Prekäres Glück: Adorno und die Quellen der Normativität 3518588079, 9783518588079

Mehr als fünfzig Jahre nach seinem Tod ist immer noch höchst umstritten, worin das Vermächtnis Theodor W. Adornos besteh

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German Pages 470 [475] Year 2023

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort. Adornos Erbe
Einleitung. Gegen Gnosis
1. Immanente Kritik
2. Menschliches Gedeihen
3. Materialismus und Natur
4. Von der Metaphysik zur Moral
5. Ästhetische Theorie
6. Ästhetische Erfahrung
Schluss. Gesellschaftskritik heute
Dank
Siglen
Namenregister
Ausführliches Inhaltsverzeichnis
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Prekäres Glück: Adorno und die Quellen der Normativität
 3518588079, 9783518588079

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Mehr als fünfzig Jahre nach seinem Tod ist immer noch höchst umstritten, worin das Vermächtnis Theodor W. Adornos besteht. Viele sehen in ihm den Philosophen der kompromisslosen Negativität, der gnostischen Finsternis, auch der allumfassenden, maßstabslosen Kritik. Selbst in der breiteren Öffentlichkeit hat sich das Bild vom Denker der totalisierenden Verzweiflung, des »Es gibt kein richtiges Leben im falschen« verfestigt – bis zum Klischee. Der Historiker und Philosoph Peter E. Gordon stellt dieses Bild entschieden in Frage. Adorno, so argumentiert er, ist vielmehr als ein Theoretiker zu verstehen, dessen Praxis der Kritik sich an einer unrealisierten Norm des menschlichen Gedeihens orientiert – des prekären Glücks in einer radikal unvollkommenen Welt. Diese Norm weist Gordon als das einigende Thema aus, das Adornos gesamtes Werk durchzieht, seine soziologischen Schriften ebenso wie seine Moralphilosophie, Metaphysik und Ästhetik. Prekäres Glück ist selbst ein Glücksfall: eine faszinierende Interpretation von Adornos Vermächtnis, das nun in einem völlig neuen Licht erscheint und als unverzichtbare Ressource für die kritische Theorie von heute. Peter E. Gordon, geboren 1966, ist Amabel B. James Professor of History an der Harvard University und zugleich Mitglied des dortigen Instituts für Philosophie. Er forscht zur Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere zum philosophischen Denken in Deutschland und Frankreich, und gilt als international herausragender Kenner der Frankfurter Schule. Seine bisherigen Bücher, die sich u. a. mit Franz Rosenzweig, Martin Heidegger, Ernst Cassirer sowie Theodor W. Adorno und ihrer Zeit beschäftigen, wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet: dem SaloW.-Baron-Preis, dem Goldstein-Goren-Preis, dem Morris-D.-Forkosch-Preis und dem Jacques-Barzun-Preis der American Philosophical Society. Mit Prekäres Glück liegt nun sein erstes Buch in deutscher Übersetzung vor.

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Peter E. Gordon

PREKÄRES GLÜCK Adorno und die Quellen der Normativität Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2019 Aus dem Amerikanischen von Frank Lachmann

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023 Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2023. © Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023 Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor. Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen. Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner eISBN 978-3-518-77793-0 www.suhrkamp.de

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INHALT

Vorwort. Adornos Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung. Gegen Gnosis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 3 4 5 6

Immanente Kritik . . . . . . . . . Menschliches Gedeihen . . . . . Materialismus und Natur . . . . Von der Metaphysik zur Moral Ästhetische Theorie . . . . . . . . Ästhetische Erfahrung . . . . . .

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Schluss. Gesellschaftskritik heute . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . Namenregister . . . . . . . . . . . . Ausführliches Inhaltsverzeichnis

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Für Lucy.

Was wäre Glück, das sich nicht mäße an der unmeßbaren Trauer dessen was ist? – Theodor W. Adorno, Minima Moralia, § 128, »Regressionen«

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VORWORT. ADORNOS ERBE

Der Philosoph und Gesellschaftstheoretiker Theodor Wiesengrund Adorno starb im Spätsommer des Jahres 1969, also vor mittlerweile über einem halben Jahrhundert. An heutigen Maßstäben gemessen, war sein Leben nicht sehr lang – seinen 66. Geburtstag hat er schon nicht mehr erlebt. Die Leistungen aber, die er in der ihm vergönnten Zeit vollbracht hat, sind bemerkenswert. Denn Adorno hat nicht nur den Kanon der modernen europäischen Philosophie bereichert und transformiert, sondern leistete auch Beiträge zur empirischen Soziologie, zur Literatur- und Kulturkritik und zur Musikwissenschaft; und er hinterließ uns nicht weniger als drei Sammelbände mit musikalischen Kompositionen, darunter Stücke für Streichquartett und Orchester und sogar Fragmente einer Oper. Es sollte uns daher nicht überraschen, dass Jürgen Habermas, sein Schüler und Forschungsassistent am Institut für Sozialforschung, sich nicht scheute, Adorno »das einzige Genie, das mir in meinem Leben je begegnet ist«, zu nennen. Der junge »Teddie« (wie er im Familien- und Freundeskreis genannt wurde) war von zarter körperlicher Konstitution und in der Schule oft Gegenstand von Gespött. Aber er konnte sich auf die liebevolle Zuneigung seiner Eltern verlassen, die seine Begabungen förderten und dafür sorgten, dass sich das Wunderkind bald entpuppen konnte. Sein Vater Oscar Wiesengrund, ein assimilierter deutscher Jude, betätigte sich als Weinhändler, und als kleiner Junge spielte Teddie mit Freunden zwischen den im Keller lagernden Flaschen. Viel später sollte das Bild einer Flaschenpost als bevorzugte Metapher der kritischen Theorie auftauchen – ein so hoffnungsvolles wie verzweifeltes Bild von Lektionen, die in die Zukunft hinein entworfen werden. 9

Schon in jungen Jahren wurde der rebellische Sohn des Frankfurter Bürgertums ein glühender Anhänger der neuen Trends in der ästhetischen und philosophischen Moderne. Seine anfängliche Inspiration fand Adorno in Friedrich Nietzsche, Franz Kafka und Karl Kraus, bei Autoren also, deren Begabungen für den Aphorismus und das Paradoxe als Vorbilder für seine eigene Form von dialektischer Kritik fungieren sollten. In seinen ersten Jahren an der Frankfurter Universität entwickelte er einen philosophischen Denkstil, der sich nicht nur aus den reichhaltigen Quellen des Deutschen Idealismus von Kant bis Hegel speiste, sondern auch von solchen Denkern wie Søren Kierkegaard, Ludwig Feuerbach und Karl Marx beeinflusst wurde, die sich gegen das idealistische Vertrauen auf die Vernunft wandten und die Philosophie mitten in die Wirren der empirischen Realitäten stießen. So augenfällig seine anhaltende Verpflichtung den Großsystemen des klassischen Idealismus gegenüber auch war, so offensichtlich war jedoch auch der Geist der Ironie, in dem er den philosophischen Kanon deutete. Lange vor seiner Zeit hatte der Dichter Heinrich Heine ebenjenen Geist in einem amüsanten Vers eingefangen: »Zu fragmentarisch ist Welt und Leben! Ich will mich zum deutschen Professor begeben!« 1 Und wie Heine glaubte auch Adorno nicht mehr an einen inneren Zusammenhang der Welt; ihre Risse und Brüche waren für ihn keine Mängel, die eine rein akademische Philosophie beheben konnte, sondern vielmehr gerade das Charakteristikum des modernen Zeitalters. Eines der für das Denken Adornos typischen Paradoxa ist, dass er ein fest in der Tradition verwurzelter Radikaler war. Den Niedergang des traditionellen Humanismus hatte er begrüßt, obwohl er selbst zu einer vollkommenen Verkörperung der europäischen Gelehrsamkeit wurde. Adorno war in allererster Linie das Kind 1 Heinrich Heine, »Zu fragmentarisch ist Welt und Leben!« (= »Die Heimkehr«, Abschnitt LVIII ), in: ders., Buch der Lieder, Hamburg 51827.

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seiner Mutter, Maria Calvelli-Adorno, einer talentierten Opernsängerin, der sehr daran gelegen war, dass ihr Sohn eine musikalische Ausbildung erhielt. Seine ästhetischen Leidenschaften führten den jungen Mann in den 1920er Jahren denn auch nach Wien, wo er Komposition bei Alban Berg studierte und seine Bindung an die musikalische Moderne Arnold Schönbergs und der Zweiten Wiener Schule vertiefte. Sein Bekenntnis zur Tradition der europäischen Kunstmusik ist ein essenzielles und zentrales Charakteristikum seines Werks und nicht etwas, was als bloße persönliche Idiosynkrasie abgetan werden könnte. Die Musik ist vielmehr ein virtuelles Paradigma für seine dialektische Auffassung aller menschlichen Erfahrung. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass so viele der Werke Adornos trotz ihres schwierigen Stils und ihrer bewussten Weigerung, sich simplen Kategorisierungsversuchen zu fügen, mittlerweile das ambivalente Prestige von Klassikern genießen. Allerdings sollte uns dies kaum überraschen, wenn wir uns daran erinnern, dass er selbst sich das Archiv der bürgerlichen Erfahrung auf dialektische Weise angeeignet hat – der Theoretiker der Negativität und des Bruchs schätzte zugleich etwa den zutiefst bürgerlichen Proust für die Intimität und Empfindsamkeit seiner literarischen Werke, und der Partisan der musikalischen Atonalität bekundete gleichzeitig seine unsterbliche Liebe zur Musik Beethovens und verbrachte in seinen späteren Jahren viel Zeit damit, das Material für eine nie veröffentlichte Studie zusammenzutragen, die die dominante Stellung des Bonner Komponisten im musikalischen Kanon bezeugen sollte. In all diesen Hinsichten können wir sagen, dass Adornos Verhältnis zu den Erben der europäischen Kultur nicht das einer bloßen Opposition gewesen ist; vielmehr exemplifizierte es die Haltung der bestimmten Negation insofern, als es darauf abzielte, die gebrochenen Versprechen der Moderne einzulösen. In seiner philosophischen Tätigkeit und als öffentlicher Intellek11

tueller hat Adorno seine Überzeugung nie ganz aufgegeben, dass die Moderne – ihres mannigfachen Scheiterns zum Trotz – auch die Ressourcen bereithält, die es braucht, wenn sich ihre Versprechen doch noch erfüllen sollen. In den ersten Monaten des Jahres 1969 war er in einen politischen Streit mit studentischen Aktivistinnen und Aktivisten aus der deutschen Linken verwickelt, die den alternden Vertreter der Frankfurter Schule mit wachsendem Misstrauen beäugten. Natürlich wussten sie, dass sie ihm enorm viel zu verdanken hatten; in den von Konservatismus und politischer Konformität geprägten Nachkriegsjahrzehnten hatte Adorno, gemeinsam mit seinem Kollegen Max Horkheimer, dazu beigetragen, den Geist des Widerstands zu wecken, der in den späten 1960er Jahren durch die deutschen Universitäten wehte und die »außerparlamentarische Opposition« hervorbrachte. In den Augen ihrer Studierenden hatten diese Großtheoretiker des Widerstands die entscheidende Prüfung jedoch nicht bestanden: Als sie es nämlich mit radikalen Demonstranten zu tun bekamen und eine Besetzung des Institutsgebäudes erlebten, rief Adorno die Polizei, um die Protestler hinauszubefördern. Eine kleine, aber militante Fraktion innerhalb der Studentenbewegung war über diesen Verrat höchst erbost und beschuldigte ihn daraufhin, sich mit dem Establishment gemeingemacht zu haben. Die Frankfurter Schule habe, wie es hieß, zwar eine politisch radikale Haltung eingenommen, sich aber geweigert, auch die politischen Konsequenzen daraus zu ziehen; sie habe die Brücke von der Theorie zur Praxis nicht überschritten, sondern sich selbst auf den Quietismus der reinen Theorie zurückgezogen. 2 In einer Ansprache im Berliner Rundfunk im Februar 1969 ver2 Zu einem Überblick über diese schwierige Konfrontation siehe Hans Kundnani, »The Frankfurt School and the West German Student Movement«, in: Peter E. Gordon u. a. (Hg.),The Routledge Companion to the Frankfurt School, London 2018, S. 221-234.

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suchte Adorno, sich gegen diese Vorwürfe zu verteidigen. Es sei, wie er sagte, falsch, alle Ideen ausschließlich in einem praktischen Licht und auf ihre empirischen Auswirkungen hin zu untersuchen. Eine solche Einstellung könne nur die Autorität der instrumentellen Vernunft und den Geist der Nützlichkeit stärken, die die spätkapitalistische Gesellschaft dominierten. Eine von der Theorie entkoppelte Praxis werde zur Pseudopraxis; sie falle in bloße Betriebsamkeit zurück und verrate die Ideale, die sie eigentlich verwirklichen solle. Gegen die Imperative eines solchen überstürzten Handelns führte Adorno einen von ihm so genannten »emphatische[n] Begriff von Denken« ins Feld. 3 In diesem emphatischen Sinne verstanden, wurde das Denken selbst für ihn zu einem kritischen Instrument gegen die überwältigenden Realitäten der gesellschaftlichen Konformität. »Eigentlich ist Denken […] die Kraft zum Widerstand«, schreibt er in seinem Vortrag »Resignation«; es verspreche diese Widerständigkeit, obwohl es »nicht gedeckt [ist], weder von bestehenden Verhältnissen noch von zu erreichenden Zwecken«: 4 Denken ist nicht die geistige Reproduktion dessen, was ohnehin ist. Solange es nicht abbricht, hält es die Möglichkeit fest. Sein Unstillbares, der Widerwille dagegen, sich abspeisen zu lassen, verweigert sich der törichten Weisheit von Resignation. In ihm ist das utopische Moment desto stärker, je weniger es – auch das eine Form des Rückfalls – zur Utopie sich vergegenständlicht und dadurch deren Verwirklichung sabotiert. Offenes Denken weist über sich hinaus. 5 3 »Resignation«, GS 10.2, S. 794-799, hier S. 798. Vollständige Angaben zu der mit Siglen abgekürzten Literatur finden sich im entsprechenden Verzeichnis unten, S. 465f. 4 Ebd. 5 Ebd. Eine wichtige Erläuterung der »realen Möglichkeiten«, die in Adornos Begriff der Verwirklichung impliziert sind, bietet Iain Macdonald,What Would be Different. Figures of Possibility in Adorno, Stanford 2019.

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Denjenigen, die von Adorno gelernt haben und sich auch heute noch von seinem Werk leiten lassen, muss dieses späte Eintreten für ein »emphatisches Denken« als eine Form von Widerstand in einem ambivalenten Licht erscheinen. Einerseits entspricht es nämlich dem genuin utopischen Impuls, der seine Philosophie befeuerte und ihn dazu bewogen hat, an dem Ideal einer möglichen Welt jenseits der Hoffnungslosigkeit und des Leids der real existierenden festzuhalten; andererseits scheint es aber auch sämtliches Handeln aufzuschieben und sich sogar noch den Genuss der Festlegung irgendeines bestimmten utopischen Ideals zu versagen, und zwar aus der Furcht heraus, dass solche Ideale sich selbst betrügen und sich zu einer affirmativen Ideologie verfestigen würden. Noch irritierender ist, dass diese Verweigerung gegenüber der Utopie so weit ging, dass sie sogar die Ansicht bestritt, das kritische Denken lasse sich in irgendeiner Weise absichern oder eben »decken«, entweder durch die gegenwärtig bestehende Gesellschaft oder durch künftig zu verfolgende Zwecke. Es sollte uns daher nicht überraschen, dass Adornos Verteidigung der kritischen Theorie für viele seiner Leserinnen und Leser unbefriedigend blieb. So veröffentlichte Jürgen Habermas kurz nach dessen Tod eine Hommage an seinen Lehrer, in der er ganz grundsätzlich fragte, »wie kritisches Denken selber zu rechtfertigen sei«. 6 Auch mehr als 50 Jahre nach Adornos Tod hat diese Frage ihre Dringlichkeit behalten. Über sein gesamtes Werk hinweg nimmt Adorno eine Haltung der Kritik ein: Wir sollten die herrschenden Verhältnisse nicht bloß deshalb als autoritativ akzeptieren, weil die Dinge so sind, wie sie eben sind, und gegen Hegel weigert er sich, dem Wirklichen das Prestige des Vernünftigen zu verleihen. Schon das gewaltige Ausmaß des sozialen Leids mache jede derartige 6 Jürgen Habermas, »Theodor W. Adorno – Urgeschichte der Subjektivität und verwilderte Selbstbehauptung« (1969), in: ders., Philosophisch-politische Profile, Frankfurt/M. 1987, S. 167-179.

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Gleichsetzung ungültig. Unter der Bezeichnung einer »negativen Dialektik« weist er die autoritäre Kraft des Faktischen daher auch rigide zurück. Stattdessen ist es ihm darum zu tun, die Unwahrheit an dem herauszustellen, was sich selbst als Wahrheit ausgibt, und die Negativität an dem, was scheinbar bruchlose Identität ist. Was diese Haltung jedoch so schwierig macht, ist Adornos offenkundige Weigerung, sich auf irgendwelche unabhängigen und vollständig intakten Normen zu berufen, die als Quellen der Schlagkraft der Kritik gegen das Unwahre dienen könnten. Besonders vehement widersetzt er sich dabei der Forderung, eine rationale Begründung für seine kritische Haltung beizubringen, da er davon überzeugt ist, dass die Vernunft selbst durch den einseitigen und zwangshaften Prozess der gesellschaftlichen Rationalisierung kompromittiert worden sei. Eine deontologische Ethik verlangt die Bezugnahme auf diskursive Begriffe, und die Moralphilosophie, so wie Kant sie begriff, ist nur möglich, wenn man an der Vorstellung eines allgemeinen Gesetzes festhält. Adorno will solche Bedingungen jedoch nicht akzeptieren. Der formalistische Ansatz reflektiert ihm zufolge vielmehr bereits die Herrschaft des Subjekts über das Objekt. Welche normativen Standards wir auch anlegen – er scheint der Auffassung zu sein, dass sie uns in rein begrifflicher Form nicht zugänglich gemacht werden könnten, 7 und schließt daraus, dass das kritische Denken überhaupt nicht »gedeckt« sei. Die Macht des Bestehenden sei vielmehr so durchdringend, dass sie jedem Rekurs auf Normativität sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft im Weg stehe. Das bedeutet 7 Siehe z. B. die Minima Moralia, wo Adorno im Abschnitt 6 »die Absenz einer jeden objektiv verbindlichen Sitte« konstatiert. Wie Iain Macdonald beobachtet hat, deutet diese Skepsis darauf hin, dass Adorno – ebenso wie Hegel – sich nicht auf ein »Moralgesetz«, sondern auf eine gültige Form der Sittlichkeit berufen will (GS 4, S. 28). Ich danke Iain Macdonald dafür, mich auf diese Passage und ihre philosophische Bedeutung aufmerksam gemacht zu haben.

