend einer Färbung nur AehnlicheS, weder

Durchsichtiges, noch Undurchsichtige- darböte, mißlingen.

täten.

Nun

müßte

unserer Phantasie

Dasselbe gilt von den übrigen, sogenannten primären Quali­ sollen

aber

noch die

sogenannten

sekundären Qualitäten

wegfallen, eS soll die Welt, al- lediglich in Atomen bestehend gedacht

werden und noch obendrein in Atomen, welche auSdehnungSlo- und ge­

staltlos sind und schlechthin gar keinen Raum inne haben, da ist unS auch die allerletzte Spur eines Anhaltspunktes für die Vorstellbarkeit hinweg­

gezogen:

Eine solche Welt ist nicht mehr der Gegenstand irgend eines

möglichen Vorstellens,

sondern

lediglich nur

noch

des

abstrahirenden

Denkens. Hier befindet die Physik sich an den Grenzen der Metaphysik.

die Grenze zwischen der physikalischen

Hier

und der philosophischen Weltbe­

trachtung, die einzige trennende Schwelle ist hier die Lehre vom Raume.

Je weiter in

der historischen Entwickelung der Wiffenschaften das

Licht der Erkenntniß in die Welt eingedrungen ist, um so weiter sehen wir auch immer den Raum zurückweichen.

Auch die Physik vermag ihn

jetzt nur noch als einen leeren Hintergrund für ihre Atome zu behaupten

— ich sage ein leerer Hintergrund, denn für den Physiker begreift die

allein Atome

Welt doch einzig und

al- Substanzen in sich und seine

Atome sind schlechthin au-dehnung-lo-, nehmen gar keinen Raum ein und erfüllen auch mithin nicht- von dem Raume.

E- hat darnach also der

Raum nur sich selbst zum Gegenstände seiner Ausdehnung und e- giebt

nicht-, da- Raum erfüllte, oder Platz im Raume einnehme, eS giebt mit­

hin nur einen leeren Raum.

Diesen bereit- zum leeren Receptaculum

gewordenen Raum vermag der Physiker aber dennoch nicht ganz aufzu­ geben, er behauptet sein reale-, objective- Vorhandensein nur um der Orte willen, die er seinen Atomen beilegen zu müssen glaubt.

Er ist

also sonach nicht da- Behältniß für dieselben, sondern ist nur dazu da, um ihnen eine Anordnung oder ein Schema für ihr Zueinandersein an­

weisen zu können. Auf der Stufe der philosophischen Weltbetrachtung ist selbst auch

diese- Schema au« dem objectiven Gebiete verbannt und in da- subjektive, in die Seele selbst verlegt und wird behauptet, daß die Ordnung deRaume- nicht die Form sei in welcher die Substanzen der Welt an sich

bestünden, sondern, daß sie nur die Form sei, in welcher die Seele, den

Gesetzen ihre- Dorstellen- gemäß, sich aller ihrer sinnlichen Empfindungen und Eindrücke bewußt wird.

Kant drückt diese- treffend au-, wenn er

den Raum defintrt „al- die formale Beschaffenheit unsere- Gemüthe- von

Dingen afficirt zu werden" und ihm zwar die „empirische Qualität" zu­

spricht, die „transscendentale" aber nicht zuerkennt.

Der Raum, welcher

uns vorschwebt, ist darnach nicht außerhalb der anschauenden Seele in

der Welt vorhanden, sondern nur innerhalb derselben;

er ist nur die

Form in welcher sich die Seele ihrer sinnlichen Eindrücke bewußt wird.

Von dem Augenblicke an, daß auch

die Naturwiffenschaft e« aner­

kannt, daß die Welt unserer Wahrnehmungen eine Welt der Erscheinung

ist, welche nicht mit der objectiven Welt identisch ist, sondern von dieser

Grundverschiedenes enthält und zugiebt, daß unsere Wahrnehmungen zum Inhalte nicht

das Sein der Welt, noch

ein getreues Abbild desselben,

sondern nur die eigenen Empfindung-zustände, Eindrücke und Vorstellungen

der Seele haben, so fehlt derselben auch jeglicher Grund zur Behauptung

eines realen Raume- außerhalb der Seelenanschauungen.

eine solche

Annahme?

ihrer Eindrücke und ordnung bewußt wird.

Denn, woher

Offenbar doch nur allein daher, weil dir Seele

sinnlichen Vorstellungen

in

dem Bilde der Raum­

Weil die Wahrnehmung-bilder, die zum Inhalte

blo- die durch die Dinge veranlaßten Erregungen

und AnschauungSacte

der Seele haben, und die Welt an sich, die zum Inhalte die Dinge selbst hat, ganz verschiedene Gebiete sind, so gilt, was in dem einen gilt, nicht

6*

eben darum

auch

in dem anderen.

Ebensowenig, wie die Welt an sich

auS Empfindungen und Vorstellungen unserer Seele bestehen kann, eben­ sowenig ist auch die Ordnung und die Form, In welcher die Seele, nach den ihr innewohnenden Gesetzen ihres Vorstellens, die Empfindungsinhalte

construirt und zusammenfaßt, auch eine

zu ihren Wahrnehmungsbildern

reale Daseinsform und eine bestehende Ordnung für die objectiven Dinge

der Welt.

Ja, eS gehörte dazu

offenbar eine große Willkühr, wollte

man die seienden Dinge, welche doch ganz unabhängig von den Empfin­ dungen und Vorstellungen der Seele vorhanden sind, in der Ordnung

und in der Form des seelischen Vorstelligwerden» bestehen fassen.

Die Physik ist eine Wiffenschaft, -welche eS mit unseren Wahr­

nehmungen zu thun hat, so weit dieselbe sich also mit unseren WahrnehmungSobjecten beschäftigt und innerhalb ihrer Grenzen verbleibt, ist sie zur Annahme eines realen Raumes vollständig berechtigt, ebenso wie

der Chemiker zur Behauptung von Geschmack und Farbe für seine Stoffe

und der Astronom zur Annahme einer Himmelskugel,

sobald aber die

Physik ihre Grenzen verläßt und daS metaphysische Gebiet

beschreitend,

nicht nur innerhalb der empirischen Grenzen unserer sinnlichen Anschau­

ung von demselben redet, sondern auch der Welt, wie sie abgesehen von unserem Anschauen da ist, einen realen Raum zusprtcht, da völlig des Grunde- dazu.

Ja,

hätte die Seele daS ganz

entbehrt sie unglaubliche

Vermögen die Dinge selbst In sich zu umfassen und ihr Sein und ihre

Art zu sein unmittelbar zu

schauen, ja dann wären ihre Anschauungen

deren ganze Ordnung

und Form identisch mit der Welt an sich:

und

Diese wäre dann farbig, weil wir farbig anschauen, ihre Gegenstände

hätten einen Geschmack, weil wir schmecken, sie hätten einen Geruch, weil wir riechen, eine Temperatur, weil wir solche Empfindungen von ihnen haben, ja die Dinge der Welt bestünden auS im Raume sich stetig auS-

dehnenden und ihn erfüllendem Stoff

und bestünden in der Form des

Raumes, well unsere. Anschauungen so beschaffen sind.

Nun wird aber

wohl Niemand der Seele ein so unglaubliches Vermögen zusprechen wollen

und Niemand wird eS wohl bestreiten, daß die Seele In ihren Wahr­ nehmungen nicht daS Sein selbst, die Dinge, sondern nur Affectionen

und Einflüsse von denselben empfängt, welche sich in ihren Functionen und nur

für sie zu Empfindungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen

gestalten.

Diejenigen, welche um der sinnlichen Wahrnehmungen willen durch­

aus einen realen Raum annehmen zu müssen glauben, bedienen sich keines Arguments, sondern stellen einfach nur die Hypothese auf „eS könne doch

der Raum sowohl die Form des realen Daseins, wie auch des Anschauens

Die Seele reconstruirt, nach Lotze, mit Hülfe der „Localzeichen",

fein.

welche jeden Eindruck begleiten, in ihren Anschauungen, die in der Welt

an sich faktisch bestehende räumliche Ordnung

der Dinge.

Wenn aber

unsere Wahrnehmungen wirklich Reconstructionen der thatsächlichen Welt

fein sollen, dann müssen sie auch da- getreueste Abbild derselben sein. Wäre dieses der Fall, dann hätte diese Annahme Berechtigung.

Sie ist

aber unberechtigt, weil eben gerade da- Gegentheil feststeht, nämlich, daß

unsere Wahrnehmungen von dem objectiven Sein, schon wie e- sich auf

dem Standpunkte der physikalischen Betrachtung darstellt, gänzlich Ver­

schiedene- darbieten und daher garnicht al- Reconstructionen desselben an­ gesehen werden können:

der Wärmeempfindung

Wer vermag in der Farbenanschauung oder in eine Reconstruction von Schwingung-vorgängen

und deren Geschwindigkeit oder in den Tonwahrnehmungen Reconstruc­ tionen von Geschwindigkeit-abstufungen succedirenden Luftstöße? oder gar in

der Anschauung de- stetig einen Raum mit seiner Ausdehnung erfüllen­

den und einen einheitlichen Körper darstellenden Stoffe- eine Reconstruc­ tion einer zahllosen Vielheit absolut au-dehnung-loser, schlechthin stoff­ loser und ein bloße» Dynamidensystem au-machender Atome zu sehen?

Wir haben es hier, wie wir sehen, mit völlig Entgegengesetztem zu thun

und eS kann daher von einer Reconstruction der realen Verhältnisse In

der Wahrnehmung, selbst schon vom Standpunkte der physikalischen Welt­ betrachtung auS, absolut gar keine Rede sein.

Wir ersehen hieraus, daß die Behauptung des RaitmeS, als einer

bestehenden Form und Ordnung für die Welt an sich, aus dem Grunde, weil die Seele, nach den Gesetzen ihres sinnlichen Vorstellens, ihren Empfindungsinhalt in dem räumlichen Bilde ausbreitet, eine durch nichts wahrscheinlich

gemachte Hypothese ist, der man ja immerhin huldigen

mag, welche aber in der Wissenschaft'jeder Berechtigung entbehrt. Der gewöhnlich gemachte Einwand, eS sei eine Welt ohne einen Raum, in welchem sie sich auSeinanderlege und auöbreite, gänzlich un­

vorstellbar, drückt zwar eine Wahrheit aus, bietet aber gar kein Argu­ ment für die Realität des Raumes dar. Niemand wird wohl die Farbe, als solche, außerhalb unserer'Wahr­

nehmung, als eine Realität behaupten wollen und dennoch ist ein Ding, absolut ohne irgend welche und jegliche Färbung gedacht,

etwa- für den

Suchenden gänzlich unvorstellbare-, etwa- ebenso unvorstellbare-, al- das

Ding

ohne den Raum.

Der Blindgeborene, welcher einer gesehenen

Welt gänzlich entbehrt, vermag sich schlechthin gar keine Vorstellung von

farbigen Dingen zu machen.

Nun, frage ich aber, ob nicht das Dyna­

midensystem stoffloser und absolut ausdehnung-loser Atome, welches doch

die Materie de- Physiker- bedeutet, auch nur im aller entferntesten vor­ stellbar ist? Solche au-dehnung-lose Existenzen, au- denen die Welt de- Physikers besteht, sind an und für sich schon für un- schlechthin un­ vorstellbar und gewinnen dadurch nicht- an Vorstellbarkeit, daß man ihnen bloße Orte oder Punkte Im Raume anweist. Um der Vorstellbarkeit willen braucht der Physiker nicht einen Raum anzunehmen, da doch diese, seine Welt, trotz dieser Annahme, unvorstellbar bleibt. Sie ist eben nicht mehr die vorgestellte Welt. . Nur die Welt unserer Wahrnehmungen ist vorstellbar, denn sie ist eben die vorgestellte Welt, die Welt an sich, wie sie außer unserer Wahrnehmung da ist, ist nicht vorstellbar und kann auch nicht vorstellbar sein, weil sie eben nicht eine Welt de- von un» Vorgestellten, sondern eine Welt de- Sein- ist. E- ist nicht leicht sich über die Vorurtheile, der uns mit Naturnothwendigkeit beherrschenden Subjectivttät, in allen Consequenzen zu er­ heben. So behauptet noch die heutige Physik, obwohl sie den Raum seiner Bedeutung gänzlich entkleidet hat, dennoch, ungeachtet der darau­ erwachsenden Widersprüche, die Hypothese seine- realen Dasein-, nur allein um der Orte willen, welche ihre Substanzen vorstellbarer machen sollen. Diese vermeintliche Nothwendigkeit die Substanzen an Orte zu ver­ legen, beruht aber lediglich auf einer trrthümltche Durcheinandermengung zweier vollständig verschiedener und scharf zu trennender Gebiete, nämlich de- Gebiete- de- von der Seele sinnlich Vorgestellten und de- Gebietede- von diesen seelischen Vorstellungen gänzlich unabhängigen substan­ ziellen Sein- und ist ein willkürliche- Hineinverlegen von Bestimmungen und Momenten, welche dem Gebiete de- seelischen Vorstellen- angehören, in da- Gebiet de- objectiven Sein-. Denken wir un» einen Menschen, welcher nur mit einem einzigen Sinne und zwar nur mit dem Gesicht-sinne begabt wäre, so würde einem solchen eine schlechthin farblose Welt etwa- gänzlich undenkbare- fein. Wollte ein solcher Mensch nun, von der ihm gegebenen Welt die Farbe vollständig wegabstrahtren, so bliebe auch nicht- weiter von der Welt für ihn übrig, für ihn wäre sie al-dann in ihrer Totalität aufgehoben. Weil seine Welt allein eine gesehene Welt sein kann und aller Inhalt deSehen- einzig und allein in Farbenwahrnehmungen besteht, so wäre eine solche gesehene Welt, absolut ohne Färbung, eine für ihn nicht mehr vor­ handene Welt. Ganz ebenso, wie aber, die Farbe die nothwendige Grundbedingung, nicht für die objective Welt, sondern speciell für die gesehene, daheißt für die im Gesicht-sinne vorgestellte Welt ist, so ist auch der

Raum die nothwendige Grundbedingung, nicht für die objective Welt, sondern für die von der Seele im Allgemeinen vorgestellte Welt. Kurz, wie die Farbenqualität die charakteristische Beschaffenheit der Ge­ sichtsvorstellungen im Speciellen ist, so ist der Raum die charak­ teristische Beschaffenheit alles sinnlich Borgestellten im Allge­ meinen. Wie der nur mit dem Gesichtssinn Begabte nur allein eine Welt in Farben, der nur mit dem Gehörsinne Begabte nur allein eine Welt in Lauten haben kann, so können wir, als sinnlich vorstellende Wesen im Allgemeinen, nur allein eine sinnlich vorgestellte Welt, da- heißt, eine Welt im Raume haben. Als sinnlich vorstellende Wesen muß unS daher auch eine Welt ohne Raum als etwas ebenso unbegreif­ liches erscheinen, wie dem blos mit Gesichtssinn Begabten eine farblose Welt, oder dem bloß mit Gehörsinn Begabten eine lautlose Welt. Wie für diese, so schiene auch für unS die Welt in ihrer Totalität aufgehoben, denn, wie da» Wegabstrahiren der Farben von dem Gesehenen eine Ab­ straktion von dem gesammten Inhalt deS Gesehenen bedeutet, so ist auch für unS als sinnlich vorstellende Wesen, denen einzig und allein nur eine vorgestellte Welt gegeben ist, ein Wegabstrahiren deS Raumes aus der­ selben gleichbedeutend mit einer Abstraktion von allem Borstellen in dem, was nur vorgestellt ist. Der Raum ist die conditio sine qua non für daS von der Seele Vorgestellte, aber nur für diese-, nicht für das, von den seelischen Vorstellungsakten unabhängige, objective Sein. Wie die Farbe nur Geltung hat speciell für die Gesichtsvorstellungen der Seele, so hat auch der Raum seine Geltung nur für alles sinnliche Vorstellen der Seele, nicht aber für da- außer der Seele sein Bestehen habende, objective Sein der Welt. Alle sinnlichen Empfindungen und Eindrücke werden, nach den Ge­ setzen ihre- Vorstelligwerdens stets in dem Bilde des Raumes unterschieden und zu Borstellungsganzen zusammengefaßt. Ein jeder sinnliche Eindruck fällt nothwendig immer in daS Raumbild hinein, wo er untrennbar mit der Vorstellung irgend eines OrteS in diesem Borstellungsschema der Seele verknüpft wird. Weil wir nun in unseren Wahrnehmungen es nur mit sinnlichen Vorstellungen der Seele, nicht aber mit dem Sein der Dinge zu thun haben, und wir den Inhalt unserer Perceptionen, die Empfin­ dung-elemente, nach den Gesetzen unsere- psychischen Vorstellen-, noth­ wendig und einzig und allein nur immer in dem Vorstellung-bilde deRaume- ordnen und localisiren müssen, so geschieht e- auch, daß wir wider Willen genöthigt, ja sogar gezwungen werden in den Fehler zu verfallen, diese Ordnung und Localisirung, welche doch nur allein daSchema für den vorgestellten Empfindung-inhalt der Seele ist, auch auf

da- objective Sein zu übertragen, ganz so, al- bestünde diese- nicht in Sein an sich, sondern al- bestünde e- In seelischen Empfindung»- und Borstellungselementen. Dieses ist auch der Fehler, tn welchem noch die physikalische Weltbetrachtung befangen ist, wenn sie einen realen Raum annimmt, um ihren Substanzen oder Atomen Orte anweisen zu können. Einerseits, indem sie das Atom, als etwa- schlechthin au-dehnungSloseS, mithin immateri­ elle-, al- bloße Kraft faßt, hat sie daffelbe der Vorstellung gänzlich ent­ zogen und faßt daffelbe nicht mehr al» Object de» sinnlichen Borstellen», sondern al» transscendentale» Sein, al» Ding an sich, andererseits aber, indem sie wiederum demselben einen Platz, einen Ort im Raumbilde an­ weist, zieht sie daffelbe doch wieder in da- Gebiet de- sinnlichen Vor« stellen- hinein und faßt daffelbe al- ein Object de- möglichen Borstellenauf, was e- eben nicht fein kann. Da- Setzen eine» bloßen Orte» oder Punkte- ist schon ein Act desinnlichen Borstellen-, denn der bloße Ort bedeutet nicht- weiter, al- da» Offensein für da» Hineinfallen eine» möglichen sinnlichen Eindruck» in da» Vorstellungsschema des Raume-, eS bedeutet eben die Beziehung irgend eine- möglichen sinnlichen Eindrucks zu den Anderen in der gesammten Ordnung deS Dorgestellten. ES setzt ein Ort schon, als solcher, andere OrtSsetzungen voraus und die unterschiedenen OrtSsetzungen machen eben das Außer- und Nebeneinander, das räumliche Vorstellungsbild aus. Wenn ich mir, zum Beispiele, Gott denke und zwar, wie die Theologen e» thun, ohne ihm^trgend einen Ort im Raume zu geben, so ist er nicht als Object des sinnlichen Vorstellens, sondern älS reine Substanz, al» Sein an sich, gedacht, denke ich mir aber Gott an irgend einem bestimm­ ten Ort im Raume sich befindend, und wenn auch al» Punkt, so denke ich ihn al» einen möglichen Inhalt meine» sinnlichen Borstellen» und Wahrnehmen» und setze ihn al» sinnliche Vorstellung. Wollte Jemand die Atome al» reine Substanzen denken und dächte sich dieselben dennoch etwa gefärbt, so hätte er dieselben nicht mehr al» Substanzen, al» Dinge an sich, sondern al» mögliche Inhalte seine» Sehen», da» heißt, al» Gesichtsempfindungen und Gesichtsvorstellungen gedacht; er hätte thörichterweise Bestimmungen, die nur seinen Gesichtsvorstellungen eigen sein können, in dasjenige hineingetragen, was sein Dasein ganz un­ abhängig von unseren Gesichtsempfindungen hat und wahrlich in nichts weniger, denn in den Gesichtsempfindungen unserer Seele besteht. Ganz ebenso ist e- auch ein irrthümlicheS Hineinziehen von Bestimmungen, welche nur dem Gebiete des sinnlichen VorstelleuS der Seele angehören, in das Gebiet des objectiven Seins, oder der Dinge an sich, wenn der

Physiker das Atom als ein objectiv reales Ding betrachten will und dem­ nach es an einen Ort im Vorstellungsbilde deS Raumes verlegen will und"eS auf diese Weise in die Ordnung der möglichen sinnlichen Vor­ stellungen hineinlocalisirt. Diese völlige Durcheinandermengung dieser beiden streng zu scheidenden Gebiete ist der große Grundfehler, aus wel­ chem das Heer von Widersprüchen erwächst, welche die Lehre von dem realen Raume darbietet. Soll daS Atom als Sein, als Dlng-an-sich, und nicht als ein Mo­ ment innerhalb der Sphäre der seelischen DorstellungSlhätigkeiten gefaßt werden, so hat eS nichts mit dem Vorstellungsbilde deS Raumes zu thun. Alles waS innerhalb der sinnlichen Vorstellung der Seele vorschwebt, hat einen Raum und ist nothwendig im Raume, die Substanzen aber, welche an sich und außer dem sinnlichen Borstellen der Seele ihr objective- Da­ sein haben, haben weder einen Raum inne, noch sind sie im Raume. Auf der ersten Stufe, auf der Stufe der naiv-sinnlichen Weltbe­ trachtung wird der Wahrnehmung-inhalt der Seele mit dem substanziellen Weltinhalte vollständig identificirt und vermischt. Auf der zweiten Stufe, auf der Stufe der physikalischen Weltbe­ trachtung vollzieht sich schon eine Scheidung zwischen Wahrnehmungen und Dinge, Sein und Erscheinung. Hier wird bereit- alle», wa- die naiv­ sinnliche Weltbetrachtung, al- Eigenschaften der Dtnge-an-sich betrachtete, von denselben au-geschieden und in daS Gebiet der psychischen Wahr­ nehmung verlegt. Diese Scheidung ist aber hier noch nicht eine voll­ ständige: Die Form in welcher die Seele ihre Empfindung-elemente zu zu den VorstellungSbtldern zusammenfaßte, der Raum wird.hier noch alobjective Dasein-form für die Dinge-an-sich gefaßt und in dieselben hinein fingirt. Die vollständige Trennung der Gebiete deS seelischen VorstellungStnhalteS und deS objectiven Weltinhaltes, vollzieht sich erst auf der dritten Stufe, auf der Stufe der philosophischen Weltbetrachtung. Hier ist auch der Raum aus der objectiven Welt in die subjektive Welt der Seelenan­ schauungen verlegt. Die vollständig durchgeführte Abgrenzung dieser beiden Gebiete bis auf ein bloß causaleS Band, da» sie verbindet, ist die Hauptgrundlage einer jeden kritischen Philosophie. Schopenhauer nennt mit Recht die „transscendentale Aesthetik" Kant» daS heißt seine Lehre von Zeit und Raum, dessen größte That. Sie ist bahnbrechend für die ganze neuere Wissenschaft. Dem nicht vollständig Eingeweihten erscheint aber diese Verneinung deS Raumes für die ob­ jective Welt, als eine Thorheit und als ein Verstoß gegen den „gesunden Menschenverstand".

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Drei Stufen in der Welterkenntniß.

Wenn ich den Leser durch diese drei Stufen der Weltbetrachtung hin­

durchgeführt habe, so ist meine vornehmliche Absicht gewesen, ihn gerade mit dieser Lehre, welche noch so Vielen als eine absurde erscheint, zu ver­

söhnen und die Berechtigung derselben nachzuweisen.

Da die Philosophie

sich aber nicht einer solchen Autorität zu erfreuen hat, wie sie der Natur­

wissenschaft heute zu Tage eingeräumt ist, so habe ich mich hier nicht der

Argumente bedient, welche uns die „kritische Philosophie" darbietet, son­ dern habe, zur Erreichung dieses Zweckes, einen neuen Weg eingeschlagen, indem ich zu zeigen versucht habe, daß auch die Gedankenpfade der heutigen Naturwissenschaft, in ihrer konsequenten Weiterverfolgung, uns mit Noth­

wendigkeit auf dasselbe Resultat hinausführen, welches schon seit Kant eine

Errungenschaft der Philosophie ist.

Politische Correspondenz. Berlin, 8. Juli 1883. DaS Krankenversicherungs-Gesetz.

Wie haben sich die Theoretiker, die wohlmeinenden Weltverbesserer gequält, um die Lösung der socialen Frage zu finden, oder wenn sie noch

gründlicher sein wollten, zunächst die Frage, ob eine sociale Frage existire,

zu beantworten und im bejahenden Fall die neue WirthschaftS-Ordnung der Zukunft zu entdecken!

Und wie unendlich wenig ist mit all' diesen

Bemühungen geleistet worden.

Streng genommen, geradezu nichts als

die Thatsache selbst, daß die Frage behandelt wurde, ohne irgend einen materiellen Beitrag zur Lösung.

Auch daS war immerhin von großer

Bedeutung und eine nothwendige Vorbedingung der endlichen wirklichen

Lösung, aber im Einzelnen war eS doch immer nichts als ein Jrregehen

und weil eS das war, rief es mit Recht bet Andern, die ebenso wohlge­ sinnt, ebenso gern den Leiden der Massen zu Hülfe gekommen wären,

den entschiedensten, ja entrüsteten Widerspruch hervor, da sie erkannten, daß diese Mittel in ihrer Verkehrtheit statt Heil Unheil über die Völker hätten bringen müssen.

Erst wieder Bismarck mußte eS sein, der, indem er den wahren

Punkt des Leidens bezeichnete auch sofort daS wahre Mittel der Heilung gefunden hat und merkwürdig schnell diesmal auch die große Mehrheit der

Nation für seinen Gedankengang gewonnen.

Nicht in der mangelnden

Höhe des Verdienstes, des Lohnes liegt der Schaden des modernen Pro­ letariates, sondern in der Unsicherheit der Existenz.

DaS Heilmittel gegen

die Unsicherheit ist die Versicherung.

Die sociale Frage hat noch manche andere Seite; dies aber ist der

Punkt, um den sich seit Generationen die im eigentlichen Sinne soge­ nannte sociale Frage herumbewegt hat und die nunmehr principiell ihre

Lösung gefunden.

ES ist interessant zu sehen, was der Kanzler dabei

von jeder der verschiedenen Parteien, die sich vorher um die Frage stritten

angenommen hat.

Da waren die eigentlichen Socialisten, welche alle in

höherem oder geringerem Grade auf die Einkommen-- oder EigenthumSVertheilung selbst glaubten einwirken zu müssen, vom völligen CommuniSmuS hin bis zur Gewinn-Betheiligung deS Arbeiters an dem gewerblichen Unternehmen neben dem Capitalisten. Eine wohlgemeinte Utopie umge­ worfen durch die einfache Frage: betheiligt er, der Capitallose sich auch dann an dem Verlust? Widerlegt ferner durch die Thatsache, daß der moderne Fabrik-Proletarier im Lohn nicht schlechter, sondern besser steht als die früheren Generationen. Die National-Werkstätten, wie die Productiv-Genoffenschaften, wie alle- andere Aehnliche, welche- dem Arbeiter Gewinn-Antheil verheißt, ist nicht nur unmöglich, sondern auch verwerf­ lich, weil e- nicht nur selbst nicht gedeihen, sondern auch da- bestehende Gute zerstören würde. Nur ein einziger Satz ist au- diesem ganzen Jdeen-Complex zu entnehmen, und ist ihm entnommen worden und wird dereinst noch seine ganze Fruchtbarkeit entfalten: da- ist die Forderung, daß der Staat selbst die Ordnung der Gesellschaft und der Wirthschaft in die Hand nehme und sich nicht darauf verlasse, daß die gesellschaft­ liche Harmonie sich au- eigenen Kräften erhalte. Grade dieser Satz fehlte der entgegengesetzten Schule, welche sonst der Einsicht in den wirklichen bestehenden Mangel, den materiellen Fehler der herrschenden Zustände näher gekommen ist al- jene. Die indivi­ dualistische (manchesterliche) Partei hat sich seit Längerem redlich bemüht durch allerhand Mittelchen, wie sie der Arbeiter mit seinen geringen ma­ teriellen und geistigen Kräften aufzubrtngen vermag, die ungeheure Lücke, welche die moderne Wirthschaft-ordnung läßt, zu füllen. Die GewerkVereine haben in England Bedeutende-, bei un- hier und da recht An­ sehnliche- geleistet und neben manchem Anderen auch verkehrten, doch auch an dem richtigen Punkte eingesetzt: die sürchterliche, auf die Dauer allen moralischen Gehalt deS Menschen nothwendig zerstörende Abhängig­ keit vom Zufall, welcher der Capitallose im modernen Staat unterliegt, au»zugleichen. ES ist unmöglich, daß ein Mann einen seiner selbst ge­ wissen sittlichen Character entwickele, welchem jede Krankheit, jeder Unfall und endlich mit Sicherheit daS Alter die Mittel seiner Existenz raubt, den eingerichteten Hausstand zerstört und ihn oder die Seinen auf daS öffentliche Almosen verweist. Dagegen war die Erbunterthänigkeit human, welche den Unterthänigen wohl fesselte, aber auf dem niederen Stand­ punkt, welchen er einnahm, auch feststellte. Hier also soll der Staat die Formen schaffen, welche gleichzeitig die bestehende individuelle freie Bewegung erhalten und mit ihr die Sicherung der Existenz verbinden. Nachdem man zuerst versucht hatte, den Anfang mit einer Versicherung gegen Unfälle (namentlich wegen der Gefährlichkeit

der modernen Maschinen) zu machen, so ist jetzt wirklich der erste Stein zu dem Reformbau in Gestalt eines Krankenversicherungs-Gesetze- nieder­ gelegt. Auf diesem Gebiet erwies sich die neue Organisirung doch noch am leichtesten, weil hier aber jener Gegensatz, welchen die Gesetzgebung zu überwinden hat, — freie Bewegung und Sicherheit — am wenigsten hervortritt. Als Krankheit im Sinne des Gesetzes gilt nur die vorüber­ gehende Krankheit (in der Regel bis zu einem Vierteljahr — 13 Wochen), eS ist also nicht nöthig, weder von weit her Beiträge zu sammeln, noch auf weit hinaus Zahlungen zu sichern und das ist erst das eigentliche Problem, vor welchem die Unfall-AlterS-Wittwen-Waisen-Versicherung noch steht. Hierin liegt sogar der eigentlich wesentliche Unterschied der Unfallvon der Krankenversicherung. Bei weitem die größte Zahl der Unfälle ist ja zunächst etwas ganz Analoges wie eine Krankheit und geht ebenso vor­ über. Die kleinere Zahl aber der Unfälle mit tödtlichem AuSgang oder dauernder Arbeitsunfähigkeit, welche eine durch viele Jahre zu zahlende Rente bedingen, verschiebt die VerhältnissS völlig. Der Erbunterthänige, der glebae adscriptue ist leicht gesichert; der Herr deS Gutes, möge er wechseln oder nicht, muß ihn oder seine Familie übernehmen. Aber wie In einer heutigen Fabrik, die morgen Bankerott machen kann, mit einer stets wechselnden, fluctuirenden freien Arbeitermaffe, die zu dem Fabrikherrn in keinerlei, weder patriarchalischer noch genossenschaftlicher Verbindung stehen und nichts als den kahlen, nackten Rechtsanspruch des Schadener­ satzes bet Verschuldung geltend zu machen haben? DaS Krankengesetz hatte mit diesen Hinderniffen nicht zu kämpfen und doch war eS ein unendlich schwieriges Werk, von deffen compltcirtem Organismus eS auch in seiner heutigen Gestalt, mit Beiseitlasiung aller abgelehnten Vorschläge, nicht leicht ist, sich ein Bild zu machen. Die Idee, welche sehr glücklich die eigentliche Struktur deS Gesetzes beherrscht und sie hervorgebracht hat, ist die Gegenüberstellung der Ge­ meinde- und der OrtS-Krankenkaffe. Aus der Ausscheidung der letzteren aus der ersteren entwickelt sich die gesammte Institution der öffentlichen Krankenversicherung. Die Gemeinde-Krankenkasse macht die niedrigsten Anforderungen, leistet nur daS Nothdürftigste und umfaßt alle DersicherungSpflichtigen, welche nicht positiv ausscheiden. Die OrtS-Krankenkasse ist eine besondere Organisation der Arbeiter einer.bestimmten Branche, der BerufSgenoffen; sie kann höhere Beiträge erheben und weitergehende Leistungen übernehme». Die Gemeinde-Krankenkasse wird von der Com­ mune verwaltet; die OrtS-Krankenkasse verwaltet sich selbst nach ihrem eigenen Statut. Die Gemetnde-Krankenkaffe giebt freie ärztliche Be-

Politische Eorrespoadenz.

94

Handlung und Heilmittel und vom dritten Tage an die Hälfte deS orts­ üblichen TagelohnS; die OrtS«Krankenlasse berechnet nicht den ortsüblichen

Tagelohn des gewöhnlichen Handarbeiters, sondern den wirklichen Lohn

der Kassenmitglieder und giebt außerdem dieselbe Unterstützung den Wöch­ nerinnen auf drei Wochen und ein Sterbegeld bi- zum 20 fachen Betrage des TagelohnS.

Sie darf auch diese Leistungen noch verschiedentlich er­

weitern, namentlich statt der Hälfte dreiviertel deS TagelohnS als Kran­ kengeld geben, den 40 fachen Lohn als Sterbegeld und Ausdehnung der

Leistungen auch auf die Familien-Angehörigen des Bersicherten. Wann und wie diese OrtS-Krankenkafsen gebildet werden können

resp, müssen,

mehrere Arbeitsbranchen sich zu einer Kasse ver­

wann

einigen können, wann mehrere Gemeinden sich vereinigen oder wieder ge­

trennt werden, wer eintreten darf und wer eintreten muß; .wie der durch­ schnittliche Tagelohn deS Ortes zu berechnen ist, das ist alles in detaillirten Bestimmungen festgesetzt.

Damit erschiene die Organisation nun immer noch einfach genug, wenn nun nicht außer den Gemeinde- und OrtS-Krankenkassen, auch noch die Fabrik-,

Bau-, Innung--, Knappschaft-- und einge­

schriebenen (HülfS-

d. h. freiwilligen GewerkvereinS-Kafsen) existirten

und dem Rahmen deS Gesetze» eingefügt wären.

Die Fabrik-, Bau- und

KnappschaftS-Kassen machen keine besonderen Schwierigkeiten.

Sie dürfen

bestehen oder errichtet werden, wenn sie mindesten- dasselbe ihren Mit­ gliedern gewähren wie die Ortskrankenkassen.

müssen sie auch eingerichtet werden,

waS

Unter gewissen Umständen

namentlich bei spezifisch ge­

sundheitsgefährlichen Fabrikationen erforderlich ist;

die Fabriken

haben

dann den extraordinären Bedarf, welcher über die sonst üblichen Beiträge hinaus erforderlich wird, extra zuzuschießen.

Die JnnungSkaffen sind unbedeutend. Sehr bedenklich aber und dem Geiste deS Gesetzes direkt widersprechend ist die Erhaltung der GewerkvereinSkaffen.

Diese Kassen haben bisher ja,

wenn eS auch bestritten wird und auf der anderen Seite ihre Verdienste

übertrieben werden, doch vielfältig Gutes gewirkt. Die Schonung, die man ihnen angedeihen läßt, ist deshalb wohl verständlich, aber doch nicht wirklich gerechtfertigt.

Die Anomalie des Nebeneinanderbestehens von Kaffen, von

denen die einen zum Eintritt zwingen, dafür aber auch jeden Verpflichteten nehmen müssen, die -nderen, in die man auch eintreten kann, nicht Jeden zu nehmen brauchen, ist einleuchtend.

Die letzteren werden alle Schwäch­

lichen und Aelteren ablehnen und in die Zwangskassen überschieben, um

selber mit möglichst niedrigen Beiträgen auszukommen.

DaS ist aber nicht

genug; der Zwiespalt zerstört auch eine der wichtigsten moralischen Eigen-

schäften des Gesetzes, nämlich die corporative Gestaltung der Berufsgenossen. Wenn diese sich in zwei oder gar drei Lager spalten, so geht offenbar der fruchtbare Keim zur Bildung eines genossenschaftlichen Geistes zu Grunde, der

durch die Ortskassen so kunstvoll In dies Gesetz hineingelegt und vorbereitet ist.

Mag man aber auch die» und Anderes nicht ohne Besorgniß in dem Gesetz betrachten: die Praxi» wird e» nicht nur bald zeigen, wo man einen Mißgriff begangen, sondern auch lehren, denselben zu überwinden.

Die Ablehnung der Canakvorlage

im Herrenhause hat die öffentliche Meinung weniger erregt, al» e» der Gegenstand sowohl materiell wie formell wohl gerechtfertigt hätte. dieser Unterscheidung meinen wir folgende». baues selbst konnte mit sehr

Mit

Da» Unternehmen de» Canal­

gewichtigen Einwänden bekämpft werden.

Der Nutzen deffelben für den National-Wohlstand ist nicht mit Sicherheit

vorauszuberechnen oder auch nur zu behaupten.

Der Nachweis, daß durch

die jährliche Zllbuße der Zinsen des Anlage-Capital» eine» Canal» mehr

geleistet, al» wenn dieselbe Summe den Eisenbahnen zugeschossen werde, ist nicht erbracht worden.

Im Gegentheil, e» liegt ein Umstand vor, welcher

al» positive» Gegen-Argument dienen kann und gleichzeitig die verschiedene

wirthschaftliche Natur von Chauffee- und Eisenbahnbauten auf der einen von Canalbauten auf der anderen Seite in'» Klare setzt. Alle solche Bauten haben da» Gemeinsame, daß sie nothwendig eine

Verschiebung in den privaten Vermögen»-Verhältniffen im Gefolge haben.

Die Handelswege werden verlegt, ein Dorf, ein Wirthshaus verödet. Andere, Geschäftsleute und namentlich Grundbesitzer werden plötzlich und ohne irgend ein Verdienst ihrerseits wohlhabend. Da» ist ohne Zweifel — und zwar nicht bloß die Verarmung hier,

sondern ebenso sehr auch die unmotivirte Bereicherung da — ein großer

Uebelstand, der nur ertragen wird, weil eS durchaus kein Heilmittel gegen ihn giebt, weil kein Modus zu finden ist, den Gewinn der Begünstigten

irgend wie rechtlich festzustellen und von ihnen einzuziehen.

Der Unter­

schied der Canalbauten von den anderen CommunicationSbauten ist nun,

daß dort dieser Uebelstand in noch sehr viel höherem Maße zur Geltung

kommt als hier.

Ein Gut, in deffen Nähe ein Bahnhof angelegt wird,

wird dadurch nicht entfernt so stark beeinflußt wie etwa ein Gut, welcheS direct von einem Canal berührt und dadurch

qualificirt wird.

zu einer Fabrik-Anlage

Eine Ziegelei, eine Mergelgrube, ein Torfstich werden

plötzlich werthvoll — um so werthvoller al» der günstigen Nachbarschaft

de» Canals so viel Wenigere theilhaftig sein können, als der Nähe der durch da» ganze Land verzweigten Eisenbahnen.

Ganz ebenso kommt auf

Politische Torresponden».

96

dem Gebiete der Industrie, eingeschlossen den Bergbau, ein Canal einer viel geringeren Zahl, dieser aber in viel intensiverem Maße zu Gute.

Die Consequenz ist, daß nicht entfernt bei Canälen die Allgemein­

heit ein so dtrecteS Interesse Chausseen und Eisenbahnen.

und

daher Opferpflichtigleit hat, wie bei

DaS Gegenmittel wäre, bei Canälen in sehr

erhöhtem Maßstabe die Interessenten zu Beiträgen zu verpflichten, ehe der Staat mit dem Steuersäckel zu Hülfe kommt.

Ja man könnte gradezu

sagen, daß hierin das Kennzeichen für die zu erwartende Rentabilität des

Canales liegt: sind die Interessenten nicht zu sehr großen Zuschüssen er-

bötig, erwarten sie also selber nicht so sonderlich viel von dem Bau, so wird dem Erfolg nicht mit übergroßer Zuversicht entgegenzusehen zu sein.

DaS war nun bet dem vorliegenden Ruhr-EmS-Projecte der Fall. Der Staat, welcher 46 Millionen Mark aufwenden wollte, verlangte von

den Interessenten nicht mehr

als

die kostenfreie, Hergabe des Grundes

und Bodens, welche auf 5 Millionen veranschlagt wurde.

ES wurde nun

aber verschiedentlich als sehr zweifelhaft htngestellt, ob diese Summe von

den Interessenten würde aufgebracht werden und sogar der Antrag (im Abgeordnetenhause) gestellt, den Beitrag auf 2 Millionen in Baar herab-

zusetzen. Läßt nun Alles dies das Unternehmen In - der That zweifelhaft er scheinen, so ist auch wieder grade umgekehrt alles Gewicht darauf zu legen,

daß eS eben nur zweifelhaft ist, daß aber der Zweifel noch keines­ wegs auSfchließt, daß nicht dennoch die Canäle ihre Rolle in der Wirth­ schaft der Zukunft spielen werden, daß vielerlei Gründe dafür sprechen und daß daher eine groß angelegte WirthschaftSpolitik auch einmal, wenn die theoretischen Borausberechnungen versagen, ein Experiment im größesten

Style wagen muß.

Nachdem die StaatSregierung sich hierzu entschlossen,

nachdem das Abgeordnetenhaus mit sehr großer Majorität sich dafür aus­ gesprochen, hätte das Herrenhaus sich diesem Vorgehen, wenn auch mit dem vollen Bewußtsein deS Versuches,

des gewagten Versuches,

nicht versagen dürfen. Und

hier kommen

wir

nun

häßlichere Seiten des Ereignisses.

auf die andere formelle Hat das Herrenhaus

und

viel

die Vorlage

wirklich abgelehnt, in vielleicht übervorsichtiger Erwägung jener Bedenken, deren Berechtigung wir an sich auch unsererseits voll anerkennen?

Das

ist ohne Zweifel nicht das eigentlich durchschlagende Motiv der Ablehnung

gewesen.

Dieses Motiv war vielmehr ein viel niedrigeres.

Eifersucht, der Neid

Es war die

der nicht direct gerade an den Vortheilen dieses

vorgeschlagenen CanaleS betheiligten Landschaften und Provinzen und dieses

Motiv konnte im Herrenhause, im Unterschiede vom Abgeordnetenhause

die Oberhand behalten, weil In jenem die Ostprovinzen verhältnißmäßig am stärksten repräsentirt sind.

Also nichts als ein Stück des politischen,

versetzt mit einem Stück von wirthschaftlichem (agrarischem) ParticulariS-

mu6. Die Herrschaft einer solchen Gesinnung aber ist für Deutschland ein schwererer Schade als viele unrentable Canäle wären.

Die kirchenpolttische Situation

wird beherrscht durch die immer deutlicher, zu Tage tretende Thatsache, daß die Curie in die dargebotene Friedenshand nicht cinschlagen, sondern

weiterkämpfen wird.

Man kann ihr das bei den Zielen, welche sie ein­

mal verfolgt, nicht so sehr verdenken.

Immer würde sie, wenn sie jetzt

den noch bestehenden Rest der Maigesetze annähme, den katholischen Klerus

in Preußen unter einer Einwirkung deö StaateS lassen,

welcher zwar

unseren Ansprüchen schon bei weitem nicht mehr genügt, doch aber noch

groß genug wäre, die Umbildung dieses Klerus in eine bloße von Rom

geleitete demagogische Agitations-Maschinerie zu verhindern.

So lange

die katholischen Priester in Deutschland in der großen Masse deutsche Gymnasien durchgemacht und deutsche Universitäten besucht haben (wenn auch ohne die Schlußprüfung, „das Culturexamen") und endlich zum Auf­

rücken in die höheren Stellen auf die Zustimmung der Regierung ange­

wiesen sind, so lange wird doch das Majunkethum sie nicht ganz und gar erfüllen. Rom fordert daher sehr natürlich noch weitere Concessionen in der „Vorbildung", ehe eS die preußische Gesetzgebung anerkennt.

Was folgt daraus für und?

Zunächst dient es dazu, daS Gefühl

der Niederlage, der Demüthigung noch zu verschärfen.

Wir haben jetzt

unsere Concessionen gemacht, wir haben die Gesetze unseres Staates, ohne die Befolgung derselben erzwingen zu können, zurücknehmen müssen; wir

haben das gethan um deS Friedens willen— und jetzt nimmt der Gegner

den Frieden nicht an, er acceptirt das vorläufig Gebotene wie den ihm

schuldigen Tribut und erklärt, daß er mehr fordere.

Wer kann wissen,

ob er wirklich in Zukunft noch einmal Weiteres durchsetzt!

So viel aber

ist gewiß, daß vorläufig und in der Hoffnung, die wir doch nie aufgeben dürfen, daß dieS nicht geschieht, — der Uebermuth der Curie unser größtes Glück, noch unsere einzige Rettung ist.

Bedenke man: Nach­

giebigkeit der Curie und Anerkennung der jetzt noch bestehenden Mai­

gesetzgebung würde nicht nur Frieden, sondern ein Bündniß Preußens mit dem RomaniSmuS bedeuten.

ES wäre unmöglich, daß die preußische

Regierung einer Kirche gegenüber, mit welcher sie so feierlich Frieden schließt, nicht auch diejenige Zuvorkommenheit bewiese, welche in thesi

ein richtiges, ideales Verhältniß zwischen Staat und Kirche erfordert. Preußische Jahrbücher. Bd. LIL Heft 1.

Politische Correspondenz.

98

Einer Kirche, mit welcher man in Frieden lebt, muß man auch gefällig

sein; man darf sich in Personalfragen nicht zu difficil zeigen, man muß ihr

Einfluß auf die öffentliche Erziehung, vielleicht gar auf die Besetzung der Directorenstellen und Professuren zugestehen, man darf die Controlle über

die rein kirchlichen Bildungsanstalten nicht zu streng handhaben, und muß

ihr gestatten, solche zu errichten: Alles, weil doch das natürliche Verhältniß zur Kirche nicht das des Mißtrauens, sondern daS des Vertrauens sein

Wohin aber würden wir kommen, wenn bei dem jetzt herrschenden

soll.

Geist in der katholischen Kirche man in diese Intimität sich mit ihr ein­ ließe?

Ja, wenn die Falk'sche Gesetzgebung in ihrer ganzen Rigorosität

hätte durchgeführt, wenn auf dieser Grundlage ein wirklich nationalge­

sinnter katholischer Clerus herangebildet worden wäre! So aber — dieser katholischen Kirche, diesem katholischen CleruS

gegenüber darf es kein anderes Verhältniß geben, als daS der äußersten

Vorsicht und dieser sind wir wenigstens so lange sicher, als kein förmlicher

Friedensschluß erfolgt ist.

Sollen wir darum keinen Frieden mit unserer katholischen Bevölke­ rung wollen?

ES kommt darauf an, waS man unter Frieden versteht.

Die jüngste Gesetzgebung wird die Seelsorgenoth

beseitigen

und

diese

Noth war es, welche (freilich sehr unberechtigter Weise) das katholische

Volk so feindlich gegen den Staat gestimmt hat.

Man hat es für richtig

gehalten, auf diesem Punkte endlich nachzugeben.

Damit ist eine Art von

Frieden geschaffen, und eS ist ohne Zweifel viel besser, wenn die Ange­ legenheiten auf diesem Punkt, wo ein unmittelbarer Druck auf die Be­

völkerung nicht mehr

ausgeübt wird,

eine Zeit lang

in der Schwebe

bleiben, bis vielleicht neue unerwartete Combinationen eintreten, als daß

unter diesen Verhältnissen ein wirklicher definitiver Friede zum Abschluß

kommt, welcher dem Staate nicht die ihm gebührenden Gerechtsame ge­ währen würde.

D.

Notizen. Das Englische

Verwaltungsrecht der Gegenwart, in Vergleichung

mit den deutschen Verwaltungssystemen.

Von Rudolf Gneist.

nach deutscher Systematik umgestaltete Anflage.

Theil.

Erster Band.

Dritte

Allgemeiner

Berlin, Julius Springer 1883.

In seinen großen Arbeiten über die englische Verfassung und Verwaltung hat Gneist in England wie

auf dem Comment nicht nur keinen Vorgänger,

sondern auch keinen ebenbürtigen Nachfolger gefunden.

Wie dürftig jenseit des

Canals bis zum heutigen Tage diese Art von Literatur geblieben ist, zeigt die Zusammenstellung auf S. 154 des vorliegenden Buches.

dort das Bedürfniß

Die wenigen, welche

theilen oder dafür gewonnen sind, sich unabhängig von

den festgewordenen Parieiüberlieferungen eine geschichtliche und wissenschaftlich­

systematische Anschauung der öffentlichen Rechtszustände des Landes zu bilden,

welches

allein von den europäischen Culturstaaten sich

einer ungebrochenen

Rechtsentwicklung erfreut, haben sich eben — an Gneist genügen lasten und sind

in der That kaum dazu gekommen, die Ergebnisse seiner forschenden und ord­ nenden Thätigkeit vollständig in sich durchzuarbeiten. Fertigt doch die sonst treff­

liche Verfassungsgeschichte von Stubbs die Einführung des Friedenrichleramtes, in welchem Gneist den Hauptpfeiler der

Selbstverwaltung

und

damit der

neueren parlamentarischen Verfassung erkannt hat, in kaum so viel Zeilen ab als sie den in England so herzlich unbedeutenden Stadtantiquitäten

Seiten

widmet. —- Genöthigt sich durch ein unendliches Gestrüpp historischer und prak­ tischer Einzelnheilen selbständig die Bahn zu den leitenden Gesichtspunkten zu brechen und die Grundgedanken wissenschaftlich zu construiren, hat Gneist sich

nickt die Genugthuung geben können, alsbald in der Weise der auf durchgear­

beiteten Wissenschaftsgebieten üblichen Handbücher ein fertiges System aufzu­

richten, in welches bei neuen Auflagen nur vereinzelte Aenderungen und Er­

gänzungen wären einzutragen gewesen. auf die Höhe

Er durfte aber auch nicht sein Werk

einer den politischen Bedürfnissen seiner Zeit und Umgebung

gegenüber vornehm zurückhaltenden wissenschaftlichen Abstraction hinaufschrauben.

Sein treibendes Motiv war, aus der Erkenntniß der öffentlichen Rechtsbildung

in England die allgemeingültigen Grundsätze des öffentlichen Rechts ebenso zu

gewinnen, wie die deMsche Rechtswiffenschaft aus dem Studium des römischen

Rechts die allgemeinen Grundsätze deS Privatrechts gezogen hat — und zvar nicht nur zu theoretischer Bestimmung, sondern zu unmittelbar praktischer Ver­ wendung bei dem Ausbau der heimischen Verfassung. So ergab sich ihm der Punkt, bei welchem er seine Aufgabe in Angriff zu nehmen habe, auS der Beobachtung, daß die landläufigen Vorstellungen der englischen Berfaffung hüben und drüben auS dem Grunde zu den gröbsten Mißverständniffen und schiefsten Folgerungen geführt, daß sie den doppelten Unterbau gänzlich außer Acht gelassen, welchen die parlamentarischen Einrichtungen Englands an dem BerwaltungSrecht der Königlichen Aemter und an dem Organismus der Selbst­ verwaltung haben. Er unternahm eS daher, jenes in dem ersten, diesen in dem zweiten Haupitheile eines Werkes darzustellen, welches in dem ParlamentSrechte als drittem Haupttheile seinen Abschluß finden sollte. Er hat danu in rastlos erneuertem Anlauf den ersten Haupttheil in zwei (1857 und 1866), den zweiten in drei Bearbeitungen (1859, 1863 und 1871) immer wieder umge­ schmolzen und dabei den für den dritten Haupttheil bestimmten Inhalt so voll­ ständig vorweggenommen, daß er auf dessen besondere Darstellung anscheinend verzichtet hat. Dann wurden (Verwaltung, Justiz, Rechtsweg, Staatsverwal­ tung und Selbstverwaltung 1869) die in den beiden Haupttheilen gewonnenen Grundsätze in gedrängter Zusammenfassung der öffentlichen RechtSbildung in Frankreich und Deutschland-Preußen vergleichend gegenübergestellt. Die vor Jahren mündlich geäußerte Absicht, daS längst vergriffene Buch als „Verglei­ chendes BerwaltungSrecht" neu zu bearbeiten, scheint der Verfasser aufgegeben zu haben und daS jetzt vorliegende Buch zugleich bestimmt in etwas be­ schränkterer Ausführung diese Lücke auszufüllen. Nachdem er nämlich die geschichttichen Einleitungen der beiden Hauptwerke in den Bearbeitungen von 1863 und 1866 im letzten Jahre zu einer „Englischen BerfaffungSgeschichte" verbunden und erweitert hat, ist nunmehr gleicher Weise, soweit sich auS dem In­ halte deS vorliegenden Bandes entnehmen läßt — die Vorrede ist dem zum Ende dieses JahreS in Aussicht gestellten zweiten Baude vorbehalten — die Verschmelzung der systematischen Theile deS „VerfassungSrechtS" und deS „Selfgovernment" nach deutscher Systematik miteinander und mit dem Buche von 1869, jedoch unter Aus­ scheidung der Vergleichspunkte aus dem französischen BerwaltungSrecht beabsichtigt, soweit dieselben nicht als Elemente der deutschen BerwaltungSsysteme in Betracht kommen. DaS erste Buch, „Die geschichtlichen Grundlagen" (S. 1—114) gibt wie in der Anm. S. 6 erinnert wird, int Wesentlichen den Auszug aus der Englischen BerfaffungSgeschichte, welcher schon der neuesten Auflage von Holzendorff'S Encyclopädie eingereiht ist. DaS zweite Buch „Die allgemeinen Grund­ lagen deS VerwaltungSrechtS", welches den Rest deS Bandes (S. 115—439) auSfüllt, enthält im ersten Kapitel „die VerwaltungSrechtSnormen" ejne neue Arbeit auS alten Bausteinen, in welcher der Verfasser noch einmal im Zusam­ menhang seine geschichtlich-staatsrechtliche Auffassung deS Verhältnisses von Ge­ setz, Verordnung und VerwaltungSregulativ darlegt. DaS zweite Kapilel „Die Organe deS VerwaltungSrechtS" entspricht in seinen beiden ersten Abschnitten

„der König und die Königlichen Räthe" und „die Centralbehörden und daunmittelbare Staatsbeamtenthum" der Hauptsache nach dem Abschnitt A und dem Anhang C deS „BerwaltnngSrechtS" in der zweiten Auflage; der dritte Abschnitt „Die Organe deS Selfgouvernement" ist auS Bestandtheilen deS an­ dern Hauptwerks neu bearbeitet. DaS dritte Kapitel endlich „Die Controlen der Verwaltung" ist eine weitere Ausführung entsprechender Abschnitte deS Buches von 1869. So stellt sich der vorliegende Band, obwohl uns inhaltlich nur überall die wohlbekannten Gedanken wieder begegnen, auch abgesehen von der ergänzenden Benutzung der englischen Gesetzgebung auS den letzten andert­ halb Jahrzehnten, welche organisatorisch an manchen Stellen einschneidend ge­ wesen ist, in der neuen Anordnung und Ausführung durchweg als ein neues Buch dar. Die leitenden Anschauungen sind in einem wenigstens für unsere Gewöhnungen natürlicheren Zusammenhänge aneinandergerückt und auS dem leicht verwirrenden Reichthume der Einzelnheiten herausgehoben. Insbesondere die Abschnitte über die BerwaltungSnormen und die Rechtscontrolen der Ver­ waltung sind in der lapidaren Weise, in welcher sie den Ertrag einer mehr als dreißigjährigen ungeheuren Arbeit abschließen, zum Ausgangspunkt einer neuen Begriffslehre deS öffentlichen RechiS bestimmt, für deren Fingerzeige sich leider in der heutigen deutschen Publicistik noch nicht gar viel tieferes Verständniß er­ kennen läßt. Wer Gneist als den weitaus hervorragendsten geistigen Führer auf diesem Gebiete anerkennt, wird ihm den schuldigen Dank für daS wohlbestellte Ackerfeld, welche- er an Stelle einer steinigen und dornichten Wüste seinen Nachfolgern hinterläßt, nicht besser abstatten können, als indem er jenen Finger­ zeigen zu folgen sich bemüht, wo sie auS den Besonderheiten der englischen Zu­ stände heraus auf ein allgemeines Verwaltung-recht weisen — nicht nach der abstracten Schablone deS „allgemeinen constitutionellen StaatSrechtS", sondern in dem geschichtlichen Sinne gemeinsamer treibender Grundgedanken der euro­ päischen und insbesondere der germanischen Rechts- und StaatSbildung. —l.

Der Abgeordnete Herr von Bi-marck-Schönhaufen 1847—1851. Nach den stenographischen Berichten mit Randglossen für die Gegenwart. Von MartinuS. Leipzig, Otto Wigand.

Die Randglossen zu dem prächtigen Gegenstand, der ja auch sonst in ver­ schiedenen Formen dem Publikum vorliegt, sind die-mal vom fortschrittlichen Standpunkt. Wir erwähnen die Bearbeitung hier, weil eine Stelle zeigt, bizu welch' traurigen Consequenzen dieser Standpunkt bereit- gelangt ist. Der Herausgeber stellt in der Einleitung die Verdienste Bismarcks, die er ja auch anerkennen muß, zusammen und fügt jedesmal in einem „aber" hinzu, wodurch die- Verdienst wieder aufgehoben wird. Er hat den Reichstag mit dem allge­ meinen Stimmrecht eingeführt — aber auch den eisernen Militäretat. Er hat Gewerbefreiheit und Freizügigkeit gebracht, aber auch die Schutzzölle und die

Agrarier. Nun aber wa- sagt dieser Mann ven dem deutschen Reich? Bis­ marck hat, heißt eS wörtlich, „Frankreich zurückgeworfen, das alte deutsche Kaiserthum auf neuer Grundlage errichtet, Elsaß-Lothringen wieder zu Deutschland gebracht. Aber er hat dadurch auch einen, nun schon nahezu zwölf Jahre währenden, latenten Kriegszustand mit Frankreich inaugurirt, der unS nöthigt, nach jeder dort vorgehenden politischen Veränderung stets mit peinlicher Auf­ merksamkeit auSzuschauen und in einer bis an die Zähne gerüsteten Waffnung zu verharren, die finanziell an unserem innersten Marke zehrt, während zugleich Elsaß-Lothringen nach wie vor eine offene Wunde an unserem Leibe bleibt." Also so weit sind wir in Deutschland, so weit ist diese Partei gekommen, welche eS übel nimmt, wenn man ihr weniger Patriotismus zuschreiben will, als an­ deren, daß sie eS zum Verbrechen anrechnet, Elsaß-Lothringen dem Reiche wieder­ gewonnen zu haben! D.

Pins ultra! Schicksale eines deutschen Katholiken 1869—1882. Erzählt von Reinhold Baumstark. Straßburg, Trübner. 6 Mk.

Der Verfasier ist der ehemalige Führer der katholischen Volkspartei in Baden, der unS erzählt sowohl wie er (ein geborener Protestant) zu dieser Partei gekommen und wie er wieder von ihr loSgekommen ist. Sein Katholi­ cismus ist unanfechtbar, er glaubt nicht nur an die Unfehlbarkeit, sondern sogar an die Wunder-Heilkraft deS WasierS von LourdeS. Dennoch ist er allmählich zum grimmigen Gegner unseres „politischen Katholicismus", deS CentrumS linier Windthorst'fcher Führung geworden. ES ist vom höchsten Interesse zu verfolgen, wie er, nachdem sich schon früh zuweilen die Empfindung in ihm ge­ regt, daß „er nicht zu jenen gehöre", allmählich mehr und mehr in den Gegen­ satz gerathen ist, weil er •- nicht bloß „Katholik", sondern auch „Deutscher" sein wollte. Beiläufig 'erhält man auch einen Einblick in den Verlauf deS badischen Kirchenstreites, von dem man in unserem preußischen Publikum wenig weiß und der doch durchweg einen dem preußischen Culturkampf analogen Gang ge­ nommen hat. D.

Briefe moderner Dunkelmänner. Herausgegeben von Eckart Warner. Leipzig, Otto Wigand 1883. 172 Seiten.

Ausschließlich gegen das „evangelische Pfaffenthum" gerichtet und mit all' der Bosheit, grotesken Uebertreibung und direkter Injurie in Scene gesetzt, welche eine Satire im großen Styl ja'wohl erlaubt und auch nicht ohne daTalent, welches denn freilich daS wichtigste Erforderniß für diese KampfeSart ist. Wern die parodirende Verwendung erhabener Worte und Gedanken nicht an sich zu widerwärtig ist, wird vieles in dem Buche sehr amüsant finden Daß freilich unsere kirchlichen Verhältnisse thatsächlich keinen genügenden Grund zu

einem so giftigen Angriff bieten, beweist der Verf. selbst, indem er sich ge­ nöthigt sieht, mehrere Jahrzehnte todt zur Sammlung seiner Belegstellen zurück­ zugreifen. ' D.

Renaissance und Humanismus in Italien und Deutschland. Bon Dr. L. Geiger. II. Hauptabtheilung. Theil 8 der Allgemeinen Geschichte in Einzeldarstellungen, herausgegeben von W. Onken. Berlin. G. Grotesche Buchhandlung. 1882.

Onken will eine Weltgeschichte in Einzeldarstellungen für Gebildete schreiben lasten. In jedem Bande müßte daher die Geschichte einer bestimmten Epoche behandelt werden. Statt dessen giebt Geiger in dem vorliegenden Bande nichts als eine recht mäßige Literaturgeschichte des 14. und 15. Jahrhunderts in Italien und Deutschland. Wie weit das Werk, von kleinen, auch für den Laien erkennbaren Irrthümern und Mängeln abgesehen, selbst als Literaturgeschichte verfehlt ist, darauf soll hier nicht eingegangen werden. . Zu rügen wäre jeden­ falls, daß die politischen und wirthschaftlichen Schriftsteller ganz übergangen sind, obgleich ihre Werke doch auch, sogut wie die der Dichter und Philologen zur Literatur einer Zeit gehören. Der Principe deS Macchiavelli ist sicherlich eine der bedeutendsten Erscheinungen der italienischen Renaissance, Geiger fertigt ihn mit einigen oberflächlichen Redensarten ab. Unerhört ist ferner der Ver­ such, die ganze religiöse Bewegung der Zeit zu ignoriren. Indem Hutten als ein Verfechter der Lehre Luthers behandelt wird, wird doch von Luther und seiner Thätigkeit gar nichts gesagt. Doch darüber mögen Berufenere sich auSsprechen. Hier soll von unS nur dagegen Protest erhoben werden, daß man eine solche Zeit schildern will, ohne auf die politischen, rechtlichen und wirth­ schaftlichen Zustände derselben einzugehen. Niemals wird man zu einem vollen Verständniß jener UebergangSzeit durchdringen, wenn man nicht den Umschwung, der sich auf diesem Gebiete, ebenso wie auf dem religiösen vollzog, eingehend behandelt. Sowenig die Weltgeschichte in der bloßen Darstellung von Schlachten und Hosfesten besteht, sowenig, ja noch weniger, läßt sich der Geist, die Bewe­ gung einer Zeit in den Auszügen aus einigen Dichtern und Stubengelehrten erkennen. St. zu Putlitz.

Zur Wiedereinführung der Schuldhaft. Bon R. Schmölder, Amts­ richter. Köln 1883. Rommerskirchen'- Buchhandlung (I. Mellinghaus).

„Ihrem wahren Wesen nach richtet sich die Schuldhaft einzig und allein gegen den zahlungsfähigen aber zahlungSunlustigen Schuldner" — das ist der Grundgedanke der vorliegenden lesenSwerthen und in ihren prakti­ schen Vorschlägen beachtenSwerthen Schrift. Die Schuldhaft gehört zu den Instituten, welche die liberale Gesetzgebung leichten Herzens radikal beseitigt hat, anstatt sie zu reformiren. Die 1867 eingeführte Wucherfreiheit hatte zur

104

Notizen.

nothwendigen Folge die Freiheit ohne persönliche Verantwortung betrügerisch Schulden zu machen und nicht zu bezahlen. Der wucherischen Ausbeutung sind bereits 1880 wieder gesetzliche Schranken gezogen; ohne Zweifel wird auch die Frage der Wiedereinführung der Schuldhaft in dem eben angegebenen Umfang wieder auf die Tagesordnung kommen. Die Kunst, seinen Gläubigern die E^ekutionSobjekte zu entziehen und die Leichtfertigkeit im Ableisten der OffenbarungSeide hat Dimensionen angenommen, welche gesetzliche Präventivmaß­ regeln wünschenSwerth erscheinen lassen, da die Repressivmaßregeln deS Straf­ richters der Vorsicht und der Gewandtheit der böswilligen Schuldner gegenüber in der Regel nicht zum Ziele führen. Besonders lehrreich ist die geschichtliche Entwickelung, welche das Institut der Schuldhaft in Frankreich während des letzten JahrhunderS durchgemacht hat: Durch die große Revolution beseitigt wurde eS bereits 1797 wiedereinge­ führt. Die zweite Aufhebung im Jahre 1848 dauerte nur 10 Monate. 1867 suchte Napoleon III. sein sinkendes Ansehen durch Aufhebung der Schuldhaft „zur Erhöhung der Bürgschaften der individuellen Freiheit" zu retablireu. Aber selbst die Republik hat sie für unentbehrlich gehalten und sie als ExekuttonSmittel für die Kosten in Strafsachen, wo sie unsere- Erachten- allerdings am wenigsten angebracht ist, wiedereingeführt. E. D.

Druckfehler.

In dem Artikel de- Juniheft- „Da- Kirchengefey vom 5. Juni- (Dd. 51 S. 654

Z. 7 v. o.) ist zu lesen:

Der römische Stuhl verfährt gegenüber der weltlichen Gewalt grundsätzlich grund­ satzlos, gerade weil er die principiellste (nicht: principloseste) aller Mächte ist.

Verantwortlicher Redacteur: Dr. H. Delbrück Berlin W. Schelling-Str. 11. Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.

Die Umwandelung des deutschen Rechtslebens durch die Aufnahme des römischen Rechts*). Hochansehnltche Versammlung, liebe und verehrte Kommilitonen! Wenn ich nach altem akademischem Brauch da- Amt, zu welchem daVertrauen meiner hochgeehrten Herren Kollegen für da» nächste Jahr mich berufen hat, mit einer wissenschaftlichen Ansprache von allgemeinerem Interesse anzutreten suche, so wähle ich da» Thema aus dem Bereiche einet der engeren Wissenschaften, zu deren Pflege an dieser Universität ich mit berufen bin, der deutschen RechtSgeschichte nämlich, und nehme den Anlaß zu solcher Wahl aus grade in unseren Tagen häufig hervortreten­ den Erörterungen. Unsere Zcit ist voll von Bestrebungen, die wirthschafllichen Verhält­ nisse, namentlich der ungünstiger gestellten Volksklassen durch gesetzge­ berische Reformen zu bessern und zu heben. Diese Bestrebungen sind an sich ohne Zweifel vollkommen berechtigt: denn unser wirthschaftlicheS Leben ist in den letzten fünfzig Jahren so rasch und durchgreifend umgestaltet worden, wie eS ähnlich in unserer Geschichte nur der Fall gewesen ist in den beiden Menschenaltern, welche dem Beginne der Kirchenreformation unmittelbar vorangiengen, und eS zeugt von weiser Voraussicht, wenn der Versuch gemacht wird, den gefahrdrohenden Verlegenheiten, welche groß­ artige Erfindungen und schnelle wirthschaftliche Verschiebungen nothwendig im Gefolge haben müssen, durch organisatorische Maßregeln zu begegnen und Abhilfe zu verschaffen. Nur ist freilich im Auge zu behalten, daß zu allen Zeiten wirthschaftliche Reformpläne viel häufiger noch als politische nach Utopien geführt haben, und eS ist nicht minder zu verkennen, daß heute, wo die Presie und Versammlungen aller Art Jedermann, ob weise *) Rede, gehalten bei Antritt M Rektorat« der Universität Halle-Wittenberg am 12. Juli 1883. Preußische Jahrbücher.

Bd LIL

Heft 2.

g

Die Umwandelung des deutschen Recht-leben»

106 ob

unweise, einen weithin widerhallenden und zahlreiche Echo» hervor-

rufendeu Tummelplatz gewähren, auch recht viel Verkehrtheiten al» Re­ formgedanken sich anpreisen.

DieS dürfte namentlich auch von der Ver­

sicherung gelten, welche, wenn auch nicht neu, doch seit • etwa zwölf Jahren

.wieder ganz besonder» in Schwang gekommen ist:

an den Leiden der

Gegenwart sei vor Allem da» römische Recht schuld; die» habe, da nur schnödester EgoiSmu» seine Seele sei, zur Ausbeutung der Schwachen und

allgemeinen Verarmung geführt, während da» deutsche Recht, durchaus ethisch wie eS stets gewesen sei. Jedem daS Seine verschaffte, den Einzelnen organisch den sittlichen Verbänden und dem großen Ganzen eingefügt und

so ein Leben wirthschaftlicher Harmonie

erzeugt habe.

Und bei diesen

Anklagen wird dann nur selten stehen geblieben, häufiger vielmehr daran

die Forderung

geknüpft,

daß gegen

Rechtsleben reagircn und zu den müsse.

daS Gift des RomaniSmuS unser

deutschen Grundgedanken

zurückkehren

Kenner des römischen oder deutschen Rechts sind eS allerdings

kaum, welche so urtheilen und solche Forderung erheben: höchstens haben

Einzelne — ich nenne unter den Bekannteren Jhering

und Arnold —

durch mitunter mehr schillernde oder glänzende als grade aufhellende Be­

merkungen über den Grundcharakter des römischen oder deutschen Rechts die Stichworte zu Ausführungen der angedeuteten Art gegeben, wie sie in der periodischen Preffe, aber auch in Broschüren und Büchern, die sich

mit socialen Fragen beschäftigen, sehr häufig begegnen.

Auch in einem

Werke, welche- jetzt dem UltramontaniSmuS eine» der Arsenale bietet, um auf seine Weise da» bevorstehende Lutherfest zu feiern, in der bedauerlich

genug schon in achter Auflage verbreiteten Geschichte de» deutschen Volke» von Janffen wird der Nachweis versucht, daß im 14. und 15. Jahrhun­

dert die kirchlichen und sittlichen, wiffenschaftlichen und künstlerischen, wirthschaftlichen und rechtlichen Zustände deS. deutschen Volkes im Ganzen vor­ treffliche gewesen seien, Verwilderung und Elend aber über unser Volk

gebracht sei einmal durch die Kirchenreformation, sodann durch die Auf­ nahme deS römischen Recht».

Immer schon durch solche Behauptungen zum Widerspruch angeregt, möchte ich Sie auch heute auffordern, mir zu einer kurzen wissenschaft­

lichen Betrachtung darüber zu folgen, in wie fern durch die Aufnahme

de» römischen Recht»

da» deutsche Rechtsleben

umgestaltet worden

Ueber diese» Thema ließe sich allerdings ein Buch schreiben:

sei.

doch hoffe

ich, daß eS, bei möglichster Vermeidung des Eingehens auf die Einzel­ heiten und bei völliger Beiseitelassung der durch daS römische Recht zur

Herrschaft gelangten juristischen Technik, auch einer kurzen und nicht er­ schöpfenden Betrachtung über die Einwirkung de» römischen Recht- auf

die großen Institute de« praktischen Recht-leben«

Interesse zu gewinnen.

gelingen wird einige«

Zunächst aber will ich versuchen,

den Vorgang

der Rereption de« römischen Recht« selbst in großen Zügen Ihnen vor­

zuführen. Al« im neunten Jahrhundert da- deutsche Reich au- dem fränkischen dauernd sich auSsonderte, stellte eS sich al« ein wesentlich deutsche» RechtS-

gebiet dar, welche- durch einige hin und wieder ganz äußerlich angewen­

dete römisch-rechtliche Redewendungen an diesem deutschen Charakter auch Eine wesentliche Aenderung hierin bewirkte

keineswegs Einbuße erfuhr.

aber frühe schon die Stellung der Kirche in Deutschland herbei.

führt in seinem erwähnten Buche auS,

Janssen

daß die katholische Kirche

daS

heimische deutsche Recht stet- begünstigt und auögebildet und vor dem ein­ dringenden römischen Recht geschützt habe.

vollständig unrichtig

und

genau

Aber diese Ausführungen sind

daS Gegentheil

von den Janssenschen

Behauptungen ist eine historische, auch nicht im Geringsten zweifelhafte

Thatsache.

Der Satz, daß die Kirche nach römischem Recht lebe, wird

schon im neunten Jahrhundert präcisirt und galt auch in Deutschland sehr

bald nicht nur von dem Institut der Kirche, sondern auch von den Per­ Seine sehr natürliche Erklärung hat er theils darin,

sonen der Kleriker.

daß als Heimath der Kirche, ohne Rücksicht aüf nationale Berschieden-

heiten, Rom galt, und in Rom das römische Recht niemals die praktische Anwendung verloren hatte; zum andern Theil aber mußte daS römische

Recht der Kirche deshalb höchst anziehend sein, weil eS, namentlich in der

Ausbildung, welche eS durch die christlichen Kaiser erhalten, den materiellen

Interessen der Kirche

in hohem Grade förderlich war.

Bon einzelnen

Privilegien «besehen, wurden namentlich zwei große römische RechtSinstitute von der Kirche sehr geschätzt, nämlich die römischen Testamente und

die römisch-rechtliche Verjährung.

Sehr frühe schon begünstigten sowohl

der frische GlaubenSeiser als die Herrschaft der Kirche über die Gemüther Zuwendungen Vermögender auf deren Todesfall zu Gunsten frommer und

kirchlicher Zwecke.

Solche Zuwendungen ließen sich zwar nicht an der

Hand deS heimischen Recht-, wohl aber durch die römischen Testamente

sichern, und deswegen hat die römische Testamentslehre mit dem damit

zusammenhängenden, römischen Pflichttheils- und Notherbenrecht schon Jahr­ hunderte vor der Reception des übrigen Rechts vielfach in Deutschland

Eingang gesunden. lehre der Fall.

Genau dasselbe war mit der römischen VerjährungS-

Nach deutschem Recht büßte ein Recht durch sogenanntes

Verschweigen gewöhnlich ganz ein, wer eS ein Jahr, sechs Wochen und drei Tage

auSzuüben und

geltend zu machen unterlassen hatte.

DaS

römische Recht dagegen gestattete der Kirche, ein bis zu vierzig, ja mitunter 8*

108

Die Umwandelung de» deutschen Recht-leben»

sogar bis zu hundert Jahren von ihr nicht auSgeübteS Recht al- unver­ jährt immer noch für sich zu reclamiren, und dieses kirchliche Privileg be­ wirkte ebenso das schon frühe Eindringen der römischen BerjährungSlehre. DaS römische Recht aber wurde lange nur in den geistlichen Gerichten Deutschlands angewendet, deren Competenz sich freilich mehr und mehr erweiterte, zum Theil zum unzweifelhaften Segen des deutschen RechtSlebenS und der Rechtssicherheit: denn in der Zeit vom dreizehnten bis fünfzehnten Jahrhundert, da der Arm der weltlichen Gewalt so vielfach gegen die Mächtigen und Trotzigen sich lahm oder verkrüppelt erwies, vermochte die Furcht vor den geistlichen Censuren und die kirchliche Macht über die Gemüther immerhin noch eine verhältnißmäßig größere Bürg­ schaft gegen Gewalt und Missethat zu gewähren. Dem deutschen Recht gönnten dagegen, soweit e» im Widerspruch zum römischen sowohl alkanonischen Rechte stand, die geistlichen Gerichte keine Berücksichtigung. Wir haben hiefür ein klassische- Zeugniß in dem Vorwort zur Glosse de- Sachsenspiegel-, welche um 1350 ein märkischer Edelmann, Johann von Buch, verfaßt hat. Johann von Buch sagt hier wörtlich: wenn man im geistlichen Gericht zu processiren habe, so werde man für einen Narren gehalten, wenn man sich auf den Sachsenspiegel, wo er mit dem römi­ schen oder kanonischen Recht im Widerspruch stehe, berufe. Deshalb habe er, um den Sachsenspiegel zu retten, durch die Glosse den Nachweis unter­ nommen, daß besten Bestimmungen eigentlich im Einklänge mit dem römi­ schen und kanonischen Recht stehen*). Diese anderweit vielfach bestätigten Worte Johann- von Buch widerlegen bündigst die behauptete Begünstigung deutschen Recht- und besten Schutz gegen da- römische Recht durch die Kirche: Jansten aber verschweigt diese Worte, obwohl er sonst mehrfach fromme, aber für da- Recht unerhebliche Aeußerungen der Buchschen Glosse heranzieht. Daß später, zu einer Zeit wo da- kanonische Recht au- dem römischen Recht alle- der Kirche Bortheilhafte in sich ausge­ nommen hatte, die Päpste mehrfach gegen da- Studium de- römischen Recht- eifern, widerlegt nicht, daß unter dem Schutz der Kirche darömische Recht zuerst in Deutschland' seinen Einzug gehalten hat. In den weltlichen Gerichten Deutschland- ist dagegen von einer Anwendung römischen Recht- in irgend erheblichem Umfange vor der Mitte de- fünfzehnten Jahrhundert- nicht die Rede, und erst seit an» ♦) Foro ecclesiastico ei debee litigare, haberis pro fantaetico, ei velis alkgare iura huiüs epeculi, quae ab bis contemnuntur ut unius populi, si non concordabuntur legibus vel canonibue, ut hic sunt concordata et approbationibus legum sunt approbata.

nähernd dem Jahre 1450 nimmt hier der Vorgang seinen Anfang, welchen man Reception des römischen Recht- nennt. Eine ganze Reihe von für diese Aufnahme entscheidenden Momenten treffen in merkwürdiger Ueber­ einstimmung zu diesem Zeitpunkte zusammen. Seit dieser Zeit tritt an Stelle de- kaiserlichen Hofrichters, der bis dahin stets dem ungelehrten Ritterstande oder dem höheren Adel angehört hatte, ein mit römisch-rechtlich gebildeten Urtheilern besetztes kaiserliches Hofgericht, und seit der gleichen Zett wiederholt sich die entsprechende Erscheinung In den zahlreichen terri­ torialen Hofgertchten. Seit 1450 erst werden an den deutschen Univer­ sitäten römischrechtliche Professuren begründet, während bis dahin das römische Recht nur als ein Hilfsrecht deS kanonischen dort gelehrt worden war; seit dieser Zeit fangen alle größeren Städte an, ihr früheres heimi­ sches Recht auf romanistischer Grundlage umzuarbeiten, oder, wie man zu jener Zeit sagte, zu reformiren. Zwei Jahrzehnte aber später be­ ginnen dann die Kammer- und HofgerichtSordnungen vorzuschreiben, daß an den oberen Gerichten in Ermangelung heimischen Rechts gerichtet werden solle nach des Reichs und gemeinen Rechten, worunter, indem nun erst die lange nur theoretisch verbreitete Idee von der Nachfolger­ schaft der deutschen Könige in daS römische Kaiserthum praktisch wird, vor Allem daS römische Recht verstanden wird. Die Aufnahme de» das hei­ mische Recht mehr und mehr verdrängenden Rechts vollzog sich zuerst in den oberen Gerichten, deren Praxis erst sehr allmählich zur Folge hatte, daß nach ihr sich auch die Untergerichte im Rechtsprechen richteten, die häufig noch ein volles Jahrhundert später und mitunter darüber hinaus heimisches Recht in heimischem Verfahren anwendeten. Keine einzelne gesetzgeberische Maßregel hat diese große Umwandelung vollzogen: die geschichtliche Entwickelung und der Geist der Zeit haben allmählich sie gezeitigt, und die Gesetzgebung hat später nur bestätigend und nachhelfend gewirkt. Schon dadurch allein könnte die Weisheit der nachträglichen GeschichtSverbefferer an ihrem Urtheile irre werden. Durch die Verbindung Deutschlands mit Italien, wo etwa seit dem Jahr 1100 zahlreiche Rechtsschulen die wissenschaftliche Pflege deS nie dort völlig außer Uebung gekommenen römischen Rechts wieder aufleben ließen, war es geschehen, daß Deutsche in stätig wachsender Anzahl in Italien romanistische Studien machten und Kenntnisse deS römischen Recht- heim brachten. Manche holten auch ihre Kenntniß deS römischen Rechts von Pari», und seit der Mitte de» 14. Jahrhundert» war diese auch in Deutschland selbst an den hier neu gegründeten Universitäten zu erlangen. Die leitende Stellung welche bi» in da» 11. Jahrhundert die Geistlichkeit im öffentlichen Leben inne gehabt hatte und in welcher diese dann mehr und

mehr durch den Rttterstand verdrängt wurde, ging nun, nämlich seit dem

14. Jahrhundert, an die römischgebildeten Juristen über.

Man darf nicht

sagen, daß eS nur die Landesherren, deren Interessen sich allerdings das absolutistische Recht der römischen Katserzeit

vielfach

förderlich erwies,

waren, welche den Romanisten die Wege ebneten; in den Städten tritt

vielmehr ganz derselbe Zug hervor: daS für die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten maßgebende Amt des Stadtschreibers, des RechtSconsu-

lenten, des Shndicuö wurde ebenfalls seit derselben Zeit mit römisch ge­ bildeten Juristen besetzt, und eS wurde ebenso immer häufiger, daß auS

freistem privaten Antriebe die Entscheidung von Rechtshändeln im Wege

des CompromisteS statt wie früher städtischen Schöffen jetzt studirten Ro­ manisten übertragen wurde, die dann, denn grade darum compromittirte

auf sie, nach römischem Recht entscheiden sollten.

Die romanistische Weis­

heit, wie überaus kläglich es auch bei zahlreichen Juristen jener Zeit um sie bestellt war, galt eben als etwas der heimischen Bildung überlegenes,

und eS kam ihr sehr bald zu Gute, daß die humanistischen Bestrebungen wie der antiken Kultur überhaupt, so auch

dem römischen Recht ein

freundliches Gesicht machten und Vorschub leisteten.