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scheinbar, dass Adornos Leserinnen und Leser ohne jegliche normative Orientierung auskommen müssten. Allerdings können wir uns mit dieser Art von Skepsis nicht zufriedengeben. Wenn er tatsächlich gewillt gewesen wäre, sämtliche normative Maßstäbe aufzugeben, dann könnten diejenigen, die seine Kritik nicht akzeptieren, seine Thesen einfach als willkürlich und folgenlos abtun. Der Frage nach den Quellen der Normativität in Adornos Denken können wir also nicht so einfach entgehen. In diesem Buch gehe ich einer möglichen Antwort auf dieses Problem nach. Kurz gesagt werde ich hier die Position vertreten, dass Adornos Werk von einem normativen Bekenntnis zum Glück oder zum menschlichen Gedeihen motiviert ist. Zweifellos bringe ich mich mit dieser Behauptung in Widerspruch zu einigen der scharfsinnigsten Interpreten des Philosophen, die seinem Schaffen gerade einen Mangel an solchen normativen Bekenntnissen vorgehalten haben. Meine Hauptthese in diesem Zusammenhang lautet, dass Adornos Werk nicht das eines »Negativisten« ist, der glaubte, dass die Welt so tief im Falschen stecke, als dass er nicht in der Lage wäre, eine philosophische Exposition jener normativen Festlegungen vorzunehmen, die seinen eigenen kritischen Bemühungen zugrunde liegen. Ich hoffe, sogar im Gegenteil zeigen zu können, dass seine kritische Praxis von einer spezifischen und umfassenden Vision menschlichen Gedeihens gelenkt wird, deren Modellierung dabei eine im Prinzip materialistische ist, und zwar in dem Sinne, dass sie ein von Adorno als »emphatisch« bezeichnetes Bild vom Menschen als eines sinnlichen und körperlichen Wesens zeichnet, das an der Möglichkeit des Glücks für unsere gesamte Gattung festhält. Adornos Bekenntnis zu dieser Vorstellung befreit ihn in meinen Augen daher vom Vorwurf eines durchgängigen Negativismus, ebenso wie von der damit zusammenhängenden Vorhaltung, dass er es versäumt habe, normative Ressourcen für die kritische Theorie bereitzustellen. Zwar war er tatsächlich der Auffassung, dass sol16

che Grundlegungen nicht vollständig abgesichert werden könnten, doch gerade dieses Verlangen nach einer philosophischen »Deckung« ist in seinen Augen ohnehin nur ein weiteres Symptom des modernen Willens zur Naturbeherrschung. Wir müssen daher zwischen Quellen und Begründungen unterscheiden. Obwohl Adorno nun stets auf Quellen der Normativität in der Welterfahrung achtet, ist er skeptisch, ob diese erfahrungsbezogenen Quellen auch einer rationalen Überprüfung standhalten würden. Das bedeutet, dass seine philosophischen Bemühungen für all jene unbefriedigend bleiben dürften, die der Auffassung sind, die kritische Theorie müsse ihre Begründung in einer Art rationalistischem Fundamentalismus oder zumindest in einer Theorie postfundamentalistischer vernünftiger Kommunikationsbeziehungen finden. Dass Adorno solchen Ambitionen gegenüber grundsätzlich misstrauisch blieb, war hauptsächlich seiner Überzeugung geschuldet, dass der beschädigte Zustand der modernen Gesellschaft zwangsläufig auch unsere Ansprüche auf unkorrigierbare normative Einsichten in Mitleidenschaft ziehe. Hier stoßen wir auf das Moment der Selbstreflexivität in seiner philosophischen Kritik: Wenn Adorno sich der Aufgabe widersetzt hat, eine umfassende und systematische Verteidigung seiner normativen Selbstverpflichtungen vorzunehmen, dann deshalb, weil er sich weigerte, sich selbst aus der Gesellschaft auszunehmen, die er beschrieben hat. In einer Welt, die durch menschliches Leid so dermaßen entstellt ist, muss demnach unsere Glückserfahrung ebenfalls eine prekäre und partielle bleiben. Und auch die Philosophie kann solchen Schwierigkeiten gegenüber nicht immun bleiben; soll sie die Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Wandel nicht verlieren, dann muss sie in unserer Erfahrung selbst die normativen Ressourcen auftun, die sie braucht, um ihr kritisches Momentum aufzubauen. In modernen Gesellschaften werden diese Ressourcen jedoch immer knapper und instabiler. Sozialphilosophinnen könnten daher versucht sein, die Frage nach der normativen Begründung ins17

gesamt zu verwerfen und sich stattdessen der rein negativen Aufgabe zu widmen, die Art und Weise des Scheiterns unserer Normen zu dokumentieren. Dies erklärt womöglich auch, warum die Praxis der historischen Genealogie vor allem in den letzten Jahren so populär geworden ist: Sie bietet den oberflächlichen Reiz einer emanzipatorischen Kritik, während sie sich zugleich der Bürde entzieht, normative Begründungen zu liefern. Von Paradoxievorwürfen gänzlich unbeleckt, weiß die historische Genealogie, wogegen sie ist, selbst wenn sie nicht weiß, wofür sie ist. Wird sie aufgefordert, eine Erklärung zu liefern, warum sie einen existierenden Zustand untragbar findet, winkt sie ab. Das bloße Gefühl, dass etwas nicht stimmt, soll angeblich hinreichend sein. Ich hoffe, Adorno in diesem Buch von dem irreführenden Eindruck befreien zu können, dass seine Philosophie auf die Frage nach dem Scheitern der Gesellschaft nur eine rein negative Geschichte zu erzählen hat. Anders als andere Kritiker der Moderne verurteilt er die soziale Welt für ihr Versagen jedoch nur deshalb, weil er dieses Scheitern am Maßstab einer maximalistischen Forderung nach Glück oder menschlichem Gedeihen bemisst. Er räumt zwar ein, dass diese Forderung noch nicht erfüllt worden ist, beharrt aber auf diesem Ideal auch noch angesichts der Möglichkeit katastrophalen Scheiterns. Zweifellos kann mir meine These, wie ich sie hier zusammengefasst habe, den Vorwurf einbringen, ich wolle aus Adorno einen Utopisten machen. Darauf kann ich nur erwidern, dass ein Denker nur dann ein Utopist ist, wenn er sich selbst von dem Irrglauben verleiten lässt, dass uns Utopia in makelloser Vollendung gleich hinter dem Horizont erwartet. So etwas hat Adorno aber zweifellos nicht geglaubt, und wenn man seine Kommentare zu einem falschen Utopismus in der Philosophie betrachtet, dann konnte er in seinen diesbezüglichen Urteilen genauso gnadenlos sein wie Marx selbst. 8 Dennoch beharre ich auf 8 Siehe zum Beispiel sein Gespräch mit Ernst Bloch unter dem Titel »Etwas

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meiner Position, dass seine unerbittliche Gesellschaftskritik nur möglich war, weil er sich darin, wie undurchsichtig oder indirekt auch immer, auf ein Ideal des menschlichen Gedeihens berufen hat, das prekär und in weiten Teilen unrealisiert blieb. Ich wäre der Erste, der der Feststellung zustimmen würde, dass »Glück« nur eine Bezeichnung unter vielen ist, um jenes Ideal des menschlichen Gedeihens zu charakterisieren, das seinen Ambitionen zugrunde liegt. In seinen vielen Schriften zur Philosophie, Soziologie und Ästhetik versieht Adorno es daher auch mit verschiedenen Namen, die eine bemerkenswert große semantische Spannbreite abdecken. So spricht er in diesem Kontext, ohne die jeweiligen begrifflichen Implikationen besonders zu beachten, von »Glück«, der »wahren Gesellschaft«, dem »richtigen Leben«, dem »versöhnten Zustand« oder sogar vom »Frieden«. Zudem beruft er sich auf ein Ideal »der real befreiten Menschheit«. 9 Diese verschiedenen Ausdrücke sind zweifellos vage und überlappen sich ihren Bedeutungsgehalten nach, und Adorno lässt sich nur selten dazu herab, Letztere voneinander abzugrenzen. In einer Diskussion mit Ernst Bloch über die Relevanz der Utopie hat er sogar bestritten, dass eine solche Klärung überhaupt möglich wäre: »Es gehört zum Begriff der Utopie wesentlich dazu, daß sie nicht darin besteht, daß sich eine bestimmte einzelne herausgegriffene Kategorie verändert, von der aus sich alles konstituiert, zum Beispiel indem man die Kategorie des Glücks allein als Schlüssel der Utopie annimmt.« Und auch der Begriff der Freiheit gibt ihm zufolge kein besseres Ordnungskriterium ab: »Die Kategorie der Freiheit isoliert auch nicht. Wenn es damit abginge, daß man die Kategofehlt … Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. Ein Gespräch mit Theodor W. Adorno«, in: Rainer Traub, Harald Wieser (Hg.), Gespräche mit Ernst Bloch, Frankfurt/M. 1980, S. 58-77. 9 »Die Wunde Heine«, in: GS 11, S. 95-100 (meine Hervorhebung, P. G.). Ich danke Iain Macdonald dafür, dass er mich auf diese Passage aufmerksam gemacht hat.

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rie der Freiheit allein als Schlüssel der Utopie ansehen würde, dann wäre wirklich der Inhalt des Idealismus gleichbedeutend mit der Utopie, denn der Idealismus will ja nichts anderes als die Realisierung der Freiheit, ohne die Realisierung des Glücks dabei eigentlich mitzudenken.« 10 Wer das dynamische Herzstück jener Normativität aufspüren will, das Adornos Gesellschaftskritik motiviert, wird versucht sein, aus dessen eigenen Eingeständnissen den Schluss zu ziehen, dass er dafür weder den einen Begriff anbietet noch eindeutig angibt, wie die Vielzahl der von ihm bemühten Konzepte im Einklang miteinander stehen sollen. Er scheint sich stattdessen damit zu begnügen, pauschal und oft eher unter der Hand auf einen unrealisierten Zustand des menschlichen Gedeihens zu verweisen, in dem alle Facetten unseres Daseins ihre »schrankenlose Erfüllung« 11 finden würden. Ich verstehe Adornos Zurückhaltung mit Blick darauf, sich auf einen einzigen Terminus festzulegen, werde dieses normative Ideal aber trotzdem als Glück bezeichnen – unter dem Vorbehalt, dass dies in einem wirklich umfassenden Sinne gemeint ist, ähnlich dem griechischen Konzept der εὐδαιμονία oder Eudämonie. 12 Dieser Zustand ist umfassend und multidimensional, und zwar insofern, als er die Befriedigung sowohl unserer 10 Adorno/Bloch, »Etwas fehlt«, S. 65. 11 »Kultur und Culture«, NGS, Abt. V, Bd. 1, S. 156-176, hier S. 162 (meine Hervorhebung, P. G.). Wer meinem Gebrauch der Wendung »menschliches Gedeihen« skeptisch gegenübersteht, mag einfach einmal selbst prüfen, wie häufig Adorno auf einen utopischen Zustand wie etwa den einer »schrankenlosen Erfüllung« als jene Norm verweist, die seine Kritik anleitet. 12 Abweichend von der griechischen Vorstellung von eudaimonía betrachtet Adorno die hedonistische oder sinnliche Befriedigung des Menschen als essenziell für unsere Erfüllung und nicht als etwas der Vernunft Untergeordnetes. Zu einer sorgfältigen Rekonstruktion des Glücksbegriffs bei Aristoteles und der Bedeutung der Eudemischen neben der (bekannteren) Nikomachischen Ethik siehe zum Beispiel Anthony Kenny, Aristotle on the Perfect Life, Oxford 1992.

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materiellen Bedürfnisse als auch unserer gesellschaftlichen Ideale impliziert und die ganze Bandbreite menschlicher Erfahrungen umfasst, vom einfachsten körperlichen Wohlbefinden bis hin zu den komplexesten Auseinandersetzungen mit Werken der Kunst. Dabei ist dieses Ideal ganz unverblümt normativ in dem Sinne, dass es als kritische Messlatte fungiert, an der sich die gegebene Ordnung als mangelhaft erweist, und weil es zum Ausdruck bringt, was Adorno als die »Kraftquelle« oder den Ursprung des Verlangens danach bezeichnet, dass »›Glück sein [soll]‹«.13 Zwar wäre er der Erste gewesen, der gesagt hätte, dass eine Verengung eines so breiten Ideals auf einen einzigen Begriff zum Scheitern verurteilt wäre – weshalb er in dem oben zitierten Gespräch mit Ernst Bloch auch ausdrücklich davor warnt, der Kategorie des Glücks eine spezielle Bedeutung für unser Nachdenken über das Utopische zuzusprechen. Doch wenn wir uns das normative Ideal verdeutlichen wollen, das seiner Philosophie zugrunde liegt, dann sollten wir unser Bemühen darum nicht aufgeben, uns zumindest ein ungefähres Bild davon zu machen, was es besagt. Eine wirklich umfassende Konzeption des menschlichen Glücks muss alle Facetten menschlicher Erfahrung beinhalten, auch die Kunsterfahrung. Dies bringt mich auf ein Thema, das nicht nur unter denjenigen viele Kontroversen ausgelöst hat, die zu Adornos Philosophie forschen, sondern auch im weiteren Umfeld des Geisteslebens, wo sich nach wie vor bestimmte Fehldeutungen oder karikatureske Charakterisierungen des Philosophen halten. Vor allem in Nordamerika ist die Auffassung verbreitet, dass die ästhetische Sphäre nicht von den Idealen persönlicher Freiheit und der freien Meinungsäußerung ausgenommen sein dürfe, die historisch im Verbund mit den Grundsätzen des Laisser-faire-Kapitalismus entstanden sind. Aufgrund der Wirkmächtigkeit dieser Auffassung wird Kultur kurzerhand als »Populärkultur« verstan13 NGS, Abt. V, Bd. 1, S. 162.

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den und jeder Versuch zur Etablierung ästhetischer Bewertungsmaßstäbe in ihre Sphäre sofort als eine nicht hinzunehmende Verletzung demokratischer Prinzipien betrachtet. Und es versteht sich von selbst, dass dieses volkstümliche Verständnis von Kultur gerade dann besonders hochgehalten wird, wenn die Diskussion sich jenen Formen der warenförmig gewordenen Musik zuwendet, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eine Hauptrolle bei der Herausbildung einer spezifisch amerikanischen kulturellen Identität gespielt hat. Vom Big-Band-Jazz bis zum Rock ’n’ Roll – Musik ist eines der weltweit erfolgreichsten Exportgüter des amerikanischen Kapitalismus. Ironischerweise verkörpert sie aber auch ein besonders prägnantes Beispiel für kulturelle Kommodifizierung und Standardisierung, während sie ihren Konsumentinnen und Konsumenten gerade als Vehikel eines völlig ungebundenen individuellen Ausdrucks erscheint. Es sollte uns daher nicht überraschen, dass einige Leserinnen und Leser, besonders in den Vereinigten Staaten, aber nicht nur dort, dazu neigen könnten, Adorno als unverbesserlichen Snob zu betrachten. Seine anspruchsvollen kulturellen Maßstäbe werden als elitär und seine Leidenschaft für die Musik als ein Ausweis von materiellem Wohlstand oder eines gesellschaftlich privilegierten Status wahrgenommen. Nicht selten stößt man auch auf das Urteil, Adornos Vorstellung von autonomer Kunst sei kaum mehr als eine der letzten Bastionen eines bürgerlichen Ästhetizismus, der dem Mythos apolitischer Transzendenz verfallen sei. Zu meinen Aufgaben in diesem Buch wird es auch gehören, diese falsche Auffassung zu korrigieren. Obwohl oft anderes über Adorno behauptet wird, war es seine Ansicht, dass die ästhetische Erfahrung nur eine relative Autonomie im Verhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erlangen vermag; sie müsse sich gerade deshalb von der Welt zurückziehen, damit sie als ein Seismograph menschlichen Leidens fungieren könne. Würde die Kunst ihre Responsivität ihrer Umgebung gegenüber einbüßen, dann 22

würde sie aufhören, überhaupt Kunst zu sein. Für Adorno besitzt sie deshalb einen intrinsisch normativen Status: Sie hält sowohl ein Glücksversprechen als auch einen kritischen Maßstab für uns bereit, an dem wir das Ausmaß realer Katastrophen bemessen können. Seine ästhetische Theorie signalisiert also keinen Rückzug von der Gesellschaftskritik, sondern eine Vergrößerung ihrer Reichweite. Das aber bedeutet, dass die Kunst aus unserer Vision des menschlichen Gedeihens nicht ausgenommen werden kann; die kritischen Maßstäbe, die wir an die soziale Wirklichkeit anlegen, müssen sich auch auf die ästhetische Sphäre erstrecken. Ich möchte diese einleitenden Bemerkungen mit einer kurzen und eher persönlichen Erklärung dafür abschließen, warum ich mein Vorhaben überhaupt für philosophisch bedeutsam halte. In den vergangenen Jahren habe ich den Eindruck gewonnen, dass sich in akademischen Kreisen ein gewisser zynischer Geist immer stärker herausgeschält hat, und das vor allem mit Blick auf die Frage normativer Bekenntnisse oder Festlegungen. Weil es uns nicht schwerfällt, die diversen Hinsichten zu dokumentieren, in denen unsere Gesellschaft ihre eigenen Ideale verraten hat, sollte es uns auch nicht wirklich überraschen, wenn viele Sozialforscherinnen und Sozialforscher glauben, dass schon die rein negative Erbringung eines Nachweises über die Komplizenschaft von Normativität und Macht als eine hinreichende Form von Gesellschaftskritik gelten könne. Doch dieser Glaube ist mindestens umstritten. Schließlich ist Gesellschaftskritik nur dann ein lohnendes Unterfangen, wenn wir der Meinung sind, dass die soziale Welt anders sein sollte, als sie ist. Um also behaupten zu können, dass bestimmte Verhältnisse (oder Institutionen oder Praktiken) falsch sind, müssen wir auch angeben können, warum sie falsch sind und welche Normen des Richtigen aktuell nicht gelten – ganz gleich, ob sie als solche der Gerechtigkeit, des Guten oder des menschlichen Gedeihens konzipiert sind. In der Gesellschaftskritik sollte es daher mindestens möglich sein, unsere ihr zugrunde liegenden Fest23

legungen darzulegen. Und dazu sollten wir tatsächlich gewillt sein, wenn wir mit der Welt in ihrem gegebenen Zustand nicht zufrieden sind und uns zugleich nicht gestatten wollen, in eine lähmende Melancholie zu verfallen. Adorno hatte das verstanden. Auf der ersten Seite der Minima Moralia schreibt er in seiner »Zueignung« an den Freund Max Horkheimer, dass wir den Mut haben müssten, einen Untersuchungsbereich zu betreten, »der für undenkliche Zeiten als der eigentliche der Philosophie galt, seit deren Verwandlung in Methode aber der intellektuellen Nichtachtung, der sententiösen Willkür und am Ende der Vergessenheit verfiel: die Lehre vom richtigen Leben«. 14 In diesem Buch möchte ich diese Äußerung als interpretatorischen Wegweiser in die Philosophie Adornos ernst nehmen.