Für das Eindringen

deS römischen Rechts in die Gerichte insbesondere aber waren zwei Um­

stände namentlich von Bedeutung: der eine, oft hervorgehobene lag darin, daß das deutsche Recht in zahllosen Verschiedenheiten lokalsten Charakters und zwar meist nur gewohnheitsmäßig ausgebildet war.

Der um ein

Urtheil angegangene Jurist konnte einen Rechtsfall, dessen Schauplatz auch nur in mäßiger Entfernung von ihm lag, selbst wenn er den guten Willen

gehabt hätte, wirklich oft kaum nach dem ihm eben nicht nachgewiesenen heimischen RechtSsatz entscheiden, und kam dann leicht in die Lage in dem

ihm bekannten römischen Recht die Entscheidungsnorm zu suchen.

Ein

anderer sonst kaum hervorgehobener, aber für die Einbürgerung deS römi­ schen Rechts sicher bedeutender Umstand lag darin, daß der deutsche Schöffe

des Mittelalters sowenig wie der heutige Schöffe oder Geschworene für seine Entscheidung Gründe anzugeben brauchte, daß er nicht nach dem Buch richtete und auch nicht richten sollte, sondern nach seinem Ermessen,

secundum arbitrium, daß er wie eS oft selbstbewußt heißt, den Schlüssel

zum Recht bei ihm selber haben sollte, daß er nicht gesetzanwendend sondern rechterzeugend war.

Trat

von diesem

Gesichtspunkte aus die

Pflicht des Urtheilens an studirte Juristen, so verstand es sich beinahe von selbst, daß sie nach dem von ihnen hoch gehaltenen römischen Recht

urtheilten; und so urtheilten sie anfangs wirklich wie deutsche Schöffen: das Angeben von Urtheilsgründen und die Berufung auf das zur An­

wendung gelangende Recht entwickelte sich erst,

als die Kammer- und

Hofgerichtsordnungen schon nach begonnener Einbürgerung des römischen

Rechts das neue Verfahren regelten. Das neue.Recht fand, soweit die geschichtlichen Nachrichten erkennen

lassen, in den ersten Jahrzehnden nach 1450 keinen erheblichen Wider­

spruch im deutschen Volke.

Erst seit 1480 ungefähr tritt eine lebhaftere,

oft erbitterte Opposition hervor, welche zwei Menschenalter hindurch an­ dauert und sich in den Bauernkriegen mit revolutionärer Leidenschaft Luft macht.

Zum großen Theil galt diese bis zur wahren

Wuth sich stei­

gernde Abneigung der Zeit den Personen der römisch gebildeten Juristen, welche in ihrer großen Mehrheit von Zeitgenossen und selbst von achtungS-

werthen Romanisten jener Zeit als steif und ledern ihrer Bildung nach,

(„grobe Esel" Tischrede),

nennt sie in complexu Martin Luther einmal in einer

als feil, gesinnungslos und rabulistisch ihrem Charaker nach

geschildert werden. herab,

Allgemein,

vom Kaiser bis zum leibeigenen Bauer

standen die Juristen damals in der entschiedensten MiSachtung,

und wenn trotz der miSachteten Träger des neuen Rechts dieses dennoch durchdrang,

so ist darin nicht der schwächste Beweis dafür zu erblicken,

daß die Aufnahme des römischen Rechts sachlich gerechtfertigt war und einem wirklichen Bedürfniß der Zeit entgegenkam.

Aber auch gegen daS

neue Recht selbst erhebt sich seit 1480 etwa lebhafte Opposition, die theils in dessen Unverständlichkeit und

der Langsamkeit und Heimlichkeit deS

neuen Verfahrens ihre Nahrung findet, theils durch wirthschaftltche Nach­

theile hervorgerufen wird, welche etwa den ländlichen Bewohnern durch

Verdunkelung oder Entziehung bäuerlicher Nutzungsrechte oder dem Bürger-

und Bauerstande durch Schließung des Waldes zu Gunsten der LandesHerrn und der privilegirten Klassen, unter den Nachwirkungen deS römi­ schen RechlS zugefügt werden.

Da ist es wohl und zwar wiederholt vor­

gekommen, daß daS erbitterte Volk die romanistischen Urtheiler und Ad-

vocaten mitsammt dem corpus Juris buchstäblich auS den Gerichtsstuben warf, und häufig wurden in landständischen Versammlungen und Be­

schwerden an die Landesregierungen,

in Flugblättern und Büchern die

heftigsten Proteste gegen die doctores Juris und das fremde Recht laut.

Aber seit dem Jahre 1540 ungefähr erlahmt diese Opposition: daS alte

Geschlecht, das noch

unter dem

deutschen Recht und Verfahren gelebt

hatte, war auSgestorben und man hatte sich in die neuen Zustände, als wie mangelhaft sie im Einzlen beklagt wurden, doch im Ganzen eingelebt.

Am auffallendsten zeigte sich die eingetretene Wandelung im Herzogthum Württemberg, dessen mittelalterliche Rechtsentwickelung sich durch deS alten

Professor Wächter Verdienste überhaupt am Besten übersehen läßt.

Die­

selben württembergischen Landstände, welche unter Herzog Ulrich um 1500

und später noch um 1520 sich garnicht genug darin thun konnten, das römische Recht und die Doctoren als eine unerträgliche Landplage zu schildern, verzichten doch 1552 auf die Aufforderung deS Herzog Christoph völlig darauf, zum Erlaß deS neuen wiirttembergischen Landrecht» mitzu­ wirken, mit der Begründung, „daß sie Alle- den gelehrten herzoglichen Räthen und der Tübinger Juristenfacultät befohlen haben wollen; die würden eS den Rechten und der Billigkeit gemäß, auch nach Gelegenheit deS Landes wohl zu stellen wissen". Aehnlich ging eS In anderen deut­ schen Ländern zu: die landesfürstliche und territoriale Gesetzgebung hat grade seit dem 16. Jahrhundert theils in allgemeinen Landesordnungen theils in Specialgesetzen da- römische Recht in Deutschland eingebürgert, und die im Volke verstummte Opposition lebte erst mehr al- ein Jahrhun­ dert später, dann aber mit wesentlich anderen Zielen in juristischen Kreisen und namentlich auch von unserer Universität Halle au- wieder auf. Wende ich mich nun jtt der im Eingänge aufgestellten Frage, welche Umwandelungen da» deutsche Rechtsleben durch die Aufnahme de» römi­ schen erfahren habe, so. scheint mir der Ansicht derer, die da meinen, daß durch da» römische Recht da» deutsche, vom Volke empfundene, nicht bloß von den Juristen construirte und formulirte Recht in vielen Theilen ziemlich, auf den Kopf gestellt sei, und daß e» darauf ankomme, zu den verdrängten Principien de» früheren deutschen Recht» zurückzukehren, ein großer Irrthum über die Macht zu Gtunde zu liegen, welche überhaupt der Gesetzgebung oder dem Aufkommen eine» anderweiten Reckt» für unser Rechtsleben innewohnt. Die Verfassungsformen deS staatlichen Lebenkönnen allerdings von dem Gesetzgeber mit einer wenigstens relativen Freiheit, selbst mit Willkür neu in daS Leben gerufen oder an die Stelle vordem bestehender gesetzt werden: sehen wir doch in der Geschichte Staaten und Staatenverbindungen neu entstehen oder bei Wechsel der StaatSform neu sich einrichten. Auch ist e» der Gesetzgebung möglich, da- formale Verfahren für Handhabung und Schutz deS privaten oder Strafrecht-, den Proceß, gelegentlich durch ein andere-, auf ganz neuen Grundlagen ruhende- zu ersetzen. DaS materielle Privat- und Strafrecht aber ist so sehr eine nothwendige Consequenz der wirthschaftlichen und gesellschaft­ lichen Zustände und der ein Volk beherrschenden sittlichen Anschauungen, daß eS dem Gesetzgeber unmöglich ist, diese» mit gleicher Freiheit umzumoveln oder neu zu schaffen; der Gesetzgeber wird, und e» wäre ein Un­ glück, wenn er e» ander» erstrebte, auf diesem Gebiet immer nur uachhelfen, Einzelheiten ordnen und neuen Lebensentwickelungen den Durchbruch erleichtern können. DaS bürgerliche und Strafrecht der Völker ist oft neu redigirt worden; daß eS jemals neu geschaffen worden wäre, wie eine

Sitaat-verfafsung oder ein Gerichtsverfahren oft wohl neu in» Leben ge­ treten ist, davon weiß die Geschichte keine» Bölke» etwa». — Die Auf­ nahme dc» römischen Recht» hat nicht ander» zu wirken vermocht wie die Gesetzgebung; sie hat für die deutsche RechtSentwickeltlng eine doppelte Function geübt. Einmal hat sie gegenüber der endlosen Zersplitterung deS mittelalterlichen deutschen Recht» eine dem ganzen deutschen Volke gemeinsame Grundlage seine» Recht» geschaffen: nicht die Grundlage, son­ dern eine seiner Grundlagen, und wenn da» deutsche Volk jetzt endlich der Codification eine- wesentlich einheitlichen Privatrechts nahe gekommen ist, so verdanken wir dies vor Allem dem römischen Recht. Sodann hat da» römische Recht die andere Function geübt, in vielen Fällen einer im deutschen Leben angebahnten oder vorbereiteten Entwickelung zum Durch­ bruch und zum Siege zu verhelfen, dem materiell werdenden Recht Ge­ burtshilfe zu leisten. ES hat die- vermocht auf solchen Gebieten, auf denen das deutsche Leben zu Zuständen sich durchgearbettet hatte, welche den entwickelten Kulturverhältnissen deS römischen Kaiserreichs ähnlicher geworden waren als den feudalen und naturalwirthschaftlichen des früheren deutschen Mittelalters, und das antike römische Recht hat hier ebenso wie die antike Bildung überhaupt zu einem wesentlichen Träger unserer mo­ dernen Kultur sich entwickelt. Wo solche der römischen Kultur verwandte wirthschaftliche Zustände In Deutschland nicht bestanden, oder wo eigen­ thümliche sittliche Auffassungen deS deutschen Volkes in Frage kamen, da hat aller Eifer der römischgebildeten Juristen und alle- Bemühen der partikularen Gesetzgebung nicht vermocht, daS römische Recht einzubürgern; daS deutsche Rechtsleben hat sich vielmehr insoweit überhaupt ablehnend gegen da» fremde Element verhalten, oder eS hat, nachdem ihm durch un­ natürliches Aufpropfen innerlich fremdartiger Bestimmungen eine Zeit lang Pein und Verwirrung bereitet worden war, Kraft genug bewährt, daS Fremdartige wieder auSzustoßen und zu deutschen Grundsätzen zurückzu­ kehren. ES gilt, dieS in einzelnen Erscheinungen des deutschen RechtSlebenS, zunächst deS Privatrechts, etwa» auszuführen. Die persönliche Rechtsstellung anlangend, so war das deutsche Recht bekanntlich streng ständisch ausgebildet. Ehe und Beerbung konnte nur zwischen standeSgleichen Personen statthaben. Nach einer Nachricht aus dem neunten Jahrhundert soll bei den Sachsen die Ehe zwischen StandeSungleichen sogar mit Todesstrafe für beide Theile bedroht gewesen sein, und sicher ist eS, daß anderweit eine Verbindung dieser Art al- Ehe jedenfalls nicht anerkannt wurde. Der Einfluß der Kirche setzte es zwar durch, daß eheliche Verbindungen zwischen standeSungleichen Personen wenigstens insofern als Ehen galten, daß sie vor der Auflösung geschützt

und die aus ihnen geborenen Kinder als ehelich angesehen wurden; eine solche standeöungletche Ehe war dann wohl kirchlich giltig, vom Rechtsstandpunkt aber keine echte und rechte Ehe, d. h. die Gatten waren nicht StandeSgenossen, die Kinder beerbten nur denjenigen ihrer Eltern, welcher dem niedern Stande angehörle. Dieser deutsche Standpunkt wurde er­ schüttert einerseits durch die Entwickelung in den Städten, in denen eine Mischung und bis zum gewissen Grade Ausgleichung der Stände statt­ fand, sodann aber dadurch, daß der Ritterstand seine frühere Abgeschlossen­ heit verlor. Dies geschah theil- in Folge dessen, daß seit Karl IV. die ritterlichen Ehren und Prädtcate willkürlich beliebigen Personen verliehen wurden, Nobilitirungen aufkamen, mehr noch durch das Zurücktreten der Ritterheere hinter den in Folge der Erfindung des Schießpulvers immer massenhafter werdenden Söldnern, indem hiedurch der Ritterstand seine Hauptbedeutung im öffentlichen Leben einbüßte und eine Schranke zwischen ihm und anderen Ständen ihren Halt verlor. Aber diese Wandelungen hatten den deutschen RechtSstandpunkt nur in ein verwirrungsvolles Schwanken gebracht, und das volle connubium hat den Ständen des deutschen Volkes erst daS Recht der Römer gebracht, die es sich selbst schon 1800 Jahre früher erobert und ihr Recht der Freien überhaupt wesentlich zur Rechtsgleichheit entwickelt hatten. Es war römisches und wurde nun deutsches Recht, daß die Rechtsstellung des Ehemannes be­ stimmend war für diejenige der Frau und der Kinder, und das eheliche und Familienband überwand nun erst die Verschiedenheiten des Standes. Die gleiche, nicht plötzlich, sondern allmählich wirkende Kraft übte das römische Recht auch sonst auf dem Wege zur Rechtsgleichheit, insbeson­ dere auch zu Gunsten deS weiblichen Geschlechts. In ihrer Fähigkeit zum Rechtserwerb, namentlich im Erbrecht, in ihrer BerfügungSfähigkeit durch Beseitigung der nach deutschem Rechte für alle Frauen ohne Rücksicht auf ihr Alter bestehenden Geschlechtsvormundschaft hat daS römische Recht die Rechtsstellung der Frau zweifellos gehoben. — Der Verfasser einer deut­ schen Geschichte und einer Geschichte der Leibeigenschaft hat dagegen die Behauptung aufgestellt, daß mit dem römischen Recht auch daS römische Sclavenrecht Aufnahme gefunden und die Rechtsstellung der Leibeigenen in Deutschland verschlechtert hätte. Indeß ist diese Behauptung völlig grundlos. In der Stellung, die da» deutsche Recht dem Unfreien zu allen Zeiten zugewiesen hat, zeigt eS eine entschiedene sittliche Ueberlegenheit über daS römische Recht. Der Unfreie ist bei den Deutschen nie wie bei den Römern ganz alS Sache behandelt, nie völlig rechtlos und der Herren­ willkür unterworfen gewesen. ES ist vielleicht die hübschste und menschlich ansprechendste. Ausführung im ganzen Sachsenspiegel,, in welcher dessen

Verfasser den Ursprung der Leibeigenschaft untersucht, diese im Princip verwirft und nach längerer Betrachtung zu dem Schluß gelangt, daß, weil Gvtt den Mensche»! nach seinem Bilde geschaffen, dieser nur Gotte- aber keine- anderen Menschen Eigen sein solle und die Leibeigenschaft daher wilder Gott sei. Diese Auffassung findet auch im deutschen Recht ihre Resonanz, die schon dem Tacitu- auffallend und vernehmlich gewesen ist, unld eS ist unstreitig, daß auch im Mittelalter mancher Hörige eine nicht nur wirthschaftlich, sondern auch rechtlich gesichertere Existenz führte alviele freie Personen. Aber hierin hat sich durch die Aufnahme de- römi­ schen Recht» auch garnicht- geändert, weil da- römische Recht nicht in seiner justinianischen Gestalt, sondern in derjenigen Ausbildung zur Reception gelangt ist, welche eS im Mittelalter in Italien gefunden, wo die rechtliche Stellung der Leibeigenen sich wesentlich ähnlich wie in Deutsch­ land entwickelt hatte. Da-Sklavenrecht de-oorpns juria ist überhaupt in Deutschland nicht praktisch geworden. . Wenn so da- römische Recht auf die Rechtsstellung der Personen in einem dem moderne»» Bewußtsein entsprechenden Sinne entgegen dem früheren de»»tschen Recht Einfluß gewonnen hat, so hat sich dagegen die reiche Fülle der im deutschen Leben ausgebildeten corporationSähnlichen Vereinigungen auch trotz dem römischen Recht in ihrer deutschen Eigenart erhalten. Da» Gesellschaftswesen war bet den Römern nur ärmlich und dürftig entwickelt. Der oft in Uebertreibung betonte, aber allerdings nicht abzuläugnende Individualismus der Römer ließ eS — von wenigen, na­ mentlich staatlichen und kommunalen Corporationen abgesehen — nicht zu, daß der Einzelne einem Gesellschaft-zweck dauernd sich unterordnete und widerwillig Opfer zu bringen genöthigt wurde. Der Bestand einer römi­ schen Gesellschaft hing fortwährend von der Zustimmung jedes einzelnen Gesellschafters ab, und jeder Gesellschafter hatte in jedem Augenblick da» Recht, da» etwaige Gesellschaftsvermögen zur Theilung zu bringen. Deut­ scher Anschauung hat solcher Individualismus niemals entsprochen: viel­ mehr vollzog sich das wirthschaftliche, gewerbliche und auf die Befriedigung der verschiedensten »nenschlichen Bedürfniffe gerichtete Leben de- Einzelnen in einer Menge von Genoffenschaften, die bis zum Grabe ihn begleiteten und darüber hinaus noch für Seelenmeffen und ein gute» Gedächtniß Sorge trugen. Solche Vereinigungen halten ihre Sonderexistenz und ihr Sondergut, welches im Gegensatz zum römischen Recht jedem einzelnen Genoffen keineSwege- zur Verfügung stand und aus dieser deutschen Wurzel sproßt noch heute kräftig unser AffociattonSwesen, welche» zur Hebung der wirthschaftlichen, geselligen und sittlichen Existenz der Einzelnen von so weitreichender Bedeutung ist.

Emen

völlig

verschiedenen Standpunkt nahmen da- römische ind

Rom ist

ältere deutsche Recht in Bezug auf da« Vermögensrecht ein.

ja gewiß als eine Baucrnrepublik erwachsen, deren wirthschaftliche Grund­ lage lange vorzugsweise der Ackerbau war;

aber dem römischen Geist

wohnte doch zugleich ein sehr starker Trieb zum Handel inne, dem Absatz­ gebiet zugleich und Zufuhr zu verschaffen alle Kriege dienten, viele sogar

In den Jahrhunderten,

bezweckten.

in welchen das römische Recht den

Höhepunkt seiner Ausbildung erreichte, dienten der Ernährung und dem

DerkehrSleben der Römer die beweglichen Reichthümer der Welt und dar­ unter hochcultivirter Länder.

darin ihren Ausdruck, deutenden

Ausnahme

Diese wirthschaftliche« Grundlagen fanden

daß Mobilien und Immobilien mit einer unbe­

späteren römischen Recht

im

überall

als gleich-

werthig erachtet wurden und gleichmäßiger Beurtheilung unterlagen, in

gleicher Weise erworben und veräußert, verpfändet und vererbt wurden, auch durch daS gleiche Klagerecht rechtlich geschützt waren.

Um eine beliebte

moderne Formel zu gebrauchen: der Grundbesitz war mobilisirt. entgegengesetzten wirtschaftlichen Grundlagen

zehnte Jahrhundert das deutsche Recht.

entwickelte sich bis

Auf den

in das

Grund und Boden die alleinige

Nahrungsquelle, seine Bebauung die ausschließliche productive Thätigkeit der freien Bevölkerung, und diese Bebauung so wenig intensiv und den Boden

auSnutzend, daß

nährung

je

verhältnißmäßig

einer Familie

erforderlich

große

Strecken

für die

Er­

sind und schon dadurch sich die

vielfach rechtlich anerkannte Geschlosienheit und Untheilbarkeit des Grund­ besitzes erklärt.

Bon fahrender Habe kommt vor Allem Bieh und Speise-

vorräthe, daneben die Kriegörüstung und der nothdürftige HauSrath in

Betracht.

Was über des Leibes und Lebens Nothdurft hinauSgeht, ist nur

für die damaligen oberen Zehntausend vorhanden: für den König, die Großen und den oberen Klerus,

und auch da- Kapital spielt für die

mittleren und unteren S'chichten, für deren Verkehr vielfach noch daS Geld

durch die Naturalien ersetzt wird, keine Rolle.

Aus diesen wirthschaft-

lichen Verhältnissen erklärt sich daS ganze ältere deutsche Vermögensrecht, welches weit überwiegend Jmmobtliarsachenrecht war. Gewohnheiten des Volk-

Die Satzungen und

regeln vor Allem die Rechte am Grund und

Boden, als dessen Pertinenz und Zubehör fast nur die fahrende Habe er­ scheint; ja, ein ebenso kenntniß- wie gedankenreicher Germanist sucht sogar auszuführen, daß selbst die Menschen dem deutschen Recht nur als Zu­ behör von Grund und Boden galten, eine Auffassung die mir allerdings mehr als ein geistreiche» aber meine» Erachten- bittere» Epigramm auf da» deutsche Recht,

denn al» zutreffend und genau erscheint.

An den

Grundbesitz, nicht an die Personen wurden vermögen-rechtliche Leistungen

aller Art, mochten sie in Arbeit oder Diensten, oder aber in Lebensbedarf

oder Geld bestehen, geknüpft; der Grundbesitz war der alleinige Träger

de» Kredit-, soweit dieser überhaupt einen wirthschaftlichen Factor bildete;

und auch

da- waS wir heute Staat nennen gewann die Befriedigung

seiner Ansprüche au- dem Grundbesitz:

Recht-pflege und Heerwesen, die

beiden alleinigen Angelpunkte de- Staat-lebens im früheren Mittelalter, waren gegrundfestigt, die Leistung von Schöffen- und Wehrpflicht haftete thatsächlich am Grundbesitz.

Bei dieser Bedeutung de- Grundbesitze- sollte

denn auch jeder denselben betreffende Rechtsverkehr, Veräußerung, Belastung, Verpfändung grundsätzlich öffentlich, meistens unter gerichtlicher Mit­

wirkung sich vollziehen, und das Recht bot vielfach stärkere Garantiern

dafür, daß der Grundbesitz der Familie deS EigenlhümereS auch er­

halten blieb, weil diese mit dem Grundbesitz nicht nur ihre wirthschaftliche sondern auch ihre politische Existenz verloren haben würde.

Aber diese wirthschaftlichen Verhältnisse waren, wenn auch allmählich schon seit der späteren Ottonenzeit, nachdem daS Herzogthum dem König­

thum unterworfen und das Land auch vor den Magyaren endgiltig Ruhe erhalten hatte, andere geworden.

In den Städten entwickelte sich da»

Handwerk, früher nur von Hörigen betrieben, zu einer neuen produktiven Thätigkeit zahlreicher Klaffen freier Bewohner, bereitete den Boden für

die Blüthe deS Kunstgewerbes und der Kunst.

Seit dem Beginn der

Kreuzzüge und mit neuem Aufschwung seit den staufischen Königen er­ blühte der Handel, vordem Im eigentlichen Deutschland nur in kleinen

Verhältnissen überwiegend von Juden und Fremden betrieben, jetzt als

ein Erwerbszweig der angesehensten Schichten der städtischen Bevölkerung, welche damals ebenso wie heute ländliche Elemente in großer Anzahl an

sich heranzog, wogegen der Verdruß der Landes- und Gutsherrn, die Be­

stimmungen gegen Aufnahme von Pfahlbürgern und Ausbürgern verge­ bens anzukämpfen sich bemühten.

Der Ackerbau, wenn auch verglichen

mit heutigen Verhältniffen immer noch wenig intensiv betrieben, war doch soweit lohnender geworden, daß die Geschloffenheit und Untheilbarkeit deS Grundbesitzes nicht mehr wie vordem wirthschaftlich nothwendig war. Viel schwerer als früher fiel im Familienvermögen neben dem Grundbesitz

Kapital und fahrende Habe in daS Gewicht, dessen Bedeutung sich im fünfzehnten Jahrhundert in dem trotz aller Rechtsunsicherheit, trotz der bedrückten Lage zahlreicher Klaffen doch sehr verbreiteten großen LuxuS

unzweideutig äußert.

Deshalb und bei den häufiger werdenden Ueber*

gängen aus ländlicher tu städtische Lebensweise war da» Interesse an der

Erhaltung de» Grundbesitze» in der Familie wesentlich gemindert, und die» um so mehr al» mit dem Aufkommen geworbener Söldner an Stelle

deS Bauernheerbanns und der LehnSmilizen und richterlicher Beamter an Stelle der bäuerlichen

und ritterlichen Schöffen dem Grundbesitz seine

Hauptbedeutung für da- öffentliche Leben entzogen wurde. Al- daher seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts die Aufnahme

des römischen Rechts in Deutschland in größerem Umfange sich vollzog, waren die wirthschaftlichen Zustände unseres Volkes denen des römischen

Kaiserreiches in vielen Beziehungen ähnlicher als den deutschen des achten imb neunten Jahrhunderts.

ES ist deshalb

ganz natürlich,

wenn da»

römische Recht auf manche LebenSverhältniffe umgestaltend etnwirkte.

Der

Gedanke der THeilbarkeit des Grundbesitzes, in den Städten immer vor­

wiegend und für die

ländlichen

Grundstücke selbst nach dem Sachsen­

spiegel wenigsten- bis zu einem gewissen Grade zugelaffen, hat zweifel­

los, gestützt auf da» römische Recht, weitere Fortschritte gemacht, so je­ doch, daß der bäuerliche freie wie unfreie Grundbesitz noch bi» in diese» Jahrhundert hinein vielfach Schranken

unterlag.

in Bezug

auf die Theilbarkeit

Da» freie durch die Rücksicht auf die Familie unbeengte Ber-

äußerungSrecht am Grundbesitz ferner, welche» überall in den Städten

und im Süden und Westen Deutschland» auch auf dem Lande sich lange

schon Bahn gebrochen hatte, wurde durch da» römische Recht zum herr­

schenden Princip, aber so jedoch, daß, wo Bedürfniß und Volk-neigung e- erforderten, der frühere deutsche Gedanke in den Instituten der bäuer­

lichen Erbgüter, der adligen Stammgüter und der Familienfideikommisse sich

theil-

erhielt, theil-

neue Formen

gewann.

Auch

wurden

sonst

Liegenschaften und Fahrniß im Verkehr, im ehelichen Güterrecht und Erb­

recht, entsprechend dem Recht der Römer, nunmehr vielfach nach gleich­

artigen Normen und gleichwertig behandelt.

Aber wo va- deutsche Recht

unstreitig besser war, hat e- sich doch auch ferner erhalten.

Der Sicher­

heit de- Verkehrs war im hohen Maaße durch das deutsche Recht gedient, welches für die Begründung der wichtigsten Rechte an Grundstücken, EigenthumSerwerb und Pfandrecht Oeffentlichkeit verlangte, während die Römer,

bei denen all« Rechtsgeschäfte über Grund und Boden als Privatacte ab­

geschloffen wurden, ein ziemlich unzweckmäßige- Recht über Grundeigen­ thum-erwerb und ein Pfandrecht an Immobilien hatten, welche- seinen Zweck, den Gläubiger zu sichern, namentlich durch die mangelnde Oeffent­

lichkeit sehr unvollkommen erreichte, unbrauchbar war.

Durch

den

In manchen Beziehungen

verkehrten

Eifer der

geradezu

römisch-gebildeten

Juristen namentlich hat diese- römische Liegenschaftverkehrsrecht allerding-

in vielen Theilen Deutschlands

auf

mannichfaltige Weise Einfluß

ge­

wonnen, und die Folge davon ist gewesen, daß unser Jmmobiltarverkehr dadurch lange in Verwirrung gerathen und unsicher geworden, der Im-

mobiliarcredit geschwächt worden war.

Aber, wenn auch oft erst nach

Jahrhunderten und nach nicht geringer Schädigung: man ist doch hier zu den deutschrechtlichen Grundsätzen, insbesondere zu dem Grundsatz der Oeffentlichkeit de- Güterverkehrs schließlich zurückgekehrt, welcher in unserem modernen Grundbuchs- und Hypothekenrecht zu einem wesentlich gemeinen

Recht deS deutschen Volks

geworden ist.

Ebenso haben auch auf dem

Gebiete deS Mobiliarverkehrs deutsche Rechtsgrundsätze mit Erfolg gegen­

über den andringenden fremden daS Feld behauptet.

Das römische Recht,

dem Eigenthümer einen absoluteren Schutz gewährend, gestattete ihm, seine

abhanden gekommene Fahrniß gegen Jedermann in Anspruch zu nehmen: ubi rem meam invenio, ibi eam vindico.

DaS deutsche Recht, vom

Standpunkte deS Verkehrs dagegen ausgehend, schützte den gutgläubigen

Erwerber einer fremden Fahrniß in vielen Fällen auch gegen den Eigen­ thümer /einer diesem abhanden gekommennen Sache nur

den

oft unzulänglichen Trost:

wo

du

und gab diesem

deinen Glauben

gelassen

hast, d. h. wohin du deine Fahrniß anvertraut hast, da sollst du ihn wieder suchen, ein Gedanke, der heute noch unsern Verkehr zu Gunsten von desien Sicherheit trotz dem römischen Recht beherrscht. Was dagegen

sonst von socialistischen Richtungen verschiedener Nuance häufig angeführt wird, daß auch der Eigenthumsinhalt unter römischem Einfluß zu ab­ solut ausgebildet worden sei und wir zu dem socialeren deutschen Eigen-

thumsbegriff zurückkehren müßten, ist nichts als haltlose Redensart, hinter welcher gewisse socialistische Wünsche mit Vorliebe sich bergen. Gedanken von

In jenem

dem angeblichen Gegensatz des absoluten römischen und

deS socialeren, d. h. fremde Nutzung mehr zulassenden deutschen EigcnthumSbegriffS steckt nur ein ganz schwaches Körnchen Wahrheit, dessen

Fruchtbarmachung kaum

irgend welche sociale Forderungen befriedigen

würde und die Gegenwart, wenn sich dazu Gelegenheit bietet, sogar zurück­ weist.

Einen Beleg hiefür giebt unser neustes preußisches Feld- und

Forstpolizeigesetz vom 1. April 1880, welches daS Eigenthum an Wald

und Wiese, die nach älterem deutschen Recht allerdings der allgemeinen Nutzung in weitgehender Weise unterlagen, noch absoluter, ausschließender

gestaltet hat als dies nach dem früheren preußischen Recht der Fall war. Wer früher sorglos- in fremdem Walde Beeren und Pilze suchte, kann heute leicht deshalb gepfändet und gebüßt werden.

Und diese Modificirung

deS Eigenthums an Feld und Forst in ausschließendem Sinn ist prakti­

sches Recht geworden,

trotz der gleichzeitigen häufigen Declamattonen

gegen den absoluten römischen und für den socialeren deutschen Eigenthums­

begriff. — Was sonst die eigenthümliche durch das deutsche Rechtsleben

herbeigeführte Belastung des Grundes und Boden- mit Leistungen und

Renten aller Art, wa» die Bertheilung der Eigenthumsbefugnisse zwischen einem Grundherrn und dem nutzungsberechtigten Lehnsmann oder Bauern angeht, so läßt sich durchaus nicht sagen, daß unmittelbar daS römische Recht zur Beseitigung dieser Grundbesitz- und Grundnutzungsverhältnisse geführt hat. Mit dem römischen Recht wurde ja zugleich da» langobardische Lehnrecht, welches dem deutschen Lehnrecht sogar eine neue Grund­ lage gab, in Deutschland ausgenommen; in der Emphyteuse kannte ja daS römische Recht ein Institut, welche» den bäuerlichen Nutzungsrechten ziemlich ähnlich war, und e» ist eine vollständig falsche Darstellung Janffen'S, daß durch da» römische Recht die deutschen Bauern ihr eigen­ thümliche» fest fundirte» Leiherecht verloren und zu beliebig aufkündbaren römisch-rechtlichen Pächtern geworden wären. In einzelnen Fällen ist der­ artige» allerdings vorgekommen und hat zur Erbitterung der Bauern gegen daS neue Recht wesentlich beigetragen. Aber jenes eigenthümliche deutsche Bauernrecht ist entfernt nicht durch daS römische Recht verdrängt worden: ein zu Ende deS vorigen Jahrhunderts erschienenes Buch zählt, ohne dabei vollständig zu sein, 53 verschiedene unter allen möglichen Mo­ dalitäten besessene Arten von Bauerngütern alS praktisch vorkommend auf, deren eigenthümliche Besitz- und NutzungSverhältntsse fast sämmtlich auS deutscher Wurzel entsprungen sind. Wenn jene unmäßige Belastung deS Grund und BodenS und jene feudale GrundetgenthumSordnung schließlich gefallen ist, so war dies geschehen, weil im Wandel der Zeiten Vernunft Unsinn, Wohlthat Plage geworden war und zu dieser Erkennt­ niß hat Adam Smith, haben die Nachwirkungen der französischen Revolution von 1789, hat in Preußen besonder- der Freiherr vom Stein sehr viel mehr beigetragen als der Einfluß des römischen Rechts. — DaS Gebiet deS VertragSrechtS hat sich die rechtsvergleichende' Betrachtung oft als ein Lieblingsfeld auSersehen, um die Treue, Zuver­ lässigkeit und Biederkeit deS deutschen VolkScharakterS auf Kosten de» römischen zu rühmen, dessen üble Eigenschaften der Verschlagenheit und Selbstsucht gerade auf diesem Felde ihren Ausdruck gefunden hätten. ES ist ein übel angebrachter Nationalstolz, der sich oft hier breit macht. Die Römer als ganze» Volk haben auch an Sittenstrenge, Zuverlässigkeit und aufopferungsbereiter Selbstlosigkeit während vieler Jahrhunderte ein un­ sterbliches Vorbild der Nachwelt hinterlassen und in dieser Zeit haben sie auch ihrem Recht den Grundcharakter ausgeprägt, den die klassischen Juristen, meisten- Erben de» alten Geiste», später zum Ausdruck brachten: ein sitt­ liche» Herabgehen trat erst ein, al» der Glaube an die Götter schwand und die Folgen der Kriege in Macedonien und Asien in Luxu» und Ge­ nußsucht die Volksseele verstrickten, in jener Zeit, al- Scipio Aemilianu-,

den in der Volk-entwicklung eingetretenen kritischen Moment ahnend, daübliche Gebet der Censoren dahin wandelte, daß er zu den Göttern nicht mehr wie früher flehte, daß sie Rom größer machen, sondern daß sie eS gesund erhalten möchten, denn groß genug sei jetzt die Republik. So ist eS sehr üblich, die Vertragstreue der Deutschen zu preisen, bet denen nach dem Grundsatz „Ein Mann, ein Wort" jedes Versprechen Anspruch auf Erfüllung gehabt und klagbar gewesen sei, während bei den Römern bloße Versprechen unerfüllt bleiben durften und nur die strenge Beob­ achtung einer bestimmten StipulationSform Klage auf Erfüllung erzeugt habe. Schade nur für diese Antithese von so schlagender Wirkung, daß die neuere rechtShistortsche Untersuchung die Regel „ein Mann ein Wort" al« Grundlage des deutschen BertragSrechtS als eine Fabel erwiesen hat: der Formalismus ist vielmehr, etwas ander- zwar, aber ganz ebenso stark, wenn nicht stärker die Grundlage auch de- deutschen Vertrag-recht- ge­ wesen; nur in bestimmten Formen zum Ausdruck gelangte Versprechen waren klagbar, und eS ist Ergebniß erst einer modernen Entwickelung, die Klagbarkeit aller ihrem Inhalte nach nur beweisbaren Verträge als Regel aufzustellen. Nicht minder hat sich zu allen Zetten und noch bis heute sehr viel Unwille darüber auögegoffen, daß eS ein römischer Jurist alnaturaliter concessum erkläre, bei Kauf- und Miethverträgen se invicem circumscribere: dieser Standpunkt sei für das römische Recht charakteri­ stisch. Der Jurist — PomponiuS heißt der Uebelthäter ■— hätte sich viel­ leicht weniger humoristisch auSdrücken können: aber den Betrug hat er damit sicher nicht decken wollen, wie litt Nachsatz zu der betreffenden Stelle ausdrücklich hervorgehoben wird. Die oft angeführten Worte besagen nichts weiter, als daß — was zu allen Zeiten bis heute gleichmäßig die Regel gewesen ist — bei solchen Verträgen jeder Theil möglichst günstig kaufen und verkaufen, miethen und vermicthen will und eine vorsichtige Prüfung der Anempfehlungen deS andern Contrahenten daher geboten sei. Denselben Gedanken auszudrücken ist aber auch das deutsche RechtSsprichwort geradezu unerschöpflich gewesen, so wenn eS z. B. dem Käufer die nicht minder humoristische Warnung vor Unvorsichtigkeit ertheilt: „Augen auf, Kauf ist Kauf!" oder: „wer die Augen nicht aufthut, der thue den Beutel auf", was genau der Sinn ist jenes angeblich so unsittlichen römischrechtlichen AuSspruchS. Man darf im Gegensatz zu jenem abfälligen Urtheil sagen und hat eS oft genug gesagt, daß daS römische Vertragsrecht in seiner späteren Ausbildung ebenso von einem hohen Billigkeitsgefühl, wie von dem Ge­ danken weitgehender Verkehrs- und DertragSfreiheit beherrscht ist und daß eS grade dadurch bei französischen wie deutschen Juristen schon deS MittelPreußische Jahrbücher. Dd. LIL Heft 2. 9

122

Die Umwandelung des deutschen Rechtslebens

alters daö Lob geschriebener Vernunft geerntet hat und modernes Recht geworden ist.

Denn darin ist allerdings das römische vom mittelalter,

lichen Vertragsrecht unterschieden, daß, um eine heute geläufige Formel zu gebrauchen, jenes ebenso sehr den Standpunkt der immerhin in den Schranken deS Sittengesetzes sich bewegenden Handelsfreiheit eingenommen

hat, wie dieses, besonders im deutschen Mittelalter mit seinen Zunft­ schranken und Bannrechten, Gewerbsmonopolen und Taxen, streng pro-

tectionistisch sich entwickelt hat.

Auch auf diesem Gebiet aber hat daS

römische Recht nur langsam nachgeholfen, Schranken wegzuräumen, welche wirthschaftlich sich als schädlich und unmöglich erwiesen hatten.

So war

z. B. das Zinönehmen von Geldkapital, welches bekanntlich das frühere Mittelalter zu verbieten bemüht war, keineswegs die unmittelbare Folge der

Aufnahme des römischen Rechts: reichsgesetzlich wurde eS zuerst durch den jüngsten Reichsabschied von 1654 gestattet, um damit den Kalamitäten

und Folgen deS 30jährigen Krieges zu begegnen, ganz ebenso wie neuer­ lich auch die Zinsschranken überhaupt unter den Eindrück der Kalamitäten

des

österreichischen Krieges von 1866 durch eine von der preußische»

Staatsregierung octrohirte, dann deutsches Reichsrecht gewordene Ver­ ordnung beseitigt worden sind. — Grade weil aber daS römische Forderungs­

recht so von Billigkeit und Rücksicht auf das VerkehrSinteresse getragen ist, ist eS so vollständig wie kein anderer Theil die Grundlage deS mo­

dernen Rechts geworden.

Genau daS Gegentheil gilt von dem römischen Familienrecht,

welches, weil unser Volk hier stets wesentlich abweichende sittliche An­ schauungen gehabt hat, unS so fremd wie kein anderer RechtStheil geblieben

ist.

Die deutsche Ehe entspricht weder der alten strengen Ehe der Römer,

welche die Frau rechtlich wenigstens ungefähr zur Sklavin deS Mannes machte, nach der späteren freien Ehe, in welcher die Rechtsstellung der Frau durch die Verheirathung kaum berührt wurde, die Frau dem Manne

als

ein ganz unabhängiges, fast fremdes Rechtssubject gegenüberstand.

DaS deutsche Recht hat zu allen Zeiten einen zwischen diesen beiden rö­

mischen Extremen vermittelnden Standpunkt eingenommen und, den phy­ siologischen und sittlichen Berhältniffen gleichmäßig Rechnung tragend, die

beiden Gedanken, daß

der Mann daS Haupt der Ehe, aber die Frau

seine freie Genossin sei, glücklich mit einander versöhnt.

Dem entsprechend

gilt auch daS eheliche Güterrecht der Römer unverändert fast nirgends in Deutschland: die Ehefrau ist fast nirgends wie in der freien römischen

Ehe die zu freier Verfügung berechtigte Eigenthümerin ihres Vermögens, sondern durch daS dem Ehemanne, wenn auch in zahllosen Modalitäten,

int Princip doch

überall zustehende deutschrechtliche

Verwaltungs- unb

Nutzungsrecht in ihrer Verfügung beschränkt.

An Stelle der starren, nur

das Interesse des Vaters betonenden, Zeit seines Lebens auSgeübten

väterlichen Gewalt des römischen Rechts hat unser Volk das Recht und die Pflicht der Eltern, ihre Kinder zu schützen, ausgebildet.

An diesem

Schutzrecht hat neben dem Vater auch die Mutter ihr angemessenes Theil

und dieses besteht, weil im Gegensatz zum römischen Recht daS Interesse der Kinder hier maßgebend ist, nur so lange als deren Schutzbedürftig­ keit andauert.

Adoption und Emanzipation, die bei den Römern eine

so große Rolle gespielt haben, haben bei uns nur eine sehr geringe Bedeutung und daS Recht der Eltern am Kindesvermögen geht bei uns von

völlig anderen Gesichtspunkten aus und ist völlig anders gestaltet als bet

den Römern.

Mehr als das Familienrecht

ist da- deutsche Erbrecht durch das

aufgenommene römische Recht umgewandelt worden.

DaS ältere deutsche

Recht kannte keine testamentarische, nur gesetzliche Erbenfolge.

Indessen

konnte diese in schon früher Zeit durch Rechtsgeschäfte unter Lebenden ab­

geändert werden, und wenn auch nicht der strengen Form, so bürgerte doch

der Sache nach, wie schon bemerkt, die Kirche die römischen Testamente

sehr frühzeitig

beim deutschen Volke ein.

Im dreizehnten Jahrhundert

waren letztwillige Verfügungen (Geschäfte nannte man sie im Süden, Gemächte meist im Norden) schon ganz verbreitet in Deutschland.

Die

Reception der, wenn auch vielfach modificirten, römischen Testamentslehre

vollzog sich daher sehr leicht und hat sich, wie man kaum wird in -Abrede stellen können,

auch im deutschen Volksbewußtsein vollständig vollzogen.

Erst in der neuesten staatSsocialistischen Literatur ist öfters die Frage an­ geregt, ob in der von ihr geplanten neuen Rechtsordnung den Testamenten noch ein Platz gegönnt sein dürfte.

Der in eben dieser Literatur oft er­

örterte Gedanke aber, die Verwandtenerbenfolge auf die

allernächsten

Grade, etwa gar nur auf Descendenten zu beschränken, und in Ermange­

lung solcher gleich den Staat erben zu lassen, hat im deutschen Recht jedenfalls

keinen Anknüpfungspunkt.

Das deutsche Recht hat vielmehr

tote dies römische die Erbfolge auch der entferntesten Verwandten zuge­ lassen.

Einen wesentlichen Einfluß hat das römische Recht aber dadurch

ausgeübt, daß der oft sehr weitgehende Vorzug

der Männer vor den

Frauen im Erbrecht weiterhin und bis heute fast beseitigt worden ist. Begründet war dieser Vorzug dadurch, daß, wie bemerkt, daS Vermögen

wesentlich in Grundbesitz bestand, und der Grundbesitz für die toirthschaftliche und politische Stellung der ja doch durch die Männer fortgesetzten

Familie von Bedeutung war.

Hinfällig wurde dieser Grund, als neben

dem Landbesitz auch die fahrenden Habe ein wesentlicher Bestandtheil deS

Nationalvermögen- wurde. Deshalb vollzieht sich die Besserung deS Frauenerbrechts besonders 'n den Städten, und sie hat dort schon im vierzehnten Jahrhundert vielfach zu einer Gleichstellung beider Geschlechter geführt. DaS römische Recht konnte auch diese Entwickelung um so leichter fortsetzen, als auch daS kanonische Recht die Zurücksetzung der Frauen, vielleicht nicht aus rein idealen Motiven, als eine impia consuetudo schon lange vorher bekämpft hatte. Auch in diesem Punkte ist daS rö­ mische Recht modernes, fast alle Volksschichten beherrschendes Recht geworden. Ich verzichte darauf, von dem Einfluß zu sprechen, den daS rö­ mische Recht auf daS deutsche Gerichtsverfahren und Strafrecht auSgeübt hat. Mit dem römischen Recht ungefähr gleichzeitig drang zwar auch ein anderes Verfahren ein, aber e» war dies wesentlich daS in den geistlichen Gerichten ausgebildete. Und die großen SlrafrechtScodificalionen deS sechszehnten Jahrhunderts, die Bamberger Criminalordnung und diejenige Carl'S V., haben allerdings in dem in Italien weiter entwickelten rö­ mischen Strafrecht eine bedeutsame Grundlage, aber dieser römisch-italie­ nische Einfluß hat doch vielmehr die Strafrechtswissenschaft als die Straf« rechtspraxis umgestaltet. Der Kreis der strafbaren Handlungen wurde, abgesehen von den dem älteren deutschen Recht in dem späteren Umfange unbekannten Majestätsverbrechen, durch daS römische Recht nicht verändert; die entsetzlichen Strafen und Strafmittel de- deutschen Mittelalters wichen leider nicht den humaneren römischen, und an der Hauptschmach des deut­ schen RechtSlebenS im sechszehnten und siebenzchnten Jahrhundert, der Tortur und den Hexenprocessen, ist daS römische Recht unschuldig: diese Früchte sind leider auf anderem Boden gewachsen. — Dagegen schließe ich diese Betrachtung mit einem kurzen Blick auf die Umwandlung, die unser öffentliche- und StaatSleben durch daS römische Recht er­ fahren hat. Die Juristen pflegen zu sagen, daß nur daS private, nicht das öffent­ liche römische Recht in Deutschland recipirt sei, und wenn man nur auf die Etnzelbestimmungen im römischen Recht sieht, ist dies ja auch im Ganzen richtig. Nichtsdestoweniger hat die Reception deS römischen Rechts in ihren Folgen daS öffentliche Recht viel mehr als unser privates um« gestaltet. Wenn man das Wort Staat auf die Zustände des früheren deutschen Mittelalters überhaupt anwenden darf, so war die Thätigkeit deS mittelalterlichen Staats im Frieden so gut wie völlig auf die Rechts­ pflege beschränkt: was man heute Kulturaufgaben nennt, verfolgte der Staat nicht. An der Rechtspflege aber war das gemeinfreie Volk in breiter Maffe betheiligt und das Volk daher wichtigster Träger de- öffent­ lichen Lebens. Gieng jetzt mit Receptton deö römischen Recht» die

Rechtspflege auf studtrte Beamte über, so wurde das Volk von der Theilnahme am öffentlichen Leben überhaupt zurückgedrängt.

Und die-

ist denn in der That eine äußerst wichtige Folge der Reception eines

fremden Rechts gewesen; eS hat Jahrhunderte bedurft, eine Theilnahme

des Volks am öffentlichen Leben, wenn auch in ganz anderer Weise neu

herbeiführen Im konstitutionellen auf kommunaler Selbstverwaltung be­ ruhenden Staat.

Freilich trat auch jene große Wandelung im fünfzehnten

Jahrhundert nicht unvorbereitet ein und sie war für den Kulturfortschritt nöthig geworden.

Nur in den Städten hatten die Schöffengerichte eine

rege, in einzelnen, wie in Magdeburg, selbst eine ruhmvolle Thätigkeit fortdauernd entwickelt und nur hier war auch von einer Communalver-

waltung zur Befriedigung

anderer als Aufgaben der Rechtspflege die

Rede; auf dem Lande waren die alten mit freien Schöffen besetztem Grafen­

gerichte seit dem vierzehnten Jahrhundert allmählich ganz verfallen und, bei der Umwandelung der Gemeinfreiheit in gutsherrliche und territoriale Abhängigkeit, landesherrlichen oder grundherrlichen Centgerichten von sehr verschiedenartiger Besetzung gewichen.

Gemeinfreie Leute im karolingischen

Sinne gab eS im fünfzehnten Jahrhundert nur noch ganz vereinzelt auf

dem Lande und daS öffentliche Leben dort war völlig verkümmert. Dabei wuchsen aber seit dem fünfzehnten Jahrhundert und der ReformationSzeit

die Aufgaben der landesherrlichen Gewalt für das öffentliche Leben sehr erheblich: der Begriff Polizei, der die ganze jetzige innere Verwaltung und die Fürsorge für Kulturinteressen umfaßte, entwickelte sich jetzt erst,

und diese neuen Aufgaben konnten, wie die Verhältnisse lagen, garnicht anders als durch juristisch gebildete Beamte ihre Befriedigung

finden.

Der Fortschritt, welchen unser Volk in den letzten Jahrhunderten in seinem öffentlichen Leben und zum Theil auch in seiner gesammten Kultur voll­

zogen hat, ist keinem anderen Moment so sehr zu verdanken, als daß eine

alle Bedürfnisse deS öffentlichen Lebens umspannende Organisation von Aemtern sich herausgebildet hat, welche durch die römischrechtliche Bil­ dung angebahnt worden ist und in welcher noch heute die juristische Bil­

dung den vornehmsten Platz einnimmt.

Man kann dies zugeben, auch

wenn man garnicht verkennt, daß wie Alles in der Welt seinen Preis hat, auch diese Wohlthat durch die unvermeidlichen Schattenseiten öffentlicher

Geschäftsbesorgung und büreaukratischer Verwaltung mit erkauft werden

muß.

Und wie erst im Gefolge der Aufnahme deS römischen Rechts

die richtende und die verwaltende Thätigkeit auf die landesherrliche Ge­

walt übergegangen ist, so endlich auch die gesetzgebende Gewalt.

Vollzog

sich die deutsche Rechtsbildung früher autonom auS dem Volke heraus,

aus den Gemeinden, Verbänden, Corporationen, so wuchs nun wenigstens

die Formulirung deS Rechtes weit überwiegend dem Staat und der lan­

desherrlichen Gewalt zu, und neben änderen Momenten hat auch der

römische Satz „quod principi placet legis habet vigorem“ diese Ent­ wickelung wesentlich gefördert.

Die Landstände jener Zeit, die Prälaten,

Ritter und Städtevertreter haben eS sich wenig angelegen sein lassen, an

der gesetzlichen Fixirung deS Rechts auf der neuen romanistifchen Grund­ lage mitzuwirken und den Landesherr» zu beschränken: sie wurden warm nur, wenn eS ihren Geldbeutel und ihre Sonderinteressen anging.

Und

wenn diese Landstände dann bei Seite geschoben wurden, wenn das Lan-

desfürstenthum absolut, wenn eS unverantwortlich wurde, oft unter Be­ rufung auf das römische „princeps legibus solutus est“, wenn Friedrich

Wilhelm I. der Junkers ihre Autorität ruintren zu wollen erklärte und

gegen diese seine souverainete als einen rocher de bronce stabilste, wenn der deutsche Landesherr erst durch Beseitigung der feudalen Mittel­

glieder, welche ihn vordem von der Masse deS Volkes getrennt hatten, in die 'Lage gebracht wurde, auf das LooS der gedrückten Klaffen bessernd

einzuwirken, wenn Friedrich der Große eS als einen Beruf der preußi» schen Könige erklärte, Könige der Geusen, Könige der Bettler zu sein —

so geschah dies Alles schlechterdings nicht kraft mittelalterlichen deutschen Rechts, vielmehr in Folge deS modernen StaatSrechtS, wie eS sich ganz wesentlich als eine Folge der Reception deS römischen Rechts herauSge-

bildel hatte. —

Viel wird in unseren Tagen von deutsch-nationalen Bestrebungen und der Pflege deutsch-nationalen Wesens gesprochen, und im Hinblick auf un­ sere Geschichte, unsere frühere staatliche Zerrissenheit und auf die Wider­ sacher unserer nationalen Einigung auch in der Gegenwart, ist bei uns

wohl zu rechtfertigen, was den Franzosen, Engländern, bei denen eben

Alles national ist, schwer begreiflich erscheinen würde.

Auch ist eS selbst­

verständlich, daß wir unsere Geschichte mit Liebe und Ehrfurcht pflegen,

der Lichtseiten unserer Vergangenheit freudig unS bewußt werden sollen,

und geschichtliche, juristische und sprachliche Germanisten sind ja auf solche Pflege heute mit mehr Eifer als je zuvor bedacht.

Aber das Deutschthum,

welches zu pflegen ist, dürfen wir nicht — ein Gedanke, der durch manche

Aeußerungen heute nahe gelegt wird — im Teutoburger Walde noch im Kyffhäuser suchen, sondern in der Gestalt und mit den Kulturelementen,

welche eS In unserer modernen Entwickelung an- und dauernd in sich aus­ genommen hat.

Unter diesen ist kaum ein anderes von gleicher, unsere

Rechts- und StaatSzustände mittelbar oder unmittelbar beherrschender Be­ deutung als daS römische Recht, welches zwar fortwährend in der Wan­

delung begriffen ist, welches aber jetzt durch das frühere deutsche Recht

wieder verdränge» zu wollen, ein schlechtweg absurder Gedanke ist.

Und

wenn mit diesen deutschnationalen Bestrebungen heute gern die Erörterung socialer Fragen verquickt wird, so mögen wir daran festhalten, daß auch

diese nur auf dem Boden unserer heutigen wirthschaftlichen und rechtlichen

Ordnung zwar nicht gelöst wohl aber befriedigender gestaltet werden

können, keineSwegeS aber auf dem Grunde eines noch dazu häufig nur als ein Phantasieerzeugniß vorhandenen deutschen Recht».

Auch in den Kreisen unserer akademischen Jugend haben solche Zeit­

gedanken und Zeitbestrebungen ihren Widerhall gefunden: auswärts mit­ unter einen recht miStönenden, hier in Halle Dank dem verständigen und gesunden Sinne unserer hiesigen Studentenschaft einen im Ganzen ruhig

Und wer möchte es nicht voll gerechtfertigt finden, wenn

verklingenden.

auch unsere akademische Jugend über Zeitfragen sich aufzuklären und da­

durch für den Dienst deS Vaterlandes und der Gesellschaft sich geschickt zu

machen bemüht!

Nur möge, meine lieben Herrn Kommilitonen, diese Be­

theiligung ihre pädagogische Bedeutung behalten, nicht praktisch sich zu be­

thätigen noch in der Oeffentlichkeit zu prangen bestrebt sein.

Niemand

von Ihnen versäumt etwas, der eS unproclamirt läßt, daß die Lösung der

socialen Frage die Aufgabe der akademischen Jugend sei: auch wenn Sie dereinst alt und grau geworden sein werden, werden Sie immer noch Ge­ legenheit haben, sich an dieser Lösung zu betheiligen, und Sie werden

alsdann vermuthlich Manches anders, jedenfalls mehr als heute sehen.

Noch mehr aber mögen solche Bestrebungen sich fern halten von allem politischen Parteiwesen, eS habe Namen, welchen es wolle.

Jedes

unter Volksbetheiligung sich vollziehende politische Leben hat und wird nie der Parteibildung entbehren können.

Aber alles Parteiwesen führt auch

eine große Fülle von Redensarten und Uebertreibungen mit, welche gradezu

der nothwendige Ballast sind, mit welchem das Parteischiff im Strom der sogenannten öffentlichen Meinung sich flott erhalten muß, welche aber nach­

her,

wenn eS auf praktisches Wirken ankommt, großen Theils am

Besten wieder vergesien werden.

Unsere akademische Jugend aber, die

keine praktische Politik zu treiben hat, kann und soll sich für solche Re­ densarten und Uebertreibungen zu gut halten, und das Recht nicht sich

verkümmern lassen nach dem Kern der Sache und nach dem Wahren zu streben.

Halten Sie,

meine verehrten Herrn Kommilitonen

Alle

daran fest, daß außer zur Fachbildung das akademische Leben in allen

seinen Aeußerungen dazu führen soll, Sie auf der Grundlage religiöser Gebundenheit — die auf mancherlei Weise empfunden werden kann, ohne welche

aber unser Leben haltlos wird — zu sittlich freien und frei

denkenden Menschen zu bilden.

Alfred BoretiuS.

Positivistische Regungen in Deutschland.

ES ist unverkennbar, daß die von der neuern Naturforschung ange­ wendete Methode der Untersuchung auf alle übrigen Wissenschaften, ins­

besondere auf die Gestaltung der neueren Philosophie, einen tiefgreifenden Einfluß auSgeübt hat.

Dies zeigt sich besonders in zwei Haupteigenthüm­

lichkeiten derselben, nämlich einerseits in dem engen Anschluß an daS

in der sinnlichen Wahrnehmung thatsächlich Gegebene, anderer­ seits in dem Bestreben, die Zusammenhänge alles Geschehen- auf

möglichst einfache Grundgesetze zurückzuführen.

Dieser Einfluß

machte sich schon früh bei den englischen und französischen Philosophen

bemerkbar.

In Deutschland trat er in höchst bedeutsamer und zugleich

sehr eigenthümlicher Weise zuerst bei Kant hervor.

Der Impuls, welchen

der enge Anschluß an die Erfahrung gab, gestaltete sich nämlich in dem

Geiste KantS zu einem viel umfassenderen und tieferen Gedanken.

Bei

den Engländern und Franzosen zeigte sich stets die Neigung, daS Gebiet

ursprünglicher Erfahrung lediglich aus die sinnlichen Empfindungen ein­ zuschränken.

Kant hielt sich von diesem Borurtheile frei und richtete seinen

umfassenden Blick auf alle Gebiete der inneren und äußeren Erfahrung, um die ursprünglich gegebenen elementaren Thatsachen, die apriorischen

Quellen alles philosophischen Erkennens, zu ermitteln und durch diese Arbeit eine allgemeine Reform deS philosophischen Denkens anzubahnen.

Der Grundgedanke, der ihn zu diesem kritischen Versuche anregte, wurzelte in der Einsicht, daß ebensowenig die Dinge selbst wie die Begriffe der

Dinge in fertiger Gestalt in den menschlichen Geist übergehen und Gegen­ stand des Erkennens werden könnten, daß vielmehr der Geist, in den Zu­ sammenhang des Weltganzen auf irgend welche Art verflochten, alle feinen

Gesichtskreis erfüllende Vorstellungen deS Wirklichen und der Zusammen­ hänge desselben unter Mitwirkung von Anregungen, die ihm von dem Ganzen Welt zu Theil werden, in gewisser Weise selbstschöpferisch auS

sich hervorbringen müsse.

Ueber die Angemessenheit

und Fruchtbarkeit

diese- neuen Gesichtspunktes war man im Ganzen einig.

Streit herrschte

nur über den Umfang und die Beschaffenheit dessen, was in der Natur­

anlage des menschlichen

Geistes gegeben sei, und welche Stellung der

menschliche Geist in dem Ganzen der Welt einnehme?

Dieser Streit hat

in seinem Verlaufe die extremsten Meinungen hervorgetrieben und auch

gegenwärtig noch zu keinem allgemein anerkannten Resultate geführt. KantS eigene Ansicht war, trotz ihrer reformatorischen Bedeutung Im

Ganzen, doch im Einzelnen nicht frei von Einseitigkeiten und Wider­ sprüchen.

Sie ging im Wesentlichen dahin, daß nur die Formen der

Auffassung und Zusammenfaffung des Gegebenen dem Geiste angeboren seien, die Formen der sinnlichen Anschauung (Raum und Zeit), die For­

men der denkenden Zusammenfassung (die Kategorieen deS Verstandes)

rmd gewisse leitende Gesichtspunkte aller Beurtheilung und Werthschätzung

(die Ideen der Vernunft), daß jedoch die in diesen Formen zu gestaltenden Inhalte nur die Erfahrung in unberechenbarem Wechsel darbiete.

Diese

Beschränkung hat in Folge ungenauer Ausdrucksweise Kant- vielfach eine nicht im Sinne ihre- Urheber- liegende noch weit einseitigere Deutung erfahren, denn in der Sache hegte auch Kant keinen Zweifel darüber, daß

wenigsten- die Inhalte der sinnlichen Empfindung nur in Modalitäten einer ursprünglich gegebenen Reaction-weise de- menschlichen Geistes be­

stehen können, und daß auch die Inhalte der Vernunftideen auf Werth­

schätzungen beruhen, welche in der ursprünglichen Veranlagung deö mensch­

lichen Geistes gegründet seien.

WaS wir der Erfahrung verdanken, ist

auch nach KantS Ansicht im Grunde nur der unberechenbare Wechsel

im Auftreten der sinnlichen Empfindungen tn.unserem Bewußtsein.

Er war fest überzeugt, daß weder die subjektiv erlebten Inhalte der sinn­

lichen Empfindungen, noch der durch objective Beranlaffungen bedingte Wechsel derselben einen adäquaten Ausdruck der diesen Wechsel veran­

lassenden „Dinge an sich" geben könnten, und hielt daher eine Er­ kenntniß dieser letzteren, zu denen er auch das den subjectiven GelsteSerlebnissen zu Grunde liegende Wesen deS Subjectes selbst rechnete, also

eine

eigentliche

schlossen.

metaphysische Erkenntniß überhaupt,

für ganz ausge­

In Folge dessen ruhte auch der Schwerpunkt seines wissen­

schaftlichen JntereffeS in der practischen Philosophie, deren Haupt­ inhalte durch daS Gewissen und die leitenden Ideen der Vernunft vorge­ zeichnet waren, und welche sich vermöge deS diesen innewohnenden CharacterS

unbedingter Allgemeinheit und Nothwendigkeit doch an das reale Centrum einer im Uebrtgen ganz unbekannt bleibenden Welt anschließen sollten.

Der durch die Erkenntnißtheorie gebotene Verzicht auf daS metaphysische

Erkennen sollte durch einen den Bedürfnissen deS Leben- genügenden und

die Mängel des theoretischen Erkennens ergänzenden practischen Glauben

über den wesentlichen Sinn und Zweck der unbekannten Welt der Dinge an sich ersetzt werden.

' nicht

Dieses Ergebniß konnte jedoch den wissenschaftlichen Erkeiintnißdrang befriedigen.

Nicht nur das Gefühl eines

allgemeinverbindlichen

Sollens, sondern auch daS Gefühl des Vorhandenseins einer allgemein-,

gültigen Wahrheit, deren Erkenntniß daS menschliche Wissen zustrebt, ist ein unaustilgbarer Quell menschlicher Geistesthätigkeit, und dieser ließ sich

durch den gebotenen Verzicht auf alles metaphysische Erkennen nicht ver­

stopfen. Man suchte diesem Verzichte theils dadurch zu entgehen, daß man, wie die idealistischen Systeme Hegels, Fichtes und Schellings, den mensch­

lichen Geist gleichsam in den Mittelpunkt der Welt rückte, und von hier aus in mehr oder weniger klaren Phantasieen unmittelbare centrale Offen­

barungen über Inhalt und Zweck des Weltprocesses zu finden glaubte; theils dadurch,

daß man, wie Herbart, in gewissen nach Analogie der

sinnlichen Empfindungsinhalte gedachten einfachen Qualitäten letzte reale Bausteine aller Weltwirklichkeit hypostasirte; theils endlich dadurch, daß man, wie Schopenhauer einzelne Formen der menschlichen Geistesthätig­ keit, das Wollen und Vorstellen, als die ursprünglichen Grundkräfte alles

Geschehens hinzustellen und aus ihnen Richtung und Ziel der Weltent-

Alle diese und ähnliche Versuche erstrecken

wickelung zu enträlhseln suchte.

ihre Ausläufer noch bis in daS philosophische Denke» der Gegenwart, alle haben, trotz mannichfacher fruchtbarer Anregungen im Einzelnen, ihre offenkundigen Mängel, und keinem ist eS bis jetzt gelungen, sich zu halt­

baren und allgemein anerkannten Ergebnissen emporzuarbeiten.

In ganz anderer weit fruchtbarer Weise hat.Hermann Lotze tfen Grundgedanken Kants, mehr als dieser noch im Sinne und Geiste der von der neueren Naturforschung gegebenen Anregungen, zur Gestaltung

seiner Weltansicht verwerthet.

Er räumte in viel radicalerer Weise als

Kant mit den hergebrachten Schulbegriffen von Substanz und Accidens,

Wesen und Erscheinung u. s. m. auf und gründete seine Philosophie lediglich auf die unmittelbare, jedem zugängliche Lebenserfahrung.

Er schöpfte alle

metaphysischen Grundbegriffe ganz vorurtheilsfrei aus dem Gebiete dessen, waS wir unmittelbar erleben und er umfaßte dieses Gebiet in

ganzen

vollen

mittelbaren,

Thatsachen steht.

Umfange.

seinem

Er gründete eine Philosophie des

welche inhaltlich

Un­

und formell auf dem Boden gegebener

Er wies überzeugend nach, daß nicht leere Formen dem

Geiste angeboren sein, daß leere Formen überhaupt nicht existiren können,

sondern nur lebendige Inhalte, die sich in bestimmten Formen darbieten.

Er wieS nach, daß alle primitiven Elemente der Wahrnehmung und des Erkennens nur lebendige Zustände des erkennenden Wesens selbst sein können, in denen dieses sich selbst erfaßt.

Realität ist ihm daher gleich­

bedeutend mit lebendigem Fürsichsein, und in den Momenten dieses Für-

sichseinS

treten dem

erkennenden Subjecte nicht nur alle Inhalte und

Formen, sondern auch die gegenseitigen Werthverhältnisse derselben ur­ sprünglich ins Bewußtsein.

Es sind auch nicht fertige Formen, nicht

fertige Kategorieen, Ideen oder Wahrheiten, welche die Natur des sich selbst erfassenden Geistes in vollendeter Gestalt constituiren, welche der

Geist gleichsam wie fertige Werkzeuge vor allem Gebrauche des Erkennens in sich vorfinden und betrachten könnte, sondern s o sind sie angeboren, daß

ihr wahres Wesen unter und während der Arbeit des Lebens und Er­ kennens in allen mehr oder weniger gleichartig und mehr oder weniger

deutlich als allgemein und nothwendig empfunden wird. ES war zu erwarten, daß in einer solchen gewissenhaft und aufrichtig

an daS Thatsächliche sich anschließenden Philosophie auch das gegen­

seitige Werthverhältniß der gegebenen thatsächlichen Faktoren überall

in einer dem objectiven Sachverhalt entsprechenden Weise zur Geltung ge­ langen werde, daß insbesondere diejenigen Momente der unmittelbaren Ersahrtlng, welche sich im Laufe deS individuellen und geschichtlichen Lebens als die wirksamsten und bedeutsamsten erwiesen haben, auch für die Ge­

staltung der Principien von entscheidendem und grundlegendem Einflüsse

sein mußten.

AuS diesem, sehr beachtenswertem Gesichtspunkte erklärt

sich die dominirende Stellung, welche den Erwägungen der Ver­ nunft, des Gewissens und des religiösen Gefühls in der Lotze-

schen Philosophie eingeräumt ist; eS erklärt sich daraus, daß diese Philosophie in ihren Consequenzen sich zu einer Weltansicht ausgestalten mußte, welche den ethischen und religiösen Bedürfnissen der Menschheit in

hohem Maße gerecht wird. Dies ist

eS nun,

was

ihr die Gegner am Wenigsten

verzeihen

können, und hier ist der geeignete Ort, auf die Kehrseite deS Einflusses hinzuweisen, welchen die Naturforschung auf daS moderne philosophische

Denken auSübte.

Wie sehr jene den Gesichtskreis des menschlichen Wissens im Allgegemeinen erweiterte, dieses selbst auf gesundere Grundlagen zurückführte,

und die ganze geistige Atmosphäre von schädlichen Vorurtheilen aller Art reinigte, so hat sie doch andererseits neue Vorurtheile und neue Ein­ seitigkeiten heraufbeschworen, deren Tragweite wir nicht unterschätzen dürfen. Das eigentliche Arbeitsfeld der Naturforschung, daS Gebiet der sinnlichen Erscheinungen, hat in Betreff der Möglichkeit einer exacten Wissenschaft-

lichen Behandlung vor den im Gefühl und im Wollen sich darbietenden BewußtseinSacten, in denen trotzdem die vorzüglichsten Werthe und In­

halte des Lebens

sich

offenbaren,

ganz

unleugbare Vorzüge

vorallS.

Während die Vernunftinteressen und die sittlichen und religiösen Ideen

anfänglich nur als dunkle, wenn auch sehr intensive Regungen auftreten,

deren inhaltliche Bestimmtheit erst sehr allmählich durch ernstes Nachdenken

und die fortschreitende Arbeit des Lebens zum Bewußtsein gebracht werden kann, treten die sinnlichen Empfindungen ihrer Qualität und Intensität nach von Anfang an, und in allen übereinstimmend, klar und plastisch zu

Tage; alle in ihnen sich darstellenden Einzelthatsachen treten so bestimmt

hervor, daß sie selbst und ihre gegenseitigen Verhältnisse genauer Maß­ bestimmung und Rechnung zugänglich sind, sie bilden in ihrer Gesammt­

heit eine lichte Insel des menschlichen Wissensgebietes, die an plastischer Deutlichkeit

alle anderen Partieen desselben überragt.

Alle diese der

Wahrnehmung eines jeden in gleicher Weise zugänglichen Einzelthalsachen registriren sich in den Gesammtanschauungen eines einheitlichen Raumes und einer einheitlichen Zeit, welche daneben auch alle unsere sittlichen und

religiösen Vorstellungen mit umfassen.

Alle jene Thatsachen stehen über­

dies in einem in seiner universellen Geltung immer zweifelloser constatirten allgemeinen gesetzlichen Zusammenhänge, in dessen Rhythmus sich auch alles übrige geistige Geschehen einordnet.

Raum, Zeit und der all­

gemeine Mechanismus des Causalzusammenhanges bilden ein Coordinatensystem, das zwar der Sphäre der sinnlichen Erscheinungswelt entnommen ist, in dem aber trotzdem auch alle Eventualitäten übersinnlicher Vor­

stellungen registrirt werden müssen.

In diesem Coordinatensystem scheinen

sich die Radien des naturwissenschaftlichen Erkennens auch über das ganze

Gebiet deS Uebersinnlichen zu erstrecken,

sie scheinen auch dieses ganze

Gebiet zu versinnlichen und das feste Gerüste aller Weltwirklichkeit zu bilden.

Ziehen wir den überwältigenden Eindruck der Neuheit dieser Auf­ fassung in Betracht, und bedenken, wie kindlich und unzulänglich dagegen

die früheren Vorstellungen über Bau und Einrichtnng deS Universums

erscheinen müssen,

in deren Rahmen die noch in die Gegenwart über­

wirkenden Vorstellungen über Gott, göttliches Wirken und göttliche Welt­ ordnung schon weit bestimmtere Gestaltung gewannen und sich zu vollem

Glanze entfalteten, so darf eS uns nicht allzusehr überraschen, wenn die Zertrümmerung jenes Rahmens vielfach auch eine DiScreditirung deS in

denselben gefaßten ehrwürdigen Glaubensinhaltes zur Folge hatte.

Es

darf unS nicht wundern, wenn vielfach die Ansicht auftauchte, daß das sinnliche Universum mit allen seinen durch die Naturforschung constatirten

Einzelnheiten die einzige und alleinige feste Basis aller Weltwirklichkeit repräsentire, daß dagegen alle durch die sittlichen und religiösen Ideen

geforderten Ergänzungen deS sinnlichen Weltalls in das Gebiet frommer aber unerfüllbarer Wünsche und Ahnungen zu verweisen seien.

Bedauerlich

und fast unverständlich ist uns nur, daß die Heißsporne dieser modernen Geistesrichtung sich jetzt vielfach so weit auf der betretenen abschüssigen

Bahn Hinreißen lassen, daß sie den Werth ihrer Leistungen fast nach dem Grade der Feindseligkeit abzuschätzen scheinen, mit der diese sich gegen die

sittlich-religiösen Vorstellungen wenden, welche der Menschheit bis dahin

ehrwürdig und heilig erschienen, welche ihr Trost und Erquickung brachten, und deren segensreiche Einwirkung die Menschheit so hoch über die Sphäre der thierähnlichen Urzustände und auf die gegenwärtige Culturstufe empor­ gehoben haben, daß diese Leute in der neuerlichen angeblichen Entdeckung

ihrer Thierabstammung und Thierähnlichkeit förmlich schwelgen und sich

mit einer ethischen und religiösen Bedürfnißlosigkeit brüsten, welche ihnen als Beweis der Starkgeistigkeit gilt, während sie doch rtur eine beklagens-

werthe Geistesarmuth verräth.

In dieser Geistesrichtung concentriren sich die neuen Vorurtheile und neuen Einseitigkeiten, welche der Aufschwung der modernen Naturforschung heraufbeschwor.

Die Einwirkung derselben machte sich in beiden Rich­

tungen geltend, in denen die naturwissenschaftliche Methode, wie wir Ein­

gangs zeigten, sich im Allgemeinen so belebend und fruchtbar für daS philosophische Denken erwiesen hatte; sie zeigte sich sowohl in dem engen Anschluß der Forschung an das thatsächlich Gegebene, wie in dem Be­ streben, alles Geschehen auf möglichst einfache Grundlagen, auf einfache

Elemente und

auf einfache Gesetze zurückzuführen.

ersterer Hinsicht zu einer Grundlage des

Sie verleitete in

einseitigen Erkenntnißtheorie, welche die

„Positivismus"

bildet,

und

in zweiter Hinsicht zu

einer ebenso einseitigen Metaphysik, dem sogenannten „Materialis­ mus". Ueber den Materialismus darf ich hier mit wenigen Bemerkungen

hinweggehen, nachdem ich denselben kürzlich an anderer Stelle*) eingehend

beleuchtet habe, nachdem auch die Unhaltbarkeit desselben in Deutschland wenigstens jetzt ziemlich

allgemein anerkannt ist.

Der materialistische

Grundgedanke, daß die lebendige Wirklichkeit der Welt, daß insbesondere auch die Erscheinungen des

geistigen Lebens auS dem gesetzlichen Zu­

sammenwirken an sich lebloser Atome entstehen sollen, war an sich selbst *) „Die Neugestaltung unserer Weltansicht durch die Erkenntniß der Jdealitit deS Raume« und der Zeit" von H. Sommer. Berlin bei G. Reimer. Abschnitt I Theil 1.

so widersprechend und absurd, daß er sich bei nnS, im Lande der Denker, nicht lange auf der Tagesordnung halten konnte.

Dieser Grundgedanke

hatte auch in den gegebenen Thatsachen gar keinen Boden, er fand seinen

Ursprung lediglich in einer hypothetischen Annahme, welche die Physik für

ihre besonderen Zwecke, zwar nicht ohne tiefgreifenden Erfolg, aber gar nicht in der Absicht aufgestellt hatte, damit eine metaphysische Grund­

wahrheit behaupten zu wollen. Ander- der Positivismus.

Dieser beruht nicht auf einer hypotheti­

schen Annahme, sondern auf der Anerkennung einer ursprünglich gegebenen

Thatsache,

auf der Thatsache der sinnlichen Wahrnehmung,

seine Einseitigkeit besteht darin,

aber

daß er nur diese eine Thatsache als

solche anerkennt und seine ganze Theorie angeblich nur auf diese eine

Thatsache gründet.

Der echte Positivist erkennt nicht einmal daS Denken

als eine besondere ursprünglich gegebene Function neben der Thatsache

der sinnlichen Wahrnehmung an; er abstrahirt sogar von dem Subjecte, welche- die sinnlichen Empfindungen hat und die sinnlichen Wahrnehmungen

macht, sondern beschäftigt sich allein mit den sinnlichen Empfindungen als solchen und deren gegenseitigen Berhältnisien. Die Erkenntniß „der Wesen­

heiten und Endursachen" soll ja dem menschlichen Geiste verschlossen sein. Alleiniger Gegenstand des wissenschaftlichen Erkennens sollen die Erschei­ nungen sein, deren Aehnlichkeiten, deren Zusammenhänge, deren Aufein­

anderfolge.

Deren Kenntniß soll uns befähigen, den Eintritt künftiger

Ereignisse vorherzusehen und unsere Handlungen nach der Ordnung der Außenwelt einzurichten.

Wahrheit soll fein „die Uebereinstimmung der

Ordnung der Ideen mit der Ordnung der Phänomene", so daß die Eine

eine Wiederspiegelung der Anderen ist — die Bewegung der Gedanken der Bewegung der Dinge folgt.

Anbequemung an die äußere Ordnung

soll daher die letzte Absicht deS Wissens fein.

Der Positivismus enthält

daher einen völligen Verzicht auf inhaltliche metaphysische Erkenntniß, er

bezweckt nur, relative Ordnung in die Vorstellungswelt zu bringen, sein

Endziel ist nach August Comte, dem Begründer dieser neuen Lehre, nur die Classification der Wissenschaften. Bislang feierte der Positivismus feine Haupttriumphe nur in Frank­ reich und England, während man sich in Deutschland ziemlich spröde da­

gegen verhielt.

Jüngst hat jedoch der ordentliche Professor der Philo­

sophie Ernst LaaS in Straßburg in einem mehrbändigen Werke „Idea­ lismus und PositiviSmuS"*) den ernsthaften Versuch gemacht, denselben

auch bei unS einzubürgern.

*) 2 Bände 1879 und 1882.

ES wird daher in Anbetracht des tiefgrei-

Berlin.

Weidmannsche Buchhandlung.

senden Einflüsse-, mit dem jene Lehre unser Denken und Fühlen bedroht, nicht ohne allgemeines Interesse sein, diesen Versuch einer kritischen Be­ leuchtung zu unterziehen.

Ernst LaaS ist freilich kein Positivist de pur sang.

Die Einflüsse

deutscher Bildung und deutscher Philosophie bedingen eigenthümliche Mo­

difikationen seiner positivistischen Grundansicht, welche sich theils in einer eigenartigen Auffassung der positivistischen Lehren selbst,

theils in dem

Bestreben äußern, einerseits die historischen Anknüpfungspunkte dieser Lehren aufzusuchen, die Kontinuität derselben mit dem bisherigen Ent­

wickelungsgänge des philosophischen Denkens nachzuweisen, andererseits die Hauptergebnisse der bisherigen Culturentwickelung, insbesondere die herr­ schenden sittlichen Ideen, ihrem wesentlichen Inhalte nach auch innerhalb

der positivistischen Auffassung thunlichst zu conserviren, respektive sie inner­

halb dieser Auffassung neu zu begründen.

Statt de» radikalen Bruchs

mit der bisherigen Cultur- und BildungSentwickelung erstrebt der LaaS'sche Positivismus mehr einen Uebe'rgangS- oder BermittelungSstandpunkt, der

aber doch, wie wir gleich sehen werden, vollständig von positivistischem

Geiste getragen ist. BnchcS.

DieS zeigt sich schon in der Anlage deö erwähnten

In. dem ersten Theile will der Verfasser von dem erkenntniß-

theorctischen Grundgedanken des Positivismus auS die

allgemeinen

Principien einer neuen Weltansicht festlegen, in dem zweiten die Ethik auf dieser Grundlage zu einem Abschlusse führen, welchen das „platonischidealistische Princip" seiner Ansicht nach bisher vergeblich gesucht hat; in

einem dritten noch nicht erschienenen Theile endlich wird uns eine neue „Theorie der Wissenschaft" in Aussicht gestellt,

„die nirgends jene

eigenthümlichen Bedürfnisse und Postulate rege macht, welche daS Characteristicum deS platonischen Idealismus sind".

Ankündigungen so vielversprechender Art sind stets mit Vorsicht auf­ zunehmen, da die Originalität und Neuheit der in Aussicht gestellten

Reformen meist nur auf die Welt, welche

Selbsttäuschung ihrer Urheber beruht, denen

sie nur durch ihre gefärbte Brille zu betrachten ge­

wohnt sind, in eigenthümlichem Colorit und in seltsamen Verzerrungen er­

scheint.

Unser Autor leistet durch seine geschichtliche Einleitung und An­

knüpfung daS Mögliche,

uns auch rücksichtlich feines Unternehmens in

solchem Verdachte zu bestärken.

Karten blos, indem er findet,

Er legt unS gleich im Anfang seine „daß eS fast durchweg nur zwei große

Typen sind, die in der vorgeblich so chaotischen und unübersichtlichen Ent­ wickelungsgeschichte der wissenschaftlichen Auffassung von Welt und Leben, von Natur und Geist fortwährend wiederkehren, und daß nur die reiche Fülle von Nüancen und Schattirungen, von Verschlingungen und Ver-

136

Positivistische Regungen in Deutschland.