14 GS 4, S. 13 (meine Hervorhebung, P. G.).

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EINLEITUNG. GEGEN GNOSIS

Am 12. Mai 1959 beginnt Adorno den ersten Vortrag im Rahmen seiner Vorlesungsreihe des Sommersemesters zu Kants Kritik der reinen Vernunft mit einigen ziemlich rätselhaften Bemerkungen. Er informiert seine Studierenden, dass es eine »Fiktion« ist, wenn sie glauben, dass sie nicht schon Kenntnis von ihrem Gegenstand besitzen. Denn ein Magnum Opus wie Kants erste Kritik strahlt eine solche Autorität aus, dass sie alle zumindest etwas von der kanonischen Bedeutung dieses Werks wüssten. Doch dann kehrt er diese These um und warnt seine Zuhörerschaft davor, irgendein Vorwissen für sich in Anspruch zu nehmen, da man sagen kann, »daß das, was man so irgendwie von einer Philosophie hat läuten hören, im allgemeinen eher dazu beiträgt, ihren eigentlichen Gehalt zu verdunkeln, als ihn klarzulegen«. Die üblichen Deutungen und herkömmlichen Denkweisen helfen uns nicht immer dabei, die innere Wahrheit einer Philosophie zu enthüllen, weil die oberflächlichen Schlagworte, durch die ein gegebenes Werk seine Reputation gewinnt, nur Ausdruck eines bloßen Tauschs und nicht des Begreifens sind. Auch Gedanken haben nämlich einen Tauschwert, der an die Stelle ihres Gebrauchswerts tritt und ihn sogar verschleiern kann: »Die üblichen Formeln, auf die man die Philosophien zu bringen pflegt, tendieren dazu, die Werke zu verdinglichen, zu verhärten und eine genuine Beziehung zu ihnen eigentlich zu erschweren.« 1 Bereits hier haben wir es mit einem ersten kuriosen Beispiel für Adornos Gepflogenheit zu tun, philosophische Vorlesungen auf ihren gesellschaftlichen Rahmen zu be-

1 NGS, Abt. IV, Bd. 4, S. 9.

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ziehen: Er eröffnet seine Lehrveranstaltung zur Kritik der reinen Vernunft damit, dass er seine Studierenden ermahnt, erst einmal durch die verhärtete Kruste jenes populären Wissens hindurchzustoßen, das diese Schrift allmählich zur Ware hat werden lassen, wenn sie die Wahrheit von Kants Meisterwerk wirklich erkennen wollen. Eine ähnliche Warnung mag auch angebracht sein, wenn wir heute versuchen, Adornos eigene philosophische Hinterlassenschaften zu verstehen. Mittlerweile ist die Auffassung ein Gemeinplatz geworden, dass er ein totalisierender Skeptiker in Bezug auf moralisches Wissen und moralisches Verhalten gewesen ist; er sei, wie es heißt, der Philosoph einer durchgängigen Negativität, der die moderne Welt als »Verblendungszusammenhang« betrachtet hat – als einen finsteren und alles umfassenden Kontext des (Be-)Trugs, der keinerlei Ausblick auf mögliche Alternativen erlaubt. Diese »negativistische« Interpretation findet nicht zuletzt deshalb so starken Anklang, weil bestimmte wohlbekannte Passagen in Adornos Schriften, vor allem in den Aphorismen der Minima Moralia, sie offenbar ganz unzweideutig bestätigen. Betrachten wir zum Beispiel jenes sicherlich gewagteste und bekannteste Diktum dieses Buchs: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« 2 Dieser einzelne Satz, der seinen Reiz aus seiner Verdichtung und nietzscheanischen Kraft gewinnt, wird in der Literatur zu Adorno so häufig zitiert, dass er zu einer Art Klischee geronnen ist. Daher sollte es uns auch nicht überraschen, dass er sogar auf der Gedenktafel an dem Wohnhaus im Frankfurter Westend verewigt ist, in dem er seine letzten Lebensjahre verbrachte. Eine bessere Metapher für die Verknöcherung seines Denkens gibt es vielleicht gar nicht. Gleichzeitig lässt sich an der Kommodifizierung von Adorno als Person auch eine populäre Variation des negativistischen Themas erkennen. So wurde das Gesicht des Philosophen auf feti2 GS 4, S. 43.

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schisierten Tand, auf Kaffeebecher und T-Shirts gedruckt, wo er als finster dreinblickender Neinsager erscheint, der der ganzen Welt sein »Daumen runter« entgegenreckt. Dies ist eine ziemlich ironische Entwicklung – die Kulturindustrie hat ihre letzte Rache an jenem Theoretiker geübt, der als Erster versucht hatte, ihre Übel zu diagnostizieren. Die Hauptaufgabe dieses Buchs wird es sein, zu erklären, warum dieses weitverbreitete Bild von Adorno falsch ist, und ein korrigiertes Bild vorzulegen. Natürlich ist es zutreffend, dass er ein Kritiker der gesellschaftlichen Verdinglichung in allen Bereichen des menschlichen Daseins war – in unserem öffentlichen Verhalten, unserem moralischen Denken, unserer ästhetischen Erfahrung und selbst noch in den kleinsten Aspekten des alltäglichen Lebens. Es ist jedoch entscheidend, zu erkennen, dass Adorno unsere soziale Welt nicht als voll und ganz in komplette Finsternis gehüllt ansah. Ungeachtet seines Rufs als Pessimist war er nämlich nicht der Meinung, dass der Menschheit jegliche normativen Ressourcen fehlen, die uns einen flüchtigen Blick auf eine bessere Welt erhaschen lassen würden. Man muss zwar zugeben, dass er es sich kaum jemals erlaubt hat, sich in utopischen Fantasien zu ergehen; wie bei Marx werden auch seine zaghaften Fingerzeige Richtung Hoffnung stets von einem bitteren Realismus im Zaum gehalten, ebenso wie von der Einsicht, dass die moderne Glückserfahrung nur allzu oft als Apologie der Verhältnisse fungiert. Dennoch sollte diese Zurückhaltung in seinen Aussagen zum richtigen Leben nicht mit einem allumfassenden Skeptizismus verwechselt werden. Selbst in Minima Moralia, dem Buch, das für seine beiläufigen Urteile bekannt ist, die scheinbar nur die Allgegenwärtigkeit des Falschen bekräftigen, scheut sich ihr Autor nicht, dessen »Zueignung« an seinen Freund Max Horkheimer mit der bemerkenswerten Aussage zu beginnen, dass selbst im Moment der geschichtlichen Katastrophe seine »traurige« Wissenschaft noch ihre Verbindung zu jener mittlerweile bedrohten philosophischen 27

Praxis aufrechterhält, die er »die Lehre vom richtigen Leben« nennt. 3 Wie ich behaupten möchte, werden solche verwirrenden Aussagen nur dann verständlich, wenn wir uns von der üblichen Ansicht verabschieden, der zufolge Adorno der Philosoph einer alles durchdringenden Negativität ist. So wie er seinen Studierenden angeraten hat, jede Verdinglichung von Kants Philosophie zu vermeiden, so müssen auch wir als Leserinnen und Leser seines Werks in unserer Deutungspraxis für seine Widersprüche empfänglich bleiben. Wir müssen jene Verdinglichung vermeiden, die sich ereignet, wenn wir uns selbst mit der formelhaften These zufriedengeben, dass er ein Diagnostiker einer absoluten Verdinglichung ist. Adornos schriftliches Œuvre verhält sich analog zu der sozialen Wirklichkeit, die es schildert; es ist nicht das monolithische Porträt einer monolithischen Welt. Vielmehr verkörpert es eine dialektische Philosophie, die mit Fragmenten von Normativität durchsetzt ist, welche über die Landschaft unseres aktuellen Leidens hinausweisen. Und wenn uns seine Schriften nur einen partiellen und prekären Blick erhaschen lassen auf das Glück, nach dem wir streben, dann liegt es daran, dass in der uns umgebenden Gesellschaft das Glücksversprechen ebenso prekär ist. In einer unglücklichen Welt ist jegliches Glück mit Verzweiflung verschränkt. 4 In diesem einleitenden Kapitel verfolge ich drei unterschiedliche Ziele. Erstens möchte ich einigen Hauptaspekten der negativistischen Adorno-Deutung nachgehen und dabei herausstellen, 3 Ebd., S. 13. 4 Eines der Ziele dieses Buchs besteht in der Relativierung der einseitigen und oft wiederholten Karikatur von Adorno als schlichtem Gegner des Glücks. Eine interessante Glückskonzeption, die einen wichtigen Hinweis auf die potenziell ideologischen und unterdrückerischen Eigenschaften dieses Begriffs enthält, findet sich in Sara Ahmed, The Promise of Happiness, Durham 2010.

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wie eine wohlwollende Rekonstruktion ihrer Verdienste in meinen Augen aussehen würde. Zweitens werde ich zeigen, warum die negativistische Deutung dieser Verdienste zum Trotz als unzutreffend verworfen werden muss. Und drittens gebe ich dann noch einen Überblick über eine alternative Interpretation, die ich sowohl für eine akkuratere Darstellung seines Denkens als auch für ein besser vertretbares Modell von Gesellschaftskritik halte.

Die negativistische Interpretation Im ersten Teil von Goethes Faust (1790) lernen wir die geheimnisvolle Figur des Mephistopheles kennen, die sich selbst wie folgt beschreibt: »Ich bin der Geist, der stets verneint! Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, Ist wert, daß es zugrunde geht.« 5

Diese Zeilen sind bekannt und bedürfen kaum einer näheren Erläuterung. Auffallen könnte uns an dieser Passage aber, dass Mephistopheles sich hier mit Worten, die Hegels nur 17 Jahre später publizierte Phänomenologie des Geistes vorwegnehmen, als ein Geist der rückhaltlosen Negation präsentiert und direkt die weitere Behauptung anschließt, dass sein negatives Tun gerechtfertigt ist, da es auf der ganzen vergänglichen Welt nichts gibt, was nicht seine Vernichtung verdient hat. Dies impliziert ein absolut negatives Urteil über alles, was existiert: Alles Werden ist bloße Vergänglichkeit, und alles, was ist, muss dahinscheiden. Doch Vernichtung ist auch Erschaffung. Obwohl er ein Geist der Zerstörung ist, er5 Johann Wolfgang von Goethe, Faust – Eine Tragödie, Stuttgart 1971, Vers 1338ff.

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kennt Mephistopheles an, dass er eine produktive Rolle in der Verwirklichung göttlicher Ziele spielt, und erklärt sich daher auch selbst zu »ein[em] Theil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft«. Hier haben wir es mit einem sehr simplen Beispiel für eine dialektisch-logische Aussage zu tun, in der die Negation (mit Hegel gesprochen) eine bestimmte und nicht bloß abstrakte ist; die Vergänglichkeit, die zerstört wird, ist zugleich aufgehoben und besteht auf einer höheren Ebene der Weltvernunft fort. Der Kern der bestimmten Negation ist der, dass sie sich des Negativen auf antizipatorische Weise bedient: Sie blickt auf die scheinbare Negativität der bestehenden Verhältnisse und findet in diesen selbst einen Hinweis auf ihre Gewordenheit sowie einen Ansatzpunkt für die Entwicklung dessen, was noch nicht wirklich geworden ist. 6 Später in dieser Einleitung komme ich noch einmal auf die Unterscheidung zwischen abstrakter und bestimmter Negation zurück. An dieser Stelle möchte ich jedoch kurz innehalten und auf den Vergleich zwischen Mephistopheles und Adorno eingehen. Es mag überraschend klingen, aber wir sollten uns daran erinnern, dass in der Novelle Doktor Faustus von 1947, Thomas Manns moderner Fassung des faustischen Dramas, der Teufel in vielen Gestalten auftritt und sich an einem Punkt auch in eine Erscheinung verwandelt, die einige Ähnlichkeit mit Adorno aufweist. Mephistopheles trägt hier »eine Brille mit Hornrahmen« auf seiner »gebogenen Nase«, seine Stirn ist »bleich und gewölbt«, und er ist »ein 6 Hegel legt in seiner enzyklopädischen Logik eine präzisere Bestimmung vor: »Das Spekulative oder Positiv-Vernünftige faßt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf, das Affirmative, das in ihrer Auflösung und ihrem Übergehen enthalten ist« (G.W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse I, in: ders., Werke, Bd. 8, Frankfurt/M. 1979, § 82). Siehe auch die »Anmerkung« zur Bedeutung von »Aufhebung« in ebd., Kap. 1, § 21. Ich danke Gordon Finlayson dafür, mich auf diese Stellen aufmerksam gemacht zu haben.

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Intelligenzler, der über Kunst […] schreibt, ein Theoretiker und Kritiker, der selbst komponiert, soweit eben das Denken es ihm erlaubt«. Der Literaturkritiker Hans Mayer war der Erste, der hier eine Anspielung auf Adorno vermutete, was den Philosophen dazu bewog, Mann zu fragen, ob er diese Ähnlichkeit bewusst erzeugt hatte. Mann beharrte jedoch darauf, dass das eigentliche Vorbild für diese Erscheinung nicht Adorno, sondern Gustav Mahler gewesen war. 7 Wir dürfen daher annehmen, dass die geschilderte Figur wahrscheinlich eine Verschmelzung des Philosophen und des Komponisten zu einer einzigen dämonischen Gestalt war. Und auch wenn diese Darstellung nicht ganz auf Adorno passt, hielt Manns Leugnung ihn doch nicht davon ab, sich über die vermeintliche Hommage zu freuen; so unterschrieb er nach dieser Entdeckung einmal einen Brief mit »Der Teufel«. 8 Der Vergleich ist aber nicht nur von biografischem Interesse. Aus einer philosophischen Perspektive betrachtet, ist er auch insofern aufschlussreich, als er widerspiegelt, wie Adornos Werk oft verstanden worden ist. Viele tendierten nämlich dazu, sich den Philosophen als eine Inkarnation des Mephistopheles auszumalen. Dieser Deutung zufolge blickt er mit den strengen Augen eines Richters auf die Gesamtheit der gesellschaftlichen Landschaft und erkennt, dass nichts in ihr irgendeinen Wert besitzen kann; »alles was entsteht« hat nur seine Vernichtung verdient. Wenn die7 Siehe Hans Mayer, Thomas Mann. Werk und Entwicklung, Berlin 1950, S. 370. Zum Briefwechsel von Mann und Adorno bezüglich Mayers vermeintlicher »Entdeckung« siehe Theodor W. Adorno, Thomas Mann, Briefwechsel 1943-1955, Frankfurt/M. 2002. Adornos Brief trägt das Datum vom 6. Juli 1950, Manns Antwort das vom 11. Juli 1950. Die Identifikation von Manns Mephistopheles mit Adorno wird wieder aufgegriffen in Jean-François Lyotard, »Adorno as the Devil«, in: Telos 19 (1974), S. 127-137. 8 Eine Zusammenfassung dieser Affäre findet sich in Michael Maar, »Teddy and Tommy. The Masks of Doctor Faustus«, in: New Left Review 20 (2003), S. 113-130.

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se Auffassung zutreffend wäre, müssten wir nun natürlich die anschließende Behauptung des Mephistopheles ignorieren, dass er eine Macht ist, »die stets das Böse will und stets das Gute schafft«. Stattdessen müssten wir in Adorno einen Geist der bloß abstrakten Negation erblicken – einen Kritiker, der in der Welt nur Finsternis wahrnimmt und die Möglichkeit nicht zulässt, dass das, was dem Anschein nach negativ ist, auch zum Guten gewendet werden könnte. Dieses Bild des Philosophen entspricht tatsächlich einer, wie ich sie fortan nennen möchte, negativistischen Interpretation seiner Lehren. Sie besagt, dass die soziale Welt für Adorno in Gänze falsch ist und dass wir nichts in ihr finden, was vielleicht als ein antizipatorischer Fingerzeig auf das »richtige Leben« fungieren könnte. Allerdings stellt uns diese Deutung vor zwei miteinander verknüpfte philosophische Schwierigkeiten, eine epistemische und eine praktische. Erstens: Wenn die Welt in Gänze falsch ist, dann ist nicht klar, wie wir eigentlich irgendeinen kontrastierenden normativen Maßstab besitzen könnten, um sie überhaupt erst einmal als falsch zu identifizieren. Und zweitens: Ist sie gänzlich falsch, dann könnte man annehmen, dass wir uns als Gefangene in einer sozialen Welt wiederfinden, der es an sämtlichen Ressourcen für ihre Überwindung fehlt. In diesem Fall wirkt allerdings das Betreiben von Gesellschaftskritik an sich schon wie ein Ding der Unmöglichkeit. Diesen philosophischen Schwierigkeiten zum Trotz ist die negativistische Interpretation in der Literatur zu Adorno ziemlich tonangebend, und zwar aus dem naheliegenden Grund, dass es viele Belege in seinem Werk gibt, die ihre Behauptungen stützen. 9 Betrachten wir zum Beispiel seine außergewöhnliche Aus9 Eine klassische Ausformulierung der negativistischen Interpretation bietet Michael Theunissen, »Negativität bei Adorno«, in: Ludwig von Friedeburg, Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt/M. 1983, S. 4165.

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sage in seiner Vorlesung Probleme der Moralphilosophie von 1963, in der er bestreitet, dass wir ein unverrückbares Wissen von dem haben können, was er das »absolute Gute« nennt: Wir mögen nicht wissen, was das absolute Gute, was die absolute Norm, ja auch nur, was der Mensch oder das Menschliche und die Humanität sei, aber was das Unmenschliche ist, das wissen wir sehr genau. Und ich würde sagen, daß der Ort der Moralphilosophie heute mehr in der konkreten Denunziation des Unmenschlichen als in der unverbindlichen und abstrakten Situierung etwa des Seins des Menschen zu suchen ist. 10

Der Sinn dieser Passage dürfte unstrittig sein. Adorno weist hier jeden Versuch zurück, eine Grundlegung der Moralphilosophie in Begriffen des »absoluten Guten« oder der »absoluten Norm« vorzunehmen, weil sie alle irgendein feststehendes Ideal des menschlichen Gedeihens voraussetzen. Unsere Schwierigkeit heute besteht jedoch darin, dass wir nur wenig empirische Hinweise auf ein solches Gedeihen haben und deshalb Zweifel daran hegen könnten, ob uns wirklich jene menschengemäßen Normen zur Verfügung stehen, auf die unsere typischen moralischen Überlegungen offensichtlich angewiesen sind. An anderer Stelle bringt Adorno diese agnostische Sichtweise sogar noch stärker auf den Punkt: »Jedes Menschenbild ist Ideologie außer dem negativen«, heißt es dort. 11 Daraus scheint sich zu ergeben, dass eine Kritik unserer schlechten Wirklichkeit ihren Anfang nicht mit einer Berufung auf positive Normen des Menschseins machen kann, da diese in der bestehenden gesellschaftlichen Realität nicht zu finden sind. Statt also zu versuchen, unser moralisches Denken in einer derartigen normativen Evidenz zu verankern, sollten wir vielmehr 10 NGS, Abt. IV, Bd. 10, S. 261. 11 »Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie«, GS 8, S. 42-85, hier S. 67.

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die weithin verfügbaren Belege für Unmenschlichkeit zu unserem Ausgangspunkt machen. Die Moralphilosophie würde demnach am besten fahren, wenn sie eine via negativa einschlagen würde; denn wenn wir unsere moralische Kritik nicht in einem absoluten Ideal des Menschlichen wurzeln lassen können, dann, so die Argumentation, sollten wir uns stattdessen auf die rein negative Praxis beschränken, die Adorno als eine »konkret[e] Denunziation des Unmenschlichen« bezeichnet. 12 Ich werde später in diesem Buch auf diese Passage zurückkommen und dafür argumentieren, dass sie bei näherer Betrachtung nicht jene Haltung eines allumfassenden normativen Skeptizismus impliziert, wie es einige Interpretinnen und Interpreten behauptet haben. Für den Moment will ich mich in diesem Zusammenhang jedoch mit der Bemerkung begnügen, dass Adorno hier nur die Berufung auf das »absolute« Gute oder die »absolute« Norm ablehnt – und das ist insofern eine entscheidende Konkretisierung, als sie die Möglichkeit offenlässt, dass wir uns stattdessen auch auf beschädigte oder unvollkommene Instanziierungen von Normativität berufen können. Allerdings steht dieses Textstück beileibe nicht allein. Vielmehr gibt es noch eine große Zahl weiterer Stellen in Adornos Werk, die zur Untermauerung der negativistischen Interpretation angeführt werden können; es wäre wohl tatsächlich auch unwahrscheinlich gewesen, dass sie jemals diese dominante Rolle erlangt hätte, die sie heute innehat, wenn es diese Belege nicht gäbe. Das Bild von Adorno als Normativitätsskeptiker ist also nicht unplausibel und hat sich aus einer Vielzahl von Gründen zu einer gängigen Auffassung verfestigt. Dabei stellt die negativistische Interpretation allerdings nicht immer auf das spezifische Problem ab, wie eine Moralphilosophie ohne Bezugnahme auf zumindest einige positive Ideale des menschlichen Gedeihens zu konstruieren wäre. Von einer höheren Warte aus be12 NGS, Abt. IV, Bd. 10, S. 261.