Wickelungen sowie die vielfachen Jnconsequenzen der Autoren eS ermöglicht haben, daß mit zwei Fäden und zwei Grundfarben ein Gewebe hergestellt ward, daS zunächst den Eindruck deS schillerndsten Changeant- machen muß". Diese Typen sind der „PlatoniSmuS" und „Antiplatont-mu-", denn die Wurzeln de- die ganze Geschichte der Philosophie angeblich durch­ ziehenden Hauptgegensatze- laufen auf Platon zurück, und die ganze spätere Geschichte der Philosophie hat nach Ansicht unsere- Autor- eigentlich nichtWesentliches zu Tage gefördert, wäS nicht schon in den geschichtlichen Ur­ kunden über die Lehren Platon- und die Einwendungen deS ProtagoraS dagegen enthalten wäre. Historische Kontinuität bedeutet daher int Laa-', schen Sinne: unmittelbare Anknüpfung an die Lehren deS Platon und deS ProtagoraS. Diesen Voraussetzungen gemäß stellt er sich die Aufgabe, „die Acten noch einmal zu revidiren" und die Unhaltbarkeit deS Idealis­ mus auch in allen seinen späteren Formen an einer Kritik der Lehren PlatonS nachzuweisen, und seinen PositiviSmuS als eine Ergänzung und Fortsetzung der von ihm als zutreffend anerkannten Einwendungen des ProtagoraS gegen jene Lehre hinzustellen. Seine ganze Darstellung spannt sich denn auch dementsprechend In den Rahmen dieser einseitigen Ge­ schichtsauffassung. ES ist offensichtlich, daß diese in ihrer tendenziösen Beschränktheit sehr lebhaft an daS bekannte Buch de- Engländers LeweS (Geschichte der Philosophie von Thales bis Comte) erinnernde GeschichtSauffaffung bereits vollständig vom positivistischen Geiste beherrscht und nur au- dem nivellircnden Einfluffe diese- Geiste- begreiflich ist. Ich er­ wähne derselben, überdies durch daS Bedürfniß der Kürze gezwungen, daher hier nur beiläufig, gleichsam pro coloranda causa, und wende mich direct zu meiner Aufgabe, den LaaS'-schen PositiviSmuS und dessen ethische Conscquenzen auf deren eigene Haltbarkeit und sachliche Legiti­ mation hin zu prüfen. Wie schon auS den einleitenden Bemerkungen zu entnehmen ist, stimme ich LaaS darin vollkommen bei, daß alle Erkenntniß letzten Endeauf die unmittelbare Wahrnehmung gegebener Thatsachen zu gründen ist, halte jedoch diesen Gedanken nicht nur für unfruchtbar, sondern für einseitig und falsch, wenn nicht unter den gegebenen Thatsachen da- ganze Gebiet unmittelbarer Erlebnisse verstanden wird: LaaS bewegt sich hier durchweg in den Schranken der positivistischen Auffassung, indem er mit eigensinniger Kurzsichtigkeit nur daS partielle Gebiet der sinnlichen Empfindungen und deren Begleiterscheinungen auS dem viel umfassenderen Gebiete de- unmittelbar Gegebenen ausscheidet und die Thatsächlichkeit aller übrigen unmittelbar gegebenen Lebensinhalte, inSbebefondere die Thatsächlichkeit der intellektuellen und sittlichen Veranlagung

deS menschliche« Geiste-, ja die fundamentale Thatsache der un­

mittelbaren

Selbsterfassung

de-

letzteren

al-

solche

stricte

leugnet, und mit dogmatischer Voreingenommenheit alle concreten Züge

diese- werthvollsten und bedeutsamsten Hauptbestandtheils unmittelbar ge­

gebener Leben-wirklichkeit als sekundäre Erscheinungen betrachtet, welche angeblich erst durch Associationen der primären sinnlichen Empfindungen

hervorgebracht werden sollen.

Die Folgen dieser Einseitigkeit treten schon

in der principiellen Formulirung de- von ihm als ursprünglich allein ge­ geben vorausgesetzten Thatbestandes zu Tage. jeden Einzelnen

Dieser

„einfache,

für

völlig zugängliche und von Jedem controlirbare Sach­

verhalt" soll darin bestehen, „daß Objecte unmittelbar nur bekannt sind al- Gegenstände,

Inhalte eines Bewußtseins,

cui objecta sunt, und

Subjecte nur als Beziehung-centren, al« der Schauplatz oder

die Unterlage von WahrnehmungS- (und BorstellungS-)Jnhalten, quibus

subjecta sunt; daß die unS unmittelbar bekannten Objecte und Subjecte keine „Wesen an sich" sind; daß sie beide nur mit einander existiren, mit einander entstehen und bestehen, an einander gebunden".

Wer sicht nicht auf den ersten Blick, daß wir eS hier gar nicht mit einer unmittelbar gegebenen Thatsache, sondern mit dem Ergebnisse einer

nur halbwahren Reflexion zu thun haben, mit einer zweigliedrigen Be­ hauptung, deren beide Glieder in einem offenbaren Widerspruche mit ein­ ander stehen!

Prüfen wir, wie eS sich damit verhält.

Gegeben ist dem

durch die Vorarbeit deS Leben- bereit- entwickelten Bewußtsein de- über

diese Verhältniffe nachdenkenden Menschen eine vielgestaltige Welt der Dinge, in der er selbst sich In dem fertigen Bilde seiner räumlichen

Existenz umherzubewegen scheint.

Er nimmt diese Dinge zunächst für

da-, als was sie sich ihm unmittelbar darbieten, für objective Wirk­ lichkeiten, welche ihm unabhängig gegenüberstehen, aber er ist weit von

dem Gedanken entfernt, daß diese Wirklichkeiten unr für ihn existiren könnten, daß sie seine Objecte seien.

Dieser Gedanke ergiebt sich ihm

vielmehr erst durch späteres Nachdenken auf Grund sehr bestimmter und unabweiSlicher Voraussetzungen.

Erst wenn er sich überlegt

und begriffen hat, daß Alles, was er an den Dingen wahrnimmt, im

Grunde nur seine eigenen Empfindungen sind, deren Gebilde nicht außer ihm und an sich so sein und existiren können, wie er sie wahrnimmt,

dann erst wird ihm die erste These jener Behauptung überhaupt klar, daß Objecte nur bekannt sein können, als Objecte eines Subjects, cui objecta

sunt.

Diese Klarheit und Gewißheit steht und fällt aber mit der Ge­

wißheit der Voraussetzungen, welche zu jenem Ergebniffe führten. sind theils thatsächlicher, theils metaphysischer Art. Preußische Jahrbücher.

Dd. LIL Heft S.

Diese

Die fundamentale IQ

thatsächliche Voraussetzung ist die ursprüngliche Selbstwahrneh­ mung, daß er, der Beobachter der Dinge, die sinnlichen Em­ pfindungen, au- denen sich die Bilder der wahrgenommenen Dinge zusammensetzen, selbst erlebt, daß er selbst für sich ist und in diesem Fürsichsein seine Realität und Selbständigkeit hat; mag diese übrigens relativ oder absolut, mag sie substantieller oder modaler Art sein. Die metaphysische Voraussetzung bildet sich im un­ mittelbaren Anschluß an diese Selbstwahrnehmung und besteht in der Einsicht, daß Empfindungen und EmpftndungScomplexe nicht an sich, sondern nur als Zustände oder Vorstellungen fürstchseiender Wesen wirklich sein können. Gäbe eS solche Wesen nicht, wäre die thatsächliche Voraussetzung nicht erfüllt, so würde überhaupt nichts wahrgenommen. Wäre eS andererseits denkbar, daß Empfindungen seien, die doch Niemand hätte, oder daß EmpftndungScomplexe an sich im Leeren existiren könnten, so würden wir auch an der im gewöhn­ lichen Leben immer noch unbedenklich befolgten Meinung keinen Anstoß nehmen, und die Dinge nach wie vor als feste, ausgedehnte, leuchtende und klingende Körper außer un» zu betrachten fortfahren. Nur wenn beide Voraussetzungen richtig sind, ist auch die erste These deS vorange­ stellten LaaS'schen SatzeS richtig. Nur diese Voraussetzungen können unS daher über den wahren Sinn derselben aufklären. Dieser ist, daß Ob­ jecte nur deßhalb als Gegenstände oder Inhalte eine- Bewußtseins ge­ dacht werden können, weil alles, was an den Objecten wahrnehmbar ist, nur in Empfindungen oder sonstigen Zustandsänderungen des wahrneh­ menden Subjectes bestehen kann, weil e» überhaupt nach menschlicher Auf­ fassung keine andere Art wirklicher Existenz giebt und geben kann als das Fürstchsein lebendiger Wesen. Diesem klaren Sinne der ersten These de- LaaS'schm Satzes wider­ streitet die zweite, daß Subjecte nur als Beziehung-centren, .Schauplatz oder Unterlage von Wahrnehmungsinhalten bekannt seien. Der Ausdruck „BeziehungScentren" ist allerdings mehrdeutig.- Der Satz kann bedeuten, daß Subjecte nur bekannt seien entweder al- beziehende Centren, d. h. als solche, welche wahrgenommene Objecte activ in Beziehung setzen, oder als passive Centren, in denen bereits zwischen den Objecten be­ stehende Beziehungen in irgend welcher Weise zusammenlaufen sich kreuzen, oder spiegeln könnten. Die zur Erläuterung betgefügten Worte „Schau­ platz" und „Unterlage" weisen zwar auf die letztere Deutung hin, doch ist diese an sich so unklar und widersinnig, daß wir Bedenken tragen, sie einem so scharfsinnigen Kritiker zuzutrauen, desien ganze Theorie ja den sprechenden Beweis activer Geistesthätigkeit liefert. Die erstere Deutung

beruht aber auf derselben thatsächlichen Voraussetzung, welche auch ersten These zu Grunde liegt und welche

dieser Deutung hinausweist.

der

über den beschränkten Sinn

Beziehungen kann begreiflicher Weise doch

nur ein Subject auSüben, welche- zunächst die in Beziehung zu setzenden Eindrücke erlebt, welches sie nicht nur erlebt, sondern zugleich die Fähig­

keit hat, die erlebten Eindrücke in der Erinnerung festzuhalten und hi der

Einheit seines Selbstbewußtseins mit einander zu verbinden, sich selbst als den Träger jener Erlebnisse von diesen, und wiederum diese unter

einander, zu unterscheiden, sie mit einander zu vergleichen und in viel­ fältiger Art mit einander zu verknüpfen,

welches endlich irgend welche

Interessen hat, diese Thaten der Vergleichung und Beziehung, welche

sonst ungeschehen bleiben würden, wirklich auSzuüben.

Das Subject ist

also mehr als bloße- Beziehung-centrum oder Schauplatz der in ihm

vorgefundenen Wahrnehmungsinhalte, es ist, um nur dieses sein zu können, ein fürsichseiendeS Wesen, welche- kraft seine- FürsichseinS und der in der Art seine- FürsichseinS gegebenen Motive erst die Fähigkeit zur Stiftung

von Beziehungen zwischen seinen WahrnchmungSinhalten erlangt.

DaS

Fürsichsein de- Subjecte- ist die primäre Voraussetzung, das Stiften der Beziehungen zwischen

den WahrnehmungSlnhalten die sekundäre Folge

dieser Voraussetzung.

DaS specifische Characteristicum de- Subjectes ist

nicht, daß es Beziehungscentrum der Objecte, sondern, daß eS ein fürsichseiendeS Wesen ist, dem die Fähigkeit innewohnt, solche Be­

LaaS verkennt diesen specifischen Grundcharacter de-

ziehungen zu stiften.

SubjecteS, aus dem allein verständlich ist, was Subject und Object sind und bedeuten, und welche Art von Verhältniß zwischkn ihnen obwalten

kann.

Während jedes Verhältniß sachgemäß

nur auS der Natur der

Glieder begreiflich ist, zwischen denen eS besteht, geht LaaS hier umge­

kehrt von der Annahme eines bestimmten CorrelationSverhältniffeS zwischen Subject und Object, als einem angeblich ursprünglich gegebenen Thatbe­ stände, auS, um aus der Analyse dieses Verhältnisses die Begriffe von

Subject und Object festzustellen, obwohl die unmittelbare Lebenserfahrung von diesem in sie htneininterpretirten Thatbestände gar nichts erkennen läßt.

Ein unverdauter

Einfall

des

Protagora»

dient

ihm

dabei

al-

historischer Anknüpfungspunkt, und wird von ihm unbesehen zur bestimm­ teren Formulirung seiner neu

thatsache" benutzt.

cretrten „erkenntnißtheorettschen Grund­

Weil nach diesem Einfalle „durch Zusammenstoß zweier

Bewegungen" al- „simultane Zwillingöerzeugniffe" „einerseits der Inhalt, der Gegenstand, das Object der Wahrnehmung, andererseits die Wahr­

nehmung al- psychischer Zustand" entstehen „alle Wahrnehmungen ein

sollen, so zeigen angeblich

unauflösliche»

Beieinander

von

Subject und Object".

LaaS nennt diesen Einfall „ein Aperyü von

fundamentaler Bedeutung"

und „unmittelbarer Selbstevidenz" und stützt

darauf den Grundgedanken seine- „Correlatlvi-muS", Inhalt- dessen der. Hergang der Wahrnehmung al- solcher da- Ursprüngliche sein soll,

der Subject und Object wie zwei entgegengesetzte gleichwerthige Pole von blos relativer Essentialität und Bedeutung aus sich hervortreibt, welche

daher „als unzertrennliche Zwillinge stets mit einander stehen und fallen". Die Ansatzpunkte dieser beiden Pole gewinnt

er auf die Weise, daß er

auS dem ungetheilten Wahrnehmung-acte zwei Momente ausscheidet, den

„objectiven Empfindungsinhalt" und da» diesen „begleitende, von ihm unzertrennliche, immer

gefühls-gefärbte Bewußtsein", und daß

er dann beide einander gegenüberstellt.

Der Empfindungsinhalt soll dann

den objectiven, das denselben begleitende Bewußtsein „den subjectiven

Pol der korrelativen Grundthatsache" bilden.

Hier liegt seiner Erklärung

nach „die Wurzel des unser ganze» Leben und Erkennen durchwaltenden

Unterschiede» und Gegensatze» zwischen Subject und Object". Sehen wir un» diese correlative Grundthatsache etwa» näher an, so

finden wir sogleich ein ganze» Nest von Widersinntgkeiten und Verkehrt­ heiten. Wenn wir auch im Denken scheiden können, wa» in Wirklichkeit stet»

ungeschieden bleibt, den abstrakten Gedanken de» Bewußtsein» von dem Empfindungöinhalte, der sich im Bewußtsein darstellt, so ist doch dieser letztere selbst seinem Wesen nach weiter gar nicht» al» eine specifisch be­ stimmte Art der Erregung desjenigen, der ihn erlebt, eine Erregung, die

zugleich angenehm

oder unangenehm

empfunden wird, und

ebenso wie

diese gefühlsmäßige Begleiterscheinung stets ein subjektives bewußtes Erlebniß ist.

Welch ein Widersinn, diesen ungetheilten und unzertrenn­

lichen Vorgang nun doch

auseinanderzureißen und das Bewußtsein nur

dem einen der auSeinandergeriffenen Theile, der gefühlsmäßigen Be­ gleiterscheinung zuzusprechen I AlS ob ein Empfindungseindruck anders als

bewußte- Erlebniß eines lebendigen Wesens auch nur gedacht werden könnte!

Als ob dieses Wohl oder Wehe fühlen, überhaupt nur etwas

merken könnte von einem „objectiven" Empfindungsinhalte, der ihm nicht bewußt wird! — Wer erlebt denn überhaupt den ganzen WahrnehmungSact, in welchem sich daS Subject, das ihn nach gemeinem Verstände erlebt,

erst als secundäres Moment ausscheiden soll? nehmungSacte können

doch

Erlebnisse und Wahr-

nicht für sich im Leeren schweben, ohne daß

jemand da wäre, der sie erlebt!

Wenn unser Positivist sich doch nur

einfach an die Thatsachen hielte, anstatt seine Theorien in die Luft zu

bauen!

Unser Leben, von dem wir bei allen Betrachtungen auSgehen, verläuft doch thatsächlich in lauter Zuständen, welche sich dadurch, daß wir ihrer

bewußt werden, als Zustände lebendigen FürsichseinS characterisiren.

Dies

ist die einzige Thatsache, deren wir unmittelbar inne werden können. Die zur Erklärung dieser Thatsache angestellten Betrachtungen sind falsch, insoweit sie derselben widerstreiten. Halten wir streng an diesem uns, in der

Intention wenigstens,

mit den Positivisten gemeinsamen Grundprincipe

fest, so können wir unS Realität gar nicht anders denken denn als leben­

dige- Fürsichsein.

Dieser Weg führt auch nur dann zum schrankenlosen

Subjektivismus oder Solipsismus, wenn wir ihn ganz gedankenlos ver­ folgen.

Sobald wir uns den Inhalt besten, was wir erleben und wahr­

nehmen, genauer besehen, so wird unS alsbald klar, daß wir diese Welt,

welche sich unS in unseren Empfindungen darstellt, trotz diese» letzteren

llmstandeS nicht selbst gemacht haben.

Der Thatbestand deS Wahrge­

nommenen fordert daher als nothwendige Ergänzung den Gedanken, daß

eS außer unS noch andere Wesen giebt, welche die Empfindungen, aus denen sich die Erscheinung der Welt zusammensetzt, in u»S haben anregen

helfen, und die Nothwendigkeit dieser Ergänzung bleibt selbst dann be­ stehen, wen» der Hergang solcher Wechselwirkung einstweilen ganz uner­

klärlich sein sollte.

Wie wir vielmehr an der Thatsache unseres Lebens

sesthalten, ohne besten Zustandekommen aus

einfacheren Grundlagen er­

klären zu können, so werden wir auch an dem ergänzenden Gedanken deS

BorhandenseinS einer

Außenwelt und

einer Wechselwirkung mit dieser

festhalten müssen, ohne welche das Leben keinen Sinn hat, auch wenn wir die Außenwelt nicht unmittelbar sehen und die Wechselwirkung mit ihr

nicht begreifen können.

Wir werden nur, wenn wir unS streng an das

unmittelbar Erlebte halten, auch die die Außenwelt constituirenben Faktoren nicht anders als deS Wirkens und Leidens fähige, also sürsichseiende Wesen

denken können.

Alle- wirkliche Geschehen ereignet sich nach dieser durch die

gegebenen Thatsachen

allein gerechtfertigten Auffassung nur in den die

Welt constituirenden Wesen, nicht» aber ist und geschieht zwischen ihnen;

alle» Geschehen ist gleichsam in den lebendigen Wesen radiclrt und reicht nicht über die Sphäre deren relativen FürsichseinS hinaus.

Nach LaaS'scher

Austastung dagegen stellt sich die Sache gerade umgekehrt dar.

DaS

Wahrnehmen, ein an sich verlaufender Strom deS Geschehens, wird hier als das ursprünglich Gegebene betrachtet, welches Subject und Ob­

ject als wesentliche Begleiterscheinungen ebenmäßig aus sich hervortreibt. Die zuerst erwähnte Austastung

erfordert die Annahme einer Wechsel­

wirkung als nothwendige Ergänzung, und läßt den Hergang deS Zustande­

kommens derselben, wenn man die zu solchen Zwecken aufgestellten Hypo-

142

Positivistische Regungen in Deutschland.

thesen nicht gelten läßt, nur unerklärt. Die LaaS'sche Auffassung ist ganz grundlos und basirt auf lauter undenkbaren und widersprechenden An­ nahmen. Undenkbar ein an sich verlaufender Strom deS Wahrnehmens. Undenkbar, wie dieser Strom die verschiedenen Subjecte und stets dieselbe Objectenwelt ausscheiden; wie überhaupt die ausgeschiedenen Subjecte und Objecte stehen und bestehen können, da sie weder für sich noch an sich, sondern nur als Appendices der Wahrnehmung, sein sollen. Undenkbar, wie die Subjecte mit den Objecten, und diese unter einander, in irgend welchem Zusammenhang« und Verkehr stehen können. Die ganze Theorie in allen ihren Voraussetzungen und Consequenzen ist ein reiner Phantasie­ bau. Die angebliche Grundthatsache, welche dieser Theorie unterstellt ist, ist gar keine Thatsache, sondern, ein LaaS'scheS Hirngespinst, ein erkenntnißtheoretischeS Dogma, welches in den Thatsachen nicht nur keinen Boden hat, sondern die gegebenen Thatsachen entstellt und ver­ fälscht. Diese« Dogma kann nicht einmal auf eigenen Füßen stehen, geschweige denn die Weltansicht tragen, welche sein Erfinder darauf zu bauen sucht. Dasselbe beruht auf einem Ungedanken, der den Begriff deS Subjectes entleert, und die ganze Objectenwelt zu einer schattenhaften Abstraction macht. ES erweist sich seinem eigenen Erfinder so unbrauchbar, daß dieser eS einer völligen Umdeutung unterziehen muß, um nur die ein­ fachsten Vorgänge deS Lebens von feinem Standpunkte aus begreiflich zu finden. Da daS der lebendigen Grundlage deS FürsichfeinS. beraubte, zu einer bloßen „Begleiterscheinung" oder „einem Bündel von BetpußtseinSzuständen" herabgesetzte LaaS'sche Subject keine ersichtlichen Motive zur Vor­ stellungsverknüpfung in sich trägt und die Empfindungen und Vorstellungen sich doch nicht selbst affociiren können, auch der bloße Wechsel in stetem Fluße verlaufender Wahrnehmungen noch keine Erkenntniß giebt, so wird, um nur die Möglichkeit der letzteren zu erklären, der „subjektive Pol der sinnlichen Wahrnehmung" nun doch ganz sacht und still­ schweigend In die ihm von RechtS wegen gebührende centrale Stellung gerückt und behauptet, daß eS die „Interessen" und „Be­ dürfnisse" der Subjecte sein sollen, welche die affociativen Bänder bilden und auS dem Erfahrungsmaterial der sinnlichen Wahrnehmung Erkenntniß machen. — Jntereffen und Bedürfnisse! Kann ein bloßeS BeziehungScentrum oder „Schauplatz" der Wahrnehmungsinhalte solche aufweisen? Hier wächst daS LaaS'sche Subject wett über die ihm durch die principmäßige Stellung in der korrelativen Grundthatsache zugemessenen Schranken hinaus. Um Jntereffen und Bedürfntffe zu haben, muß das Subject

natürlich auch ein von Moment zu Moment übergreifendes einheitlicheBewußtsein, eS muß die Fähigkeit der „Erinnerung" der „Reproduktion"

und „Recognition" der erlebten Eindrücke haben.

Hier wird also, weil

eS keinen anderen Ausweg giebt, der principiell abgewiesene Gedanke der

centralen Stellung, des FürstchseinS und der apriorischen Veranlagung deS erkennenden Subjectes durch eine verstohlene Hinterthür wieder ein­

geführt.

Ein Subject, welches Interessen und Bedürfnisse hat, ist ja eben

das, was wir an die Spitze unserer gegnerischen Ansicht

gestellt haben,

d. h. ein fürsichseiendeS Wesen von einer bestimmten Naturbeschaffenheit, vermöge deren «S dieses wünscht und jenes verabscheut, dieses will und jenes nicht will, weil daS Eine seiner Natur gemäß ist, das andere ihr widerstreitet, vermöge deren eS dieses als Wehe, jenes als Wohl empfindet.

Um

nur überhaupt das Erkennen begreiflich zu machen, sieht LaaS sich

genöthigt, sein erkenntnißtheoretischeS Grundprincip zu durchlöchern, dem

Subjecte die ihm gebührende Stellung einzuräumen und sich in­

sofern mit unS auf denselben Boden zu stellen.

Aber trotzdem müssen wir die Gemeinschaft ablehnen, denn das Zu-

geständniß ist nur ein halbes und deshalb ganz werthlos. Die Interessen und Bedürfnisse, welche als centrale associative Bänder eingeführt werden, sollen lediglich auf einem nur gradueller Unter­

schiede fähigen Vermögen deS Subjectes beruhen, Lust und Unlust zu empfinden und nach Erlangung der Lust und Meldung der Un­

lust zu streben.

Lust und Unlust sind, in solcher Allgemeinheit gedacht,

ganz unvollständige Begriffe.

ES giebt keine allgemeine Lust oder Un­

lust, wie eS kein allgemeines Thier giebt, sondern immer nur specifisch qualificirte Arten derselben:

Die Süßigkeit dieses

Apfels, die Freude

über dieses Ereigniß, die Befriedigung über diese Handlung.

Wenn man

jedoch gemeinhin von Lust und dem Streben danach redet, so pflegt man

darunter stets nur das sinnliche Wohlbehagen zu verstehen.

Der

unbestimmte Begriff des sinnlichen Wohlbehagens scheint denn in der

That auch daS zu fein, was LaaS tungen unterstellt. Referat, sondern

hier seinen grundlegenden Betrach­

Auch hier finden

wir wiederum kein unbefangene-

eine tendenziöse Entstellung der gegebenen Thatsachen.

Wenn wir offen und

ehrlich prüfen, was uns denn die unmittelbare

Selbsterfahrung an Interessen und Bedürfnissen kennen lehrt, wenn wir dabei Zugleich,

um die individuellen Abnormitäten auszuschließen, un­

seren Blick weiter auf unsere Nachbaren, auf die ganze Menschheit und deren Geschichte richten, so

müssen wir doch recht kurzsichtig oder ganz

blind sein, wenn wir hier wirklich

nicht- weiter entdecken wollen, al-

immer nur die uns mit den Thieren gemeinsame sinnliche Lust oder Un-

tust.

die Interessen und Bedürfnisse dieser Art von jeher

Gewiß sind

sehr intensiv und sehr mächtig gewesen, aber sie waren eS doch nicht, welche den Menschen

Thiere und thierisches Leben erhoben haben.

über die

so hoch

und die menschliche Bildung im Laufe der Zeiten

Die

Apriorität deö menschlichen .JnteressenkreiseS muß sich doch wohl noch

etwas weiter erstrecken,

auch

alsbald,

daß

und wenn wir genauer zusehen, so finden wir

schon

in den frühesten Zeiten

geschichtlicher Ent­

wickelung der Drang nach Erkenntniß und das Gefühl einer sittlichen Be­

in der Menschheit rege waren und sehr nachdrücklich in die

stimmung

Gestaltung

ihres

Lebens

und

ihrer Entwickelung

eingegriffen haben.

Waren die wissenschaftlichen und die sittlichen Interessen auch lange Zeit unklar

und unbestimmt an sich selbst und ihrer eigenen Ziele ungewiß,

herrscht auch noch gegenwärtig vielfach Streit über Gehalt und Umfang dieser Ziele, so finden wir doch als hell und intensiv leuchtenden Leitstern

in der Gegenwart und in aller geschichtlichen Vergangenheit daS zweifel­ lose Gefühl lebendig, daß eS überhaupt eine Wahrheit und daß es über­ haupt eine menschliche Bestimmung

giebt, denen wir zustreben sollen,

auch wenn wir die Einzelnheilen ihres Inhalts und ihrer Gestaltung noch nicht klar erkennen.

Dieses Gefühl enthält den

specifischen

Kern des

Menschenwesens, den centralen Einheitspunkt unseres Lebens und Erkennens, durch welchen alle Momente des FürsichseinS, in denen unser Leben ver­

läuft, inneren Zusammenschluß

erhalten, in dem alle Ansätze der Ord­

nung und Gliederung, in dem alle Directiven unserer Thätigkeit ihren einheitlichen apriorischen Ursprung haben.

Laas verkennt in seiner positivistischen Befangenheit die Apriorität dieser Geistesanlage, und seine Versuche, die Wissenschaft und das sittliche

Leben auf andere Grundlagen zu stellen, erweisen sich, wie wir sogleich sehen werden, alS ganz haltlos und ohnmächtig; sie führen ihn schließlich

auf einem ermüdenden und verflachenden Umwege zur zwangsweisen An­ erkennung derselben Grundlagen zurück, die er principiell negirt.

Wie der

fallende Tropfen den Stein aushöhlt, und wie der öfter

begangene Weg sich allmählig zur Heerstraße erweitert, so etwa soll „die

öftere Wiederholung

bestimmter Wahrnehmungsassociationen diese selbst

kräftiger machen" und dadurch „gewisse Regeln der Coexistenz und Suc­

cession allmählig aus der Flucht der Erscheinungen im Bewußtsein fest­

setzen."

„Aus fast unwillkürlich sich

absetzenden Erfahrungen entsteht so

allmählich Wissenschaft; niedrigere und speciellere Generalisationen legen

sich zuerst fest; es folgen immer umfassendere, bis sich das große Univer­ salprincip

bildet".

von der allgemeinen Gesetzlichkeit alles Geschehens heraus­ Diese sensualistische Lehre eignet sich Laas in der Hauptsache an,

aber sie erhält durch seinen erkenntnißtheoretischen CorrelativiSmuS eine

sehr charakteristische Erweiterung.

Der vorausgesetzte bipolare Charakter

aller Wahrnehmungen, Inhalts dessen sich in allen Subject und Object als gleichwerthigeS Zwillingspaar ausscheiden soll, bestimmte ihn, wie wir gesehen haben, in jeder Wahrnehmung einen „äußeren" und einen „inneren

Sinn" zu unterscheiden, deren erster „die außerleiblichen räumlichen That­

sachen unmittelbar erfaßt", während der letztere ebenso unmittelbar „die gefühlsmäßigen Begleiterscheinungen unter der Hallt" ergreift, welche den

Kern der Subjectvorstellung bilden.

AuS beiden combinirteu unzertrenn­

lichen Vorgängen soll sich unsere Erkenntniß zusammensetzen,

und eS

leuchtet ein, daß dabei „die unmittelbaren und ursprünglichen außerleib­

lichen räumlichen Thatsachen vor denen des inneren Sinnes einen greif­ baren Vorrang haben".

„Unsere Gedanken, Willensanstrengungen und

Gefühle fallen niemals unter fremde Wahrnehmung; sie haben keinen

unmittelbaren Zeugen als unS selbst; nur nach immerhin unsicheren Ana­ logieschlüssen können Andere mit ihnen in der Vorstellung bekannt werden.

Die außerleiblichyl räumlichen Dinge, Eigenschaften und Vorgänge können, tote von uns, von allen gleichorganisirten Wesen wirklich wahrgenommen

werden; sie können von allen auf identische Normalvorstellungen reducirt und so daS allgemein zugängliche einheitliche Operationsfeld der gemein­ schaftlichen Thätigkeit Aller werden".

Während alle inneren Zustände des

Subjectes mehr

oder weniger unklar, unbestimmt und schwankend sind,

liefern unS die

angeblich ebenso unmittelbar

erkannten außerleiblichen

Objecte „das Stehende und Bleibende" in unserer Wahrnehmung. Inbegriff solcher erster

Thatsachen ist dasjenige, was

„Der

wissenschaftliche

Arbeit in letzter Instanz zu erklären, d. h. in widerspruchslosen Zusammen­ hang zu setzen" hat, und „das werthvollste Instrument der Erklärung ist

jene vorgestellte objective Welt, welche von geistesgesunden Menschen, die unter einander über Zeiten und Räume fort in direktem und indi­ rektem Verkehr stehen, in wesentlicher Uebereinstimmung unter einander herauSpräparirt wird".

DaS Subject tritt dieser objectiven Welt gegen­

über in die bescheidene Rolle „einer mit allem wirklich Erlebten constant verknüpften Begleiterscheinung" zurück, „die wir Bewußtsein nennen, und die wir um ihrer Luftigkeit und Winzigkeit willen oft genug ganz über­

setzen".

Die inneren Regungen desselben kommen den imposanten That­

sachen der objectiven Welt gegenüber bei der Wahrheitsforschung gar nicht in Betracht.

Entscheidend ist daher allein die reine Thatsächlichkeit

der Wahrnehmungen

(v. h. die öfter wiederholte Beobachtung

und

die

Verification durch das Experiment), nicht etwa die innere Glaubwür­ digkeit der abstrahirten Regeln und Axiome.

Dem Subject wird die

Fähigkeit abgesprochen, der Allgemeingültigkeit und Nothwendigkeit dieser Axiome in ihrer unmittelbaren Selbstevidenz sich bewußt zu werden; die öftere Beobachtung ihre- Vorkommen- soll allein über ihre Allgemeingülligkeit entscheiden. Kern und Richtschnur aller Wahrheitsforschung wird lediglich durch die jedermann zugänglichen und von jedem controltrbaren Verhältnisse der äußeren Objectenwelt bestimmt. Physikalische Gesetze, wie da- der Erhaltung der Kraft und da- der Constanz der Materie, bilden die obersten Wahr» heilen, nach deren Analogie auch die Vorgänge de- geistigen Leben- zu beurtheilen sind. Sittliche und religiöse Rücksichten kommen, da sie blos auf „subkutanen" Erscheinungen beruhen, bei der ernsten Wahrheit-forschung nicht in Betracht. Die menschliche Freiheit wird z. B. geleugnet, weil sie dem Gesetze der Erhaltung der Kraft wider­ streiten würde. Da durch diese Richtung und Einschränkung de- Arbeits­ feldes für die Wahrheitsforschung alle höheren Gesichtspunkte und Be­ denken ausgeschlossen sind, welche sich aus Erwägungen der Vernunft und des Gewissens zudrängen, so gestaltet sich anscheinend alles viel einfacher. Die ganze objective Welt löst sich in einfache Atome auf, deren wesen­ hafte Natur zwar nicht Gegenstand deS Erkennens fein kann, deren gegen­ seitige- Verhalten aber allgemeinen Gesetzen unterworfen und genauen Maßbestimmungen zugänglich ist. Diese- kommt auch allein in Frage, da nur die Kenntniß diese-Verhalten- Nutzen und Interesse für un» hat. Alle- Erkennen reducirt sich daher auf die Ermittelung de- gesetz­ lichen Zusammenhanges der Erscheinungen, und hat den alleinigen Zweck, die zukünftigen Ereignisse auS der Betrachtung deS Gegenwärtigen vor­ auszuberechnen, um danach unser Verhalten einrichten zu können. Da» „Ideal der Wissenschaft" ist: „dermaleinst auS den unveränder­ lichen Eigenschaften der Elementaragentien an der Hand deCausalgesetzeS begreifen zu können, warum jegliches an jeg­ licher Stelle und zu jeglicher Zeit geschieht". ES ist jedoch klar, daß diese Weltansicht sich in demselben Maße ver­ dünnt als sie sich vereinfacht. ES ist nicht nur, daß dabei „alle- im Leeren schwebt" und „absolut zufällig" ist, sondern alle die Stufen und Voraussetzungen, über welche LaaS bi- zu dieser zweifelhaften Höhe auf­ steigt, sind Lehnsätze, die er nicht auS der Objectenwelt, sondern auS der apriorischen Rüstkammer des erkennenden Subjectes stillschweigend ent­ nommen hat. Ich brauche hier nicht noch einmal daran zu erinnern, daß die Begriffe „Subject" und „Object", welche LaaS bei der Aufstellung seines correlativistischen Grundprincip- unbesehen auS der unmittelbaren Wahrnehmung aufgelesen zu haben vorgiebt, bereit- fertige Produkte einer

vorphilosophischen Reflexion sind, welche lediglich auf apriorischen Vor­ aussetzungen beruhen. Die Hauptsache ist, daß auch die Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit der angeblich auf rein empirischem Wege constatirten Gesetze, welche den Hauptinhalt und daS Hauptziel alles Erkennens bilden sollen, lediglich auf der Voraussetzung des erkennenden Subjectes be­ ruht, daß die Regelmäßigkeit des Eintretens der mehrfach beobachteten Fälle bestimmter WahrnehmungSaffociationen ihren Grund in einem inneren gesetzlichen Zusammenhang« aller Wahrnehmungen und alles Ge­ schehens habe, und daß deshalb im erneuten ConstellationSfalle das er­ wartete Ereigniß wirklich eintreten werde, also auf der Voraussetzung, daß es eine Wahrheit und einen solchen Zusammenhang der Dinge gäbe, vermöge dessen stets unter gleichen Bedingungen gleiche Folgen entstehen. Die ganze LaaS'sche Erkenntnißtheorie basirt also auf unbewußter Anerkennung einer apriorischen Wahrheit, welche sie principiell bestreitet. ES kann unS nicht wundern, wenn dem Erfinder dieser Theorie der tiefere Sinn jener Wahrheit, deren innere Vernünftigkeit und Glaubwürdigkeit, dabei entgangen ist, wenn er dieser Wahrheit nun als einer reinen Thatsache von absolut zufälliger Geltung verständnißloS gegenübersteht. Nicht besser ergeht eS Laas mit der Thatsache des Gewissens und dem Versuch der Begründung seiner positivistischen Moral. Da er die Thatsächlichkeit deS Gewissens anerkennt, aber dessen apriorische Natur bestreitet, so liegt ihm ob, die Entstehung desselben aus einfacheren Elementen nachzuweisen. Gegeben ist hier der ganz abstrakt auf Erlangung der Lust und Meldung der Unlust gerichtete „natürliche Egoismus" einerseits, und andererseits ein „sympathischer Trieb", der unser Interesse an dem Wohlergehen anderer Personen erklären soll. Der EgoiSmuS ist begreiflicher Weife unfähig, den Grund von Pflichten zu bilden, die mehr sind als bloße Befriedigungen unserer natürlichen Begierden oder wohlverstandenen Interessen. Aber auch der sympathische Trieb führt nicht viel weiter. „Wenn unsere eigene Scheu vor Unlust und unsere Begierde nach Bedürfnißbefriedigung und Lust zu jener feier­ lichen Werthbelegung, welche wir den moralischen Gütern zukommen lassen, auf keine Weise führt: worin kann der Vorrang derselben Strebungen bet Anderen, worin kann er vor Allem bei un- bestehen? Was kann mich bestimmen, ihnen eine so viel höhere Dignität betzulegen, daß ich mich veranlaßt finde, wie einem erhabenen: Du sollst! gehorsamend, meine Lustbegier ihnen zu Liebe etnzuschränken, mich zu resigniren, ja unter Um­ ständen mich selbst zu opfern? Die Absurdität diese» Gedanken» entgeht, wie wir sehen, auch Herrn Laa» nicht. Da wir also im Einzelsubjecte

Positivistische Regungen tu Deutschland.

148

keinen ursprünglichen Quell des Pflichtbewußtsein- entdecken können, so bleibt gar nicht- übrig, al- ihn „in den Bedürfnissen und Ansprüchen"

einer zusammengefaßten Mehrheit der Subjecte zu suchen.

Zwar muß

man einwenden, daß doch Im Grunde auch die Mehrheit der Subjecte hier „keine« wesentlich anderen Prei- habe, al- wir selbst", doch hilft ein bequeme- Schlagwort unseren Positivisten leicht über diese- Bedenken

hinweg.

Wa- nicht blos un- selbst, sondern auch den anderen Menschen

außer unS mehr oder weniger Lust verursacht, nennt er mit einem Scheine Rechtens ein „objectives Gut" und behauptet dann frischweg: „Die

objectiven Güter sind es, welche unseren Pflichten (wie unseren

Rechten)

ihren objectiven,

von Willkür und Belieben unab­

hängigen Werth verleihen."

Was die Beweisführung nicht leisten

konnte, das leistet der Zauber des Wortes „objectiv". Er rückt die Frage

mit einem Schlage in das rechte Licht, d. h. in den erkenntnißtheoretischen Gesichtspunkt des Herrn LaaS, welcher nur in der äußeren Objectcnwelt den allen Schwankungen subjektiven Meinens entrückte» festen Kern aller

Erkenntniß suchen zu müssen glaubt.

Auch für die Begründung der Ethik

kommt eS ihm nur darauf an, ä tout prix in dieser Objektenwelt festen Fuß zu fassen und für den Inhalt des Pflichtbegriffs eine objectiv ge­

sicherte Basis zu finden.

Als solche objective Güter, in deren Werth­

schätzung alle übereinstimmen, werden unS aufgeführt:

„Die Sicherheit

des ArbcitSgewinnS, der gesellschaftliche Friede, die staatlichen Institutionen und Gesetze, der Culturfortschritt" u. s. w.

Sie werden al- „thatsächlich

gegebene" Basis zur Aufstellung einer neuen positivistischen Moral ver­

werthet, welche nicht blos unsere Pflichten,

sondern auch unsere Rechte

„als eine unauflöslich verknüpfte Einheit begründen und sich darin von aller platonisirenden Moral" unterscheiden soll, daß sie „an die Stelle einer Ableitung auS Ideen, die Ableitung aus Bedürfniffen und Jnter-

effen setzt".

In Betreff der Begründung dieser neuen Moral kann LaaS natür­ lich nicht erwarten, daß

die bloße Bezeichnung jener wünschenSwerthen

Zustände als „objectiver Güter", also die bloße Veränderung des Gesichts­ punkts, auf seine Kritiker eine gleich betäubende Wirkung ausübe wie auf

ihn selbst.

Wir werden noch fragen, wieso denn eine solche Bezeichnung

der Güter als „objectiver" die moralische Verbindlichkeit zu deren Herbeiführung oder Aufrechterhaltung für die einzelnen Subjecte begründen

könne, eine Verbindlichkeit, welche stark genug Einzelnen zu brechen?

ist, den Egoismus der

In dem Inhalte dieser Güter ist eine solche

Begründung noch nicht zu finden.

ES nutzt nicht-, wenn LaaS al- Vor­

bedingung derselben da- Bestehen einet Ordnung überhaupt hinstellt und

die fast trivial klingende Bemerkung hinzufügt, eS sei der allgemeine Wunsch, „daß überhaupt Ordnungen seien, welche die Willkür eingrenzen und ein friedliches Zusammenleben und ein fruchtbares Zusammenarbeiten möglich machen", „jede gesetzliche Ordnung sei dem rohen Urzustände gegenüber ein Fortschritt, ein objectiver Werthzuwachs", welcher „in der allgemeinen und collectiv gesteigerten Möglichkeit bestehe, sich wohl zu fühlen und glücklich zu sein". Diese unbezweifelten Thatsachen begründen für ein ursprünglich nur durch Motive deS Egoismus oder eines „sym­ pathischen TricbeS" geleitetes Individuum noch gar keine Verbindlichkeit zum sittlichen Handeln. Abgesehen davon, daß jene äußerlichen Ordnun­ gen sich gar nicht vollständig mit dem decken, was die Sittlichkeit ge­ bietet, und daß der sympathische Trieb sich überhaupt nicht auf so abstracte Ziele, sondern direct auf daS Wohl bestimmter Einzelindividuen richtet, also hier gar nicht in Frage kommt, so würde der Egoist jene doch immer nur insoweit respectiren, als voraussichtlich der Rückschlag seiner Verletzungen der Ordnung ihn selbst oder seine nächsten Angehörigen be­ drohen würde, waS kaum jemals geschehen dürfte, da eine unentdcckte nützliche Lüge oder ein unentdeckter vorthcilhafter Diebstahl die bestehenden Ordnungen im Ganzen noch nicht erschüttern können. Der Druck dieser Bedenken treibt auch Herrn LaaS noch einen Schritt weiter. Nach den prinzipiellen Festsetzungen hat „jede- Individuum das Recht, denjenigen Collectivbestimmungen, welche es im Ganzen schlechter stellen, als eS wahrscheinlicher Weise außerhalb aller socialen Ordnung stehen würde, weil für dasselbe unterwerthig, seine Zustimmung und seinen Gehorsam absolut zu versagen: eS behält dasselbe Recht jeder Neuordnung gegenüber, welche seine Glückseligkeitsaussichten im Allgemeinen herab­ mindert. ES hat ferner das Recht zu fordern, daß die gesellschaftlichen Ordnungen eS seiner gesellschaftlichen Leistung proportional belohnen, und, insoweit eS nicht geschieht, ihnen den Gehorsam zu verweigern". Auf diesen rohen egoistischen Stamm soll dann die nachfolgende Betrachtung ein ethisches RetS pfropfen: „Das Individuum soll nicht mehr das Recht haben, von denjenigen Zustimmungen, die eS einsichtsvoll und frei mit Rücksicht auf die Gefammtlage seines Leben» principiell gemacht hat, in dem Augenblicke wieder zurückzutreten, wo zufällige Gelegenheiten eS ihm wünschenSwerth erscheinen lassen, seine frühere Position, etwa gar die ursprüngliche Freiheit und daS Urrecht auf Alle» zurückzubekommen, um wohl gar auf dem Boden der socialen Vergünstigungen selbst im Moment und im Einzelnen noch mehr zu lucriren, al» e» im Allgemeinen erwarten darf. Solche» Verhalten würde die Möglichkeit socialer Ord­ nungen überhaupt aufheben". Letztere» ist zweifellos, aber die Behauptung,

daß das Individuum nicht mehr das „Recht" zu solchem ordnungswidrigen Verhalten haben solle, wiederholt nur in anderer Form die zu beweisende Behauptung des Vorhandenseins einer moralischen Verbindlichkeit des

Individuums zu solchem Verhalten, ohne' den Beweis dieser Behauptung

zu erbringen.

Statt eines solchen schließt die Betrachtung mit der sieges­

gewissen Phrase: „Mit Recht wirft das Interesse aller anderen Theilhaber

der Gesellschaft an der Fortdauer der Ordnung den Fundamentalbeifall

des Individuums diesem selbst als Pflicht entgegen". Wer sieht nicht deutlich, daß

pfropfteS ist, in dem

ein ganz

dieses neue Reis

eben

ein aufge-

anderer Saft circulirt,

als in dem

egoistischen Stamme des LaaS'schen Princips; wer sieht nicht, daß dieser wilde Stamm ganz unfähig ist, ein solches Reis auö sich hervorzutreiben?

Wer erkennt nicht, daß diese contractltche Grundlage, welche Laas mittelst jener Betrachtung in die Lücke seines Princips einzuschieben sucht, ihrer­ seits wieder auf ethischen Voraussetzungen beruht, welche nicht in diesem

Princip, sondern nur im Gewissen ihre Begründung finden?

Was ist

jener Fundamentalbeifall deS Individuums anders als eine andere Be­

zeichnung für das Gewissen?

WaS ist die durch jene angebliche Funda-

mentalzustimmnng begründete Verpflichtung anders als eben die sittliche

Verpflichtung, welche dem Individuum gebietet, daS zu thun, was das Interesse der Gesellschaft und der allgemeinen Ordnung erheischt? Sehen

wir von

der stillschweigenden Usurpation jener Voraussetzung ab, und

stellen die Laas'sche Betrachtung auf ihre eigenen Füße, so fällt sie halt­ los in sich zusammen.

Wann hat denn daS Individuum, wenn wir die

Behauptung beim Wort nehmen, solche principielle Zustimmungen gemacht?

Etwa bei der Confirmation, oder beim Berufsantritt?

Und wenn es sie

gemacht hätte, wie könnte ein gewissenloses Individuum sich dadurch für gebunden erachten, wenn seine Interessen ihm nachher widerstreiten? WaS geht ein solches Individuum, das nur eigene Interessen kennt, daS

Interesse anderer Theilhaber an der Gesellschaft an?

ES ist ganz offen­

bar, daß die Betrachtung ihre Schlüssigkeit aus keinem anderen Grunde

schöpft, als aus dem Gewissen, dessen Ursprünglichkeit doch principiell be­

stritten wird. LaaS stellt sich also auch

hier schließlich mit uns auf den Boden

der GewiffenSthatsache, aber auch hier müssen wir die Gemeinschaft ab­ lehnen.

Theils kann uns eine solche erzwungene Anerkennung nicht be­

friedigen, welche, nur um nicht selbst verhungern zu müssen, blos wider­

willig von dem Gegner das Brod nimmt, theils kommt sie auch hier zu spät, um noch ihre Kraft entfalten zu können.

WaS das Gewissen zum Gewissen macht, was ihm seine Hoheit und

Würde, was seinen Geboten die unbedingt verpflichtende Kraft giebt, das ist allein daS Gefühl des unbedingten Werthes dessen, was es ge­

bietet.

Dieses Gefühl,

dessen Thatsächlichkeit eben so unbestreitbar ist

wie diejenige der sinnlichen Empfindungen, findet seine Erklärung und

Rechtfertigung nur

in

einer sittlich-religiösen Weltansicht, deren

Grundlinien durch die apriorischen Voraussetzungen der Vernunft des

Gewissens und des religiösen Gefühls in einer durch die Erfahrung des Lebens und das wissenschaftliche Nachdenken bestimmter zu präcisirenden

Weise vorgezeichnet sind*). „subkutanen"

Nachdem LaaS sich

daS Verständniß dieser

Thatsachen der inneren Selbstwahrnehmung

durch seine

einseitige positivistische Erkenntnißtheorie auf die angegebene Weise ver­

schlossen, nachdem

er dadurch alle positiven Inhalte, welche dem Leben

Werth verleihen, bis

auf den

abstrakten Gedanken der Lust und des

Strebens danach aus seinem Gesichtskreise hinwegphilosophirt hat, bleibt für ihn kein ehrwürdiger Kern mehr übrig, in dem daS Gefühl einer

unbedingt

könnte.

respectabeln

individuellen

Lebensbestimmung

Wurzel

fassen

Die schließliche nothgedrungene Anerkennung deS Gewissens als

einer zur Begründung des Pflichtbegriffs unentbehrlichen ursprünglichen

Thatsache durchlöchert zwar sein Princip, kann ihm aber doch nicht wehr

helfen, denn der Pflichtbegriff erstirbt in sich selbst, wenn eS kein würdiges Ziel des sittlichen Handelns mehr giebt.

Alle LaaS'schen Sophistereien

können uns nicht über diesen einfachen Sachverhalt hinwegtäuschen.

Wenn

der Einzelne nichts gilt, so gilt auch die Summe der Einzelnen nichts.

Wenn in dem Leben des Einzelnen kein unbedingt würdiger Inhalt zu

finden ist, so kann auch „das, was dem wohlverstandenen Gesammtinteresse einer großen Menge als werthvoll erscheint"

keine sittliche Würdigkeit

beanspruchen, und ebenso wenig kann daS solchen Gütern vorgesetzte Bei­

wort „objectiv" ihnen eine solche verleihen. allein auf dem trivialen Gedanken,

meiden solle.

daß

Die LaaS'sche Ethik basirt

man Lust suchen und Unlust

Höheres bietet der LaaS'sche Gesichtskreis nicht dar.

Nach

der Schablone jenes nichtssagenden Grundgedankens sind die Principien

der LaaS'schen Ethik, alle Theile deren systematischen Ausbaus und auch

die Betrachtungen über die Aussichten und Aufgaben der Zukunft zuge­

schnitten.

Wie es nach dieser Auffaffung keine Werthideen der Vernunft

giebt, welche unS bei der Wahrheitsforschung nur das glaublich erscheinen

lassen, was den Anforderungen der Vernunft entspricht, wie hier überall nur Thatsächliches gleichwerthig zur Geltung kommt, so soll eS auch keinen

ursprünglichen Maßstab zur Beurtheilung deS Werthes unserer Handlungen *) Man findet diesen Gedanken ausführlicher entwickelt in meiner Schrift „Die menschliche Freiheit und deren moderne Widersacher", Berlin 1883. G. Reimer.

geben. An die Stelle diese» Maßstabe» tritt vielmehr der Gedanke einer Nützlichkeit, deren Inhalt und Maß lediglich durch die Erfahrung zu constatiren ist. Sittlich ist jede Handlung, welche da» Wohlsein einer Mehrzahl von Menschen fördert. Da» höchste Gut vom Stand­ punkte de» Einzelnen ist dasjenige Leben, resp, derjenige dauernde Zustand, in welchem derselbe den höchsterreichbaren Grad von Befriedigung empfinden würde". „Da» höchste Gut vom Stand­ punkte der Gesellschaft ist dasjenige Leben, worin diese Gesellschaft als Ganze» ihre höchste Befriedigung findet." Die Gesellschaft al» Ganze»! Al» ob dieselbe al» Ganze» überhaupt ein Leben führen, und Befriedigung empfinden könnte! Ein vielgebrauchte» Bild wird gedankenlos für iaare Wirklichkeit genommen, die Menschheit wird wie ein einheitliches lebendiges empfindungsfähiges Wesen behandelt, um dem ganz bodenlosen Ge­ danken dieses höchsten GuteS wenigstens den oberflächlichen Schein einer realen Basis zu unterstellen. Doch die- ist nur eine Leichtfertigkeit meta­ physischer Construction, ein intellektueller Schnitzer, der immerhin verzeih­ lich ist; ganz unverzeihlich ist aber die Leichtfertigkeit in der thatsächlichen Würdigung, oder vielmehr in der Herabwürdigung deS sittliche» LebenS welcher sich in dieser Ausfassung kundgiebt. Ein unbedingtes Gut, das seinen Eigenwerth, und damit seine verbindliche Kraft, in sich selbst trüge, giebt eS danach überall nicht. Das Gute wird des ihm inne­ wohnenden Charakters der Güte und Heiligkeit völlig entkleidet und mit dem sinnlichen Wohlbehagen kritiklos identisicirt. „Nur dasjenige Leben, welches wirklich den höchsten Lustüberschuß enthält, ist da» höchste gesell­ schaftliche Gut". Da» Gewiffen wird zu einer bloßen „Resultante ge­ sellschaftlicher und erblicher Einwirkungen" degradirt, zu „einem seltsamen psychologischen Problem", deffen Werthschätzung sich au» der Erfahrung de» Nutzen», den da» ihm gemäße Handeln für die gesellschaftlichen Zwecke barbietet, leicht in ähnlicher Weise erklären lassen soll, wie sich „der Ge­ danke de» Werthe» der damit erreichbaren Genüffe auf da» Geld oder auf die dasielbe gewinnende Arbeit ablagert". Der au» Princip Gewissen­ hafte, der da» Gewissen um seiner selbst willen hochhält, ist also dem Geizhalse vergleichbar, der da» Geld um seiner selbst willen liebt. „Da» Urrecht de» Menschen ist der EgotSmuS". „Pflichten sind social bedingte Einschränkungen der Freiheit, de» Urrecht» auf Alle»". „Meine Rechte sind meine Begierden nach Abzug meiner Pflichten". „Tugenden sind habituelle Dispositionen, Fertigkeiten, die einen Ueber« schuß von Lust in die Gesellschaft bringen", und die Werthunterschiede derselben werden „nach der Größe dieser Lust" bemessen. Da eS z. B. „von hohem Werthe ist,.wenn man einander im Verkehr trauen und ver-

trauen kann", so sind Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit und Treue Tugenden von principieller Bedeutung. Wenn eS aber die Rücksicht auf den dadurch zu erzielenden größeren Lustüberschuß gebietet, so kann e- „eben so oft nothwendig sein, das entgegengebrachte Ver­ trauen zu täuschen"! Ebenso muß auch, waS Ehre und Gewissen sonst noch gebieten, von den berufenen Kritikern deS Positivismus mit Rücksicht auf den eventuell zu erwartenden Ltlstüberschuß des gegentheiligen Handelnjedesmal erst einer sorgfältigen Prüfung unterzogen werden. Die Frömmigkeit wirkt zwar „al- kindliche Naivität sehr anmuthend", aber unser Positivist „erwartet doch, daß sie allmählich reiferen Auffassungen Platz mache". Enthaltsamkeit, Bescheidenheit, Genügsamkeit, Bedürfnlßlosigkeit, Bjrginität, Entsagung, Geduld u. s. w. erscheinen als „verdächtige" Tugenden, weil sie „einen Anflug von asketischem Cha­ rakter haben", und „der leicht zu Beruhigende und Zufriedenzustellende wenig Impulse zu thatkräftigem Vorausschreiten verspürt". „Die Ge­ rechtigkeit" beruht zwar auf „dem Sinn für gebührende Vergeltung", diese ist aber nicht etwa „ein ursprüngliches angeborene- Postulat unsereGemütHS", sondern „in dem socialen Nutzen begründet, in der Gesellschaft eingebildet und zum Theil ererbt". Liebe ist „ein Ausfluß unserer sympathischen Regungen". Auch sie wird jedoch ihre- specifischen Cha­ rakters ganz uneigennützigen Wohlwollens beraubt und in das allgemeine UtllitätSprinrip etngegliedert, indem sie nur „auf dem allverbindenden Gefühle der Solidarität" beruhen soll. Man sieht, die ganze positivistische Ethik beruht allein auf dem schwankenden und in sich unvollständigen Begriffe der Lust und deNutzenS, der nur durch die Erfüllung mit dem Gefammteindrucke deS sinnlichen Wohlbehagens ein verwaschenes aber höchst fadeS inhaltlicheColorit erhält. Es ist kein fester, ehrwürdiger und heiliger Kern in die­ sem Wohlfahrtsprincipe. Alle» ist dem Schwanken und dem Wechsel unterworfen. Diese- Princip hat keine Wurzeln in den konstanten Faktoren der Welt, weder in der Anlage der menschlichen noch der äußeren Natur, weder in der Einrichtung der Welt noch in dem vorausgesetzten Ziele der Weltentwickelung. ES giebt danach solche Faktoren überhaupt nicht, welche dem Gefühle deS unbedingt Werthvollen, unbedingter Achtung und Heilig­ keit als reale Basis dienen könnten. ES giebt keine fürftchfetende Wesen, sondern alle Subjecte sind nur Begleiterscheinungen ursprüng­ licher WahrnehmungSproceffe. ES giebt keinen Gott, sondern nur eine Welt von „Elementaragentien" ohne festen Kern, beten Dasein, deren inhaltliche und formale Constellation „absolut zufällig" ist. ES giebt keinen durch einen höchsten Zweck bestimmten, in sich einheitlich gegliederten Preußische Jahrbücher. Bd. LIL

Heft 2.

und geordneten Weltproceß; eS giebt überhaupt keinen Weltzweck, sondern nur eine gewisse Regelmäßigkeit in dem Ablauf der Bewegungen, welche in ihrer Gesammtheit daS sichtbare Ganze der Welt constituiren. In diesem sinnlosen Mechanismus tauchen die einzelnen Subjecte auf und wieder unter, wie die Thiere, ohne Dankbarkeit und ohne Respect vor dem schöpferischen Principe, welche- sie inS Leben rief. Sie vindiciren sich ohne Vor- und Nachgedanken ein ursprüngliches Recht auf Alles, ihre Seele ist nur erfüllt von unbestimmtem Lustbestreben, sie associiren sich zu größeren und kleineren Gemeinschaften, deren gemeinsamer Zweck auf nichts weiter gerichtet ist, als auf die Steigerung des allgemeinen Wohl­ befindens. Alles ist hier relativ. Die Güte des Guten ruht nicht in sich selbst, das „ Sittlichgute" imponirt nicht durch seinen Eigenwerth, sondern die „Sanction" desselben muß auf andere Weise beschafft werden. Laa- findet solche „Sanction des Guten" theils im „natürlichen Zusammenhänge der Dinge", theils in „den geselligen Einrichtungen", welche sich im Laufe der Zett verfestigt und eine gewisse Beständigkeit gewonnen haben. Er unterscheidet danach eine „natürliche", eine „commercielle", eine „politische", eine „völkerrechtliche", eine „sociale" Sanction, d. h. eine Sanction „der öffentlichen Meinung", ja er erwähnt hier sogar seltsamer Weise eine „religiöse Sanction". Unter letzterer versteht er „die Furcht vor der Strafvergeltnng und die (weniger intensive) Hoffnung auf die Belohnung feiten- unsichtbarer, übersinnlicher, letzten Grundealso nur vorgestellter, niemals in die Wahrnehmung fallender Gewalten". Er leugnet nicht, daß „dieser Glaube in dem Maße, als er über bloße Worte hinaus ernstlich das Gemüth erfaßt, auch ein praktisch bedeutsames Motiv werden könne.". „Die Ingredienzien und Accefforien desselben, der allmächtige, heilige, gerechte Gott, Schöpfer aller Dinge, seine geheimnißvolle Unnahbarkeit, da» Dunkel der jenseitigen Zukunft beschäftigen die Phantasie in eigenthümlicher Weise und üben ans viele Gemüther einen vielleicht unersetzlichen Zauber auS. Die Verbindlichkeiten erhalten durch die überirdischen Beziehungen den feierlich imperativen Charakter, den da- absolute: Du sollst! auSdrückt. Und während bei den übrigen Sanctionen die heuchlerische, schleichende, im Dunkeln operirende Pfiffig­ keit immer hoffen darf, den Schein für die Wahrheit zu verkaufen, ge­ stattet die Allgegenwart de- göttlichen Herzenökündiger- keine Ausflucht und kein Entrinnen". Diese Stütze hat jedoch ihre „bedeutenden Mängel". Theils ist . „das Gute, da- nur um Gottes willen geschieht, üicht hinläng­ lich gegen den Sturm gesichert" und auch hinter dem Handeln de- From­ men steckt wegen der Hoffnung auf die jenseitige Vergeltung „eine würde­ lose Genuß- und Lohnsucht", theil- steht der „einfache und ehrliche Ge-

danke" entgegen, „daß sich von den idealistischen Ahnungen, Hypothesen und Fiktionen doch nicht-, gar nicht- nachweisen läßt". Neben diesen Sanctionen werden zwar al- weitere Stützen der positivistischen Moral noch die bisherigen „Culturproducte" wie „Sprache", „Bildung und Civilisation", „Kunst", „Presse" und „Wissenschaft" aufgeführt, aber LaaS ist doch scharfsichtig genug, einzusehen, daß alle- diese- für die Sicherung de- Guten nur „prekären Erfolg" habe, und daß „die einzige sichere Gewähr, daß der Mensch immer da- Gute thue, diejenige Cha« racterhaltung" sei, welche „da- Gute thut au- reiner Lust, Liebe und Freude am Guten selbst", daß ferner die „Erziehung" da- einzige Mittel sei, welche- sicher zu diesem Ziele führe. Erziehen aber „heißt Gewöhnen; heißt so gewöhnen, daß da- Gemüth allmählich Freude empfindet an dem, wa- es'soll", daß da- Gute dem Menschen „zur zweiten Natur" wird. Diese Wendung ist sehr lehrreich und charakteristisch. Wie Laaschon den subjektiven Pflichtbegriff nicht ander- al- durch stillschweigende Bezugnahme auf da- Gewissen begründen konnte, so muß er nun schließlich auch die durch die „Heranbildung de- Gewissens" zu erzielende sittliche Gesinnung der Menschen al- einzige sichere Stütze de- objectiven Guten anerkennen. Aber wie dort, so kommt auch hier die Anerkennung zu spät. Nachdem er den Begriff deS Guten durch den leeren Gedanken des abstracten Wohlseins und der bloßen Nützlichkeit verwässert und ver­ fälscht hat, erweist sich derselbe als untauglich, noch aufrichtige Freude, Achtung und Respect zu erwecken. Die Erziehung muß nun zu heuch­ lerischen Mitteln ihre Zuflucht nehmen und da- Gewissen durch Vor­ stellungen erwecken, welche sich in einer glauben-frischeren Vergangenheit gebildet haben und an die der positivistische Erzieher selbst nicht mehr glaubt. „DaS: Du sollst! ist entweder der bloße Niederschlag der autori­ tativen Sprechweise der Erzieher", oder e- ist durch diese „mit reli­ giösen Gedanken in Beziehung gesetzt". „Jedenfalls", so wird hier noch­ mal- anerkannt, „ergeben erst letztere die feierliche Einkleidung der Pflicht, wie sie dem sogenannten Gewissen sich darstellt". Wenn sich dann der Respect vor dem kategorischen: Du sollst! einmal durch Gewöhnung ver­ festigt hat, „so spricht da- Gewissen noch in dem alten Ton, wenn auch der Gott, der eS inspirirt hat, längst au- dem Be­ wußtsein entschwunden ist". Die positivistische Ethik zehrt also hier, wo eS sich um die Begrün­ dung des Pfltchtbegriffs und die sicherste Stütze de- objectiven Guten handelt, von dem Fette einer früheren Bildung, für welche sie selbst gar kein Verständniß mehr hat. Wir fragen: WaS wird nun au- dem Pfltcht11*

bewußtsein und dem objectiven Guten, wenn dieses Fett, welches durch die positivistische Moral selbst keinen neuen Zuwachs mehr erhält,

einmal ganz aufgezehrt sein sollte?

endlich

Was wird daraus, wenn die po­

sitivistische Moral, welche jetzt blos in den Köpfen einzelner Gelehrter spukt, wirklich einmal ernstlich zur Oberherrschaft kommen sollte; wenn auch die übrigen Stützen des Sittlichguten wanken, die geselligen Ordnungen und

die Culturgüter, welche alle aus einer Bildungsepoche stammen, deren Hauptinhalt die positivistische Moral bestreitet und zu zerstören trachtet?

Es ist

eine unverzeihliche Kurzsichtigkeit,

daß

unser Jünger des

der ZukunftS-AuSsichten und Auf­

Positivismus in seinen Erwägungen

gaben dieses schwerste aller Bedenken völlig übersieht und sich statt

dessen in Betrachtungen dritten und vierten Ranges von zum Theil ganz utopischem Character über „die Erhaltung und Verlängerung des Lebens", die „Verbesserung der Race", „Verringerung der Unfälle",

ciationen",

„freie Asso­

„wachsende Ausdehnung der Staatsthätigkeit", „Verbesserung

deS Erbrechts" und schließlich sogar über „das Ideal einer Centralstelle zur Vertheilung der Arbeit" ergeht, als sei es ganz selbstverständlich, daß die herübergenommenen alten Stützen seiner neuen Moral auch unter der Herrschaft dieser ewig halten müßten.

Man sollte denken, der Haupt­

gesichtspunkt sei hier der, daß die positivistische

Moral, welche die bis­

herige sittlich-religiöse Auffassung des Lebens beseitigen will, doch aber

noch von deren Nachwirkungen zehrt, zunächst darauf bedacht sein müsse, irgend welche neue lebenskräftige und fruchtbare Gesichtspunkte zu eröffnen, neue Stützen zu schaffen, welche alternirend an die Stelle

der alten treten könnten, wenn diese einmal abgängig geworden sein sollten. Aber gerade nach dieser schöpferischen Richtung hin erweist sich diese Moral als völlig

unfruchtbar.

Die Laas'sche Darstellung hat zur Genüge be­

wiesen, daß sich auS dem unbestimmten Gedanken des bloßen Wohlseins

kein

ethisches Capital schlagen läßt.

noch

einer Ueberlegung dessen, was uns

was das Leben lebenöwerth macht. dazu doch

Es bedarf zur Bestätigung kaum eigentlich im Leben Freude,

Das sinnliche Wohlbehagen liefert

immerhin nur einen untergeordneten Beitrag.

Der Haupt­

punkt menschlicher Daseinsfreude liegt in dem Gefühle deS unbedingten Werthes der menschlichen Bestimmung, dessen unabweisbare Voraussetzung ist, daß alle Weltwirklichkeit auf unbedingt ehrwürdigem Grunde ruht,

daß daS Princip des Guten zugleich

das schöpferische Princip der Welt

ist, und daß unsere Handlungen der Realisirung des Guten dienen.

In

dieser Voraussetzung ruht der Schwerpunkt unseres Lebens­ interesses und unseres LebenSglückS.

Alle Einzelgestaltungen der

Lust an den Dingen und Ereignissen sind diesem Hauptinteresse am Da-

sein untergeordnet, alle tragen ihren specifischen Werth von diesem gleich­

sam zu Lehen und verkümmern und verblassen in dem Maße als jenem Hauptinteresse die Befriedigung versagt bleibt.

Nur die Rücksicht auf ein

unbedingt werthvolleS Gesammtziel erweckt die rechte Lust und Begeisterung

zur Arbeit.

Nur im Lichte

einer solchen sittlichen Lebensauffassung ge­

stalten sich die gegenseitigen Verhältnisse der Menschen zu beglückender Liebe und Freundschaft, weil diese allein auf der Achtung der menschlichen

Bestimmung beruhen.

Nur dieses Licht erschließt unS den tieferen Inhalt

alles Lebens und Seins, der in den vielfältigen Weisen seiner Erscheinung den Eindruck des Schönen tu seinen bringt.

mannigfachen Gestaltungen hervor­

So ist alle Lebensfreude und Lebensfrische von der Idee des

Sittlichguten und der unbedingten

grundes getragen und

Ehrwürdigkeit des letzten Welt­

inhaltlich belebt.

Sie muß veröden und erkalten

in dem Maße, als es der positivistischen Moral gelingen sollte, den ab-

stracten

und leeren Gedanken des bloßen Wohlseins an die Stelle des

Sittlichguten zu setzen, eines Wohlseins, welches alles tieferen Gehalts entbehrt und nur durch sinnliche Potenzen erregt ist. sein

ist viel zu

Ein solches Wohl­

kümmerlich und zu schwach, als daß eS zu energischer

Thätigkeit anregen könnte.

Wäre die Menschheit wirklich einmal auf diese

Art des Wohlseins und daS Streben danach beschränkt, so würde daS

Leben gänzlich entwerthet, und diese Entwerthung zugleich der vor

dem

unbedingten

werden.

Mit

der

Achtung

Werthe des Sittlichen erschlaffen

alle

in

Beginn dessen

sicherste

Verfalls

menschlichen Natur begründeten Anlagen und Kräfte.

der

Es erschlaffen in

demselben Maße auch die Bänder der geselligen und staatlichen Ordnung,

welche ihren Sitz und ihre Spannkraft nicht in dem Buchstaben der Ge­ in den äußeren

setze und

Einrichtungen, sondern in den Herzen der

Menschen haben, welche sie handhaben oder ihnen gehorchen.

WaS den

Bestand der Ordnungen und Gesetze garantirt, ist das auf der Achtung vor dem unbedingten Werthe des Lebens beruhende Gefühl der Menschen­

würde,

welches der geringste Arbeiter, der seine Schuldigkeit thut, mit

dem Könige theilt, welches das ganze Geschlecht der Menschen adelt und jeden in die Lage setzt, neidlos mit seinem Schicksal zufrieden und glück­

lich zu sein, weil alle Verschiedenheiten des Berufs und der Lebensstellung in ihrem relativen Werthe gegen den

Lebensziels verschwinden.

unbedingten Werth deS

sittlichen

In dem Maße als das Pflichtbewußtsein und

die Menschenwürde im Curse sinken, muß der Egoismus der Einzelnen zerstörend und zersetzend in den Organismus des gesellschaftlichen Lebens eingreifen.

In demselben Maße müssen auch Wissenschaft und Kunst er­

lahmen, denn die lebendige Triebkraft dieser ist die Begeisterung, welche

Positivistische Regungen in Deutschland.

158

in einem Geiste keine Stätte hat, dem nichts mehr heilig ist.

Alle höheren

Regungen des Lebens würden allmählig einem hastigen Streben nach sinnlicher Lust und äußerlichem Wohlbehagen Platz machen, einem Stre­ ben ohne Würde, nach einer Lust, die nicht befriedigt.

Diese

Moral würde aller Cultur die Lebensadern unterbinden und consequentermaßen die Menschheit zur Verdummung

Sie gleicht dem Fasse der Danaiden.

und Verthierung zurückführen.

Man lebt und arbeitet, um Lust

zu schöpfen, und wenn man die Lust bei Lichte besieht, so zerfließt sie in­

haltslos in sich selbst und sickert zurück durch die Lücken einer Weltansicht,

welche uns ewig unbefriedigt läßt und keiner wahren Lebensfreude irgend welchen Halt bietet.

Unvollkommen und

nichtig wie der abstracte Gedanke der Lust ist

diese ganze Lustökonomie, diese ganze sogenannte Moral. Stempel der Unreife und Trivialität an der Stirne.

Sie trägt den

Wir hoffen, daß

sie niemals im deutschen Boden Wurzel fassen und die gesunde Atmo­

sphäre unseres Volkslebens vergiften, daß eS vielmehr bei diesen ersten Regungen des Positivismus in Deutschland sein Bewenden haben, daß

der PositiviSmuS hier, zur Ehre des Vaterlandes, sein gegenwärtiges EntwickelungSstadium nicht überschreiten werde — das Stadium

gelehrter

Kinderkrankheiten.

Hugo Sommer.

Der Kaldonatsch-See und seine Umgebung. Ein Ausflug in's Südtirol von Dr. Mupperg.

„Wir kommen aus Italien" sprachen im Zug bei Trient vier Sachsen, „wir wollten in Nordtirol uns erholen und umherschweifen.

Allein eS

war bei dem ewigen Regen und der Kälte nichts zu machen.

So ent­

schlossen wir uns kurz und fuhren hinab nach Oberitalien. wir sofort das feinste Wetter."

Recht hatten die Herren.

ist eine Wetterscheide wie selten eine in Europa.

Dort hatten

Der Brenner

Auf ein Gewitter am

Nordabhang der Alpen folgen regelmäßig zwei, drei trübe, nasse Tage. Unten an der Südabdachung mag man schon drei Stunden nach dem

Sturm sich wieder getrost in's Freie setzen. Herren gleich nach Italien?

„Aber warum fuhren die

Warum besuchten Sie, die Sie des Italieni­

schen nicht mächtig sind, nicht die deutschen Theile Südtirols?

Sie hätten

Ihnen gleiches Klima und größeren Genuß geboten" frug ich.

„Ja davon

wissen wir nichts.

Wo ist die Gegend?

Den See von Kaldonatsch und

die deutschen Dörfer auf seinen Höhen empfehlen Sie?

Uns ist daS ganz

Allein

neu.. Wir haben zwar Bädecker und Meyer'S Reisebücher anbei.

sie enthalten kein Kapitel über dieses Gebiet. Bitte erzählen Sie." ist richtig, was die Herren erwiederten. besonderes Kapitel hierüber.

DaS

Kein Reisehandbuch enthält ein

Einzelne Notizen bringt daS eine oder an­

dere Buch, im „Kleingedruckten".

Aber ein Gesammtbild über daS Ideal

Südtirols „den See von Kaldonatsch" und seiner näheren oder wetteren

Umgebung als „deutsches Reisegebiet" vermissen wir durchweg.

Deßhalb

und weil jeder deutsche Besuch ein Antrieb zur Wiedererstarkung unseres

BolksthumS ist, erlauben wir unS in kurzen Zügen auf dies herrliche Ge­ biet Südtirols und auf Südtirol überhaupt hinzuweisen. Südtirol ist unbekannt, ist vernachlässigt.

Und doch ist der land­

schaftliche Reiz desselben größer als der Nordtirols.

ES vereinigt die

nordische Wucht der Alpenkonfigliration mit den bunteren Farben des süd­ lichen Himmels und

der Vegetation der Feigen- und Oleander-, der

Mandel- und Kastanlenbäume. Daß es noch nicht so besucht ist, wie eS wegen seiner Szenerie verdient, verdankt es der Annahme, daß man dort im wälschen Lande nicht verstanden werde und dem Umstande, daß eS dort keine HötelS giebt. Ein gute- große- Hötel in schöner Gegend zieht über kurz oder lang einen Strom von Gästen, zieht ein Stammkontingent von Sommerfrischlern herbei. Zu heiß ist Südtirol mit Nichten. Der See von Kaldonatsch liegt 450 Meter hoch! Aber selbst in Trient, dem Aus­ gangspunkt unserer Route, habe ich, so oft ich auch im Juli und August dort wohnte, von „unerträglicher Hitze" nichts empfunden. Bei uns Int mittleren Rheinbecken ist eS zur gleichen Zeit ebenso warm. Nur ist in Südtirol die Witterung beständiger und der Winter nicht so kalt wie bei uns. In Trient heizt man erst Anfang Dezember ein. Die gute Jahres­ zeit dauert daselbst um 3—4 Monate länger als bei unS; der Lebens­ genuß, soweit er von Sonne und heiterem Himmel abhängt, ist ein viel größerer als bei unS. ES ist deßhalb nicht zu verwundern, daß seit kurzer Zeit, bei dem tiefgesunkenen Werthe des Boden- und bei dem allgemeinen Zurückgekommensein,'Deutsche sich dort Landsitze erwerben. Deutsche Ar­ beitskraft läßt auS den verwilderten Weinbergen bald 10- und 15 fache Rente ziehen. Die Zeit, wo die Stadt Trient verbieten durfte, ein Grabmal auf dem Friedhofe in deutscher Sprache zu setzen, ist vorbei. Seit unseren letzten Kriegen ist der wälsche Hochmuth stark in Abnahme. Erklärt ein deutscher Einwohner auf die wälsche MagistratSzuschrist, „daß er der italienischen Sprache nicht mächtig sei", so wird jetzt mit ihm deutsch verhandelt. Vor 20—30 Jahren wäre daS unmöglich gewesen. Ist doch jetzt auch in Trient eine deutsche Volksschule errichtet und giebt sich die LandeSschulbehörde die größte Mühe, dieselbe auf eine, bei den Wälschen unbekannte, Höhe der Leistung zu bringen. Noch aber ist. kein vollständig deutsches Gymnasium vorhanden und noch findet kein deutscher Gottesdienst statt. Und doch ist wohl ein Sechstel oder ein Siebentel der Stadtbewohner deutsch. Es ist das ein großer Uebelstand. Die Kinder all der deutschen Beamten, Offiziere und Gewerbtreibenden werden in Gottesdienst, in Handel und Wandel zu Italienern gemacht. Aehnlich steht eS im benachbarten Städtchen Pergine, nebenbeigesagt. Die Kinder aus der dortigen deutschen Garnison, die Kinder der dortigen JrrenanstaltSbeamten werden blos Wälfch unterrichtet. Die signori des, einst ganz deutschen, Städtchens wissen den Wunsch der geringeren Bevölke­ rung, in der Stadtschule auch deutsch gelehrt zu erhalten, stets zu ver­ eiteln. Aus der Mitte der Tiroler deutschen Bevölkerung dort unten ist die Initiative zur Wiedereinführung de- deutschen Unterrichts nicht zu erwarten. Da- Nationalgefühl ist immer noch zu todt. Die armen

Deutschen, wie gesagt, sind regsamer; sie wissen, daß sie ihre Kinder

zahlreich zu uns auf Arbeit senden, sie wissen, daß das geborne Hinter­ land Tirols Deutschland und nicht Italien ist, sie wissen schließlich, wenn

sie eS auch aus Eigensinn ableugnen im Gespräche, daß ihre Väter vor 100 oder 200 Jahren noch deutsch gesprochen haben, und so haben sie

mehr Lust, Deutsch zu lernen und zu lehren in der Schule als die Deut­ schen selbst.

In Trient gab die Anregung zur Wiederaufstellung einer

deutschen Schule der Gastwirth Oestreicher im Hötel Trient.

Allein wer

wird in Pergine und so manchem Orte der Umgegend diese Arbeit voll­

bringen?

Stadt.

Trient war bis zum Ende des 15. Jahrhunderts eine deutsche

Ein Mönch aus Ulm schildert das Verhältniß in dem Berichte

über seine Reise in'S gelobte Land um 1490 dahin „die Herren und die Bürger der Stadt sind deutsch; die Wälschen müssen draußen wohnen und,

soviel auch herbeiztchen, sie werden nicht zur Bürgerschaft zugelassen, son­ dern von den Deutschen stolz behandelt*. — Wie hat sich das geändert! Der Vermehrung und des Wachsthums entbehrend schwanden die Deut­

schen dahin; endlich drängten sich doch die Wälschen auS den Hütten der Vorstädte in die Stadt herein, wie die Walachen bei den Sachsen in Siebenbürgen oder die Slovaken in die Zipser Städte, und bald waren

die Knechte zu Herren geworden. — In Trient empfehlen wir, im Oestreicher'schen „Hötel Trient* zu wohnen.

ES ist ausnahmsweise ein ganz

deritscheS, und was da unten besonders erwähnt werden muß, ein rein­

liches wohlgeordnetes HauS.

Der Wirth nimmt sich, was in Oestreich

ebenfalls eine Ausnahme ist, selbst der Gäste an und giebt, da er uner­

müdlich sich selbst im Lande umsieht und

für die Verkehrserleichterung

thätig ist, die beste Auskunft. Von Trient richtet sich unser Ausflug gegen Osten.

Von dort her

fällt der Fersenbach (Fersina) In die Etsch unterhalb Trient.

Man wan­

dert, am besten Frühmorgens oder spät AbendS, weil da die Beleuchtung

schöner ist, auf der herrlichen neuen Felsenstraße hoch über der, in der Tiefe brausenden,

Persen.

Fersen die drei

Stunden nach Pergine, früher

Wer sehen will, bedient sich am besten eines eigenen Wagens

bis nach Kaldonatsch; die Wagen sind billig.

In Pergine kehrt man bei

Voltolini ein; der Wirth spricht wenig deutsch. bildete Deutsche und hilft gern auS als Dolmetsch.

Die Frau ist eine ge­ UebrigenS spricht die

Pergine liegt prächtig.

Der Besuch des, noch

wohl erhaltenen, Kastells ist lebhaft anzurathen.

In dem Kastell hauste

Dienerschaft gut deutsch.

um'S Jahr 1200 der Pfarrer Andrich.

zugleich als Gebieter funktionirt zu haben.

Er scheint als Geistlicher und Wir haben noch eine Urkunde

von ihm, natürlich in deutscher Sprache, da damals das ganze Land weit

und breit umher deutsch sprach. In dieser Urkunde spricht er Recht zwischen

streitenden Bauern aus benachbarten deutschen Dörfern über das Fischen auf unserem Kaldonatsch-See.

Der böse Jakob auS Drischel (jetzt nicht

mehr erkennbarer Ort) wurde von ihm als gewaltthätiger Ruhestifter verurtheilt.

Schon vor Pergine hat sich der Fersenbach gewendet.

auS erstreckt sich Norden.

seine Schlucht nicht mehr nach Osten,

In dieser gewaltigen Gebirgsschlucht

und in

Von dort

sondern nach einem parallel

laufenden, schon vorher auf die, von unS durchschrittene, Straße herab­

stoßendem, anderen Thale Hal sich unsere Sprache seit der Völkerwanderung

lebendig erhalten. daS Pins.

Dieses „andere" Thal ist das Paneid oder auf wälsch

Früher nannte man blos das Thal der Sill das „Paneid,

Pins". Im Laufe der Zeit hat man auch daS nach Norden anstoßende Thal

deS Regenbaches, daS Dorf Brusach (Brusago; das ago ist stets die Um­ gestaltung des deutschen ache oder aha, das Gewässer) und daS Gebiet des,

aus dem Heilgen See im Westen zum Fersenbach herabziehenden,

dünnen Bächleins hinzugerechnet. Germanen bewohnt.

Wälsch.

DaS ganze Gebiet deS Paneid ist von

Die Leute reden nur jetzt seit 1 oder 200 Jahren

Man hat ihnen eben nie anders als wälfche Schulen gege­

ben, nie anders als wälsch gepredigt rc. und so ist es kein Wunder,

daß die offizielle Sprache Herr wurde über die deutsche Familiensprache. Noch hat daS Land keine

anderen Flurbenennungen als deutsche.

In

einem Dorf, in Bedol, hatte sich wirklich noch der Gebrauch der deutschen

Sprache in einzelnen Familien erhalten.

„alten Sprache" zurück.

Dieses Bedol griff zuerst zur

Man sendete den Sohn deS capo commune

(Schultheißen) nach Innsbruck, damit er ordentlich daS moderne Deutsch erlerne.

Und nun dient der wackere junge Mann als deutscher Lehrer d. h.

er erhält von der Regierung baare 50 Gulden dafür, daß er auch nebenher Deutsch lehrt! in seiner heimathlichen Gemeinde.

Seitdem daö deutsche

Volk durch die Kriegsereignisse sich wieder eine ehrenvolle Stellung unter den Nationen Europa'S erworben, fuhr eben doch auch ein Hauch von dem, bei uns'etwas erwachten, Nationalgefühl in die verlassenen, ver­

gessenen Longobarden- und Gothen-Gemeinden Tirols.

„ES sind Deutsche

die von Bedol; wir sind noch walisch" sagte mir eine Wirthin „aber

nächstes Jahr muß mein Minigo auch nauf nach Bedol und Deutsch

lernen".

ES packt einen fest anS Herz, wenn man sieht, wie diese ver-

wälschten Söhne unserer edelsten Stämme etwas, was die Meisten bei unS wenig oder nicht achten, daS Gut der deutschen Sprache und Ab­

stammung, so hoch halten.