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trachtet, beruft sie sich auch auf unseren generellen Eindruck, dass Adorno ein durch und durch antiutopischer Denker war, der nicht glaubte, dass irgendetwas an unserer gegenwärtig existierenden sozialen Ordnung die Hoffnung auf ihre Überwindung rechtfertigen würde. Manche Forscherinnen und Forscher sind daher auch zu dem Schluss gelangt, dass er sich in die Ecke eines sich selbst widerlegenden Skeptizismus manövrierte, da er keinerlei Vertrauen in das Betreiben rationaler Kritik schlechthin mehr gehegt hat. Und auch diese Einschätzung findet eine gewisse Untermauerung im Textbestand, nämlich in jenen eher übertreibenden Passagen seines Werks, in denen er offenbar behaupten will, dass die soziale Welt einfach alle Möglichkeiten zur Gewinnung kritischer Einsichten verbaut hat, selbst die rein negativer Art. So erklärt er etwa in Minima Moralia ja tatsächlich: »Kein Spalt im Fels des Bestehenden, an dem der Griff des Ironikers sich zu halten vermöchte.« 13 Wir könnten daher also zu dem Schluss gelangen, dass Adorno nicht nur eine vollumfängliche Verurteilung der modernen Gesellschaft ausspricht, sondern sie auch noch als ein geschlossenes und sich selbst bestätigendes System darstellt, das unseren kritischen Bemühungen überhaupt keinen Raum mehr lässt. Die beiden oben erwähnten Probleme, das epistemische und das praktische, laufen daher an dieser Stelle zusammen. Wie Adorno vermeintlich eine so schwierige philosophische Haltung einnehmen konnte, ist eine Frage, auf die ich gleich zu sprechen kommen werde. Unabhängig davon gilt jedoch: Der allgemeine Eindruck, der die negativistische Interpretation untermauert, ist der, dass Adorno die moderne Welt als normativ indifferent betrachtet hat – das heißt als bar jeder intrinsischen Normativitätsquelle, die uns mit den kritischen Energien versorgen könnte, auf die wir zur Identifikation der Irrwege dieser Welt oder für praktische Maßnahmen zu deren Korrektur angewiesen 13 GS 4, S. 241.

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sind. Und dieser generelle Eindruck ist auch für jene Sichtweise verantwortlich, der zufolge er ein spätmoderner Gnostiker gewesen sei, der die Gesellschaft der Gegenwart in Gänze als gefallen und von jeglicher Erlösung abgeschnitten begriffen habe. 14 Dieses gnostische Bild von der gefallenen oder moralisch entleerten Moderne taucht auch in jener berühmten Adorno-Karikatur von Georg Lukács auf, der den Philosophen als einen mit großem Reichtum und kulturellen Privilegien ausgestatteten Menschen beschrieb, welcher sich kein besseres Leben für sich hatte vorstellen können als das, sich als Dauergast im »Grand Hotel Abgrund« einzumieten, von wo aus er in den Schlund des reinen Nichts oder der Sinnlosigkeit hinabblicken konnte, während er es sich mit den feinsten Speisen und Zerstreuungen gutgehen ließ. 15 Natürlich ergehen sich aber nicht alle Versionen der negativistischen Interpretation in solchen kulturellen Karikaturen oder erheben den Vorwurf eines mystischen Dualismus. Ihnen allen gemeinsam ist aber sehr wohl die grundlegende Vorstellung von Adorno als einem Denker, der in der modernen Gesellschaft keinerlei ihr immanente Normativitätsquellen mehr erblickt, die für ihre positive Transformation mobilisiert werden können. Drei spezifische Varianten dieser negativistischen Interpretation stechen aufgrund ihrer philosophischen Scharfsinnigkeit hervor und verdienen es, an dieser Stelle näher beleuchtet zu werden.

14 Zu einer Deutung von Adorno als Gnostiker siehe Michael Pauen, Dithyrambiker des Untergangs. Gnostizismus in Ästhetik und Philosophie der Moderne, Berlin 1994. Ich danke Gordon Finlayson für den Hinweis auf Pauens Buch. 15 Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Neuwied 1962, S. 219.

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Performativer Widerspruch In seinem Buch Der philosophische Diskurs der Moderne von 1985 präsentiert uns Jürgen Habermas eine Reihe von Kapiteln, die verschiedenen Stadien der sich entfaltenden Geschichte der modernen europäischen Philosophie nachgehen. Die Untersuchung beginnt mit Hegel – nicht weil dieser unbedingt als der erste Philosoph des modernen Zeitalters zu betrachten wäre (was ohnehin nicht zutrifft), sondern weil die Annahme plausibel ist, dass er der erste Philosoph war, »für den die Moderne zum Problem geworden ist«. 16 Denn wie vielleicht kein anderer vor ihm hatte er Habermas zufolge begriffen, dass die Moderne insofern besonders ist, als sie sich selbst von den ungeprüften Quellen traditioneller oder überlieferter Normativität entkoppelt und sich eine bestimmte Selbstverpflichtung auferlegt – die nämlich, dass sie »ihre Normativität aus sich selber schöpfen« muss. 17 Dieses Kriterium dient nun als der praktische Maßstab, an dem Habermas die Errungenschaften jedes Beiträgers zur posthegelianischen Philosophie beurteilt. Der junge Hegel hatte ihm zufolge noch die Möglichkeit offengehalten, sich die sittliche Totalität als einen intersubjektiv gestifteten Kommunikationszusammenhang vorstellen zu können; dem reifen Hegel hält er hingegen vor, einem inflationären Vernunftmodell anzuhängen, das er als eine allwissende Subjektivität versteht. Dieses Modell informiere letztlich auch Hegels Politikbegriff: Der Staat erscheint demnach als eine »höherstufige Subjektivität«, insofern er über seinen einzelnen An-

16 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, S. 57. 17 »[D]ie Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muß ihre Normativität aus sich selber schöpfen« (ebd., S. 16).

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gehörigen und jenseits von ihnen steht. 18 Das Fazit der Habermas’schen Analyse lautet, dass Hegels Reaktion auf die Herausforderung des Bedürfnisses der Moderne, sich normativ selbst zu begründen, schlicht darin bestand, die Vernunft zu der arroganten und übermächtigen Gewalt eines »absoluten Wissens« aufzublasen. Dieses exaltierte Modell eines allumfassenden Metasubjekts beeinträchtigt letztlich aber auch die anhaltende Praxis der modernen Kritik, da die entscheidenden Wahrheiten des Zeitalters demzufolge bereits im Vorfeld entschieden sind. »So befriedigt Hegels Philosophie das Bedürfnis der Moderne nach Selbstbegründung nur um den Preis einer Entwertung der Aktualität und einer Entschärfung der Kritik«, wie es bei Habermas heißt. 19 Und dieses antikritische oder finalistische Bild von der Moderne ist für ihn darauf zurückzuführen, dass Hegel eben in der Subjektphilosophie befangen blieb. Es ist an dieser Stelle wohl nicht nötig, jeden der aufeinanderfolgenden Schritte von Habermas’ Untersuchung zu rekonstruieren; unter dem Strich besagt die generelle Lektion seines Buchs, dass der philosophische Diskurs der Moderne, so wie er sich im Anschluss an Hegel entwickelte, dazu tendierte, die Fehler seines Begründers zu wiederholen, da dieser eine ungerechtfertigt starke Betonung auf das isolierte Subjekt gelegt hatte. Besonders deutlich zeigt sich dieser Irrtum an dem Versuch Nietzsches, den Willen zur Macht als ein quasimetaphysisches Prinzip für die gesamte Wirklichkeit zu etablieren. Dieses inflationäre Machtverständnis bleibt zwar der Kritik verpflichtet, ist am Ende aber eine Übung in Genealogie, die nur als eine theatralische Geste der Demaskierung erscheint; ihre echte kritische Zielsetzung verliert sie hingegen zwangsläufig aus dem Auge, weil sie Wahrheit in ein rein ästhetisches Kriterium auflöst. Eine Kritik um der Vernunft willen 18 Ebd., S. 53. 19 Ebd., S. 56.

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wird damit zu kaum mehr als einer Kritik zugunsten eines uneingeschränkten Willens, der seine ekstatische Freiheit wie ein moderner Dionysos feiert. Wie Hegel operiert demnach auch Nietzsche mit einer inflationären Philosophie des Subjekts, die Letzteres von der intersubjektiven Praxis einer Kritik aus Vernunftgründen abschneide. Für Habermas markiert Nietzsche daher auch »den Eintritt in die Postmoderne«, weil sein Denken fatale Probleme offenbart, die in einigen späteren Kapiteln der Philosophiegeschichte wieder auftauchen sollten, am prominentesten bei Martin Heidegger, Georges Bataille, Jacques Derrida und Michel Foucault. 20 In seiner genealogischen Kritik der subjektzentrierten Philosophie schließt Habermas an seine Nietzsche-Analyse dann ein Kapitel an, das Adorno und Horkheimer sowie speziell ihrer Dialektik der Aufklärung gewidmet ist, einem von ihnen beiden gemeinsam verfassten Text, der 1944 fertiggestellt und 1947 offiziell veröffentlicht worden ist, als die traumatischen Erfahrungen des Krieges das Denken seiner Autoren beherrschten. Nicht ohne Grund nennt Habermas diese Schrift denn auch ihr »schwärzeste[s] Buch«. 21 Seine Verfasser, die zweifellos noch unter dem Eindruck der gerade erst enthüllten Verbrechen von Auschwitz standen, gingen dort der quälenden Frage nach, wie eine rationale Moderne in eine derartige Barbarei münden – oder Aufklärung in Mythos umschlagen – konnte. Für Habermas ist ihre Antwort jedoch paradox. Denn obwohl sie immer noch eine Art von Kritik üben wollen, entlehnt ihre genealogische Strategie ihm zufolge doch von Nietzsche die irritierende Gleichsetzung von Vernunft und Macht. Ihre vernunftskeptische Haltung stellt die Möglichkeit von Rationalität überhaupt in Frage und riskiert folglich eine 20 Eine alternative Darstellung des Verhältnisses von kritischer Theorie und Poststrukturalismus findet sich in Martin Saar, »Critical Theory and Poststructuralism«, in: Peter E. Gordon u. a. (Hg.), The Routledge Companion to the Frankfurt School, London 2018, S. 323-335. 21 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 130.

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komplette Verdammung der Moderne als solcher. Adorno und Horkheimer ignorieren also einfach die beständig bestehende Kraft rationaler Kritik und unterschätzen jene noch unerschlossenen Quellen der Normativität in der modernen Gesellschaft, die die Möglichkeit einer emanzipatorischen Transformation von innen heraus in sich bergen. Allerdings erblicken sie in der Vernunft kaum mehr als ein Instrument zur Selbsterhaltung, und indem sie sie letztlich als pure Macht enttarnen, wird, so Habermas, »[d]er Ideologieverdacht [zwar] total, aber ohne die Richtung zu ändern. Er wendet sich nicht nur gegen die unvernünftige Funktion der bürgerlichen Ideale, sondern gegen das Vernunftpotential der bürgerlichen Kultur selber […].« 22 Man könnte spekulieren, dass Habermas deshalb zu diesem Ergebnis kommt, weil er die Dialektik der Aufklärung als eine einzige Großthese und nicht als eine Reihe von »philosophischen Fragmenten« (wie der Untertitel des Buchs lautet) liest. Und, so könnte man ergänzen, diese Lesart bestärkt ihn dann darin, Schlussfolgerungen aus dem Buch zu ziehen, die vielleicht dezidierter sind, als es seine Verfasser eigentlich beabsichtigt hatten. Wenn man also unterstellt, dass das Buch den Anspruch erhebt, eine totale Zusammenschau (nach dem Vorbild von Hegels absolutem Wissen) darzustellen, dann könnte man in der Tat geneigt sein, Habermas darin beizupflichten, dass das negative Urteil dieser Schrift über die Moderne nicht weniger totalisierend und finalistisch ist als jene affirmative Philosophie des Geistes, die ihr implizites Ziel bildet. Zudem können wir uns der Frage ja auch tatsächlich nicht entziehen, ob Adorno und Horkheimer diese Fragmente als eine Gesamtheit verstanden wissen wollten, die eine eigenständige philosophische Doktrin enthält. Es ist nämlich durchaus möglich, dass unsere Interpretation ihrer Thesen gewissen Verzerrungen unterliegt, wenn wir das Buch losgelöst von der 22 Ebd., S. 144.

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allgemeineren Geschichte der kritischen Theorie des 20. Jahrhunderts betrachten. So sollten wir uns zum Beispiel an die gemeinsame Diskussion der beiden Autoren über ihr Werk im Jahr 1946 erinnern, in der Horkheimer ihre Pläne für einen zweiten Band erwähnt und ihre gemeinsame Aufgabe nicht als restlose Aburteilung, sondern vielmehr als »Rettung« der Aufklärung charakterisiert. 23 Eine weitere Frage ist jedoch die, ob wir richtigliegen, wenn wir die Dialektik der Aufklärung angesichts ihrer kollektiven Urheberschaft überhaupt als eine einheitliche Aussage wie aus einem Guss betrachten. Von Rolf Tiedemann zusammengetragene Belege sowie Anmerkungen von Gunzelin Schmid Noerr deuten vielmehr darauf hin, dass die Fragmente das Ergebnis einer Konversation gewesen sind, in der es den beiden Gesprächspartnern nicht gelungen ist, ihre Differenzen vollständig auszuräumen. 24 Und angesichts dieser zahlreichen Bedenken ist dann eben auch die Frage angebracht, ob wir dieses Buch wirklich als einen getreuen Ausdruck von Adornos spezifischen philosophischen Positionierungen lesen dürfen oder nicht. Trotz dieser diversen Fragen können wir jedoch nicht bestreiten, dass die Dialektik der Aufklärung ihren langen und einzigartigen Schatten auf die Geschichte der kritischen Theorie geworfen hat, so dass Habermas diesem Werk ganz zu Recht einen prominenten Platz im philosophischen Diskurs der Moderne zuweist. Seiner Auffassung nach enthält sie zudem weitere Hinweise darauf, warum die Subjektphilosophie im Rahmen der größeren philosophischen Tradition weiterhin tonangebend geblieben ist. Adorno und Horkheimer deuten die Geschichte der Vernunft demnach nämlich zu einer Geschichte der instrumentellen Vernunft 23 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, [Rettung der Aufklärung. Diskussion über eine geplante Schrift zur Dialektik] (1946), in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 12, Frankfurt/M. 1985, S. 594. 24 Siehe zum Beispiel das »Vorwort des Herausgebers«, in: ebd., S. 15-20.

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um, in der diese ihre Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion verliert und zu einem Werkzeug wird, das nur den eigenen strategischen Zielen des Subjekts dient. Die Vernunft assistiert der Menschheit dabei, die Herrschaft über die Natur zu erlangen, unterdrückt aber zugleich die Natur, die ebenfalls zum menschlichen Dasein gehört. Naturbeherrschung bedeutet daher Selbstbeherrschung, was all jenen repressiven Pathologien die Bühne bereitet, die später für die bürgerliche Moderne typisch werden sollten. In einer Hommage an Kant bezeichnen die beiden Autoren diesen Verrat der Vernunft an ihren eigenen selbstgesetzten Zwecken denn auch als einen dialektischen: Der Drang zur totalen Freiheit kulminiert in einem Zustand totaler Unfreiheit; die Vernunft überschreitet sich selbst und verfällt dem Irrtum. Für Habermas baut diese Argumentation nun allerdings das Schreckgespenst eines nicht handhabbaren Paradoxons auf. Denn wenn die Vernunft als nichts anderes als instrumentelle Vernunft enttarnt wird, dann können die Autoren den vernünftigen Status ihrer eigenen Kritik nicht mehr begründen; »die Ideologiekritik [behält folglich] nichts zurück, woran sie appellieren könnte«, so seine Schlussfolgerung. 25 Nietzsche hatte sich immerhin noch als von den Fesseln der Vernunft völlig befreit erklären und behaupten können, dass seine philosophischen Bemühungen nur vom ästhetischen Standpunkt aus begründet seien; Adorno und Horkheimer sind hingegen nicht gewillt, diesen letzten Schritt in einen reinen Ästhetizismus zu tun. Sie lassen zwar nicht einen einzigen Augenblick in der Geschichte der Aufklärung zu, der nicht bereits in Komplizenschaft mit der Macht steht, wollten aber dennoch am ursprünglichen Gestus der Aufklärung als einer Praxis der kritischen Entlarvung festhalten. Dieser Gestus hat seinen grundlegenden Sinn als Methode zur Offenbarung der Wahrheit jedoch eingebüßt. Vielmehr wendet sich die Aufklärung hier gegen sich 25 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 143.

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selbst und zieht die Geltung ihrer eigenen Grundlagen in Zweifel – wodurch nach Habermas »[d]ie Kritik […] total« wird. 26 An dieser Stelle kommt für ihn dann aber das Problem des performativen Widerspruchs zum Tragen: »Vernunft hat sich, als instrumentelle, an Macht assimiliert und dadurch ihrer kritischen Kraft begeben – das ist die letzte Enthüllung einer auf sich selbst angewandten Ideologiekritik. Diese beschreibt allerdings die Selbstzerstörung des kritischen Vermögens auf paradoxe Weise, weil sie im Augenblick der Beschreibung noch von der totgesagten Kritik Gebrauch machen muß. Das Totalitärwerden der Aufklärung denunziert sie mit deren eigenen Mitteln.« 27 Habermas ist jedoch ein hinreichend wohlwollender Interpret, um einzuräumen, dass Adorno, wenn er schon nicht versucht hat, dieses Paradox aufzulösen, es doch zumindest zur Kenntnis nahm. Seine bloße Akzeptanz reicht in seinen Augen aber eben nicht aus, um ihn vom Vorwurf des performativen Widerspruchs freizusprechen. Statt einen Weg aus dieser Sackgasse heraus zu suchen, findet er sich einfach ab mit »der Verlegenheit einer Kritik, die die Voraussetzungen ihrer eigenen Geltung angreift«. 28 Alles, was ihm (und Horkheimer) noch bleibt, ist daher die Vision einer rationalisierten Moderne in totaler Verblendung. Denn da ihnen zufolge ja alle zur Verfügung stehenden Normen mit vernünftiger Geltung bereits ihrer Komplizenschaft mit der Macht überführt sind, können die Autoren jener »philosophischen Fragmente« uns lediglich noch das Bild von einer totalitären Immanenz präsentieren, der es an sämtlichen normativen Ressourcen mangelt – außer vielleicht jenen, die als Erinnerungen an eine in Bedrängnis gera26 Ebd., S. 144. 27 Ebd. Siehe dazu auch Martin Jay, »The Debate Over the Performative Contradiction. Habermas Versus the Poststructuralists«, in: Axel Honneth u. a. (Hg.), Philosophical Interventions in the Unfinished Project of Enlightenment, Cambridge (Mass.) 1992, S. 261-279. 28 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 154.