Man müßte doch noch seinen Dank abstatten,

dafür, daß man einer edlen Nation entsprossen.

Man könnte ja auch als

Slovene oder gar als Maghare geboren sein!

Ein anderes Dorf, Vigo,

folgte dem Beispiele.

Dort wurde von der Gemeinde ein junger braver

Schuster, der auf der Wanderschaft Deutsch erlernt hatte, beauftragt, den

Wie ich dort in dem Elend, in der

Kindern die alte Sprache zu lehren.

Armuth den armen Mann die blondhaarigen Bübchen und Mädchen in unserer

Sprache unterrichten hörte,

gedachte

Schulpaläste und unserer tollen Ansprüche.

ich

mit Schaam unserer

Wer schützte das Erbe der

Väter früher: der arme Schuster von Vigo mit seinen blauäugigen Bar­ füßern oder unsere Schulmonarchen mit unseren verwöhnten Sprößlingen?

Es ist gelungen den Schuster einen Kursus im Seminar durchmachen zu lassen.

Jetzt wird's schon besser gehen!

Hoffentlich und voraussichtlich

werden noch andere Gemeinden dem Beispiel von Bedol und Vigo folgen,

besonders wenn man von oben die Bewegung nicht hemmt, sondern-, auch

nur ein klein Bischen, befördert. Man macht die Parthie am besten so, daß man an der Einmündung der Sill (alter oft erscheinender deutscher Flußnamen; auf Wälsch Silla

oder Sella) die Landstraße bis an den See von Sterneck, Sternigo (auch

Serrajer See) verfolgt. haus. pachtet.

Hier liegt rechts am See ein leidliches Wirths­

Wälfche unten aus Trient haben eS als Sommerwirthschaft ge­

Bei der Sprödigkeit, mit der dieselben unsere deutsche Sprache

behandeln, wäre es doppelt zu wünschen,, daß der Plan:

an der südöst­

lichen Bucht deS SeeS ein deutsches Hötel zu errichten, durchginge.

Dort

ist prächtiger Nadelwald; die Luft ist auch im heißen Sommer (c. 1400')

kühl; die eisenhaltigen Gesundheitsquellen sind schon angekauft; daS Wasser

des SeeS ist, da eS kein Gletscherwasser erhält, trefflich geeignet zum Baden: so ein Hötel würde bei der Armuth Südtirols an komfortablen deutschen Häusern nicht blos von größtem Werthe für Touristen, sondern

würde auch dem wiedererwachenden Germanismus der Thalbewohner ein Sporn und ein guter Anhalt in jeder Weise sein.

Von da führt die

Straße an den kleinen See von Rieölach (verwälscht Rizzolago) und an ihm vorüber in'S Thal des Regenbaches (val Reguana) bis zur Warte

(la Barda).

Ihr gegenüber liegt ziemlich hoch Bedol.

an dieser Stelle ist höchst malerisch.

Die Gefammtlage

Von hier hat man einen, zwar nicht

ganz bequemen aber sehr lohnenden,

Ueberstieg in'S obere Fersenthal.

Maulthiere erhält man in den Wirthshäusern an der Warte.

DaS obere Fersenthal, dessen wir schon früher gedachten, birgt

6 deutsche

Gemeinden Palau oder Palu,

St. Felix, St. Franziskus,

Gernut (wälsch Fraxilongo), Eichleit-Roveda und Watsurg-Bignola. Noch

wird deutsch gesprochen am häuslichen Heerde zu Eichberg-Sanela Orsola

und zu Falesin, das schon

unser Pfarrer Lindrich als deutsch erwähnt.

In Vierach-Bierago, in „gern Etsch"-Canezza und in Sievernoch-Civignago;

Der Kaldonatsch-See und seine Umgebung.

164

besonder« aber in Stevernoch und Eichberg ist der ausgesprochene Wunsch die nur im häuslichen Gebrauche gesprochene Sprache zur

vorhanden,

Schulsprache zu

erheben.

Bis jetzt kam man dem Wunsche noch nicht

Leider wird in den erwähnten 6 deutschen Schuldörfeni noch

entgegen.

immer wälsch gepredigt.

Deutsche Priester predigen deutschen Gemeinden

wälsch! Am kältesten liegt St. Felip; wärmer ist das, doch höher gelegene,

Palau!

Die Palauer gelten als die ältesten Bewohner des Thales.

„Wir sind älter als die von Fieroz (auS „Bierhöf" entstanden; die beiden:

St. Felix und St. Franziskus), welche

als Knappen nm'S Jahr 1000

hereinkamen und sind noch älter als die von Bierach und Gernut und.

Sievernoch, die doch auch wieder alle

wohnten", sprechen die,

lange vor den Vierhöfen hier

auffallend gutes Deutsch redenden, Palauer.

Nimmt man an-, daß daS benachbarte Fagitanum, jetzt Faida, auf dem

Abhang des Paneid gegen das Ferfenthal, um'S Jahr 700 (besser 680)

ein Longobarden-refugium war, so kann

man wohl die allgemeine Be­

völkerung deS Thales, mit Ausnahme Vierhöf'S, für longobardischer Ab­ Die Palauer, die aber noch vor diesen Gemeinden

stammung halten.

im Thale gewohnt haben wollen, müßten dann Gothen oder Heruler sein. Um6 Jahr 680 sandten die Franken

vom Rhein

Schaaren zum Heere inS Longobardenland.

und Main wieder

Unter den Vesten, die da­

mals erobert wurden, wird unS von Warrenfried auch das Castell Fagi­ tanum genannt.

La alta burga nennen die Stelle heute noch die, meist

„Moser, ESgau" re. heißenden, Landbewohner.

Im Anfang dieses Jahr­

tausends traten die Mannen von unserm Gernut, Sievernoch, Hochlait re. zusammen zu einem Bund wider ihren, augenblicklich abwesenden, Tyrannen

Gundobald.

Dabei bedingen sie eigens, „daß sie nicht gegen ihren deut­

schen Kaiser kämpfen und daß sie nach ihrem Longobardischem Rechte sortleben wollten".

Also Longobardisch!

Und Palau, daS doch älter ist,

findet sich nicht in dieser Urkunde angeführt!

Man thut gut die deutschen

Kuraten oder die deutschen Lehrer (oder Lehrerinnen) zu besuchen.

In

Gernut (Frassilongo) hat sich ein bescheidene- WirthShäuSchen aufgethan, Dominik Holzer'S „zum deutschen HauS"; leider hat der Mann durch die

Ueberschwemmungen im September fast Alle- verloren.

Bei der lieblichen,

warmen Lage wäre dem Dominik und dem Oertchen deutscher Besuch recht zu wünschen. Nach La Barda von Trient tm Wagen 4 Stunden; zu Fuß nicht

viel mehr.

Ueber die hohe Lait (1425 Meter hoch) von La Varda nach

Palai 3 Stunden.

Da- Ferfenthal nach Pergine hinab in 27t Stunden.

Sonst kann man auch von Paneid-Pine herab einen sehr schönen Abstieg nach Pergine herab machen über Wald-vald, Fongolott und Madonna da

Caravaggio.

In der Kirche zu St. Karl zu Pergine wurde noch in diesem Jahr­ hundert deutsch gepredigt. An der Stelle deS jetzigen Franziskanerklosters stand vor 800 Jahren daS Benediktinerkloster Wald, in welchem die freien Bauern, wie oben angeführt, unter Vorsitz deS AbteS den Bund be­ schworen wider ihren Tyrannen Gundobald. Die Wälschen verlegen immer In ihrer Unwissenheit diesen Akt in den Ort Selva östlich von Leviko. Noch im Jahre 1760 muß viel deutsch gesprochen worden sein in Pergine. Denn der 1764 verstorbene Advokat Bartolomei schrieb einige Jahre vor seinem Tode Sprachproben aus den deutschen Gemeinden ringS um den Kaldonetsch-See, und vorzüglich auch auS seiner Vaterstadt Pergine auf. Wir werden später einige Worte auS denselben anführcn. Lange Zeit erhielt sich auch in Pergine die Selbstregierung der freien Gemeinde, rind die den Germanen ebenfalls eigenthümliche freie Wahl der Geistlichen; heute noch herrschen, bei den Hochzeiten die altgermanischen Gebräuche. Nach dem See und dem Ort Caldonezzo (deutsch Caldonetsch oder Kalnetsch oder Golnatsch; auS „KalthuS" entstanden) führen 2 gute Straßen. Die links, oder östlich, führt erst nach dem Badeorte Leviko, früher Lewerk. Der Akzent liegt auf der ersten Sylbe; Beweis, daß es ein deutsche- Wort ist. Lewerk hat sehr heilsame Wässer; arscnikeisenhaltig. Schade, daß wir das Bad noch nicht benutzen können. Kein Mensch spricht nämlich dort deutsch; nirgends ist ein Wort deutsch ange­ schrieben. Die ganze Badegesellschaft rekrutirt sich auS Italien. Man versteht nicht nur nicht unsere Sprache, sondern man meidet sie wie die Pest. ES ist dort auf altem deutschen Boden noch der alte Haß der Jtaltanissimi maßgebend. In jeder Stadt Italiens findet man Leviko's Anschläge; bei unS fällt eS der Direktion nicht ein, daS Bad zu affichiren! Hoffentlich entsteht über kurz oder lang dort ein rein deutscher Gasthof. Dann wäre eS nicht mehr so gewagt, deutsche Familien dahin zu weisen. Eigentlich sind eS der Seen zwei, der von Leviko und der von Kaldonatsch. Beide sind durch einen, bis zu 2100' hohen, Bergrücken getrennt. Der erste See ist kaum '/, so groß als der zweite. An ihm, dem See von Leviko zieht unsere zuerst erwähnte östliche Straße hin, nach Leviko und von da nach Kaldonatsch. Die zweite Straße, die westliche, zieht am Kaldonatschsee selbst und zwar an seinem westlichen Ufer hin. Wie die Gemarkung des ganzen Sees deutsche Benennungen, theils verderbt, theils noch ganz deutsch erhalten, aufweist, so ist auch drüben im Osten der Bergrücken mit lauter deutschen Namen benannt. Der eine Hügel heißt der Rastel, der andere der Olberer; am Ausfluß deS SeeS liegt auf einem Vorsprung da- Dorf Tenna, so benannt nach

der berühmtesten Vogeltenne (Vogelherd-zoccolo) in Südtirol.

Und der

Ausfluß des Sees wird nicht mehr, wie sonst vielfach in Oberitalien, mit

dem

asten Römischen Namen Medoacus major

genannt; sondern hat

einen deutschen Namen angenommen „die Brent" oder „fiume Brenta“.

Sie ergießt sich bei Venedig in die See.

Wenn man aber diese „direkte

Straße" von Pergine nach Kaldonatsch einschlägt, so fährt man über „den

Mörderbach" weg an das westliche Ufer des Sees heran.

Dies Ufer

steigt allmählig zu der bedeutenden Höhe von 1470 Meter an (Mt. Chegel,

„der Kegel" früher benannt auf den Karten, bis die k. k. österreichische Generalstabskarte sich das Verdienst erwarb, diesen Namen wie unzählige andere zu italienisiren) und trägt auf ihrer Breite, auf ihrem Abhang, viele einzelne Weiler, z. B. den Weiler des Vait (Faiti), des Greter,

des Lunz, des Perpher rc.

Diese Weiler Pfarren alle in die gemein­

schaftliche Pfarre Castagne, früher Vollchesten, voll Kastanien.

wahrer Kastanienwald bedeckt den Bergabhang.

Laubwald der uralten gewaltigen Bäume.

Denn ein

Wie ein Meer wogt der

Dieser grüne Hang, der große,

oft wilde Wellen werfende, See, der im Süden scheinbar senkrecht aus den Fluthen aufsteigende Berg „Hochleiten" geben dem Bild eine wahr­

haft

bestrickende Schönheit.

Würde

an seinem westlichen Ufer in der

Bucht vor Kalhonin (Calceranica) ein modernes Hotel mit Badeanstalt errichtet (natürlich ein sauberes deutsches Hotel, kein verlottertes italieni­ sches), es müßte der besuchteste Platz in ganz Tirol werden.

Alle andern

Etablissements am Achensee und am Zellersee, in Campiglio („gau Bühel") und

selbst am Gardasee müßten vor dem neu aufgehenden Stern er­

blassen. — Für die Stärkung des deutschen Elementes, zur Minderung

des Garibaldi-Geistes wäre solche Schöpfung wichtiger und erfolgreicher als viele gut gemeinte Schenkungen und Stiftungen der Schulvereine in

Deutschland, die doch meist scheel angesehen werden als „Verpraißung".

Bis jetzt liegt der 63/4 Stunden lange See noch todt;

kein Kahn,

auch von dem Bade Leviko nicht, läßt sich auf ihm blicken; nur der weiße

Schaum der Wellenkämme jagt auf der dunkelblauen Fläche dahin. See gehört dem Grafen Trapp in Innsbruck.

Der

Deutscher Unternehmungs­

geist würde ihm bald ein anderes Aussehen verleihen!

Kalkrein hielt

sich bis zum Anfang des vorigen Jahrhunderts deutsch.

Wir haben eine

Urkunde, wdrin der Schultheiß („Haupt" nennt er sich) oder capo com­

mune den Akt der Kirchen- und Pfarrei-Visitation deutsch niederschreibt anno 1678.

In der Kirche zu Kalkrein ist ein Römischer Votivstein ein­

gemauert, der den,

an dortiger Stelle blühenden, Dienst der Diana

Antiochena beweist.

Der heilige Hermes, der anno 119 Christ wurde,

soll hier den „dieser Diana geweihten Tempel in eine christliche Kirche

umgewandelt und damit das hohe Ansehen und bie weite Ausdehnung des Kalkreiner Pfarrsprengels bewirkt haben.

Freilich

in den darauf

folgenden Eroberungszügen unserer deutschen Stämme nach Italien gingen

hier die Römischen Bewohner alle unter. — Von dem, jetzt malerisch

überaus

aber auch italienisch verlumpt aussehenden und doch reichen

Calceranika kommen wir in ’/4 Stunde nach Caldenazzo.

bei Marchesoni.

Fuß etwa 21/, Stunde.

Hier Einkehr

von Pergine nach Caldenazzo erfordert zu

Der Weg

In Caldenazzo, dessen gewaltiger longobardisch-

deutscher Dynast Sykko im 14. Jahrhundert einst weit und breit gefürchtet

war, nimmt man sich bei Marchesoni Reitthiere und reitet (auch Wägel­ chen zu haben) hinauf auf das Hochland, auf welchem hinter den Hoch­

leiten, hinter dem Mt. Corno (früher „daS Horn"), dem Mt. Scanuppio

(Knappenberg) und Mt. Spiz (Spitzberg) noch ein Paar halb oder ganz deutsche Cimberngemeinden liegen. „Cimbern" nennen sich alle versprengten deutsche Reste unten von der Adria an,

nach Italien und bis zum Mt. Rosa hin.

über Neumarktl in Krain,

bis

Die'vorzugSweise sich Cimbern

(Cembro) nennenden Deutschen der sette communi in Italien, die sich direkt an daS von uns nun erstiegene Hochland anschließen, reden einen

sitzengebliebenen schwäbischen Dialekt.

Sie sind sicherlich die Nachkommen

der von den Franken auS dem Mittelrhein- und Untermain-Gebiet ver­

triebenen und zu Theoderich

geflüchteten Allemannen.

Hierfür sprechen

viele Stellen in Ennodius, Procopius rc.

Der Weg von Caldonetsch nach Lafarun, jetzt Lavarone ist im

höchsten Grad romantisch.

Es ist eine, vom Ingenieur Kaneppele (Knäpple,

Knappe) in Lefraun in die Felsenwand deS Hochleiten gesprengte, Berg­ straße, die fast 900 Meter in die Höhe steigt. brüchig,

Leider ist der Fels so

daß die Gemeinde Lefraun öfters bedeutende Nacharbeiten voll­

ziehen und bezahlen muß.

dorf Centa.

Rechts drüben am Hang liegt das alte Kirch­

Der Name Cent oder Cents wird

abgeleitet von dem

»Zentsitz", dem „Dinggericht der alten deutschen Hundertschaft".

Noch

haben alle Weiler deS Dorfes, die sich an der steilen Wand des CentabacheS hinaufziehen, deutsche Namen „Schaller, Uez, Frisang, Menegal" rc.

Auf dem linken Ufer des ZentbacheS wäre eigentlich die Straße leichter

zu bauen gewesen; auch hätte man bequemer (und strategisch-nützlicher) nach St. Sebastian, Folgereut und GeSlach abzweigen können.

Allein

Bauherrn lieben genialere Aufgaben und Gemeinden gönnen nicht gerne

den Nachbarn die Mitbenutzung des Vortheiles. Lafraun-Lavarone ist noch halbdeutsch.

Einige Jtalianissimi aber

fahren ungenirt fort, den Rest unseres Cimbrischdeutsch zu

tobten.

Lafraun ist ein gutes, zum Logieren wohlgeeignetes Wirthshaus.

In

Die

Der Kaldonatsch-See und seine Umgebung.

168

WirthSfamilie heißt Jung.

Der jetzige Wirth nennt sich aber mit Vor­

In der, c. 18 Weiler umfassenden, Gemeinde hat natürlich

liebe Giungo.

die ganze Gemarkung noch deutsche Namen: „der Kugelbach, die Brunn­

wiese, die Thalwiese, (jetzt thollbise im Gerichtsdeutsch catastrirt!!), daS Jungholz, der cameunbe — der Gemeindeweg"; die Weiler „Schlagen-

Birti = Wirth,

Eichberg — Mte Bovere,

auf,

Stengeln" etc.

Corati — Konrad,

Im Jahre 1764 fixirt aber der oben benannte Fersener

Advocat die einzelnen Dialecte folgendermaßen:

Latine: abducere aberrare accipiter

(Lafarun) Lavoruenses: fueren hin fällen henneträger

Perginenses: fueren hin gfält hennefoge

Roncegnenses: fueren hin gesellen haar (Häher). und wie bekannt

Man sieht, wie auSgebreitet unsere Sprache noch war, damals diese Ausbreitung.

Jetzt leugnen die Söhne dieser verblichenen

Deutschen die deutsche Vergangenheit ihrer Väter grimmig ab.

Ron-

cegno hieß früher Rundschein oder Runsingen.

Es ist ein prächtig ge­

legenes Bad dicht vor Berge im Brentathale.

Seine Besitzer doctores

Baiz (alias Weis)

bieten alles

auf, um

den

mindestens gleich guten

Quellen wie Leviko das nämliche Renommee und gleichen Besuch zu ver­ Zugleich widmen sic deutschen Kurgästen viel mehr Rücksicht als

schaffen. Leviko.

In Rundschein wurde

Die Lage des Bades ist fast noch schöner.

nun, wie auf den umgebenden Bergen, Mitte des vorigen Jahrhunderts

überall noch deutsch gesprochen.

Das ganze Thal bei Borgo hat eben­

falls deutsche Grundnamen.

Nach Lafraun braucht man 21/, Stunde hinauf. Trient bis Lafraun kann man

und her zurücklegen.

bequem

Die ganze Strecke

per Wagen in einem Tage hin

Auf der Höhe oben fühlt man sich wie im Thüringer

Walde oder auf dem Erzgebirge.

Nur das Erblicken der gewaltigen Berg­

wiesen in Tirol (im Westen die ganze Cima-Tosa-Gruppe) und in Italien (die Berge der seile communis und

Bauern willfahret und

noch weiter nach Bassano hinab)

Würde dem Wunsche der Lafrauner

corrigirt das Bild der Erinnerung.

endlich auch hier eine deutsche Schule errichtet:

Die fast 2000 Seelen starke Gemeinde sollte bald laut und freudig die „alte Sprache" bekennen.

Aber wie dereinst in Venetien faßt man die

Leute mit seidenen Handschuhen an.

Der Lohn bleibt nicht aus.

Die

signori haben aber schon die italienische Fahne in der Truhe.

Von

Lafraun geht man in

teilt deutschen Dorfe

gebietes.

zwei Stunden nach

an äußerstem Ende des

„Wie wunderbar, daß sich

Luserna, dem

alten deutschen Bundes­

gerade im

äußersten Winkel gen

deutsche Sprache erhalten hat", sagte mir ein alter Bauer.

Süden die

„Und da zwischen uns und Ihnen ist Alles walisch worden".

Eine klare

Anschauung hat der brave Alte wohl nicht ganz von dem geographischen

Vor 18 Jahren wurde Luserna zu deutsch „Lusarn" entdeckt

Sachverhalt. als „noch

fast ganz deutsch".

Ein paar Gelehrte

hinauf und frugen die Gemeinde:

stiegen im Winter

„Wollt Jhr's nicht einmal mit einer

Schule in Eurer eigenen Sprache Probiren?"

Gern sagten die Männer

Noch nie war Deutsch gepredigt oder gelehrt worden.

zu.

Jetzt zog als

deutscher Lehrer und — italienischer Priester der tapfere Kurat Zuchristan

ein.

Seit 18 Jahren lehrt er nun deutsch und predigt wälsch.

Und seit­

dem ist der Gebrauch der italienischen Sprache täglich mehr geschwunden und das Deutsche mehr in die Höhe .gekommen.

Ja selbst der alte Cim-

brische Dialect der 800 Einwohner nähert sich, wenn auch leise, so doch

unaufhaltsam, dem

Hochdeutschen.

klingt dasselbe auffallend rein.

Sprechen die

Leute Hochdeutsch, so

Die Lage des Dorfes (das Wort Luserna,

Laserne stammt von „Laßberg" und nicht von Lucerna) ist wahrhaft groß­ artig.

Es klebt an dem senkrecht 2000 Fuß abfallenden Rande deS wilden

Astibo-Thales (Accent wieder auf dem A).

leidliches WirthShallS dort vorhanden ist. alten Freund Zuchristan,

Jammerschade, daß nicht ein

Man muß bei unserem guten

dem Ortsgeistlichen,

logieren.

Trefflich wäre

deutscher größerer oder kleinerer Hotels auf der

eS, existirte eine Reihe

überaus lohnenden route Trient-Lusarn. einem Sommerfrischplatz.

Letzteres wäre tote geschaffen zu

Aber so verlassen und vergessen ist der Platz,

daß sich noch nicht einmal ein österreichischer Photograph zu dem patrio­ tischen Opfer bereden ließ, hinaufzusteigen und durch eine Abbildung die Gemeinde bekannt zu

machen.

Bon Lusarn kann man, bequem immer

auf der Hochebene, in die cimbrischen 7 Gemeinden Italiens

gelangen.

Was Oesterreich versäumte, so lange eS die Lombardei und Venetien be­ saß, die Cimbrisch-deutschen Gemeinden durch Straßen mit dem deutschen

Tirol zu einigen: das holt jetzt Italien nach.

von Asiago (z. D. Schläge)

Das regno d’Italia hat

bis Termine und Gärteln an der Tiroler

Grenze jetzt eine treffliche Straße gebaut.

Die Fortsetzung aus der öster­

reichischen Seite läßt aber noch auf sich warten.

Es war ein Unglück,

daß Oesterreich, ohne Kenntniß des deutschen Schatzes, den es in all' den Cimbrischen Gemeinden des nördlichen Venetiens besaß, das ganze König­ reich Venetien

Italienern

intact an Italien abtrat 1866.

Seitdem wird von den

die uralte deutsche Sprache in Sieben — Sappade, Tischel-

wang — Tinau,

Canova = gan Oben u. s. w.

konsequent

ausgetilgt.

seitdem schneidet daS, mit Alpenjägern besetzte, Venetien so tief in Preußische Jahrbücher. 53b. LU. Heft 2. 12

Und

da» österreichische Gebiet hinein, daß die Pusterthalbahn binnen 3 Stun­

den von den Wälschen unterbunden werden kann. Bon Luserna geht man, wenn man also nicht in die adle communi

der italienischen Cimbern will, zurück nach Lafraun und von dort nach

Sct. Sebastian. Entfernung von Lafraun nach Sct.Sebastian 1'/«Stunde. Set. Sebastian ist eine Untergemeinde der großen Muttergemeinde Vielgareut

oder Folgaria.

Der Bischof von Wanga rief Ende des vorigen

Jahrtausends zur Besiedlung des, noch ziemlich unbevölkerten, Hochlandes

zahlreiche Cimbern aus dem benachbarten heutigen Italien, Markgrafen der deutschen Mark Berona-Bern waren damals

100 Jahre lang die

Markgrafen von Baden, herbei. Diese siedelten sich nach alter germanischer Weise in einzelnen Rodungen öder Höfen an. AliS ihnen erwuchsen die

In dem Hauptdorfe Folgareut wohnt der

jetzigen 20 Untergemeinden.

Oberpfarrer, in den Untergemeinden, z. B. in Sct. Sebastian sind Kuraten

Die Gesammtgemeinde Folgareut hat noch in ihrem, eine

Seelsorger.

Allmählig lösen

Quadrat-Meile großen Gebiete gemeinschaftlichen Besitz.

sich aber doch die Untergemeinden mehr und mehr von der Hauptgemeinde,

besonders Sct. Sebastian.

Ueberall hatte sich in dem Gesammtgebiete

die alte cimbrisch-deutsche Sprache erhalten.

Nur in Sct. Sebastian

wurde das Hochdeutsch auch etwas in der Schule gepflegt.

so nebenher.

Freilich blos

Immerhin aber war es genug, um der kleinen Gemeinde

den Charakter eines deutschen Dorfes zu wahren.

Eine Reihe von Jahren

wirkte daselbst als Oberlehrer und Seelsorger Kurat Kolumbans. sind in Folge von wälschen Hetzereien Zwistigkeiten ansgebrochcn.

Jetzt

Hoffent­

lich leidet der bisher gedeihlich betriebene deutsche Unterricht keine Unter­

brechung.

Die Schule hat manche Unterstützung von Deutschen erhalten.

Das Wirthshaus der Frau Veronica Jung ist nicht schlecht.

Von deutschen

Touristen wurde Verschiedenes gethan, ihm besseren Komfort- zu verleihen. Dem Wirthshaus gegenüber liegt auf einem Vorsprung der Weiler des

Peremprunner (Bärenbrunn).

Er wäre bei der, zwar beschränkten, aber

doch sehr schönen, Aussicht tn'S Astikothal, auf Lafraun und Lusarn, auf

den Wasserknoü („Knoll" im Cimbrischen: „der Stein, daS Felögebirg") und den Spitzberg rc. und

bet seiner Waldumgebung

sehr zur Anlage

eines Rasthauses oder GebirgShötelS geeignet. Bon Sct. Sebastian geht man in */4 Stunden auf guter Chaussee

in das Hauptdorf Folgareut. zum Stern ein.

Dort kehrt man bet Johann Kappelletti

Die Wirthsleute sind freundlich und das HauS reinlich.

Ein Hotel ist's nicht;

aber man kann gut da rasten.

Wie tat ganzen

Orte, so spricht man auch Im WirthShause noch Clmbrisch.

verstehen die Wirthe aber nicht.

Hochdeutsch

In Folgareut besteht eine kleine, aber

sehr verbissene italienische Fraclion. An ihrer Spitze steht der abgesetzte Bürgermeister Spilj; der Mann, der neulich erst eine halbjährige Gefängnißstrafe abgesessen hat, rühmt sich seines JtalienerthumS. Als vor vier Jahren der schüchterne Versuch von der Regierung gemacht wurde, einen deutschen Lehrer in da- Lehrercolleglum einzuschalten, empfing er, damals noch regierend, den Ankömmling: „Ich hasse die Deutschen, ich hasse daS Deutschthum". Und ist doch sein eigener Name deutsch und hat doch in der großen Gemarkung der Gemeinde jeder Bach, jede Scholle, jeder Stein deutschen Namen! der beste und größere Theil der Gemeinde sehnt sich nach deutschem Unterricht. Die Regierung aber glaubt, den­ selben nicht aufdrängen oder befehlen zu dürfen. Sicherlich würden auch die paar Jtalianissimi, deren Ideal das rothe Hemd ist, ein groß Ge­ schrei erheben und die wälschen Schandblätter, die da immer eifrig die wissentliche Lüge verbreiten, „daß der Deutsche der Eindringling sei und daß von Cäsar'S Zeiten her in Südtirol und gar in Folgareut blos Römer gewohnt hätten", würden wieder genug in die Schlmpfposaune stoßen. Der Deutsche, der gerade in Folgareut die Oberhand hat, ist gewohnt zu schweigen und nur den Widerstand der verbissenen Trägheit entgegenzusetzen. Allein wir hoffen, daß doch über kurz oder lang dem positiv vorhandenen Wunsche der Gemeindemehrheit nachgekommen und wieder deutscher Unterricht neben dem wälschen eingeführt wird. Ist ja doch da- Verständniß der deutschen Sprache bei der wachsenden Anzahl der deutschen Touristen und bei dem steten Anschwellen des Arbeiterzuges, der sich von da unten zu uns herauf ergießt, den Leuten dort von höchstem Gewinn! Die Wirthe in den deutschen Grenzdörfern Auer, Neumarkt, Tamin u. s. w. sprechen alle wälsch. Die Wirthe in den verwälschten Plätzen Deutsch-Metz, Wälsch-Metz, Folgareut sprechen nicht deutsch. So verläßt sich der Italiener bei der damit zugegebenen Inferiorität der Deutschen darauf, daß er die höhere Sprache spreche, daß er der mäch­ tigeren Nation angehöre, daß man ihm entgrgenkommen müsse, daß er nicht deutsch zu sprechen brauche! Bon Folgareut führt keine fahrbare Straße nach dem Etschthal und zur Eisenbahn hinab. Die Schlucht des RoßbacheS ist zu steil, der Abstieg zu hoch. Man muß hinunter Hüpfen oder auf Schlitten hinabfahren. Kerndeutsch klingt'S, wenn gemeldet wird, daß la scblitta bereit ist". Vor dem letzten Hause des HauptdorfeS setzt man sich auf dm ganz gewöhnlichen deutschen Hölzschlitten und Nun zieht der Bauer den Fremden In sausender Fahrt über das Geröll in uralter Fahrbahn 3000 Fuß hinab! Genug Ruhe und Zeit bleibt, daS herrliche LandschaftSbtld zu betrachten. Nirgends erlebt man so schnellen Vegetation-wechsel. Oben auf der Höhe, wie auf dem Taunus, Kar12»

löffeln und Korn, unten

in Sampel (Compelo) Feigen und Mandeln.

Das ganze Thal bis hinab zum Kastell Pisfein (Beseno) sprach noch vor • 200 Jahren deutsch. Und steigt man von Folgareut über den Saum (der Hori­

zontales), auf wälsch Som oder Sommo, in'S benachbarte Terragunola-Thal

herab, so trifft man nichts als ächte germanische Gestalten, nichts als deutsche Namen der Weiler (wenn auch meist, offiziell, bös korrumpirt) z. B. Puechen,

Kamperi, Zenkeri, Dieneri, Plotocher.

Ja in entlegenen Höfen wie in

Stadieri, Kampi, Batst reden die Alten unter sich selbst immer noch Cimbrischdeutsch.

Kommen Fremde hinzu, so fallen sie freilich, aus Schaam für

ihren flamberten Dialekt, schnell in's Wälsche.

Und geht man hinüber

in'S Trambileno (Land zwischen den beiden Lehm-Bächen) und über die Grenze in'S Regno d'Jtalia, so trifft man nichts alö blonde Leute mit

blauen Augen, freilich verlottert und gedrückt, und kostümirt wie Neapo­ litaner oder Tunesier.

Und alle Orte heißen Penzi, Grisi, Rossi, Baisi,

Roncheri, Walda, Tezzele, Campese-gan Wiese, Kaltrano, Kaltrain; JraSseng, und Giazza, früher Gliezen; gerade wie man noch am Gardasee in

dem Thale, was bei Garda vom Mte Baldo (Wald) herunterkommt, nichts

als deutsche Namen, Kostermaun rc. findet.

Bon Folpareut herab nach

Station Kallian oder Calliano braucht man etwas über 2 Stunden.

Bei

der Folpareuter Brücke (ponte) verläßt man den Schlitten und geht zu Fuß um das mächtige Kastell aus dem ifolirten Hügel herum in'S Etschthal hinab.

In dem östreichischen Flecken Calliano trafen wir diesmal

die Feuerwehr ausgerückt.

Kräftige blonde Burschen in voller Armatur;

als Kopfbedeckung hat sich aber die ganze Kompagnie die Jnfanteriemütze

der italienischen Armee gewählt.

Sahen aus wie italienische Linientruppen.

Ja, wenn's regnet oder kalt ist auf dem Nordabhang der Alpen, soll

man die Wetterscheide, soll man den Brenner übersteigen und hinabfahren nach Südtirol, wo'S zwar auch Gewitter giebt, wo man aber 2 Stunden nach dem Gewitter gleich wieder klaren Himmel und milde Luft hat.

Und

speziell die Touren von Trient in's Paneid, in's obere Fersenthai, nach Pergina, an den Kaldonatsch-See, nach den deutschen Dörfern Lafraun,

Lusane, St. Sebastian und Folpareut empfehlen wir dem, der gerne die Laute seiner Muttersprache hört, der Lust hat seine nationale Gesinnung

zu bethätigen und dem, dem's doch unten im Etschthale zu heiß werden

sollte.

Die Ansprache

jedes

einzelnen Wanderers

aus

dem

Reich ist den Langobarden da unten, die darnach ringen sich emporzuarbeiten, Streben!

ein

Sporn

und

eine

Belohnung

für

ihr

Politische Correspondenz. Reichszuständigkeit und Berordnungsgewalt. Nichts könnte für die deutsche Weise öffentliche Angelegenheiten zu

behandeln bezeichnender sein, als daß sogar die Choleragefahr einen Streit über die Zuständigkeit des deutschen Reiches hervorgerufen hat.

Während

alle Meeruferstaaten deö europäischen ContinentS mit Quarantänemaß­

regeln gegen den andringenden Feind vorgingen, erfuhr man auS dem

Deutschen Reichsanzeiger, daß eine Conferenz im Reichsamt des Innern beschlossen habe, „anzuregen, daß Seitens der Regierungen der deutschen

Seeuferstaaten schleunigst eine ärztliche Controle aller einlaufenden Schiffe verdächtiger Provenienz nach Maßgabe einer bereits früher mit den gedachten Regierungen auf Anregung des Reichskanzlers vereinbarten Entwurfs zu einer Verordnung . . . inS Leben gerufen werde."

Wenige Tage darauf

erschien zunächst eine für Preußen von den Ministerien für Handel und

Gewerbe und für Medicinalangelegenheiten erlassene Quarantäneverord­

nung.

Angesichts des Art. 4 der Reichsverf., nach dessen Nr. 15 Maß­

regeln der Medicinalpolizei „der Beaufsichtigung des Reichs und der Ge­ setzgebung desselben" unterliegen, mußte sich die Frage aufdrängen, warum das Reichsamt des Innern statt mit einer „Anregung" bei den Regie­

rungen der deutschen Seeuferstaaten nicht lieber damit vorgegangen, den

Erlaß einer Reichsverordnung zu veranlassen.

Der Grund konnte ja ein

blos praktischer sein: wenn das zum Erlaß der Reichsverordnung zustän­ dige Organ in Ermangelung einer ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung des Kaisers oder des Reichskanzlers der BundeSrath war, so mochte eS

zweckmäßiger erscheinen, die betreffenden Einzelstaaten mit ihrem einfacheren

Apparat vorgehen zu lassen, wozu dieselben vorbehaltlich der Anordnungen deS Reichs

ohne Zweifel

zuständig geblieben sind, so lange nicht ein

Reichsgesetz dem entgegensteht.

Alsbald aber war der „Jurist" (Nat.-Ztg.

Nr. 319 vom 11. Juli) mit dem Nachweise zur Stelle, daß, was die unbefangene Auslegung ahnungslos in der angeführten Bestimmung der Reichsverfassung findet, in der That gar nicht darin zu finden sei.

Gleich-

Politische Lorrespondenz.

174

viel, daß Art. 4 die Beaufsichtigung Seitens des Reichs nicht nur neben, sondern gar vor der

Gesetzgebung desselben nennt, soll diese Beaufsich­

tigung, um wirksam zu werden, doch wieder erst von einem vorgängigen Act der Gesetzgebung abhängig sein, so daß dieses Aufsichtsrecht, da ein

Gesetzgebungsact in der hier ftaglichen Richtung bis jetzt nicht ergangen

ist, seit sechszehn Jahren zu den aus anderen Verfassungen wohlbekannten

„Verheißungen" zu rechnen wäre.

Ein anderer Jurist hat für dieses

Verhältniß den geschmackvollen Namen einer „abstracten Competenz" er­

funden, womit er anscheinend den höchsten Grad der Unwirklichkeit aufs schlagendste zu bezeichnen vermeinte.

ES ist noch ein Glück, daß wir diesen Streit nicht, die Cholera im

Nacken, auszufechten

haben, denn soweit derselben

durch Quarantäne-

Veranstaltungen beizukommen ist, wird dem durch die inzwischen überein­

kommend erlassenen Verordnungen der Seeuferstaaten genügt sein.

Setzen

wir freilich den Fall, der Hamburger Senat hätte dies Mal auf das englische Beispiel mehr als auf die „Anregung" des

Reichsamts des

Innern gegeben, so würden wir, die Theorie deö Juristen angenommen, bei der Blüthe nationaler Freiheit

angelangt

sein,

daß Absperrungs­

maßregeln des einen deutschen StaateS gegen den andern mit der Ver­ fassung

zahlreichen Gesetzen schlechthin unverträglich

und

wären, jeder

Seeuferstaat aber zur Einschleppung gemeiner Landschäden die unbeschränkte Souveränität behalten hätte.

Da nun auch die Zuversicht nicht allzu

fest sein kann, daß die Reichsgesetzgebung gerade im siebzehnten

Jahre

nachholen wird, was sie in den vorausgehenden sechszehn versäumt und

was nach der Theorie des Juristen unerläßlich wäre, um jene Souveränetät wirksam zu beschränken, so wird es nicht unangebracht sein, diese Theorie

auf ihre Gründe zu prüfen — und vollends nicht, wenn diese angeblichen Gründe in ihrer Tragweite noch ungleich niederschmetternder für die Reichs­

gewalt sich erweisen, als diese ihre nächste Anwendung.

Denn kurz, sie be­

sagen nicht weniger, als daß es im Reich eine selbständige Berordnungsgewalt nicht giebt; daß der Bundesrath verfassungsmäßig neue Ausführungs­

verordnungen zu bestehenden Reichsgesetzen erlassen kann,

alles

weitere

Berordnungsrecht aber von einer ausdrücklichen reichsgesetzlichen Ermächti­

gung abhängig ist. Um die unbefangene Auslegung deö Art. 4 der Reichs-Verfassung zu

beseitigen, geht der Jurist so zu Wege: dieser ganze Artikel wolle nur die „materielle Competenz" des Reichs sestsetzen, bestimme dagegen nicht

darüber, ob eine Rechtsnorm im Wege der Gesetzgebung oder der bloßen Verordnung

fassungs-

erlassen werden könne, das sei vielmehr nach anderen Ver-

und

Gesetzesbestimmungen

zu

entscheiden.

Eine

wunderliche

Msflucht!

Es handelt sich doch darum, ob der natürlichen Worterklärung

zum Trotz die neben und vor der Gesetzgebung des Reichs genannte Be­ aufsichtigung nur auf Grund kann.

Freilich

wird

eines Gesetzgebungsactes geführt werden

eine Beaufsichtigung nicht wohl anders als nach

Maßgabe einer Rechtsnorm zu führen sein:

begründet also Art. 4 nach

klarem Wortlaut ein Recht der Beaufsichtigung auch unabhängig von der Gesetzgebung, so setzt er eben als selbstverständlich voraus, daß diese Rechts­ norm auch auf dem mit der Gesetzgebung concurrirenden Wege der Ver­

ordnung geschaffen werden kann.

Jedenfalls gewährt ein der Reichsgewalt

auch unabhängig von der Gesetzgebung zustehendeS Recht der Beaufsich­

tigung die Befugniß irgend welche Anordnungen oder Verfügungen im

einzelnen Falle zu treffen. zu gebieten oder

zu

Aber „was die Obrigkeit im einzelnen Falle

verbieten befugt

gleicher Art gebieten und verbieten".

ist, mag sie auch für alle Fälle (Gneist in Holtzendorff'S Rechts-

Lexicon v° Verordnungsrecht III. S. 1059.)

liche Unterstellung würde nur dadurch

Diese sonst selbstverständ­

ausgeschlossen sein, daß andere

Berfassungsbestimmungen das allgemeine Berordnungsrecht, einen „un­ mittelbaren Ausfluß" jeder Regierungsgewalt, gerade der Regierung des

deutschen Reichs abgesprochen hätten.

Dazu genügt aber weder die Ansicht

der Rechtslehrer, daß der Kaiser und der Reichskanzler eine Verordnungs­

gewalt nur haben, wo sie ihnen besonders beigelegt ist, noch die Bestim­

mung des Art. 7 Nr. 2 der Reichsverfassung, welche lediglich besagt, daß der Bundesrath über die zur Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen

allgemeinen Berwaltungsvorschriften und Einrichtungen beschließt — daö heißt doch nach ungezwungener Auffassung nur, daß darüber kein anderer

beschließt, aber alles eher, als daß eS im Reich, abgesehen von besonderer Ermächtigung durch Gesetz keine andern als Ausführungsverordnungen zu

bestehenden Reichsgesetzen geben solle!

Während nun der Jurist für eine

Nebenfrage, welche für unseren Zweck dahingestellt bleiben kann,

das

Reichsstaatsrecht von Zorn I. S. 131 als Autorität citirt, verschweigt er,

daß ebenda S. 121 in wesentlicher Uebereinstimmung mit Gneist zu lesen ist: „Soweit der Staatswille überhaupt sich äußert, kann er sich der Form

der Verordnung bedienen; nur dann ist dieselbe ausgeschlossen, wenn die Form des Gesetzes zur Anwendung zu kommen hat.

Wann letzteres der

Fall, ist aus dem positiven Recht zu entnehmen, eventuell eine Frage der

Gesetzgebungspolitik" —

ohne daß in der Anwendung auf das Reich

S. 129—30 eine Einschränkung gemacht bez. aus Art. 7 Nr. 2 hergeleitet würde. Der ganze Versuch des Juristen, die natürliche Worterklärung des

Art. 4 vermittelst „anderer Berfaffungs- und Gesetzesbestimmungen" weg-

Politische Torrespondenz.

176

zudeuten, stützt sich dann am letzten Ende nur auf die Autorität von

Laband, der (II. S. 77) allerdings sagt: „Eine allgemeine, durch die Reichsverfassung selbst begründete Befugniß zum Erlaß von ReichSverord-

nnngen besteht nicht."

Nach dieser Vorstellung hätte die Reichöverfassung

erst die Reichsgewalt geschaffen, indem sie ihre „Befugnisse" tropfenweise zusammenzählte, und man muß eS darnach für möglich halten, einen ganzen Staat mit seinen Functionen und Aufgaben derart in Verfassung und

Gesetz zu Papier zu bringen, daß jede lebendige Bethätigung als ausge­

schlossen gilt, zu welcher nicht auf diese Weise die „Befugniß" erst be­ gründet wäre.

Dergleichen läßt sich am grünen Tisch einer parlamenta­

rischen Verfassungö-Commission argloS voraussetzen und am Schreibtisch alS „Recht" behandeln, vor dem Hauch der Geschichte, der unS alle wir­

belnd erfaßt hat, verweht eS wie Spreu.

Gesetz und Verfassung, die nur

ein mit strengeren Bedingungen der Abänderung befestigtes Gesetz ist,

können der Staatsgewalt für die Erfüllung der Staatsaufgaben negativ Schranken setzen und positiv Anweisungen geben, also in beiden Richtun­

gen ihre Lebenöbethätigung bindend ordnen, aber daS Leben selbst, welchem

diese Ordnung gegeben werden soll, können sie nicht schaffen oder gar auS Befugnissen zusammenleimen.

Der Staat mit seiner geschichtlich erzeugten

Staatsgewalt und seinen geschichtlich gegebenen StaatSaufgaben muß da

sein,

ehe er durch Verfassung und Gesetz geordnet werden kann;

er

bleibt daS logische Priuö, selbst dann wenn die RechtSfiction seine Ent­

stehung mit dem Erlaß seiner Verfassung in einen Zeitmoment zusammen­ fallen läßt.

Und eS ist doch nur eine RechtSfiction, daS Reich und die

ReichSgewalt erst mit und in der Reichsverfassung entstehen zu lassen,

eine Fiction, die in der Wirklichkeit kaum ernsthafter zu nehmen ist, alS

wenn man den preußischen Staat und seine Staatsgewalt aus der Ver­

fassung vom 31." Januar 1850 abzuleiten meint.

Das Reich ist nicht

entstanden durch die „freie Willensbestimmung" der „verbündeten Regie­ rungen", sondern durch eine „zermalmende Nothwendigkeit"*) von ihrem

Schein unwahrer Souveränität, aus welchen dieselben sich ein halbes Jahr­

hundert gesteift und sich gegen die Lebensbedürfnisse des deutschen Volkes gestemmt hatten, soviel abzulassen, um der Entstehung einer lebenskräf­

tigen Reichsgewalt Raum zu geben.

Die freie Willensbestimmung war

allein bei dem Könige von Preußen, der in hoher Weisheit sich beschied,

nur Heerführung und völkerrechtliche Vertretung Les Reichs für sich aus­

schließlich in Anspruch zu nehmen, in allem Uebrigen aber nur alS Erster

*) Worte von John Quincy AdamS (grinding neceesity) in Bezug auf die nordamerikanische Union-verfassung. Holst, Bersaffung und Demokratie der Bereinigten Staaten 1. S. 55.

unter Gleichen an die Spitze der verbündeten Regierungen zu treten, so daß diese in ihrem Antheil an der Reichsgewalt reichlich zurückerhielten, was sie an particularer Souveränität aufgaben*). der Kaiser für sich

So mag immerhin

in der inneren Verwaltung nur abgeleitete Rechte

haben, die nicht weiter reichen, als Verfassung oder Gesetz ihm dieselben

ausdrücklich beilegen.

Aber der Kaiser im BundeSrath an der Spitze

der „verbündeten Regierungen" ist der Träger einer wirklichen, lebens­

vollen Staatsgewalt mit allen Lebensfunctionen einer solchen, nicht Ver­

walter einer bei den Einzelstaaten gemachten politischen Staatsanleihe; beschränkt zwar auf den Kreis der verfassungsmäßigen Zuständigkeit, d. h.

der StaatSaufgaben, welche daS Reich an sich genommen hat — die aber selbst der verfassungsmäßigen Erweiterung fähig, also in der That nur

Selbstbeschränkung deS Reichs ist. Zu dieser Klarstellung deS geschichtlichen Rechtsverhältnisse-

der

deutschen Reichsgewalt nöthigt diesmal. keine particularistische Velleität, denn es ist nicht ersichtlich, daß die Mehrheit der verbündeten Regierungen Neigung, geschweige ein wirkliche- particularistische- Jntereffe finden könnten,

ihre eigene Verordnung-gewalt im BundeSrath anzuzweifeln — sondern eine staatsrechtliche Schule, welche das Reich zur Selbstentmannung auf dem Altar geschichtswidriger Fiction nöthigen will, und welcher gegenüber

Gneist (a. a. O. S. 1065) auf die Nothwendigkeit „der Wiederkehr einer

rechtshistorischen Behandlung unsere- positiven Staat-recht-"

hinweist.

Ist da- Reich ein wirklicher Staat und hat der Kaiser im BundeSrath

eine wirlliche Staatsgewalt, so steht eS dieser auch innerhalb der Zu­

ständigkeit deS Reichs, zur Erfüllung der von demselben übernommenen StaatSaufgaben und „zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes"

wie der Eingang der Verfassung eigens sagt, zu, allgemeine Verordnungen wie einzelne Anordnungen und Verfügungen zu erlassen, sofern sie nicht

in bestehenden Reichsgesetzen eine llare Schranke findet. Laband geht übrigens noch weiter in der Einschränkung der Verord-, nungSgewalt als eine gangbare Ansicht deö uns aus Frankreich und Belgien

überkommenen „constitutionellen StaatSrechtS", welche in dem Wortlaut

*) Diese Auffassung findet «ine in der Anwendung auf da» Deutsche Reich gewiß un­ befangene Bestätigung „der Staat al» Voraussetzung der Rechtsordnung tanu nicht durch einen Satz der erst von ihm Sanction empfangenden Ordnung erklärt wer­ den" bei Jellinek, die Lehre von den Staatenverbindungen S. 262, der S. 271 die Tonsequenz zieht: „für die alten Staatsgewalten bedeutet der Eintritt in den Bun­ desstaat dasselbe wie der Eintritt in irgend einen schon bestehenden Staat für jede Persönlichkeit bedeutet: Unterwerfung unter der Gewalt des Staat-, dessen Mit­ glied man fein will. Die Einzelstaaten unterwerfen stch daher der Bundesgewalt, um von ihr die ihnen verfassungsmäßig al» Gliedstaaten zugedachtm Rechte zu empfangen."

Politische Torrespondenz.

178

der preußischen Verfassung eine scheinbare, aber durch mehr als dreißig­ jährige Staatspraxis widerlegte Stütze findet — ist doch auch die neue Quarantaineverordnung keineswegs in „Ausführung" eines Gesetzes er­

lassen.

Die Entstehung deS Gedankenfehlers aus welchem diese real un­

mögliche Ansicht entsprang, hat Gneist treffend aufgezeigt (Engl. Verwal­

tungsrecht 3. Aufl. I. S. 129 Anm.):

„Aus

dem richtigen Satz, daß

eine constitutionelle Regierung nach Gesetzen (intia leges) geführt werde, wurde der unrichtige Satz, daß eine solche nur nach Gesetzen geführt werde.

Aus dem richtigen Satz, daß wo Gesetz und Verordnung auf

demselben Gebiet Bestimmungen treffen, die Verordnung nur Ausführungs­ bestimmungen enthalten kann, wurde der unrichtige Satz, daß es überhaupt nur Ausführungsverordnungen

sich

gebe.

Im weiteren Hintergründe macht

die Idee der Volkssouveränität geltend, nach welcher der Staatswille

nur durch Gesetz d. h. durch die Repräsentation der Nation ausgesprochen

werden soll, die königliche Regierung folgeweise nur in Ausführung von Gesetzen stehen soll".

Laband aber beschränkt nun die Ausführungsver­

ordnungen im Reiche auch noch auf Verwaltungsvorschriften, indem er sich

an den Wortlaut deS Art. 7 Nr. 2 heftet und zwischen „Rechtsverordnung"

und „bloßer Verwaltungsvorschrift" (S. 68) unterscheidet, von

welchen

nur die erste, nicht die zweite den „Charakter eines Rechtssatzes" habe.

Es mag dabei vorschweben, daß die „bloße Verwaltungsvorschrift" sich

im Gebiete der Zweckmäßigkeitsfragen bewege,

welche die Verwaltungs­

behörden „innerhalb der vom Recht gesetzten Schranken" nach freiem Er­

messen zu behandeln haben.

Aber für ZweckmäßigkeitSsragen als

lassen sich überhaupt keine „Vorschriften" geben.

solche

Die vorgesetzte Behörde

mag ihre ausführenden Organe darüber belehren, was im vorausgesehenen

Falle zweckmäßig sein würde, aber daS entbindet die letzteren nicht von

der Verantwortlichkeit, im wirklich eintretenden Falle nach bestem Wissen das unter den gegebenen Umständen, die sich niemals vollständig voraus­

sehen lassen. Geeignetste zu treffen.

Instructionen dieser Art also sind

niemals Vorschriften, aus denen vielmehr mit objectiver Bestimmtheit sich

ergeben muß, was im einzelnen Falle zu beachten ist,

Was

ist nun auf der andern Seite RechtSsatz?

Was

ist

Recht?

Ohne in eine tiefere Ableitung dieses Begriffs einzugehen, können wir

uns an der geläufigen Bestimmung genügen lassen: Recht ist eine das

Verhalten der Person bindende Schranke oder Anweisung; ein Rechtssatz ist also die eine solche Anweisung oder Schranke enthaltende Vorschrift,

deren Beobachtung außerhalb des Beliebens der Person steht, welcher sie gegeben ist.

Nun ist die einfachste Verwaltungsvorschrift entweder nicht

das Papier werth, auf welchem sie geschrieben oder gedruckt ist, oder sie

ist bestimmt das Verhalten derjenigen Behörden zu binden, welchen sie

gegeben ist — also für diese ein Rechtssatz:

die Unterscheidung zwischen

Rechtsverordnung und Berwaltungsvorschrift ist also ein Kartenhaus.

In

der That werden in einer großen Zahl gesetzlicher Bestimmungen die von den

Behörden

innerhalb

ihrer Zuständigkeit

erlassenen

Verordnungen

schlechthin den Gesetzen gleichgestellt ohne die Spur eines Unterschiedes in der bindenden Kraft der letztern.

Es ist auch zweifellos, daß wo dem

Einzelnen gegen eine Berwaltungshandlung der Weg der Klage, des Recurses,

der Beschwerde eröffnet ist, diese Rechtsmittel auf die Verletzung von Ver­

ordnungen ohne Unterschied ebenso wie auf die Verletzung von Gesetzen gegründet werden können.

Wunderlicher Weise aber wirft Laband selbst sein eigenes Kartenhaus

um, indem er zugesteht „den einzelnen Beamten oder Behörden gegenüber kann die Verwaltungsvorschrift vollkommen bindend und verpflichtend sein,

für die Verwaltung als Ganzes ist sie nicht ein zwingender Befehl einer

höheren Instanz, sondern ein Ausfluß der eigenen Willensbestimmung". Läßt sich nicht wörtlich dasselbe von der „Gesetzgebung als Ganzes" sagen? Kann nicht jedes Gesetz jeden Augenblick auf dem gleichen Wege aufge­

hoben werden, auf welchem eS zu Stande kommt?

Um eine Vorschrift

zum RechtSsatze zu machen, kommt es doch nur darauf an, ob sie für denjenigen bindend ist, für dessen Verhalten sie die Norm bilden soll; an­

dernfalls müßte die Möglichkeit von Rechtssätzen in der absoluten Monarchie überhaupt geleugnet werden, da in dieser Gesetz wie Verwaltungsvorschrift nur ein Ausfluß der eigenen Willensbestimmung des Monarchen ist.

In gleicher Weife, wie zwischen Berordnnng im materiellen Sinne (Verwaltungsvorschrift) und im formellen Sinne (Rechtsverordnung), unter­

scheidet Laband zwischen Gesetz im materiellen und im formellen Sinne, jenes „die rechtsverbindliche Anordnung eines Rechtssatzes" (S. 1), dieses

jeder andere „staatliche WillenSact",

auf welchen „die Beobachtung der

für den Erlaß eines Gesetzes aufgestellten Vorschriften" angewendet wird

(S. 50).

Als Hauptbeispiel der letzteren Art gebraucht er (S. 69) den

Staatshaushaltsetat.

Indeß

hat

dagegen

v.

Martitz

(Zeitschr.

für

StaatSwiss. XXXII (1880) S. 207 ff.) richtig ausgeführt, daß die Vor­

schriften, welche das sog. Etatgesetz wirklich enthält, wenn auch dieselben in der bei uns üblichen Fassung als Vorschriften gar nicht zum Ausdruck

'kommen, in der That Rechtsvorschriften d. h. die Verwaltung, und zwar

„als Ganzes" rechtlich bindende Anweisungen und Schranken sind.

Wenn

es in unseren Etatgesetzen heißt: der als Anlage beigefügte Etat wird in Einnahme und Ausgabe auf so und so viel Millionen festgestellt, so ist

darin eine Vorschrift überhaupt nicht zu erkennen; denn es,kann und soll

Politische Korrespondenz.

180

damit der Verwaltung weder vorgeschrieben sein, genau die bezeichnete Summe an Einnahme, nicht mehr und nicht weniger zu erheben, noch die

auSgeworfene Ausgabesumme zu verbrauchen.

Auch der beigesügte Etat,

insofern er nur eine Aufstellung dessen enthält, wa- im Einzelnen zu den

Staatsbedürfnissen erforderlich und wie sich die dazu verfügbare Einnahme zusammensetzt, wäre nur ein von der Finanzverwaltung aufgestellter und

von den parlamentarischen Körperschaften aber keine Vorschrift.

gebilligter BerwaltungSplan,

WaS in der That vorgeschrieben werden soll und

in der AppropriationSclausel der englischen Finanzgesetze auch klar zum

Ausdrucke kommt, ist daß die Einnahmen, zu deren Erhebung die Verwal­ tung entweder schon gesetzlich ermächtigt ist oder durch daS Etatgesetz er­

mächtigt wird, zu keinen andern als den im Einzelnen bezeichneten Aus­

gabezwecken und nur in der bestimmten Höhe verwendet werden dürfen.

Diese Vorschrift ist aber für die Verwaltung als Ganzes rechtlich bin­

dend, sie kann davon nicht nach eigenem Ermessen, sondern nur unter Vorbehalt nachträglicher Genehmigung oder Indemnität der parlamenta­ rischen Körperschaften absehen.

Daß eS sich hier um eine Rechtsvorschrift

handle, sollte Laband um so weniger bestreiten, als er selbst (S. 1.2) die Ansicht verficht, daß ein RechtSsatz nicht nothwendig eine allgemeene Regel

enthalten müsse, sondern auch „nur auf einen einzigen Thatbestand an­

wendbar" sein könne, ohne die Natur deS RechtSsatzeS zu verlieren. Wenn aber auch in den Formen der Gesetzgebung lediglich eine Er­

mächtigung ausgesprochen wird, ohne daß damit irgend welche Vorschrift

ausdrücklich oder selbstverständlich verbunden ist, beispielsweise zur Auf­ nahme einer freiwilligen Anleihe ohne Beschränkung hinsichtlich der Be­ dingungen, so ist nicht abzusehen, wo diesem Gesetze der rechtliche Cha­ rakter abgesprochen werden kann, da eS, wenn auch nur.für den einzelnen

Fall, eine rechtliche Befugniß schafft, die sonst nicht bestehen würde.

End­

lich können allerdings auch unmittelbare BerwaltungSanordnungen „in den Formen der Gesetzgebung" getroffen werden; indeß die Absicht ist dabei

doch

immer gerade die, die Ausführung

waltung als Ganzes" rechtlich zu binden.

dieser Anordnung die „Ver­

Sofern

aber in dem Text

eines Gesetzes Erklärungen unterlaufen, die keinerlei rechtlichen Charakter haben können und sollen, so gehören dieselben eben darum nicht zum Ge­ setz als solchem, sie sind dann ein mehr oder minder müßiges Beiwerk,

wie die langathmigen Einleitungen, in welchen die Weisheit der byzanti­

nischen Gesetzgebungsorakel sich zu spiegeln liebte und die in England noch heute für so unentbehrlich gelten, wie die Richterperücken.

Der Unterschied zwischen Gesetz in materiellem und formellem Sinne ist also ebenso unhaltbar wie der zwischen RechtS-Berordnung und Ver-

waltung-vorschrift.

Alles Gesetz hat die Bestimmung rechtlich zu binden

oder auch zu lösen, wie denn Ermächtigungsgesetze in der That nur Aus­

nahmen von allgemeineren Vorschriften sind, welche die Handlung, wozu ermächtigt wird, ohne die Ermächtigung untersagen. In diesem Sinne ist

denn jedes Gesetz „rechtsverbindliche Anordnung eines Rechtssatzes", also

Gesetz in materieller wie in formeller Bedeutung.

Ganz dasselbe gilt

aber auch von der Verordnung, nur daß diese nicht auch die „Verwaltung

alS Ganze-" bindet.

Gewiß besteht zwischen Gesetz und Verordnung auch

ein materieller Unterschied, insofern jenes für die feste Ordnung dauernder Verhältnisse, diese zur beweglicheren Gestaltung nach veränderlicheren Be­

dürfnissen.

Aber dieser Unterschied, der wie Zorn richtig bemerkt, der Ge­

setzgebungspolitik angehört, ist wie jede Zweckbestimmung fließend und wird überdies durch den anderen Zweck gekreuzt,

auch für einmalige Veran­

lassungen Anordnungen zu treffen, durch welche die „Verwaltung als Ganzes"

rechtlich verbunden wird.

Die einzige rechtliche Grenze zwischen Gesetz und Verordnung bildet also die Anwendung der „Formen der Gesetzgebung" d. h. die Erfüllung

der staatsrechtlichen Bedingungen für den Erlaß eines Gesetze-.

Diese

Grenzbestimmung setzt eine Verfassung voran-, in welcher die „Verwaltung

alS Ganzes" d. h. die Regierungsgewalt durch das Eingreifen oder die Mitwirkung selbständiger staatlicher Kräfte gebunden werden kann.

Ist

die- geschehen, indem gesetzliche Vorschriften über einen Gegenstand er­ lassen sind oder ein bestimmte- Gebiet der gesetzlichen Regelung ausdrück­

lich vorbehalten ist, so findet darin die in der RegterungSgewalt noth­

wendig enthaltene BerordnungSgewalt ihre Schranken.

ES ist das recht­

liche Wesen des Gesetzes, daß eS nicht durch einseitige Entschließung der Regierung, sei eS allgemeine Verordnung oder einmalige Verfügung, son­ dern nur wieder durch Gesetz außer Kraft gesetzt werden kann, während

die Verordnung ebenso durch Gesetz aufgehoben wie von der Regierung einseitig zurückgenommen werden mag.

Mit dieser einzigen Einschränkung

aber ist die Verordnung für die wechselnden oder vorübergehenden Be­

dürfnisse deS StaatSlebenS so unentbehrlich wie daS Gesetz für die dauernde Rechtsordnung.

Der letzte Grund, welcher Laband zu seinen gegen alle geschichtliche Anschauung sich absperrenden scholastischen Distinctionen geführt hat, liegt

tiefer, als daß er für unseren heutigen Zweck mehr alS nur gestreift wer­ den könnte.

ES ist der Bann der privatrechtsjuristischen Vorstellnng,

daß ein RechtSsatz nothwendig auch ein subjectiveS Recht erzeugen müsse — waS denn freilich so wenig der Verwaltung-vorschrift überlaffen sein,

wie in deren Absicht liegen könnte.

Dieser Bann wird nur gebrochen

Politische «Korrespondenz.

182

werden können durch den aus gründlicher Revision der Begriffe des öffent­

lichen Rechts zu führenden Nachweis, daß in deffen Bereich das „fubjective

Recht" nirgend eine Stelle hat. Klöppel.

Jena.

Arbeitercolonieen.

In Veranlassung der Bestrebungen auf Errichtung von Arbeitercolonieen nach dem Muster der von Herrn Pfarrer von Bodelschwingh in Wilhelmsdorf geleiteten Ackerbaucolonie hat der Unterzeichnete in der Po­

litischen Wochenschrift (Nr. 23) an die ähnlichen Einrichtungen erinnert, welche vor etwa 40 bis 50 Jahren im Kreise Oletzko jetzt Marggrabowa durch den damaligen Landrath, späteren Regierungspräsidenten von Salz­ wedel, in's Leben gerufen worden waren, seitdem aber wieder längst ein­

gegangen sind und auch in der Provinz Ostpreußen in Vergessenheit ge­ rathen zu sein scheinen.

Gerade der gegenwärtige Augenblick, wo sich in

verschiedenen Provinzen ähnliche Bestrebungen regen, das Beispiel deS

Herrn von Bodelschwingh auch in anderen Theilen der Monarchie nutz­ bar zu machen, ließ es gerathen erscheinen, in jenem früheren Artikel der

Pol. Wochenschrift, auf den hier im Allgemeinen hingewiesen werden kann, an der Hand

eines

im Min.-Bl. f. i. V. (1841 S. 11)

abgedruckten

CircularerlasseS des Oberpräsidenten von Schön und eines damit ver­

öffentlichten Revisionsberichts eines amtlichen Berichterstatters Salzwedel'schen Einrichtungen näher zu schildern.

jene von

Der Zweck, den sich Herr von Salzwedel gestellt hatte, ist in jenem Oberpräsidial-Erlaß, wie folgt, zusammengefaßt:

„Mit Berücksichtigung

der bei der Leitung der Armenpflege überhaupt maaßgebenden christlichen, menschenfreundlichen, dann aber auch polizeilichen und ökonomischen Ge­

sichtspunkte Arme selbst von zweifelhafter Hilfsbedürftigkeit

und

selbst

solche Personen, deren mehr oder weniger selbst verschuldete moralische Verkommenheit in gewohnheitsmäßiges Bagabonoiren und Betteln auSgeartet ist, anzuleiten, ihre noch vorhandenen Kräfte zweckmäßig zu ge­ brauchen, ihre schlummernden Arbeitskräfte zu wecken und gelähmte wie­

der zu heben".

Als das hierzu geeignetste Mittel erkannte Herr von

Salzwedel eine völlige Loslösung derartiger Personen auö den sie um­

strickenden bisherigen Verhältnissen und ihre örtliche TranSlocation ver­ bunden mit einer durch seine Hände geleiteten Unterbringung

in einer

ländlichen Familie, wo gegen eine geringe von dem einltefernden Armen- rc.

Verbände zu beschaffende Vergütigung der Pflegling an Kost, Kleidung, Lagerstätte den weiblichen resp, männlichen Familiengliedern deS Pflege-

vaterS im Hause gleichgestellt und dagegen seinerseits zur Verrichtung

häuslicher Arbeit je nach dem Maas leitet und angehalten wurde.

seiner individuellen Kräfte ange­

In ganz ähnlichem Sinne wird der Zweck

der Colonie Wilhelmsdorf im § 1 des Statuts derselben dahin gefaßt:

„1) Arbeitslustige und arbeitslose Männer jeder Confession und jeden Standes, soweit sie wirklich noch arbeitsfähig sind, so lange in ländlichen

und anderen Arbeiten zu beschäftigen, bis es möglich geworden ist, ihnen anderweite lohnende Arbeit zu beschaffen, und ihnen so die Hand zu bieten, vom Vagabundenleben loszukommen; 2) arbeitsscheuen Vagabunden jede

Entschuldigung abzuschneiden, daß sie keine Arbeit hätten".

Zur Erreichung dieses Zwecks dient in erster Reihe die sog. Ackerbaucolonie in Wilhelmsdorf und daneben ein System affiliirter sog. NaturalverpflegungSstationen, über die weiter unten gesprochen werden wird.

In der auf 100 bis 200 Pfleglinge berechneten aus drei zusammenge­ kauften Höfen bestehenden Ackerbaucolonie werden die aus einem gewissen

Umkreise eingelieferten Personen unter der Aufsicht eines HauSvaterS und

Anleitung einer Anzahl aus den Brüderhäusern (der inneren Mission?)

gestellten Vorarbeiter zunächst hauptsächlich mit Hacke und Spaten, also in Garten und Landwirthschaft beschäftigt, bis es gelingt, mit Hilfe eines

mit der Anstalt verbundenen Arbeitsnachweisebureaus denselben außerhalb eine Condition zu verschaffen.

Ausgenommen werden nur arbeitsfähige

Personen, welche der Central-Anstalt des Verbandes von dem Vorsitzen­ den eines der in den Provinzen Rheinland und Westfalen, den beiden

Lippe'schen Fürstenthümern und Bremen verbreiteten Zweigvereine über­ wiesen werden, jedoch mit Ausschluß aller arbeitsunfähigen, siechen, alters­

schwachen rc. Personen. Salzwedel

In dieser Beziehung

bereits weiter, indem er nicht blos

sondern Arme jeder Art —

ging der Landrath von arbeitsfähige Personen,

„die Armuth mag im Alter,

Kränklichkeit

oder Erwerbslosigkeit ihren Ursprung haben — also Kinder, alte, kränk­ liche und krüppelhafte Personen,

arbeitsscheue und sich herumtreibende

Arme" aus anderen Kreisen und Regierungsbezirken nach vorangegangener Anmeldung durch die betreffende Communal- rc. Behörde im Kreise Oletzko

bei

einer Anzahl von

ihm auf das Gewissenhafteste und Sorgfältigste

auSgewählten, zuverlässigen Familienhäuptern in ländlichen Ortschaften, wie oben angegeben, unterbrachte.

Die sehr günstigen Resultate dieser Einrichtungen des Landraths von

Salzwedel legen die Frage nahe, ob die Erreichung des im Wesentlichen übereinstimmenden Zwecks der Anstalten in Wilhelmsdorf und im Kreise Oletzko erfolgreicher durch die Vereinigung der aus ihren bisherigen Ver­

hältnissen herausgehobenen Armen in einer gemeinschaftlichen Anstalt oder

nach dem Vorgang deS Landraths von Salzwedel durch Ermittelung eine-

Pflege- oder Arbeitsverhältnisses

bei einer nach der Individualität des

Pfleglings ausgewählten Familie zu ermöglichen ist. Daß in dem Zusammenleben einer größeren Anzahl solcher Personen,

wie sie in der Anstalt zu Wilhelmsdorf statutenmäßig Aufnahme finden sollen, an und für sich manche und sehr ernste Gefahren für den bezeich­

neten Zweck liegen, wird nicht bezweifelt werden können.

Ob zur Be­

seitigung dieser Gefahren neben der Anleitung und Anregung zu- zweck­ mäßiger Arbeit, die religiöse Uebung mit entschieden kirchlicher und christ­

licher Grundlage sich als ausreichender Impuls für die Dauer erweisen

sollte, soll und kann hier nicht beurtheilt werden.

Daß die Möglichkeit

hierzu in einzelnen Fällen vorhanden ist, wird in aller Aufrichtigkeit nicht bezweifelt; um aber auf diesem Wege einer solchen Anstalt ein bestimmtes

Gepräge mit dauernd gleichmäßiger Wirksamkeit zu geben, dazu werden

immerhin nur auserwählte Personen gehören, deren aufrichtiger, glaubens­

starker, religiöser Sinn im Stande ist, zugten,

der religiösen

Einwirkung

auch in andern weniger bevor­

entfremdeten

wahrer oder dauernder Andacht zu erwecken. heilsamste Einwirkung

Seelen

einen

Strom

Aber auch die intensivste und

dieser Art dürfte doch

immer

bei Naturen und

Seelenzuständen, mit denen man es hier zu thun hat, nur nach längerer

Gewöhnung und dauerndem Verbleiben in der Anstalt auf ein günstiges

Resultat hoffen lassen, nicht aber schon nach wenigen Monaten, nach deren Ablauf, wie wir unten sehen werden, die in die Anstalt einzuliefernden

Personen, zu Hunderten daraus wieder entlassen werden. Ein anderes schwerwiegendes Bedenken gegen die Etablirung der pro-

jectirten Arbeitercolonien, wenn dieselben zu einem ausgebreiteten System er­

hoben werden sollten, dürfte in der Sorge für eine die ganz verschiedenen Ka­ tegorien von Pfleglingen genügend berücksichtigenden Hausordnung liegen. Wenn es auch nach den bisher stets befolgten Grundsätzen der preußischen

Gesetzgebung und Verwaltung einer Gemeinde nicht verwehrt werden kann, die ihrer Armenpflege zur Last fallenden Personen da und dort unterzu­

bringen, wo es ihr am geeignetsten erscheint, und wenn deshalb auch demjenigen, der die öffentliche Armenpflege anruft, kein Widerspruchsrecht gegen eine örtliche Translokation durch die Gemeinde zusteht, so ist doch

andererseits es unmöglich, ohne eine durch Urtheil und Recht verhängte Haft

oder Nachhaft den auf solche Weise außerhalb

seines bisherigen

Aufenthaltsorts Untergebrachten in diesem Verhältniß länger festzuhalten, als es ihm selbst beliebt, davon Gebrauch zu machen.

Um also gewohn­

heitsmäßige Vagabonden und Bettler in einer solchen Anstalt wider ihren

Willen festzuhalten, giebt eS kein äußeres Zwangsmittel.

Es kann dies

nur erreicht werden durch eine innere Attraction, sein neues Verhältniß fesselt.

die den Pflegling an

Das bloße Obdach und die gewährte Be­

köstigung und Kleidung mag wohl in den Wintermonaten die Anstalt als

ein willkommenes Asyl erscheinen lassen, sobald aber die Noth des Augen­ blicks beseitigt und die Landstraße wieder frostfrei ist, gewinnt der alte

Hang zum Vagabondiren erfahrungsmäßig wieder die Oberhand, so lange eS nicht gelingt, in dem Pflegling das Bedürfniß zu erwecken, wieder ein nützliches Glied der Gesellschaft und was mehr sagen will und gerade

durch die Salzwedel'schen Einrichtungen gefördert wurde, wieder ein nütz­

liches Mitglied der Familie zu werden.

Endlich tritt für die Errichtung

derartiger Anstalten noch ein drittes Moment in den Vordergrund: das

ist die Schwierigkeit einer angemessenen Organisation der Beschäftigung

in der Anstalt selbst.

H. v. Bodelschwingh findet es selbst nöthig, daß

außer der in der Anstalt als Hauptbeschäftigung betriebenen Landwirth­ schaft

„auch die gangbarsten Handwerke der Schuhmacher,

Schneider,

Schmiede, Stellmacher, Tischler, Zimmerleute, Bäcker darin Vertretung

finden".

Alle Klagen über die verhaßte Concurrenz der Sträflingsarbeit

für freie Arbeiter werden hier mit ihren theils übertriebenen theils be-

gründeten Exclamationen seitens der nicht von der Anstalt unterstützten und nebenher immer noch genugsam auf die Armenpflege der Gemeinde

Int Nothfall angewiesenen Arbeiterbevölkerung vorherzusehen sein.

Gerade

in diesem Punkt dürfte das Salzwedel'sche System einen von vornherein in die Augen springenden Vortheil gewähren.

Die naturgemäße Ver­

schiedenartigkeit der Beschäftigung in dem ländlichen Haushalt einer acht­

baren Familie ist nach

außen hin solchen Vorwürfen nicht ausgesetzt.

Für den Pflegling selbst aber gewährt

sie viel eher die Möglichkeit der

Berücksichtigung seiner individuellen Anlage und des Maaßes seiner Arbeits­ kräfte und bildet zugleich gerade das wirksamste Mittel in ihm wieder das Gefühl der Zusammengehörigkeit

zu seiner neuen Umgebung zu

wecken

und ihn, wie die Erfahrung gelehrt hat, an sein neues Verhältniß inner­

lich zu fesseln.

Allen denen also, die

in edler Absicht etwas dauernd

Gutes zu schaffen, der Gründung von ArbeitScolonien nach dem Bodel-

schwingh'schen

Muster ihre Kräfte und ihr

Vermögen zur Verfügung

stellen, dürste doch dringend zu empfehlen sein, wenigstens daneben den Versuch nicht außer Acht zu lassen, soweit eS in einem gewissen Umkreise

möglich ist, auch geeignete Familienväter namentlich in den dem Verkehr mit größern Städten möglichst entrückten Ortschaften auf dem platten

Lande zur Aufnahme und Unterbringung der

diSlocirenden Pfleglinge zu engagtren.

Ein

aus

ihrer Heimath

zu

solches Werk der Nächsten­

liebe wird freilich, wie mit Sicherheit vorherzusehen, nur mühsam und Preußische Jahrbücher. 58b. LIL Heft 2. 13

186

Politische Torrespoudenz.

allmähllg und nicht überall zu erreichen sein, aber die Erfolge werden, wo die Sache einmal Wurzel faßt, sich doch je länger je mehr fühlbar machen und jedenfalls den richtigsten Maaßstab für die dauernde Wahl des einen oder andern Systems abgeben. Höchst erfreulich ist es daher aus der durch den Herrn Pfarrer von Bodelfchwingh über die im August 1882 eröffnete Ackerbaucolonie Wilhelms­ dorf im December 1882, also nach einem kaum fünfmonatlichen Bestehen der Anstalt, veröffentlichten Schrift ein Programm für die künftige Be­ handlung der Sache dargelegt zu finden, welches in den wesentlichen Punkten eine Anbahnung und Annäherung an die von Salzwedel'schen Einrichtungen erkennen läßt und al» eine wichtige Erläuterung zu den Statuten der Anstalt selbst für die Handhabung in der Praxis anzusehen ist. Zunächst geht daraus hervor, daß die Centralanstalt in Wilhelms­ dorf in der Hauptsache nur eine Art von Depöt bilden soll, wohin aus einem gewiffen Umkreise (Rheinprovinz, Westfalen, den beiden Lippe'schen Fürstenthümern und Bremen) die dort als Vaganten oder Bettler in die Häuser dringenden Personen in der Art zugewtesen werden sollen, daß sich die sämmtlichen über Stadt und Land verbreiteten Mitglieder deS Verbandes förmlich verpflichten, solchen Personen keine Almosen an den Hausthüren zu geben, sondern dieselben an die am Orte befindliche vom Verbände errichtete Naturalverpflegungsstation zu weisen, von wo auS in gewissen Etappen von Nacht- und Mittagstationen jeder derartige An­ kömmling nach Wilhelmsdorf gewiesen wird, wofern er nur seinerseits da» Bestreben bekundet, Arbeit zu suchen, welche ihm als ein Werk der Barmherzigkeit dort zunächst in der Anstalt selbst hauptsächlich in Ackerund Gartenbestellung mit Hacke und Spaten auf einem Terrain von drei zusammengekauften Höfen , geboten wird. Gleichzeitig ist mit der Central­ anstalt ein Arbeitsnachweisebureau verbunden, an welches sich auswärtige Arbeitgeber zu wenden haben, um die für sie geeigneten Arbeiter au» der Anstalt sich überweisen zu lassen, so daß also auf diese Weise auf ein stetes Zu- und Abströmen der Vaganten rc. auS dem oben erwähnten Umkreise und im Durchschnitt etwa auf ein nur dreimonatliches Verbleiben des einzelnen Arbeiter- In der Centralanstalt, dann aber auf eine für ihn zu gewinnende ArbeitScondition außerhalb der Anstalt gerechnet wird. Die auf Unterbringung von etwa 100 bis 200 Personen zu gleicher Zeit be­ rechnete Anstalt hatte auf diese Weise in Folge einer in weitem Umkreise der Eröffnung der Anstalt selbst vorangegangenen und mit allen Mitteln der Publication betriebenen Borausankündigung sich unmittelbar nach ihrer Eröffnung eines so zahlreichen Zuspruchs Arbeit suchender Personen und gleichzeitig einer solchen Nachfrage seitens der verschiedensten Arbeit--

geber nach Arbeitskräften zu erfreuen gehabt, daß in den ersten vier Mo­ naten 417 Personen durch die Anstalt gegangen und Im December noch ein Bestand von 99 Personen in der Anstalt verblieben war. Mit große» Offenheit gesteht der Pfarrer von Bodelschwingh ein, daß in dieser Zeit manche Mißgriffe der Verwaltung insbesondere bei der Berücksichtiglmg der eingegangenen Anträge auf Ueberweisung von Arbeitern seitens solcher Arbeitgeber vorgekommen find, über deren persönlicher Qualificatton zur erfolgreichen Beschäftigung der Anstaltspfleglinge die Anstalt selbst sich die nöthige Kenntniß nicht verschafft hatte. Diesem Uebclstande wird für die Zukunft doch nur durch genauere Ermittelung der Personalverhältnisse der Arbeitgeber, denen Pfleglinge au- der Anstalt anvertraut werden, vorgebeugt werden können. ES würde dies also sehr nahe an die Art und Weise erinnern, wie im Kreise Oletzko von Herrn von Salzwedel verfahren worden ist, um die geeigneten Familienväter zur Unterbringung der Pfleglinge zu gewinnen. Eine große Verbreitung und Anerkennung auch außerhalb des Wir­ kungskreises der Centralanstalt zu Wilhelmsdorf hat das zweite statuten­ mäßig zur Anwendung kommende NothbekämpfungSmittel gefunden, näm­ lich die Errichtung von NaturalverpflegungSstationen, deren Zweck schon oben im Allgemeinen skizzirt ist. Diese Verpflegung-stationen, welche in angemeffenen Entfernungen so vertheilt sein sollen, daß zunächst au- dem oben beschriebenen Umkreise kein Bettler oder Vagabund, der von Privaten oder Gemeinden und andern Verbänden der Anstalt zugewiesen wird, auf seinem Wege dahin nöthig hat zu betteln, weil ihm von Etappe zu Etappe, sei eS in den sog. HeimathSherbergen oder bei einem ihm sonst am Absendung-ort bezeichneten vom Verbände engagirten Wirthe jedenfalls daS nöthige Nachtquartier tncl. Abendbrot und Frühstück und in der nächsten am folgenden Tage zu passirenden Verpflegungsstation Miltageffen in auskömmlicher Weise gewährt wird. Gleichzeitig ist mit den Inhabern der Verpflegungsstationen die Einrichtung getroffen, daß schon am Orte selbst oder in seiner nächsten Nähe den von ihnen zu Berücksichtigenden Arbeit und Gelegenheit zum Selbstverdienst nachgewiesen werden kann, dergestalt, daß ohne jede sonstige Rückfrage und mißliche Prüfung über die moralische Würdigkeit oder Unwürdigkeit deS Hülfesuchenden demselben nur dann da- Mittagessen oder die Nachtherberge verweigert werden darf, wenn er sich weigert, von einer nachgewiesenen Arbeitsgelegenheit Ge­ brauch zu machen, um wenigsten- theilweis eine Gegenleistung für die genossene Wohlthat zu garantiren. Auf diese Weise wird also nach der herrschenden Intention die Centralanstalt gewiffermaaßen mit einem Mantel von einzelnen Verpflegung-stationen umgeben, der einer« 13*

188

Politische «Korrespondenz.

feite dem wirklich nach Arbeit verlangenden Hilfesuchenden die Er. reichung de- Ziels ermöglicht, ohne betteln zu müssen, der andererseits aber auch eine gewisse Abwehr gegen solche Individuen enthält, welche in unredlicher Weise lieber die Schnaptzbudiken aufsuchen, al- die ge­ sicherte aber auf Mäßigkeit und ArbeitSbereitwilltgkeit rechnenden Veran­ staltungen de- Verbandes anzugehen. Wir übergehen hier als zu weit­ führend die Besprechung der Mittel, mit Hilfe deren die ganze Einrich­ tung in'S Leben gerufen ist und mit denen nach den Intentionen des Herrn von Bodelfchwingh auch in den, übrigen Theilen deS preußischen und deutschen Vaterlandes ähnliche Anstalten in'S Leben zu rufen sein möchten. ES richtet sich dies zu sehr nach lokalen und partikularen Ver­ hältnissen, um hierüber irgend welche aprioristischen Erörterungen anzustellen. Wir haben nur und zwar in vollem Einverständniß constatiren wollen, daß nach den von Herrn Pfarrer von Bodelfchwingh gegebenen Erläuterungen in der That seine Idee auf eine Verallgemeinerung jener Im Kreise Oletzko von Herrn von Salzwedel getroffenen Einrichtungen hinau-laufen würde, mit dem alleinigen Unterschiede, daß die schließlich bei einzelnen Arbeitgebern untergebrachten Pfleglinge zunächst in das Depot der Centralanstalt ausgenommen wdrden, von wo aus sie dann erst auf eingehende Nachfrage an die geeignete Arbeitsstelle gewiesen werden. Wir halten diesen Unterschied jedoch keineswegs für einen prinzipiellen, ebensowenig auch die Frage der inneren Einrichtung der Centralanstalt selbst, die ja auch immerhin einen particularen von den örtlichen Verhältntffen abhängigen Charakter wird annehmen müssen. 3m Ganzen also fassen wir daS Resultat dahin, daß unter allen Um­ ständen eS dankbar anzuerkennen ist, wenn mit unverkennbarem Wohl­ wollen und Verständniß für die Lage der arbeitenden Klaffen der einst von Herrn von Salzwedel angeregte Gedanke, wenn auch mit den durch die örtlichen und VerkehrSverhältniffe bedingten Veränderungen wieder von Neuem durch H. von Bodelfchwingh ins Leben gerufen ist und wünschen aufrichtig,' daß eS gegenwärtig gelingen möge, die schon damals von dem Oberpräsidenten von Schön ins Auge gefaßte Verallgemeinerung gleichartiger Bestrebungen zu realistren. Wenn damit selbstverständlich auch nicht alle Noth und alle- Vagabondenthum ein Ende haben wird, so kann auf diesem Gebiet doch niemals genug geschehen und selbst, wenn darüber auch noch mancher Thaler vergeblich auSgegeben und mancher Bogen Papier vergeblich verschrieben werden wird, ist e- immerhin bester, daß Etwa» selbst Unvollkommene- geschieht al- Nichts. Die von Herrn von Bodelfchwingh in seiner Schrift angedeuteten Wünsche für den Gang, den die künftige Gesetzgebung auf diesem Gebiet nach seiner Vorstellung

einzuschlagen haben würde, z. B. Einführung der Arbeitsbücher, Umge­ staltung deS Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz durch Fixirung einer sogenannten Heimath theilen wir, worauf eS inzwischen für den vor­ liegenden Zweck nicht ankommt, übrigen- nicht. Auch liegt nach unserer festen Ueberzeugung eine Verständigung durchaus nicht so fern als eS bei der bekannten Parteistellung des Herrn von Bodelfchwlngh scheinen möchte. Der Verfasser glaubt sich dieser erfreulichen Hoffnung um so mehr hingeben zu können, als in dem Herrn von Bodelschwingh erst nach Fertig­ stellung seiner Schrift zu Händen gekommenen Erlaß deS Kronprinzen vom 13. Dezember 1882, in welchem dieser das Protectorat über die Anstalt übernimmt, darauf hingewiesen wird, daß eS sich hier um eine Sache handelt, die „unabhängig vom religiösen Bekenntniß oder politischer Partei­ stellung" allen denen gemeinsam ist, welche entschlossen pnd, die Grund­ lage unseres StaatSlebenS zu erhalten und vor den- auch heute noch drohenden Gefahren zu schützen. Herr von Bodelschwingh schließt seine Schrift mit dem auch von unS getheilten Wunsche, „daß diese Worte unseres theuren Kronprinzen kräftig in die Wagschal« fallen mögen". AuS seinem unmittelbarem persönlichen Verkehr mit den so oft ver­ schrieenen und wiederum so oft durch die Schuld und Vernachlässigung der Organe der öffentlichen Armenpflege in ihre jammervolle Lage ge­ drängten Vagabunden und Landstreicher entrollt Herr von Bodelschwingh Lebensbilder von drastischer Wahrheit und spricht damit dasjenige mit deutlichen Worten aus, was auch der Verfasser dieser Zeilen in jahre­ langer amtlicher Thätigkeit auS einem oft überwältigenden Material von Beschwerdefällen vielfach wahrzunehmen Gelegenheit hatte. Um so ver­ antwortlicher erscheint die nach § 42 deS neuesten z. Z. noch der Königl. Sanction und Publication harrenden Gesetzes über die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden rc. den KreiS-AuSschüssen übertragene einzige und höchste Instanz über die Beschwerden in Armenangelegenheiten wegen ver­ weigerter oder unauSreichend gewährter Armenunterstützungen. Nach der aufrichtigen Ueberzeugung deS Verfassers ist diese vorausgesetzte Unfehl­ barkeit der KreiS-AuSschüsse auf diesem Gebiet mindestens ein höchst ge­ fährliches gerade von der preußischen Tradition gleichen Rechtes auch für den Geringsten schroff abweichendes Experiment und wir möchten den Herrn Minister des Innern veranlassen, dafür Sorge zu tragen, doch in sämmt­ lichen BersammlungSzimmern der KreiS-AuSschüsse im größten Wandkarten­ format die von Herrn von Bodelschwingh auf S. 7, 8 seiner Schrift aus der Seele der Armen und Elenden den bedauerlichen Formalismus hoher und niederer Communal-Armenbehörden entgegengeschleuderten Vorwürfe

Politische Lorrcspondenz.