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tene Theologie oder als die mimetischen Refugien der modernen Kunst fortleben. Doch trotz dieser nichtrationalen Überreste von Hoffnung nimmt die verwaltete Gesellschaft bei ihnen generell den Anschein eines huis clos, eines abgedichteten Systems an, aus dem heraus es wenig Aussichten für Kritik, geschweige denn für ein Entkommen gibt. 29 Für Habermas ist dieses harsche Urteil über die Moderne allerdings sowohl übertrieben als auch vorschnell, weil es ein einseitiges Bild von ihr zeichnet, das sich zudem dagegen verwahrt, die emanzipatorischen Potenziale kritischer Vernunft anzuerkennen, die immer noch in der Moderne selbst verborgen sind. Adorno und Horkheimer hätten daher nur dann ein Anrecht auf ihre fatalistische Konklusion, wenn sie tatsächlich nachweisen könnten, »daß es keinen Ausweg gibt«. 30 Die Frage, ob es sich bei diesen Überlegungen um eine zutreffende Interpretation ihres Buchs handelt, werde ich später beantworten. Jetzt möchte ich zunächst einmal nur an das grundlegende Motiv erinnern, das Habermas in seiner Kritik antreibt. 31 Im Anschluss an Kant wie auch an Hegel bekennt er sich zu der grund29 »Es ist wahr, daß ich die Grundannahme der ›Kritischen Theorie‹, so wie sie Anfang der vierziger Jahre Gestalt angenommen hat, nicht teile. Die Annahme, daß die instrumentelle Vernunft so weit zur Herrschaft gelangt ist, daß aus dem totalen Verblendungszusammenhang so recht kein Weg mehr herausführt, in dem nur noch Blitze von Einsichten möglich sind, die einzelnen Individuen zustoßen« (Jürgen Habermas, [»Interview mit Detlef Horster und Willem van Reijen (1979)«], in: ders., Kleine politische Schriften I-IV [1981], Berlin 2021, S. 511-532, hier S. 513). 30 »Wer an einem Ort, den die Philosophie einst mit ihren Letztbegründungen besetzt hielt, in einer Paradoxie verharrt, nimmt nicht nur eine unbequeme Stellung ein; er kann die Stellung nur halten, wenn mindestens plausibel zu machen ist, daß es keinen Ausweg gibt« (Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 155). 31 Eine hervorragende Analyse seiner Vorhaltungen findet sich in James Gordon Finlayson, »Morality and Critical Theory. On the Normative Problem of Frankfurt School Critical Theory«, in: Telos 146 (2009), S. 7-42.

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legenden These, dass die Moderne nur dann ihre spezifische Legitimität behaupten kann, wenn sie sich Normen verschreibt, die sie für sich und aus sich selbst hervorgebracht hat. Dieses historisierte Kriterium der Selbstermächtigung [self-authorization] schließt jedes andere aus, das der modernen Gesellschaft in all ihrer mannigfaltigen Komplexität nicht immanent ist, und lässt zudem die Erwartung aufkommen, dass das Schicksal unserer Gesellschaft gänzlich in unseren eigenen Händen liegt. 32 Im Hintergrund steht dabei die Prämisse eines sich selbst verwirklichenden Geistes, dessen vernünftige Vermögen bei allen Angehörigen einer modernen Demokratie gleichermaßen vorhanden sind. Gültig für uns alle wird diese Prämisse aber nur dann sein, wenn wir an unserem Glauben an eine immanente Normativität festhalten, das heißt an der Auffassung, dass auch die moderne Gesellschaft noch zumindest einen gewissen normativen Gehalt in sich trägt, den wir für ihre Transformation ins Werk setzen können. Was in Habermas’ Augen an der Dialektik der Aufklärung am meisten verstört, ist daher auch der Umstand, dass ihre Verfasser anscheinend behaupten wollen, innerhalb der Grenzen unserer mittlerweile unentrinnbar gewordenen Moderne seien sämtliche Gehalte dieser Art ausgelöscht. Zum Teil auch unter dem Eindruck von Max Webers Analyse der Entzauberung und der einseitigen Rationalisierung kommen Adorno und Horkheimer demzufolge zu dem Schluss, dass eine rationalisierte Moderne unter einem tiefgreifenden und vielleicht sogar fatalen normativen Defizit leidet, von dem nicht angenommen werden kann, dass sie es mit ihren eigenen Mitteln allein auszuräumen vermag. 33 32 Zum Gedanken der Selbstermächtigung siehe Peter E. Gordon, »SelfAuthorizing Modernity« (Rezension von: Terry Pinkard, German Philosophy, 1760-1860, und Frederick Beiser, German Idealism. The Struggle Against Subjectivism, 1781-1801), in: History and Theory 44:1 (2005), S. 121-137. 33 Zum Thema des »normativen Defizits der Moderne« siehe Peter E. Gordon, »Contesting Secularization. Remarks on the Normative Deficit of

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Honneth und Anerkennung Der Philosoph Axel Honneth, prominentester Vertreter der »dritten Generation« der kritischen Theorie, teilt mit Habermas die grundsätzliche Auffassung, dass es Adorno und Horkheimer leider nicht gelungen sei, ihre kritische Theorie mit einer überzeugenden Begründung ihrer grundlegenden normativen Annahmen auszustatten, wie sehr wir deren philosophisches Erbe auch schätzten. Honneths Argumentation verdient es, genauer unter die Lupe genommen zu werden. 34 Dieser zufolge hatte Adorno »schon früh die Fetischismuskritik von Marx so entschieden zum Ausgangspunkt seiner Gesellschaftskritik gemacht, daß er in der sozialen Alltagskultur keine Spur einer innerweltlichen Transzendenz mehr ausmachen konnte«. 35 Dies war ein verbreiteter Fehler unter den Vertretern der ersten Generation der kritischen Theorie, weshalb Adorno und seine Kollegen in der Folge mit Blick auf die normativen Grundlagen ihrer eigenen kritischen Praxis einem lähmenden Skeptizismus anheimfielen. Dadurch blieben sie nach Honneth einem »marxistischen Funktionalismus« verhaftet, der sie dazu verführte, »innerhalb der gesellschaftlichen Realität einen so geschlossenen Kreislauf von kapitalistischer Herrschaft und kultureller Manipulation anzunehmen, daß darin kein Raum mehr für eine Zone der prakModernity after Weber«, in: Katja Guenther u. a. (Hg.), Formation of Belief. Historical Approaches to Religion and the Secular, Princeton 2019, S. 184-201. Siehe auch ders., »Kritische Theorie zwischen dem Heiligen und dem Profanen«, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 1 (2016), S. 3-34. 34 Alle Zitate in der folgenden Diskussion stammen aus Axel Honneth, »Die soziale Dynamik von Mißachtung«, in: ders., Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt/M. 2000, S. 88-109, hier S. 90-95. 35 Ebd., S. 90 (meine Hervorhebung, P. G.).

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tisch-moralischen Kritik bleiben konnte«. Das Ergebnis war eine normative Aporie in der kritischen Theorie, nämlich »auf eine vorwissenschaftliche Instanz der Emanzipation angewiesen zu sein, deren Existenz aber nicht mehr empirisch ausweisen zu können«. Dieses Problem eines normativen Defizits der kritischen Theorie erreichte den Gipfel seiner Unlösbarkeit Honneth zufolge dann in der Philosophie Adornos: »Der Umschlag der Kritischen Theorie in den geschichtsphilosophischen Negativismus Adornos markiert schließlich den historischen Punkt, an dem das Unternehmen einer historisch-sozialen Rückversicherung der Kritik vollends zum Erliegen kommt; in den Reflexionen der ›Dialektik der Aufklärung‹ verbleibt als einziger Ort, an dem sich so etwas wie eine innerweltliche Transzendenz vollziehen könnte, nur noch die Erfahrung der modernen Kunst.« 36 Und diese philosophische Aporie hat die kritische Theorie dann auch vor ihre größte ungelöste Herausforderung gestellt. Denn mit jener »negativistischen Grundorientierung«, die den Autoren gemeinsam war, »haben Horkheimer und Adorno ein Problem hinterlassen, das seither am Anfang jedes Versuchs einer Wiederanknüpfung an die Kritische Theorie zu stehen hat« und mit dem wir uns auch heute noch auseinandersetzen müssen; »solange nämlich das linkshegelianische Modell der Kritik überhaupt bewahrt werden soll, muß ein theoretischer Zugang zu jener sozialen Sphäre überhaupt erst wieder neu geschaffen werden, in der ein Interesse an Emanzipation vorwissenschaftlich verankert sein kann«. 37 Kritik kann nach Honneth aber nur dann in Gang kommen, wenn sie einen immanenten Ansatzpunkt für dieses emanzipatorische Interesse findet. »Ohne den wie auch immer bewerkstelligten Ausweis, daß der kritischen Perspektive innerhalb der sozialen Realität ein Bedürfnis oder eine Bewegung entgegenkommt, läßt 36 Ebd., S. 91 (meine Hervorhebung, P. G.). 37 Ebd., S. 92.

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sich die Kritische Theorie heute in keiner Weise mehr fortsetzen; denn von anderen Ansätzen der Sozialkritik unterscheidet sie sich nicht mehr durch eine Überlegenheit im soziologischen Erklärungsgehalt oder im philosophischen Begründungsverfahren […]«, wie er schreibt; ihr Überlegenheitsanspruch gegenüber kritischen Konkurrenzunternehmen ist demzufolge nur dann mit Recht aufrechtzuerhalten, wenn sie ihre »Maßstäb[e] der Kritik« mit einem »objektiven Halt in der vorwissenschaftlichen Praxis« auszustatten vermag. 38 Wie Habermas ist auch Honneth der Überzeugung, dass Adorno die gesellschaftliche Wirklichkeit als ein geschlossenes und selbstidentisches System ansah. Die These von der totalen Falschheit habe ihn jedoch sämtlicher starker Ressourcen beraubt, mit deren Hilfe er erklären könnte, welche positiven Normen dieses System denn eigentlich verletzt. Denn wenn die soziale Realität eine Sphäre unterschiedsloser Falschheit ist, dann heißt das, dass »darin kein Raum mehr für eine Zone der praktisch-moralischen Kritik bleiben konnte«. 39 Honneths grundlegende Ansicht ist demnach die, dass Adorno alle Subjekte unserer bestehenden Ordnung als im »›Verblendungszusammenhang‹« befangen und in einem solchen Ausmaß »von instrumentellen Einstellungen durchzogen« betrachtet, dass er sogar Zweifel »hinsichtlich der Chancen einer kollektiven Erkenntnis der kapitalistischen Realität« aus dieser Perspektive hegt. 40 In mindestens einem wichtigen Punkt weicht Honneths Adorno-Interpretation allerdings von der Habermas’schen ab. Er schreibt Adorno nämlich immerhin noch einen minimalen und negativis38 Ebd. 39 Ebd., S. 91. 40 Axel Honneth, »Eine Physiognomie der kapitalistischen Lebensform. Skizze der Gesellschaftstheorie Adornos«, in: ders., Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt/M. 2007, S. 7092, hier S. 88.

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tischen Maßstab für seine Gesellschaftskritik zu, und zwar in Gestalt des Leidens. Adorno selbst bemühe sich zwar nie um eine umfassende philosophische Erklärung dafür, warum das Leiden als kritischer Maßstab fungieren könnte, und scheine zudem auch skeptisch zu sein, was die Aussichten für eine rational überzeugende Erklärung dieser Art angeht; trotzdem ist Honneth davon überzeugt, dass sich dieser an vielen Stellen seines Werks unmissverständlich auf dieses Phänomen als eine Art Vorbedingung für eine kritische Praxis beziehe. So heißt es bei ihm im eben bereits zitierten Aufsatz über die »Physiognomie der kapitalistischen Lebensform«: »Der Begriff des ›Leidens‹, den Adorno verwendet, ist nicht im Sinne der Konstatierung einer expliziten, sprachlich artikulierten Erfahrung gemeint; vielmehr wird er überall dort ›transzendental‹ supponiert, wo die begründete Vermutung besteht, daß die Menschen durch die Einschränkung ihrer rationalen Fähigkeiten eine Einbuße an unversehrter Selbstverwirklichung und Glück erfahren müssen.« 41 Die hauptsächliche Schwierigkeit an Adornos Philosophie besteht nach Honneth allerdings darin, dass jener sich nie die Mühe macht, zu erklären, warum das Leiden als kritische Norm dienen könnte. »[Z]war finden sich [bei Adorno] Verweise auf die Unvermeidbarkeit somatischer Leidensimpulse an zahllosen Stellen«, wie er schreibt, »aber eine Begründung für deren normative oder gesellschaftskritische Aufwertung bleibt regelmäßig aus.« 42 Jede wohlwollende Rekonstruktion seiner Philosophie müsste deshalb ihren Argumentationsgang dadurch unterfüttern, dass sie das Leiden mit der normativen und begrifflichen Rechtfertigung versieht, die es benötigt. Und in dem eben schon zitierten wichtigen Aufsatz aus dem Jahr 2006 bemüht sich Honneth nun, genau dies zu tun. Dort vertritt er (auf überzeugende Weise) die These, dass 41 Ebd. 42 Ebd., S. 89.

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Adorno sich nur deshalb auf das Leiden als eine Art negative Norm für Gesellschaftskritik berufen könne, weil er von Freud eine rudimentäre und großteils implizite Anthropologie entlehnt habe, nach der der Mensch mit grundlegenden Bedürfnissen und Impulsen nach somatischer Befriedigung ausgestattet sei, die von unseren heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen aber abgeblockt würden: »Nach meiner Überzeugung leistet Adorno eine derartige Anreicherung seines Begriffs des ›Leidens‹, indem er ihn unmerklich mit Komponenten der Psychoanalyse Freuds ausstattet: Aus dem Leiden als einem Impuls, mit dem die Subjekte auf die kapitalistischen Lebensbedingungen reagieren, wird dank dieser kategorialen Aufladung der präreflexive Wunsch, von Verhältnissen befreit zu werden, die unserem Potential an nachahmender Vernunft Fesseln anlegen.« 43 An dieser Stelle gerate Adorno jedoch in eine philosophische Aporie: Wenn er das Leiden als eine negative Norm konstruieren wolle, dann müsse er dessen »impulshaften Reaktionen« »einen kognitiven Gehalt […] verleihen«, zumindest in dem Sinne, dass diese Reaktionen selbst schon »die Wahrnehmung einer Vernunftbeschränkung« ausdrücken würden. 44 Honneth zufolge vermag es Adorno aber nicht, diesen kognitiven Gehalt zu liefern. Bestenfalls könnte er sich so auf das Leiden beziehen, als ob es einen sich selbst rechtfertigenden Maßstab darstelle. So schreibe Adorno in der Negativen Dialektik ja auch: »›[D]as leibhafte Moment [des Leidens, A. H.] meldet der Erkenntnis an, daß Leiden nicht sein, daß es anders werden solle.‹« 45 Dieses Zitat kommentiert Honneth mit der Bemerkung: »In diesem Satz ist freilich auch schon der zweite Schritt vorweggenommen, den Adorno vollzogen haben muß, um zwischen ›Leidensimpulsen‹ und subjektiver Wider43 Ebd., S. 90. 44 Ebd. 45 GS 6, S. 203, zitiert nach ebd.

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ständigkeit eine immanente Verknüpfung herstellen zu können: Die Empfindung von Leid muß nicht nur rudimentär die Erkenntnis einschließen, daß das eigene Vernunftpotential nur eingeschränkt zur Entfaltung gelangen kann, sondern zugleich den Wunsch beinhalten, von der damit verspürten Deformation befreit zu werden.« 46 Von Freud übernehme Adorno dabei den Gedanken, dass das neurotische Leiden bereits selbst schon ein »Bedürfnis nach Genesung« zum Ausdruck bringe. Daher gelangt Honneth zu dem Schluss, dass die Deformation einer leidenden Menschheit in Adornos Philosophie auch bereits einen Protest gegen die Verhältnisse impliziert, die sie verursacht haben: »Übertragen auf das kapitalismuskritische Bezugssystem, innerhalb dessen Adorno vom ›Leiden‹ der Subjekte spricht, ergibt sich aus dieser Argumentation, daß die negativen Empfindungen einer Vernunftdeformation stets auch den Wunsch nach einer Befreiung von den sozialen Pathologien nach sich ziehen; insofern garantieren die Leidensimpulse, zugespitzt gesagt, eine Widerständigkeit der Subjekte gegen die instrumentellen Zumutungen der kapitalistischen Lebensform.«47 Darüber hinaus führe Adorno aber auch die Erinnerung an die Liebe und mimetische Verbundenheit der Kindheit an, um das Bild eines unentstellten Menschseins zu untermauern, vor dessen Hintergrund er den Umfang der gegenwärtigen Verzerrungen ermessen kann: »[S]elbst der Erwachsene, der sich gänzlich konform verhält, bewahrt [demnach] eine schwache Erinnerung an die Herkunft seines Denkens aus frühen Momenten der Empathie und Zuwendung. Ein derartiges Erfahrungsresiduum ist es, auf das Adorno an verschiedenen Stellen seine Zuversicht stützt, daß die Subjekte trotz aller Verblendung weiterhin ein Interesse an der Befreiung ihrer Vernunft besitzen […].« 48 46 Ebd., S. 90f. 47 Ebd., S. 91. 48 Ebd.

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Meine eigene Adorno-Deutung in diesem Buch hat zwar vieles mit der Honneths gemeinsam, aber ich habe trotzdem den Eindruck, dass er jenem Konzept des unentstellten Menschseins, das Adornos Kritik durchdringt, nicht genügend Rechnung trägt. 49 Er versteht ihn vor allem als einen Theoretiker einer negativen Normativität, in dem Sinne nämlich, dass nach Adorno das menschliche Leiden im Zusammenspiel mit dem damit korrelierten Phänomen »sozialer Pathologien« als derjenige negative Maßstab fungieren soll, vor dessen Hintergrund wir unser implizites Bild eines unverzerrten Menschseins entwickeln können. Wie ich später noch genauer auseinandersetzen werde, gelingt es dieser negativistischen Interpretation jedoch möglicherweise nicht, die Komplexität von Adornos Werk vollständig zu erfassen. 50 Honneth hat zwar darauf verwiesen, dass dieser Szenen aus der Kindheit als Bil49 Eine abweichende Darstellung der Differenzen zwischen Honneth und Adorno findet sich in Naveh Frumer, »Negative Freedom or Integrated Domination? Adorno versus Honneth«, in: European Journal of Philosophy 28 (2020), S. 126-141. 50 Was Adorno das »richtige Leben« nennt, weist eine große Ähnlichkeit zum normativ reichhaltigen Begriff des Guten auf. Dieses Konzept bringt ihn in Distanz zur Tradition der liberalen politischen Theorie, in der zumeist relativ dünne Begriffe von Gerechtigkeit als Fairness an die Stelle des Versuchs getreten sind, ein universelles Ideal des menschlichen Gedeihens hochzuhalten. Adornos Bekenntnis zu diesem Ideal rückt ihn daher eher in die Nähe neoaristotelischer und hegelianischer Traditionen als in die des politischen Liberalismus. Zumindest in dieser Hinsicht hat er auch viel mit der von Axel Honneth entworfenen Philosophie gemeinsam. Vor allem nimmt er Honneths Ansicht bereits vorweg, dass wir, wenn wir das Falsche in der Gesellschaft kritisieren, dabei irgendein Ideal von »[den]jenigen Bedingungen« im Kopf haben müssen, »die für ein gutes Leben unter uns eine notwendige Voraussetzung darstellen«. Honneths Diagnose sozialer Pathologien ergäbe ohne diesen normativ reichhaltigen Begriff der Bedingungen fürs menschliche Gedeihen allerdings auch gar keinen Sinn. Zum Begriff der sozialen Pathologie siehe Honneth, Das Andere der Gerechtigkeit, bes. Kap. 1, »Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie«,

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der für ein unentstelltes Menschsein anführt, aber diese flüchtigen Erinnerungen an temps perdu sind kaum einzigartig, und zudem wäre es auch unplausibel, wenn Adorno eine so starke Betonung nur auf einen einzigen Erfahrungstypus gelegt hätte. Schließlich stoßen wir überall in seiner Philosophie auf Andeutungen darüber, wie eine unverzerrte Erfahrung aussehen würde, und tatsächlich ist es für seine Überlegungen von entscheidender Bedeutung, dass solche Erfahrungen eben nicht nur in einem ganz spezifischen und eng umrissenen Bereich zu finden sind, sondern über die ganze Sphäre sowohl des individuellen als auch des kollektiven alltäglichen Lebens hinweg auftreten. Trotz dieser Meinungsverschiedenheit teile ich jedoch mit Honneth eine ganz wesentliche Überzeugung, die nämlich, dass Adorno das Überdauern einer nicht entstellten, intersubjektiven Bindung als äußerst relevant erachtet. In seiner eigenen Philosophie buchstabiert er diese Bindung in Begriffen der Anerkennung aus, ein Phänomen, das er unermüdlich und ausgiebig erforscht hat, um die kritische Theorie mit der für sie erforderlichen robusten normativen Begründung auszustatten. Meine in diesem Buch dargelegten Überlegungen könnten insofern auch als eine weitere Ausarbeitung von Honneths Einsicht verstanden werden: Anerkennung spielt in meinen Augen zwar tatsächlich eine unverzichtbare Rolle für die Gesellschaftstheorie, sollte aber am ehesten als die formalisierte und begrifflich elaborierte Beschreibung einer vorangehenden affektiven Bindung verstanden werden. Speziell werde ich dafür argumentieren, dass uns Adornos Philosophie bereits ein Modell unserer grundlegenden Responsivität gegenüber anderen und der uns umgebenden Welt liefert, und dieses mimetische Vermögen zum Antwortgeben auf das, was um uns herum existiert, kann als die affektive Vorbedingung für Anerkennung S. 11-69. Das Zitat stammt aus ebd., Kap. 2, »Über die Möglichkeit einer erschließenden Kritik«, S. 70-87, hier S. 80.