190

angeschlagen werden, damit sie diesen von nun an höchsten Gerichtshöfen über das Wohl und Elend von Millionen zerstampfter Existenzen nie

auS den Augen kommen mögen. Th. v. Flottwell.

Potsdam.

Der Staat und die Eisenbahnen in Frankreich.

Auch die Verstaatlichung der Eisenbahnen wird am besten unter dem

Gesichtspunkt der Social-Reform aufgefaßt.

Zwar kann cs auch Staaten

mit StaatSbahnfhstem geben, welche im Uebrigen auf der Stufe des äußersten Individualismus verharren (z. B. Belgien); in der Regel aber,

und zumal in Deutschland, dient das StaatSbahnfhstem zur Verstärkung der Staatsgewalt, zur Milderung der socialen Gegensätze.

Heben wir

einige der wesentlichsten dieser socialen Eigenschaften deS StaatSbahnfystemS heraus.

Der eigentliche practifche Gegenpol der Staatsmacht

ist heute der CapitaliSmuS, die Herrschaft und Centralisirung deS mo­

bilen Capitales in wenigen Händen.

Nichts unterstützt diesen Zustand

besser alS das System der Privatbahnen. die rentabel» Linien

und

behalten

Die Privatbahnen bauen nur

den Gewinn

für

ihre Actionäre.

Der Staat hilft, wenn die Eisenbahnen ihm gehören, mit dem, was er

an einer Stelle verdient, den ärmeren Gegenden durch den Bau weniger rentabler Linien nach.

Die Privatbahnen suchen das thatsächliche Monopol,

welches sie in der Regel besitzen durch hohe Tarife (mag das Aufsichtsrecht

deS StaatS noch so scharf gehandhabt werden) auszunutzen; der Staat überlegt, welche Einwirkung die Tarife auf Industrie und Ackerbau haben. Die Actien der Privatbahnen sind zwar oft in den Händen vieler Ein­

zelnen, aber gerade dadurch wird ein wesentlicher Theil des Gewinnes nicht diesen vielen Einzelnen, sondern einer kleinen Zahl von VerwaltungSräthen und Börsenbaronen zugewandt.

Denn der jedesmalige CurS der

Actien ist abhängig von dem jährlich wechselnden Gewinn und eS Ist noth­

wendig, daß stets einige Eingeweihte existiren, welche vor den Anderen von dem Stande der Dinge unterrichtet, den Löwenantheil des CurSgewinneS durch rechtzeitiges Kaufen und Verkaufen einstreichen.

Auch mit

Staatspapieren, mit ConfolS wird fpeculirt, aber doch wesentlich nur von

gewohnheits- und berufsmäßigen Speculanten.

Die Actien aber, und die

große Masse derselben bilden die Eisenbahn-Actien, treiben fast mit Gewalt

auch den Privatmann in die Spekulation.

Wie viele Menschen giebt eS,

die Besonnenheit und Characterkraft genug haben, anscheinend sicheren

Nachrichten über daS bevorstehende Resultat deS Jahres zu widerstehen, um nicht durch eiliges Veräußern ihres Besitzes oder Zugreifen auf. anderer

Stelle einen erheblichen Gewinn zu machen?

Wie auf dem Roulette die

Bank durch da- Zero, so müssen bei diesem Spiel mit Actien auf die

Dauer die Directoren und BerwaltungSräthe mit Sicherheit gewinnen. Durch die Verstaatlichung der Eisenbahnen ist der Vampyr Börse von diesem Gebiet auf die einfachste Weise auögesperrt*) und zahllose kleine Capitalisten werden in ihrem Besitz erhalten, weil sie vor der Versuchung beschützt sind.

So wirkt daS Staatsbahnsystem nicht nur in einer, sondern in vielen

Richtungen der ungesunden Anhäufung deS Capitals bei Einzelnen ent­

gegen.

Die gefährlichste und haffenSwertheste Eigenschaft deS Capitalismus

aber ist erst, daß er am letzten Ende auch zur politischen Herrschaft der

Geldmänner führt.

Nicht nur indirect durch Begünstigung der Capital-

Anhäufung, sondern auch ganz direct sind die Privatbahnen ein Mittel

dieser Herrschaft.

So große Verwaltung

üben einen Einfluß auf die

Parlamente, auf die öffentliche Meinung, auf die Special-Jntereflen so

zahlloser Personen, Communen, Industrien, Handelskammern, daß sie fast

jeden anderen Einfluß in die Luft schnellen und sobald sie sich erst ordent­ lich eingenistet haben und unter sich zusammenhalten nahezu den Staat regieren können.

Dieses Moment führt uns direct in die Eisenbahnfrage hinein, wie sie

sich jetzt in Frankreich abspielt.

Auch bei unS tauchte in den 60ger Jahren

der Plan auf, die sämmtlichen Privatbahnen in der Hand einer großen Gesellschaft zu vereinigen.

Wer weiß, ob, wenn damals jener Plan re-

alisirt worden wäre, jetzt die Verstaatlichung hätte in'S Werk gesetzt werden können.

Auch bei der Existenz vieler kleinerer Gesellschaften ist eS ja nur

dem Einsetzen der ganzen Wucht der BiSmarck'schen Machtstellung und nur Schritt für Schritt gelungen, das Unternehmen durchzuführen.

Wie steht eS nun damit in Frankreich**)?

In Frankreich gehören

die Eifenbahiwn zwar nicht einer, aber doch in der Hauptsache nur sechs großen Gesellschaften, die dazu alle wesentlich unter einem Einfluß, näm­ lich unter demjenigen deS HauseS Rothschild stehen. Anders als bei uns ist in Frankreich die öffentliche Meinung, nach­ dem dort das Publikum begann am eigenen Leibe die Schäden deS Privat-

bahn-SystemS sehr schmerzlich zu empfinden, vom Beginn der Bewegung

*) Ganz konsequent und sehr charakteristisch rechnet deshalb eine Berliner BörsenTorresponvenz t8 dem StaatSbahnsystem zum Nachtheil an, daß eS die Gattung der SpeculationSPadiere zu sehr einschranke. **) Bgl. die Artikel von v. d. Leyen in Bd. 40 u 42 d. Jahrbücher, wie den Bortrag desselben Autors „die Eisenbahnfrage in Frankreich",' gedr. in Glaser's Annalen für Gewerbe und Bauwesen Bd. XII Heft 10; 1883.

Politisch« Lorrespondenz.

192

an sehr entschieden für die Verstaatlichung eingetreten.

DaS Interessante

ist nun, daß die öffentliche Meinung, die doch in Frankreich souverän,

deren Wille durch die Kammern ausgesprochen, Gesetz ist, nicht im Stande ist, ihren Willen gegen die Eisenbahngesellschaften durchzusetzen.

Die Bewegung begann im Jahre 1877 und bald entschloß man sich frisch und fröhlich direct auf die Verstaatlichung der gesammten Eisen­

bahnen loSzugehen.

Man kaufte zunächst eine Anzahl kleinerer nothleiden­

der Bahnen und begann nach dem grandiosen Frehcinetschen Plan zahl­ lose neue Bahnen zu bauen — waS um so nothwendiger erschien, alS man gewahr geworden war, daß Frankreich unter dem bisherigen System bereits

auf die siebente Stelle unter den Staaten der Erde in der Entwickelung auf dem Gebiete des Eisenbahnwesens herabgeglitten sei.

Hatte man so den Anfang eines StaatSbahnnetzeS geschaffen, das genügende Personal herangebildet, das Terrain vorbereitet und so zu sagen

die Kraft gesammelt zu dem großen Sprunge, so sollte eS an die eigent­

liche Verstaatlichung, die sechs großen Gesellschaften gehen. DaS erschien um so leichter, als der Staat in Frankreich ein gesetz­

liches AukaufSrecht bereits besitzt.

Der Preis wird nach diesem älteren

Gesetz berechnet nach dem Erträgniß der letzten sieben Jahre mit Ausschluß der beiden ungünstigsten.

Diese Berechnung ist offenbar exorbitant hoch.

Nicht nur durch den Ausschluß der beiden ungünstigen Jahre, sondern auch weil das Moment der größeren Sicherheit der StaatSrente nicht in

Betracht gezogen ist.

Man vergleiche dabei die Preise, welche wir für

die Privatbahnen gezahlt haben.

Man hat ihnen nicht unerheblich weniger

an Zinsertrag gegeben, als sie bisher bezogen und trotzdem ist der CurS

der Actien sofort erheblich

gestiegen.

Die Eisenbahnen in Frankreich

würden also pecuniär für den Augenblick ein vortreffliche- Geschäft machen. Nichtsdestoweniger ist die VerstaatlichungS-Partei nicht durchgedrungen.

Bon Anfang an war eS auffallend, daß die principiellen An­ griffe auf die Privatbahnen und Auseinandersetzungen über die Noth­

wendigkeit des StaatSbahnshstemS stets nicht nur im Lande, sondern auch

in der Kammer den lautesten Beifall fand, die einzelnen practischen Maßregeln aber in dieser Richtung doch immer nur mit Mühe durchzu­ setzen waren. ES ist nicht nur, daß die BerwaltungSräthe der Eisenbahnen jedesmal

ihren ausgedehnten persönlichen Einfluß geltend machten: eS kommt auch noch ein politisches Moment hinzu.

Der ungeheure Einfluß, welchen die Eisenbahnen auSzuüben vermögen,

würde in dem Augenblick wo sie verstaatlicht sind, der jedesmal regierenden Clique zufallen.

DaS parlamentarische System mit abwechselndem Re-

giment würde dadurch sehr auS dem Gleichgewicht gebracht werben.

Bei

unS, im constitutionellen Staate mit einer legitimen Regierung ist die

Wirkung eine andere.

Die Macht der Regierung wird zwar nicht uner­

heblich gesteigert, aber dem wachsenden Einfluß der Parteien und der De­

magogie gegenüber konnte man einen solchen Ausgleich, eine Stärkung

In Frankreich aber,

der Regierung als solcher nur willkommen heißen.

wo eine solche in sich selbst ruhende Regierung nicht existirt, gönnt keine

Partei der anderen die Durchführung der Verstaatlichung, welche ihr zu­

nächst die Eisenbahnmacht in die Hände spielen und damit vielleicht ihre Herrschaft verewigen würde.

Gambetta zeigte gleich beim Antritt seines

kurzen Ministeriums, wie er von diesen Umständen Gebrauch machen werde, indem er sofort sieben neue Derwaltungöräthe mit 6000 Fr. Gehalt für

die StaatSbahnen ernannte, zu keinem andern Zweck, als sich diese sieben einflußreichen Leute zu verpflichten.

Bisher ist nun kein Ministerium auch nur zu der positiven Vorlage

eines Verstaatlichungs-Entwurfs gelangt — um so weniger als seit 1877 daS Arbeits-Ministerium acht Mal gewechselt hat.

Als das HauS Roth­

schild seinen politischen Agenten Leon Sah tn'S Ministerium gebracht hatte, wagte eS sogar schon einmal, das ganze Bestreben kurzerhand abzuschneiden,

indem Sah ein Gesetz vorlegte, wonach der Staat gegen gewisie unbe­

deutende Leistungen der Bahnen auf sein Ankauf-recht bis 1897 verzichten sollte.

Dieser Angriff wurde zwar noch abgeschlagen, aber einen positiven

Schritt vorwärts that man auch nicht.

Dennoch kann man nicht sagen,

daß die Angelegenheit auf demselben Fleck geblieben ist.

Im Gegentheil:

dadurch daß der Staat die Vorbereitungen der Verstaatlichung traf und dieselbe nun nicht durchführen kann, hat er sich in einer bösen Sackgaffe

gefangen. Die Vorbereitung bestand darin, daß der Staat eine große Zahl

einzelner kleiner Linien theils ankaufte, theils und ganz besonders zu bauen anfing.

Die Gesellschaften störten ihn hierin nicht.

Bald aber stellte

sich heraus, daß vereinzelte kleine Linien nicht betrieben werden können;

sie müssen an die großen durchgehenden Linien angeschloffen werden oder werden von diesen trocken gelegt. zurückhaltend und renitent.

Die großen Linien aber blieben kühl

Der Staat mußte ihnen entgegenkommen und

den Betrieb seiner eigenen Linien an sie verpachten unter den Bedingungen, welche ihm vorgeschrieben wurden.

Zugleich fängt der französische Staat

seit einiger Zeit an, früher unbekannte finanzielle Schwierigkeiten zu em­ pfinden.

Die Mittel zur Fortsetzung der in übertriebener Zahl zu gleicher

unternommenen Bauten beginnen zu versagen.

Wieder bleibt kein Ausweg

als die Hülfe eben jener großen finanzkräftigen feindlichen Privatbahnen.

Politische Correspoudeuz.

194

Sie sollen nun die Bauten zu Ende führen, die der Staat unternommen: wer will sie hindern die Bedingungen zu stellen, wie sie ihnen gut scheinen? Dies ist die Situation, in welcher die Regierung nun zu folgender Proposition gelangt ist, die zur Zeit in der Kammer discutirt wird: der

Ausbau wie der Betrieb der projectirten Bahnen wird den großen Ge­ sellschaften übertragen; der Staat garantirt ihnen eine Minimal Dividende.

Sind gewisse sehr hohe Erträge erreicht, so participirt auch der Staat an dem Gewinn.

DaS Staatsbahnnetz, welches besteht, bleibt und wird be­

triebsfähig durch einen Austausch mit der OrleanS-Bahn, wobei der Staat 1000 Kilometer abtritt und dafür 300 erhält.

DaS Ankauförecht des

Staates bleibt zwar formell bestehen, wird aber so geordnet, daß eS in

den nächsten 15 Jahren practisch nicht auSgeübt werden kann.

Eine Tarif-

Reform wird von den Bahnen principiell versprochen. Die ungeheuren Opfer, welche der Staat bei diesem Arrangement bringt, sind einleuchtend.

Die Gegenleistungen, welche ihm versprochen

werden, sind derartig, da^ sie entweder sicherlich nicht realisirt werden (Ge­

winn-Betheiligung) oder ganz und gar von der der Zukunft überlassenen praktischen Ausführung abhängen (Tarif-Reform).

Leidenschaftlich hat sich daher die Opposition gegen den Vorschlag er­

hoben.

Wie eö in so großen Versammlungen, die über materielle Inter­

essen zu entscheiden haben, immer geschieht, hallt eS allenthalben wieder von der Beschuldigung

der Corruption

— vermuthlich oft nicht ohne

Grund.

DaS Resultat ist in dem Augenblick, wo wir diesen Bericht schließen,

»och nicht abzusehen.

ES ist aber nicht ersichtlich, wie eS der Oppositio»«

gelingen sollte, einen anderen praktischen AuSweg auS der verwickelten Lage zu gewinnen.

ES bleibt doch wenigstens nach den Vorschlägen der Re­

gierung eine größere Staatsbahn (im Westen) bestehen, die einmal den

Kern für eine zukünftige neue Entwickelung deS StaatSbahngedankenS bilden D.

könnte.

Der spanische Handelsvertrag.

Die eigentliche Schwierigkeit und daher die Kunst einer rationellen WirthschaftSpolitik ist die nicht zu umgehende Nothwendigkeit, häufig In­

teressen gegeneinander abwägen zu müssen, eins mehr oder weniger zu verletzen, eins zu bevorzugen.

Gewinnen die Fabrikanten im Jnlande, so

verlieren die Importeure; werden der Industrie schwerere Lasten der Für­ sorge für den Arbeiterstand auferlegt, so leidet ihre Exportfähigkeit wegen der Concurrenz anderer Länder, die ihre Arbeiter nicht schützen.

Die Re-

gierungSkunst muß sehr ausgebildet sein, um hier alles richtig hüben und

drüben zu beurtheilen

Nutzen zu stiften.

und

nicht durch

Mißgriffe mehr Schaden als

Ohnehin werden die Geschädigten immer,

mag der

Vortheil für das Ganze auch ihren Nachtheil unendlich überwiegen, das Geschrei erheben, daß ihnen bitteres Unrecht geschehen sei.

Auch der spanische Handelsvertrag hat in einem Punkt dieser Art eine gewisse Erregung hervorgerufen. Ein wesentlicher Export-Artikel Deutsch­

lands nach Spanien ist der Spiritus, dessen Spanien bedarf zum Ver­ schneiden seiner Weine.

Seit einiger Zeit hat sich nun in Spanien

selbst eine Brennerei-Industrie entwickelt, die der weit überlegenen deut­ schen gegenüber nach Schutz verlangt.

Der Wein-Producent ist natürlich

auf daS heftigste dagegen, weil ihm dadurch sein wesentlichstes HülfSmaterial verthcuert wird.

Nun ist der deutsche Export auf eine eigenthümliche Weise verbildet

durch die Stellung der Freihäfen Bremen und Hamburg.

z. B. russischen Spiritus, rectisicirt ihn

Letztere bezieht

und versendet ihn dann als

deutschen. Schon im deutsch-österreichischen Vertrage hat deshalb in Betreff der

Freihäfen eine AuSnahme-Clauscl Platz gefunden.

Wenn man sich über­

legt, daß Handelsverträge auf Grund gegenseitiger Concessionen geschlossen

werden, so ist klar, daß ein Land Concessionen nur zu Gunsten seiner

eigenen Production machen wird; ein Product, welches wie der russische Spiritus in Hamburg durch die Nectification nur eine Werthsteigerung von etwa 10$ (4—6 Mk. auf etwa 40 Mk. pro 100 Liter) erfährt, hat für

die deutsche Wirthschaft ein verhältnißmäßig geringeres Interesse.

Man ist

also auf den schon im österreichischen Vertrage vorgesehenen Ausweg ge­ kommen, den in Deutschland blos rectisicirten — nicht fabricirten — Sprit (eine Operation, die nur in den Freihäfen möglich ist) nicht als deutschen

gelten zu lassen. Wie unsere Spiritus-Producenten behaupten ist damit auch dem Be­ dürfniß der Spanier Genüge gethan.

Denn der russische Sprit ist weniger

fein als der deutsche und deshalb zum Wein-Verschneiden nicht zu ge­

brauchen.

Die spanische Wein-Production erhält also den Sprit, dessen

sie bedarf zu dem niederen Zollsatz; auch die spanische SpirituS-Production aber, die tote Rußland nicht den ganz feinen Sprit producirt, ist gegen die Concurrenz der ordinären Waare geschützt.

D.

Notizen. Johann Heinrich von Thünen. Ein Forscherleben. Zweite Auflage. Mit einem Porträt von ThünenS nach einem Gemälde von Ternite. Rostock und Ludwigslust. Verlag von Karl Hinstorfs. 1883. Diese zweite Auflage ist zum hundertjährigen Geburtstag ThünenS von seinem langjährigen Freunde und Schüler, Schumacher-Zarchlin herausgegeben worden. Für die Social-Wissenschaft hat sich Thünen durch seine Forschungen über daS Wesen der Grundrente bekannt gemacht, sowie durch den Nach­ weis von der bloß relativen Vorzüglichkeit der verschiedenen landwirthschaftlchen Betriebssysteme und sein Streben nach Fixirung eines natur­ gemäßen Arbeitslohnes, welcher den Arbeitern, nicht wie eS Ritardo in seinem ehernen Lohngesetze behauptet, stets nur die zur Fristung ihrer Existenz unentbehrlichen Lebensmittel zukommen ließe, sondern nach dem sie auch Antheil nehmen würden an der durch technische Vervollkommnungen gesteigerten Pro­ duktion. Thünen, der in seiner streng exakten Forschungsweise an Rikardo erinnert, sucht hierdurch, ganz auf dem Boden der heutigen Eigenthums- und Wirth­ schaftsordnung stehend, die sociale Frage zu lösen. ES wird für die Fachge­ nossen nicht ohne Jntereffe sein, auS dem vorliegenden Buche zu erfahren, wie in Thünen zuerst der Grundgedanke seines Hauptwerkes, der isolirte Staat entstand, wie er denselben dann in jahrelangen, ununterbrochenen Arbeiten allmälig weiter entwickelt, zu hören, welchen Eindruck daS Buch bei seinem Er­ scheinen zunächst auf die Zeitgenoffen macht, wie langsam die große Bedeutung ThünenS und seine Verdienste um die Socialwiffenschaften erkannt wurden. Aber auch für den gebildeten Laien wird eS nicht ohne Jntereffe sein, einen Einblick in dieses Forscherleben zu thun, wie eS Schumacher mit Recht ge­ nannt hat. Die mühsamen, exakten Studien, welche Thünen für seine Ver­ öffentlichungen machte, werden jeden mit Hochachtung vor einem Manne erfüllen müffen, der scheinbar zurückgezogen von der Welt auf seinem durch ihn berühmt gewordenen Gute Tellow unausgesetzt nur der Erforschung wirthschaftlicher Ge­ setze sich widmete, dabei sich aber ein reges Jntereffe für jedes geistige Streben bewahrte. Thünen war ein wahrer Humanist, dessen ganzes Streben nach einer allseitigen, harmonischen Ausbildung aller körperlichen und geistigen

Fähigkeiten deS Menschen ging, der die Erreichung dieses Strebens aber nicht, wie die meisten Humanisten nur für sich fordert, sondern der bei seiner menschen­ freundlichen Gesinnung die Weiterentwicklung der Kultur gerade darin erblickt, daß alle Menschen an dieser geistigen und körperlichen Vervollkommnung An­ theil erhielten, und der sein ganzes Leben daher der Förderung dieser Idee weihte. Jntereffant ist auch ThünenS Stellung zur revolutionären Bewegung von 1848, in der er sich, frei von jedem kleinherzigen Mecklenburger Patriotis­ mus vor allem als deutscher Patriot fühlte, ohne dadurch seine Verehrung für seinen Landesfürsten und die Liebe und daS Interesse für seine engere Heimath aufzugeben. In ansprechender Weise tritt einem dieS alles aus seinem Brief­ wechsel entgegen, den Schumacher überall da ergänzt hat, wo die vorhandenen Lücken daS Verständniß erschwert hätten. DaS einzige waS wir an der Her­ ausgabe auSzusetzen hätteq, ist der Mangel eines JnhaltSverzeichniffeS und Sach­ registers, welche zu einer schnellern Orientirung wesentlich beitragen und dadurch den Gebrauch deS Buches angenehm erleichtern würden. St. z. Putlitz. t

Geschichte der revolutionären Bewegungen in Rußland. Von AlphonS Thun. Leipzig. Verlag von Duncker und Humblot. 1883.

Trotz deS großen JntereffeS, mit welchem in Deutschland alle Erscheinungen und LebenSäußerungen deS russischen Nihilismus verfolgt werden, fehlt eS doch meist an einem wirNichen Verständniß sowohl seiner Entstehung, alS auch seines Wesens und seiner eigentlichen Ziele. Selbst Fachgelehrte haben eS vielfach nicht über allgemeine unklare Vorstellungen gebracht, sodaß sie jeden Zusammen­ hang zwischen dem russischen Nihilismus und dem Socialismus anderer Länder leugnen. Häufig findet man an die deutschen Socialdemokraten die Anforderung gestellt, sich öffentlich von den Nihilisten loSzusagen und selbst ein sonst doch so kenntnißreicher Mann wie Windthorst hat dies Ansinnen an sie im Reichstag gestellt, als die nothwendige Voraussetzung für eine objektive Beurtheilung so­ cialdemokratischer Bestrebungen. Natürlich wiesen die Socialdemokraten dieS Ansinnen zurück und sprachen sich mit den Zielen der Nihilisten durchaus ein­ verstanden aus, während sie die Mittel zur Erreichung diese- Zieles, den poli­ tischen Mord, zwar im allgemeinen und für unsere Verhältniffe verwürfen, für die eigenthümlichen russischen Verhältniffe wenn auch nicht grade ganz geeignet, so doch wenigsten- entschuldbar erachteten. Die Richtigkeit dieser Ansicht geht nun auS dem Thunschen Buche klar und deutlich hervor, während eS vor dem Erscheinen deffelben allerdings nicht leicht war, sich rin anschauliches und vollständiges Bild von der Entstehung und der Entwicklung der nihilistischen Bewegung in Rußland zu machen. Ueber Einzelheiten war man wohl durch die TageSpreffe und zahlreiche Brochuren, namentlich die, theils anonym, theils mit den Namen deS Verfassers er­ schienenen Bücher von Eckardt, unterrichtet, eS fehlte bisher aber gänzlich an einer

zusammenhängenden und erschöpfenden Darstellung deS Nihilismus. Diesem Mangel nun hat diese neueste Arbeit von Prof. Thun in glänzender Weise beseitigt. Thun hat sich durch ihre Veröffentlichung ein doppeltes Verdienst er­ worben. Er bringt in ihr einmal mancherlei Material, welches dem deutschen Publikum bisher unzugänglich, ja einzelnes welches bisher überhaupt noch nicht veröffentlicht, daher auch den Ruffen unbekannt war. Außer dieser dankenSwerthen Veröffentlichung der „unterirdischen" geheimen nihilistischen Litteratur enthält sein Buch aber zum ersten Mal eine zuverlässige, auf Quellen-studien gestützte, sachlich und durchaus vorurtheilSfrei gehaltene, allbefriedi­ gende und vollständige Darstellung deS russischen Nihilismus, welche in fließendem Style und mit großer Darstellungsgabe geschrieben, weite Kreise deS Publikums interefstren und in angenehmster Weise belehren und über den Nihilismus aufklären wird. Thun zeigt zunächst die Entstehung der socialen Ideen iu Rußland, ihren inneren Zusammenhang mit dem internationalen Socialismus und führt dann eingehend aus, wie sich dieselben, entsprechend den eigenartigen russischen Verhältniffen, selbständig zu dem entwickeln mußten, waS wir heute als Nihilismus bezeichnen. Auf Einzelheiten deS intereffanten BucheS kann hier nicht einge­ gangen werden, nur das sei hervorgehoben, daß Thun eS vollkommen ver­ steht, die allmählige Umwandlung der anfangs friedlichen Propaganda der socialen Ideen in den TerroriSmuS verständlich zu machen, sie als die noth­ wendige Consequenz der russischen Regierung, der Beamtenwillkür darzustellen. Nach einer kurzen liberalen Strömung nach dem Regierungsantritt Alexanders H., fiel die russische Regierung bald wieder in den frühern Despotismus zurück, jede freiheitliche Regung wurde schonungslos unterdrückt, eS blieb den Socialisten, unklaren, unreifen Phantasten nichts übrig, als sich zu beugen oder im Kampf mit der Regierung die Verwirklichung ihrer Ideen anzustreben. Dieser Kampf wurde beiderseits mit aller Energie und mit einer immer zunehmenden Er­ bitterung und Grausamkeit geführt und spitzt sich bei den Nihilisten zuletzt zum Kaisermorde zu. Der ganze TerroriSmuS ist nur eine Phase in der nihilistischen Bewegung, die Zeit, in der die Nihilisten an jeder friedlichen Verbreitung ihrer Ideen verzweifelnd, die Regierung durch die Fürsten-Attentate zu größeren politischen Freiheiten zwingen wollten, damit sie dann wieder in friedlicher Weise ihre Propaganda aufnehmen könnten. Dazu kam die Rache und die Nothwehr gegen ihre Verfolger, welche zu politischen Morden zunächst gegen hochgestellte Beamte, zuletzt gegen den Kaiser als Oberhaupt der Staatsver­ waltung, als den eigentlichen Urheber ihrer Verfolgungen und Hinrichtungen führten. Selbstzweck ist der Mord, die Vernichtung der bestehenden Regierungs­ gewalt für die Nihilisten aber niemals gewesen, sondern stets nur ein gräß­ liches Kampfmittel, wenngleich er zeitweise so in den Vordergrund ihrer Bestre­ bungen getreten ist, daß ihre eigentlichen, dem internationalen Socialismus entsprechenden, und nur den besonderen russischen Verhältniffen, namentlich dem kommunistischen Gemeindebesitz angepaßten Ideale darüber vorläufig ganz ignorirt

Nottzen.

199

wurden. Die Billigung oder Verwerfung der nihilistischen Endziele wird also von der Beurtheilung deS Socialismus überhaupt abhängen, die Art, in der die Nihilisten ihren Kampf gegen die russische Regierung führten, wird man immer verabscheuen, aber zugeben müssen, daß das Verhallen der russischen Regie­ rung gegen die Nihilisten um nichts humaner und besser war. ES ist dies ja grade daS Tragische in den russischen Verhältnissen, daß jeder, der ernstlich den Fort­ schritt seines Lande- will, unaufhaltsam zuletzt den Nihilisten in die Arme ge­ trieben wird, daß für den friedlichen Fortschritt kein Raum vorhanden ist und der einzelne nur die Wahl hat, apathisch dem Verlauf der Dinge zuzuschauen, oder als Nihilist an der Beseitigung, als Beamter an der Erhaltung der durch und durch verderbten politischen Zustände zu arbeiten. St. z. Putlitz. t

Verantwortlicher Redacteur: Dr. H. Delbrück Berlin W. Schelling-Str. 11. Druck und Verlag von ®. Reimer in Berlin.

Die letzten Reformen des Staatskanzlers*). Derweil die Wiener Conferenzen den SisyphuS-Stein der Bundes­

verfassung auf und nieder wälzten, gelangte in Berlin eine Arbeit zum Abschluß, die außerhalb Preußens wenig beachtet für Deutschlands Zukunft

ungleich folgenreicher werden sollte als alle Verhandlungen der Bundes­

politik.

Der greise Staatskanzler legte die letzte Hand an das Werk der

inneren Reformen.

Wie zuversichtlich blickte er wieder ins Leben seit er

den verhaßten Humboldt in den Sand geworfen hatte.

Er fühlte sich wie

verjüngt, alle die stolzen Hoffnungen der ersten Jahre seiner Kanzlerschaft wurden ihm wieder lebendig. Staat zweimal

mit

einem

Wie

er

damals als ein Dictator

ganzen Füllhorn neuer Gesetze

den

überschüttet

hatte, so dachte er jetzt die Neuordnung des Staatshaushalts mit einem Schlage zu beendigen.

Eine Commission des StaatSrathS unter dem Vorsitz

von Klewiz und Bülow hatte mittlerweile die Entwürfe der neuen Steuer­

gesetze vollendet, eine andere unter der eigenen Leitung des StaatSkanzlerS den Stand des Staatshaushalts und des Schuldenwesens geprüft.

In jener war I. G. Hoffmann, in dieser C. Rother der leitende Kopf, beide Männer zählten zu Hardenbergs nächsten Vertrauten, und er be­

trachtete ihre Arbeiten als sein persönliches Werk. In drei langen Vorträgen entwickelte er dem Könige seinen Finanz­ plan, und

sobald' er am 12. Januar den Monarchen

im Wesentlichen

überzeugt hatte, stellte er sofort den Antrag, daß die sämmtlichen neuen

Gesetze

über daS Steuer- und Schuldenwesen unverzüglich veröffentlicht

würden**); dann sollten noch im Laufe

diese- Jahres die Gemeinde-,

Kreis- und Provinzialordnung und schließlich die ReichSverfaffung folgen. Er übersah in seiner Ungeduld, daß er sich inzwischen der diktatorischen

Gewalt, welche ihm der König einst beim Antritt deS Kanzleramtes zuge-

*) Bruchstück aus dem dritten Bande der .Deutschen Geschichte im neunzehnten Jahr­ hundert". **) Hardenberg» Tagebuch 10.11. 12. Januar 1820. Preußische Jahrbücher. 8b. LIL

Heft 3.

14

standen, längst selber entkleidet hatte.

Schon seit Jahren bestanden daS

neue Staatsministerium und der StaatSrath, und die Verordnung über die Bildung der letzteren Behörde bestimmte unzweideutig, daß sämmtliche Vorschläge zu neuen oder zur Abänderung von bestehenden Gesetzen durch den StaatSrath an den König gelangen müßten.

Ergraut im Genusse der

Macht hatte Hardenberg diese Vorschrift freilich nicht lange eingehalten; ihm

schien eS widersinnig, daß ein absoluter Monarch seinen eigenen Beamten gegenüber an Formen gebunden sein sollte.

Während die sechzehn neuen

Gesetze des JahreS 1818 allesammt erst nach Berathung des SlaatSrathS die königliche Sanktion erhielten, wurden schon im folgenden Jahre von

siebenundzwandzig' neuen

Gesetzen nur

sechzehn

dem

StaatSrathe

vor­

gelegt*).

So gewöhnte sich der Kanzler bereit- daran den StaatSrath zu um­ gehen, und am Wenigsten bei den höchst unpopulären Finanzgesetzen wollte

er

auf die» kurz

angebundene Verfahren

verzichten.

Seit Humboldt-

Sturz hatte sich die Stimmung in den Beamtenkreisen noch mehr ver­

bittert; die Erbsünde der Hauptstädte, die Lust am Skandal trat wieder fast ebenso dreist aus,

und klagte,

wie einst vor der Jenaer Schlacht;

um so heftiger je höher er stand.

konnte Barnhagen

Lügen

allabendlich

seine» Tagebuchs abladen!

Jeder schalt

Welche ungeheuerlichen

schadenfroh

in den Modersumpf

Der trieb sich jetzt, als Wirklicher Geheimer

Ober-Literat, wie der treffende Witz der Berliner ihn nannte, zischelnd, schleichend, horchend zwischen den hohen Beamten und den Schriftstellern der Residenz umher und erfuhr hier aus sicherster Quelle, wie sündlich

General Knesebeck, ein Mann von unantastbarer Rechtschaffenheit, mit den militärischen Geldern umgehe und dabei sich selber nicht vergesse; auch der

nicht minder ehrenhafte Rother, der sich soeben in Schlesien ein Gut ge­ kauft, konnte das Geld natürlich nur frechem Unterschleif verdanken; keinen

Tresorschein — hieß eS in diesen Kreisen — dürfe man die Nacht über im Hause behalten, denn einer solchen Regierung sei nicht vierundzwanzig

Stunden lang zu trauen.

Bei diesem Fieber der Tadelsucht schien eS in der

That bedenklich, den Gesetzentwurf über die Staatsschulden mit allen den

unerfreulichen Geheimnissen, die er aufdeckte, jetzt dem StaatSrathe vor­

zulegen.

Ein leidenschaftlicher Streit um jeden einzelnen Posten der Rech­

nung stand dann unausbleiblich bevor, und dieser Hader konnte nicht ge­

heim

bleiben;

denn

da

die politischen

Parteien

noch

keinen

anderen

Kampfplatz besaßen, so waren bisher fast alle wichtigen Verhandlungen

*) Nach der Berechnung, welche Herzog Karl von Mecklenburg im Jahre 1827 als Präsident des StaatSrath- ausstellte (Denkschrift über den StaatSrath, 8. März 1827.)

des Staatsraths in gehässig übertreibender Darstellung der vornehmen Gesellschaft Berlins bald bekannt geworden, und schon mehrmals hatte der König seine StaatSräthe an die Pflicht amtlicher Verschwiegenheit er­

innern müssen. Solche düstere Gerüchte mußten jetzt

Staates gradezu vernichten.

den gebrechlichen Credit des

Mit unsäglicher Mühe hielt der Minister

Klewiz den Kurs der Staatsschuldscheine auf 70—71; im nächsten Februar

aber wurden mehr als drei Millionen Thaler Wechsel der Seehandlung

fällig, auch das Deficit aus den Jahren 1817—19, dessen Dasein Hum­

boldt und seine Freunde so lange abgeleugnet hatten, lag jetzt klar am

Tage und sollte sofort gedeckt werden.

Man bedurfte der Baarmittel,

unverzüglich, und was ward aus den Anleiheverhandlungen, welche Rother bereits mit einigen Bankhäusern eingeleilet hatte, wenn die so oft ver­ heißene Regelung deS Schuldenwesens nochmals um Monate hinauSge-

schoben, wenn das ohnehin schwarzsichtige Publicum im Voraus durch halbwahre Berichte aus dem StaatSrathe beunruhigt wurde?

Die Geld­

verlegenheit war so dringend, daß der Kanzler auch die unverwetlte Ver­ öffentlichung der Steuergesetze für nöthig hielt. und der StaatSrath

Mochten das Ministerium

nachträglich die Gesetze prüfen und einzelne Ver­

besserungen Vorschlägen, der Staat durfte der neuen Einnahmen keinen Monat länger entbehren.

„WaS würden, schrieb Hardenberg dem Könige,

Höchstdieselben von dem Vorsteher einer großen Stadt sagen, der bei einer Feuersbrunst, welche ihr den Untergang droht, wiffend, daß die

Feueranstalten bisher mangelhaft waren, statt sogleich alle Mittel zur

Rettung anzuwenden, erst eine Delibcration im Magistrat über die Ver­ besserung jener Anstalten veranlaffen wollte?"

Die Rechtlichkeit deS Königs konnte sich indeß zu einem so eigenmäch­ tigen Vorgehen nicht entschließen.

Friedrich Wilhelm befürchtete, daß die

Verletzung der Formen den unvermeidlichen üblen Eindruck der Steuergesetze noch verschlimmern würde, er bestand auf der ordnungsmäßigen Befragung

des StaatSrathS und sendete auS Potsdam seinen Witzleben hinüber, der

schriftlich und mündlich dem ungeduldigen Kanzler tnS Gewissen reden mußte*).

Jetzt gelte eS, so ließ sich der Vertraute deS Königs ver­

nehmen, „die Finanzen eines Staates zu ordnen, der einem Schiffe ohne Segel und Masten gleich, das auf den Wellen der bewegten Zeit umher­

treibt, nur durch die weife Führung eines großen Staatsmannes nicht

allein erhalten wurde, sondern wie ein Phönix neu erstand".

Bei einem

so umfassenden Unternehmen dürften die Fundamenlalgesetze deS StaateS *) Albrecht an Hardenberg, 13.16. Januar 1820.

Die letzten Reformen de- Staat-kanzler«.

204

nicht mißachtet werden, und zu diesen zählten die Verordnungen über den

Staat-rath und da- Staat-ministerium, welche „bi- etwa- Andere- an die

Stelle tritt, al- die Charte de- Reichs" zu gelten hätten.

Der Ausfall

in den Staatseinnahmen, den die Verzögerung der Steuergesetze bewirken würde, könne äußersten Falle-, wie im Jahre 1808,

den Gehältern der Beamten gedeckt werden.

durch Abzüge von

Kein andere- Motiv leitet

mich — so betheuerte Witzleben schließlich — „al- meine Ueberzeugung

von der Wichtigkeit der Sache und die Besorgniß, den in den Annalen

de- Vaterlandes glänzenden Namen eines Manne- durch die Verletzung

von ihm selbst gegebener Gesetze befleckt zu sehen*)." Hardenberg ließ sich selbst durch diese herzlichen Mahnungen nicht

überzeugen, doch durfte er dem erklärten Willen deS Monarchen nicht zuwiderhandeln-

Aber auch der König hatte inzwischen etngesehen, daß die

Regelung deS SchuldenwcsenS nur bei unverbrüchlicher Verschwiegenheit

möglich war, und einen Mittelweg.

so einigte man sich denn auf RotherS Vorschlag über

Man beschloß, die Rechte der beiden höchsten Behörden,

so weit eS noch anging, zu wahren, also die sämmtlichen Steuergesetze, die in der Thal auch sachlich noch einer erneuten Prüfung bedurften, dem Ministerium und dem StaatSrath zu überweisen, aber die Edikte über die

Staatsschuld sofort zu verkündigen**). Am 17. Januar 1820 erschien demnach die Verordnung wegen der Be­ handlung de- Staatsschuldenwesens, welche den Staatsschuldenetat feststellte

und auf immer für geschlossen erklärte. Vier volle Jahre nach dem Friedens­ schluß lernten die Preußen endlich das traurige Dermächtniß der napoleo­

nischen Tage kennen.

Am Ende deS Jahres 1806 hatte die Schuld nicht

ganz 54'/» Mill. Thlr. betragen; jetzt belief sie sich auf 180,091,720 Thlr. verzinsliche Staatsschulden, dazu noch 11,24 Mill, unverzinsliches Papier­

geld und 25,9 Mill, vom Staate übernommene Provinzialschulden, insge­ sammt 217,248,762 Thlr., etwa so viel wie die Staatseinnahmen von

4'/, Jahren. Den Hauptposten der verzinslichen Schuld bildeten 119,5 Mill. StaalSschuldscheine.

Dies im Jahre 1810 durch Hardenberg eingeführte

Papier wurde seit, dem 1. Juli 1814 wieder regelmäßig mit vier von

Hundert verzinst, und es lag im Plane, nach und nach alle Schuldver­ schreibungen des Staates in StaalSschuldscheine umzuwandeln.

Bereit-

Waren vierundzwanzig verschiedene Arten von Schuldscheinen, wie sie die

♦) Witzleben, untertänige« Promemoria, 16. Januar 1820. Ende 1881 3295 M. gegen 2784 M. im Jahre 1871.

Ein ähnliches Bild erhalten wir, wenn wir nur die Anstalten im also die deutschen Anstalten

Sinne

Deutschen

Reiche,

betrachten.

ES seien hier nur die charakteristischsten Jahre herausgehoben. Z-hl

Jahr.

der An­

stalten.

Neuer Brutto-Zugang Personen mit Mill. M.

im

engeren

Bestand am Jahresschluß Personen mit Mill. M.

1871

28

46 992

133,6

367 665

1074,3

1874

36

67 571

235,0

476 248

1482,4

1878

35

56 288

215,6

574 320

1935,5

1881

35

59120

232,7

633495

2 240,5

Preußische Jahrbücher. Bd. LIL Heft 4.

22

330

Die Schwankungen des Volkswohlstände- im Deutschm Reiche.

Der Bestand der Versicherungssumme am Jahresschluß ist von 1871

auf 74 um 38 Proc., von 1874 auf 77 um 25 Proc., von 1877 auf 80 jedoch von 1878 auf 81

nur noch um 15 Proc. gewachsen; es hat sich

der Brutto-Zugang wieder um 17 Mill. M. erhöht.

in. Manche mit unserer Frage zusammenhängenden Thatsachen, ließen sich der Wohn-, Lohn-, Verbrauchs- und Handwerkerstatistik entnehmen*).

Aber jedes dieser Gebiete würde fast eine eigene Abhandlung erfordern. Eher gestattet noch die Statistik des Verkehrswesens knapp zusammenfassende Angaben.

Wir beschränken uns hier auf einige Mittheilungen über die

Benutzung der deutschen Eisenbahnen.

Dieselbe hat zwar (theil-

weise mit Ausnahme von 1878/79 auf 1879/80, wo eine Verminderung der zurückgelegten Personenkilometer um 4,3 Millionen etntrat), absolut in

Personen- und Tonnenkilometern ausgedrückt, seit 1872 — am schnellsten gleich von 1872 auf 73 — stetig zugenommen; aber der Personenverkehr hat weder mit der Ausdehnung des Bahnnetzes, noch mit dem Wachs­

thum der Bevölkerung Schritt zu halten vermocht und auch der Güter­ transport ist im Verhältniß zur Betriebslänge während des Zeitraums

1873—78 zurückgegangen und im Verhältniß

zur mittleren Jahresbe­

völkerung in den 3 Jahren 1876—78 nicht mehr fortgeschritten.

folgenden Zahlen werden dies

erhärten.

Die

Die beiden ersten Spalten

geben die mittlere Frequenz der deutschen Eisenbahnen an, d. h. die Zahl der in dem betreffenden Jahre zurückgelegten Personen-,

bezw.

Tonnenkilometer dividirt durch die Kilometerzahl der im Betrieb stehenden

Gesammtbahnlänge. Auf jedes Kilometer mittlerer Betriebslänge kommen durchschnitt!.

Personen­ kilometer

Tonnen­ kilometer.

Auf den Kopf der mittleren IahreSBevölkerung kommen durchschnittlich Personen­ kilometer

Tonnen­ kilometer.

1872

232 764

378 395

121,6

198,8

1873

247 082

426 624

137,0

238,3

1874

243 244

418 081

139,1

241,6

1875

229 347

392 581

141,0

244,4

1876

218 593

379 910

141,9

250,5

1877/78

207 463

368 123

140,2

252,6

1878/79

201 224

357 900

139,4

252,65

1879/80

192 182

364 603

137,7

266,9

1880/81

197 441

376 370

142,7

278,15.

*) Bergl. Fr. I. Neumann: uns. 1872.

Unsere Kenntniß von den sozialen Zuständen um

Die Schwankungen des Volkswohlstandes im Deutsche» Reiche-

331

Das ungünstige Verhältniß zwischen Benutzung und Betriebslänge

hat naturgemäß eine verminderte Rentabilität zur Folge.

Der Ueberschuß

der Einnahmen über die Ausgaben betrug im Ganzen in Mill. M. 1869 238,3

für jedes Kilometer Bahn­ betriebslänge *) 14 740 M.

in Procent des verwendeten Anlagekapitals 6,54 Proc.

1871

298,3

15 917 „

6,94

II

1872

298,1

14089 „

5,98

II

1874

289,3

12155 „

4,71

II

1876

326,1

11495 „

4,45

II

1878/79

342,4

11044 „

4,25

II

1879/80

362,2

11144 „

4,28

II

1880/81

392,3

11712 „

4,44

II

Auch hier macht sich seit 1878, als Folge des gestiegenen Güterver­ kehrs, endlich wieder ein Zug nach oben geltend.

Man wird indeß auch

das Sinken der Rentabilität in den vorhergehenden Jahren nicht aus­

schließlich einem Darniederliegen des Verkehrs zuschreiben dürfen: eö ist ja nur natürlich, daß bei zunehmender Verdichtung des Bahnnetzes immer mehr Bahnen gebaut werden, bei welchen eine stärkere Benutzung und eine höhere Verzinsung des Anlagekapitals von vorn herein ausge­ schlossen ist.

Dies würde freilich noch nicht eine Abnahme der Ge-

sammtbetrtebSeinnahmen erklären,

wie sie 1877/1878 (um etwa

5 Mill. M.) und 1878/1879 (um 3 Mill. M.) stattgefunden hat.

IV. Haben wir im Vorstehenden die Schwankungen in dem wirthschaftlichen Befinden der Bevölkerung zu ermitteln gesucht, wie sie durch Steuer­ einschätzungen und durch die erhöhte oder verminderte Benutzung gewisser

der Wohlfahrt dienender Anstalten zum Ausdruck gelangen, so möge jetzt noch gestattet sein, dem Einflüsse der ökonomischen Lage auf die Häufigkeit

der Konkurse, auf die Art und Zahl der Rechtsverletzungen, auf die Inanspruchnahme der öffentlichen Wohlthätigkeit und auf den Umfang

der Auswanderung eine flüchtige Betrachtung zu widmen. Daß für die Gestaltung des Volkswohlstandes die Statistik der

Konkurse, diese nur noch zu wenig bearbeitete Abtheilung der Justiz­

statistik, höchst bedeutsame Anhaltspunkte der Beurtheilung liefern kann,

*) Für 1880/81 Eigenthumslänge.

Die Schwankungen des Volkswohlstandes im Deutschen Reiche.

332

wird keiner wetteren Ausführung bedürfen.

Wenden wir uns zu den

Thatsachen. Es waren in Preußen (im Geltungsgebiet der Verordnung vom

2. Januar 1849) im Jahre 1875 2 635 Konkurssachen anhängig. 1878 war die Zahl auf 4 072 gestiegen.

Bis

Für 1880 giebt das Justiz­

ministerialblatt die Zahl 5 288, für 1881 5 116 an, wobei wie eS scheint

die obige Einschränkung nicht mehr gilt. In Sachsen ist nach der Zeitschrift deS K. Sächs. Stat. Bur. die

Zahl der zur Verhandlung gekommenen Konkurse von 509 im Jahr 1869 auf 557 im Jahr 1871 gestiegen;

1872 betrug sie nur 322, stieg aber

dann wieder von Jahr zu Jahr bis auf 884 im Jahr 1877.

Nach einer

Zusammenstellung von Stunitz im Jahrg. 1880 (S. 150—168)

der

genannten Zeitschrift (dieser Verfasser giebt durchweg kleinere Zahlen als die oben angeführte Uebersicht) haben seit 1877 die Konkurse abgenom­

Im genannten Jahre kamen nach diesem Verfasser auf eine Million

men.

Einwohner 207, im folgenden 181 und 1879 nur noch.152 Konkurse.

In Württemberg hat die Zahl der Gantprozesse von 1872 auf 1879 sich mehr als verdreifacht. (wenn

man

Verhältniß

das

1 ^S^ptember

Im der

letztgenannten Jahre betrug sie

neunmonatlichen

mit 2 983 Gantprozessen zu

Geschäftsperiode

Grunde legt) 3 977.

„Die Umgestaltung des Konkursverfahrens durch die Reichskonkursordnung hat auf die Verminderung der Konkurseröffnungen in solchem Maße ein« 1881 deren Zahl nur noch

gewirkt, daß im Geschäftsjahr

568 betrug.

Andererseits sind die bet den Amtsgerichten anhängig ge­

wordenen 2 752 Anträge auf Zwangsvollstreckung in das unbewegliche

Vermögen zum größten Theil als solche Fälle zu betrachten, welche unter

der Geltung des früheren Konkursrechts der Zahl der Gantprozesse htn-

zuzurechnen wären."

Aber selbst wenn wir alle diese Fälle zu der obigen

Zahl addiren, so ergiebt sich für 1881 doch gegen 1879 noch eine Vermin­ derung um 657.

ES liegt übrigens

auf der Hand,

daß sich der ge­

schäftliche Aufschwung nicht sofort durch, eine bedeutende Abnahme der Konkurse bemerklich machen kann. V.

Auch hinsichtlich der kriminal statistischen Ziffern sind wir, da eine Reichsstatistik der StraftechtSpflege zur Zeit noch nicht besteht, auf die Angaben aus den einzelnen Staaten angewiesen.

Aber auch inner­

halb der letzteren ist die Vergleichbarkeit der Zahlen für die einzelnen

Die Schwankungen des Volkswohlstandes im Deutschen Reiche.

333

Die Einführung

Jahre durch Aenderungen der Gesetzgebung beeinträchtigt.

des Reichs-Strafgesetzbuchs, das Inkrafttreten der Strafgesetznovelle vom

26. Februar 1876 und des Reichs-GertchtSverfassungSgesetzes vom 27. Ja­ nuar 1877 haben die Ziffern wesentlich beeinflußt und dazu kommt noch, daß seit 1880 die Erhebungen nach abweichender Methode auf Grund deS

Uebereinkommens der Bundesregierungen behufs einer künftigen ReichS-

Justizstatistik bearbeitet werden.

sind diese Mängel in Bezug

Indessen

auf unseren Zweck insofern nicht allzu sehr zu beklagen, als, wie wir

gleich sehen werden, die Schwankungen deS Volkswohlstandes in den Zahlen

der Kriminalstatistik doch keineswegs einen klaren und unzweideutigen Aus­

druck finden.

Kann auch

selbstverständlich der Einfluß der wirthschaft-

lichen Lage nicht geleugnet werden, so ist er doch mit mannigfaltigen anderen Einflüssen so eng verflochten, daß eS kaum möglich scheint, ihn gesondert herauszuheben.

Wir betrachten zuerst die Gestaltung der Kri­

minalität im allgemeinen, um dann zu den einzelnen Klassen der straf­

baren Handlungen überzugehen.

Von 1871 auf 1877 hat sich die Zahl der von den preußischen Schwurgerichten abgeurtheilten Verbrechen verdoppelt.

Wählt man jedoch

nicht das ungewöhnlich günstige Jahr 1871 zum Ausgangspunkt, sondern

z. B. das Jahr 1868, so erscheint die Zunahme weniger erschreckend.

Im

Jahr 1868 sind ungefähr 11000, 1878 14 000 Verbrechen schwurgericht­

lich abgeurtheilt worden.

Der Prozentale Fortschritt war in. den Jahren

1868, 1871, 1877, 1878 : 100, 58, 117, 128.

Im Jahr 1881 betrug

die Zahl der von den preußischen Schwllrgertchten in erster Instanz ver-

urtheilten Personen 3 636, d. i. 173 mehr

als im Vorjahr.

Von den

Strafkammern wurden 1881 in erster Instanz verurtheilt 56 602 Per­ sonen, 6 682 mehr als im Vorjahr.

Im Ganzen wurde 1881 in 47 Fällen

auf Todesstrafe, in 109 353 Fällen auf Zuchthaus erkannt. Im

Königreich Sachsen sind wegen

Vergehen und

Verbrechen,

Uebertretungen im Jahr 1871 9 883 Personen, 1875 14 783 Personen, 1878 19 565 Personen verurtheilt worden. In Bayern haben von 1872 auf 1876 die Verbrechen um 38 Pro­ zent, die Vergehen um 32 Prozent zugenommen.

gehen wurden 1881 60 733

im Jahr 1872

abgeurtheilt.

59 775,

1877

Hier ist also

seit

Verbrechen und Ver­ 90 342,

1877

1880 61077,

eine entschiedene

Besserung zu bemerken. In Württemberg wurden 1872 von den Oberamtsgerichten 6 217,

von den Kreisgerichten 1924, von den Schwurgerichten 153 Personen verurtheilt.

Im Jahre 1878 waren diese Zahlen auf

4 447 und 341 gestiegen.

11140,

bezw.

Im Jahre 1881 wurden durch Schöffengerichte

Die Schwankungen des Volkswohlstandes im Deutschen Reiche.

334

und Amtsrichter 11 798, durch die Strafkammern der Landgerichte 3 439

und durch die Schwurgerichte***) ) 265 Angeklagte verurtheilt. Im Ganzen ist die Zunahme der Reate in Deutschland während des Zeit­

raums 1871—1881 nicht zu leugnen; eine theilweise Besserung in den letz­ ten Jahren scheinen die bayrischen (vielleicht auch die Württembergischen)

Ziffern anzuzeigen.

Von einer Proportionalität mit dem Grade der wirth-

schaftlichen Bedrängniß kann jedoch keine Rede sein; denn erstens war die Zunahme der Kriminalität schon in den zwei oder drei fetten Jahren un­ mittelbar

nach dem französischen Kriege eben so stark wie in den nach­

folgenden mageren Jahren und zweitens sind gerade diejenigen Vergehen

und Verbrechen, welche auf erhöhte Nahrungserschwerung schließen lassen, die Angriffe auf das Eigenthum, insbesondere

die Diebstähle den auf­

gewiesenen Schwankungen am wenigsten unterworfen gewesen. Bei den Schwurgerichten im Königreich Preußen (alte Provinzen)

waren wegen Verbrechen

gegen das Eigenthum

im Jahresdurchschnitt

1864—69 auf eine Million Einwohner 86 Personen angeklagt; im Durch­ schnitt von 1872—74 betrug diese Zahl 82, 1875—78 85.

Im ganzen

preußischen Staate kamen auf eine Million Einwohner wegen schweren Diebstahls im

1875 53,

wiederholten Rückfall Angeklagte:

im Jahre 1872 63,

1878 69.

Im Königreich Sachsen wurden im Jahre 1871 8 272 Verbrechen,

Vergehen und Uebertretungen des Diebstahls und der Unterschlagung abgeurtheilt, 1877 12 539,

1878 (nach Dettingen) 10478.

In Bayern sind im Jahre 1872

15 021

und im Jahre 1877

17 754 Verbrechen und Vergehen des Diebstahls abgeurtheilt worden.

Im Jahre 1880 wurden wegen solcher Handlungen 14 511, im folgenden Jahre nur 13 424 Personen verurtheilt.

„Diebstahl ist entschieden in

Abnahme begriffen"*^). Die Gesammtzahl der bei den Württembergischen Oberamts-, KreiS-

und Schwurgerichten vorgekommenen Verurtheilungen wegen Diebstahls (Uebertretungen, Vergehen und Verbrechen) betrug in den Jahren 1872, 1875, 1878: bezw. 2418, 2579, 3180.

Wir finden also allerdings wenigstens bis zum Jahre 1877 überall eine Zunahme des Diebstahls, aber dieselbe ist unerheblich verglichen mit

derjenigen der Vergehen und Verbrechen gegen die Person und die Sitt­

lichkeit und wider die öffentliche Ordnung.

1871—77 haben in Preußen

*) Die Thätigkeit der Schwurgerichte ist durch die «eue GerichtSverfaffung einge­ schränkt worden. **) Strafanstaltsdirektor Streng in einem Referat über die bayrische Kriminalstatistik in der Zeitschrift „Der Gerichtssaal" Bd. 35 H. 4 S. 259. Diesem Referat sind die meisten unserer Ziffern betr. die bayr. Strafrechtspflege entnommen.

die schwurgerichtlich abgeurtheilten Berbrechen gegen die Sittlichkeit um 294, die schweren Körperverletzungen um 84, dagegen schwere Diebstähle nur um 38 Prozent zugenommen.

In Sachsen war der Fortschritt 1871

bis 1878 bei den Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit 414 Pro­

zent, bei den Verbrechen und Vergehen wider das Leben 556 Prozent, bei Diebstahl und Unterschlagung blos 46 Prozent.

In Bayern kamen im

Jahre 1872 476, dagegen 1878 1 189 Verbrechen und Vergehen wider die

Sittlichkeit zur Aburtheilung.

Im Durchschnitt 1872—75 fanden

jährlich 16 000 Aburtheilungen wegen Körperverletzung statt.

Nach Ein­

führung der Novelle von 1876 stieg die Zahl auf 27 979 im Jahre 1877,

fiel aber wieder auf 22 319 im Jahre 1879.

Mit Einführung

der

Reichs-Strafprozeßordnung wurde die gerichtliche Verfolgung leichter Körper­

verletzungen eingeschränkt.

1880

fanden

10 909,

1881

11957

Ber-

urtheilungen wegen Verbrechen und Vergehen der Körperverletzung statt. In Württemberg sind von den Oberamts-, Kreis- und Schwurgerichten

zusammen in den Jahren 1872, 1875 und 1878 wegen Verbrechen und

Vergehen

der

vorsätzlichen Körperverletzung,

Verbrechen

der

schweren

Körperverletzung und des TodtschlagS 627, bezw. 840 und 2 070 Straf­

urtheile

gefällt worden.

Wegen unzüchtiger Handlungen (§§ 173, 176

bis 178) fanden in den genannten Jahren 45, bezw. 60 und 105 schwur­ gerichtliche Berurtheilungen statt.

Die überall wahrzunehmende starke Vermehrung der SlttltchkeitSver-

brechen hängt allerdings damit zusammen, daß vor der Novelle von 1876 die Verfolgung in Fällen der §§ 176 und 177 nur auf Antrag, seit 1876 dagegen von Amtswegen

geschah.

Auch bei den Körperverletzungen hat

die Novelle von 1876 während des Zeitraums 1876—79 eine scheinbare

Steigerung hervorgerufen.

In beiden Kategorien von Delikten war jedoch

eine bedeutende Vermehrung auch schon von 1872 auf 1876 eingetreten. Man wird daher, wenn man alles in Betracht zieht, doch bestimmt be­

haupten

können, daß die Zunahme der Diebstähle mit der allgemeinen

Zunahme der Kriminalität nicht gleichen Schritt gehalten, sondern hinter

dieser zurückgeblieben ist.

Dies wird auch von Stursberg*) und Det­

tingen**) bestätigt, welche freilich auf die oben hervorgehobenen Aen­ derungen der Strafgesetzgebung zu wenig Rücksicht nehmen. DaS Ergebniß unseres Ueberblicks über die kriminalstattstischen Daten ist fast durchaus ein negatives.

Nicht bloß haben Aenderungen der Ge­

setzgebung und der statistischen Bearbeitungsweise die Ziffern beeinflußt, *) „Die Zunahme der Vergehen und Verbrechen." Düffeld. 1878. S. 20. **) Alex. v. Dettingen, die Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine Socialethik, 3. Anst. 1882. S. 476 f.

Die Schwankungen des Volkswohlstandes im Deutschen Reiche.

336

sondern auch die thatsächliche Zunahme der Kriminalität gestattet keinen

Rückschluß auf die wirthschaftliche Lage, weil von dieser Zunahme gerade

diejenigen Handlungen, werden pflegen,

welche durch

Mangel und Roth veranlaßt zu

verhältnißmäßig am wenigsten betroffen wurden.

Wir

sind eben darum auch kaum berechtigt, die theilweise Besserung während

der letzten Jahre als Folge und Beweis gebesserter ökonomischer Ver­ hältnisse zu betrachten.

VI.

Enger als das eigentliche Verbrecherthum hängt das Vaganten­

wesen mit dem wirthschaftlichen Nothstände zusammen.

So allgemein

nun auch die Klage über das erschreckende Ueberhandnehmen dieser Land­ plage ist*), so unmöglich ist eS doch, auf Grund der wenigen zuverlässigen

Angaben einen allgemeinen Ueberblick zu gewinnen**). Daten.

Hier nur einige

In der Provinz Hannover betrug 1878 die Zahl der detinirten

Corrigenden 913 gegen nur 177 im Jahre 1871. Correctionsanstalten, deren Jnsaßen fast

In 16 preußischen

ausschließlich zu der hier in

Betracht kommenden Kategorie gehören, waren untergebracht

im Jahr 18743 711 Männer und

644 Weiber





1875

4 303





717







1876

5 236





848







1877

6 046





911



Nach einer anderen Angabe ist im preußischen Staate die Zahl der

Jnsaßen von Arbeitshäusern in dem Zeitraum 1874—81 von 4534 auf 15 721 gestiegen — also eine Zunahme von 246 Proc., während die Be­ völkerung um 8 Proc. zugenommen hat.

Im Königreich Sachsen wurden wegen Bettelns und VagirenS bestraft 1879 (II., III., IV. Quartal) und 1880 (I. Quartal)

26 587 Personen

1880 (I., II., III., IV. Quartal)...................................

22 337



Also seit 1879 eine entschiedene Besserung; doch fehlen vergleichbare

Ziffern früherer Jahre.

Die Zahl der ArmenhauS-Jnsaffen hat sich in

Sachsen in Folge der Errichtung von Bezirksarmenhäusern bet strenger Handhabung der Armenaufsicht bedeutend verringert. Im Jahre 1864 kamen solcher Pfleglinge 75, im Jahr 1880 nur noch 41 auf 100000 Einwohner***). *) Wobei freilich meist alles in einen Topf geworfen und jeder hilfsbedürftige Wan­ derer als „Stromer" oder „Landstreicher" charakterisirt wird. **) Als erste Anregung zu einer Reichs-Armenstatistik begrüßen wir das Rund­ schreiben des Reichskanzlers an die deutschen Regierungen vom 11. Juni 1881 be­ treffend die Nachweisung derjenigen Personen, welche der Armenpflege der OrtSarmenverbände anheimgefallen stnd im Jahre 1880 (1880/81, Herbst 1881). ***)' Aber überhaupt öffentliche llnterstütznng genoffen in Sachsen im Jahre 1880 93 699 Personen oder 3,15 Proc. der Bevölkerung.

Nicht allein in dem Geltungsgebiete des Reichsgesetzes

Unterstützungswohnsitz,

unter der Herrschaft

auch

des

über den

HeimathsystemS

hatte bis 1878 die Landstreicherplage einen bedeutenden Umfang erreicht,

wie folgende Ziffern auS dem Königrekch Bayern beweisen.

ES betrug

daselbst die Zahl der abgeurtheilten Fälle von Bettel, Landstreicherei rc. I. absolut

im Durchschnitt auS 1862—71 „ ff



„ ff

ff ff

Jahr ff

II. auf 100 000 Einw.

42 019

873

1872

39 420

805

1873

36 831

745

Durchschnitt auS 1874—76

37 941

821

1877

78 258

1532

ff

1878

110005

2123

ff

1880

101 493

1 922

ff

1881

96 258

1802

Sahr

Im Jahre 1878 wurde also der Höhepunkt erreicht, seitdem ist eine

kleine Besserung eingetreten. In Württemberg wurden 1880 durch Strafbefehl der Amtsgerichte

8 758 Bettler und Landstreicher verurtheilt.

1881 ist die Zahl auf 4 260

gefallen. Auch in Elsaß-Lothringen ist neuerdings eine Besserung eingetreten, welche zum Theil dem energischen Einschreiten der Behörden, zum Theil

aber ällch dem wirthschaftlichen Aufschwung zugeschrteben wird. der daselbst wegen Bettelns

und

Die Zahl

Landstreicherei Berurtheilten ist von

7 983 im Jahre 1881 auf 6 828 im Jahre 1882 gesunken. Ein erhebliches Anwachsen der Armenlast ist fast überall zu con-

statiren.

ES erhöhten sich beispielsweise von 1875 bis 1878 die Aus­

gaben der Landarmenverbände im Königreich Sachsen*) von 4,6 auf 10,3, in Posen von 3,9 auf 6,1, in Mecklenburg von 5,8 auf 11,8, im Groß-

herzogthum Baden von 6,4 aus 17,8 Pfennig pro Kopf der Bevölkerung.

In der Provinz Hannover betrug im Jahr 1877 die Zahl der öffent­ liche Unterstützung genießenden Personen 59 332 gegen 51587 i. I. 1875.

Die Zunahme betraf wie überall besonders die Städte.

In der Provinz

Schleswig-Holstein wurden i. I. 1874 dauernd unterstützt 310 Land­ arme mit einem Aufwande von 27 794 M.; dagegen i. I. 1877

671 Per­

sonen mit 64 223 M. und i. I. 1879 1088 Personen mit 99 824 M.

Auf nur vorübergehende Unterstützungen wurde in den genannten Jahren

verwendet 14 464, bezw. 39 109 und 68 476 M.

Die Zahl der vorläufig

Unterstützten hatte sich in diesem Zeitraum fast versechsfacht. *) Die Kosten für die s-ichs. Landarmen beliefen stch im Jahre 1877 auf 215 000 M., 1880 auf 402 000 M-, 1881 auf 448 000 M.

Die Schwankungen de- Volkswohlstandes im Deutschen Reiche.

338

In der Provinz Sachsen wurde an fortlaufenden Unterstützungen verausgabt 1873 für 1017 Personen 57 881 M., 1876 für 922 Personen

57 126 M., 1878/79 für 1188 Personen 84 174 M. der Aufwand für vorläufige Unterstützungen.

Weit rascher wuchs

Solche erhielten i. I. 1873

600 Personen, 1876 1 156 Personen, 1878/79 2 232 Personen. Die UnterstützungSsumme betrug 16 277, resp. 26 233 und 49 605 M.

In Berlin wurde von der „offenen Armenpflege" für laufende Unter­ stützung Erwachsener im 1626 000 M. ausgegeben.

Jahre 1871/72 etwa 1 Million M., 1878/79

Die Zahl der Almosenempfänger stieg aber

in derselben Zeit nur von 1,05 auf 1,13 Prozent der Bevölkerung. Einer ausnehmend günstigen Lage scheint sich das Großherzogthum

Oldenburg zu erfreuen.

ES hat sich dort, trotz der Zunahme der Be­

völkerung die Zahl der Unterstützten sowie der Aufwand der Armenver­

bände seit 1870 fortwährend, wennschon nicht erheblich vermindert.

In­

dessen gehen die Angaben nur bis zum Jahre 1876 herunter.

Auch Bayern präsentirt sich vortheilhast.

ES belief sich hier die

GesammtauSgabe für öffentliche Armenpflege im Jahre 1877 auf etwa 6,6 Mill. M. (mit den Stiftungen und Vereinen etwa 11 Mill. M.) und traf davon auf den Kopf der Bevölkerung 1,19 M. gegen 1,05 M. i. I. 1871.

Aber die Zahl der Unterstützten hatte abgenommen; eS trafen davon im

Jahre 1877 auf 10000 Einwohner 147, gegen 162 im Jahre 1871*). Für Württemberg liegt eine durch das K. Ministerium veranlaßte Erhebung vor.

Danach ist die Zahl der Personen (OrtS- und Landarme

zusammen), welche nicht bloß vorläufige öffentliche Unterstützung empfingen,

von 36 756 i. I. 1871/72 auf 47 588 i. I. 1879/80 und gleichzeitig der Gesammt-Armenaufwand von 1 849 000 auf 2 565 000 Mark gestiegen. Mithin hat sich die Zahl der Unterstützten um 29 Proc., der Gesammt-

aufwand um 39 Proc. vermehrt, während die Bevölkerung um 8,5 Proc. zugenommen hat. Der Gesammt-Armenaufwand pro Kopf der Bevölkerung

betrug i. I. 1871/72 1,02 M., i. I. 1879/80 1,31 M. oder 28,4 Proc. mehr.

Die Steigerung betrifft hauptsächlich die Städte und Jndustriebe-

zirke, während sogar stellenweise eine Entlastung der ländlichen Bezirke

stattfand.

Dieses Anwachsen der Armenlast in den Jndustriecentren ist,

wie schon erwähnt, eine allgemeine und leicht zu erklärende Erscheinung. Im Blick aufs Ganze wird wohl nicht zu bezweifeln sein, daß seit 1871 die Zahl der Unterstützten und Unterstützungsbedürftigen in Deutsch­

land beträchtlich zugenommen hat; wo uns jedoch die Ziffern der letzten

*) Beim Vergleich mit dem benachbarten Württemberg möchte man hier doch einen Einfluß des in Bayern beibehaltenen HeimathsystemS erkennen.

Jahre zur Vergleichung vorliegen*), da lassen dieselben eine wenngleich noch nicht sehr erhebliche Besserung erkennen.

VII.

So wenig aus hohen Kriminalitätsziffern ohne weiteres auf Noth und Verarmung geschlossen werden darf, ebensowenig ist ein solcher Schluß hinsichtlich der Auswanderung zulässig. Die Höhe der Auswanderungs­ ziffer hängt ja nicht allein von den Zuständen des entlassenden, sondern

ebenso sehr von denjenigen des aufnehmenden Landes ab. müssen bei der Beurtheilung

Insbesondere

der niedrigen Auswanderungsziffern der

Jahre 1874—79 und der hohen seit 1879 die Verhältnisse in den Ber­ einigten Staaten mitberücksichtigt werden.

Die Zahl der von Bremen, Hamburg, Stettin und Antwerpen aus nach überseeischen Ländern beförderten deutschen Auswanderer betrug im

Durchschnitt der 10 Jahre 1872—81 jährlich 72 979 und zwar in der ersten Hälfte dieses Zeitraums durchschnittlich 66 708, in der zweiten

Hälfte 79249.

Charakteristischer aber sind folgende Zahlen:

Jahresdurchschnitt 1872—73 etwa 114 600 Personen „



1874—79







1880-81



30 600 158 400

Diese letztere Durchschnittszahl wurde im Jahre 1881 (211 000 Aus­ wanderer) und (nach vorläufigen Nachrichten) auch im Jahre 1882 noch

übertroffen.

Daraus möchten wir aber doch keineswegs den Schluß ziehen,

daß sich seit 1879 die ökonomische Lage in Deutschland noch verschlimmert habe; eher möchten wir darin ein Zeichen sehen, daß der wirthschaftliche Heilungsprozeß fortschreitet, indem eine wachsende Anzahl von Personen,

von richtigem Urtheil oder Instinkte geleitet, allmältg durch Sparsamkeit die Mittel zur Auswanderung zusammenbringt.

*

*

*

Wenn wir nun abschließend unseren Befund überblicken, so müssen

wir zuvörderst bekennen, daß uns derselbe nicht gestattet, die im Eingänge gestellte Frage mit der wünschenswerthen Genauigkeit zu beantworten. Ob das durchschnittliche Einkommen

auf den Kopf der deutschen Be­

völkerung seit 1871 gestiegen und zwar mehr gestiegen ist, als die Ver­

minderung der Kaufkraft des Geldes beträgt, dies wagen wir weder zu bejahen noch zu verneinen.

Im Ganzen zeigen

die statistischen Ziffern

wohl keine so

erheblichen Schwankungen

schweren Krise,

welche das Reich durchgemacht, vermuthen könnte.

als man in Anbetracht der

*) z. B. in Bezug auf das Vagantenweseu in Bayern.

Ist

Die Schwankungen des Volkswohlstandes im Deutschen Reiche.

340

doch die Zahl der Einkommensteuerpflichtigen in Preußen (mit Einkommen

über 3000 M.) und Hamburg (mit Einkommen über 600 M.) viel rascher gestiegen als die BolkSzahl, sind doch die eingelegten Gelder der Spar­

kassen und die Versicherungssumme bei den Lebensversicherungsanstalten

von Jahr zu Jahr angewachsen, hat doch der Personen- und Güterverkehr auf der Eisenbahn fast ununterbrochen zugenommen.

Aber fast überall

konnten wir doch auf die Zeichen der wirthschaftlichen Störung Hinweisen.

Die Steuerstatistik ließ in Preußen und Sachsen die rasche Zunahme der unbemittelten Klasse und das Sinken des Durchschnittseinkommens (in Preußen 1876—81, in Sachsen 1875—78) erkennen*); bei der Benutzung der Sparkassen und der Lebensversicherungsanstalten zeigte sich von 1874 bis 1877 bezw. 1878 eine abnorme Verzögerung des Fortschritts; die Frequenz

der Eisenbahnen ist nicht der BolkSzahl und der Bahnlänge

proportional gewachsen.

Endlich haben die Statistik, der Konkurse und

die Erhebungen über den Umfang des LandstretcherthumS und der Armen­ unterstützung dem Gesammtbilde noch einige dunklere Züge geliehen.

Da­

gegen hielten wir eS auS oben angeführten Gründen für unzulässig, die

Zunahme der Kriminalität und der Auswanderung (seit 1879) als Be­

weis für wachsende wirthschaftliche Bedrängniß in Anspruch zu nehmen. Zusammenfassend wird man sagen können:

Die im Jahre 1873 einge­

tretene wirthschaftliche Depression hat sich fast auf keinem der betrachteten

Gebiete verleugnet; hier früher, dort später, hier tiefer, dort oberfläch­

licher eingedrückt, ließen ihre Spuren sich beinahe überall nachweisen. Vielleicht hat sich im Großen und Ganzen die ökonomische Lage der Be­ völkerung nicht verschlimmert, aber schon, daß sie sich nicht, wie in den

vorangegangenen Jahrzehnten, merklich gebessert hat, ist als abnorm, als eine Störung und Hemmung des Kulturfortschrittes zu betrachten.

Was die Frage betrifft, ob sich in den letzten Jahren ein Um- und

Aufschwung vollzogen, so ist vor allen Dingen daran zu erinnern, daß eine ganz

bestimmte und dabei unbefangene, lediglich auf Thatsachen

fußende Entscheidung zur Zeit schon deshalb kaum möglich ist, weil natur­ gemäß

das statistische Material für die letzten Jahre nur sehr unvoll­

ständig zu Gebote steht.

Dem aufmerksamen Leser wird eS nicht ent­

gangen sein, daß unsere Ziffern mehrfach nur bis zum Jahre 1878 reichen und daß in anderen Fällen — besonders bet der Justizstatistik — die

neueren Zahlen keine Vergleichung mit den älteren gestatten.

Schwierigkeiten,

Andere

welche aus der Natur des gegebenen Materials ent-

*) Im Gegensatz hiezu ergab freilich di« Veranlagung zur württemb. Kapitalein­ kommensteuer eine starke Erhöhung, welche durch die oben angeführten Momente kaum hinlänglich - erklärt sein dürste.

Die Schwankungen des Volkswohlstandes im Deutschen Reiche. springen, sind ihres OrteS erwähnt worden.

341

Dies vorauSgeschtckt, können

wir auf Grund der hier zusammengestellten Thatsachen sagen: Eine deut­

liche Wendung zum Besseren zeigen die Einschätzungsergebnisse in Sachsen, wo seit 1878 das Durchschnittseinkommen auf den Kopf der Bevölkerung

wieder gestiegen ist, ferner die Sparkassenbenutzung in Preußen (seit 1877)

das deutsche Lebensversicherungsgeschäft (seit 1878) und die Frequenz der deutschen Eisenbahnen (seit 1879).

Auch hinsichtlich der Konkurse und

des Vagantenwesens scheinen die letzten Jahre eine Besserung gebracht zu

haben.

Auffallend ist, daß die preußischen Steuereinschätzungsergebnisse,

die unö bis 1882 vorlagen, im Ganzen noch

keine günstige Wendung

erkennen lassen; dies ist jedoch, wie oben auSgeführt wlirde, möglicher­ weise nur eine Folge veränderter Einschätzungspraxis.

Daß sich die

wirthschaftliche Lage in Preußen in den letzten Jahren nicht verschlimmert, sondern

eher gebessert und eine hoffnungsvollere Stimmung sich Bahn

gebrochen hat, darauf deutet unter anderem jedenfalls die Thatsache, daß in Preußen wie im ganzen Reiche die Zahl der Eheschließungen, welche

seit 1872 von Jahr zu Jahr gesunken war, im Jahre 1880 endlich wieder

zugenommen und daß diese Zunahme auch im Jahre 1881 fortgedauert hat.

Möge die Zukunft die angeführten, immer noch vereinzelten Zeichen

deS wirthschaftlichen Emporganges bestätigen!

Die neuen Regeln der Geschäftsordnung des Hauses der Gemeinen in England.

Die Geschäftsordnung deS Hauses der Gemeinen in England, wie sich

dieselbe bis zum Jahre 1879 gestaltet hatte, findet sich in dem Werke von

Sir T. ErSkine May

„das englische Parlament und sein Verfahren"

(8. Auflage*)) dargestellt und erläutert.

In diesem Werke wird bereits

darauf hingewiesen, daß die Regeln der Geschäftsordnung mißbraucht

worden seien, um den Fortgang der Arbeiten deS Hauses zu hemmen.

Der Verfasser bemerkt, daß Maßregeln würden getroffen werden müssen, um das Ansehen des Parlaments zu wahren, und ein ernstes politisches

Uebel zu beseitigen. Im Beginne deS Jahres 1880 beantragte denn auch der Schatzkanzler Sir Stafford Northcote, ein Mitglied des damaligen TorykabinetS, die

Annahme einer Resolution, kraft deren Mitglieder, welche die Regeln der

Geschäftsordnung mißbrauchen, um der Geschäftserledigung des Hauses Hin­ dernisse in den Weg zu legen, sollten für kürzere oder längere Dauer suSpendirt werden können.

Nach Debatten, welche mehrere Sitzungen ausfüllten,

gelangte die Resolution zur Annahme.

Obwohl in diesen Debatten, die

dem englischen Unterhause fremde „Clotüre", das ist das Recht des HauseS

auf Antrag den Schluß der Debatte zu beschließen, zur Sprache kam, fand sich Niemand, der einen Antrag in dieser Richtung vorzugehen stellte.

Die Clotüre wurde als ein Eingriff in die Redefreiheit, als eine Bexgewaltigung der Minderheit betrachtet. Die neue Regel der Geschäftsordnung**) vermochte jedoch nicht, die

Erledigung der gesetzgeberischen Arbeiten des Hauses wesentlich zu fördern. Im Februar 1882 sah sich Mr. Gladstone, der Premier der StaatS-

regierung, veranlaßt, dem Hause eine Reihe von Resolutionen zur Be­ schlußfassung vorzulegen, welche tiefgehende Aenderungen der Geschäfts*) Deutsch übersetzt und bearbeitet von O. G. Oppenheim ObertribunalSrath a. D. **) Preußische Jahrbücher 1880 S. 414 flg.

ordnung

enthielten.

Die vorgeschlagenen Resolutionen bildeten in der

Presse wie in öffentlichen Versammlungen vielfach den Gegenstand der

Besprechung.

Sie erfuhren einerseits heftigen Tadel, andererseits leb­

haften Beifall. Diese Resolutionen zerfielen in zwei Theile.

faßte Bestimmungen, welche dauernd

Der erste Theil um­

der Geschäftsordnung einverleibt

werden, der zweite Theil Bestimmungen, welche nur für die nächstfolgende Sitzungsperiode gelten sollten.

Unter den ersteren nimmt die Clotüre

eine hervorragende Stelle ein; eS folgen andere, welche Anträge aus Ver­

tagung deS Hauses, auf Vertagung der Debatte und ähnliche, gleichwie die Diskussion über dergleichen Anträge beschränken.

Sodann enthielten

sie eine Beschränkung bezüglich deS Antrages auf förmliche Abstimmung auch einen Modus, einem Mitglied« das Wort zu entziehen.

Eine weitere

Bestimmung betraf die sogenannte 12'/, Uhr Regel, durch welche verhütet werden soll, daß nach Mitternacht wichtige neue Gegenstände zur Ver­ handlung gelangen.

Auch sollte die gegen das Obstruktionswesen ge­

richtete neue Regel vom 28. Februar 1880 eine Verschärfung erfahren. Der zweite Theil der von Mr. Gladstone vorgeschlagenen Resolutionen

bezweckte dem Hause die Befugniß zu geben, Vorlagen nicht politischen Charakters statt, wie eS die Regel war, dem Ausschuß des ganzen Haufes

zu überweisen, von zwei Fachausschüssen berathen zu lassen, welche ein jeder auS mindestens 60 und nicht mehr als 80 Mitgliedern bestehen und öffentlich verhandeln sollten.

Die Rede, mit welcher Mr. Gladstone die Resolutionen im Februar

1882 dem Hause der Gemeinen unterbreitete, möge in der Kürze dahin zusammengefaßt werden*). Der Staatöregierung würde eS bei weitem erwünschter gewesen fein, wenn die Initiative zur Aenderung der Geschäftsordnung nicht ihr über­ lassen geblieben, sondern von dem Hause selbst ergriffen worden wäre. Die bisher stattgehabten Berathungen von Sonderausschüssen führten nie

zu einem genügenden Ergebniß.

Die StaatSregierung unterzieht sich der

Lösung einer sehr ernsten Aufgabe, die ihr an und für sich nicht obliegt; der äußersten Nothwendigkeit gehorchend thut sie dies, sich ihrer Verant-

Wörtlichkeit wohl bewußt.

ES ist ihre Pflicht,

mit dem ganzen Einfluß,

welchen sie besitzt, mit allen Mitteln der Ueberredung und ihres Gewichtes

im Hause nach besten Kräften rückhaltlos einzutreten, um das HauS aus einer peinlichen, sein Ansehn und seine Thätigkeit gefährdenden Lage zu

befreien.

In einer Angelegenheit, wie die vorliegende, war natürlich un-

*) Auszugsweise nicht wörtlich nach der Times vom 21. Februar 1882.

sere erste Pflicht, da wir von der Initiative des HauseS die Lösung der Aufgabe nicht erwarten durften, die Hülfe anerkannter Autoritäten soweit

ES ist kein Vertrauensbruch, wenn

erreichbar in Anspruch zu nehmen.

ich hervorhebe, daß wir mit den Autoritäten des HauseS und nothwendiger­ weise mit dem Herrn Sprecher, der seines Amtes in so würdiger Weise

waltet, in Verbindung getreten sind.

Wenn ich dies erwähne, so darf

auch nicht für einen Augenblick angenommen werden, daß ich direkt oder indirekt dem Herrn Sprecher eine Verantwortlichkeit aufzubürden beab­

sichtige.

Die volle ausschließliche Verantwortlichkeit übernehmen wir.

-

Meine Aufgabe ist es, mich vorzüglich der Erwägung der ersten Re­

solution

zuzuwenden.

Ich

ziehe

zunächst

dasjenige,

was

ich

darin

für das Wesentliche, den Lebensnerv erachte, in Betracht; ich gehe dabei

davon auS, daß daS Wirken und die Ehre des HauseS Maßregeln er­ heischt, welche dem vorhandenen Uebel in Wirklichkeit abhelfen, daß halbe

Maßregeln dasselbe nur zu verschlimmern geeignet sind.

Auf zwei Haupt­

punkte werde ich die Aufmerksamkeit deS HauseS zu lenken mich bemühen,

zunächst auf das stete Anwachsen der Arbeiten des Hauses, sodann auf die stete Abnahme deS Vermögens die Geschäfte zu erledigen.

Ich wende

mich zunächst dem steten Anwachsen der Arbeiten des Hauses zu. bitte daS Haus einen

Ich

kurzen Blick auf die Vergangenheit zu werfen,

welche den meisten Mitgliedern dieses HauseS sich als der Geschichte an­ gehörig darstellt, welche für wenige und mich Gegenstand der Erfahrung

ist.

Vor der Reform war eS für ein Mitglied deS Haufes leicht, den

körperlichen und geistigen Anstrengungen zu genügen.

Immerhin war die

Thätigkeit, in welche daS Mitglied deS Parlaments mit Einnahme feines Sitzes im Haufe eintrat, selbst damals eine nicht mühelose. Ich erinnere mich aus meiner Jugendzeit, in welcher ich von der Gallerie deS in­

zwischen niedergebrannten HauseS zuschaute, daß, wie gegenwärtig in dem anderen Hause des Parlaments, gewöhnlich zwischen 6 und 7 Uhr Abends daS Haus ganz selbstverständlich seine Thätigkeit beendet hatte und sich vertagen konnte.

Ausnahmen kamen natürlich vor.

Mit der Annahme der

ersten großen Reformbill trat eine fundamentale Aenderung ein.

Seit

dem Jahre 1833 machten sich die Anforderungen an daS Haus in em­

pfindlicher Welfe fühlbar; ihnen zu genügen wurden die größten An­

strengungen gemacht; die Anforderungen steigerten sich jedoch mehr und mehr.

Ich brauche nur auf die letzten 12, 6, 2 Jahre zu verweisen.

Zunahme der Arbeitslast war eine außerordentliche.

Die

Von den Ursachen

der Zunahme der Geschäfte mögen einige kurz erwähnt werden.

Seit

dem Jahre 1833 hat sich der Umfang des Reiches wiederholt und erheb­ lich erweitert, ja verdoppelt.

Dies geschah theils durch den Erwerb neuer

Territorien, theils durch die Kultivirung bis dahin unangebauter Terri­

torien.

Nicht allein durch die territoriale Erweiterung hat unsere Arbeits­

last sich erhöht, eö haben dazu auch die mit allen Ländern der Erde an­ geknüpften Handelsbeziehungen beigetragen.

Unsere Berührungspunkte mit

anderen Nationen haben sich derartig vervielfacht, daß sich gegenwärtig

kaum ein Ereigniß von Bedeutung auf irgend einem Punkte deS Erdballes

zutragen kann, welches nicht in unserem ganzen Lande Widerhall erweckt,

welches nicht in diesem Hause zur Sprache gebracht wird.

Erweiterungen des Geschäftskreises

Diese wichtigen

durch die Veränderung der

werden

Ansichten bezüglich deS Gebietes der Gesetzgebung und der Verwaltung

bei weitem übertroffen.

In der Zeit meiner Jugend wurde das weite

Feld der socialen Frage niemals als zur Kompetenz deS Parlaments ge­ hörend angesehen; niemals ist vielleicht zu viel gesagt; ich habe int Sinne, waS regelmäßig das Parlament beschäftigte. Gegenwärtig entstehen und

mehren sich dergleichen Fragen von Jahr zu Jahr, nehmen unsere Zeit in

ausgedehnter Weise

sollte,

in Anspruch.

erscheint nicht wahrscheinlich.

eine Minderung

Daß Sind

eintreten

die Fragen bezüglich

deS

Elementarunterrichts in England und Schottland in wichtigen Punkten er­ ledigt, so treten doch beständig immer neue, drückender werdende Aufgaben

an uns heran.

meine Pflicht

in

In dieser Lage betrachtete ich eS im August 1878 für einer Zeitschrift darauf hinzuweisen,

daß 22 wichtige

Gegenstände der Gesetzgebung, zweifellos dringliche, der Erledigung harrten.

Im August 1879 prüfte ich die Liste der zu abermals, und eS waren statt 22 deren 31. stände fanden seitdem ihre Erledigung.

erledigenden Gegenstände

Nur wenige dieser Gegen­

Wir werden zweifellos die Rück­

stände zu bewältigen außer Stande sein, wenn wir nicht zu neuen Maß­ nahmen

greisen.

Ohne solche werden die Rückstände

Arbeitslast, die Verlegenheiten

sich vermehren

anwachsen, die

und unser Ansehn sich

vermindern.

Fragen wir nun, tote hat sich das HauS verhalten? seinen Pflichten entzogen oder zu entziehen gesucht?

Hat es sich

Empfindet das Haus

die Arbeitslast als zu schwer und erachtet cs deren Verminderung für

nothwendig?

Nach dem Reformact belief sich die Zahl der Stunden, in

welchen daS HauS Sitzung hielt, auf 1114.

man ging zurück auf

1056, 957, 943.

Das fand man unerträglich;

Im Jahre 1881

betrug die

Stundenzahl aber 1400; die Stunden nach Mitternacht stiegen in diesem Jahre auf 238 (früher 100). 6 Monaten auf 8 Monate.

Die Sitzungsperiode erweiterte sich von

Ich erwähne dies nicht, weil das Haus der

Gemeinen vor Erfüllung seiner Pflicht zurückschreckt, sondern, weil der gegenwärtige Zustand Kraft, Gesundheit und Leben zu zerstören droht. Preußische Jahrbücher. Bd. LIL Heft 4. 23

Die Vorschläge, welche wir zur Abhülfe des Uebels machen, sondern

sich in zwei Theile; der eine hat daS Verfahren, der andere die Theilung

der Arbeit zum Gegenstände; der letztere soll nur ein Versuch sein.

Ob­

wohl die daS Verfahren betreffenden Bestimmungen von vitaler Wesent­

lichkeit sind, so ist die Theilung der Arbeit nach meiner Meinung von noch höherer Wichtigkeit.

Ohne eine solche wird das HauS sich den ihm

gegen daS Land obliegenden Pflichten nicht gewachsen zu zeigen vermögen. Wiederholt jedoch erfolglos sind Schritte gethan, dem Uebel abzu­ helfen. Seit dem Reformact waren es 14 Sonderausschüsse (im Ganzen 21),

welche über diesen Gegenstand berathen haben.

In den

letzten Jahren

gelangte ihre Thätigkeit zu wenig mehr als zu einem Protest gegen den gegenwärtigen Zustand.

Die Privilegien der Mitglieder dieses Hauses

haben in den verflossenen Jahren bereits

wesentliche Einbuße erlitten.

Im Jahre 1833, als ich zum ersten Mal die Ehre hatte, einen Sitz in diesem Hause einzunehmen, boten die Vormittagssitzungen den Mitgliedern Gelegenheit, die von ihnen vertretenen Petitionen einzubringen und nach

ihrem Ermessen zu befürworten.

wies sich als geboten.

Eine Beschränkung dieses Rechtes er­

Eine andere wichtige Beschränkung in den Privi­

legien der Mitglieder bestand in der Abschaffung deS Rechtes, gelegentlich

eines jeden Antrages, der Sprecher solle seinen Sitz verlassen, damit daS HauS sich in den Ausschuß verwandele, daran eine beliebige Debatte zu knüpfen.

Dennoch hat das Uebel sich verschlimmert.

Die Arbeitslast ist

drückender, die Rückstände sind zahlreicher geworden, die Unzufriedenheit mit dem Swcken der Gesetzgebung steigert sich und wird lebhafter.

Die

Nothwendigkeit einer weiteren Beschränkung der Debatten wird von den

erfahrensten Mitgliedern dieses Hauses,

täten anerkannt. sich bedient haben.

von dessen bewährtesten Autori­

Ich nehme auf die Worte Bezug, welcher Sie, Sir*),

Sie äußerten am 2. Februar 1881:

„Dem Befinden des Hauses muß ich überlassen, für die Zu­ kunft Maßregeln zur Regelung der Debatte zu treffen; hinzufügen möchte ich jedoch: eS ist nothwendig, daß das HauS selbst eine

eingreifende Kontrole seiner Debatten übernimmt, oder dem Vor­ sitze ausgedehntere Befugnisse ertheilt." Auch auf eine andere hervorragende Autorität darf ich mich berufen.

Lord EverSley empfahl im Jahre 1848 dem Ausschüsse in einer Zeit, als das Uebel, welches gegenwärtig eine riesenhafte Gestalt angenommen hat, noch klein war, eine Regel behufs Beschränkung der Debatte bezüg­

lich deS Antrages auf Vertagung der Debatte.

Es ist bemerkenSwerth,

*) Die Anrede ist, wie üblich, an den Sprecher des Hanse- gerichtet.

daß dies vor mehr als 30 Jahren von einem Manne empfohlen wurde, welcher das Vertrauen des Hauses in einem Maße besaß, das selbst von

dem, welches Sie, Sir, genießen nicht übertroffen wird, welcher schon da­ mals empfand, daß das HauS zur Beseitigung der Hemmnisse Bestim­ mungen erlassen müsse.

Von geringerem Gewicht, indeß erwähnenSwerth,

sind die Erfahrungen anderer gesetzgebender Versammlungen, welche für

nothwendig gefunden haben, eine Regel bezüglich des Schlusses der De­ batte anzunehmen.

Man kennt den Antrag auf Schluß der Debatte in

Frankreich, Italien, Deutschland, Oestreich — bezüglich Oestreichs befinde

ich mich vielleicht im Irrthum — in Holland, in den Vereinigten Staaten von Amerika.

Diese Regel ist nicht

eine Erfindung des

Auslandes;

unsere Kolonien, in welchen sich der britische Charakter abspiegelt, haben

zum großen Theile die Nothwendigkeit erkannt, auf jenes System einzu­

gehen, obwohl sie unS in ihren politischen Anschauungen gleichen, obwohl sie die Freiheit, die Redefreiheit nicht minder hoch halten als wir. die Befugniß

der Versammlung,

Wäre

den Schluß der Debatte eintreten zu

lassen, etwas Neues, so könnten die daran geknüpften Befürchtungen be­ rechtigt erscheinen.

Gewicht würde ich auf dieselben legen,

Grund gemachter Erfahrungen

die Befugniß wieder

wenn auf

aufgehoben wor­

den wäre. Obwohl bei dem steten Anwachsen der Arbeit für uns die dringendste Veranlassung vorlag, einen Weg zu betreten, den andere volkSthümliche

Versammlungen einschlugen, so haben wir unS das versagt.

Ich klage

deshalb Niemand an; ich selbst habe mich mit dem größten Widerstreben von der Nothwendigkeit eines Schrittes in jener Richtung überzeugt.

Aus

Liebe zur Freiheit des Wortes darf man Ausschreitungen, wenn sie selbst

in Frivolität ausarten, dulden.

Ich tadele deshalb die von dem Hause

geübte außerordentliche Geduld nicht;

eS giebt indeß eine Grenze, über

welche hinaus die Dinge nicht treiben dürfen.

Ich wünsche das HauS zu

überzeugen, daß wir an dieser Grenze angelangt sind.

Die hervortretcnden Züge des vorhandenen Uebels sind, wie erwähnt,

das Anwachsen der Arbeit und die verminderte Fähigkeit dieselbe zu be­ wältigen.

Unter der letzteren verstehe ich die geminderte Macht dieser

Versammlung über ihre Mitglieder.

Vor 30, 40, 50 Jahren fand der

allgemeine Wunsch, eine Debatte zu schließen, bei jedem Mttgliede stets Berücksichtigung; gegenwärtig ist dies nicht allseitig der Fall.

Zeit ein

gewöhnliches Vorkommniß,

ES ist zur

daß die ausgedehntesten Debatten

durch Reden, welche das HauS nicht weiter zu hören wünscht, verlängert werden und daS auch, wenn nach dem allgemeinen Urtheil des HauseS der Gegenstand der Berathung

nach

allen Richtungen erörtert und zur 23*

Beschlußfassung reif ist, sodaß eine Fortsetzung der Debatte die UrtheilSfühigkcit deS Hause- nicht allein nicht fördert, dieselbe vielmehr mindert. Durch Vertagung-anträge und andere wohl bekannte Mittel, welche die geltende Geschäftsordnung zuläßt, dem unzweifelhaften Willen deS Hause-, nicht etwa einer Partei, nicht etwa einer bloßen Mehrheit, sondern dem offenkundigen Willen deS Hause- sich zu widersetzen, ist gegenwärtig etwaGewöhnliche-. In früherer Zeit besaß da- Hau- thatsächlich die Macht, eine Debatte zu schließen, indem, wenn eS den Wunsch nach Schluß zu erkennen gab, die Mitglieder — trügt mich mein Gedächtniß nicht — diesem Wunsche regelmäßig entsprachen. Da» hat sich geändert, und dieser Umstand ist die Hauptveranlaffung unserer Anträge. Wenn ich Thatsachen ernster Natur zu erwähnen genöthigt bin, welche Anschuldigungen gegen bestimmte Mitglieder deS Hause- enthalten, so bin ich doch weit entfernt, deren Charakter und Ehrenhaftigkeit an­ greifen zu wollen. Ich bezweifele keinen Augenblick, daß sie handeln, wie ihr Gewtffen, ihre Vaterlandsliebe, wie sie solche auffassen, ihnen gebietet. Ich wende mich dem Verhalten zu, welche- Obstruction genannt wird. Davon eine Definition zu geben, ist nicht leicht. Ich will auszudrücken versuchen, waS ich darunter verstehe. Mir scheint c- da- Bestreben, sei e- einer Minderheit des Hause-, sei eS einzelner Mitglieder zu sein, sich dem vorwaltenden Willen de- Hause- durch andere Mittel al- durch Geltendmachen von Gründen (argument) zu widersetzen. Ein hartnäckigeWiederholen von Gründen möchte ich nicht immer ein obstructive- nennen. Handelt eS sich um Neuerungen, welche die Grundlagen der Gesellschaft berührende Prinzipienfragen involviren, Fragen, welche fern liegen, im Hause bisher nur selten zur Sprache gekommen sind und deshalb von allen Seiten beleuchtet werden müssen, in solchen Fällen muß da- Hau­ selbst ermüdenden Ausführungen und Wiederholungen gegenüber bis zu einer gewissen Grenze Nachsicht üben. DaS aber sind besondere Ausnahme­ fälle, welche nicht als allgemeine Regeln gelten dürfen. DaS obstruktive Verfahren machte im Laufe der Zeit Fortschritte. Ein solches trat in dem Parlament deS Jahre- 1868 zu Tage; e- zeigte sich damals in seiner ersten Entwickelung. Die Mehrheit erkannte eS zweifellos, nahm jedoch Abstand mit Vorschlägen strafrechtlicher oder be­ schränkender Art hervorzutreten. DaS Hau- litt darunter und obwohl ernstlich behindert, brachte eS der Redefreiheit Opfer. In dem Jahre 1874 trat das obstructive Verfahren zwar in gewissem Maße verhüllt auf, zeigte jedoch bereit- deutliche, ihm zuvor nicht eigene Züge. Bei Berathung der Südafrika-Bill und der Berathung über Anwendung

körperlicher Züchtigung im Heere machte eS sich geltend. Ausdehnung der darauf bezüglichen Debatten

Grenze festzustellen, wo die Obstruction einsetzte. lage erfuhr sicher wichtige Abänderungen.

Bei der weiten

war e- nicht leicht, die

Die letztgenannte Vor­

War die- der Fall, dann darf

man allerdings den Vorwurf der Obstruction nicht ohne Zaudern erheben. Das HauS war jedoch der Meinung, daß eS des Einschreitens bedürfe.

Der damalige Leiter des HaufeS machte einen sehr gemäßigten mit all­ gemeinem Beifall aufgenommenen Vorschlag.

In dem Parlament des

Jahres 1880 hatte das obstruktive Verfahren bereit» erhebliche Fortschritte

gemacht.

Augenfällig war eine kleine Anzahl Mitglieder de» Hauses —

ihren Patriotismus, die Rechtschaffenheit ihrer Gesinnung ziehe ich nicht in Zweifel — bestrebt, da» HauS unfähig zu machen, seine gesetzgeberi­

schen Pflichten zu erfüllen und dessen Unfähigkeit ins Licht zu stellen.

In

dem letztverfloffenen Jahre ging dies so wett, daß Sie, Sir, sich genöthigt

fanden, wie Sie sich damals ausdrückten, ein Recht auSzuüben, welches Ihnen weder auf Grund der Geschäftsordnung, noch nach dem Herkommen deS Hauses zustand.

Diese That trug Ihnen bei 9/10, ja bei ”/10 der

Mitglieder deS Hauses ein hohes Maß deS Dankes ein.

Der volle Ernst

einer solchen Lage läßt sich nicht verkennen. Die StaatSregiernng verlangte eine Vorlage in das HauS einzubringen, welche zur Sicherung von Leben und Eigenthum der Staatsangehörigen sich als dringend nothwendig bar« stellte.

Zunächst sah sie sich durch eine elftägige Debatte über die Adresse

bezüglich der Thronrede behindert.

Als dann der Antrag, die Einbringung

der Vorlage zu genehmigen, gestellt wurde, war das HauS genöthigt,

darüber 22'/, Stunden ohne Unterbrechung zu debattiren. folgte eine weitere Debatte

41Stunden währte.

Demnächst er­

über die Vorlage, welche ununterbrochen

Die Dauer hätte sich vielleicht verdoppelt, wenn

Sie, Sir, uns nicht aus der Nothlage befreit hätten.

Ich fordere das

Hau» auf, diese Thatsachen in ernste Erwägung zu ziehen.

Wenn der Sprecher in einem Falle sich genöthigt sah, sich ausnahms­

weise einer ihm nicht zustehenden Machtbefugniß zu bedienen, so dürfen wir nicht übersehen,

daß er sich gleichzeitig außer Stande setzte, ein

Gleiches zu wiederholen; denn er sprach e» aus wohl überlegt und treffend, daß nunmehr da» Hau» die Sache in die Hand nehmen und. Abhülfe schaffen müsse.

Wir dürfen hiernach auf eine Aushülfe nicht mehr rechnen,

welche sich uns vor dem 2. Februar 1881 bot; die Möglichkeit ist nicht

mehr vorhanden, daß der Sprecher als Schutzengel erscheint, und uns mit Muth und Klugheit aus einer großen Verlegenheit zieht. Ich frage, ob eS hiernach an der Zeit ist. Regeln festzustellen, durch

welche das auf geordnete Weise erreicht wird, wa- nur durch einen außer-

Die neuen Regeln der Geschäftsordnung

350

ordentlichen Akt der Willkür erreicht werden konnte, so unbestreitbar ver­ nunftgemäß und angemessen derselbe war, von so achtunggebietender Seite

er geübt wurde. Die lange Dauer der Sitzungen ist nicht allein unerträglich für die

Mitglieder des Hauses, sie macht das HauS in den Augen des Publikums lächerlich, bereitet ihm Erniedrigung.

DaS aber ist nicht Alles.

Blicken

wir auf den Verlauf von 8 Monaten der letzten Sitzungsperiode zurück. Die StaatSregierung ' bedurfte des schleunigen Erlasses nothwendigen Gesetzes.

Hierzu gelangte sie lediglich durch die vom Hause

beschlossene Regel über die „Dringlichkeit".

schluß zu Stande?

eines dringend

Wie aber kam dieser Be­

Wir verdankten ihn dem taktischen Fehler einer ge­

wissen Anzahl Mitglieder dieses Hauses, durch welchen wir in die Lage kamen, mit einer einzigen Abstimmung auszureichen.

Ohne diesen Fehler

hätten wir die ganze Nacht hindurch Abstimmungen gehabt und wären

schließlich außer Stande gewesen, die Frage der Dringlichkeit zu erledigen.

Nachdem

dies

erreicht war, wurden

29 Sitzungen mit Debatten über

Schutz des Lebens und Eigenthums in Irland ausgefüllt.

bedurften sicher einer erschöpfenden Diskussion.

Diese Fragen

Die Diskussion konnte

aber, wie man wohl einräumen wird, in 20 Sitzungen erschöpft werden. Der Landact nahm demnächst 58 Nächte in Anspruch.

der Gegenstand wichtig und verwickelter Natur.

Zweifellos war

Die Behauptung ist aber

gewiß keine gewagte, daß, wenn die Debatten nicht in Verfolgung anderer

Zwecke in die Länge gezogen worden wären, zur Durchberathung der Vor­ lage weniger als die Hälfte der 58 Nächte genügt haben würde, daß wir die Vorlage dem Hause der LordS rechtzeitiger hätten zustellen und selbst einen Theil der legislativen Arbeiten erledigen können, deren Erledigung ein

dringendes Bedürfniß

war.

Die Folge jener Verschleppung war

ferner, daß die den unabhängigen Mitgliedern des Hauses-sonst gewöhn­

lich gebotene Gelegenheit, dem Hause Vorlagen zu unterbreiten, fast gänz­ lich verloren ging, daß die gesetzgeberische Thätigkeit in Bezug auf England und Schottland beinahe vollständig ins Stocken gerieth, während selbst in

Bezug

auf Irland Gegenstände von

höchster Wichtigkeit zu erledigen

durchaus unmöglich war. Bei dieser Lage der Dinge verlangen wir, daß dem Hause die Macht

gegeben wird, die Debatten wenn nöthig abzukürzen, die Macht zu ent­ scheiden, ob eine Debatte erschöpft ist und geschlossen werden soll.

Wir

fordern, daß gegenwärtig im Jahre 1882 das auSgeführi wird, wozu bereits im Jahre 1848 der damalige Sprecher des Hauses Lord EverSleh

rieth.

Wir schlagen vor eine solche Entscheidung nach dem unseres Er­

achtens allein richtigen Prinzip und unter den

unseres Erachtens aus-

DaS allein richtige Prinzip ist,

reichende« Beschränkungen zuzulassen.

daß die Mehrheit des HauseS entscheidet.

Dasselbe bildet die Grundlage

unseres Verfahrens. Wie es wirkt, will ich an einigen Beispielen zeigen.

Eine Mehrheit von 5 Stimmen nöthigte im Jahre 1839 daS Ministerium Melbourne auS dem Amte zu scheiden.

DaS Ministerium Lord Russel

wurde im Jahre 1866 durch eine Mehrheit von 5 Stimmen zu Falle

gebracht.

Eine Mehrheit von

3 Stimmen veranlaßte im Jahre 1873

den Rücktritt des Ministeriums, an dessen Spitze ich stand.

heit von 2 Stimmen war eS,

in Folge deren der

Eine Mehr­

öffentliche Unterricht

dem geheimen Rath (privy council) unterstellt wurde, eine Neuerung von

unübertroffener Wichtigkeit in diesem Lande.

Nur 1 Stimme Mehrheit

bestimmte das Ministerium Lord Melbourne 1841

zum Abgänge oder

war mindestens die Veranlassung zur Auflösung des Parlaments. Mehrheit 1 Stimme entschied für die Lesung der Reformbill.

Die

Mittelst

1 Stimme Mehrheit endlich gelang eS Mr. Pitt den Act of Union zu Als im Januar 1799 ein Amendement beantragt

Stande zu bringen.

wurde, welches mit dem Prinzip seiner Vorlage in Widerspruch stand, stimmten 105 Mitglieder für dasselbe,

106 Mitglieder gegen dasselbe.

Mittelst.teer Mehrheit 1 Stimme wurde hiernach eine Maßregel durch­

gesetzt, welche zweifellos in ihren Folgen zu den wichtigsten gehört, welche je durch die Abstimmung einer gesetzgebenden Versammlung herbeigeführt sind.

Alle diese Ereignisse vollzogen sich mittelst einfacher Mehrheit.

Wenn ich die einfache Mehrheit, — darunter verstehe ich eine solche

im Gegensatz zu einer künstlich gedachten, sei eS im Verhältniß von 2 zu 1, von 3 zu 2, von 3 zu 1 oder wie sonst — als das allein richtige

Prinzip aufstelle, von welcher die Entscheidung über den Schluß der De­

batte abhängen soll, so meine ich nicht, daß dies schlechthin ohne ander­ geschehen soll.

weite Beschränkung

Schutz gegen den

Mißbrauch

Wir glauben,

gewähre

einen hinreichenden

das von uns Vorgeschlagene.

Voran steht daS Erforderniß, daß der Sprecher eingretfen muß.

Bon

dem Sprecher soll die Initiative ausgehen, und zwar nicht allein, nachdem

er sich überzeugt hat,

daß eö der allgemeine Wunsch des HauseS nicht

etwa nur der der einfachen Mehrheit ist, daß

die Debatte geschlossen

werde, sondern nachdem er selbst zu der Ueberzeugung gelangt, daß die

Debatte erschöpft ist.

Von dieser zwiefachen Bedingung soll eS abhängen,

ob der Mehrheit des HauseS die Befugniß zusteht, die Debatte zu schließen.

Wer behaupten wollte, die vorgeschlagene Resolution gebe dem Sprecher die Macht, die Privilegien deS HauseS zu verletzen, verkennt die Stellung

des Sprechers im Hause der Gemeinen, verkennt die Bedingungen, auf welche sein Einfluß und seine Autorität im Hause beruht, wie eS ihm

Die neuen Regeln der Geschäftsordnung

352

nicht möglich ist mit seiner Autorität gewisse Grenzen zu überschreiten, —

und falls ein Sprecher einen solchen Versuch machen sollte, wie ihm so­

fort daS Haus fein Vertrauen entziehen würde.

Das Eingreifen des

Sprechers darf nur selten, und daS nur, sofern ein hinreichender Grund

vorliegt, erfolgen.

Der Befugniß der Mehrheit, den Schluß der Debatte

eintreten zu lassen, setzen wir aber noch eine andere Schranke.

Von dieser

Befugniß soll nur Gebrauch gemacht werden dürfen, wenn eine verhältnißmäßig große Zahl der Mitglieder anwesend ist.

Während in vielen

gesetzgebenden Versammlungen die Beschlußfähigkeit von der Anwesenheit

der Mehrheit der Mitglieder, jedenfalls einer großen Anzahl abhängt, bildet bei uns eine äußerst geringe Anzahl daS quorum.

Bezüglich der

Befugniß, den Schluß der Debatte zu beschließen, schlagen wir eine Er­

höhung deS quorum (Beschlußfähigkeits-Anzahl) vor.

Von dieser Befug­

niß soll nur Gebrauch gemacht werden dürfen, sofern 200 Mitglieder für den Schluß der Debatte stimmen. —

Dies

war in der Kürze der ungefähre Inhalt

der Rede Mr.

Gladstone'S.

Die in den vorgelegten Resolutionen

enthaltene Bestimmung der

Clotüre, welche feit Jahren in Erwägung gezogen und stets für unan­

nehmbar erachtet worden war, rief von vielen Seiten Widerspruch hervor.

Wenn aber

eine solche eingeführt werden sollte, so verlangte die

Opposition doch mindestens, daß nicht die einfache Mehrheit die Debatte

zu schließen befugt sein sollte.

Dies Verlangen fand in dem Anträge

Ausdruck: „Keine Regel des Verfahrens wird daS HauS befriedigen, welche

die Befugniß die Debatte zu schließen einer einfachen Mehrheit der Mitglieder überträgt."

In einer Reihe von Sitzungen wurde über den Antrag debattirt,

und derselbe am 30. März 1882 abgelehnt.

Wichtige politische Ereignisse, Politik, traten

Ereignisse der inneren wie äußeren

ein und verhinderten die weitere Verhandlung in der

laufenden Sitzungsperiode.

Mr. Gladstone erachtete die Aenderung der

Geschäftsordnung indeß für so nothwendig, daß er den Zusammentritt des Parlaments zu einer außerordentlichen Sitzung- lediglich zur Berathung

über die Geschäftsordnung im Oktober 1882 herbeiführte.

Am 24. Oktober begannen die Verhandlungen und fanden am 1. De­

zember ihren Abschluß. Die erste Resolution, wie sie zur Annahme gelangte, lautet:

„Gewinnt der Sprecher ober der Vorsitzende des Geldbeschaffung-ausschusses im Ausschüsse des ganzen Hauses während de- Verlause- einer Debatte die Ueberzeugung,

daß der Gegenstand

derselben zur Genüge erörtert ist, und daß es augenscheinlich das

verlangen (the sense) des Hauses oder des AnSschuffeS ist, daß nunmehr die Frage

gestellt wird, so ist er befugt, dem Hause oder dem Ausschüsse von seiner Ueberzeugung Mittheilung zu machen.

Wenn dann beantragt wird, daß die Frage sofort gestellt werde,

so muß der Sprecher oder der Vorsitzende über

diesen Antrag ohne Weiteres entschei­

den lassen, und falls der Antrag angenommen wird, die zur Debatte stehende Frage ohne

Weiteres zur Entscheidung stellen;

jedoch soll der Antrag, daß die Frage sofort gestellt

werde, falls es über denselben zu einer förmlichen Abstimmung gekommen ist, für an­ genommen nur gelten, wenn mehr als 200 Mitglieder für den Antrag gestimmt haben,

oder wenn weniger al« 40 Mitglieder dagegen und mehr als 100 Mitglieder dafür ge­

stimmt haben."

Im Laufe der Verhandlungen hatte die ursprüngliche Fassung dieser Resolution nur wenige Veränderungen erfahren.

Zunächst fand Anstoß,

daß dem Vorsitzenden im Ausschüsse deS ganzen Hauses die Initiative wie dem Sprecher überlassen sein sollte.

Dieser Vorsitzende,

wurde einge­

wendet, sei ein Parteimann wie jedes andere Mitglied deS HauseS, er

nehme an den Abstimmungen Theil, er werde thatsächlich von dem jedes­ maligen Premier ernannt, überdies werde er in Behinderungsfällen von einem anderen Mitgliede des HauseS vertreten, für dessen Unparteilichkeit eS an jeder Garantie fehle.

Regierungsseitig wurde geltend gemacht, der

Vorsitzende im Ausschllsse deö ganzen HauseS sei ja berufen in Fällen, in welchen der Sprecher behindert sei, im Hause den Sprechersitz einzu­

nehmen, seine Wahl erfolge durch das Haus wie die deS Sprechers, im

Uebrtgen solle der Vorsitzende nicht

über den Schluß der Debatte ent­

scheiden, vielmehr werde ihm nur die Initiative anvertraut.

DaS Amen­

dement, welches dahin gerichtet war, den Ausschußvorsitzenden aus der Re­

solution zu beseitigen, wurde abgelehnt.

Mr. Gladstone kam der Oppo­

sition jedoch darin entgegen, daß nicht jeder Vorsitzende im Ausschüsse,

sondern nur der des Geldbeschaffungsausschusses, welcher von dem Hause Gehalt empfängt und daher eine Vertrauensstellung einnimmt, nicht aber

ein zufälliger zeitweiser Vertreter die gleiche Befugniß haben sollte. Ein dahin zielender Antrag, daß der Ausschußvorsitzende zunächst den Sprecher konsultiren müsse, wurde verworfen; nicht minder der Antrag,

daß die Clotüre in dem GeldbewiüigungSauSschuffe überhaupt nicht statt­ finde.

Gegen den letzteren Antrag wurde bemerkt, daß dieselbe für diesen

Ausschuß,

in welchem die vitalsten Angelegenheiten verhandelt werden,

gerade am Wichtigsten sei; beispielsweise erinnerte man an einen Fall

aus dem Jahre 1877, in welchem es Morgens 7 Uhr zur Auszählung

der Anwesenden kam.

Mit Erfolg ferner widersprach Mr. Gladstone dem

Anträge die Debatten über die Tagesordnung (business) des Hauses und über Privilegienangelegenheiten auszunehmen.

Dagegen ließ er sich einen

Die neuen Regeln der Geschäftsordnung

354

Zusatz gefallen, nach welchem die Initiative deS Vorsitzenden nur ergriffen

werden soll,

sofern dieser dafür hält, daß der Gegenstand der Debatte

genugsam (adequatly) erörtert ist. Eine längere Debatte entspann sich über einen Antrag der Opposition, welcher bezweckte, die Clotüre auf Fälle zu beschränken, in welchen nach

der Meinung deS Vorsitzenden die Debatte zum Zwecke der Obstruction fortgesetzt wird.

Beabsichtige man mit der Clotüre nicht dieses allein, —

so wurde ausgeführt —, dann handele es sich nicht darum, Individuen,

sondern eine Partei und zwar die Torhpartei zum Schweigen zu bringen,

die Beschlüsse deS Hauses würden dann nicht als der Ausdruck der öffent­ lichen Meinung anerkannt, die Redefreiheit vernichtet werden.

gierung bekämpfte den Antrag.

Die Re­

Der Zweck der Clotüre sei nicht allein

gegen Obstruction, sondern auch gegen daS Unwesen endloser Debatten, welche die Gesetzgebung zum Stillstand bringen, gerichtet; dieselbe solle

präventiv wirken, und werde nur selten zur Anwendung kommen. Ein weiteres Amendement wollte die Initiative nicht in die Hand

deS Sprechers beziehungsweise des Ausschußvorsitzenden legen, sondern in

die deS Ministers oder desjenigen, welcher die zur Debatte stehende Vor­ lage vertritt, weil die Autorität deS Sprechers leide, wenn er die Ini­

tiative übe, da man annehmen würde, er handele unter dem Einfluß des Ministers.

Mr. Gladstone erklärte sich dagegen, weil die Clotüre dann

eine Parteifrage werden würde, die Initiative deS Sprechers aber die Unparteilichkeit verbürge.

DaS Amendement wurde abgelehnt, ebenso der

Versuch die Initiative deS Vorsitzenden von der Zustimmung von 20 Mit­ gliedern abhängig zu machen, und der, eine Warnung deS Vorsitzenden

einzuschieben, daß er die Initiative zu ergreifen beabsichtige. Obwohl die Clotüre mit jedweder Modalität heftige Gegner hatte, so bildete doch den lebhaftesten Streit die Frage,

ob,

wie die Vorlage

wollte, die einfache Mehrheit der Mitglieder über den Schluß der De­ batte zu entscheiden haben solle, oder ob ein anderes Stimmenderhältntß

vorzuziehen sei.

Die Opposition brachte ein Amendement ein, nach wel­

chem der Schluß der Debatte nur von einer Mehrheit Bon % der An­

wesenden beschlossen werden dürfe. die Opposition

Mit dieser Modifikation schien auch

der Clotüre beistimmen zu wollen.

In dieser Debatte

wurde auf die Gefahr derselben überhaupt hingewiesen.

Man erwähnte

Beispiele, auS welchen hervorgehen soll, daß der Mißbrauch mit Schluß

der Debatte die Schuld an Revolutionen getragen habe, welche bei un­ beschränkter Redefreiheit vermieden worden wären; wenn in früheren Zeiten eine einfache Mehrheit den Schluß der Debatte herbeizuführen im Stande

gewesen wäre, würde England statt Reformen Revolulionen erlebt haben.

Anzuerkennende Autoritäten für die vorgeschlagene Neuerung gebe eS nicht;

in den Kolonien sei der Versuch damit gemacht, zum Theil sei man davon

wieder abgegangen; die Clotüre mit einfacher Stimmenmehrheit sei auf dem Kontinent Europas

eine Seltenheit.

Dem Vorsitzenden solle die

Initiative zustehen, falls er der Meinung ist, daß das Haus augenschein­

lich den Schluß der Debatte begehre; damit stehe in Widerspruch, daß die

einfache Mehrheit demnächst zu entscheiden habe; denn sei dafür nur eine einfache Mehrheit, dann könne von dem augenscheinlichen Begehren des Hauses nicht die Rede sein, vielmehr handele eS sich dann nur um daS

Begehren einer Partei;

der Vorsitzende ferner gerathe

in

eine schiefe

Stellung und verliere sein Ansehn, da seine Beurtheilung sich dann als

eine unrichtige herausstelle.

Zögere er im Uebrigen einzuschreiten, so

werde ihm seine Partei zum Vorwurf machen, er habe die Verschleppung

der Debatte verschuldet, und wieder schreite er ein und für den Schluß der Debatte stimme nur eine geringe Mehrheit, dann sei er den Angriffen der Opposition ausgesetzt.

Insbesondere aber wurde M. Gladstone ent­

gegengehalten, daß er in der abgebrochenen Sitzungsperiode sich bereit er­ klärt habe, auf eine % Mehrheit einzugehen.

Mr. Gladstone erwiderte, daß die außerhalb des HaufeS gemachte Offerte ein Opfer gewesen sei, um höherer Zwecke willen; man habe ge­

hofft, auf diese Weise Raum für wichtige Maßregeln zu schaffen, und den Versuch mit einer ’/, Mehrheit wagen wollen, wenngleich in der Ueber­

zeugung, daß derselbe mißlingen werde.

Ginge man auf eine a/3 Mehr­

heit ein, so entscheide nicht die Mehrheit, sondern die Minderheit über

den Schluß der Debatte.

Geltend gemacht wurde noch, eine % Mehr­

heil werde sich nur bei Einverständniß mit dem Führer der Opposition er­

reichen lassen, der keine Verantwortliche Stellung einnehme, eS würde deshalb

zu schädlichen Kompromissen zwischen den Führern der Parteien kommen. DaS Gewicht, welches auf das in Rede stehende Amendement allseitig gelegt wurde, ist auS der Zahl der an der Abstimmung theilnehmenden Mitglieder zu entnehmen; eS stimmten 238 Mitglieder für dasselbe, 322

dagegen. — Die weiteren Versuche der Opposition ein anderes MehrheitSverhältniß an Stelle der

einfachen Mehrheit zu setzen, scheiterten.

Auch dem

Verlangen, falls mehr als 10 Mitglieder mit dem Schluß der Debatte

unzufrieden seien, es ihnen freistehen solle, in der nächsten Sitzung des Hauses einen schriftlichen Protest einzureichen, welcher in die Journale deS Hauses aufzunehmen sei, wie solches im Hause der LordS statthaft,

wurde abgelehnt; man hob hervor, der Protest werde in der Regel gegen das Verfahren des Sprechers gerichtet sein, oft Unrichtigkeiten enthalten,

sodaß sich Gegnianträge daran knüpfen und zeitraubende Debatten zur

Folge haben würden; der Protest werde aber auch ohne jeden Nutzen und

überflüssig sein, da die Abstimmungslisten veröffentlicht werden. Bevor eS zu der Debatte über die schließliche Frage kam, die Reso­ lution in der Gestalt, in welcher sie nach Erledigung sämmtlicher Amen­ dements dem Hause vorlag, anzunehmen oder zu verwerfen, wurde ange­ regt, was unter dem augenscheinlichen Verlangen deS Hauses (evident

sense of the house) die Debatte geschlossen zu sehen, auf welches der Vorsitzende seine Initiative zu gründen habe, zu verstehen sei; die Beant­ wortung dieser Frage sei um so nothwendiger, als die Vertreter der Re­ gierung

sich

darüber

in

verschiedenem

Sinne geäußert

hätten.

Der

Sprecher aufgefordert sich zu erklären, wie er die Frage auffasse, ließ sich

dahin aus: er verstehe darunter, daß der Vorsitzende soweit er dazu im Stande sich Ueberzeugung zu verschaffen habe,

daß das HauS in seiner

Gesammtheit (the house at large) augenscheinlich den Schluß der De­

batte verlange.

(In dieser Auffassung ist es nicht daS Verlangen der in

der Mehrheit befindlichen Partei allein, welches den Sprecher zur Initiative veranlassen soll.)

Mr. Gladstone gab eine bestimmte Erklärung,

der Auffassung deS Sprechers beitrete, nicht ab.

ob er

Der Antrag, die von

dem Sprecher gegebene Definition in irgend einer Form in die Resolution aufzunehmen, erschien nicht mehr zulässig.

In der Debatte über den Antrag des Führers der Torhpartei, die

Resolution

zu verwerfen,

wurden die früher geltend gemachten Gründe

zum großen Theil von Neuem vorgebracht, die Redefreiheit, welche Eng­ land

groß

gemacht, werde untergehen, die Resolution zu Parteizwecken

mißbraucht werden, die Stellung des Sprechers durch die ihm übertragene

Initiative erschüttert werden; dem Vorsitzenden des Ausschusses dürfe eine so wichtige Funktion nicht anvertraut werden; der angebliche Schutz gegen

den Mißbrauch sei ungenügend, der Vorsitzende habe keine Mittel, daS

Verlangen des Hauses zu erkennen; durch die Resolution werde das HauS,

nicht die Mitglieder, welche die Redefreiheit mißbrauchen, gestraft. reich

Frank­

wurde als ein warnendes Beispiel hingestellt, wo in dem letzten

Kaiserreiche die Präsidenten unter dem Drucke der Regierung die liberalen Redner nicht hätten zu Worte kommen lassen.

Die Gegner der Resolution, durch welche die Neuerung der Elotüre

eingeführt werden sollte, unterlagen.

Mit 304 gegen 260 Stimmen wurde

die 1. Resolution angenommen. — Mit geringen Aenderungen gelangten auch die Gladstone vorgelegten Resolutionen zur Annahme.

übrigen von Mr.

Die Wiedergabe der­

selben möge mit einigen erläliternden Bemerkungen folgen.

Ein Antrag auf Vertagung deS Haufes konnte nach der Geschäfts­ ordnung in jedem Stadium der Verhandlung gestellt und bei Begründung

deS Antrages über jedweden Gegenstand gesprochen,

und

den Antrag in zeitraubendster Weise debattirt werden.

für wie wider

Diese Besugniß,

welche in dringlichen Fällen zweckmäßig war, konnte dazu benutzt werden,

die

Geschäftserledigung zu

Zwecke der Obstruktion

verhindern und gab den Homerulers zum

ein geeignetes Mittel in die Hand.

Daß dies

Mittel mißbraucht worden war, wurde fast allseitig anerkannt; indeß sand

eine jede Beschränkung

schränkung Gegner.

derselben und insbesondere daS Maß der Be­

Die Mehrheit entschied sich

schließlich für die Be­

schränkung in folgender Fassung: Res. 2. „Weder bevor sämmtliche auf dem notice paper (dem zur Eintragung von An­ meldungen ausliegendem Blatte) befindliche Fragen erledigt find, noch bevor in die Ver­

handlung über die Gegenstände der Tagesordnung oder die Anmeldung von Anträgen

eingetreten ist, darf, ausgenommen mit Genehmigung des HaufeS, ein Antrag auf Ver­ tagung des Hauses gestellt werden, Vertagung zu beantragen

eS sei denn,

vorschlägt,

daß ein Mitglied stch erhebt und die

um einen bestimmten wichtigen Gegenstand von

öffentlichem Interesse zur Sprache zu bringen und stch nicht weniger alö 40 Mitglieder

zur Unterstützung deS Antrages erheben; erheben sich weniger als 40, aber nicht weniger

als 10 Mitglieder, so wird sofort zur Abstimmung geschritten und daö HauS entscheidet, ob ein solcher Antrag gestellt werden soll " —

Während in einer Debatte im Hause ein Mitglied nur einmal zum

Worte verstattet wird

(Sitte ist es, daß dem Antragsteller eine Gegen­

bemerkung nicht versagt wird), darf im Ausschüsse von demselben Mitgliede wiederholt gesprochen und dürfen daher von demselben auch wieder­

holt VertagungSanträge gestellt werden.

Der mißbräuchlichen Benutzung

dieser Besugniß soll die angenommene Regel entgegentreten.

Res. 3. „Wird während einer Debatte ein Antrag auf Vertagung der Debatte oder deS

Hauses, oder ein Antrag, daß der Ausschußvorsitzende (do report progresa) über Aus­

setzung der Sitzung Bericht erstatte,

oder daß er seinen Sitz verlaffe, gestellt, so muß

die hierüber entstehende Debatte auf den Gegenstand eines solchen Antrages beschränkt bleiben; kein Mitglied, welches einen solchen Antrag gestellt oder unterstützt hat, ist be­ rechtigt

während derselben Debatte einen

ähnlichen Antrag zu stellen oder zu unter­

stützen." —

Die Abstimmungen finden in der Art statt, daß die Mitglieder nach

Stellung der Frage „ja" (aye) oder „nein" (no)

ausrufen, und

der

Sprecher resp, der Vorsitzende des Ausschusses nach der Stärke bes Rufes verkündet, daß die „ayes“ oder die „noes“ in der Mehrheit sind (have it). Jedem Mitgliede steht es frei, dieser Entscheidung zu widersprechen, und

dies hat zur Folge, daß eine förmliche Abstimmung (division), das ist

Die neuen Regeln der Geschäftsordnung

358

eine namentliche, stattfindet. Da eine solche unbequem und zeitraubend ist, insbesondere auch mißbräuchlich herbeigeführt werden kann, so wurde, nachdem die Regierung sich verschiedene Amendements zu ihrer Vorlage hatte gefallen lassen, eine Regel in folgender Fassung beschlossen: Res. 4. „Ist während einer Debatte, nachdem das Haus in die Verhandlung über Gegen­ stände der Tagesordnung oder die Anmeldung von Anträgen eingetreten ist, zufolge eines Antrages auf Vertagung der Debatte oder des Haufes oder des Antrages, daß der Bor-

sttzende des Ausschusses über Aussetzung der Sitzung berichte, oder daß er seinen Sitz

verlaffe,

das Haus behufs Abstimmung geräumt und der Entscheidung des Sprechers

oder Vorsitzenden des AuSschuffeS,

(die

daß die ayes (mit ja Stimmenden) oder die noes

mit nein Stimmenden) have it (in der Mehrheit sind) widersprochen, so ist der

Sprecher oder Vorsitzende des Ausschusses berechtigt, sobald nach Ausweis der Sanduhr zwei Minuten

verstrichen

sind, die widersprechenden Mitglieder anfzufordern, sich von

ihren Sitzen zu erheben, und wenn dies bei Anwesenheit von 40 oder mehr Mitgliedern weniger als 20 sind, ohne Weiteres die definitive Entscheidung des Hauses oder AuS-

schnffeS zu verkünden*)."

Eine Bestimmung, nach welcher es dem Vorsitzenden frei stehen sollte, Abschweifungen vom Gegenstände der Berathung und Wiederholungen entgegenzuwirken, fand Beanstandung in Betreff deS Vorsitzenden im Ausschüsse. In Erwartung, daß demselben eine selbstständigere Stellung auch durch Erhöhung deS Gehaltes gegeben werden.würde, fand dieselbe Annahme. Res. 5. „Der Sprecher oder der Vorsitzende des GeldbeschaffungsauSschuffes ist berechtigt, das Haus oder den Ausschuß darauf aufmerksam zu machen, daß ein Mitglied fortgesetzt nicht zur Sache spricht oder sich in ermüdenden Wiederholungen ergeht, und ist berech­

tigt, das Mitglied anzuweisen, seine Rede abzubrechen." —

Die Gesetzesvorlagen haben an ihrer Spitze in der Regel einen motivirenden Eingang. Da über den Zweck derselben bei der zweiten Lesung, welche der Ueberweisung an den Ausschuß des ganzen Hauses vorhergeht, eine Diskussion stattgefunden hat, so wurde im Ausschüsse die Berathung über den Eingang (preamble) in der Regel ausgesetzt und erfolgte erst nach Feststellung der einzelnen Bestimmungen. Die Aus­ setzung der Berathung über den Eingang bedurfte bisher eines Beschlusses. Zweck der folgenden zur Annahme gelangten Bestimmung ist dieses Er­ forderniß zu beseitigen. Res. 6. „Bei Berathung über

eine Bill im Ausschüsse wird ohne Fragestellung die Be­

rathung über den Eingang (preamble) ausgesetzt bis

die über die einzelnen Bestim­

mungen derselben stattgefunden hat." —

*) Demnach ohne daß eine förmliche Abstimmung vorgenommen wird.

Die Praxis war, daß, wenn eine Bill im Ausschüsse des HanseS zu.

Ende berathen war oder die Berathung vertagt werden sollte, der Antrag

gestellt wurde, der Vorsitzende sollte dem entsprechend dem Hause berichten, und daß dann noch die Frage gestellt wurde, ob der Vorsitzende seinen

Sitz verlassen solle.

Die Beseitigung der letzteren Formalität bezweckt

Res. 7. „Ist der Vorsitzende eine« Ausschusses angewiesen, dem Hause Bericht zu erstatten,

so »erläßt er ohne weitere Fragestellung seinen Sitz." —

Der Umstand, daß die Sitzungen häufig die Nacht hindurch biö in

die Morgenstunden dauerten und in so vorgerückter Zeit wichtige Ange­ legenheiten zur Verhandlung kamen, hatte zu der haf parst twelve o’clock rule geführt; nach 121/, Uhr Nachts

nicht mehr stattfinden.

sollten

bestimmte Verhandlungen

Diese Regel, welche zunächst nicht als feste Regel

eingesührt, dann aber in amendirler Form als solche angenommen war,

sollte abgeändert werden.

verlangt,

Die verschiedensten Vorschläge wurden gemacht.

wurde die ganze Regel bekämpft,

Einerseits

andererseits Erweiterung

empfohlen.

mindestens Einschräilkung

In folgender Fassung

wurde dieselbe aufrecht erhalten: Res. 8. „Ausgenommen Geldbills darf nach 12'/, Uhr Nachts die Verhandlung über einen Gegenstand

der Tagesordnung oder Anmeldnng eines Antrages nicht eröffnet werden,

bezüglich deren auf dem gedruckten notice paper (Anmeldeblatt) die Bekämpfung oder ein Amendement angemeldet ist, — oder nur am Tage

vor

falls

eine solche Anmeldung eines Antrages

der Sitzung erfolgt ist, bei Aufruf dieser Anmeldung Widerspruch

erhoben wird.

Bon dieser Regel sind ausgenommen:

Anträge betreffend die Ernennung von

ständigen AuSschüffen (Standing committeee), Vornahmen, welche gemäß der Bestimmnngen

eines Act of parliament oder einer festen Regel der MeschäftSordnnng er­

folgen, Anträge betreffend die Genehmigung zur Einbringung von Bills, Bills, welche

bereits den Ausschuß des ganzen Hauses passtrt haben.

Soll die Anmeldung, daß der Antrag bekämpft oder amendirt werden wird, die znvor gedachte Wirknng haben, so mnß derselbe von einem Mitgliede im Hause unter­ schrieben und datirt worden sein;

sie verliert am Ende der darauf folgenden Woche

ihre Wirknng. Diese Regel findet ans Ernenunng von SonderauSschüffen keine Anwendnng."—

Daß die am 28. Februar 1880 vereinbarte Regel, welche der obstruk­

tiven Benutzung der Geschäftsordnung vorbeugen sollte, zur Förderung der Verhandlungen nicht wesentlich beizutragen vermochte, wurde bereits

erwähnt.

Mr. Gladstone verlangte

wirksamer zu machen.

eine Aenderung

derselben,

um sie

Zur Unterstützung dieses Verlangens wurde auf

die große Zahl von SuSpendirungen hingewiesen, welche auf Grund jener Regel erfolgt seien;

dieses — so wurde behauptet — würde vermieden

360

Die neuen Regeln der Geschäftsordnung

fein, wenn die Regel strenger und daher abschreckender sei. Ein wirkungs­ vollere- Mittel al- SuSpendirung biete sich nicht. Der Verweis seitens deS Sprecher- sei ungenügend, da- Mittel der Verhaftung kein geeignete-, die Verschärfung der SuSpendirung geboten, da eS vorgekommen, daß ein und dasselbe Mitglied fünfmal suSpendirt worden sei. Obwohl dem­ gegenüber behauptet wurde, die Regel habe ihren Zweck vollständig erfüllt, erfolgte die Aenderung. Sie lautet in der amendirten Gestalt: Res. 9. „Ist ein Mitglied von dem Sprecher oder dem Vorsitzenden im AuSschuffe des ganzen Hauses bei seinem Namen aufgerufen, weil eS die Autorität deS Vorsitzes miß­ achtet oder die Regeln de- Hause- mißbraucht, um fortgesetzt und absichtlich der GeschastSerledigung des Hause- auf diese oder andere Weise Hinderniffe in den Weg -u legen und zwar unmittelbar nach einer solchen Uebertretung, so soll der Sprecher, fall- die Uebertretung im Hause sich ereignet hat, auf den Antrag eine- Mitgliedes, ohne daß ein Amendement, Vertagung oder Debatte zulässig ist, sofort die Frage stellen, ob daS Mit­ glied von der Theilnahme an den Geschäften deS Hause- ausgeschloffen werden soll, — und fall- die Uebertretung im Ausschüsse deS ganzen Hauses sich ereignet hat, soll der Vorsitzende auf Antrag eine- Mitgliedes die gleiche Frage in ähnlicher Weise stellen, und fall- der Antrag angenommen wird, die Verhandlung des Ausschusses sofort aussetzen und dem Hause daS Dorgefallene berichten. Demnächst soll der Sprecher dieselbe Frage ohne Zulassung eine- Amendement, Vertagung oder Debatte stellen, gleich al- ob die Uebertretung in dem Hause selbst stattgefunden hätte. Ist aus Grund dieser Bestimmung ein Mitglied suSpendirt, so soll die Suspension daS erste Mal eine Woche, daS zweite Mal 14 Tage und da- dritte oder folgende Mal einen Monat dauern. Die Suspension von der Theilnahme an den Geschäften des Hause- schließt daS suSpendirte Mitglied von der Betheiligung an Ausschüssen zur Verhandlung über PrivatbillS nicht au-, in welche e- vor seiner SuSpendirung gewählt ist. Gleichzeitig darf nicht mehr als ein Mitglied bei Namen aufgerufen werden, es sei denn, daß mehrere anwesende Mitglieder gleich­ zeitig gemeinsam die Autorität deS Vorsitzenden mißachten. Nichts in dieser Bestimmung darf derart auSgelegt werden, daß dadurch da- Haus de- ihm nach altem Herkommen zustehenden Rechte- gegen seine Mitglieder zu verfahren beraubt wird." —

Eine weitere diStretionLre Befugniß wurde dem Vorsitzenden durch felgende Resolution unter Ablehnung verschiedener Amendement- ertheilt: Res. 10. „Ist der Sprecher oder Borsitzende einte Ausschuffes de« ganzen Hausee der Mei­ nung, daß ein Antrag auf Vertagung der Debatte oder dee Hausee im Verlauf einer Debatte oder der Antrag, der Vorsitzende solle über Auesctzung berichten oder den Sitz verlassen, unter Mißbrauch der Regeln dee Hausee gestellt wird, so ist er befugt, ohne Weiteree die Frage zu stellen.' —

Ist eine Gesetzesvorlage Im Ausschüsse deS ganzen Hauses amendirt worden, und steht dieselbe demnächst zur Berathung auf der Tagesordnung deS HaufeS, so bedurfte e» bisher noch deS Beschlusse», daß die Berathung erfolge. Die zu dem Behuf gestellte Frage bot Gelegenheit zu einer allgemeinen Debatte. Hierin eine Beschränkung herbeizuführen bezweckt

Res. 11. „Steht die Berathung einer im Au-schuffe de« ganzen Hause- amendirten Bill auf der Tage-ordnuug und dieser Punkt der Tagesordnung ist verlesen, so tritt daHau- ohne vorhergehende Fragestellung in die Berathung ein, e- sei denn, daß da- Mit­ glied, welches die Bill vertritt, die Hinan-schiebung der Berathung wünscht, oder ein Antrag gestellt ist, die Bill in den Ausschuß zurückzuverweisen."

DaS herkömmliche Recht, vor Bewilligung von Geldmitteln Be­ schwerden vorzubringen und Abhülfe zu verlangen, wird auSgeübt, indem zu dem Anträge, daß der Sprecher seinen Sitz verlasse, damit das HauS sich In den Geldbewilligung-« oder Geldbeschaffungs-Ausschuß verwandele, Amendements jeder Art gestellt werden, ohne daß diese auf den Gegen­ stand der Geldbewilligung Bezug haben. Die ungemefsene Ausübung diese- Rechtes hatte zur Folge, daß die Zeit zur Berathung deS Budgets in der erheblichsten Weise verkürzt wurde. Zur Zeitersparnlß soll die folgende Bestimmung beitragen.

Res. 12. „Steht am Montag »der Donnerstag Geldbewilligungs-Ausschuß al- erster Gegen­ stand auf der Lage-ordnung, so verläßt der Sprecher ohne Fragestellung seinen Sitz, e» sei denn, daß die erste Berathung über die Voranschläge resp, für Heer, Flotte oder Livildienst statt finden soll, oder bezüglich einer Geldbewilligung-pofition «in Amende­ ment beantragt ist, oder eine Anfrage bezüglich der Voranschläge, welche in dem Geldbewilligung-auSschuffe zur Berathung kommen sollen, gestellt ist." —

Sämmtliche zuvor bezeichneten Resolutionen bilden nunmehr feste Regeln der Geschäftsordnung. Bezüglich der Resolutionen Nr. 8 und 9 bedurfte eS eines besonderen Beschlusses über die Dauer ihrer Geltung nicht, da es sich um Amendirung bereits fester Regeln handelte. Dagegen war bezüglich der übrigen die besondere Bestimmung erforderlich, daß sie nicht nur vorübergehend Geltung haben, sondern der Geschäftsordnung als feste Regeln (standing Orders) einverleibt werden sollten. Diese Be­ stimmung wurde unter Ablehnung verschiedener Amendements beschlossen. Dagegen sollte nach dem Vorschläge von Mr. Gladstone der zweite Theil der Resolutionen, welche die standing committees zum Gegenstände hatten, nur für die Dauer der nächstfolgenden Sitzungsperiode Geltung haben, nur versuchsweise in Anwendung kommen." Mr. Gladstone hob hervor, während die zuvor angenommenen Re­ solutionen bezweckten, den Gang der Verhandlungen zu beschleunigen, indem sie den durch obstruktives Verfahren, durch Uebermaß von Reden, durch zeitraubende Anträge gelegentlich der Budgetberathungen hervor­ gerufenen Uebelständen zu begegnen bestimmt seien, handele eS sich ferner um Bewältigung der Maffe der Geschäfte durch Theilung der Arbeit. Nach der bestehenden Geschäftsordnung muß jede öffentliche Bill, nachdem Preußische Jahrbücher. Dd. LIL Heft 4. 24

362

Die neuen Regeln der Geschäftsordnung

beten zweite Lesung stattgefunden hat, in dem Ausschüsse des ganzen HauseS berathen werden. Den Ausschuß des ganzen Hauses bilden sämmtliche Mitglieder des HauseS. Die Verhandlungen in diesem Aus­ schüsse unterscheiden sich von denen im Hause wesentlich dadurch, daß nicht der Sprecher, sondern ein besonderer Vorsitzender dieselben leitet, und daß, wie schon vorhin gedacht, während im Hause ein Mitglied nur einmal zu derselben Frage das Wort ergreifen sann, int Ausschüsse des ganzen HauseS eine solche Beschränkung nicht besteht. Die in Vorschlag gebrachten Ausschüsse sollen gleichzeitig nebeneinander arbeiten können, ihnen nur Gegenstände nicht politischer Natur überwiesen, und von dem Hause in jedem Falle beschlossen werden, ob die Ueberweisung an einen dieser Aus­ schüsse erfolgen soll. Die Vorschläge wurden 'bekämpft. Insbesondere machte man geltend, eine Abkürzung der Verhandlungen würde durch dieselben nicht herbei­ geführt werden; denn nunmehr würden die Debatten im Hause gelegentlich der Berichterstattung seitens der Ausschüsse ausgenommen werden, welche nach der geltenden Geschäftsordnung int Ausschüsse des ganzen HauseS stattfinden. Die Resolutionen deS zweiten Theiles gelangten jedoch zur Annahme. Sie lauten: Res. 1. „Zur Berathung über alle Bills, welche Recht (law), Gerichtshöfe und Gerichts­

verfahren ,

sowie welche Handel,

Schiffswesen und Industrie zum Gegenstände haben,

werden zwei permanente AuSschUffe (Standing committees) ernannt; durch einen in jedem

Falle besonders zu fastenden Beschluß des HauseS dürfen

überwiesen werden.

denselben dergleichen Bills

DaS Verfahren in diesen Ausschüssen -soll dasselbe sein wie in einem

Sonderausschüsse, sofern daS Haus nicht etwas Anderes bestimmt, mit der Maßgabe je­ doch, daß das Publikum Zutritt hat, falls der Ausschuß nicht dessen Entfernung an­ ordnet, mit der Maßgabe ferner, daß die Bestimmung der Geschäftsordnung vom 21. Juli

1856*) auf diese Ausschüsse nicht Anwendung findet, und sie, während daS HauS sitzt, ohne Anweisung des HauseS nicht sitzen dürfen,

Amendement,

mit der Maßgabe sodann,

daß jedes

welches ein ehrenwertheS Mitglied zn einem Artikel einer einem perma­

nenten Ausschüsse überwiesenen Bill im Hause angemeldet hat, als dem AuSschnffe mit

überwiesen gilt, mit der Maßgabe endlich, daß 20 Mitglieder das Quorum solcher per­ manenten Ausschüsse bilden."

Res. 2. „Jeder dieser permanente» Ausschüsse besteht aus nicht weniger als 60 ntid nicht mehr als 80 Mitgliedern; dieselben werden von dem Committee of selection**) er«

*) Nach dieser Bestimmung dürfen Sonderausschüsse während der Mittwochs- und anderer BormittagSsitzungen des HauseS sitzen ausgenommen während des Gebetes. **) Dieser Ausschuß wird bei dem Beginne jeder Sitzungsperiode ernannt, er besteht aus fünf Mitgliedern; seine Thätigkeit bezieht sich besonders auf Privatbills. Bergt. daS eiigl. Pari, und sein Verfahren S. 662.

des Hauses der Gemeinen in England.

363

nannt, welches dabei auf die Natur der den betreffenden Ausschüssen zu überweisenden Bills, auf die Zusammensetzung des Hauses und die Qualifikation der zu wählenden

Mitglieder zu

rücksichtigen hat.

Dasselbe ist

ermächtigt die Mitglieder

Zeit ausscheiden zu lassen, und andere an deren Stelle zu ernennen.

von Zeit zu

Es ist ferner er­

mächtigt einem permanenten Ausschüsse bezüglich einer bestimmten demselben überwie­

senen Bill andere Mitglieder jedoch nicht mehr als 15 zuzufügen, welche an der Be­ rathung einer solchen Bill als Mitglieder des Ausschusses theilnehmen."

Res. 3. „Das Committee of selection stellt eine Liste der Vorsitzenden auf, welche nicht

weniger als 4 und nicht mehr als 6 Mitglieder enthält.

Quorum.

Drei derselben bilden daS

Die in diese Liste Aufgenommenen ernennen ans ihrer Mitte die Vorsitzenden

für j eben permanenten Ausschuß und dürfen von Zeit zu Zeit in dem Vorsitz einen Wechsel eintreten lassen."

Res. 4. „Eine jede Bill, welche einem der genannten Permanenten Ausschüsse überwiesen

ist, wird, nachdem dem Hause Bericht über dieselbe erstattet ist, in gleicher Weise behan­

delt, wie wenn der Bericht von dem Ausschüsse des ganzen Hauses erstattet wäre, jedoch finden die Bestimmungen der Geschäftsordnung (welche die Berathung über eine amen-

dirte Bill betreffen) auf den dem Hause erstatteten Bericht eines permanenten Ausschusses

keine Anwendung."

Res. 5. „Die vier vorstehenden Resolutionen sind Regeln der Geschäftsordnung des Hauses

nur bis zum Schluß der nächsten Sitzungsperiode des Parlaments."*) *) In der nunmehr beendeten Sitzungsperiode des Parlaments waren die neuen Re­ geln der Geschäftsordnung in Kraft. Die Times (25. August 1883) urtheilt über deren Erfolg: diejenigen der neuen Regeln, welche obstruktiven Versuchen zu be­ gegnen und den Geschäftsgang zu beschleunigen bestimmt gewesen, seien unbenutzt geblieben; die Clotüre sei nicht als ein unwirksames Mittel, vielmehr als ein für den täglichen Gebrauch zu gewaltsames befunden worden. Der Versuch bezüglich der Theilung der Arbeit sei nicht mißglückt, wenn der Erfolg auch nicht als ein glänzender zu bezeichnen sei. Von den vier Bills, welche den permanenten Ausschüssen überwiesen wurden, gelangten drei an das Haus der Gemeinen zurück; zwei von diesen wurden dem­ nächst Gesetz. Es war dies ein Konkursgesetz (Bankruptcy Bill) und ein Patentgesetz (Patents Bill). Die Bill betreffend die Einführung einer BerufungSJnstanz in Kapitalsachen (Criminal Appeal Bill) hatte die zweite Lesung bestanden und war dem Standing Committe on law überwiesen. Dasselbe erstattete seinen Bericht; die Staatsregierung entschloß sich jedoch die Vorlage zurückznziehen. Die zweite demselben Ausschüsse Überwiesene Gesetzesvorlage (Criminal Code Bill) blieb unerledigt. Der Ausschuß sah sich in der Unmöglichkeit, dieselbe durchzuberathen; es waren allein 400 Amendements eingebracht. DaS Verfahren in diesen Ausschüssen, über das int Beginn Ungewißheit be­ stand, gestaltete sich int Wesentlichen, wie das im Hanse. Ein Antrag den Bestimmungen betreffend die permanenten Ausschüsse, welche nur für die Sitzungsperiode in Kraft waren, weitere Dauer zu verleihen, wurde nicht gestellt. Voraussichtlich wird dies in der nächsten Sitzungsperiode geschehen. —

Berlin im August 1883.

O. G. Oppenheim. Obertribunalsrath a. D.

Die norddeutsche Colome in München 1809 und 1810. AuS dem Tagebuch eines Katholiken.

Mitgetheilt von Fr. Reuter.

Einem Erlanger Besucher gegenüber bezeichnete einmal Fr. v. Baader

den Protestantismus als einen auf den Katholicismus ausgestellten Wechsel, der diesem seit bald drei Jahrhunderten präsentirt werde, ohne von ihm eingelöst worden zu sein.

Ein solche» Präsentiren und eine Form der

Einlösung soll an dem hier folgenden Beispiel deS 1842

als Professor

der Philologie in Erlangen verstorbenen Kopp gezeigt werden.

Kaum

wird sein Name heute Vielen bekannt sein und den Wenigen zunächst nur als der eines Vertrauten von Fr. Rückert; und doch ist richtig, was noch in den Grenzboten vom 29. März 1860 ausgesprochen war, daß er von

Urtheilsfähigen, die ihn kannten, den ersten Philologen der Zeit, vor allem als Aristoteleskenner, angereiht wurde.

Nun hoffe ich, Kopp als

Erklärer Rückert's demnächst selbständig auftreten lassen zu können, hier aber soll gezeigt werden, wie er in einem Tagebuch

auS den Jahren

1809 und 1810 den Unterschied im religiösen Leben und der Erziehung von Katholiken und Protestanten sich klar zu machen sucht.

Um jedoch

den Werth dieser Tagebuchäußerungen zu schätzen, ist wohl nöthig, vorher

Einiges auS den Kinderjahren des Aufzeichners zu kennen. Es ist also Josef Kopp 1788 zu Sommerau im altbairischen Wald nahe der böhmischen Grenze geboren, wo seine Eltern eine kleine über­

dies belastete Landstelle besaßen.

Arbeitsam zwar, aber arm hätten sie

nicht an Höheres für den Sohn gedacht, wenn nicht ein Bruder der eifrig kirchlichen Mutter Prior bei den Benedictinern gewesen wäre:

weckte den sehnlichen Wunsch,

dies er­

einen geistlichen Sohn zu erleben.

So

wurde der achtjährige in der Nachbarschaft bei einem Chorregenten unter­ gebracht, welcher die Anfangsgründe der lateinischen Sprache, Singen und Violinspiel lehren sollte.

Allein statt dieser Information hatte der Zög-

ling meist das jüngste Kind des Hauses zu wiegen und zu warten und erhielt bei schlechter Kost und gleichem Unterricht die Strafen für Unarten

und

Vergehungen

eines

ihm

etwa

Die Frau

gleichaltrigen Sohnes.

ihn durch Erzählen von Märchen jeder Art und

Santorin entschädigte

erfüllte seine Phantasie mit einer wirren Geister- und Zauberwelt.

abenteuerlichen Erzählungen von Druden,

Zauberern,

Hexen,

Die

Weitzen

(Gespenstern), Teufeln und Heiligen füllten sein Gehirn so, daß er ab­

wechselnd bald zaubern zu können, bald ein Heiliger zu werden und zu sein wünschte und trachtete, ein Heiliger, wie sie in Legenden und den

Ueber den etwa zweijährigen

Erzählungen des Volks geschildert werden.

Aufenthalt in dieser Welt klagt er später: Von Neunkirchen beim heiligen

Blut habe ich auch nicht eine gute, freundliche und nachhaltige Erinnerung

mit mir genommen.

DaS Bedeutendste möchte leicht die Anschauung und

Erfahrung sein, die ich über das Mönchthum bei den Franciscanern, über

Wunder und Aberglauben, Wallfahrten u. dgl. erhielt.

Nach einigen Jahren kam er von hier auf die Straubinger Latein­ schule, wo es ihm nicht viel besser ging; er fristete sein Leben durch Kost­

tage bei bürgerlichen Familien sowie bei den Carmelitern und Capuzinern, daS Resultat seines geistigen Lebens aber faßt er mit einer an Luther

erinnernden

Wendung

dahin zusammen,

in Frömmelei und Bigotterie verdorben.

er

habe

geträumt

und

sei

Denn auch die Ferien brachten

ihm keinen Gewinn; er verlebte sie zwar bei dem Oheim, der Benedictiner-

prior war, aber dieser überließ den Neffen sich selbst und dem Gesinde und gab nicht einmal durch eine vernünftige Lektüre dem reichbegabten

Jungen Halt und Nahrung.

Fand er ihn

einmal unter dem Gesinde

predigen oder bei anderem Zeitvertreib, so wartete Spott und Demüthigung jeder Art des verlassenen Knaben, wenn nicht sogar muthwillige Miß­

handlung. Um einige Jahre später finde ich nun Kopp in München, wo er

1807 mit Fr. Jacobs

bekannt geworden war, den er fortan als den

Erwecker feines geistigen Wesens verehrte, in der Anschauung von dessen

Persönlichkeit ihm seine eigene Bestimmung aufgegangen sei.

Ueberlegung und Betrachtung, welche durch den Umgang bewirkt sind,

weisen die

Die innere

neuen Unterricht und

folgenden Mittheilungen auS;

der

21jährige Jüngling, der sie in stillen Stunden zu Papier gebracht hat, ist damals Lyceist in München, nach heutiger Bezeichnung also etwa an­

gehender Student.

„Unter den bayerischen Gelehrten, schreibt er 1809,

kenne ich Weinzierl, Weiller, Westenrteder, Imhof, Streber, Holzwart, Pezl, GeiSreuter, Lechner u. dgl.; von Ausländern Jacobs, Schlichtegroll, Hamberger, Thiersch!

Es ist platterdings unmöglich, wenn man Jacobs,

Die norddeutsche Colonie in München 1809 und 1810.

366

Schlichtegroll, Hamberger kennt, nicht die Gegenwart eine- höheren Wesen»

zu fühlen.

Ueber die Erziehung, welche unsere gelehrten Pfaffen ihren

Kindern geben, kann ich nicht urtheilen, da sie selber nicht produciren und anerkennen.

Uebrigen» hat mir selbst der Ton und die Erziehung der

so sehr gehaßten Mannheimer (Rheinpfälzer) beffer gefallen al» der Ein­

heimischen; und vollends die „der anderen . . vom Nordpol*)!"--------„Ein Acker, auf den, wenn e» noch Zeit ist zum Sommeranbau, Hagelschaden getroffen hat, wenn er dann gleich zeitig abgeräumt wird, trägt dann um so beffer.

Mit dieser ökonomischen Erfahrung stimmt

auch, scheint e» mir, eine psychische überein: daß nämlich Unglückliche desto geneigter für sittliche Früchte und tragbarer sind, oder auch, daß Leute, die sich im Sündenpfuhle dieser Erde gewälzt haben, wenn sie umkehren,

um so religiöser und gemüthsinnerlicher werden; daß Leute, deren geistige

Jugendblüthen vom Hagel der Borurtheile, de» Fanatismus, Aberglau­ bens ertödtet werden, wenn darnach auf diesem Feld abgeräumt wird, um

so wüthiger, entschiedener und freier gedeihen und mit Früchten gesegnet sein werden. DaS ist der Fluch der Papistischen Religion, daß Wesentliches und Zufälliges, Hauptsache und Nebenwerk darin so verkettet sind, daß, wenn

Eines fällt, auch

alles Andere nachstürzt, da die ganze Sittlichkeit auf

Religion beruht, die ganze Moral theologische Moral ist.

So laS N.

als Singknabe im Uebermuth Messe, und andere Knaben musictrten.

Da kam ein Pfaff und hieb ihn um den Altar herum: „ein Meßgewand, die Stola entweihst du" — dies urgirte er besonders.

Ein Stockkatholik hält gewiß jeden, der nicht alle alten Weiber­ märchen gläubig annimmt, nicht jede Alfanzerei für ein wesentliches Stück

der Religion hält, für einen lauen Katholiken.

Andere sind um einen

Grad etwa höher, sehen Außendinge wohl nicht für die Hauptsache in der Religion an, billigen nach individueller Erfahrung und Einsicht z. B.

die Aufhebung der

Klöster und. die Abschaffung

anderer Mißbräuche.

Diese sind in des Ersteren Augen wahrhaft schon Ketzer; aber sie selbst wehren sich noch mit Händen und Füßen für die Messe und die Formu­

largebete, während sie doch sogar die Schlechtigkeit mancher geistlichen Personen anerkennen.

Dieselben verdammen als einzig Rechtgläubige

wieder die, die weiter gehen als sie selbst. Alles nach individueller An­ sicht und Einsicht, die aber, besonder- In Religion-sachen, jeder gar zu gern zur allgemein gültigen und allein und allgemein geltenden und selig

machenden erheben möchte.

Dabei ist nicht- lustiger, al- solche Menschen

*) ein unleserlicher Schimpfname, ich vermuthe: „Hundsfötter".

mit ihren crassen oder sublimirten Begriffen und Glauben-meinungen so

voll seligen Triumphe- Jeden den Anderen widerlegen und ihm den Gna­ geben zu sehen, der doch immer neben

denstoß

abgeht wie

auf eine

schlüpfrige Kugel. Ueberführe Katholiken von manchem Irrthum ihrer Religion, von Aberglauben u. dgl., von dem Guten, da- im Protestantismus herrscht:

sie stimmen ein — und im nächsten Augenblick ist Alle- vergessen, wie bei leichtsinnigen Kindern die Warnungen und festen steifen Vorsätze; die

Katze springt wieder auf die alten Füße; sie glauben wieder Ammenmärchen, verdammen wieder ohne Unterschied. Ueberhaupt rechne ich eS dem Katho­ licismus zu einer großen Sünde an, daß er (zwar sehr politisch und zum

Theil gewiffer und sicherer als auf dem entgegengesetzten Wege) daS Gute

blos um der Belohnung willen, das Böse blos um der Strafe willen meiden lehrt, daß er also jenes nicht lieben al- eigentliches Leben, dieses nicht ver­ abscheuen

lehrt und so immer den

inneren Feind als einen Rebellen

im Herzen hegt, den nur Furcht im Zaum hält.

Dies kann ich wenigstens

von mir sagen, so lang ich Katholik, d. t. Katholik strikter Observanz war.