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verstanden werden. Das bedeutet: Jede moralische Beziehung zwischen Subjekten muss voraussetzen, dass das Subjekt seine Fähigkeit beibehält, sich selbst in einem Zustand der Vulnerabilität offenzuhalten für die Erfahrungen anderer, die von ihm gleichfalls als Subjekte angesehen werden. Dies werde ich als Adornos Ethik der Vulnerabilität bezeichnen. 51 Mit diesem Ansatz bin ich nicht allein. Die hier entwickelte Perspektive verdankt sich in erheblichem Maße Jay Bernsteins exzellenter Studie aus dem Jahr 2001, die dafür plädiert, Adorno als Vertreter eines »ethischen Modernismus« zu betrachten. Der Autor legt darin eine besonders eindrucksvolle Interpretation der von ihm so genannten »flüchtigen ethischen Erfahrung« vor und geht 51 Meine hier präsentierten Überlegungen könnten auch noch in einer anderen Hinsicht zu Honneths philosophischem Unternehmen beitragen. Dieser behauptet, dass die kritische Theorie nur dann funktionieren könne, wenn sie das vortheoretische und normativ gehaltvolle Phänomen intersubjektiver Anerkennung zu ihrem Ausgangspunkt mache. Da die soziale Wirklichkeit durch die kontinuierliche Aktivität der wechselseitigen Anerkennung menschlicher Subjekte erzeugt werde, sei es möglich, unser gemeinsames Interesse an einer emanzipatorischen gesellschaftlichen Praxis in dieser basalen und konstitutiven Eigenschaft unserer geteilten Sozialität zu verankern. Doch dies zeigt schon, dass die Theorie der Anerkennung nicht für sich steht. Denn für die These, dass Anerkennung für unser soziales Sein von essenzieller Bedeutung ist, brauchen wir bereits im Vorfeld ein Modell davon, wie menschliche Wesen eigentlich beschaffen sein müssen, damit eine solche Anerkennung überhaupt gelingen kann. Es braucht also eine Art philosophische Anthropologie oder eine Theorie des gemeinschaftlichen Vermögens zur Anerkennung, das einfach deshalb zu uns gehört, weil wir Menschen sind. Eines meiner Ziele, die ich in diesem Buch verfolge, besteht denn auch darin, ein Verständnis für diese vortheoretische Befähigung oder Disposition zu ermöglichen, die ich Responsivität nenne. Hinweise auf dieses Vermögen lassen sich meiner Ansicht nach in Adornos philosophischen Schriften finden, und auch Honneth selbst hat die Verbindung zwischen seiner Theorie der Anerkennung und Adornos Begriff der Mimesis bemerkt. Siehe zum Beispiel die entsprechenden Bemerkungen in Axel Honneth, Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie, Frankfurt/M. 2005, bes. S. 51.

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deren normativem Status nach, weil diese ihm zufolge einen »Verheißungscharakter« aufweisen. Die von mir an dieser Stelle entwickelte Position weicht allerdings in mehreren Hinsichten von der Bernsteins ab, vor allem in Bezug auf den Versuch, die ästhetische Theorie und Erfahrung in den größeren Rahmen von Adornos Ethik der Vulnerabilität zu integrieren. 52 Doch bevor ich mich meiner eigenen Adorno-Deutung zuwende, möchte ich noch eine dritte Interpretation näher betrachten, die die negativistische Lesart seiner Philosophie auf die absolute Spitze treibt.

Weniger falsch leben Neben Habermas und Honneth haben wir auch Fabian Freyenhagen sehr viel zu verdanken, der mit seiner 2013 erschienenen Studie unter dem Titel Adorno’s Practical Philosophy. Living Less Wrongly ein luzides und umsichtiges Werk vorgelegt hat, das ich zu den fundiertesten Versuchen zählen würde, mit dem Problem der Normativität im Denken Adornos umzugehen. 53 Auf den ersten Blick scheinen die Deutungen von Habermas und Freyenhagen nicht viel gemeinsam zu haben: Ersterer hält Adorno und Horkheimer vor, sich einer Art allumfassendem Skeptizismus unterworfen zu haben, da sie in seinen Augen keinerlei Vertrauen in das emanzipatorische Versprechen der Aufklärung mehr setzten. Die beiden Autoren würden zwar an der demaskierenden Geste der Ideologiekritik festhalten, aber nicht fähig sein, auch nur irgendeinen rationalen Maßstab zur Begründung dieser kritischen Praxis aufrechtzuerhalten – wodurch sie in den erwähnten perfor52 J. M. Bernstein, Adorno. Disenchantment and Ethics, Cambridge 2001. Die Zitate stammen von S. 443 und 447. 53 Fabian Freyenhagen, Adorno’s Practical Philosophy. Living Less Wrongly, Cambridge 2013.

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mativen Widerspruch abgleiten. Und dem sich daraus ergebenden Porträt einer rationalisierten Moderne fehle es folglich an jeder immanenten Normativitätsquelle, weshalb sie die Aufklärung eben zu einer totalitären umdeklarieren müssten. Freyenhagen geht das Problem der Normativität in Adornos Werk nun zwar direkt an, akzeptiert das Habermas’sche Verdikt allerdings nicht. 54 Vielmehr legt er eine wohlwollende Rekonstruktion von Adornos Position vor, die versucht, dessen Werk vom Vorwurf des performativen Widerspruchs zu befreien, die aber zugleich das Bild des Philosophen als eines totalisierenden Skeptikers in Bezug auf positive Normen auch ernst nehmen will. 55 Freyenhagen vertritt dabei die These, dass Adorno ein »Negativist durch und durch« sei, und zwar in mindestens zwei unterschiedlichen, aber miteinander zusammenhängenden Hinsichten. 56 Zum einen sei er Negativist im substanziellen Sinne, da er unsere gegenwärtig bestehende Gesellschaft als fundamental schlecht oder falsch betrachte; zum anderen sei er es aber auch im epistemischen Sinne, da er bestreite, dass wir als Mitglieder einer schlechten Gesellschaft irgendein Wissen vom Guten haben können. Diese beiden Hinsichten werden dann in einer Doktrin zusammengeführt, die Freyenhagen als »metaethischen Negativismus« bezeichnet. Adorno glaube nämlich, dass er Normativität »auch bei fehlender Erkenntnis des Guten, Richtigen oder irgendeines positiven Werts« begründen könne. 57 Allerdings leugne er nicht nur unser Wissen vom Guten, sondern sogar unsere Fähigkeit, uns irgendeine kontrafaktische Vision menschlichen Gedeihens überhaupt vorstellen 54 Ebd., S. 7. 55 Ebd., S. 22. 56 Ebd., S. 20. 57 Ebd., S. 10. Siehe auch ders., »›Aber was das Unmenschliche ist, das wissen wir sehr genau‹. Zur Normativitätsproblematik bei Adorno«, in: Sven Ellmers, Philip Hogh (Hg.), Warum Kritik? Begründungsformen kritischer Theorien, Weilerswist 2017, S. 229-257.

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oder sie zum Ausdruck bringen zu können. Diesen Punkt formuliert Freyenhagen in allerstärkster Form so: Die bestehende soziale Welt sei »so grundlegend verblendet, dass wir uns nicht einmal begrifflich klarmachen oder uns ausmalen können, worin eine verwirklichte Menschheit überhaupt bestehen würde«. 58 Diese negativistische Deutung von Adornos Werk ist nun recht verwirrend. Denn wenn uns jeder kritische Maßstab fehlt, ist kaum einzusehen, wie dieser jemals behaupten könnte, dass alle gesellschaftlichen Arrangements kritikwürdig oder falsch wären. Gerade die Verurteilung unserer sozialen Verhältnisse als falsch setzt ja ganz offensichtlich ein wie auch immer partielles oder rudimentäres Wissen davon voraus, wie es wäre, wenn diese Verhältnisse richtig wären. Freyenhagen versucht nun, Adorno dadurch aus dieser misslichen Lage zu befreien, dass er auf ein »Potenzial« des grundlegenden menschlichen Funktionierens verweist, das in unserer falschen Gesellschaft zwar unverwirklicht bleibe, uns aber dennoch ermögliche, das Falsche zu erkennen. Adorno könnte demnach als Vertreter einer Art von »negativem Aristotelismus« verstanden werden. Anders ausgedrückt: Er sei der Überzeugung gewesen, dass es ein unerfülltes, aber beschädigtes Potenzial im Menschen gebe, das als ein praktisches Postulat fungiere. Wir wissen, dass die Menschheit gegenwärtig unter armseligen Bedingungen lebt; das heißt, wir weisen ein von Freyenhagen so genanntes »weitverbreitetes Defizit« in unserem »grundlegenden Funktionieren« auf. Doch diese Idee von einem Defizit impliziert immer noch ein nicht verwirklichtes Potenzial, das den Status eines aristotelischen ergon besitzt, aber mit dem entscheidenden Unterschied, dass es uns als robuster Begriff noch nicht zugänglich ist. »Wir können«, so wendet Freyenhagen allerdings ein, »von diesem Potenzial gegenwärtig nichts Positives wissen« – wobei er zugleich einräumt, dass wir ohne es »uns die Welt nicht begreiflich machen 58 Ebd., S. 239 (meine Hervorhebung, P. G.).

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können«. 59 Seine Schlussfolgerung lautet, dass unsere normative Orientierung nur eine negative sein könne: Sie sei gegen das Schlechte statt auf das Gute gerichtet. Das Beste, was Adorno daher anraten könne, sei eine minimalistische Ethik des »weniger falsch Lebens«. Der Ansatzpunkt für eine solche minimalistische Ethik nimmt nach Freyenhagen die Gestalt des von Adorno so genannten »neuen kategorischen Imperativs« an: dass alle Bürgerinnen und Bürger im Stande ihrer Unfreiheit ihr »Denken und Handeln« so ausrichten sollten, dass Auschwitz oder ähnliche Dinge sich nie wiederholen würden.60 Wichtig zu bemerken ist, dass Adorno den Begriff »Auschwitz« in dieser Aussage nicht als eine exkludierende Geste gebraucht, die eine Katastrophe zu einem unvergleichlichen Maßstab für das Böse schlechthin erhöht. Seine Formel bestätigt vielmehr die Möglichkeit des Vergleichs, weil er erkennt, dass die Singularität des individuellen Leidens eine übergeordnete Perspektive auf das Leiden der gesamten Menschheit nicht ausschließt. Freyenhagen unterzieht diese Formel nun einer akribischen Analyse und legt dabei besonderes Gewicht auf die Erklärung dafür, wie Adornos »neuer« sich in wichtigen Hinsichten von Kants »altem« kategorischen Imperativ unterscheidet. Demzufolge weist Adorno vor allem die Forderung zurück, dass der neue kategorische Imperativ seine diskursive Begründung zulässt; tatsächlich geht Freyenhagen sogar so weit, zu behaupten, dass das Verlangen nach einer solchen Begründung »empörend« wäre. 61 Freyenhagen legt damit eine eindrückliche und in vielen Hinsichten überzeugende Argumentation zugunsten der negativistischen Interpretation von Adornos Ethik vor. Dabei nimmt er die 59 Ebd., S. 243 (meine Hervorhebungen, P. G.). 60 GS 6, S. 358-365. Die vollständige Rekonstruktion findet sich in Freyenhagen, Adorno’s Practical Philosophy, Kap. 5, »A New Categorial Imperative«, S. 133-161. 61 Zu dieser Untersuchung siehe ebd., S. 156f.

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berühmte These sehr ernst, dass es »kein richtiges Leben im falschen« gebe, und liest sie im allerumfassendsten Sinne als eine Aussage, die sich gegen jedweden Versuch richte, auch nur irgendeine robuste Bekanntschaft mit dem Guten inmitten einer schlechten Welt behaupten zu wollen. Er räumt zwar ein, dass diese negative Ethik deshalb eben nur eine »minimalistische« sei, beharrt aber auf seiner Position, dass wir in einer durch und durch falschen Gesellschaft nicht erwarten sollten, auf so etwas wie »moralische Gewissheit« oder »ein vollständiges Bündel praktischer Handlungsanweisungen« zu stoßen. 62 Dennoch gilt ihm zufolge, dass wir auch ohne die moralische Gewissheit, die sich aus einer Kenntnis des Guten ergeben würde, innerhalb unserer schlechten Verhältnisse eine Art von Normativität ausmachen könnten, die stark genug sei, um unsere Ablehnung ebenjener Verhältnisse rechtfertigen zu können. Denn »das Schlechte« besitze »seine eigene negative Normativität, insofern es verlangt, verringert oder überwunden zu werden, und zwar ungeachtet des Gehalts des Guten«.63 Freyenhagens neoaristotelische Konzeption eines nicht realisierten Potenzials soll uns daher also mit all der Normativität versorgen, die wir brauchen, insofern wir die gegebenen Umstände »kraft der Art von Wesen, die wir schon sind und noch werden können«, als schlecht zurückweisen könnten. 64 Diese Vorstellung eines unverwirklichten Potenzials stattet Adorno nach Freyenhagen nämlich mit einer, wie er sie nennt, »negativistischen philosophischen Anthropologie« aus. Wir verfügen demzufolge nur über ein Wissen von unserer gegenwärtigen Unmenschlichkeit; in Bezug auf die Frage, worin unsere voll verwirklichte Menschlichkeit bestehen könnte, sind wir hingegen zur Unwissenheit verdammt. 65 62 63 64 65

Ebd., S. 221. Ebd., S. 246. Ebd., S. 247. Ebd., S. 253.

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Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als ob Habermas und Freyenhagen nur wenig gemein haben. Ersterer liest Adorno als einen Skeptiker durch und durch: Weil dieser es seinen Demaskierungsbemühungen gestattet habe, selbst noch jene Normen zu entkräften, denen sie eigentlich dienen sollten, lasse er für sich selbst keinen normativen Standpunkt mehr übrig, von dem aus er den herrschenden Verhältnissen widersprechen könnte. Sein philosophisches Projekt sei daher generell inkohärent und zerschelle letztlich an den Klippen des Paradoxen. Freyenhagen teilt nun zwar Habermas’ grundlegende Einschätzung, dass Adorno mit Blick auf positive normative Maßstäbe ein Skeptiker gewesen sei, ist aber dennoch darum bemüht, seine Philosophie gegen Habermas’ komplett ablehnendes Urteil in Schutz zu nehmen. Dessen Skepsis zum Trotz könne Adorno sich nämlich immer noch auf ein quasiaristotelisches Prinzip eines noch nicht verwirklichten menschlichen Potenzials berufen und, da er über diese rein negative Normativität verfüge, auch die bestehenden Verhältnisse als falsch kritisieren, da sie uns daran hindern würden, das zu werden, was wir sein sollen. Ungeachtet der vielen Differenzen zwischen beiden Autoren sollten wir jedoch die grundlegende Tatsache nicht außer Acht lassen, dass Freyenhagen und Habermas eine ganz entscheidende Überzeugung teilen: Sie deuten Adornos normativen Skeptizismus nämlich beide als totalisierend. Für Letzteren bedeutet das, dass Adorno jegliche Berufung auf eine bessere Alternative zurückweist und uns als Gefangene in einem geschlossenen System betrachtet, aus dem zu entkommen keinerlei Hoffnung besteht. Und für Freyenhagen heißt es, wie gesehen, dass Adorno die bestehende Gesellschaft als »so grundlegend verblendet« ansieht, »dass wir uns nicht einmal begrifflich klarmachen oder uns ausmalen können, worin eine verwirklichte Menschheit überhaupt bestehen würde«. 66 Beide gehen also von der Prämisse 66 Ebd., S. 239.

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aus, dass Adorno in unserer aktuellen Welt keinerlei zuverlässige Quellen einer positiven Normativität verorten kann.

Gesellschaftliche Uniformität Im vorangehenden Abschnitt habe ich eine kurze (und, wie ich hoffe, wohlwollende) Zusammenfassung jener »negativistischen« Lesart vorgelegt, wie sie von Habermas und Freyenhagen repräsentiert wird. Trotz ihrer vielen Differenzen verstehen beide Autoren Adorno als einen Philosophen, dem zufolge wir in einer durch und durch falschen gesellschaftlichen Ordnung leben. Habermas zieht daraus jedoch den Schluss, dass wir seine Gesellschaftstheorie als inkohärent zurückweisen sollten, während Freyenhagen bestrebt ist, ihn unter Verweis auf eine negative Normativität zu verteidigen, die gegen das Schlechte gerichtet statt auf das Gute ausgerichtet sei. Sie beide stellen ihn mithin als einen Denker dar, der die gesellschaftliche Wirklichkeit als uneingeschränkt und restlos schlecht ansieht. Oder anders ausgedrückt: Sie interpretieren Adornos Skepsis in Bezug auf positive Quellen von Normativität als totalisierend. Im Folgenden möchte ich nun erklären, warum ich glaube, dass eine solche totalisierende Deutung unzutreffend ist. Letztere ist gleich in drei Hinsichten mangelhaft. Der allgemeinste Punkt ist erstens der, dass sie Adorno eine bestimmte Idee von der Uniformität unserer sozialen Welt zuschreibt. Demnach habe er die moderne Gesellschaft als ein nahtloses Ganzes ohne Brüche oder Widersprüche betrachtet. Wir wissen allerdings, dass Adorno sich unermüdlich gegen sämtliche Behauptungen ausgesprochen hat, die eine solche gesellschaftliche Uniformität postulieren, und überall in seinen Schriften dazu tendiert, derartige Vorstellungen als ideologisch oder falsch zu verwerfen. Schon in seiner Antrittsvorlesung von 1931, die den Titel »Die Aktualität 61

der Philosophie« trug, hatte er erklärt, dass die Philosophie vor der Aufgabe stehe, eine Welt zu interpretieren, die »unvollständig, widerspruchsvoll und brüchig« sei. 67 Und auch im Fortgang seines philosophischen Wirkens behielt er diese skeptische Grundhaltung in Bezug auf jedwede Idee vom Sozialen als eines bruchlosen Ganzen bei. So hält er Talcott Parsons in seiner einführenden Vorlesung in die Soziologie von 1968 vor, einer »harmonistische[n] Tendenz« das Wort zu reden, die uns den Blick für gesellschaftliche Widersprüche verstelle. Solche Ansätze sollten wir ihm zufolge zurückweisen, da »in der Bruchlosigkeit der Darstellungsform« und der »Systematisierung der sozialen Phänomene« die Tendenz lauere, »die konstitutiven tragenden Widersprüche der Gesellschaft« zu übertünchen – das heißt der ideologisch motivierte Versuch, sie »ein bißchen aus der Welt zu erklären«. 68 Sein Widerstand gegen die These von der bruchlosen Einheitlichkeit des Sozialen ist zudem nicht auf seine soziologischen Arbeiten beschränkt, sondern spielt auch eine zentrale Rolle für seine Auffassung von dialektischer Kritik überhaupt. In seiner Vorlesung Einführung in die Dialektik von 1958 versuchte er beispielsweise, seinen Studierenden die Einsicht zu vermitteln, dass ein angemessenes philosophisches Verständnis von der Wirklichkeit seinen Anfang gerade mit der Ablehnung der These machen müsse, diese sei »bruchlos«; im Gegenteil sollten sie sich die Gesellschaft »vermö67 GS 1, S. 325-344, hier S. 334. 68 »Man könnte, wenn man ein ganz böser und abgefeimter Mensch ist, sogar auf die Idee kommen, daß bereits in der szientifischen Forderung eines bruchlosen Kontinuums der soziologischen Erkenntnis, wie es etwa dem großen System von Talcott Parsons zu Grunde liegt, bereits etwas wie eine harmonistische Tendenz steckt; daß also die Bruchlosigkeit der Darstellungsform, der Systematisierung der sozialen Phänomene dabei – unbewußt natürlich, es ist der objektive Geist hier am Werk – die Tendenz in sich hat, die konstitutiven tragenden Widersprüche der Gesellschaft ein bißchen aus der Welt zu erklären« (NGS, Abt IV, Bd. 15, S. 18).

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ge der Brüche, die ihr [der Realität] selber innewohnen«, gedanklich erschließen. 69 Und wie er bekanntlich am Schluss der Minima Moralia verkündet, bestehe die Aufgabe des Kritikers ja auch nicht darin, die Einförmigkeit der Welt zu affirmieren, sondern im Gegenteil darin, all ihre »Risse und Schründe« offenzulegen. 70 Wir müssen daher zu dem Schluss gelangen, dass Adorno sämtliche Vorstellungen von sozialer Uniformität zurückweist, ganz gleich, ob sie die Welt nun als durchgängig wahr oder als durchgängig falsch schildern. Die erste dieser beiden Alternativen ist für ihn zweifellos deshalb nicht akzeptabel, da jeder Versuch, die Welt als durchweg wahr auszuweisen, Fälle von gesellschaftlicher Irrationalität notwendigerweise verschleiern und unserer Aufmerksamkeit für menschliches Leiden im Weg stehen muss. In den Philosophischen Elementen einer Theorie der Gesellschaft, seiner Vorlesung von 1964, weist er den Anschein von sozialer Homogenität denn auch als ideologisch oder trügerisch zurück, da er uns ein beschwichtigendes Bild eines allgemein gewordenen Glücks präsentiere. So führe uns Huxleys Schöne neue Welt beispielsweise die Illusion einer einheitlichen Zufriedenheit vor Augen, als ob gelte: »›everyone is happy nowadays‹«, wie Adorno den Schriftsteller nach dem englischen Original seines Romans zitiert. Diese Haltung bezeichnet er als »affirmativ«, da sie eine »falsche Identität« der objektiven Umstände und des subjektiven Bewusstseins behaupte, und Behauptungen dieser Art aufzustellen, sei eben die vornehmste Aufgabe der Ideologie oder das, was er anderenorts »die affirmative Lüge der Kultur« nennt. 71 In der Dialektik der Auf69 »Man könnte das pointiert so ausdrücken, daß man sagt, es [dieses philosophische Denken; Anm. d. Ü.] sei der Versuch zwar in der Tat, die Realität auszukonstruieren, aber nicht bruchlos, sondern in Brüchen, vermöge der Brüche, die ihr selber innewohnen« (5. Vorlesung vom 3. Juni 1958, in: NGS, Abt. IV, Bd. 2, hier S. 59). 70 GS 4, S. 283. 71 GS 7, S. 473.

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klärung wird uns zudem eine modernisierte Variation der klassischen Ideologietheorie im Gewand der Kulturindustrie vorgeführt. Ganz im Sinne des marxistischen Ideologieverständnisses heißt es dort, dass die Kulturindustrie bestehende Herrschaftsformen zu legitimieren suche, während sie zugleich jedes Bewusstsein für das Leiden zu zerstreuen beabsichtige. Unterhaltung, so Adorno, sei die »Apologie der Gesellschaft«. 72 Diese Industrie operiere mittels Affirmation: Sie bügele sämtliche Vorkommnisse gesellschaftlicher Irrationalität glatt und verabreiche allen Gesellschaftsmitgliedern Beschwichtigungs- und Beschönigungspillen, damit diese sich voll und ganz mit ihrer eigenen sozialen Ordnung identifizieren; »Vergnügtsein heißt Einverstandensein«, wie es in diesem Kontext heißt. 73 Dieser Anschein von Affirmation und gesellschaftlicher Gleichförmigkeit ist für Adorno zweifellos ein Trugbild. In dem Moment, in dem man einen Blick »unter die Oberfläche des glücklichen Einverständnisses« werfe, stelle man nämlich fest, dass die »falsche Identität« in Wirklichkeit an unzähligen Stellen »sich als brüchig erweist«. 74 72 GS 3, S. 166f. 73 Ebd., S. 167. 74 »Und dadurch kommt dann wirklich jene grauenvolle Parodie einer Identität des objektiv herrschenden Zustands oder der objektiv den Menschen aufgezwungenen Bedingungen und ihres eigenen Bewußtseins zutage, wie sie etwa in dem Buch ›Brave New World‹ von Aldous Huxley vor nun 34 Jahren zum ersten Mal entworfen worden ist. Ich möchte damit schließen, daß ich sagen möchte, das Argument, das hier erhoben werden könnte, daß nämlich, wenn eine solche Identität herrsche, ganz gleich, wie sie zustande gekommen sei und ganz gleich, was für einen Inhalt sie habe, ›everyone is happy nowadays‹, wie es in jenem Roman von Huxley heißt, daß mir dieses Argument sophistisch und deshalb untriftig erscheint, weil eben doch an unzähligen Stellen diese falsche Identität sich als brüchig erweist, und weil sie sofort mit Neurose, mit Leiden, mit allen möglichen Verstümmelungsphänomenen bezahlt wird, sobald man nur ein bißchen unter die Oberfläche des glücklichen Einverständnisses [blickt]« (NGS, Abt. IV, Bd. 12, S. 113).

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Die Theorie der Kulturindustrie führt uns auf eindrucksvolle Weise vor Augen, warum Adorno jede Auffassung von der Gesellschaft als durchgängig wahr ablehnt. Allerdings müssen wir auch einsehen, warum er das Bild von der Gesellschaft als einheitlich negativ oder falsch ebenso wenig akzeptieren kann. Seine Haltung gegenüber einem solchen gänzlich negativen Verständnis der sozialen Ordnung mag uns aber eher überraschen, vor allem dann, wenn wir uns von der weitverbreiteten Ansicht haben überzeugen lassen, er sei ein totalisierender Negativist gewesen. Eine Stelle, an der er einige problematische Aspekte der These von der falschen Uniformität thematisiert, ist seine Auseinandersetzung mit dem italienischen Soziologen Vilfredo Pareto, den er für seine Theorie den »total ideologischen Charakter alles gesellschaftlich bezogenen Bewußtseins« betreffend kritisiert. 75 Für Adorno ist diese Theorie eindeutig irregeleitet, und zwar aus dem einfachen Grund, dass Paretos Vorstellung von einer einheitlich falschen Gesellschaft nicht weniger »harmonistisch« sei als Parsons’ Bild von einer einheitlich wahren. Hier stoßen wir auf eine bemerkenswerte Ironie. Denn obgleich die beiden Soziologen auf den ersten Blick scheinbar extrem gegensätzliche Positionen vertreten, zeigt sich, dass sie genau den gleichen Fehler begangen haben, indem sie Momente der Dissonanz in der gesellschaftlichen Wirklichkeit einfach nivellierten. In diesem Sinne ist die totalisierende Theorie des falschen Bewusstseins also keinen Deut zutreffender als die totalisierende Theorie des wahren. Wie Adorno erklärt, verleitet uns der Gedanke einer allumfassenden Falschheit des Sozialen nämlich genauso dazu, uns die gesellschaftliche Wirklichkeit als eine bruchlose Oberfläche ohne innere Widersprüche vorzustellen. Aber er verwirft diese Konzeption einer totalen Falschheit nicht zuletzt auch deshalb, weil sie »die Unterscheidung von wahr und falsch überhaupt unmöglich« mache. Wahr und falsch seien je75 NGS, Abt. IV, Bd. 15, S. 25 (meine Hervorhebung, P. G.).

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doch einander wechselseitig implizierende Begriffe, »weil man von falschem Bewußtsein überhaupt gar nicht reden kann, wenn nicht die Möglichkeit eines richtigen Bewußtseins doch auch besteht«. 76 Eine totalisierende Theorie des falschen Bewusstseins ist deshalb für ihn nicht kohärenter als das ideologische Porträt einer Gesellschaft als bruchlos wahr.

Die Herausforderung der Selbstreflexivität Bislang habe ich dafür argumentiert, dass es unplausibel wäre, wenn sich Adorno irgendeiner Idee von der Gesellschaft als etwas völlig Einförmigem verschrieben hätte, unabhängig davon, ob diese soziale Uniformität als gänzlich wahr oder als gänzlich falsch charakterisiert werden würde. Dabei sollte meine Argumentation die übergeordnete These motivieren, dass er kein absoluter Skeptiker mit Blick auf die Verfügbarkeit sämtlicher Quellen von Normativität hätte sein können. Die spezifische Frage der sozialen Uniformität macht uns aber noch auf ein weiteres und damit zusammenhängendes Problem aufmerksam – dass nämlich die Theorie des totalen normativen Skeptizismus nicht problemlos auf die Herausforderung der Selbstreflexivität reagieren kann. Letztere ist für jede Art von Gesellschaftstheorie von Bedeutung. Mit »Selbstreflexivität« meine ich das Prinzip, dass jede all76 Das Zitat lautet im Zusammenhang: »[D]iese Konzeption von Soziologie, die ihre erste und, wenn Sie so wollen, radikale Ausprägung durch Vilfredo Pareto erfahren hat, [erscheint] von Grund auf falsch […], zunächst einmal aus dem ganz einfachen Grund, weil durch die Negation des Begriffs der Wahrheit, die in dieser Vorstellung vom total ideologischen Charakter alles gesellschaftlich bezogenen Bewußtseins besteht, die Unterscheidung von wahr und falsch überhaupt unmöglich gemacht wird; und weil man von falschem Bewußtsein überhaupt gar nicht reden kann, wenn nicht die Möglichkeit eines richtigen Bewußtseins doch auch besteht« (ebd.; meine Hervorhebung, P. G.).

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gemeine Theorie der Gesellschaft in der Lage sein muss, die Möglichkeit ihres eigenen Auftretens zu erklären. 77 Diese kann dann als wirklich umfassend gelten, wenn sie für sich beansprucht, ein allgemeines Bild von der Gesellschaft als Ganzer zu zeichnen, und es ablehnt, die soziale Wirklichkeit in einzelne Teile zu zerlegen, die auch für sich genommen verstanden werden können. So würde sie sich beispielsweise nicht mit einer Erklärung der Ökonomie zufriedengeben, die die ökonomische Sphäre als separates Element der menschlichen Welt betrachtet, das seinen eigenen ebenso separaten, unabhängigen Gesetzen unterläge. Eine solche Untergliederung der gesellschaftlichen Realität in abgeschlossene Teilbereiche wäre nämlich genau das, was Marx als »Fetischismus« bezeichnet hat, und zugleich ein Beispiel für jenen generelleren epistemischen und metaphysischen Fehler, zu dem es immer dann kommt, wenn wir Subjekt und Objekt an voneinander isolierte Sphären verweisen und glauben, dass wir irgendeinen bestimmten Teil der sozialen Welt beschreiben könnten, ohne uns damit zugleich selbst zu beschreiben. Umgekehrt muss eine Gesellschaftstheorie dann, wenn sie wirklich umfassend sein will, bedingungslos inklusiv sein – und das bedeutet, dass sie sich selbst nicht von der Wirklichkeit ausnehmen kann, von der sie Kenntnis erlangen will. Hier kommt das Kriterium der Selbstreflexivität ins Spiel. Um diesem zu genügen, muss die Gesellschaftstheorie ein Bild von der sozialen Welt zeichnen können, in dem es zumindest möglich wäre, sich ihr eigenes Auftreten vorstellen zu können. Diese Bedingung weist somit alle Theorien des Sozialen als illegitim zurück, die von sich behaupten, das gesellschaftliche Ganze als eine bruchlose und einheitliche Sphäre zu beschreiben, die 77 Einige Passagen der folgenden Ausführungen stammen aus Peter E. Gordon, »Realism and Utopia in The Authoritarian Personality«, in: Polity 54:1 (2022), S. 8-28.

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von einem falschen Bewusstsein heimgesucht werde. Eine solche totalisierende Auffassung vom falschen Bewusstsein würde nämlich suggerieren, dass kein Mitglied einer gegebenen Gesellschaft eine klare Vorstellung davon haben könnte, wie diese tatsächlich beschaffen ist. Damit aber würde sie in die Falle des sich selbst widerlegenden Relativismus geraten. Denn die Gesellschaftstheoretikerin könnte sich – als Angehörige ihrer eigenen Gesellschaft – selbst ja auch nicht vom Vorwurf des falschen Bewusstseins ausnehmen, und ihre Theorie müsste folglich ihre Wahrheitsansprüche aufgeben. Marx selbst war sich dieses Problems sehr bewusst und deshalb bestrebt, seine Kritik der Gesellschaft als eine immanente Kritik zu konzipieren. Das heißt, sie sollte nur der sozialen Welt innewohnende Charakteristika identifizieren, die über diese selbst hinaus auf deren zukünftige Transformation verweisen. Diese Bereitschaft dazu, den Blick auf innere Widersprüche zu richten, genügt nun dem Kriterium der Selbstreflexivität; ohne diese inneren Widersprüche wäre das Marx’sche Bild von der sozialen Wirklichkeit hingegen zu einer bruchlosen Einheit zusammengesunken und hätte zudem nicht erklären können, wie die Mitglieder einer gegebenen Gesellschaft deren Widersprüche jemals auf epistemischer Ebene erfassen könnten. Im Kommunistischen Manifest bringen Marx und Engels dieses Prinzip der Selbstreflexivität in sozialgeschichtlicher Form so zum Ausdruck, dass sie das Auftreten der, wie sie es nennen, »Bourgeois-Ideologen« beschreiben, die sich von ihrer eigenen Klasse losgesagt und sich »zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung [des gesellschaftlichen Ganzen] hinaufgearbeitet haben«. 78 Zumindest in einigen seiner philosophisch subtileren Formen hat sich der Marxismus das Problem der Selbstreflexivität immer mit bemerkenswerter Klarheit vor Augen geführt und darauf mit ei78 Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, Stuttgart 1998, S. 30f.

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nem dialektischen Modell von Gesellschaftstheorie reagiert, das es ablehnt, das theoretisierende Subjekt vom Gegenstand seiner Analyse zu isolieren. Für Adorno, Horkheimer und die anderen Angehörigen des Instituts für Sozialforschung war das Problem der Selbstreflexivität von zentraler Bedeutung. In seinem Aufsatz »Traditionelle und kritische Theorie« von 1937 wandte Horkheimer seine gesamte philosophische Energie auf dieses Problem an und behauptete, dass keine Theorie der Gesellschaft sich als genuin »kritisch« bezeichnen könne, solange sie sich selbst nicht so verstehe, dass sie ein Produkt ihrer eigenen sozialen Umwelt und auf dialektische Weise in diese verstrickt sei. 79 Keine Sozialtheorie kann sich demnach selbst aus ihrer eigenen Weltbeschreibung herausnehmen, da auch die Beschreibung der Gesellschaft eine ins Soziale eingelassene Praxis ist. Eine Sozialtheorie ohne Selbstreflexivität spaltet den gesellschaftlichen Beobachter vom gesellschaftlichen Objekt ab, als wäre dieses ein Stück rohe Natur; der Beobachter nimmt dabei die illusorische Transzendenz eines quasicartesischen Geistes an, und das Betreiben von Gesellschaftstheorie tendiert am Ende dann dazu, all jene Schwierigkeiten auf sich zu ziehen, die man mit dem Positivismus assoziiert. Unter dem Strich gemahnt uns die Herausforderung der Selbstreflexivität also daran, dass keine Gesellschaftskritik gültig sein kann, wenn sie nicht ein Bild von der sozialen Welt zu zeichnen vermag, in dem die Existenz ebenjener Kritik möglich ist. Meine Frage lautet hier, ob Adornos Theorie diese Herausforderung überstehen kann. Und die Antwort wird natürlich sehr davon abhängen, wie wir seine Theorie rekonstruieren. Eine verbreitete Auffassung besagt, dass er das klassische Modell des falschen Bewusstseins abgelehnt habe, weil die moderne Gesellschaft gar 79 Max Horkheimer, »Traditionelle und kritische Theorie«, in: ders.,Traditionelle und kritische Theorie. Fünf Aufsätze, Frankfurt/M. 1995, S. 205-260.

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nicht mehr auf Illusionen angewiesen sei. Sie bestätige vielmehr schlicht die Gesellschaft in ihrer bestehenden Form, »[g]erade weil es im eigentlichen Sinn von falschem Bewußtsein keine Ideologien mehr gibt, sondern bloß noch die Reklame für die Welt durch deren Verdopplung […]«. 80 Die klassische Ideologietheorie sei noch von einem Unterschied zwischen Ideologie und Wirklichkeit ausgegangen, doch diese Lücke sei nun geschlossen. 81 Demnach hat die Ideologie also der freimütigen Affirmation Platz gemacht, und keine Erfahrung bezeugt mehr die Möglichkeit einer Alternative; vielmehr gelte: »Alle Phänomene starren wie Hoheitszeichen absoluter Herrschaft dessen was ist.« 82 Dies ist ein interessanter Deutungsvorschlag, aber er erklärt immer noch nicht, warum diese »Verdopplung« selbst etwas Kritikwürdiges sein sollte, und ebenso wenig, aus welcher Perspektive eine solche Kritik überhaupt vorgebracht werden könnte. Die normative Frage, ob unsere Welt unsere Ablehnung oder unsere Zustimmung verdient, bleibt damit unbeantwortet. Eine andere Interpretation besagt, dass Adorno unsere gesellschaftlichen Verhältnisse in Gänze als einen Ort allumfassender Falschheit oder Verblendung betrachtet habe. Doch diese Lesart stellt uns offensichtlich sofort vor ein altbekanntes Selbstanwendungsproblem. Denn wenn es sich tatsächlich so verhalten hätte, dann wären auch seine theoretischen Bemühungen um eine akkurate Beschreibung dieser sozialen Realität von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Die Theorie der totalen Negativität widerlegt sich selbst, sobald sie einen 80 »Kulturkritik und Gesellschaft«, GS 10.1, S. 11-30, hier S. 29. 81 »Ihr Medium [das der Ironie; Anm. d. Ü.], die Differenz zwischen Ideologie und Wirklichkeit, ist geschwunden. Jene resigniert zur Bestätigung der Wirklichkeit durch deren bloße Verdopplung. Ironie drückte aus: das behauptet es zu sein, so aber ist es; heute jedoch beruft die Welt noch in der radikalen Lüge sich darauf, daß es eben so sei, und solcher einfache Befund koinzidiert ihr mit dem Guten« (GS 4, S. 241). 82 GS 10.1, S. 29.