Eines der größten Uebel in der katholischen Kirche ist, daß die Pfaffen daS Gewissen, die innere Stimme und die Vernunft, so völlig erstickten

und in dasselbe Dinge hinetnschoben, die nicht hinein gehören, die Menschen

gegen sich selbst so mißtrauisch machten! Nach öfteren Unterredungen und

DiScursen habe ich immer bei Katholiken gefunden, daß die Leute ihr Gewissen für sehr unzuverlässig hielten und meinten, eS fördere wohl auch Rache u. dgl., also eS offenbar mit Leidenschaft oder dem Herzen als derer

aller Sitze verwechselten. Wenn Stockkatholiken auch einsehen, daß ManchePfaffenbetrug sei, halten sie doch darauf und bestehen steif darauf, daß

sie da- ja nicht- angehe: man müsse sich nicht an da- Thun de- Priester-, sondern an seine Lehre halten; ja für Derartige-, wie wenn Fische in

den Augen eine- Muttergotte-btlde- bewirkten, daß sie weinte, Elektricität, daß sie zurückstieß, müsse dort der Pfarrer haften, der sie ja nicht andergelehrt u. dgl.

Daher halte ich die katholische Kirche unter dem geringen

Volke für inkurabel.

Wenn unsere (katholischen) besseren Kinder auch gut sind, so sind sie e- au- Verstand und Ehrgeiz.

Sie zeigen sich gern in dem, wa- sie in

der Schule gelernt haben; man lobt sie, da- gefällt ihnen und erfreut sie. Fallen sie nun in Unarten, so heißt'-:

Pfui, Josef, ist denn da- schön

für einen, der ein Prämium bekommen hat? u. dgl.

Und der Junge

hält sich in Gegenwart der Erzieher ruhig und trägt wieder Lob davon;

spricht gerne: u. s. f.

Da- sind häßliche Buben, sind nicht still, treiben Schofeleien

So lernt sich ihm da- Gute nur an, insofern e- von Anderen

Die norddeutsche Colonie in München 1809 und 1810.

368 bemerkt wird.

Vergißt er sich nun, und bricht, wenn er sich für unbe­

merkt hält, in der Gesellschaft anderer Knaben sein Muthwille loS: so

wird er, wenn eS Unrath absetzt, vor denen, deren Lob er sucht, leugnen, die Schuld auf Andere wälzen, an seine Größe erinnern, daß er sich mit

solchen Fratzen gar nicht abgeben möchte, wird sogar den verleumderischen

Angeber machen, sich einschmeicheln und nun wieder voll Grandezza da­ stehen.

Fragt er dagegen nichts nach Leuten, die ihn bei Flegeleien er­

tappen, so höhnt er noch dazu, hängt ihnen ein loseS Maul an, was sie'S angehe u. f. w.

Auch wohl, wenn er Knabengesellschaften antrifft, allein

oder mit seinen Vorstehern, so rümpft er die Nase und zieht sich zurück, als hielte er jede Gemeinschaft mit ihnen für Besudelung.

gut, weil daS Gute ihm Lob

Kurz er ist

einbringt, zur Anregung seines Ehrgeizes

angewendet wird.

Dagegen wachsen die (protestantischen) talentreichen und quecksilbrigen Jungen ohne solchen Sporn deS Ehrgeizes heran.

Wenn sie nicht von

Natur sehr gut geartet, also auch böse sind und Muthwillen üben, sie thun eS offen und geradezu, wie die ersten heimlich;

sie sind meist böse

aus Leichtsinn und Lebhaftigkeit und können bereuen, was jene nicht können. Mehr oder minder sind

dies

die beiden Methoden oder Extreme,

nach denen die Erziehung verfährt.

Ich halte eS für ein Meisterstück der

Erziehungskunst jener Protestanten, die ich kenne,

daß sie den Kindern

einen gewissen Sinn, Takt, Gefühl, ein Ebenmaß, sage man, was man will, von Schicklichkeit, Güte als etwas Naturgemäßes ins Gemüth bringen.

DaS macht mir diese Jungen, Alfred, Julius, Emil

(gemeint sind etwa

zehnjährige Knaben der norddeutschen Colonie) so interessant.

Der Unterschied und Charakter, der die Kinder der protestantischen norddeutschen Gelehrten vor denen meines Vaterlandes auSzeichnet, ist mir gestern, den 3. JuniuS 1810, in der protestantischen Kirche bei Ge­

legenheit eines Examens von Confirmanden deutlicher geworden.

Jene

Gelehrten lehren nämlich den Kindern, soweit ich wenigstens habe beob­ achten können, anfänglich, wenn ichs so nennen soll, die Moralität blos durch elterliche Autorität:

„pfui, schäme dich!

daS ist häßlich; daS war

nicht gut," und erwecken so in ihnen ein sittliches Gefühl, nicht eine Er­ kenntniß.

Mit diesem sittlichen Gefühl erregen sie in ihnen zugleich, eben­

falls indirect, die Empfindung der Schicklichkeit einer Handlung und ihrer

conventionellen Sittsamkeit, ohne noch eben an Staatseinrichtungen und die aus der staatsbürgerlichen Verfassung und die durch Gewohnheit ge­

heiligten SittsamkeitS- und Decenz-Gesetze zu erinnern.

So gründen sie

die Sittlichkeit im Herzen, so daß sie wachsen soll, wie der Körper wächst,

wie die Vernunft erstarkt, und wie die Empfindung weiter und heftiger wird.

ES wird das endlose Gebiet deS Herzens mit seinen Wünschen,

Trieben, Begierden und Neigungen in einen sicheren KreiS eingeschlossen, in dem sich Güte und eine besondere Milde einschließen, in dem sich ihres Lebens Sterne als ihrer angewiesenen Region umdrehen, und zwar sitt­

lich, weil nur Sittliches in dieser Region ausgenommen worden ist. Später erst, und vielleicht mehr beiläufig (vaS weiß ich nicht) wird nun Manches von Gott und was zunächst daraus fließt beigebracht, und erst in reiferen Jahren, da sich die sittliche Neigung noch mehr festgesetzt haben

kann, werden die religiöse Erkenntniß und die positiven Religionslehren

gelehrt und gelernt — ich sage gelehrt und gelernt, denn, seh' ich recht

oder nicht? mir schetnt'S, damit sei's ihnen nicht so viel Ernst als mit der Sittlichkeit — auch macht in der That viel positive Religion unver­

träglich, unduldig; vielleicht und mehr als wahrscheinlich nicht aus Ge­

ringschätzung der positiven christlichen Religion, sondern weil sie Wohl den Kindern nichts in den Kopf setzen wollen, was diese allenfalls, so wenig­ stens wie eS ist, entbehren oder eigentlicher in sich selbst finden können.

Denn, und das will ich besonders bemerken, mir scheint eS ganz richtig

und vortrefflich, daß ein sittlich gestimmtes, immer rein bewahrtes sittliches

Gefühl, eine noch wie von Gott weiß und glänzend geschaffene Seele diesen Gott leicht finde, ja daß sie ihn unSauSsprechlich noch in sich trage, so wie ein neugeborenes Kind seinen Vater bald kennen lernt.

Ich bin

nämlich überzeugt, daß erst die Sünde dem Menschen Gott bekannt ge­ macht habe, und ich habe mehrmals beobachtet und gefunden, daß Men­

schen, denen von Natur ein gewisses stilles, ruhiges, uninteressirteS, sitt­ liches Wirken und Streben angeboren ist, in Vergleich mit anderen, ver­ störteren, unruhigeren, wilderen Sinnes geborenen, d. h. weniger rein

sittlichen, daß jene Naturguten weniger religiös als diese waren und sind, wenigstens ist ihre Religion duldsamer, insofern nur Rechtschaffenheit und

nur äußere religiöse Abweichung sie von Anderen trennt.

Ihr sittliches

Gefühl bringt sie leicht mit der ganzen Welt in Uebereinstimmung, nur nicht mit der Unsittlichkett und Wildheit.

Ist nicht jedes junge und alte

Menschenherz wie ein musikalisches Instrument, das harmonisch gestimmt

oder verstimmt werden kann, je nachdem ein Meister darüber kommt oder ein Stümper, und je nachdem die Schwingungen einer gleichen Satte auf

einem anderen Instrument rein oder unrein sind?

WaS ich sonst wohl

glaube, daß der talentvollere Kopf durchschnittlich auch der bessere, sitt­

lichere Mensch sei, daS gilt hier nicht. Den vollsten Gegensatz davon macht unsere einheimische ErziehungS-

weise.

Da wird so früh als möglich mit den positiven ReltgionSlehren,

370

Dir norddeutsche (Kolonie in München 1809 und 1810.

den Dogmen angefangen, um ja gleich durch den blinden Glauben, der

dazu nöthig ist und den daS kindliche Gemüth am leichtesten annimmt,

die besten Kräfte deS Geiste-, freie- Umherschauen und eigene Anstrengung de- jungen Denkvermögen-, zu ersticken.

Zunächst daran schließt sich der

pädagogische Grundsatz, die Kinder ja recht früh zur Sittsamkeit zu ge­ wöhnen, will sagen an den eingeführten Wohlanstand, die konventionelle Höflichkeit und Artigkeit mit Hutabziehen, Compltmentemachen, Händeküssen

und mit den nöthigen Attitüden in der Kirche und in Gesellschaft, wohin man sie frühzeitig mitnimmt, damit sie, heißt eS, ernsthaft werden und sich in die große Welt finden und Weisheit darin lernen, damit sie nicht steif

und plump werden; vielmehr aber, damit sie da bald, recht bald in die

ganze Verdorbenheit etngeweiht werden, und damit sie, wenn sie auch an­

fang» Langeweile dabei finden, doch eben durch diese Langeweile gespannt werden sich darein zu verlieren, und recht bald, mit Uebergehung der sorg­ losen, unverkümmerten Jugend, darin ihre Befriedigung, ihre Sättigung

finden lernen, Vergnügen an Intriguen und Liebesaffären, damit

sie

wie Jochthiere frühe gewöhnt werden jede nächste Last, jedes beliebige Joch,

sofern nur sonst noch dabei ihrer Leidenschaft unbeschränkter Spielraum gelassen wird, auf sich zu nehmen. Sklaverei und Despotismus.

Dies ist also eigentlich Erziehung zu

Au» der Erziehung, denke ich, kaffen sich

alle die Gegensätze und Verschiedenheiten, die zwischen dem protestantischen und katholischen Deutschland stattfinden, großentheil» erklären oder, wenn man so sagen will, zwischen dem Norden und Süden Deutschland», inso­ fern der Norden meist lutherisch, der Süden katholisch ist. —’

Eö wäre wohl der Mühe de» Historiker» werth zu erforschen, wa»

im ganzen Umfang de» neu europäischen Leben» und seiner Cultur ächt au» diesem Boden entsproffen, welche Elemente au» fernen Landen, frem­

den Welttheilen und alten Zeiten herübergekommen und verpflanzt worden sind, wie sie sich fortpflanzten, verzweigten und entwickelten und auf Bil­

dung oder Mißbildung einwirkten.

In ganz Europa herrscht eine au»

dem Orient stammende Religion, die sich zwar durchaus europäisch um­ gestalten mußte, aber bis in» tiefste Leben hinein ihre Wirkungen ver­ breitete. Diese Religion hat sich besonder» im Protestantismus europäisirt,

und wie mir scheint zu ihrem Vortheile.

Ein buntes Gemisch von Jü­

dischem, Heidnischem und Christlichem, Altem und Neuem ist besonder-

unser Aberglaube.

In allen diesen Detail- müßte man durchweg scharf

die orientalische Gluth der Phantasie und da- hohe Gefühl von den Eigmthümlichkeiten deS kälteren und steiferen Norden- unterscheiden. — Religion-duldung und Aufnahme von Andersgläubigen in ihr Land war bei den protestantischen Fürsten doch auch meistentheilS mehr kluge

Politik als christliche Liebe.

Aber so müssen die Katholiken den Prote­

stanten den Kreis ökonomischer und landgedeihlicher Politik zugestehen, denn unter den Protestanten erinnere ich mich keines Beispiels von Re­

ligionsverfolgung, Austreibung der Andersgläubigen, Dragonaden; viel­ leicht weil ihre Religion jung, vielleicht weil nirgends ein Land ganz und rein protestantisch gewesen ist. — Wiederum ein Beweis meiner schmelz­

baren, wächsernen Natur ist, daß ich jetzo wegen Jacobs besser von der Religion, besonder- von der christlichen denke als ehemals, ja zuweilen

selbst ihre Partei nehme.

Den 7. August 1810: Wie die Jahreszeiten wechseln, so die Lebens­ Mein Frühling ist vorbei, da Jacobs gehen.

alter.

Ich fühlte immer,

daß sie mir als Götter gegenwärtig waren; es war mir so unbesorgt,

sorgenfrei, kummerloS und froh, als im elterlichen Haufe. Die Rebellen, Wünsche und Träume, beruhigten sich.

Am 18., als Jacobs Abschied

nahm, weinte ich abgewendet, verbarg mich und konnte mich nicht satt

weinen.

Quis desiderio eit pudor aut modus tarn cari capitis?

cui

Pudor et Justitiae eoror, incorrupta Fides, nudaque Veritas quando uilum inveniet parem? Multis bonis flebilis abis, nulli flebilior quam

mihi.

Die Pharisäer sagten, eS sei besser, daß ein Unschuldiger für viele

Schuldige leide; die bayrische Regierung sagt durch ihr Betragen, eS sei besser, daß viele Unschuldige leiden, denn daß ein Schuldiger (Aretin) zu

Grunde gehe. — T)ie Erinnerung an daS Gute vergangener Tage legt

sich mild um die Phantasie, spricht gern deS Gebers Namen aus und zollt ihm Dank mit einem Gott vergelt's ihm; er hat mir viel GuteS gethan. —

Die Cultur des Verstandes, die Trennung und Absonderung unserer Seelenkräfte und da- Aufpassen und Belauern deS inneren Treibens in uns erstickt und verstopft eine Quelle der Empfindung und Religion um die andere.

Wir sind ganz reflectiv geworden, wo in alten Zeiten da­

gegen der erfaßte Gedanke immer au- dem Herzen kam und jede Empfin­ dung auch verständig beurtheilt wurde. — Noth lehrt beten; sie preßt daHerz, sie weckt die Empfindung, daher ist sie religiös. DaS Unglück, da-

unsere Zeitgenossen so hart bedrückt, macht, daß Biele im allgemeinen Drange ihren Trost in religiöser Einkehr und in sich selbst suchen.

Welch

ein Umschwung: In Bayern vor 8—10 Jahren welch ein Geschrei und Aufsehen mit Aufklärung, und nun!

Der Im Reich deS Wirklichen ver­

lassene, arme, freudenlose Mensch sucht Entschädigung im Umgang mit den Geistern, und bald wird ihm Alle- bedeutend, deutet ihm Zukunft, weil

ihn die unfreundliche Gegenwart von sich auSstößt." Noch eine Notiz sei hier ausgenommen, nm dem Mißverständniß zu

372

Die norddeutsche Tolonie in München 1809 und 1810.

begegnen, als sei etwa Kopp durch die von ihm eingeschlagene Geistes­ richtung außer Verkehr mit Katholiken gekommen.

Als ihn der Schmerz

um Jacobs Weggang fast verzehrte, trägt er ein: „Am 8. August 1810 machte ich eine mir sehr interessante Bekanntschaft an dem mehr als 70jährtgen Herrn Dechanten Hetzer; er führte mich in seine Bibliothek,

umarmte und küßte mich mehrmal." — „1. November, Allerheiligen. Es

ist ein schönes Fest, die Denkmale zu öffnen, die Gräber mit Blumen zu

schmücken, Kränze trauernd zu winden und den Geschiedenen den letzten Dienst des Weihbrunnens nicht zu versagen.

Beinahe bin ich auf mich

böse, daß ich es nicht gethan habe."

Ich unterlasse, diesen Aufzeichnungen Weiteres hinzuzufügen; sie sprechen ja vernehmlich genug für sich selbst und zeigen klar und deutlich, wie wenig

zur Erfassung des persönlich werden wollenden Geistigen die Schlagworte von hüben und drüben helfen, ja daß durch die Parteinamen der Kern

der Dinge lediglich verdeckt werde.

Wenn aber hier der Protestantis­

mus als eine höhere Stufe des geistigen Lebens gefaßt wird und auf

die lebendige Quelle, aus welcher sittliche Antriebe entspringen, mit überzeugender Kraft der.Wahrheit, wie mich dünkt, hingedeutet ist, so mag sich unsere gegenwärtige protestantische Erziehungskunst nicht sowohl

ihrer Erfolge rühmen, als vielmehr besinnen, in wie weit sie noch die Grundlage einnimmt, auf welche sie von den Vätern hingestellt wurde.

Ob eS nun endlich für den geschichtlich gebildeten Sinn zwar selbstver­ ständlich ist, daß dieser Kopp nicht vereinzelt durch die Einwirkungen der norddeutschen Protestanten ergriffen und umgebildet worden sei, so mag

immerhin ein gewichtiges Zeugniß diesen Satz bestätigen.

Schelling näm­

lich schreibt in einem Briefe, der auch unseren Kopp erwähnt, am 7. Juni

1827 aus Erlangen an Schubert nach München: „Ich halte die bayerische

Jugend für höchst empfänglich, dankbar aufnehmend das stärkende und er­ hebende Wort, dabei fröhlich und heiter. ., denn noch ist ihr nichts weiß

gemacht worden."

Baiern und die Karlsbader Beschlüsse.

Unter dem Titel „Die bairische Verfassung und die Karlsbader Be­

schlüsse" veröffentlicht Freiherr Max von Lerchenfeld soeben eine Schrift, die ich als einen dankenöwerthen Beitrag zur neuen deutschen Geschichte willkommen heißen würde,

wenn mich nicht ein der Erzählung voran­

gestelltes Capitel „Treitschke's Deutsche Geschichte"

zu einer Erwiderung

nöthigte. Im Verlaufe meiner Forschungen über die ersten Friedensjahre seit

1815 bin ich zu einem Ergebniß gelangt, daö von der landläufigen An­ sicht ziemlich weit abweicht: eS ist nicht richtig, daß Preußen damals ledig­ lich

eine Macht

des Beharrens war und die politische Bewegung der

deutschen Nation sich allein auf die

constitutionellen Mittelstaaten be­

schränkte; vielmehr hat die preußische Krone grade in diesen verrufenen

Jahren den festen Grund gelegt für die militärische und die wirthschaftliche Einheit unseres Vaterlandes, während die constitutionellen Staaten

ihrerseits an den Karlsbader Beschlüssen und den anderen verhängniß­ vollen Mißgriffen der beiden Großmächte mitschuldig sind.

Dieö Urtheil

ergab sich mir ungesucht, zu meiner eigenen Ueberraschung — habe ich doch selbst vor zwanzig Jahren, als ich den Thatbestand noch nicht genau

kannte, die allgemeine Ansicht im Wesentlichen getheilt — und da politische

Legenden eine sehr zähe Lebenskraft zu besitzen pflegen, so mußte ich auf lebhaften Widerspruch gefaßt sein.

DaS konnte ich freilich nicht erwarten,

daß einige norddeutsche Liberale, geärgert durch die Zerstörung tief ein­

gewurzelter Parteimärchen, die

landsmannschaftliche Empfindlichkeit der

Oberdeutschen gegen mein Buch aufzustacheln suchen würden.

Weil die

Pflicht der historischen Wahrhaftigkeit mich zu dem Nachweise zwang, daß die vielverläumdete preußische Politik jener Tage weit besser war als ihr Ruf und die

constitutionellen Höfe manchen der

ihnen von liberalen

Historikern gespendeten Lobsprüche nicht verdienen, darum beschuldigt man

mich der Gehässigkeit gegen die Süd- und Mitteldeutschen, denen ich selber durch Geburt und Erziehung angehöre.

Baiern und die Karlsbader Beschlüsse.

374

Zu meinem Bedauern ist Herr v. Lerchenfeld diesen Einflüsterungen nicht ganz unzugänglich geblieben.

Er spricht zwar maßvoll und würdig,

wie ich daS von ihm nicht anders erwarten konnte, und der ruhige Ton seiner Rede beweist mir zu meiner Freude abermals, daß meine ober­ deutschen Landsleute meine Arbeit ungleich freundlicher ausgenommen haben

als ihre unberufenen norddeutschen Anwälte.

Doch hätte er daS Buch

ganz unbefangen mit seinen gesunden bairischen Augen, nicht durch die

trübe Brille der norddeutschen Gelehrten

der Allgemeinen Zeitung be­

trachtet, so würde er weder Gedanken herauslesen, die nicht darin stehen,

noch Urtheile bekämpfen, die mit seinen eigenen vollkommen zusammen­

stimmen.

Er zeiht mich der Unbilligkeit gegenüber der bairischen Rhetn-

bundSpolitik und hält mir zu meiner Besserung daS Beispiel Hardenbergs

vor, der gerechtermaßen anerkannt habe, daß BaiernS Verbindung mit

Frankreich gutentheils durch Preußens Schwäche verschuldet war. mein Buch

nicht

gelesen hat, muß

also

diesem Ausspruche Hardenbergs gradeSwegS zuwiderlaufe.

damit in Wahrheit?

Wer

annehmen, daß mein Urtheil

Wie steht es

Ich kann es mir nicht versagen, die beiden Stellen

hier neben einander abzudrucken, weil diese Zusammenstellung den Lesern, die sich in unseren grilligen Tagen noch ein wenig gute Laune bewahrt

haben, vielleicht eine kleine Ergötzung bereiten wird.

Hardenberg sagt (bei

Lerchen­

feld S. 6):

Ich

sage (Deutsche Gesch. II.

334):

„ES ist wahr, Baiern verdankte

„Nicht aus Vorliebe für Frank­

Preußen seine Erhaltung, und der

reich hatte MontgelaS einst daS alte

Kurfürst insbesondere dem

Bündniß mit Preußen aufgegeben,

König

persönlich Freundschaft, Schutz und

sondern

weil

er einsah, daß die

aber es war

bairische BergrößerungSlust vorläufig

zu entschuldigen, daß es seine Po­

von Preußens Schwäche nichts, von

litik nicht an die preußische kettete,

Bonüparte'S Thatkraft Alles erwar­

weil diese so schwach war und so

ten konnte."

Zuflucht im Unglück;

wenig Schutz gewährte." Ich meine, diese beiden Aeußerungen stimmen beinah wörtlich über­

ein, und bei dem Wohlwollen, daS mir die liberale Presse widmet, muß ich fast befürchten, es werde noch einmal ein gesinnungstüchtiger Recen­

sent auftreten und mich des Plagiats an Hardenberg beschuldigen.

Einen

ehrlichen Kritiker wie Herrn v. Lerchenfeld darf ich aber wohl fragen: redet er eigentlich im Ernst oder im Scherz, wenn er mir also meine eigenen Urtheile mahnend entgegenhält als ob ich sie bestritten hätte?

Nicht besser steht es um die anderen Vorwürfe, die er in seinem einleitenden Capitel auf meine Deutsche Geschichte herabschüttet; trotz der

höflichen Form läuft doch Alles auf den Satz hinaus:

Treitschke ist gut

preußisch gesinnt und folglich ungerecht gegen alle Ntchtpreußen.

Wenn

Herr v. Lerchenfeld mir vorwirft, ich tadle Jeden, der nicht damals schon

Preußens deutschen Beruf erkannt habe, so kann ich nur erwidern: von Alledem steht in

meinem zweiten Bande kein Wort, aus dem einfachen

Grunde, weil Preußen in jener Zeit an die Beherrschung Deutschlands

weder dachte noch denken konnte.

Das Einzige, was sich damals zur Be­

festigung unserer politischen Einheit vielleicht erreichen ließ, war eine leid­ liche Ordnung des Bundesheerwesens.

Für diesen nationalen Zweck hat

Preußen in immer neuen Anläufen seine Kraft eingesetzt, aber jeder Ver­ such scheiterte an dem Widerstande BaiernS und der meisten Bundesstaaten. kann ein so

anderen

Finde ich einen solchen PartikularismuS unerfreulich, so

guter Patriot wie Herr v. Lerchenfeld dawider doch nichts

einzuwenden haben.

Desgleichen, wenn ich den Kampf der Kleinstaaten

wider das preußische Enclavenshstem schildere, so denke ich nicht daran, die Kleinen darum zu tadeln, weil sie „dem deutschen Berufe" Preußens

widerstrebt oder gar die Pläne deutscher Zollpolitik, welche damals dem

Berliner Hofe selber noch unklar waren, nicht durchschaut hätten; ich weise vielmehr nur nach, daß sie,

verblendet durch Mißtrauen und durch die

Ueberschätzung einer unhaltbaren Souveränetät, ihren eigenen handgreif­ lichen Vortheil verkannten, indem sie das Anerbieten

einer Zollgemein­

schaft zurückwiesen, die sich seitdem in der Erfahrung eines halben Jahr­ hunderts als gerecht und segensreich bewährt hat.

läßt sich gegen diesen Nachweis vorbringen?

Was in aller Welt

UnS Deutschen fehlt noch ein

gemeinsames nationales Urtheil über die entscheidenden Thatsachen unserer neuen Geschichte.

Die Verständigung darüber ist nicht leicht, und ich

.fürchte, sie wird nicht gefördert, wenn unsere Kritiker sich befugt halten,

jedem Historiker, der etwas weiter rechts- oder links steht als der Recen­ sent, kurzweg die Gerechtigkeit abzusprechen.

WaS würde mein Kritiker

dazu sagen, wenn ich ihn mit der gleichen Blünze bezahlte und meine Leser von vornherein wider ihn aufstachelte durch die naheliegende Be­

merkung: „Herr v. Lerchenfeld ist der Enkel des bairischen Finanzministers

von 1819, folglich sucht er die Münchener Politik jener Zeit so viel als möglich zu beschönigen!" —?

Nichts liegt mir ferner als der Gebrauch solcher Waffen.

Ich halte

für ganz unzweifelhaft, daß Herr v. Lerchenfeld mit seiner Schrift durchaus nichts anderes beabsichtigt als die Feststellung des historischen Thatbestan­

des, und begrüße eS mit Dank, daß er uns durch die Mittheilungen aus

den Papieren seines Großvaters endlich eine werthvolle bairische Quelle erschlossen hat, da die Archive der meisten Mittelstaaten wohl noch lange

Ich finde in diesen Papieren, wie sich von

unzugänglich bleiben werden.

selbst versteht, Manches, was meine Darstellung ergänzt, aber die Wider­

legung, die ich nach dem gehäuften Tadel der Einleitung wohl erwarten

durfte, suche ich vergeblich.

Nach sorgfältiger Vergleichung der Lerchen-

feld'schen Schrift kann ich von Allem, waS ich gesagt, nichts Wesentliches zurücknehmen als eine beiläufige Notiz, die keine principielle Bedeutung

hat.

Eine irrthümliche Nachricht in einem Gesandtschaftsberichte hat mich

zu der Annahme verführt,

daß Kronprinz Ludwig, dessen untadelhafte

Verfassungstreue ich übrigens mehrfach anerkannt habe, im Herbst 1819

in Italien gewesen sei.

Dies ist falsch.

Die hier abgedruckten Briefe

beweisen, daß der Kronprinz nicht nur in Baiern war, sondern auch den

Karlsbader

Beschlüssen

eifrig

entgegengewirkt hat.

ES soll mir eine

Freude sein, diese Briefe, die dem Herzen des Prinzen zur Ehre gereichen, für die nächste Auflage deS zweiten Bandes zu benutzen.

Mit dieser einen

Ausnahme muß ich alle meine Urtheile und thatsächlichen Angaben auf­ rechthalten. Zunächst die Urtheile.

Wenn ich BaiernS staatsbtldende Kraft in

jener Zeit „schwach" finde, so verweise ich zur Begründung,

um nicht

bitter zu werden, nur auf eine Thatsache: in welchem Zustande befand sich die linksrheinische Pfalz nach einem Menschenalter baierischer Herrschaft,

als die Preußen im Jahre 1849 dort einrückten!

Wenn ich von der un­

ruhigen Vergrößerungslust des Münchener Hofes spreche, so kann ich leider

die Thatsache nicht aus der Welt schaffen, daß Baiern allein durch seine

Anschläge auf die badische Pfalz noch bis in die dreißiger Jahre hinein immer wieder den Bundesfrieden störte, während alle anderen Bundes­

staaten sich längst bei ihrem neuen Besitzstände beruhigt hatten; über die Unhaltbarkeit der sogenannten Sponheimer Erbansprüche sind außerhalb BaiernS alle deutschen StaatSlehrer einig. Daß MontgelaS sich in seiner

bairischen Heimath nicht heimisch fühlte, sollte ein geborener Baier doch am wenigsten bestreiten.

Von Pietät für das

MontgelaS' Briefen keine Spur zu finden.

heimische Wesen ist in

Er redet über seine Lands­

leute mit einer Härte, die selbst den Nichtbaiern verletzen muß, und hierauf

beruht ja zum Theil die historische Bedeutung deS Mannes.

Wäre er

dem altbairischen Volke nicht innerlich so fremd gewesen, so würde er den radikalen Umsturz, der doch nöthig war, schwerlich gewagt haben.

Wenn

ich eridlich gesagt habe, daß München damals neben Karlsruhe die sitten­ loseste der deutschen Residenzen war, so habe ich damit nur eine allbe­

kannte Thatsache erwähnt, die selbst von GervinuS, Mittelstaaten anerkannt wird.

dem Gönner der

Herr v. Lerchenfeld fragt, ob diese Sitten­

losigkeit etwa von dem schlichten Hofe Max Josephs herstammen solle?

Gewiß nicht, aber von der unglaubliche» Frivolität seines Vorgängers Karl

Theodor.

Das

Treiben eines solchen Hofes

wirkt lange nach.

Karl Theodor hat, wie jeder Pfälzer weiß, die Sitten des Mannheimer Hofadels auf eine Generation hinaus verdorben, und in München ver­ allezeit offenen Händen

mochte der gutmüthige Max Joseph mit seinen

ebenso wenig wie die Weltkinder Montgelas, Ritter Lang und Genossen den

Auch Preußen hat Aehn-

Bodensatz der alten Zeit sogleich hinauszufegen. licheS erfahren.

Der frivole Ton, der unter Friedrich Wilhelm II. in

die Berliner Gesellschaft eingedrungen war, verschlimmerte sich noch in

den ersten Regierungsjahren Luise ein

seines Nachfolgers, obgleich die Königin

musterhaftes häusliches Leben führte;

1806 reinigte die Luft.

erst das Unwetter von

Da München vor solchen Schicksalsschlägen be­

wahrt blieb, so ist eS nur natürlich, daß dort die Nachwehen des alten HofwesenS langsamer verschwanden.

Nun zu der Erzählung der Thatsachen.

Ueber MontgelaS' Sturz

und daS Concordat sagt Herr v. Lerchenfeld mit anderen Worten ungefähr daS Nämliche wie ich, und gegen meine Darstellung der Entstehung der Con­ stitution erhebt er nur einen Einwand: er bezweifelt die Zuverlässigkeit

eines BlitterSdorffischen Berichtes, der ausdrücklich versichert,

daß der

Münchener Hof seine geplanten Verfassungsgesetze in Petersburg vorgelegt habe.

Diese Zweifel vermag ich nicht zu theilen.

ausgezeichneter Diplomat, wie man

auch

BlitterSdorff war ein

seinen Charakter beurtheilen

möge, seine Depeschen gehören zu den besten, die ich auS dieser Zett kenne, und sein Bericht vom 17. August 1818 lautet sehr bestimmt und ausführ­ lich.

AIS badischer Beamter war er freilich ein Gegner der bairischen

Regierung, indeß sein Zeugniß würde sich doch nur dann anfechten lassen,

wenn er den Münchener Hof verdächtigen wollte.

Dies ist aber keines­

wegs seine Absicht; er findet vielmehr das Verfahren der bairischen Re­

gierung ganz begreiflich

und

wünscht seinerseits lebhaft, daß auch der

Karlsruher Hof durch baldige Vorlegung eines Verfaffungsplanes sich den Beifall deS liberalen Czaren erwerben möge.

Eine physische Unmöglichkeit

liegt auch nicht vor, da die Berathung der bairischen Verfassungsgesetze doch einige Monate in Anspruch nahm — und noch weniger, leider, eine

moralische Unmöglichkeit.

Baiern und Baden bewarben sich damals wett­

eifernd um Rußlands Gunst mit einer Unterwürfigkeit, die uns Söhnen

einer besseren Zeit fast unbegreiflich erscheint.

Wenn König Max Joseph

im December 1815 dem Kaiser Alexander dafür dankte, daß

er das

Elsaß bei Frankreich erhalten habe, so sehe ich nicht ein, warum er den

Czaren nicht zwei Jahre später bei den Verfassungsverhandlungen um Rath gefragt haben soll. Preußische Jahrbücher. Bd. LIL Heft 4.

25

Sodann giebt Herr v. Lerchenfeld zu, daß König Max Joseph sich

im Frühjahr 1819 eine Zeit lang mit Staatsstreichsplänen trug und daß

sein nach Wien und Berlin ergangener Hilferuf die Karlsbader Beschlüsse mit veranlaßt hat.

Diese Thatsache wird aufs Neue bestätigt durch einen

Brief deS bairischen Bevollmächtigten Zentner, der am 28. December 1819

von den Wiener Conferenzen schrieb: „UebrigenS macht man kein Geheim­ niß daraus, daß die Karlsbader Beschlüsse von unserer Sette vorzüglich provocirt worden seien."

(Lerchenfeld, S. 132.)

Ich kann es keineswegs

unnatürlich finden, daß der König einen Augenblick an die Zurücknahme

eines Grundgesetzes, das sich nicht zu bewähren schien, gedacht hat.

Das

Häßliche dieser Vorgänge liegt nur darin, daß die Krone, während der

Briefwechsel über den Staatsstreich noch schwebte, sich in ihren Hofblättern beständig wegen ihrer Verfassungstreue Preisen ließ. Ueber diesen wunden

Punkt geht Herr v. Lerchenfeld stillschweigend hinweg. Nachdem die Karlsbader Versammlung mit Zustimmung des bairischen Bevollmächtigten Rechberg die Ausnahmegesetze vereinbart und der Bundes­

tag dieselben, abermals mit unbedingter Zustimmung des bairischen Ge­ sandten, genehmigt hatte, war Baiern nach Bundesrecht verpflichtet diese Beschlüsse bekannt zu machen, und ein nachträglicher Widerstandsversuch

versprach

geringen Erfolg.

Im Ministerium

bestanden zwei Parteien:

auf der einen Seite Graf Rechberg, auf der anderen der Finanzminister Freiherr v. Lerchenfeld, der an den Karlsbader Umtrieben ganz unbe-

theiligt war; der König aber stand dem Minister des Auswärtigen näher als dem liberalen Finanzminister.

sterium

über

die

Veröffentlichung

Am 15. Oktober berieth das Mini­

der

Karlsbader

Beschlüsse.

Herr

v. Lerchenfeld betrachtet das Ergebniß dieser Berathung als eine Nieder­

lage RechbergS; ich sehe darin ein Compromiß und vermag dies Urtheil nicht zu ändern.

Herr v. Lerchenfeld übergeht nämlich ganz, daß der Be­

rathung über die Publication eine andere, höchst erregte Debatte vorauS-

ging.

Ueber diese berichtet General Zastrow am 20. Oktober, nach Rech­

bergS vertraulichen Mittheilungen, Folgendes: „Die Instruktionen, welche dem Minister Rechberg nach Karlsbad zugeschickt worden und die ich beim Fürsten Wrede selbst zu lesen Gelegenheit gehabt, haben die ausdrückliche

Vorschrift enthalten, auf nichts einzugehen, was die Constitution oder die Souveränetät verletzen könne.

Demungeachtet hat der Minister, im Ge­

fühl seiner Ueberzeugung, daß die daselbst genommenen Beschlüsse daS all­

gemeine Beste sämmtlicher deutschen Staaten bezwecken, sich an jene Vor­ schrift nicht gebunden und geglaubt, daß man seinen gutgemeinten Grün­ den auch hier bei seiner Zurückkunft Gehör geben würde.

ES hat der­

selbe indessen die Gemüther im höchsten Grade aufgeregt gefunden, und

haben besonders die Minister v. Lerchenfeld und Graf ReigerSberg ihm

In der letzten

feine Nachgiebigkeit als ein Verbrechen vorgeworfen.

Minister-Conferenz haben sie ihm Solches auS den Akten beweisen wollen.

Der Fürst Wrede hat aber die Hand darauf gelegt und den Ministern erklärt, wie der ausdrückliche Wille des Königs dahin gehe, zu berathen

waS fernerhin geschehen solle, ohne auf dasjenige zurückzugehen, was be­ reits geschehen wäre, wodurch die Gemüther besänftigt wurden und eine

.Art von Aussöhnung mit dem Grafen Rechberg stattgefunden hat." halte diese Erzählung für durchaus zuverlässig.

Ich

Denn die Briefe, welche

der Enkel mitlheilt, beweisen, daß der Minister Lerchenfeld allerdings,

und mit Recht, das Verhalten seines AmtSgenossen in Karlsbad als eine

Pflichtverletzung betrachtete.

An Rechbergs persönlicher Ehrenhaftigkeit

aber ist nicht zu zweifeln, wie unerfreulich auch seine politische Haltung

erscheinen mag; alle die vertraulichen Mittheilungen, die er dem preußi­ schen Gesandten mit großer Offenherzigkeit zu geben pflegte, habe ich als

wahrheitsgemäß erprobt, so weit ich sie controliren konnte. Der unmittelbare Angriff auf Rechberg war also gescheitert.

erst begann die Verhandlung über die Karlsbader Beschlüsse selbst.

Nun Mi­

nister Lerchenfeld und seine Freunde hoben hervor, wieder mit Recht, daß

die neuen Bundesgesetze sämmtlich — mit Ausnahme des Gesetzes über die Universitäten — der bairischen Verfassung zuwider liefen.

Gleichwohl

beschloß der Ministerrath, die Karlsbader Beschlüsse zu veröffentlichen, nur mit Auslassung der ExecutionSordnung und mit Hinzufügung veS be­

kannten Vorbehalts: Verfassung" u. s. w.

„mit Rücksicht auf die Souveränetät und nach der

Dies war doch sicherlich ein Compromiß.

Parteien hatten einen Theil ihrer Absichten durchgesetzt.

Beide

Rechberg erreichte,

daß er wegen der Ueberschreitung seiner Instructionen nicht zur Verant­

wortung gezogen und daß die Karlsbader Beschlüsse im Wesentlichen ver­ öffentlicht wurden; die Verfassungspartei dagegen bewirkte jene Auslassung und jenen Vorbehalt.

WaS bedeutete nun die Weglaffung der ExecutionSordnung?

Sie

war merkwürdig als ein Symptom der Verstimmung, die im bairischen Ministerrath herrschte, und verstieß gegen die in Karlsbad und Frankfurt

gegebenen Zusagen, doch sie hatte keinen praktischen Werth.

Denn die

ExecutionSordnung war nicht ein Gesetz, daS durch die bairische Regierung

auSgeführt werden sollte; sie gab nur dem Bundestage eine Waffe, die

er möglicherweise gegen Baiern oder gegen einen andern Bundesstaat an­ wenden konnte aber bekanntlich in jener Zeit niemals angewendet hat; sie bestand zu Recht, sobald der Bundestag sie veröffentlicht hatte, und eS

war rechtlich vollkommen gleichgiltig, ob ein Bundesstaat die Bekannt25*

machung des Gesetzes unterließ.

Daher hat auch die preußische Regierung,

die sich so lebhaft über den bairischen Verfassungsvorbehalt beschwerte,

über die Weglassung der ExecutionSordnung kein Wort verloren.

Jener

Vorbehalt freilich konnte sehr viel bedeuten, wenn man den verzweifelten Entschluß faßte ihn in vollem Ernst auszuführen.

Aber ein solcher Ent^

schluß war offenbar unmöglich, nachdem Baiern den Karlsbader Beschlüssen

bereits zweimal zugestimmt hatte.

Obgleich der Bestand der neuen Central-

UntersuchungScommission den Vorschriften der bairischen Verfassung un­

zweifelhaft widersprach, sendete die Münchener Regierung doch

ihren Bevollmächtigten nach Mainz, und

sogleich

dieser Hörmann wurde,

wie

Jedermann weiß, der eigentliche Leiter der deutschen Demagogenverfolgung.

Noch in einem Falle weicht Herrn v. Lerchenfelds Darstellung von

der meinigen ab.

durchgesetzt,

Er erzählt, die Verfassungspartei im Ministerium habe

daß Zentner,

ferenzen gesendet wurde.

nicht Rechberg auf die Wiener Ministercon-

Zastrow dagegen berichtet, wieder nach Rech-

bergs Mittheilungen: Graf Rechberg will nicht nach Wien gehen, weil eS gegen seine Ehre wäre dort anders zu sprechen als in Karlsbad; auch

„glaubt er von hier aus mehr Gutes stiften zu können, indem er sich dann im Stande befinden würde, persönlich auf den König zu wirken und

dem Bevollmächtigten in Wien die erforderliche Direktion zu geben, wo­ gegen er, wenn er sich dort befände, diese Direktion annehmen und hier

demokratisch gesinnten Personen Einfluß einräumen müßte".

Diesem Be­

richte bin ich in meiner Darstellung gefolgt, da ich die andere Quelle nicht kannte.

Indem ich jetzt die beiden Erzählungen vergleiche, gelange

ich zu dem Schluß, daß beide wahr sind; sie ergänzen einander, doch sie

Wenn zwei feindliche Parteien in einem Kabinet

widersprechen sich nicht.

zusammengedrängt sind, dann geschieht es zuweilen, daß sie sich über einen

gemeinsamen Beschluß einigen, während jede dabei ihre eigenen Absichten verfolgt.

So auch hier.

Die Verfassungspartei wollte den Grafen Rech­

berg nicht nach Wien ziehen lassen, damit

er nicht

wieder seine In­

struktionen überschritte; er selber aber hoffte von München aus sicherer

für seine Zwecke wirken zu können. den Erfolg bewiesen.

Daß es wirklich so stand wird durch

Die deutschen Großmächte nahmen die Sendung

Zentners sehr freundlich auf,

und

die Haltung dieses klugen Staats­

mannes in Wien entsprach in der That den Wünschen beider Parteien. Er vertheidigte einerseits die bairische Verfassung gegen die Anfechtungen,

welche dort in Wien nicht mehr von Metternich und Bernstorff, sondern

von Marschall und Berstett, den Ministern der constitutionellen Staaten Nassau und Baden, versucht wurden; er trat andererseits zu Metternich

in ein gutes Verhältniß, zu Bernstorff in ein vertrautes, freundschaft-

licheS Einvernehmen, daS für Deutschlands Zukunft segensreich wurde,

denn aus dieser Verständigung zwischen Preußen und Baiern ging später­ Er schlug mithin eine mittlere Richtung

hin unsere Zolleinheit hervor.

ein, die, wie die Dinge lagen, für Baiern die einzig richtige Politik war. Das Jntriguenstück hatte aber noch einen wichtigen letzten Akt, dessen Herr v. Lerchenfeld nur beiläufig gedenkt.

Die beiden Großmächte be­

schwerten sich über den bairischen Verfassungsvorbehalt, und sie hatten von denn mit dem Bundesrechte

ihrem Standpunkt auS guten Grund dazu; stand es doch sicherlich nicht im Einklang, Beschlüssen,

hatte,

die

daß der Münchener Hof den

er selber mit bewirkt und

nachträglich

noch

genehmigt

schon zweimal

Clarisel

vieldeutige

eine

anhing.

Bernstorff

fragte in einem scharfen Ministerialschreiben an Zastrow gradezu,

„ dieses

erste Abweichen von den Bundesbeschlüssen"

sagung BaternS vom Bunde bedeuten solle.

etwa

ab

eine Los­

Als Zastrow dies Schreiben

dem Grafen Rechberg vorlaS, da bat ihn der bairische Minister, eine förmliche Note überreichen.

möge ihm

entsprach

diesem

17. November),

Wunsche

am

8. November

er

Der preußische Gesandte (Zastrows

Bericht

vom

und nunmehr übergab Rechberg am 13. November ein

sehr bescheidenes Antwortschreiben.

Er dankte darin für den neuen Be­

weis preußischer Freundschaft und versicherte,

beschlüsse gewissenhaft befolgt habe.

daß Baiern die BundeS-

Zum Beweise zählte er alle die

Maßregeln auf, die zur Ausführung der Karlsbader Beschlüsse bereits angeordnet seien, und legte die neuen Verordnungen über die Censur, die

Universitäten u. A. bei, welche diesen Beweis allerdings führten.

Darauf

betheuert er, fein Hof erkenne den Bund als heilbringend an: „S. Maj.

haben nie dem Gedanken Raum gegeben,

Sich von diesem Bunde zu

trennen oder Sich außer demselben zu stellen."

Die Form der Veröffent­

lichung „hatte blos die Beruhigung der königlichen Unterthanen zum Zweck,

die einen Augenblick befürchten konnten,

durch die gedachten Beschlüsse

oder vielmehr durch die solche motivirende Präsidial-Proposition gewohnte vaterländische Gesetze und eine seit ihrer auch nur kurzen Dauer ihnen werth gewordene Verfassung beeinträchtigt zu sehen".

Da Herr v. Lerchen­

feld dies merkwürdige Schreiben nicht erwähnt, so ist es wohl möglich,

daß Rechberg auch diesmal wieder ohne Vorwissen des Ministerraths, aber schwerlich ohne Genehmigung des Königs, gehandelt hat.

Nichts­

destoweniger bleibt diese Note eine amtliche Erklärung der bairischen Re­

gierung, und sie wurde auch als solche in Berlin ausgenommen.

Die

preußische Regierung erklärte sich befriedigt, da daS Schreiben Rechbergs

Baiern den Karlsbader Beschlüssen

treu

bleibe und der Verfassungsvorbehalt nicht so schlimm gemeint sei.

ES

unzweideutig

aussprach, daß

382

Baiern und die Karlsbader Beschlüsse.

war nur die natürliche Folge dieser Politik, daß der Münchener Hof fünf Jahre später der Erneuerung der Karlsbader Beschlüsse ohne jeden Vor­

behalt zustimmte. Fassen wir das Ergebniß zusammen.

Der bairische Hof hat durch

seine Staatsstreichspläne und durch seinen Hilferuf an die Großmächte die Karlsbader Conferenzen mit veranlaßt; er hat die dort gefaßten Be­

schlüsse durch seinen Bevollmächtigten angenommen und sie sodann durch seine Abstimmung am Bundestage nochmals förmlich genehmigt; er hat

sie darauf veröffentlicht mit einer unwesentlichen Auslassung

und

einem Vorbehalt zu Gunsten der Souveränetät und der Verfassung;

hat nachher diesem unklaren Vorbehalt selber die Spitze

mit er

abgebrochen

durch eine beschwichtigende Erklärung an die Großmächte und schließlich bet der Erneuerung der Beschlüsse den Vorbehalt gänzlich fallen lassen.

Dies sind die Thatsachen.

Meinen bairischen

Das Urtheil überlasse ich den Lesern.

Kritiker

aber bitte ich zu bedenken,

Historiker seinen Stoff nicht schafft sondern vorfindet.

daß der

Eine Freude war

eS mir nicht, die schwarze Wäsche des alten Bundestags zu waschen und jene Karlsbader Händel zu schildern, bei denen alle deutsche Höfe, alle

ohne Ausnahme,

eine so traurige Rolle spielten.

Doch wenn ich dar­

stellen soll, wie unser Vaterland zu seiner alten Herrlichkeit wieder auf­ gestiegen ist, so muß ich zuvor schonungslos und unumwunden zeigen, in welchen Sumpf wir versunken waren.

In dem dritten Bande meines

Buchs denke ich zu erzählen, wie Preußen und Baiern ihren alten heil­

samen Bund von Neuem geschloffen und dadurch dem Vaterlande seine wirthschaftliche Einheit gesichert haben.

Dann wird, wie ich hoffe, Herr

v. Lerchenfeld selber zugestehen, daß er eine Gesinnung, die mir fremd ist,

in meinen Worten gesucht hat.

Freiburg i. B. 15. September. Heinrich von Treitschke.

Politische Correspondenz. Wien und Pesth im September 1883.

Als man sich in Wien zu einer historischen Feier entschloß, welche

den Abzug der Türken am 12. September 1683 in Erinnerung bringen sollte, so scheinen nicht eben viele Bewohner über den Charakter klar ge­

wesen zu sein, welcher dem zweihundertjährigen Jubiläum innewohnen,

oder gegeben werden könnte.

Als man in Erfahrung brachte, daß das

Ereignis eigentlich keine streng locale Bedeutung habe, und daß insbe­

sondere die Polen als Aspiranten deS eigentlichen KriegSruhmS von 1683

aufzutreten gedächten, so war den Vätern des Wiener Gemeinderathes die

Freude an der Sache wesentlich verdorben.

Man zog die Pläne, die für

große Feste gemacht worden waren zurück und erklärte, daß die bestehende politische Verstimmung nicht mit der Geltendmachung eines rechten öster­ reichischen Patriotismus vereinbar wäre.

Die Festwoche verlief in Folge

dessen wirklich ziemlich trübselig und nur der Umstand, daß die Eröffnung

deS von Meister Schmidt vollendeten Prachtbaues des neuen Stadthauses eben auf den 12. September festgesetzt worden war, konnte die'Meinung

erregen, die

alte Vindobona hätte ihren Sonntagsstaat zu Ehren der

Türkenbefreier angelegt.

Glücklicher waren die Polen, welche

auch diesmal durch eine rück­

sichtslose und verwegene Agitation nicht nur ihren König Sobieski in den

Mittelpunkt des historischen Interesses zu stellen wußten, .sondern auch mit Hilse

von allerlei

christlichkatholischen Fabeln

in der sogenannten

hohen Gesellschaft dankbare Anerkennung und nationale Aufmunterung zu

erringen gewußt haben. Zur Orientirung deS bürgerlichen Theils der Bevölkerung war eine zum Theil auf Kosten der Gemeinde gedruckte Litteratur in Umlauf ge­

bracht, welche auch den bescheidensten Anforderungen eines gebildeten deut­ schen Mannes wohl kaum genügen würde.

Theils armselig, theils markt­

schreierisch kamen nach und nach eine Menge von Broschüren und Hüchern zu Tage, welche von namenlosen Verfassern herrührend, mit Ausnahme

Politische Torrespondenz.

384 einer einzigen

etwa

fleißigen Publikation in der That einen unsäglich

traurigen Einblick in das

geistige Leben

von Wien gewähren.

Man

glaubt sich in die Zeiten deS Kaisers Franz zurückversetzt. Wie sich leicht versteht, war es auch nicht die allgemein wissenschaft­

liche Behandlung, von der man sich von vornherein etwa- versprochen haben wird, wohl aber durfte man erwarten, daß das Ereignis publi-

cistisch und politisch gewandt, geistreich und mit jener Lebendigkeit werde auSgebeutet werden, welche man bei der österreichischen Presse hervorzu­

heben pflegt, und durch welche Eigenschaften die Wiener Journalistik excellirt.

Da ist eS nun aber bezeichnend, daß sich auch die TageSblätter

mit dem großen Ereignis gar nicht zu recht zu finden wußten, und eS überall über eine kleinliche Polemik nicht hinauskam.

Der Grund dieser

Erscheinung ist nun für die ganze politische Situation in Oesterreich so lehrreich,

daß eS der Mühe werth ist die Sache etwas genauer mitzu-

theilen.

Soviel Kenntnis der Geschichte darf man nämlich den mit der Po­

litik sich handwerksmäßig beschäftigenden Kreisen in Wien wohl zutrauen, daß dieselben wissen mußten, der Türkenkrieg des Jahres 1683 war we­

sentlich eine ungarische Angelegenheit.

Man braucht nicht erst

an die

Folgen der türkischen Niederlage zu erinnern, um sich klar zu machen, daß

mit den Türken vor Wien die letzten Reste der ungarischen StaatSaspirationen geschlagen und zurückgewiesen worden sind.

Bekanntlich ist daS Ungarland, welches in den letzten zwei Dezennien des 17. Jahrhunderts von den kaiserlichen deutschen und zwar großentheilS von wirklichen Reichstruppen und von den österreichischen Regimentern er. obert und in Besitz genommen worden ist, dem allergrößten Theile nach nicht daS imaginäre Königreich Ungarn gewesen, welches die Arpaden ge-

gründet hatten, sondern die weiten Gebiete, welche durch die Armee er­

öffnet wurden,

waren seit 160 Jahren türkische Provinzen,

Sandschaks

oder Vasallenstaaten, die man von der Oberhoheit deS Sultans mit einem male befreit hatte. Eine der unbegreiflichsten und strafbarsten Vernachlässigungen unseres Geschichtsunterrichts besteht darin, daß es bei weitem nicht deutlich genug

eingeprägt ist, wie die Türkei zwei Jahrhunderte lang gleich wenige Meilen östlich von Wien begann, und Ofen eine türkische Hauptstadt war.

Nun

hätte man erwarten dürfen, daß im Jahre 1883 die stolzen Ungarn,

welche sich den Deutschen wahrlich

wenig dankbar bewiesen haben, in

Wien daran erinnert werden sollten, wie von ihrem Königreich nichts als

ein geringfügiger Fetzen — etwa ein Fünftel feines heutigen Umfangs existirte, als die Türken gegen Wien gezogen waren.

Allein eine Erinnerung dieser Art hat man merkwürdiger Weise

krampfhaft vermieden.

Warum?

Wenn ich nicht sehr irre,

liegt in der Beantwortung dieser Frage

ein ganzes Stück österreichischer Politik.

Man erlaube mir aber, daß ich

mich zur bessern Orientirung nach Pesth begeben darf und von diesem Centrum des „ungarischen Globus" betrachte, was „da hinten" wo vor zweihundert Jahren die Türken noch saßen, in den verschiedenen modernen

Völkern der Kroaten, Serben und Rumänen vorgeht unb sich zu regen beginnt.

Denn Wien ist in erster Linie antislavisch; es pactirt mit den

Ungarn, wo es kann, um sich seiner nördlichen und südlichen slavischen

Nachbarn zu erwehren.

Wien hat

eine Vorliebe für die Costüme der

Magnaten seit Alters und findet die Husaren als die schönste Truppe.

Es hat eine gleiche Abneigung gegen die polnischen Mützen und gegen die serbischen Bloderhosen.

Die südslavischen rothen Mäntel sind über­

dies seit der Belagerung durch Windischgräz und Jellacic in viel schlim­

merem Andenken, als die Turbans der Türken von 1683. So findet die Wiener Journalistik in der mit seltener Festigkeit her­ vortretenden Abneigung des gesammten lesenden Publikums eine Schranke

der unübersteiglichsten Art in der Erörterung von Thematen bei welchen die Slaven

eine Rolle spielen.

Manieren des Vogels Strauß,

Die Presse theilt hier die. bekannten

aber freilich das übrige Europa findet

nicht, daß deshalb weniger Polen, Kroaten und Serben ja nicht einmal

weniger Tschechen im östlichen Europa sich finden.

ES ist also gut, daß

man sich auf einen andern Standpunkt als auf den von Wien stellt, und

wie gesagt, wir wandern daher nach Pesth.

In dem classischen Lande der Judenprozesse,

wo man die Juden-

crawalle als ein viel kleineres Uebel betrachten muß, als die Comitats-

Justiz, welche denselben steuert, erwachte man im abgelaufenen Monat eines Tages unter dem Eindrücke der telegraphischen Nachricht, daß in der

vorhergegangenen Nacht die Kroaten gegen die Majestät deS ungarischen Wappens zu rebelliren begonnen hätten.

Der Schreck war nicht gering.

Der Ungar kümmert sich in der Regel nicht viel um die Geschichte der „Schwaben", welche nach seiner Ueberzeugung daS ganze übrige Europa

bewohnen, aber die Geschichte von Ungarn kennt er gewöhnlich außeror­

dentlich gut und bis in die kleinsten Details.

Der kroatische Kampf deS

JahreS 1848 hatte mit kleinen und kleinsten Zänkereien begonnen; und daS Ende dieses Kampfes war der Zusammenbruch deS ganzen stolzen

Gebäudes der ungarischen Staatsherrlichkeit.

Selbstverständlich ist heute

Politische Correspondenz.

386

nicht an solche Dinge zu denken, denn die Kroaten haben thatsächlich die

vollste Unabhängigkeit erlangt und alle ihre Wünsche sind durch die AuSgleichSgesetze erfüllt worden.

Nun trifft aber da» aufregende Ereignis im Innern mit einer Er­ scheinung im Aeußern zusammen, welche die Kreise der ungarischen Poli­ tiker schon seit einiger Zeit beunruhigt hatte.

Soll man die österreichisch

serbisch rumänische Freundschaft als etwa- für die Stephanskrone günstiges

oder ungünstiges betrachten? Soviel man hört sind die Meinungen unter den Mitgliedern des

Ministeriums sehr verschieden und man fürchtet,

daß die künstlich

be­

wahrte Einheit vor den Stürmen der neuen Session nicht Stand halten

möchte.

Der Ministerpräsident sieht sich veranlaßt nach Gelegenheiten zu

suchen, um seinen Standpunkt gegenüber der slavischen Agitation zu recht­ fertigen und hat eben in Großwardein erklärt, daß er dem Landtag gegen­

über mit der CabinetSfrage vorgehn werde.

In Ungarn sucht man die

Meinung zu verbreiten, daß bei den Aufständen In Kroatien und der

Militärgrenze der russische Rubel eine Rolle gespielt hätte und man hält

dafür, daß alle magyarischen Elemente durch die Furcht vor dem Einflüße

Rußlands zusammengefaßt werden müssen, um einer Katastrophe zu entgehen. Ueber den Ursprung und die Tragweite der kroatischen Unruhen ist eS übrigen- schwer sichere Nachrichten und zuverlässige Unterweisungen zu

Die Combination spielt bet der Beurtheilung der Dinge eine

erhalten.

nicht unbedeutende Rolle. Aeußerlich ist die Ruhe hergestellt. kannt genug.

In Kroatien

Der Gang der Dinge ist be­

und der ehemaligen Milttärgrenze hat die

Aufrichtung von Wappenschildern mit ungarischer Aufschrift bei den Steuer­ ämtern und auf den Häusern der Finanzbehörden den langgehegten Haß

gegen da»

Magyarische zum

AuSbruch gebracht.

In diesen Ländern,

welche der alte ungarische AmtSstil als purtvs adnexae bezeichnet, sind die Finanzbehörden das einzige, was an die gemeinsame ungarische Re­ gierung erinnert.

Die Liebe der Bewohner jener partes adnexae zu

diesen Aemtern ist selbstverständlich nicht groß, und da

man unter den

fremden Nationen die Steuerexecutlonen um so energischer durchführt, je

laxer die ungarische Regierung in dieser Beziehung unter ihren eigenen BolkSgenoffen verfährt, so

ist die Wappenftage eben ein willkommener

Anlaß gewesen, um gegen die Regierung Ungarn- und ihre Organe zu

demonstriren.

dies zu.

Hierin besteht keine Täuschung, die Ungarn selbst geben

Besonders die Unruhen in dem dichtbevölkerten armen Zagorien

hatten einen rein fiScalischen Charakter: Widerstand gegen die Steuerbe­

hörden und gegen die Finanzbeamten des ungarischen GroßstaatS.

In der Militärgrenze ist die Unzufriedenheit über die Einverleibung deS

früher freien

gimentern,

den Tag gekommen. tiger,

als

Gebiets unter

den ehemaligen

gut

kaiserlichen Re­

welche ihre Privilegien nicht vergessen haben, gewaltsam an Der ungarische Staat ist hier ein ebenso widerwär­

die Civilregierung

von Kroatien

ein unbequemer

Begriff.

Man will unter den schwarzgelben Fahnen weiter dienen, billigen Tabak

und billige- Salz genießen, die Grenzwache beziehen, Waffen tragen und beim Kaiser

in Wien Abhilfe

finden, wenn

die

localen

Verhältnisse

drückend erscheinen. So energisch die Ruhe in allen diesen Theilen de- weitläufigen Ge­

bietes der Stephanskrone hergestellt wurde,

so wenig hat der Minister

TiSza neulich bei seinem Großwardeiner Bankett verhehlen können, daß

mit der Gewalt und mit der Strenge hier auf die Dauer nicht durchzükommen sei; er

Der

hat daher

conciliante Maßregeln

in Aussicht

gestellt.

populäre Sinn unter den Magyaren gienge aber dahin, unbarm­

herzig darein zu schlagen, denn die slavischen Bewohner erfreuen sich einer

enormen Geringschätzung von Seiten der großmagharischen Bevölkerung und Sprache und Sitte Ungarns scheint in wegwerfender Charakterisirung

der alten Heloten zu wetteifern. Welche Gründe mag nun das Ministerium Ti-za haben plötzlich den

Landsleuten Milde, Vorsicht und Toleranz zu predigen, und welche Klug­ heit ist eS, die den magyarischen Haß gegen die slavischen Emporkömm­

linge zum Schweigen bringen möchte?

Die Sache liegt so:

In offiziellen Kreisen vermuthet man, daß der

heutige österreichische Regierungsgedanke — vielleicht möchte man bester sagen können der dynastische StaatSgedanke — wie in der äußern Politik

mit Serben und Rumänen, so auch in der innern mit den Kroaten Füh­

lung sucht, um das übermäßig angeschwollene Machtgefühl der Magyaren ein wenig zu dämpfen.

Also eine gemilderte sehr friedlich gedachte ver-

besterte Auflage von 1848 und 1849.

Keine Revolution, also auch kein

Krieg, keine gewaltsame Verletzung der ungarischen Berfaffung und der anerkannten ungarischen Einrichtungen,

aber

in conciltanter Form

eine

kleine Demüthigung des Großmagyarenthums, mit welchem auf die Länge

denn doch nicht zu regieren wäre. Die Ausgleichsverhandlungen von 1868

müsten nach Ablauf der

zehnjährigen Periode

ohnehin wieder revidirt

werden; vorbereitende Schritte, um die höher und höher gestiegenen An­

sprüche Ungarns zu ermäßigen, sind gewiß nur zu wünschen. Ungarisch geschriebene Blätter, namentlich die localen Wlnkelblätter sollen bereit- viel von einer Camarilla ä la 1848 in Wien faseln, ernstere

Journale behaupten aber ebenfalls, daß der Graf Taaffe, der nachgerade

388

Politische Corresponbenz.

in Oesterreich al- eine Art gefürchteter Tausendkünstler dasteht, seine Hände im Spiel bei den Kroaten gehabt hätte. Auf alle Fälle würde — und da- wird man zugestehen dürfen ein wirklich gegliederte- föderatives System des österreichischen GesammtstaateS eine größere Unabhängigkeit der partes adnexae in Ungarn voraussetzen und insofern ist der Idee nach da- Raisounement ganz richtig, daß die kroatische Bewegung und die tschechische eine gewisse Analogie zeigen. Thatsachen dürften indessen schwierig nachzuweisen sein. Dagegen darf man die heutigen Vorgänge — ganz abgesehen davon ob und welche Hände im Spiele sind — thatsächlich und objektiv ohne Frage al- eine zusammenhängende Reihe von Erscheinungen betrachten, welche gegen das seither in Oesterreich zur Anwendung gekommene System deS Dualismus gerichtet sind. Wenn die Magyaren nicht durch uner­ wartete Maßregeln die Sache wenden, so dürfte der seit 1868 beliebte, beförderte, gepriesene Dualismus, der in Ciöleithanien bereit- bedenkliche Löcher bekommen hat, alsbald au-gezappelt haben, und man dürfte bald wieder ein neue- Bild von staatsrechtlicher Construction auf der Ober­ fläche der österreichischen Leinwand — Leinwand bleibt eS immer — er­ scheinen sehen. Wenn ich nicht irre, brauchte man sich in Deutschland nicht allzusehr über diese Veränderung zu beklagen. Zwar bilden sich viele Leute in Oesterreich ein, daß Fürst Bismarck der eigentliche Protektor des Dualis­ mus und de» Schwerpunktes in Pesth gewesen sei, aber die guten Ungarn haben sich schwerlich so betragen in der langen Zeit, wo sie daS Heft in Händen hatten, daß man in Deutschland ihnen eine Thräne nachzuweinen Ursache hätte, wenn ihre Macht einigermaßen gedämpft würde. Nicht nur, daß diese Magyaren allerlei Abscheulichkeiten gegen unsere Landsleute in Siebenbürgen auSgeübt haben, sie haben sich auch selbst in großen Fragen keineswegs so unbedingt der Politik deS Reichskanzlers unterworfen, als zu erwarten gewesen wäre, und eigentlich stand die Nützlichkeit deS öster­ reichischen Dualismus für Deutschland einzig und allein auf den zwei klugen Augen deS Grafen Andrafly. Wenn man demnach vom Standpukt der deutschen Politik die Mobil­ machung gegen den Dualismus in» Auge fassen wollte, so dürfte man in der That sagen, e» wäre recht gut, wenn die kroatisch, tschechisch, rumänisch, serbisch, polnischen Föderativ-StaatSideen eine Art von Verwirklichung davon tragen würden, denn obwohl diese Dinge den eigentlichen Oesterrrichern d. h. den Niederösterreichem und einigen Deutschen in Böhmen oder Mähren ebenso widerwärtig wären, wie den Ungarn, so dürfte doch da» Facit der Rechnung sich so gestalten, daß die deutschen Interessen in

Oesterreich jedenfalls nicht- verlieren aber in Ungarn nur gewinnen könnten. Ob nun aber dieser neue Ansturm auf da- dualistische System irgend eine Aussicht auf Erfolg zeigt, und ob man von den in dem Brei rüh­ renden Händen erwarten könne, daß die Sache wirklich zu einem halbwegs befriedigenden Ende hinausgeführt werden werde, die- wäre sehr schwer zu prophezeien und ich wagte es nicht zu sagen. Sehr wahrscheinlich ist auch in diesem Falle nicht», als ein Anlauf gemacht, bei welchem man, wie bei der böhmischen Königskrönung, wie bei der polnischen Romantik auf halbem, ja aus dem dritten Theil des Weges stehen bleiben, kehrt machen und kopfüber zu irgend einem Auskunft-mittel greifen wird, welchegestattet zu sagen: ja wir wollten ja gar nicht-, al- die Aufrechthaltung der Ruhe, de- Friedens und unseres alten österreichischen Satze- Justitia regnorum fundamentum. Daß heute die Justitia mehr den Kroaten al- den Ungarn freundlich geneigt ist, hindert nicht, daß die Justitia morgen vielleicht sich in den ungarischen Krönung-mantel hüllt und da- Schwert irgend eine- Stephan schwingt. Sollten die au- Ungarn hergekommenen Verdächtigungen der ciöleithanischen Regierung begründet sein, und wäre in den tranSleithanischeu Bewegungen ein gewisser Zusammenhang mit den Tendenzen deösterreichischen CabinetS zu erblicken, was wohl einige Wahrscheinlichkeit für sich hat — so hätte daS Ministerium Taaffe zu seinen vielen Schwierig­ keiten und ungelösten Fragen noch eine neue gewaltige Aufgabe erhalten, die vielleicht an und für sich ganz schön, zu deren Erfüllung aber vor allem ein große» Talent nöthig wäre. Ob man diese» staatsmännische Genie dem Grafen Taaffe mehr persönlich, oder in Ansehung seine- Ca­ binetS und seiner böhmischen Beamten zuschreiben könnte, vermag ich nicht zu entscheiden. In den vielen Jahren seit derselbe im Amte ist, hat man noch nicht Gelegenheit gehabt von großen Erfolgen zu sprechen; eS sei denn, daß man e- als etwa- politisch wichtige» ansteht, daß in Prag und anderen böhmischen Städten sehr viele Schulmeister ihre wissenschaftliche Blöße mit dem Mantel einer lieben Sprache verdecken dürfen, die Im gelehrten Europa nicht verstanden wird. Wenn man aber von dieser hohen Leistung absieht, so weiß ich nicht, woher die Hoffnungen zu beziehen sein möchten, welche dem neuesten Anlauf der österreichischen RegterungSpolittk den Er­ folg versprechen möchten, welchen man ihm ja sonst von ganzem Herzen wünschen müßte. Wahrscheinlicher dürfte e» immerhin dem nüchternen Journalisten heute noch erscheinen, daß die geriebenen ungarischen Politiker mit he»

währter MannSzucht die Laufgräben alsbald eröffnen und die Taaffe'fchen Redouten erstürmen werden, so daß eS schlecht und recht im wesentlichen beim alten bleiben wird. Ob die österreichischen Verfassungstreuen als­ dann zur Belohnung von den Magyaren einige MinisterportefeuilleS da­ von tragen, steht dahin. Septentrionalis. Berlin, 26. September 1883. Ob wohl der Monat September des Jahres 1883 in der europäischen Geschichte einmal ein besondere- Blatt füllen wird? Er ist bezeichnet durch Ereignisse, die ihrer äußeren Erscheinung nach ebenso die vollendete Nich­ tigkeit wie schwerwiegenden Inhalt darstellen können. Die Zusammen­ kunft de- englischen Premierministers Gladstone mit dem russischen Kaiser in Kopenhagen steht auf der einen, die Zusammenkunft der Letter der deutschen und der österreichischen Politik, der Besuch der Könige von Serbien und Spanien bei unserem Kaiser auf der anderen Seite, und analog darf man den jüngsten Verfassungs-Umschwung in Bulgarien be­ handeln: er mag gar nichts — er kann unendlich viel bedeuten, wenig­ stens einleiten. Der entscheidende Punkt liegt vermuthlich in der Kopen­ hagener Zusammenkunft. DaS deutsch-österreichische Bündniß ist die conservative, die defensive Potenz in dem Gewoge der internationalen Be­ strebungen; werden von der Gegenseite keine positiven Objecte in Angriff genommen, so werden von der österreichisch-deutschen Seite gewiß keine Erschütterungen auSgehen. Sollten aber in Kopenhagen wirklich Pläne von weiteren Consequenzen geschmiedet worden sein? Man mag den Bethei­ ligten mehr oder weniger Klarheit, Ziele und großen Willen zutrauen: die einzelnen Entschließungen sind aus so allgemeinen Prämiffen doch nicht zu conjiciren und so muß man sich denn, da positive Mittheilungen bis­ her von keiner Seite verlauten wollen, gedulden, was die Zeit einmal dar­ über an den Tag bringen wird. Eher läßt sich den Zeichen der Zeit im Inneren die Deutung abge­ winnen. Sie zeigen das gleichmäßige Wachsen der Anmaßungen deUltramontaniSmuS auf der einen Seite (äußeres Wachsen ist ihm ja schon gar nicht mehr möglich), deS RadicaliSmuS auf der anderen. Ganz natur­ gemäß correspondirt beides miteinander; die Einsicht in diesen Zusammen­ hang bedingt recht eigentlich daS Verständniß der Situation. Wenn ein bereits redressirter faux pas eines Provinzial-Beamten genügt, die Wähler von einem ganz gemäßigten Freiconfervativen auf einen Secessionisten übergehen zu lassen, wie in Torgau; wenn der Wahlkreis, der fett der

Aufrichtung deS neuen Deutschland die Ehre gehabt Bennigsen in die Volksvertretung zu deputiren, nahe daran ist, statt des von diesem empfoh­ lenen Nachfolgers einen Fortschrittsmann zu wählen: wessen Weizen kann dabei blühen, wenn nicht deS UltramontaniSmuS? Immer wieder muß man an daS Wort BiSmarck'S erinnern auS der Reichstagssitzung vom 30. Nov. 1881 mit dem Centrum könne er pactiren, mit der Fortschritts­ partei nicht. Man mag eS überlegen, wie man will, .immer wird man zu dem Resultat kommen, daß dieses Wort nicht etwa einmal so hin­ gesprochen ist, sondern die volle Wahrheit enthält. ES ist richtig, daß die Fortschrittspartei innerlich unserem Staatswesen nicht so feindlich und widersprechend ist, wie der UltramontaniSmuS; sie ist wesentlich auf pro­ testantischem Boden erwachsen; die Masse lebt trotz allem in den preußi­ schen und deutschen Traditionen; die Partei empfängt keine Directive von einem auswärtigen Oberen. Alles aber genügt nicht, um die eine Eigen­ schaft auSzugletchen, die das Centrum vor der Fortschrittspartei voraus hat und die dieses zu einer politisch verwendbaren Partei macht und die Fortschrittspartei nicht: da- ist daS positive politische Ziel. Wa» will die Fortschrittspartei eigentlich? Wo sind die Punkte, auf denen man ihr Concessionen machen könnte, um ein Zusammenwirken mit anderen lebens­ vollen Elementen deS deutschen Gemeinwesens zu ermöglichen? Sie sind nicht da; sie sollen garnicht da sein; darein hat (freilich nicht einmal mit Recht) die Partei ja immer ihren Stolz gesetzt, daß sie keine Compromisse schließe, sich auf keine TranSactionen einlasse. Selbst wenn sie selbst an die Regierung käme, die Erfahrung analoger Erscheinungen in der Ge­ schichte beweist eS unendlich oft — so würde sie, unfähig etwas Positives zu schaffen, von einer auflösenden Maßregel in die andere stürzen, neben der Linken würde immer wieder eine äußerste Linke entstehen, bis ein hef­ tiger Rückschlag oder ein Zusammenbruch erfolgt. Da bei der Gestaltung unserer Parteiverhältniffe nicht daran zu denken ist, daß wir jemals dahin gelangen, so wird die Partei voraussichtlich noch lange in der bisherigen Lage verharren, das todte Gewicht sein, die unpolitische Maffe, die mit­ geschleppt werden muß, so gut eS eben gehen will, die aber in dem Augen­ blick, wo sie zu sehr anschwillt, die böse Rückwirkung auSübt, daß ein Gegen­ gewicht in Bewegung gesetzt werden muß, welches droht den Wagen aus der graden Bahn zu seinem wahren Ziel auf die gefährlichste Weise abzulenken: die- Gegengewicht ist der UltramentantSmuS. Mit dem Ra­ dikalismus ist nicht zu pactiren; mit dem UltramentantSmuS kann man pactiren. Er hat positive Ziele, eine feste Organisation, eine bewußte, rationelle Führung. Er weiß sich zu gedulden und begnügt sich mit schritt­ weisen Erfolgen. Welche Gefahren damit auch für die Zukunft herauf-

beschworen werden: für den augenblicklichen Fortgang der Staatömaschine ist seine Hülfe gegen die genügenden Concessionen zu haben: wie soll man sie ihm verweigern, wenn von der anderen Seite die sofortige Zerstörung droht? Dabei sind wir noch nicht einmal auf den materiellen Inhalt der beiderseitigen Programme eingegangen, auf die Untersuchung, ob nicht für manche ©eiten der socialen Frage der Katholicismus in der That ein viel tieferes und besseres Verständniß bewiesen hat als der Liberalismus, was ihm dann doch auch anderweitig ein Anrecht auf po­ litische Stellung gewähren würde. Wie dem auch sei: vorläufig steht die Sache so, daß da- Anwachsen der Fortschrittspartei noch nicht zum Stillstand gekommen ist und daß, ohne Zweifel in Mitberücksichtigung diese- Zustande-, in der klaren Er­ kenntniß, daß die Regierung binnen Kurzem seiner nicht mehr entbehren kann, der Uebermuth de- Ultramentani-mu- sich in wahren Orgien er­ geht. Oder kann e- etwa» Stärkere- geben, al- daß die Concessionen de- jüngsten Kirchengesetzes, die bei der Berathung mit rührenden und pathetischen Worten zur Erleichterung des kirchlichen Nothstandes gefordert wurden, jetzt behandelt werden als eine Gabe, von der man sich erst über­ legen müfie, ob sie anzunehmen fei oder nicht? Aber warum auch? Lasse man e- doch erst dahin kommen, daß die Mittelparteien verschwinden und neben einer reactionär-conservativen nur noch eine ultramontane und eine radikale Partei besteht, so hat „da- Centrum" ja da- Heft in der Handl Das ist Windthorst'sche Rechnung. Wie aber in solcher Lage die Nationalliberalen noch immer an der „großen liberalen" Partei, an ihrer Solidarität mit der Fortschrittspartei festhalten können, das ist — ja wessen Rechnung eigentlich? Die Fortschrittspartei fährt, wie man sieht, nicht schlecht dabei und wenn eS nicht gar zu traurig wäre, möchte man sagen, daß den Liberalismus heute nichts trifft, als eine gerechte Strafe, das er sich nicht eher und längst und unwiderruflich von jener Partei getrennt hat, mit der im Grunde doch nichts gemein hat, als die in einer jetzt vergangenen Periode unserer Geschichte berechtigte Negation. Wie sehr wohl eS möglich wäre, wenn Man den Radikalismus in Schranken halten könnte, auch den UltramontaniSmuS niederzuhalten, haben wieder in erfreulicher Weise die jüngsten badischen Wahlen gezeigt. Die Regierung hat, nachdem sie zur Herstellung des äußeren gesetzmäßigen Zu­ standes die nothwendigen Concessionen gemacht, eine energische anti-ultramontane Haltung eingenommen und daS hat genügt, was seit undenklichen Zeiten nicht geschehen, die Ultramontanen in rein katholischen Bezirken wieder von einigen Sitzen zu verdrängen. D.

Notizen. „Der geweihte Degen DaunS" oder „wie man in Deutschland Religionskriege gemacht hat." Eine historische Untersuchung von Dr. Paul Majunke, Mitglied deS Deutschen Reichstags und deS preußischen Abgeordnetenhauses. Verlag von Ferdinand Schöningh, (Paderborn 1883). Herr Majunke setzt in obigem Schriftchen die literarische Fehde fort, welche er in einer Sitzung de- Abgeordnetenhauses gegen die Authenticität der be­ kannten Erzählung von dem geweihten Hut und Degen begann. So unbe­ deutend die Sache an sich ist, so ist sie doch piquant genug, um ihr auf den Grund zu gehen und einmal positiv festzustellen, wie eS sich eigentlich da­ mit verhält. Etwas Polemik gegen Herrn Majunke möge mir dabei zum Zwecke meiner Selbstvertheidigung gestattet sein. „Ich will also richtig stellen, Herr Präsident, sagte der Abgeordnete Ma­ junke, daß eS kein geringerer als Friedrich II. selber gewesen ist, — ich habe auS Loyalität vorhin seinen Namen nicht erwähnen wollen, der in seinen „Oeuvres" offen eingesteht, daß er dieFabel von dem geweihtenDegen deS Marschalls Daun erfunden hat und zwar zu einem politi­ schen Zweck*)." In der obigen Schrift dreht nun Herr Majunke die Sache etwas anders, indem er eS dahin gestellt sein läßt, ob Friedrich die Sache erfunden oder selbst geglaubt habe, jedenfalls aber die Thatsache bestreitet auf Grund folgender Argumentation: eS steht fest, daß Friedrich ein Breve deS Papstes an Daun, *) Nach dem stenographischen Bericht des Abgeordnetenhauses. In dem obigen Buche läßt sich Herr Majunke sagen: „Ich will nunmehr mittheilen, daß eS kein geringerer als Friedrich II. selber gewesen ist — ich habe auS Loyalität vorhin seinen Namen nicht erwähnen wollen — der in seinen „Oeuvres“ resp. Briefen offen eingesteht, daß er die Fabel von dem gegen den „Ketzer" zu verwendenden geweihten Degen des Marschalls Daun erfunden hat „und zwar zu einem politi­ schen Zwecke". Die unterstrichenen Worte hat Herr Majunke nachträglich seiner Rede beigefügt, und zwar wie sich zeigt, weil er im Laufe seiner Untersuchung, die Möglichkeit zuläßt, daß der Papst Daun einen Degen gegen die Türken geweiht^habe. Nach dieser Probe Majunkescher Wahrheitsliebe genügt eS wohl, wenn ich betr. des von ihm berichteten Gesprächs mit mir einfach mittheile, daß eS in wesentlichen Beziehungen entstellt ist. Preußische Jahrbücher. 8b. LIL Heft 4.

26

worin ihm der geweihte Degen verliehen wird, fingirt (wie Majunke sagt „ge­ fälscht") hat — folglich ist die Erzählung von der Degenweihe selbst nicht wahr. Daß daS Breve fingirt sei, hat man von je gewußt, wenn eS auch immer von Zeit zu Zeit wieder für echt gehalten worden ist. Als daS Breve 1845 in Nr. 31 der „Darmstädter allgemeinen Kirchen­ zeitung", der eS im lateinischen Text zugesandt worden war, stand, wurde in der Allgemeinen Augsburger Zeitung (Nr. 38 Beilage S. 779) von Hitzig klar gestellt, welche Bewandtniß eS mit demselben hatte. Ebenso verfuhren die „historischen politischen Blätter" vom Jahre 1845 (Bd. 15 S. 616) mit der „Elberfelder Zeitung", die in denselben Irrthum verfallen war. Wie schwer eS aber ist, derartige historische Irrthümer, sobald sie sich einmal festgesetzt haben, vollständig zu beseitigen, beweist die Nr. 27 deS Jahrganges 1874 des „Daheim", (auSgegeben am 4. April 1874), in welcher daS Breve, noch dazu mit der Einleitung „Man höre und staune!" abgedruckt und als echt bezeichnet wird. Ebenso scheint dazu ein Vorgang zu gehören, den Herr Majunke, als in Offenbach vorgekommen, auS demselben Jahr berichtet. Herr Majunke hat also wohl Recht vorauSzusetzen, daß noch heutigen TageS Tausende daS Breve für echt halten. Für Jemand, der einigermaßen in unserer historischen Literatur bewandert ist, war dieser Irrthum niemals möglich. Die verbreitetste Geschichte deS siebenjährigen Krieges ist diejenige von I. W. von Archenholz (neu herausgegeben Berlin 1861 von Dr. A. Potthast, Reichstagsbibliothekar). Archenholz trat wenige Monate nach der Schlacht von Hochkirch, auS dem Berliner Kadettencorps kommend, in die Armee deS Königs ein; seine Aufzeichnungen haben den Werth persönlicher Erlebniffe und Er­ innerungen. Seine Geschichte erschien zuerst im Jahre 1789 im „Berliner historischen Tagebuch", wenige Jahre nach dem Tode deS großen Königs, dann in sehr erweiterter Gestalt im Jahre 1793, zwei Bände stark. Archenholz schreibt: „Auch Papst Clemens LUI., Rezzoniko, der eben erst den päpstlichen Stuhl bestiegen und der Beherrscherin der österr. Monarchie den Titel Apostolische Majestät beigelegt hatte, nahm an dem Siege Theil und da die vormaligen Statthalter Christi in den finstern Jahrhunderten, um die Türken-Sarazenen zu vertilgen, die Befehlshaber der christlichen Heere mit geweihten Waffen auSrüsteten, glaubte Clemens, daß solche von ihm geschaffenen Heiligthümer auch jetzt in Schlesien ihre Dienste thun würden und übersandte dem Feldmarschall Daun einen geweihten Hut und Degen, um den Ketzer desto nachdrücklicher zu bekämpfen; eine Handlung, welche zwar nicht deS 18. Jahr­ hunderts, doch deS sonderbaren Krieges würdig und dem so heilig auSstaffirten Feldherrn viele Spöttereien zuzog. So nannte ihn Friedrich in den Briefen an feine Freunde oft die geweihte Kreatur und den Mann mit der päpstlichen Mütze. Auch war dieser römische Fechterstreich nichts weniger wie staatSklug, da der König so viele katholische Unterthanen hatte und eS folglich in seiner Macht stand, dem Papst auf mannigfaltige Weise zu schaden. ES schien, als ob man in Wien nicht den erwarteten Werth auf dies Geschenk legte, auch

unterblieb die mit der Ueberlieferung gewöhnlich verbundene Feierlichkeit. AIS dreißig Jahre nachher in den österreichischen Staaten die Morgenröthe der höheren Kultur angebrochen und man von der päpstlichen Gewalt wie Vonden sogenannten Ketzern richtigere Begriffe hatte, schämte man sich hier dieses un­ würdigen Geschenks so sehr, daß sogar Wiener Schriftsteller versuchten, eine so bekannte historische Thatsache gradezu zu verneinen und sie für eine Erfindung Friedrichs auszugeben, weil dieser Monarch in einer launigen Stunde selbst ein erdichtetes päpstliches Breve im römischen Curialstyl entworfen hatte und dies nachher der Marquis d'ArgenS, um den Scherz zu vollenden, ins Lateinische übersetzen und drucken ließ; eine ironische Schrift, die von einfältigen Menschen als die echte Urkunde betrachtet, nachher den Beschämten zum Borwande diente, die Sache ganz zu leugnen." I. D. E. Preuß sagt in seiner LebenSgeschichte Friedrich'- bei Erwähnung der Verleihung der päpstlichen Geschenke an Daun: „Friedrich, immer noch nicht vom Papste als König anerkannt und im römischen StaatSkalender bloß als „Marchese di Brandenburger aufgeführt, lachte dieser kleinlichen Feind­ schaft und nutzte sie gelegentlich zu satirischen Scherzgedichten und Witzworten, die man nur versteht, wenn man von jenem heiligen Geschenke (seit welchem Daun keinen Sieg mehr über Friedrich, erlangen konnte) unterrichtet ist. Auch findet der König in diesen römischen Streichen guten Stoff, die lange Reihe seiner sogenannten fliegenden Blätter fortzusetzen: „DeS Feldmarschalls Leopold von Daun Brief an den Papst, Brüssel den 8. July 1759" ging in alle Welt; ihm folgte „Glückwunschschreiben deS Prinzen Soubise an den Feldmarschall Daun über den Degen, welchen dieser vom Papste bekommen; — Brief der Marquise von Pompadour an die Königin von Ungarn; — deS Feldmarschalls von Daun Brief an den Papst; — Gedächtnißrede auf Herrn Jacob Matthias Reinhardt, Schustermeister; — Brief eines Schweizer- an einen Venetianischen Nobile; — Brief eine- preußischen Osficier- an einen seiner Freunde in Ber­ lin;—PhisihuS, Kundschafter deS Kaiser- von China in Europa, Relazion; — Brief eines FeldpaterS bei der österreichischen Armee." WaS der König mit diesen Blättern, abgesehen von dem unmittelbaren poetischen Genusse, dessen er auch im Getümmel der Heerschaaren nicht leicht entbehrte, beabsichtigt habe, spricht er mehrfach in seinen Schriften auS: theils wollte er „dem Papst Einversetzen", der die Degen seiner Feinde segne und mordsüchtigen Mönchen einen Zufluchtsort verleihe; theil- den Krieg gegen seine Feinde auf alle Weise führen; plus ils me persöcuteront, sagt er in dem Briefe an Voltaire vom 24. Fe­ bruar 1760, et plus je leur taillerai de la besogne. El si je p6ris, ce sera sur nn tas de leurs libelles, parmi des armes brisöes sur un champ de bataille.“ Wenn Herr Majunke den König wegen der Fingirung deS „Breve" der Fäl­ schung bezichtigt, so beweist er damit nur, wie wenig er die literarisch-politische Bewegung jener Zeit kennt. Derartige Satiren wurden zwischen allen Gegnern al- berechtigte und erlaubte Waffen angesehen; in der Handhabung derselben

26*

war allerdings der allezeit spottlustige und geistreiche Preußenkönig seinen Geg­

nern,

mit Ausnahme vielleicht von Voltaire, überlegen.

Friedrich etwas vorzuwerfen.

Aber Keiner hatte

Choiseul, der Minister Louis XV., warb gegen

ihn den als Verfasser satirischer Schriften bekannten Dichter Paliffot de Mon-

tenoy, um in schneidenden Versen den literarischen und sittlichen Ruf des Königs angreifen zu lasien, und über die Bewegung der Geister in der Hauptstadt des österreichischen Kaiserreiches lesen wir*):

„Dem Unmuth gegen Preußen machten die Wiener während des sieben­ jährigen Krieges in einer reichen Anzahl von Flugschriften und Poesien Lust, die auf der einen Seite von der leidenschaftlichen Erregung,

auf der andern

Seite von einer ungewöhnlichen Begeisterung und Thatenlust Zeugniß gaben. Ritt ein Courier, vom Schlachtfeld kommend, durch

die Straßen nach der

Kaiserburg, so verbreitete sich mit Blitzesschnelle die Nachricht.

Zuerst brachte

ein Flugblatt die Neuigkeit, dann folgte das Diarium mit einer genauen Re­

lation und wenige Tage darauf erschienen schon Briefe und Reime, worin im Geschmack der Zeit das Ereigniß literarisch verarbeitet wurde.

der Gesellschaft traten auf. Soldat, der Musensohn,

Fast alle Typen

Der Priester, der Kaufmann, der Bürger, der

der Modeherr und der dünkelhafte Gelehrte, jeder

sprach in seinem Gedankenkreise bald natürlich und ungezwungen, bald über­

schwenglich und zöpfisch zu den Lesern. Den reinsten und unverfälschtesten Aus­

druck der Gefühle gab der Dichter Michael Denis in seinen „poetischen Bil­ dern", die sich in der Form streng an Gellert's und Hagedorn's Weisen an­

schlossen. Wenige Wochen nach Eröffnung des Krieges erschien in Wien ein französischer Brief, der das Gepräge des tiefsten Haffes gegen Preußen und

seinen König trug.

Er erregte in Berlin solches Aufsehen, daß König Frie­

drich II. auf's äußerste verletzt, denselben in einem Erlaß als eine jener Läster­

schriften erklärte, welche die Reichsinstitutionen und die peinliche Gerichtsordnung so schwer verpönten." — Friedrich, der grade nicht zu den Naturen gehörte, die

Unbill schweigend ertragen, wehrte sich in Abwehr und Angriff.

Ließen die

Wiener die Typen ihrer Gesellschaft reden, so führte er den Prinzen Soubise,

die Marquise Pompadour, Daun, den Schustermeister Reinhard, venetianische Nobile, Chinesen, Feldpater, selbst den Papst redend ein.

Daß sein letzterem

zugeschriebenes Breve für echt gehalten wurde und den Spott und den Hohn des ganzen gebildeten Europa's gegen seine Hauptgegner, den Papst und den

österreichischen Hof, herausforderte, war gewiffermaßen ein politischer Erfolg. Er entzog den Regierungen, welche Lust bezeugten, sich mit diesen gegen ihn zu verbinden, die Sympathien ihrer gebildeten und aufgeklärten Unterthanen und lähmte sie damit in ihrer Thatkraft.

Herr Majunke meint nun: „erweist sich die Urkunde, welche eine Thatsache verbürgt, als gefälscht, so fällt damit die Thatsache von selbst in sich zusammen,

es sei denn, man könne dafür eine andere echte Urkunde aufweisen." *) Karl Weiß, „Geschichte der Stadt Wien".

(Wien.

1882 bei Rud. Lechner.)

Herr Majunke macht sich seine Sache, genau nach dem nach Archenholz schon von den Wiener Schriftstellern befolgten Rezept, als „Historiker" höchst Er versichert, die Thatsache der Degenweihe sei nur auf Grund des

bequem.

Breve für begründet erachtet worden.

Dann führt er den nicht bestrittenen

Beweis, daß das Breve kein echtes ist, und sodann ruft er triumphirend aus:

folglich ist die ganze Thatsache der Degenweihe nicht wahr.

Gesetzt den Fall, Herr Majunke würde wegen seiner allgemeinen Verdienste

um den päpstlichen Stuhl, oder wegen seiner speciellen Verdienste um Mar­ pingen oder um die Louise Lateau, mit einem päpstlichen Orden beglückt! Dar­

über würde nun von einem seiner Gegner eine satirische Verleihungs-Urkunde Nach der Logik des Herrn Majunke bringt der Nachweis, daß

veröffentlicht.

diese Verleihungs-Urkunde nicht die richtige, sondern eine fingirte ist, die That­ sache der Verleihung des Ordens an Herrn Majunke aus der Welt.

Herr Majunke hat nun aber doch einiges mehr gethan und es ist an­ zuerkennen, daß er sich viele Mühe gegeben hat, um seinen Nachweis, daß die

Weihe von Hut und Degen niemals stattgefunden hat, auf das Sicherste führen zu können.

Auch seine zu dem Zweck angewandte Methode ist nur zu billigen.

Er hat, wie er erzählt, mehrwöchentliche Nachforschungen nach dem diesbezüg­

lichen päpstlichen Breve im Vatikanischen Archiv anstellen lasten, ohne daß die

geringste Spur von einem derartigen Dokument gefunden worden ist.

Er hat

die Direction des K. K. Waffenmuseums zu Wien um Auskunft gebeten, ob

sich dort ein Degen Daunstcher Provenienz befinde; die Antwort lautete ver­ neinend.

Er hat an verschiedene Familienglieder der Daun'schen Nachkommen­

schaft geschrieben, alle Antworten stimmten „in der Versicherung überein, daß

von den Erben ein „Degen" irgend welcher Herkunft nicht aufbewahrt werde." Aufs Bestimmteste wurde Herrn Majunke diese Versicherung auch von dem In­

haber des Daun'schen Familienarchivs, dem Herrn Grafen Palffy-Daun auf Schloß Stübing bei Graz, gegeben. Es ist unbegreiflich, wie ihm dabei das wichtigste Beweisdokument aus

neuerer Zeit für die Richtigkeit der Thatsachen entgangen sein kann, nämlich

die Mittheilung von K. G. Jacob, bei Gelegenheit von dessen Besprechung

von John's „Geschichte des siebenjährigen Krieges".

wissenschaftliche Kritik. Mai 1847, S. 800.)

(Nr. 100, Jahrbücher für

Jacob schreibt:

„Woher Herr

John auf S. 113 die Notiz hat, daß Keith in der Schlacht bei Hochkirch „im

Innern der Kirche auf einer hölzernen Bank gestorben sei" ist uns unbekannt.

Die wahre Erzählung dieses Todes steht in Varnhagen von Ense's eben ange­

führter Schrift.

Dagegen hat der Verfasser auf S. 117 ganz richtig

der Beschenkung Daun^s mit einem geweihten Degen und Hute ge­ dacht.

Denn durch die uns aus der glaubwürdigsten Quelle mit-

ge 1heilte Erklärung des Grafen Daun in Wien, des letzten Erben

dieses Namens, ist hinlänglich erwiesen, daß der Großvater des-

elben jene Geschenke empfangen hat, die nachher von der Kai­ serin Maria Theresia der Familie für eine sehr große Summe

398

Notizen.

abgetanst worden sind.

Hierdurch hören alle Zweifel über diese

Thatsache auf." Herr Majunke wird mir glauben, wenn ich

ihm versichere,

daß diese

Jacob'sche Mittheilung von den Fachmännern als entscheidend für die Richtig­

keit der historischen Thatsache angesehen wird.

Der Inhalt derselben macht es

auch erklärlich, daß seine Nachforschungen in Wien und Graz nach dem streitigen Object vergeblich gewesen sind, und andere Thatsachen werden es erklärlich

machen, daß diese Nachforschungen voraussichtlich dauernd vergeblich bleiben

werden. Auch das vatikanische Archiv wird wegen bestimmender Ursachen stumm

bleiben. Die Zeugniffe standen sich danach bisher folgendermaßen einander gegenüber.

Auf der einen Seite die Thatsache, daß die Zeitgenosien allgemein und

auch Friedrich selbst später noch die Degenweihe

für wahr gehalten haben.

Letzteres geht daraus hervor, daß Friedrich sie noch in seine Geschichte des

Siebenjährigen Krieges ausgenommen hat,

von

der bekannt

ist und durch

neuere Untersuchungen*) immer mehr bestätigt wird, mit wie strenger Wahr­ heitsliebe sie verfaßt ist. hinzu:

Friedrich fügt dort seiner Erzählung die Bemerkung

„DaS unkluge Benehmen des Papstes schien besonders die Geistlichkeit

zu beeinflussen; der geweihte Hut, den er dem Marschall Daun übersandt hatte,

bewirkte das Aufflammen eines wunderlichen Eifers bei den geistlichen Fürsten

Deutschlands.

Der Kurfürst von Köln, unter anderen, erließ in seinen Staaten

ein Edikt, durch welches er seinen protestantischen Unterthanen bei schweren Strafen verbot, sich über die Vortheile, welche die Preußen oder deren Verbündete

über ihre Feinde erringen könnten, zu freuen." Hierzu kommt jenes von Jacobs überlieferte durchschlagende Zeugniß von Daun's Enkel. Auf der anderen Seite aber wird die Thatsache von dem österreichischen

Historiker Pezzl in seiner 1791 erschienenen Biographie Laudon's als eine Er­ findung Friedrichs bezeichnet, wie der Wiener Hof es damals gleich habe er­

klären lasten.

Eine Quelle, worauf er seine Ableugnung stützt, giebt Pezzl nicht.

Auch Herr Majunke hat eine gleichzeitige Abläugnung nicht aufgefunden,

sondern nur die in dem über 30 Jahre später erschienenen Buche Pezzls. Bei dieser Sachlage konnte die unbefangene Forschung nicht anders als die

Degenweihe für historisch ansehen. In allerjüngster Zeit ist aber ein neues Dokument ans Licht gekommen, welches Herr Majunke gewiß zu seinem großen Bedauern ebenfalls übersehen

hat, erstens weil es sich an einer Stelle findet, wo Jemand, der etwas von

historischer Forschung weiß, zuerst nachzusehen hat, und zweitens weil es auf den ersten Anblick die Frage doch noch zu Gunsten von Herrn Majunke's Mei­ nung zu entscheiden scheint. *) Namentlich in der vortrefflichen Schrift von Max PoSner „Zur literarischen Thätig­ keit Friedrich d. Gr." P. weist hier im Einzelnen nach, wie Friedrich fortwährend mit den Urkunden in der Hand gearbeitet hat und sie sich vom Staatsarchiv kommen ließ.

Im

18. Bande der

„Publicationen

auS

den K.

Preußischen

Staatsarchiven; M. Lehmann, Preußen und die katholische Kirche seit

1640.

Vierter Theil", befindet sich folgendes Aktenstück, zum ersten Mal ver­

öffentlicht.

Der Resident des Königs von Preußen in Warschau, Benoit,

berichtete am 29. Februar 1764. „Monsignor Visconti, päpstlicher Nuntius bei der polnischen Republik, sagte mir, er habe den Befehl von seinem Hof erhalten, durch meine Ver­

mittlung bei E. M. Fürsprache dafür einzulegen, E. M. möge Seine in Frank­

furt befindlichen Minister instruiren, wie Sie es schon bei anderen Gelegenheiten

gethan, die Würde des Nuntius, welchen der Papst dahin entsenden werde, zu heben und dadurch auf die andern churfürstlichen Gesandten einwirken, daß

diesem Nuntius die Achtung und die Höflichkeit , erwiesen werden, welche man

demselben gebräuchlicher Weise überall erweise.

Er fügte hinzu, da der römische

Hof fortdauernd mit E. M. Freundschaft beglückt worden sei, so hoffe der jetzt regierende Heilige Vater, daß E. M. auch ihm die gleichen freundschaftlichen

Gesinnungen wie seinen Vorgängern bewahren würden.

Signor Visconti hat

mir aus diesem Anlaß die bestimmtesten Versicherungen gemacht: daß das was

man auf Rechnung des jetzt regierenden Papstes gesetzt habe, betreffend einen geweihten Degen, von dem man behaupte, daß ihn dieser Papst an den Mar­ schall Daun gesandt haben sollte, absolut unwahr sei und daß er bekümmert

darüber sei, daß man das als eine Sache, die keinen Zweifel aufkommen laffe,

E. M. berichtet habe; daß der Papst derart ungehalten über das sei, was das Publikum ihm über diesen Gegenstand zugeschrieben habe, daß Seine Heilig­

keit gleich damals (dös lors) alle seine Gesandten bevollmächtigt habe, diesen falschen Gerüchten ein formelles Dementi entgegen zu setzen und es selbst durch die Zeitungen zu berichtigen, wenn sie eS für nothwendig erachten sollten. —

Ich habe mich darauf beschränkt in Bezug auf diesen Punkt Herrn Visconte zu antworten, daß eS sehr gut gewesen wäre, wenn man diesen Weg als den

einzig richtigen eingeschlagen hätte, um die Welt eines besseren über eine Sache zu belehren, welche damals allgemein als wahr angenommen worden fei*).

Der

Nuntius hat mir sodann seine guten Dienste bei allen Fragen, besonders bei

der Frage der Dissidenten, angeboten." Die päpstliche Geschichtschreibung wird nicht verfehlen, diesem Dokument

besondere Wichtigkeit zur Beurtheilung der päpstlichen Degenweihe beizulegen.

Hätte Herr Majunke dasselbe gekannt, gewiß würde er, darauf gestützt, die Ver­

leihung der Geschenke an Daun unbedingt, und wahrscheinlich in Vieler Augen nicht ohne Erfolg, haben bestreiten können.

Er konnte dann annehmen, wie

es der Papst annahm, Friedrich der Große sei getäuscht worden. — Friedrich

hat aber eine Täuschung nicht zugegeben. Benoit giebt dem Nuntius auf dessen Versicherungen schon eine Antwort, *) Man beachte wohl, daß darnach Benoit so wenig wie Archenholz von der (von Pezzl später behaupteten) gleichzeitigen Dementirung etwas gewußt hat; damit ver­ liert auch Pezzls eigene Abläugnung ihren Werth.

(qu'il anrait trds bon, si Von ent pris ce parti, comme Funique, pour dösabuser le monde d’une opinion, qui avait gönöralement re^ue alors) welche derart gefaßt ist, daß sie ihrem Sinne nach heißt: Lieber Freund, Deine Versicherungen kommen viel zu spät, als daß wir sie noch glauben könnten. Friedrich selbst antwortete unmittelbar seinem Residenten in Form eines CabinetS-BefehlS, datirt Potsdam, 10. März 1764: (ebenfalls durch Lehmann, S. 157, veröffentlicht.) „WaS die Unterredung betrifft, welche der bei der polnischen Republik be­ glaubigte päpstliche Nuntius Visconti mit Ihnen gehabt hat, so werden Sie angewiesen, ihm bei der ersten paffenden Gelegenheit, oder dann, wenn er das Gespräch aufS Neue auf den Gegenstand bringen sollte, zu sagen: ich hätte den verstorbenen Papst als Freund betrachtet, theils weil derselbe ein Prälat von großem Verdienste gewesen, sodann weil derselbe mir seine Freundschaft bei allen sich darbietenden Gelegenheiten bewiesen habe; aber mit dem jetzt regieren­ den Papst stehe eS ganz entgegengesetzt, derselbe habe, waS man auch GegentheiligeS versichern möge, (quoiqu'on en veuille dire da contraire) sich gegen mich zur Zeit deS letzten Krieges in einer plumpen, seiner Würde unangemeffenen Weise benommen, indem er überall den Haß gegen mich ge­ schürt und überdies nicht gezögert habe, die Meuterei deS römisch-katholischen CleruS in Schlesien gegen mich zu unterstützen: und Sie werden damit schließen, indem sie dem besagten Nuntius rund heraus sagen, daß, welche Hochachtung ich auch für den Stuhl zu Rom hegen möge, ich mich deffen ungeachtet niemals mit einer Sache beschäftigen würde, die den jetzt regierenden Papst betrifft." Die Sprache läßt an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig. Der König schenkt den Worten deS Papstes keinen Glauben. Trotz dieser Ableugnung der Degenweihe, ist er seiner Kenntniß von der Sache so vollkommen gewiß, daß er in seine „Geschichte deS siebenjährigen Krieges" die Erzählung ausführ­ lich aufnimmt, sie nicht einmal mit einer die spätere Ableugnung hervor­ hebenden Anmerkung begleitet*). Die Degenweihe war nur ein Symptom der feindseeligen Gesinnung deS Papstes gegen ihn gewesen. Durch seine Satire *) Wie überzeugt Friedrich von der Richtigkeit der Thatsache war beweist ein Blick in seine Privatcorrespondenz. In einem Schreiben an Lord Marischall (Oeuvres XX, pag. 281) heißt eö: „Cet homme a toque papale sera obligö de prendre un parti, et je ne suppose pas que cela se passe en douceur.“ An Herzog Ferdinand von Braunschweig (Oeuvres XXVII, II p. 68) schreibt er: „Nous sommes ici les bras crois6s, tant qu’il plaira L cette bdnite creature que j’ai vis-a-vis de moi; maia au premier mouvement il y aura de bona Coupe de donn^s.“ In einem CabinetSschreiben an den Markgrafen Karl v. Branden« bürg, datirt Hirschberg, 1759, July 5, (veröffentlicht durch Lehmann in seinen Publikationen aus den Preuß. Staatsarchiven. 18. Band 1883) sagt er: hoffe daß wihr in dieser gegend den Päpstlichen huht eins anhLngen werden". Und an d'ArgenS schreibt Friedrich als sein abschließendes Wort: „Aprea avoir dit mon mot, je prends cong6 de la bSnite toque et de la papale flamberge, L moins qu’un grand hasard favofrable, comme il en arrive ä la guerre, ne me fasse tomber ces pigcea entre les mains "

hatte er die Wirkung dieses Akte- zum Nachtheil gegen den Urheber und deffen Verbündete gekehrt; er hatte, waS von größter Bedeutung war, bei dem Ein­ fluß, den die Meinung der gebildeten Welt in diesem Zeitalter der Aufklärung auf die Staatsmänner und die Träger der Krone ausübte, die Lacher und Spötter auf feine Seite gezogen. Der Act an sich mußte ihm recht unbedeutend erscheinen. Welchen Grund hätte er haben können, wider besseres Wissen, des­ selben weiter zu erwähnen, da ihm Beweismaterial für weit schlimmere Acte der Feindschaft des Papste- genügend zu Gebote stand? Der Papst anderer­ seits tonnte, nach dem Hohn, mit dem der König gerade diese Handlung über­ schüttet halte, der Meinung sein, daß in ihr die liefere Ursache der unversöhn­ lichen Gesinnung desselben liege. In Wien hatte man schon abgeleugnel und daS eigentliche BeweiSobjeet den Händen deö damit Beschenkten entnommen. Von dort her drohte also kein Verrath Die etwa in den päpstlichen Archiven zurückgebliebenen Spuren ließen sich ebenso leicht verwischen; sie werden trotz allen Nachforschungen seitens des Herrn Majunke schwerlich wieder zum Vor­ schein kommen. Herr Majunke meint: „In keinem Fall würde Daun nach hergebrachter römischer Sitte wegen seines bei Hochkirch erfochtenen Sieges vom Papst aus­ gezeichnet worden sein — wie daS ja auch nicht der sprichwörtlichen „Klugheit der Curie" entsprochen hätte, die sich den damals schon mächtigen und wegen seiner Intriguen gefürchteten Friedrich IL nicht unnöthiger Weise zum Feinde gemacht haben würde." Herr Majunke verwechselt die Zeiten. Damals, am Schluffe dieses dritten der furchtbaren sieben Jahre, erschien Friedrichs Stern im Erbleichen. Für mächtig wurde der kleine Preußenkönig nicht gehalten. Derselbe stand da, be­ siegt mit den Waffen und immer weiter bedrängt von der nach vielen Mühen endlich erreichten Coalition der größten Staaten der Welt. Schon glaubte man sich in die Beute theilen, Ostpreußen an Rußland, Pommern ganz an Schweden, Gebiete von Belgien und am linken Rheinüfer an Frankreich, Schlesien wieder an Oestreich geben zu können. Der „sprichwörtlichen Klugheit der Curie" entsprach eS vollkommen, wenn sie, um in ihrem Einfluß auf die Beutevertheilung nicht verdrängt zu werden, die Karte offen aufdeckte und rück­ sichtslos feindselig gegen den am Boden liegenden Staat vorging. Die Beweis­ mittel für die geheime und offene Feindschaft der Curie gegen Friedrich, liegen uns heute in unwiderleglichen Dokumenten ebenso vor, wie sie dem Könige da­ mals schon vorgelegen haben müssen. Nach dem Hubertöburger Frieden (15. Februar 1763) mußte die Curie aber zu einem ganz veränderten Handeln gedrängt werden. Dieser Friede gab Preußen fast die erste Stellung unter den Mächten Europas. Bewundernd schaute die Welt auf einen Herrscher, der alle seine Feinde mit den Waffen des Krieges und des Geistes besiegt hatte, und der nunmehr, rastlos und unermüd­ lich, die Friedensarbeit zur Wiedererhebung deS geistigen und materiellen Wohles seines Volkes in einer Reihe großartiger Schöpfungen begann. Sein Einfluß

auf die Geschicke Europa- war ein unbestritten mächtiger geworden.

Nicht der

Papst allein, alle Herrscher bewarben sich um seine Freundschaft, aber Keiner

hatte dieselbe nöthiger als der Papst.

Die Jesuiten, die einflußreichsten

und besonderen Günstlinge von Clemens XIIL, halten in dieser zweiten Hälfte deS achtzehnten Jahrhunderts die härtesten Kämpfe zu bestehen.

Aus allen Län­

dern ertönte ihr Klageruf an daS Ohr des heiligen Vaters.

Vor wenigen

Jahren war der Orden auS Portugal vertrieben worden; in diesem selben Jahr, in welchem der Papst sich an Friedrich wandte,

erfolgte die Aufhebung deS

Ordens in Frankreich, 1767 folgten mit gleichem Edikt Spanien, Parma, Neapel und Malta.

Ueberall waren auch die päpstlichen Nuntien nach Hause geschickt

DaS Ansehen deS heiligen Stuhles sank immer tiefer.

worden.

Selbst die

„theure und geliebte Tochter der Kirche", Maria Theresia, zeigte sich keineswegs geneigt, ihre Herrschaft mit den» von einem Jesuiten-Papst geführten CleruS zu

theilen.

Gegen die Mißbräuche der Kirche trat sie ebenso bestimmt auf, wie

gegen jede päpstliche Anmaßung; schon war auch für ihre Staaten daS BerbannungSdekret für den Orden in Aussicht genommen. In dieser äußersten Bedrängniß

suchte der Papst die Freundschaft deS

mächtigsten Herrschers Europas wiederzugewinnen.

Die spätere Aufnahme der

Jesuiten in Preußen, nach Aufhebung deS Ordens durch Clemens XIV., liefert den Beweis, daß die Berechnung auf die Großmuth und die Duldsamkeit deS

Königs nicht ohne jedes Fundament war.

Der erwähnte Schritt, daS Nachsuchen der Vermittlung Friedrichs für den

päpstlichen Nuntius in Frankfurt, war

nicht der

einzige und

erste Schritt

dieser Art. Unterm 8. Februar 1764 berichtete der EtatS-Minister Jacob Friedrich von

Rohd,

Gesandter deS Königs

am Kaiserlichen Hof zu Wien, der päpstliche

Nuntius habe sich im Auftrage des Papstes an ihn um Verwendung bei dem

König für den, damals in Oppeln internirten Bischof von Breslau, Schaffgotsch, verwandt.

Friedrich hatte unterm 17. Februar in einem CabinetS-Befehl diese

Verwendung in schroffster Weise abgelehnt*): „WaS die Fürsprache deS Papstes

betrifft, so haben Sie dem Nuntius zu erklären: der Papst habe sich während deS letzten Krieges so schlecht gegen mich betragen (s’ötait si mal gouvernö ä

inon Sgard) daß ich nicht gewillt sei, seine Wünsche irgendwie zu berücksichtigen." Zwölf Tage nach Abgang dieses Schreibens, erfolgte durch den Nuntius in Warschau die Versicherung, daß die Degenweihe nie stattgefunden habe.

ES

sei erlaubt anzunehmen, daß der Papst die Meinung haben konnte, der Bor­ wurf deS ,Mal gouvern64 sei auf diesen Act zurückzuführen.

Seine Lage war

eine solche, daß jedes Versöhnungsmittel ihm erwünscht sein mußte.

Die Grund­

sätze seiner politischen Moral erlaubten ihm die Benutzung eines jeden Mittels,

wenn eS nur guten Zwecken diente.

Er instruirte demgemäß seinen Nuntius

*) Beide Aktenstücke veröffentlicht S-144, 145 durch M. Lehmann. aus deu preußischen Staatsarchiven. Leipzig. 1883.)

(Publikationen

in Warschau. Hier lag damals, im Wahljahre deS Grafen Poniatowski zum Könige, in der Zeit deS Abschlusses deS Vertrages mit Rußland (11. April 1764) und acht Jahre vor der ersten Theilung Polens, der Schwerpunkt der auswärtigen preußischen Politik; hier bot sich am leichtesten Veranlassung zu Verhandlungen und, bei dem Einfluß der katholischen Geistlichkeit in den polni­ schen Ländern, die Möglichkeit der Gewährung von Gegenleistungen. Aber nunmehr angenommen, die von mir vorausgesetzten Ursachen zurnachträglichen Ableugnung der Degenweihe deS Papstes, würden von der vati­ kanischen Geschichtsschreibung verworfen, diese anerkenne den Inhalt der War­ schauer Erklärung als unumstößliche Wahrheit und weise damit jede fernere Behauptung der Ueberreichung von päpstlichen Weihegeschenken an den öster­ reichischen Marschall alS unhistorisch zurück, waS ist denn daraus zu folgernDie Degenweihe wurde von mir als ein äußerlich besonders in die Augen fallender Act züm Beweise der feindseeligen Stellung deS Papstthums gegen die protestantische Macht Preußen in allen bedeutenden Phasen von deren Ent­ wicklung angeführt. Mag der geweihte Degen und der geweihte Hut mitsammt den darüber geführten Dekreten und Breven vorhanden gewesen sein oder nicht, mag die Erzählung mehr dem Bolksinstinct ihre Entstehung verdanken, welcher darin die Gesammthaltung der Curie in ihrer Parteinahme gegen Preußen gewissermaßen verdichtete, die Hauptsache ist diese feindseelige Haltung. Diese wird keine Parteischrift abzuleugnen im Stande sein. Wir wissen auS den hinterlassenen Papieren deS Herzogs von Choifeul*), der 1756 in Wien das Bündniß mit Oesterreich zu Stande gebracht hatte, daß der Hauptgrund, der den König Ludwig XV. und seine Maitresse, die Pompadour, bestimmte, der Allianz gegen Preußen beizutreten, ein religiöser war. Der Protestantis­ mus, dessen führende kontinentale Macht, nach dem Uebertritt deS sächsischen Fürstenhauses zum Katholicismus, der preußische Staat war, sollte auSgerottet werden. Vereinigt standen die katholischen Mächte gegen die beiden protestan­ tischen Staaten, England und Preußen, welche sich am 16. Januar 1756 zu Westminster verbündet hatten. WaS der Herzog von Choiseul wußte, wußte Friedrich auch. Wenn er dauernd jeden späteren BersöhnungSversuch deS Papstes zurückwies, so wird das seinen Grund, ganz abgesehen von politischen Erwägungen, in der Kenntniß jener energischen Thätigkeit haben, welche der Papst aufgewendet hatte, das Bündniß von Frankreich und Oesterreich mit unermüdlichem Hinweis auf die religiösen Grundlagen desselben zu befestigen. Die unumstößlichsten Beweise davon sind unS überliefert in jenen beiden Schreiben, welche der Papst unterm 15. und 18. November 1758 an den König von Frankreich und den Kaiser Franz richtete. CleuienS XIII. fordert darin die beiden Fürsten auf, die Verluste einzuholen, welche die katholische Kirche in Deutschland durch die Zwietracht der Mächte erlitten habe und mit denen sie durch die feindseeligen Pläne der nicht katholischen Fürsten von Neuem

♦) vehse, Geschichte deS öftr. Hofes. Bd- 7. S. 245.

Notizen.

404

bedroht werde, die den wegen weltlicher Herrschaft begonnenen Krieg benutzten, um falschen Eifer für die falscheste der Religionen an den Tag zu legen, nach­ dem sie die katholische Religion schon mit Füßen getreten hätten.

Frankreich

und Oesterreich möchten das durch vereintes Zusammenwirken wieder gut zu machen bestrebt sein und im Reiche einen Frieden aufrichten, der ein wahrer

Gottesfriede

genannt werden

könne und der die Pläne der Bösen und der

Feinde des heiligen katholischen Glaubens von Grund aus zu Schanden machen

werde.

Er hofft in dem einen Schreiben, von dem abgeschloffenen, schon von

seinen Vorgängern so heiß ersehnten Bündniß, „das von der Vorsehung jedoch

auf unsere stürmischeren Zeiten aufbewahrt worden ist", um so mehr, als Gott

selbst daffelbe „in jüngster Zeil durch glückliche Waffenerfolge über Erwarten gesegnet habe."

(Hoc ipsum foedus tantopere a praedeceesoribus Nostris

exoptatum, sed ad haec turbulentiora Nostra tempora provide reservatum, prosperis armorum successibus Deus ipse novissime cumulavit) liche Waffenerfolg" war die Schlacht bei Hochkirch.

Der „glück­

Die beiden Schreiben sind nach dem Druck in der Bullarii Romani continuatio (Romae 1835) pag. 55. 56, wieder abgedruckt in den mehrerwähnten „Publikationen aus den königl. preußischen Staatsarchiven" (18. Band. M. Leh­ mann, Preußen und die kathol. Kirche seit 1640.

Vierter Theil.

Leipzig 1883).

Dort mag sie Herr Majunke nachlesen und daraus lernen,

„wie man in

Deutschland Religionskriege gemacht hat." Barmen, 17. August 1883.

E. v. Eynern.

Lutherschriften. Die Feier des 400 jährigen Geburtstages Luthers hat eine überaus zahl­

reiche Literatur von Lutherbiographieen ins Leben gerufen. warten und mußte es wünschen.

Man durfte es er­

Nicht als ob der große Jubilar in Gefahr-

gewesen wäre, von der evangelischen Christenheit und seinem deutschen Volke

vergessen zu werden.

Dahin hat es gute Wege.

Aber auf so viel Trüb­

seligkeiten des kirchlich-politischen Lebens und nach so viel schnöden Verdäch­

tigungen des protestantischen Bekenntnisses, mit denen das römische Füllhorn Luther und uns wie zum Festtagsangebinde überschüttet hat, bedurfte es allseitigen

Zeugnisses dafür, daß die protestantische Welt zu ihrem größten Heros zu halten

gewillt ist in guten und bösen Tagen und, wenn es denn ausdrücklich gesagt werden soll, in ihm ihren freilich nicht unfehlbaren Einheitspunkt findet trotz

allen Kampfes der Geister.

Das Wichtigste ist, daß dem deutschen Haus und

der deutschen Jugend die Dokumente der Reformation zugänglich gewacht worden sind, wie nie zuvor.

Auf ein Menschenalter hinaus wird das Luther­

büchlein in der Familienbibliothek des Reichen wie in der bescheidenen Lade des Armen zu den Heiligthümern des Hauses gerechnet werden.

Man muß es eben darum mit besonderer Freude begrüßen, daß sich der schriftstellerische Eifer unserer Biographen vorzüglich der Abfassung von Volks-

büchern in jedem Sinne des Wortes zugewendet hat. gangen.

Kein Bedürfniß ist über­

Von kleinen Sachen liegen uns vor die Büchlein von Disselhof*),

Rogge**) und Portig***). Sie bieten erstaunlich viel und um geringen Preis.

Eine reiche Auswahl von zum Theil wohl gelungenen Illustrationen dient dem

Text zur willkommenen Ergänzung und wird nicht verfehlen, den Werth dieser Gaben für die Jugend zu verdoppeln.

Was den Inhalt betrifft, so ist die

Berichterstattung im ganzen zuverlässig, dabei einfach wie sich's gehört, im Ton allerdings von verschiedenem Werth.

Ein durchaus selbständiges Gepräge und hervorragende Bedeutung hat

trotz der zugestandenen Anlehnung an Köstlin eine Arbeit des inzwischen ver­

storbenen Erlanger Profeffors Plitt-s). An dieser Bedeutung wird auch das Vorwort deS Herausgebers, welcher nach Plitt's Tode die kleinere zweite Hälfte des Buches bearbeitet hat, nichts

ändern können.

Derselbe begründet nämlich das Erscheinen dieses Werkes u. A.

mit der ernsten Verpflichtung zur Wachsamkeit gegenüber den entstellenden Be^ urtheilungen, welche „die Person und das Wirken des Reformators neuerdings

von halbgläubiger protestantischer wie von feindlich katholischer Seite erfahren hat."

Was sollen so schiefe Parallelen?

Will der Herausgeber Jeden, dem

Luther als Volksmann und Freiheitskämpfer an's Herz gewachsen ist — und er war doch beides — auf Verrath an der protestantischen Sache und Geistes­ gemeinschaft mit Jansen und Genossen denunziren?

Ist eS wirklich geboten.

*) Iubelbüchlein zu Dr. Martin Luthers 400jährigem Geburtstage in Wort und Bild für Alt und Jung von Julius Diffelhof. Kaiserswerth. Verlag der Diakonissen-Anstalt. 120 S. 50 Pf. In der frischen, echt volkSthümlichen Weise deS Kaiserswerther Kalenders geschrieben bietet das Jubelbüchlein einen sehr reichhaltigen, gut disponirten und kräftig gehaltenen Ueberblick über Luthers Leben. Musterhaft sind die Bilder von Waldus, Wiclef, HuS und Savanarola. Abgesehen von dem etwas zu engen Druck darf daö Büchlein sehr dringend zur Lektüre und WeiterVerbreitung empfohlen werden. **) DaS Lutherbüchlein von Bernhard Rogge. 3. Auflage. Leipzig. Georg Reichardt Verlag. 1883. 71 S. 40 Pf., in Parthieen billiger. Wie man hört ist das Roggesche Buch vom Berliner Magistrat zur Bertheilung an die evangelischen Schüler der Berliner Gemeindeschulen bestimmt worden. Schlicht und sehr faßlich gehalten, übt eö weise Beschränkung in der Auswahl deS Stoffes, giebt namentlich von Zahlen nur das Nothwendigste, und läßt ohne Zuthat die Geschichte selbst reden. Unschön ist das Titelblatt. ***) Martin Luther. Zur Erinnerung an daS Auftreten des größten deutschen BolkSmanneS von Lic. Dr. Gustav Portig. Leipzig. Otto Spamer'S Verlag. 142 S. M. 1,25. Um mehr wie das Doppelte theurer als die beiden erstgenannten hält dieses dem Spamer'schen Verlag von Volks- und Jugendschriften einverleibte Merk­ chen den Vergleich mit jenen nicht aus. So vortrefflich und zahlreich die Illustra­ tionen auch sind, so hat doch die Darstellung oft etwas Hartes und Lebloses. Die Menge der Details trägt nichts zur Veranschaulichung bei. Die Citate am Schluß des Buches hätten den Text wohl heben können, wenn ste an rechter Stelle hinein­ gearbeitet wären. t) Dr. Martin Luthers Leben und Wirken. Zum 10. November 1883 dem deutschen evangelischen Volke gewidmet von Dr. Gustav Plitt, vollendet von E. F. Petersen, Hauptpastor in Lübeck. Leipzig. 1883. I. C. HinrichS'sche Buchhandlung. 570 S. M. 4,50.

im eigenen Lager den Krieg zu erklären, wo gegen Rom Front gemacht werden soll? —AlS Frommel am 14. September d. I. auf dem Marktplatz zu Witten­ berg die großen Luthertage beschloß da hat er die bescheidenen Erbschaften auf­ gezählt, mit welchen so mancher auS Luther'S Nachlaß sich begnügt, die schöne Prosa, die geschäftige Käthe, daS gemüthliche Heimwesen u. s. w. Wir empfan­ den alle, daß hier zur rechten Stunde ein rechtes Wort gesprochen wurde, wir fühlten aber auch, daß, wer immer Theil hat an unserer Verehrung vor Luther'S Größe, Fleisch ist von unserm Fleisch und Bein von unserm Bein. ES war die den Augenblick weit überbietende Bedeutung der Wittenberger Tage, daß man 'sich Eins wisien durste ohne jedes Opfer an UeberzeugungStreue. Diesem Geiste wie immer entgegenzuwirken, ist ein trauriger Abbruch an dem Segen dieses JahreS. Wie der Titel sagt, will auch Plitt dem deutschen evangelischen Volk daS Leben nnd Wirken seines Luther schildern. Man muß gestehen, daß eS ihm trefflich gelungen ist. Die Darstellung setzt nirgend mehr voraus, als daS be­ scheidene Verständniß mäßiger Bildung. Ohne Aufwand an Pathos aber ein­ dringlich und anschaulich, entbehrt sie nicht einer gewiffen innerlich frohen Lebendig­ keit, die doch mehr in der sicheren Beherrschung deS Stoffes, in der Scheidung des Wesentlichen und Unwesentlichen, in dem glücklichen Fluß der Erzählung, in dem warmen StimmungStone zu Tage tritt als in stylistifchen Besonder­ heiten. Alles in allem: daS Buch liest sich selten gut. In vier Abschnitten wird davon gehandelt, wie Luther ein Reformator der Kirche ward, wie die Reformation der Kirche durch Luther begann, wie Luther die Kirche baute und für sie kämpfte, wie Luther bis an'S Ende am Bau der Kirche fortarbeitete — eine nicht eben glückliche Nomenklatur. Voran geht eine Einleitung, in welcher kurz und bündig die Kirche deS Evangeliums der römischen Gesetzesanstalt entgegengestellt und auS demselben Schema die Unter» scheidungslehren abgeleitet werden. Dann wendet sich der Berfaffer mit sicht­ licher Liebe dem Werden Luther'S zu und schildert die Entwickelung deS Knaben zum Jüngling und Mann mit Heranziehung mancher frappanten, glücklich ge­ wendeten Einzelheit. Ob eS richtig war, zwischen Priesterweihe und Luther'S Anfänge in Wittenberg einen eigenen Abschnitt über „Luther'S Bekehrung" ein­ zuschalten, darf freilich sehr ernstlich bezweifelt werden. So korrekt auch der HeilSordnung nach dieser Titel begründet werden mag, so hat wohl niemand gegen die chronologische Deutung einer logisch gemeinten Stufenfolge kräftigeren Einspruch gethan als Luther selbst in der ersten der 95 Thesen: Unser Herr und Meister JesuS Christus, da er spricht: Thut Buße u. s. w. will, daß daS ganze Leben der Gläubigen Buße fei: ES ist die Stärke deS Mannes und daS Geheimniß seiner Entwickelung, daß er den Christianus in sich und anderen non in facto sed in fieri anerkannte. Die folgenden Abschnitte, der zweite in WormS, der dritte auf der Coburg, der vierte an Luther'S Grabe endend, sind mit fein gewählten, zweckmäßig ge­ kürzten und sinnig angeordneten Citaten auS Luther'S Schriften reichlich ver-

sehen. Sie geben dem Buch durchweg etwas im besten Sinne des Wortes Erbauliches. Gegen daS Ende hin hatte wohl ein wenig gekürzt werden können. In kirchlichen Kreisen wird diese Lektüre, wie wir nicht zweifeln, allseitigen Anklang finden. Auf wesentlich anderem Boden bewegt sich die Festschrift von Lenz*). Wie Titel und Prospekt besagen, verdankt dieselbe ihre Entstehung dem Auftrag deS Magistrats und der Stadtverordneten von Berlin und ist bestimmt, am 10. No­ vember d. I. an die reiferen Schüler der höheren Schulen Berlins vertheilt zu werden. Man könnte zweifeln, ob nicht die Darstellungsweise für diesen Zweck noch zu hoch gerathen ist. Die Gedrungenheit der Sätze wie die energisch knappe Gedankenfolge erfordern an mehr als einer Stelle die reiflichste Ueberlegung. Allein wer wünscht unsern Schülern nicht reifliche- Ueberlegen, wo die heiligsten Güter unsere- Volke- in ihrem größten Vertreter erkannt und be­ griffen werden sollen? Da- Lenz'sche Buch ist wie kein zweite- gemacht, um die reifere Jugend unserer Gymnasien weit über ein paar flüchtige Lesestunden hinaus, vielleicht für ein Leben lang in Anspruch zu nehmen. Da- vorliegende Probeheft enthält au-zug-weise das erste und vierte Ca­ pitel, jenes „Deutsche Zustände und Anschauungen in Luther'- Jugendzeit", diese- unter der Ueberschrift „Reformation und Revolution" die Wartburgzeit behandelnd. Die beiden zwischenliegenden Abschnitte, in welche dem Referenten theilweise Einsicht verstattet war, besprechen „Luther s Entwickelung bis 1517" und „Luther's Bruch mit Rom und den Romanisten". Gleich jener erste Abschnitt über die allgemeinen Voraussetzungen deS ReformationSzeitalterS stellt unS auf den breitesten Boden geschichtlicher Betrach­ tung. DaS deutsche Leben enthüllt hier den erstaunlichen Reichthum seiner widerspruchsvollen Impulse um die Wende des 16. Jahrhunderts. Voran daS Kaiserthum, noch immer mit träumerischem Auge den theokratischen Idealen einer ehrwürdigen Vergangenheit zugekehrt, und doch, wenn eS sein muß, die neuen Aufgaben deS weltlichen Staate- mit dem Schwertknauf markirend, zur Seite der Humanismus mit seiner stolzen Entdeckung von weltfroher Kunst und Wissen­ schaft, aber doch nicht frei von dem trügerischen Rausch unkritischer Bewun­ derung deS Alten, beide unheimlich beleuchtet von der überall aufflackernden Flamme der Bauernbewegung, inmitten aber die geschlossene Einheit der römi­ schen Kirche mit ihrer zähen Tradition und weltumspannenden Organisation, — daS alles lebt und webt, halb verschlungen, halb entzweit, in kräftiger Be­ wegung durch einander und gewinnt unter der kundigen Beleuchtung deS Ver­ fassers den vollen Schein lebendiger Wirklichkeit. Wir stehen nicht an, dieses *) Martin Luther. Festschrift der Stadt Berlin für ihre Schulen -um 10. November lüü3. Gon Dr. Max Lenz. Berlin 1883. R. Gaertners Verlagsbuchhandlung. SubscriptionSpreiS M. 2,60. DaS Buch soll um den Charakter einer Festschrift zu wahren, erst am 10. November wirklich ausgegeben werden und es liegt bisher nur ein Probeheft vor.

erste Capitel ein Meisterstück zu nennen. Es ist auch der Schlüffel zum Ganzen^ Man empfindet, daß hier nicht geschieden werden wird zwischen dem Patrioten in Luther und dem Christen in ihm, zwischen dem Verfechter der Gewissens­ freiheit und dem Vertreter des rechtfertigenden Glaubens, dem Schöpfer der Sprache und dem Manne der Bibel. Dieser Luther wird ganz sein, nicht halb. Er wird auch nicht nur den bekannten Träger einer bekannten LebenSgeschichte abgebeu, sondern dies thatenreiche Leben noch einmal auS dem Besten seines Geistes erzeugen. Dem Verfasser stehen für eine so hochgespannte biographische Aufgabe sehr reiche Mittel der Sprache und eine seltene Herrschaft über den Ausdruck zu Gebote. Werthvoller noch ist die stete Zweckbeziehung deS Einzelnen auf das Ganze. Vor allem aber tragt der Verfasser Sorge, den Herzschlag deS großen Reformators zur Nachempfindung zu bringen. DaS zweite Capitel bringt dafür vollgültigen Beweis. Irren wir nicht, so ist eS eine weitverbreitete Stimmung, welche dem Eintritt Luther'S inS Kloster zwar ehrerbietige Achtung entgegen­ tragt, die unmittelbare Sympathie psychologischen Verständnisse- aber versagt. Mit richtigem Griff hat darum der Verfasser die nominalistische Weltanschauung zur Erläuterung herangezogen. So wenig wir unS beikommen lassen dürfen, daS gewaltige Ringen in der Seele des Mönches auS dem Reflex dialektischer Skrupel auf sein Gemüthsleben erklären zu wollen, so entschieden hängen Färbu ng und Dauer dieses Kampfes mit den Lehrsätzen Biel'S und Oceam'S zusammen. Ist Gott der schrankenlose Wille bis zu dem Grade, daß daS Böse, wenn Gott eS gewollt hätte, für gut zu erachten wäre, so kann der Mensch, der seinen Frieden machen will, auf Erweisung von Gnade einen sicheren Anspruch nie­ mals erheben. Dem schrankenlosen Willen ist im besten Fall Billigkeit zuzu­ trauen. Bedingungsweise gewährt er mildernde Umstände. Die höchsten Be­ ziehungen deS geistigen Lebens aber von Billigkeitsrücksichten und mildernden Umständen abhängig zu machen, heißt die Unsicherheit deS Gewissens in Per­ manenz erklären. Sehr anziehend ist in diesem Abschnitt Staupitz behandelt und kurz zwar, aber glänzend daS Rom, welches Luther 1511 betreten. DaS dritte Capitel ist länger geworden als nach dem Probeheft zu erwarten war. Vielleicht hätte hier nach der sonstigen Weise deS Verfassers die Er­ zählung gedrängter sein können. Dann würde auch nicht der Schein entstanden fein, als werde der Unterredung mit Cajetan eine größere Bedeutung beigelegt als der Leipziger Disputation. Die Geringschätzung, mit welcher Luther von dieser letzteren redet, ist doch nicht frei von dem peinlichen Gefühl, theils zu viel, theils zu wenig gesagt zu haben. Daß er längst daS Maß seine- Denkens gefunden, braucht darum nicht bestritten zu werden. Doch wir kommen zum Schluß deS vorliegenden HefteS und begleiten Luther zur Wartburg. Hier gehört der Reformator wieder ganz sich selber. Und eS ist merkwürdig: am liebsten hat man ihn doch, wenn man ihn allein hat. Wie unter den drei Reformationsschriften von 1520 die „Bon der Frei-

heit

eines Christcnmenschen"

evangelischcn Glaubens

weitaus

die

bedeutendste Programmschrift de-

genannt werden darf, nicht obwohl, sondern weil sie

sich jeder Polemik enthält, so bewährt sich auch Luther als echter Gemüthsmensch

darin,

daß er am ursprünglichsten ist in den Eingebungen der Stille.

reden von der Bibelübersetzung.

Wir

„Er wandelte auf geweihtem Boden, in Demuth

und Andacht, in geheiligter Stille, als spräche er sein Gebet."

„So ging unter

seinen Händen ein Buch, an dem Jahrhunderte gearbeitet habe«, wie au» einem

Guß, aus einem Geiste neu geschaffen hervor."

An dieser letzten Probe mag

jeder den Geist auch dieses Buches erkennen.

Ueber einige anderweitige Lutherschrifte» werden wir »och im

nächsten

Heft berichten.

Hermann Scholz.

Berlin.

Iwan Turgenjew. — Bon franzSsischea Schriftstellern wird verbreitet, und zu meiner Verwunderung von deutschen Redactionen zum Theil bestätigt, der russische Dichter, den wir alle so lieb und werth halten, sei ein furchtbarer

Deutschenhaffer gewesen. — ES ist kein wahres

Wort daran.

Schon vor

Jahren hatte sich hier ein ähnliches Gerücht verbreitet, ich habe e» damals in

seinem Auftrag auf das bestimmteste dementirt:

„ich verdanke Deutschland",

schrieb er, „zu viel, als daß ich es nicht wie mein zweites

Vaterland

ehren

sollte!" — AIS 1870 der Krieg begann, war er bei mir, und äußerte seinen Wunsch, die Franzosen möchten „Klopfe

kriegen!"

Ich

bemerkte, mit dem

bloßen Wunsch sei eS nicht gethan, er müsse dafür auch etwas opfern. —

Nach einiger Uebcrlegung erklärte er, er wolle um dieses guten Zweckes willen

allenfalls einen Monat krank liegen; als mir auch das nicht genügte, versprach er, er wolle ein Jahr lang nicht auf die Jagd gehen! das Höchste, waS er sich

auSdeoken konnte. — Ich erzähle das nicht, um zu behaupten, er sei ein leiden­

schaftlicher Anhänger der deutschen und ein leidenschaftlicher Gegner der fran­

zösische»

Politik gewese».

DaS fiel ihm nicht ein, er war durch und durch

Ruffe, waS sonst in der Politik vorging, betrachtete er nur als unparteiischer Zuschauer. — Wir habe«, mit Ausnahme der beiden letzten Jahre unS alljähr­

lich darüber ausgesprochen.

Er sagte mir: am meisten habe ich auf die Raffen

räsonnirt, denen ich mit Leib und Seele angehöre; dann wohl auf die Deutschen,

die mir am nächsten stehen; die anderen Nationen waren mir gleichgültig. —

Freilich lebte er in de« letzten Jahren nur in französischen Kreisen, und mag da, namentlich weil seine innig verehrte Freundin Madame Viardot unter dem

Krieg gelitten hatte, oft genug in den Groll der Franzosen gegen die Deutschen

eingestimmt haben, er war sehr eindrucksfähig:

aber

a«S

solchen vereinzelten

Ausbrüche» einen systematischen Deutschenhaß herleiten zu wollen, ist abge­

schmackt. — Er verehrte Goethe über alle-, er hielt die deutsche Bildung für die produktivste; daß er die modernen deutschen Dichter nicht allzu hoch schätzte,

ist richtig, aber darin ist der Geschmack verschieden. Preußische Jahrbücher. Bd. LIL Heft 4.

Die Ruffen sind in

27

410

Notizen.

letzter Zeit so oft auSfahrend gegen uns gewesen, daß eS un- nicht gleichgültig sein kann, ob der liebste unter ihnen sich an diesen Fanfaronaden betheiligt hat, und das kann ich positiv versichern:

Turgenjew hat sich wiederholt dahin aus­

gesprochen, daß ein herzliche- Verständniß zwischen Deutschland und Rußland

Julian Schmidt.

für sein Vaterland da- gedeihlichste sei.

Arbeit statt Almosen.

Beitrag zur Social-Technik.

Bon Dr. Jul. Post.

Bremen, C. W. Rouffell. 22 S. Ein sehr

beachten-werthe- Schriftchen.

E- geht direct auf denjenigen

Punkt der Social-Reform los, dessen Existenz man sich auch anderweitig nicht

verhehlt, den man aber mit einer gewissen Scheu

umgeht, weil

eine Lösung

de- Problem-, da- er bietet, vorläufig noch außer aller Berechnung zu liegen

scheint: da- ist die Arbeitslosigkeit.

Wir führen Versicherung gegen Krankheit,

Unfall, Alter, Invalidität ein: was hilft das aber Alle-, wenn immer von Zeit zu Zeit Perioden eintreten, wo der Ätann nicht nur nicht die Beiträge zahlen,

sondern nicht einmal den augenblicklichen Bedarf beschaffen kann?

Post'S Vor­

schlag geht auf ein Noth-ArbeitS-Recht, d. h. die Verpflichtung der Communen

gegen einen dem strictesten Existenz-Minimum entsprechenden Lohn Arbeit zu ge­

währen.

Er weist darauf hin, wie jetzt auf der einen Seite diese- Existenz-

Minimum (oft auch mehr) durch Betteln zusammengebracht wird;

auf der

anderen die Communen ihr Gebrauch-wasser durch Dampfmaschinen pumpen lassen.

Da- ist

ökonomisch

eine Verschwendung und moralisch ein Verderb.

Wir wollen über die practische Durchführbarkeit deS Pest'schen Reform-Vor­

schlag-, in den ganz allgemeinen Umrissen, wie er erst vorliegt, nicht urtheilen, aber doch nicht unterlassen, auf denselben hinzuweisen.

Denkwürdigkeiten deS

Geh. Regierung-rathe-

und

D.

PolizeidirectorS Dr.

Stieber.

AuS seinen hinterlassenen Papieren bearbeitet von Dr. Leopold

Auerbach.

Berlin, Engelmann. 1884.

308 S.

Stieber galt für den bösesten Repräsentanten einer bösen Zeit; auch in seinen eigenen Memoiren erscheint er al- nicht viel Bessere-.

Von so subal­

ternem Standpunkt (und in der allersubalternsten Sprache) da- Buch auch ge­ schrieben ist, so ist ihm doch ein erhebliche- Interesse nicht abzusprechen; Preußen

war einmal in jener Zeit, der Reaction--Periode von 1850—58, selbst eine

Art subalterner Staat sowohl in Politik im Innern.

seiner Stellung nach außen wie in seiner

Der wesentliche Inhalt de- Buche- ist vorher al- Feuilleton

im Berliner Tageblatt erschienen.

D.

Verantwortlicher Redacteur: Dr. H. Delbrück Berlin W. Schelling-Str. 11. Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.

Tractarianismus — PuseyismuS — Ritualismus. Boa Rudolf Duddensteg (Dresden).

Die Berromung England- bildet ein in den letzten Jahren von der katholischen Presse Deutschland- und England- mit Vorliebe behandelte-

Thema. „Der Protestantismus in England ist todt", sagt Cardinal Manning. „Wir können die Zeit, die durch die Controverse verschwendet wird, sparen

und anstatt aufs Schlachtfeld aufs Erntefeld ziehen, um die Garben ein»

zuheimsen." — „Wir stehen dabei, die intellectuelle Vernichtung des Pro­

testantismus zu bezeugen; in Frankreich und Deutschland ist daS Werk

vollbracht (1); In England ist es weit vorgeschritten."

„Die (ritualistische)

Bewegung hat eine treffliche Richtung genommen; hinter sich den Pro­ testantismus geht sie mit raschen Schritten dem Katholicismus entgegen",

so schrieb noch vor wenigen Jahren AbbL Martin im Nineteenth Century (Februar 1878, S. 251). — Der Baseler Domcapitular Zanardetti, der das deutsche Publikum mit „Bildern aus Südengland" beglückt hat, er­

kennt in dem englischen Protestantismus Jairi entschlafenes Töchterlein,

im Papismus den erstehenden Jüngling von Rain, und mit mehr Phan­

tasie als Wahrheit sieht er die über ganz England zerstreuten Trümmer einer großen kirchlichen Vergangenheit sich in Lapidarlettern zu einer Pro­

phetie zusammensetzen, welche von der. Kuppel der St. Paulskirche der Millionenstadt zuruft: Resurgam. —. „England findet mehr und mehr sich selbst wieder; seine edelsten und gebildetsten Kinder kehren zur Kirche

zurück, und es erwiedert so das von Deutschland gegebene böse Beispiel

mit einem guten — mit der Rückkehr zu der Einen Heerde", so berichtete

triumphlrend die „Germania".

„England", sagte daS officielle Blatt des

Vatikans, der Offervatore Romano in einer Liebeserklärung an die britische

Regierung (20. Mai 1876), „ist religiös, und seine innige Verbindung mit der Religion hat ihm die Segnungen deS Friedens und des GedeihenPreußische Jahrbücher. Bd. LIL Heft S. 28

Es hat auf dem verderblichen Wege der Reformation Halt ge­

bewahrt.

macht. ...

So find die Engländer eine hochreligiöse

Reformation eS gestattet, eine christliche Nation.

und, soweit die

Ihre Gewohnheiten sind

in völliger Uebereinstimmung mit dem Geiste des Christenthums.

ganze Nation mit einem Worte ist religiös und christlich."

verstieg

inzwischen

die

eingegangene

„Aurora"

Die

Und endlich

sich vor zwei

Jahren

(9. Februar 1881) zu dem Satze, „die Zeit zur Errichtung einer Nuntiatur in London sei gekommen". —

WaS ist von all diesen ebenso „gewichtigen als bedrohlichen" Stimmen zu halten?

Daß sie weder gewichtig noch bedrohlich sind!

Manning ist

ein aus dem RitualiSmuS herübergenommener Convertit; von dem Luther-

jubiläumSjahr und seinen geistigen Strömungen muß sich auch der Ka­ tholik beweisen lassen, daß Behauptungen von der „rollbrachten intellec«

tuellen Vernichtung des Protestantismus" in Deutschland nichts als eitel Phrasen des katholischen AbböS sind; die Germania liebäugelt seit Jahren

mit dem RitualiSmuS; und die Wünsche der Aurora hat Gladstone rund abgeschlagen.

ES bleibt also nicht- als die alte Wahrheit, daß manche Leute, waS sie

wünschen,

auch glauben.

Die Nachrichten über den Fortschritt der

römischen Propaganda in England gelangen von Zeit zu Zeit in einem gewissen, ziemlich regelmäßigen Turnus durch die interessirte Presse über den Canal, so daß man sich auch durch die mysteriöse,' wohlberechnete Un­

klarheit ihrer Einzelheiten nicht mehr täuschen zu lassen braucht — Quelle und Zweck liegen klar vor Augen.

Vor einigen Jahren hieß eS, auch der

Herzog von Northumberland, dessen prächtiger Palast mit seinem weithin­ schauenden Löwen am Trafalgar Square einem Straßendurchbruch zum

Opfer fiel, habe convertirt.

„Der Löwe von Northumberland ist zu Falle

gebracht", sagte damals ein witzelnder Katholik, „und die vier Löwen Eng­

lands haben die Gicht in den Pranken*)". So könnte es einem flüchtigen Blick auf die kirchlichen Strömungen

in England erscheinen; aber bekanntlich wird die Gicht bei richtiger Be­

handlung bis auf einige wenige Källe geheilt,

und diese wenigen Fälle

wollen wir den Katholiken und — Ritualisten gern überlassen.

WaS an

jenen alarmirenden Nachrichten wahr ist, ist die weder neue noch beun­

ruhigende Thatsache, daß in der englischen StaatSkirche eine katholisirende

Partei eine Zeit lang an Boden gewonnen hat, die ungemein rührig ist und in beabsichtigter oder absichtsloser Folge eine Anzahl Uebertritte nach *) Der Witz benutzt den in England viel gehörten Vorwurf, den man den im übrigen trefflich gelungenen Landseerschen vier Löwen England- am Nelson Monument macht.

Rom veranlaßt hat, wobei ich zu bemerken nicht unterlassen will, daß diese Conversionen als ritualistische Consequenzen ex professo von der Partei abgeleugnet werden. „Wir streben das kirchliche, vielleicht auch das katholische, aber nicht das römisch-katholische Ideal an", sagen sie. „Aber daS ist ja alles ganz katholisch", bemerkte ich vor einigen Jahren in einer ausgeprägt ritualistischen Kirche Brightons meiner Nachbarin. „Well, we are Catholics and are glad of it“, antwortete sie. „Aber ich denke, die Engländer sind Protestanten." „Und wollen's bleiben „and don’t care a bit for Rome“ schloß sie entrüstet. — Auf manches läßt sich ja zweifellos für diese römischen Hoffnungen Hinweisen: auf die fieberhafte Thätigkeit der im Jahre 1851 unter Car­ dinal Wiseman wiederhergestellten römisch-katholischen Hierarchie, — auch Schottland hat sich vor 5 Jahren die Etntheilung in katholische Sprengel gefallen (affen müssen —, auf die politische Wiedergeburt der Katholiken seit der Reform Bill; auf die schlaue, zuwartende Politik erst Wiseman'S, dann auf den fieberhaften, das Höchste erstrebenden Eiser Manning'S, der eine gründliche Kenntniß der Schwächen und Schäden des verlaffenen Kirchenthums mit dem Geschicke, sie glücklich auszunutzen, verbindet; auf die „vornehmen" Erfolge der jüngsten Propaganda; auf das Wachsthum der Kirchen, Kapellen, Klöster, Bischofssitze und Zahl der Geistlichen: wenn man alles das so liest, so packt's einen als guten Protestanten und Lutheraner im innersten Herzen, und man klagt wie über einen neuen Verlust. Dennoch sind das recht eigentlich keine Verluste. Die Nachrichten sind einerseits ungenau, andererseits nicht beunruhigend. Ungenau: denn sie beruhen meist auf Vermuthungen, auf Lieblingsideen von Correspondenten, die für Thatsachen ausgegeben werden; gegen die politischen That­ sachen läßt sich natürlich nichts einwenden, was aber die Zahlen des katho­ lischen Fortschritts betrifft, so ist zu bemerken, daß die verschiedenen Ver­ sionen auf katholische Quellen zurück gehen, da bekanntlich die englische Regierung einerseits auS Schonung für die Empfindlichkeit der zahlreichen Serien, andererseits um den gesteigerten Ansprüchen der wachsenden Körperschaften auf politischen Einfluß von vornherein zu begegnen, bei Volkszählungen confessionelle Erhebungen nicht machen läßt. Manning aber hat nicht nur ein kirchliches und politisches, sondern gradezu ein persönliches Interesse, die Zahlen in dem unter seiner Autorität herauSgegebenen Catholic Directory günstig zu gruppiren. Die statistischen Nachrichten über die kirchlich-katholische Bewegung gehen aber fast immer auf dieses Directory zurück. Auch die Ritualisten nehmen in dieser Beziehung den Mund recht voll. Auf dem Julimeeting der Partei im 28*

414

TractarianiSmuS — PuseyiSmu« — Rituali-mu«.

Jahre 1876, auf dem der Feldzugsplan gegen die damals In Vorbereitung

begriffene Public Worship Regulation Bill berathen wurde, führte man

eine sehr energische Sprache,

und ein Redner verstieg sich in unvorsich­

tigem Parteieifer zu der albernen Drohung, annehmen

die Bill

daß, falls das Parlament

würde, 2 Millionen Laien

und 4000 Geistliche die Inzwischen ist die

Kirche verlassen würden, um nach Rom zu gehen*).

Bill angenommen worden, ohne daß von irgend welcher Secession etwas bekannt geworden, wäre. Dagegen will ich nicht versäumen, auf zwei andere Zeugniffe hinzu­

weisen, von denen da- eine, denke ich, allen Seiten als unanfechtbares gelten wird. — Einer der ersten Statistiker Englands, unser Landsmann Raven­

stein, gelangt in seinen selbständig angestellten Berechnungen (Statistics of

Roman Catholicism in Gr. Brit) zu dem (wahrscheinlichen) Ergebniß, daß es 1865 in England (also ohne Schottland und Irland) 1321600 Katho­ liken,

1871

nur

noch

1193000

gab,

während

die

Zahl

der

Priester, Kirchen und Klöster sich allerdings vermehrte**). —

Was andererseits die katholische Propaganda angeht, so verdanken

wir die folgenden, vielleicht neuesten Zahlen niemand anders als dem jetzigen Premier-Minister Gladstone, der vor Kurzem in einem Artikel der British Quarterlh Review die Zahl der Conversionen vom Jahre 1840 an auf etwa 3000 angiebt.

Davon, sagt er, waren mehrere Hundert Geistliche,

Personen von Rang waren gleichfalls vertreten; einige Ueberläufer waren Personen, die noch niemals einem starken religiösen Einfluß auögesetzt

waren;

wieder andere traten aus persönlichen Jdiosyncrasien über.

An­

dererseits sind, wie Gladstone an einer anderen Stelle deffelben Aufsatzes

bemerkt, von 25 Theilen der Bewohner Englands und Wales ein Theil römisch, 24 antirömisch; der eine römische Theil aber besteht aller Wahr­

scheinlichkeit nach zu

mehr als */4 aus Irländern.

Unter jenen

96 %

jedoch ist das protestantische Bewußtsein ein so lebendiges, der Gegensatz gegen Rom ein so ausgesprochener, daß „ein großer Theil dieses ProcentsatzeS

jedes

dem

Katholicismus

irgendwie verwandte System

RitualiSmuö ist wahrscheinlich gemeint)

auf'S schärfste

(der

verurtheilt, und

daß von der Gesammtheit diese- Urtheil gebilligt wird, weil eS sich gegen

ein System richtet,

So Gladstone.

daS seine Anhänger in die römische Kirche führt."

Ich meine, dem Urtheile dieses Mannes, der nach einer

*) Dgl. Mettgenberg, Rit. und RomaniemuS, Bonn 1877. **) Die Schätzung der Katholikenzahl in England ist ganz unsicher; die Einen nehmen knapp 1 Million an, die andern reden von 3—4 Millionen. Fr. Kolb, Handbuch der Bergt Statistik (». 1. 1879) giebt S. 206 für England 17 800 000 Anglikaner, 100 000 Presbyterianer, .1100 000 Katholiken und rund 4 000 000 andere Dissenter an lalS ungesahre Schätzung).

langjährigen politischen Vergangenheit und nach sehr eingehenden kirchen­

politischen Studien Wesen und Ziele des englischen BolkSgeisteS verstehen gelernt hat, dürfen wir zunächst einmal vertrauen. Ich weiß wohl. Umfang und Tiefe geistiger Bewegungen, insonder­ heit religiöser, soll man nicht nach Zahlen und Majoritäten beurtheilen.

Ich führe die Zahlen

auch nur jenen „leuchtenden Fanalen" der katho­

lischen Statistik gegenüber zu freundlicher Kenntnißnahme an. — Der

Sieg wird vielmehr allezeit da sein, wo die Wahrheit Ist.

Grade darum

brauchen wir um die protestantische Zukunft Englands nicht so zu fürchten,

als es jetzt vielfach, namentlich in den evangelischen Kreisen Deutschlands,

geschieht.

Die Staatskirche befindet sich gegenwärtig proceß.

in einem UebergangS-

Die ritualistische und die Entstaatlichungsfrage erregen sie mächtig.

Noch ist der Kampf nicht auf seinem Höhepunkte.

Aber der Ritualismus

fängt, wie die Engländer ziemlich übereinstimmend versichern, bereit- an, von seinem Einflüsse zu verlieren*). Soweit eS sich um seine Lehre han­

delt, hat er bet Germanen und Protestanten keine Aussicht auf Erfolg; und waS daS Ritual betrifft, so ist er (namentlich unter seinen vornehmen Anhängerinnen) lediglich Modesache, die al» Factor bei dem in England

sich vollziehenden geistigen Proceffe nicht wohl in Rechnung gesetzt werden sollte.

Historische und ästhetische Gründe sind dabei maßgebend.

Die

englische Reformation hat bekanntlich die katholische Form ohne den Lehr­

gehalt herübergenommen, und so ist daS Ceremonial in langer kirchlicher Entwicklung mit-dem protestantischen Volksleben verwachsen; und werden ästhetischen Grund verstehen will, dem rathe ich den Besuch der Kirche

von St. AlbanS in Holborn, London, wo Mackonochie bis vor seinem

berüchtigten Stellentausch seine herausfordernden Gottesdienste hielt, oder von Christ Church in St. Leonards um die Osterzeit an.

In solch einer Procession durch die mit Camelien und Rosen ge­ schmückte Kirche nehmen sich junge, selber reise Schönheiten in paffender

kirchlicher Drapirung sehr Vortheilhaft aus. Und wenr selbst diese Chancen abgehen, der hat sich doch um die Gorgeousness of Divine Service ver­

dient gemacht, darf also für die mangelnde Schönheit sich wenigsten» mit dem Verdienste trösten. Erweist sich andererseits die Entstaatlichungsfrage in näherer oder fernerer Zeit mehr als ein bloßer Schemen, mit dem die Nonconformisten die Staatskirchlichen bisher zu schrecken liebten, so wird die im Dissent *) Schon K. Schöll in feinem Aufsätze „TractarianiSmuS" in Herzog- R. E. (1. Ausl.) 16 Bd., S. 239 steht die Ausgabe de- Tract. an der Engl. Kirche für erledigt an: „sein Stern ist im Niedergang".

Tractarianirmu« — Puseyilmu« — RitualiSmuS.

416

gebunden liegende gewaltige protestantische Kraft, die man m. E. bei der

Beurtheilung der römischen Aussichten in England viel zu wenig beachtet

und gradezu unterschätzt, in freie Entfaltung treten.

Dann werden sich

an dem Felsen eine- kräftigen evangelischen Glauben- und evangelischer Freiheit die Höchfluthen römischer Proselhtenmacherei brechen.

Thatsächlich

aber liegen nach den neueren Berichten die Hoffnungen auf DiSestablishment doch noch im weiten Felde.

Die Liberation Society, die Vorkämpferin

in der Entstaatlichungsfrage, hat jetzt ihre frühere Ungeduld zu zügeln

sich genöthigt gesehen; auf ihrem vorletzten Maimeeting (11. Mai 1881) hat sie die Erklärung abgeben müssen, daß man nicht hoffen dürfe, das

angestrebte Ziel, soweit eS England angehe, in der nächsten Zukunft zu erreichen*), und ihr diesjähriger Jahresbericht (1. Mai 1883) hat nur

allgemeine Andeutungen von „dem günstigen Stande der von der Gesell­

schaft verttetenen Sache", von machen gewußt**).

„siegverheißenden Zeichen

der Zeit"

zu

Und ein anderer (congregationalistischer) Redner hat

auf dem vorletzten JahreSfest der Congregational Church Aid Society die

DiSestablishmentSfrage gradezu mit dem FreiwilligkeitSprincip (voluntary principle)

in

Verbindung

gebracht und behauptet, man könne an jene

Frage sowohl um der Kirche als um des Diffent willen nicht herantreten, ehe nicht die endgültige Bewährung jenes Systems auf dem Sectenboden

constatirt fei.

„Sei diese- einer wirksamen Bekämpfung der Nothstände

nicht gewachsen, so sei damit auch der gegenwärtig viel ventilirten Frage der Entstaatlichung der bischöflichen Kirche da» Urtheil gesprochen***)."

Anlaß zu dieser für die dissenterischen Kreise etwa- sensationellen Aeußerung hatte der bedenkliche Rückgang in den Jahre-einnahmen der Genossenschaft

gegeben. Jene Nachrichten sind aber auch, soweit sie wahr sind, keineswegs beunruhigend.

Daß der Katholicismus, nachdem er 1'/, Jahrhunderte

lang in die härtesten, man kann sagen, ungerechtesten Fesseln geschlagen

war, seit Aufhebung der Testacte und seit der Reformbill sich wieder an'S

Tageslicht wagen

und Fortschritte machen würde,

Diese Fortschritte

sind ihm unbedingt zuzugeben.

war vorauszusehen.

In England freilich

hatte man eS verlernt, die Entfaltung des katholischen Cultus am Hellen Tage zu erblicken.

Da- fiel auf und machte Aufsehen, für viele beun­

ruhigende- Aufsehen.

Aber nach jahrhundertelang niedergehaltener Kraft

hätte sich doch niemand nach der Emancipation von 1828 über die Ent-

*) Dgl. Christian World, 19. Mai 11, S. 332. ** ) Vgl. N. Ev, Kirch. Z., 1883, Nr. 24, S. 380. ** *) Vgl. Christian World, 12. Mai 11, ©.312 nnb N. E. K. Z-, 1881, Nr. 2S, S. 397.

Lractarianilmu» — PuseyismuS — Rituall-mu«.

417

faltung dieser fretgewordenen Kraft, die sich seit den 40er Jahren wesentlich

in den Händen von — bekanntlich immer rabiaten — Convertiten befand, wundern und ängstigen sollen.

Und daß in den letztvergangenen 30 bi-

50 Jahren sich nicht nur in England, sondern überhaupt eine innere Er­

starkung deS „ultramontanen" Katholicismus vollzogen hat, beweist die

Vorgeschichte deS AltkatholiciSmuS in Deutschland. Ich bin im Vorstehenden auf die Aussichten der römischen Propa­ ganda in England etwas

ausführlicher eingegangen, well diese Frage

gegenwärtig viele protestantische Gemüther unter unS bekümmert, und ich

mir unter meinen Lesern manchen mit derartigen Befürchtungen vorstellte. Ich glaube dabei meinem Thema treu geblieben zu sein; denn bekanntlich werden die Ritualisten im Wesentlichen für die Erfolge deS RomaniSmuS

in England verantwortlich gemacht.

In wie weit dieser Vorwurf, den

jene in entschiedenster Weise ablehnen*), ein berechtigter ist, darüber kann natürlich nur ein Blick auf Geschichte, Wesen und Ziel deS RitualiSmuS

Aufschluß geben.

Auf die Stimme der jetzigen katholischen Wortführer

in England ist in dieser Beziehung nicht viel zu geben;

Capel bemerkt,

ein „stetiger und immer wachsender Strom münde von der ritualistischen

Partei in die katholische Kirche", und „Männer wie Puseh, Liddon, Macko-

nochie zeigten den Weg nach Rom, wenn auch unabsichtlich**)", und an anderer Stelle***) behauptet er in Uebereinstimmung mit Abbä Martin,

„die hochtirchltche Partei bereite Tausende vor für eine Unterwerfung, die die Katholiken selbst nie zu Wege bringen könnten."

Indessen Capel wie

Martin, beide sind Partei und sind deshalb in diesen Dingen unzuver­ lässig, „wenn auch unabsichtlich". Aber vielleicht läßt es sich der eine oder andere Leser dieser Zeit­

schrift nicht verdrießen, mit mir einen Blick zurück zu thun in das Ox­

ford der dreißiger Jahre, um aus jenem hoffnungsreichen Kampfe, den eine zuerst kleine, aber entschlossene und geistesmächtige Partei für ihr kirchliches Ideal aufnahm, das Wesen und das treibende Motiv des

RitualiSmuS, der in diesem Luther-Jahre sein fünfzigjähriges Jubiläum

feitet t), und der in den kirchlichen Kämpfen Englands nun einmal eine Rolle spielt, verstehen zu lernen.

*) Im Jahre 1873 sagte mir in St. Leonards ein ausgezeichneter Geistlicher der Partei, Rev. WelleSley, ein Großneffe des Herzogs von Wellington, als ich den ©einigen diesen Donvurf machte: ES ist nicht wahr; nennen Sie mir die Namen, die aus unsrer Gemeinde hinüber stnd. Wir haben keinen Eonvertiten, während Trinity und St. Margarets (die in den Händen der „Evangel. Partei" waren) diese» Jahr sechs ausweiseu. ** ) Dgl. Capel’a Reply to Gladatone’s Political Expostulation. ** *) Dgl. Rock, 4. August 1876. t) Don einer eigentlichen Stiftungsfeier hat die Partei merkwürdigerweise abgesehen.

ES sind zwei Strömungen des kirchlichen Lebens in England, welche

in das Quellhaus der Oxforder Bewegung münden und die Reaction

von 1833 zu Wege bringen. Verfolgen wir zunSchst die allgemeine, welche das gefammtktrchliche Leben betrifft.

Bekanntlich nahm die englische Reformation unter den

beiden ReformationSkönigen ihre Richtung nicht von unten nach oben, wie bei uns von dem Bauernsohne Luther aus, sondern umgekehrt; sie war keine

religiöse GewisienSthat, sondern ein politisch-parlamentarisches Geschäft. Die innerreligiöse Erneuerung vertrat nicht die Kirche, sondern bereits von Elisa­

beth an in erster Linie daS Dissenterthum, das nach kurzen Triumphen unter

den StuartS dem staatskirchlichen ErastianiSmuS, der engen Verbindung zwischen Kirche und Staat unterlag. mochte nicht alle Fesseln zu lösen.

Auch Wilhelm von Oranien ver­

DaS Kirchenthum, durch den staat­

lichen Schutz in Sicherheit gewiegt, veräußerlichte immer mehr, so daß ihm nicht einmal das „Jahrhundert der EvidenceS^ die in den Secten ver­

loren gegangenen Kräfte zuzuführen vermochte.

Das 18. Jahrhundert

dagegen brachte der Kirche die religiös-moralische Revolution des Metho­

dismus, der, in John WeSley Dort der Kirche ausgehend, von ihr zwar auSgeschteden wurde, aber nicht ohne einem großen Theile ihrer Glieder

das Erbe einer inneren, persönlichen Frömmigkeit und äußeren evangeli­ schen LebenS zurückgelassen zu haben.

Während die EvangelicalS sich der

verwahrlosten Gemeinden wieder anzunehmen begannen, daS in die Kirche

eingeschlichene Verderben deS französischen Materialismus und Deismus durch Neubelebung des biblischen Rechtfertigungsbegriffes bekämpften und durch Entfaltung der großartigsten evangelischen Liebeöthätigkeit in Trak­ tat-,

Mission-- und Bibelgesellschaften und Sclavenemancipation**) die

Werthlosigkeit deS äußeren Kirchenthums etneöthetlS, den Irrthum der katholischen Lehre von den guten Werken andererseits nachwiesen, verlor sich daS verweltlichte und in Unglauben versunkene Hochkirchenthum**), Nur der diesjährige Kirchenkongreß, der Anfangs Oktober in Reading abgehalten . worden ist, hat durch eine Ausstellung von bezüglichen Dokumenten, Briefen, Porträts nnd ähnlichen Erinnerungen auf die „Oxforder Bewegung" vom Jahre 1833 aufmerksam machen zu sotten geglaubt, während er in seinen Hauptverhand­ lungen die ganze Beweguug nicht einmal berührt hat (Dgl Christian World, Oct. 4, 1883, 0. 674). *) Die Tractatgesellschaft wurde 1799, die Kirchliche MissionSgesellschast 1801, die Britische und Ausländische Bibelgesellschaft 1803 gegründet, und die AbolitionSbill ging 1807 durch. **) Eine „Hochkirche", so »ft dieser Begriff auch in — selbst wiffenschaftlichen — Werken über engl. Kirchenverhaltnisse gebraucht wird, giebt e» nicht; wohl aber eine hoch­ kirchliche Partei. Man sagt: der und der gehört zur High Church d. h. zur Higb-Ohorch-