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Wahrheitsanspruch erhebt; das meint Habermas, wenn er Adorno und Horkheimer einen performativen Widerspruch unterstellt. Im Unterschied dazu ist Freyenhagen der Meinung, er könne der Falle der Selbstwiderlegung durch die Behauptung entgehen, dass Adorno überhaupt keine Wahrheitsansprüche erheben, sondern lediglich ein Wissen vom Falschen konstatieren müsse – weshalb er eben auch auf einen, in Freyenhagens Worten, »epistemischen Negativismus« festgelegt sei. Es gibt gute Gründe, daran zu zweifeln, ob es diese Antwort wirklich vermag, Adorno vor dem Vorwurf der Selbstwiderlegung zu retten. Freyenhagens Lösungsvorschlag macht aber noch mindestens zwei weitere Schwierigkeiten deutlich, die unsere Beachtung verdienen. Erstens ist Adorno offensichtlich der Meinung, seine Gesellschaftstheorie sei tatsächlich im robusten Sinne wahr, da sie uns mutmaßlich ein ziemlich genaues Bild davon liefere, wie unsere soziale Welt tatsächlich beschaffen ist. Aber warum sollten wir in einer total falschen Welt davon ausgehen, dass es weiterhin wahre Beschreibungen von ihr gäbe? Und wie könnte die Norm der Wahrheit selbst angesichts eines allumfassenden Verblendungszusammenhangs überdauern? Freyenhagens Antwort (die auf seiner negativistischen Aristoteles-Deutung unserer frustrierten menschlichen Natur basiert) ist offenbar die, dass Adorno trotz seines epistemischen Negativismus immer noch ein bestimmtes Wissen von dem menschlichen Potenzial besitze, das unsere Gesellschaft beschädigt habe. Über diese Antwort lässt sich jedoch bestenfalls sagen, dass sie mit der These vom epistemischen Negativismus im Widerspruch steht. Denn wenn Adorno für sich beanspruchen kann, auch nur irgendetwas von diesem Potenzial zu wissen, dann weiß er damit bereits mehr über die Conditio humana, als es ein totaler Verblendungszusammenhang eigentlich gestatten würde. Und das zweite Problem an dieser Erwiderung besteht darin, dass es so aussieht, als würde Adornos Wissen vom Falschen allein ihm bereits eine rare und privilegierte Einsicht 71

in das Wesen unserer sozialen Welt verschaffen, die nicht allgemein zugänglich ist. 83 Über diese zweite Antwort können wir allerdings auch nur sagen, dass sie die Herausforderung der Selbstreflexivität nicht übersteht, weil sie Adorno aus jenem vermeintlich totalen gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang ausnimmt, in dem seine eigene Theorie überhaupt erst entstanden ist. 84

Voraussetzungen öffentlicher Kritik Bevor ich dieses Thema beschließe, ist es wichtig, noch auf einen weiteren Grund hinzuweisen, der dafürspricht, das Bild von Adorno als eines totalisierenden Negativisten in Bezug auf gesellschaftliche Normen abzulehnen. Obwohl ich in diesem Buch eigentlich keine biografischen Fakten wälzen möchte, sollten wir uns daran erinnern, dass er in der Nachkriegszeit viel zu den 83 Eine denkbare Lösung dieses Problems könnte in der Behauptung bestehen, dass das Leiden selbst bereits einer impliziten Kritik an den Bedingungen gleichkommt, die es verursacht haben. Schwierig daran ist aber, dass schon der Begriff der »impliziten Kritik« auf ein gewisses Bewusstsein dafür hindeutet, wer oder was hier für jenes Leiden verantwortlich zu machen ist. So sind etwa in stark von Ungleichheit geprägten sozioökonomischen Verhältnissen viele Menschen unglücklicherweise der Auffassung, dass ihr Scheitern oder Leiden verdient oder ihnen selbst zuzuschreiben wäre. Damit Letzeres als solches schon als implizite Gesellschaftskritik gelten könnte, müssten sie also mindestens über diese irrige Annahme aufgeklärt werden. 84 Jay Bernstein bringt diesen Gedanken in aller Deutlichkeit so zum Ausdruck: »Adorno muss der Überzeugung sein, dass das Andere in der Erfahrung zu finden ist; ansonsten würde er sich nämlich auf die Ansicht festlegen, dass der Schuldzusammenhang, in dem die Lebenden stecken, absolut und alles ist. Doch nicht alles kann vom negativen Ganzen beherrscht sein, ohne dass dadurch schon die bloße Feststellung dieser Tatsache unlogisch würde« (Bernstein, Adorno, S. 437; siehe auch Simon Jarvis, Adorno. A Critical Introduction, Cambridge 2007, S. 211-216).

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öffentlichen Debatten über die politische Kultur der Bundesrepublik beigetragen hat. In Vorträgen und Gesprächen sowohl vor Publikum als auch über das Radio nahm er es auf sich, seinen Mitbürgern in Deutschland ebenso wie akademischen und studentischen Kreisen im Ausland Probleme von allgemeinem Belang auseinanderzusetzen. Denken wir zum Beispiel an sein Gespräch mit Hellmut Becker über das Thema »Erziehung zur Mündigkeit«, das am 13. August 1969, nur wenige Tage nach dem Tod des Philosophen, im Rundfunk gesendet wurde. 85 Adorno eröffnet diese Begegnung mit einem Verweis auf Kants berühmten Aufsatz »Was ist Aufklärung?« und scheut dabei nicht vor der Behauptung zurück, dass Mündigkeit ein überlebenswichtiges Element für die Demokratie sei, da Letztere »die Fähigkeit und de[n] Mut jedes Einzelnen, sich seines Verstandes zu bedienen, voraus[setzt]«. 86 Dies war allerdings nur eines der vielen Radiogespräche, zu denen Adorno in der allgemeinen Rubrik »Bildungsfragen der Gegenwart« ungefähr eines pro Jahr beisteuerte. Dabei liegt einem solchen Austausch eine bestimmte Vorstellung von demokratischer Pädagogik zugrunde. Einigen Leserinnen und Lesern mag es vielleicht seltsam vorkommen, wenn man Adorno einen »öffentlichen Intellektuellen« nennt, und tatsächlich sollten wir diesen Ausdruck mit Vorsicht gebrauchen, da der damit Bezeichnete selbst starke eigene Vorbehalte gegenüber dem Fetisch des intellektuellen »Engagements« geäußert hat. 87 Trotzdem muss Adorno der Überzeugung gewesen sein, dass es zumindest möglich wäre, in das öffentliche Bewusstsein mit dem Ziel seiner positiven Ver85 Theodor W. Adorno, »Erziehung zur Mündigkeit«, in: ders., Erziehung zur Mündigkeit.Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker, 1959-1969, Frankfurt/M. 1971, S. 133-147. 86 Ebd., S. 133. 87 Siehe zum Beispiel den Aufsatz »Engagement«, in: Noten zur Literatur (GS 11), S. 409-430, sowie den Text »Marginalien zu Theorie und Praxis«, in: GS 10.2, S. 759-782.

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änderung einzugreifen. Dies gilt mit Sicherheit zumindest für seine Anmerkungen zur Mündigkeit als Voraussetzung für Demokratie und ebenso auch mit Blick auf seine vielen öffentlichen Vorträge zu Themen wie »Erziehung nach Auschwitz« oder der Frage »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit«. 88 Es ist nun allerdings überhaupt nicht klar, ob die negativistische Interpretation Adornos Bekenntnis zur Praxis einer demokratischen Pädagogik den nötigen begrifflichen Raum lässt.89 Wie Volker Heins ausgeführt hat, basiert diese nämlich »auf dem Glauben des Aufklärungszeitalters an die Bildungsfähigkeit der Öffentlichkeit«. 90 Wir müssen daher fragen, ob eine solche Voraussetzung mit Adornos philosophischen Auffassungen in Einklang gebracht werden kann oder ob wir stattdessen die (von Habermas 88 Beide in Adorno, Erziehung zur Mündigkeit, S. 88-104 bzw. S. 10-28, sowie in GS 10.2, S. 674-690 bzw. S. 555-572. 89 Espen Hammer hat die Position vertreten, dass Adorno eine in erster Linie negative Auffassung von der politischen Bildung gehabt habe. Pädagogik ziele nicht auf das ab, was das Beste wäre; Adorno habe sie vielmehr »als Mittel zur Verhinderung des Schlimmsten« betrachtet. Dies ist allerdings insofern nicht ganz zutreffend, da er (in Hammers eigenen Worten) explizit »die Werte der Kritik und des Selbstdenkens« vertreten hat – und dass diese Werte auf eine positive normative Orientierung hindeuten, scheint mir ziemlich unstrittig zu sein. Trotz unserer unterschiedlichen Auffassungen in dieser Sache ist Hammers Analyse der Problematik erhellend. Siehe Espen Hammer, Adorno and the Political, New York 2005, S. 70f. 90 Siehe hierzu Volker Heins, »Saying Things that Hurt. Adorno as Educator«, in: Thesis Eleven 110:1 (2012), S. 68-82, hier S. 74. Zu weiteren wichtigen Überlegungen zu Adornos Rolle als öffentlichem Intellektuellen siehe Max Pensky, »Beyond the Message in a Bottle. The Other Critical Theory«, in: Constellations 10:1 (2003), S. 135-144, und Stefan Müller-Doohm, »Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas – zwei Spielarten des öffentlichen Intellektuellen. Soziologische Betrachtungen zum Wandel einer Sozialfigur der Moderne«, in: Winfried Gebhardt, Ronald Hitzler (Hg.), Nomaden, Flaneure, Vagabunden. Wissensformen und Denkstile der Gegenwart, Wiesbaden 2006, S. 23-36.

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formulierte) These akzeptieren sollten, dass es »zwei Adornos« gegeben habe, den soziologischen Pessimisten und den demokratischen Aktivisten. 91 Diese Unterscheidung würde sich vermutlich auch mit der Differenz zwischen dem formellen Philosophen und dem öffentlichen Intellektuellen decken. Meiner Ansicht nach ist diese Behauptung jedoch nicht aufrechtzuerhalten, da es keine klare Trennlinie gibt, die uns zwischen den beiden Argumentationsmodi zu unterscheiden erlauben würde: Adornos schriftliche Arbeiten weisen Züge informeller und halböffentlicher Kommentare auf, während seine Vorträge oft als Probeläufe für spätere eher »formelle« Veröffentlichungen fungierten. Anstelle eines Rückzugs auf solche Dualismen halte ich es daher für wesentlich plausibler, Heins’ These zu folgen, dass »die Unterschiede zwischen den beiden Typen seiner Arbeiten in ihrem Kontext und Stil liegen, aber nicht in der Sache«. 92 Die Praxis der demokratischen Pädagogik erhellt somit die, wie ich sie nennen würde, informelle Logik des öffentlichen Handelns: Wenn man diskursiv in den Nexus von die Öffentlichkeit betreffenden Fragen eingreift, dann legt man sich damit implizit auf ein Verständnis ihres Bewusstseins als veränderlich (statt als fixiert) fest. Anderenfalls könnte das eigene Eingreifen ja auch kaum irgendeinem Zweck dienen, abgesehen vielleicht von der narzisstischen Befriedigung durch theatralische Selbstdarstellung. Wenn man nun aber das gesamte öffentliche Bewusstsein als vollkommene Unwahrheit verurteilen müsste, so würde man gegen 91 Ein Beispiel für dieses janusköpfige Porträt findet sich beispielsweise in Habermas’ Artikel »Grossherzige Remigranten. Über jüdische Philosophen in der frühen Bundesrepublik. Eine persönliche Erinnerung«, in: Neue Zürcher Zeitung, 2. Juli 2011 (in leicht veränderter Form abgedruckt unter dem Titel »Jüdische Philosophen und Soziologen als Rückkehrer in der frühen Bundesrepublik. Eine Erinnerung«, in: Jürgen Habermas, Im Sog der Technokratie. Kleine politische Schriften XII, Berlin 2013, S. 13-26). 92 Heins, »Saying Things that Hurt«, S. 77.

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diese informelle Logik verstoßen. In Adornos Fall wirkt es folglich auch eher unplausibel, zu behaupten, er habe sich selbst als der von ihm beschriebenen Welt enthoben betrachtet. Denn als Dialektiker weiß er, dass das Theorie betreibende Subjekt immer schon in diejenige soziale Welt einbezogen ist, die es zu verstehen versucht – das heißt immer schon das Produkt unzähliger gesellschaftlicher Vermittlungsschritte ist –, noch bevor es überhaupt ein einziges Wort gesprochen hat. Gegen Karl Mannheims Lob der »freischwebenden Intelligenz« führt er daher auch ins Feld, »daß eben die Intelligenz, die frei zu schweben vorgibt, in dem gleichen Sein gründlich verwurzelt ist, das es zu verändern gilt«. 93 Philosophen anderer Provenienz mögen sich selbst das Recht anmaßen, sich aus der Welt zurückzuziehen und diese ihrer »Seinsverlassenheit« zu überlassen; dem Gesellschaftstheoretiker steht diese Möglichkeit hingegen nicht offen. »Theorie« bezeichnet nicht das andächtige Nachdenken in einer Berghütte, sondern ist eine Form einer sozial eingebetteten Praxis.

Die Möglichkeit immanenter Kritik Die vorstehenden Überlegungen sollten uns zu der Schlussfolgerung führen, dass etwas an der Standardauffassung von Adorno als epistemischem Negativisten oder totalisierendem Skeptiker in Bezug auf die Quellen der Normativität nicht stimmen kann. Denn obwohl die negativistische Interpretation ein ganzes Bündel an außerordentlich überzeugenden Forschungsresultaten hervorgebracht hat, fürchte ich, dass sie die Gemeinschaft der AdornoInterpretinnen und -Interpreten auch mit diversen philosophischen 93 In dem Aufsatz »Das Bewußtsein der Wissenssoziologie«, GS 10.1, S. 3146, hier S. 45; siehe Karl Mannheim, Ideologie und Utopie [1929], Frankfurt/ M. 2015.

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Fragen belastet hat, die auf einer falschen Prämisse basieren. Denn das Bild von Adorno als totalisierendem Skeptiker ist zwar ein interessantes philosophisches Konstrukt, als Darstellung seiner philosophischen Selbstverortung jedoch unzutreffend. Wenn wir uns nun fragen, welche wesentlichen Elemente seiner Philosophie in der negativistischen Interpretation fehlen, dann sollten uns die oben angestellten Überlegungen eigentlich schon auf die richtige Fährte gebracht haben. Jener Deutung entgeht nämlich die entscheidende Tatsache, dass Adorno die soziale Welt eben nicht als ein fugenloses Ganzes betrachtet. Er sieht die Gesellschaft vielmehr als eine zerbrochene oder fragmentierte Welt an, die Widersprüche enthält. Dass eine Gesellschaft Widersprüche enthält, heißt aber nur, zu sagen, dass einige ihrer Normen miteinander im Konflikt stehen. Der weitaus größte Teil von ihnen bestätigt die Gesellschaft einfach so, wie sie ist, während einige andere deren Autorität in Zweifel ziehen. Diese immanenten Widersprüche besitzen nun insofern einen normativen und antizipatorischen Status, als sie über die bestehende Ordnung hinaus auf eine bessere verweisen. Adornos Hauptarbeit als kritischer Philosoph ist also zwar eine in weiten Teilen negative, aber nicht in einem bloß deskriptiven Sinne – so als ob ihm nur daran gelegen gewesen wäre, die Welt in all ihrer Negativität zu schildern. Seine Aufgabe ist vielmehr auf eine spezifisch dialektische Weise negativ, sofern er nämlich darauf abzielt, widersprüchliche Momente herauszustellen, um damit die Illusion eines in normativer Hinsicht uniformen Ganzen aufzubrechen. Die Strategie, derer er sich zu diesem Zweck bedient, ist die der immanenten Kritik. Denn dieses kritische Verfahren würde uns seiner Meinung nach dazu frei machen, nicht nur unser allgegenwärtiges Leiden, sondern auch Instanzen von partieller Erfüllung erfahren zu können, die uns den Weg aus unserer gegenwärtigen Situation hinaus und auf eine Zukunft des menschlichen Gedeihens hin verdeutlicht. Die These, dass Adorno als eine Form von immanenter Kri77

tik betreibend betrachtet werden sollte, hat in der Sekundärliteratur noch weitere Fürsprecherinnen und Fürsprecher, darunter Fachleute wie etwa Rahel Jaeggi und Brian O’Connor. 94 Fabian Freyenhagen ist zugute zu halten, dass er die erheblichen Verdienste dieser Alternative anerkennt, auch wenn er sich zugleich entschieden gegen sie ausspricht. 95 Meine eigene Auffassung ist die, dass die Interpretation von Adorno als eines Theoretikers immanenter Kritik nicht nur einer akkurateren Beschreibung seiner erklärten philosophischen Ziele gleichkäme, sondern, ganz abgesehen von dem, was er selbst beabsichtigt haben mag, auch als Modell einer kritischen Praxis besser zu verteidigen wäre. Schließlich ist es eine Sache, eine komprimierte Darstellung davon vorzulegen, was wir glauben, dass Adorno tun wollte, aber eine ganz andere, zu behaupten, dass das, was er tat, auch wirklich gelingen konnte. Diese Unterscheidung hilft uns, einen zentralen Konflikt unter seinen Interpretinnen und Interpreten zu erkennen. Das Beispiel von Seyla Benhabib ist in diesem Zusammenhang instruktiv. Diese Autorin steht Adornos philosophischem Ansatz insgesamt zwar in bestimmten Hinsichten ablehnend gegenüber, bietet aber dennoch einen exzellenten Überblick über seine Beweisziele. »Die Aufgabe der Kritik besteht«, wie sie schreibt, »darin, jene Brüche in der Totalität, jene Risse im gesellschaftlichen Netz, jene Momente der Disharmonie und des Widerspruchs zu beleuchten, durch die die Unwahrheit des Ganzen sich offenbart und der Schimmer eines anderen Lebens hervortritt.« 96 Wer Adorno als 94 Siehe Rahel Jaeggi, »›Kein Einzelner vermag etwas dagegen.‹ Adornos Minima Moralia als Kritik von Lebensformen«, in: Axel Honneth (Hg.), Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Frankfurt/M. 2005, S. 115-141. 95 Zu Freyenhagens Auseinandersetzung mit der immanenten Kritik siehe Freyenhagen, Adorno’s Practical Philosophy, S. 13. 96 Seyla Benhabib, Kritik, Norm und Utopie. Die normativen Grundlagen der Kritischen Theorie, Frankfurt/M. 1992, S. 110.

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Theoretiker immanenter Kritik versteht, kann dieser Beschreibung zustimmen, selbst wenn er oder sie Benhabibs Konklusion nicht beipflichtet, dass sein Vorhaben nicht gelingen könne, da es (wie auch Habermas behauptet) dem performativen Widerspruch zum Opfer falle. Meine eigene Verteidigung Adornos positioniert mich unter seinen vielen Leserinnen und Lesern hingegen an einer eher ungewöhnlichen Stelle. Ich stimme nämlich mit Habermas darin überein, dass Adornos Philosophie, so sie denn verteidigt werden kann, sich auf irgendeine Quelle von Normativität berufen können muss, bin aber nicht wie er der Meinung, dass Adorno eine solche Quelle nicht findet. Gleichzeitig stimme ich mit Freyenhagen zwar darin überein, dass Adornos Projekt philosophisch verteidigt werden kann, bin aber nicht seiner Auffassung, dass diese Verteidigung nur dann gelingen könne, wenn wir die Prämisse aufgeben würden, er sei in irgendeiner Weise auf das Wissen vom Falschen beschränkt. Freyenhagens Argumentation stößt darüber hinaus noch auf eine weitere Schwierigkeit, denn wenn er recht hätte, dann sollte man es Adorno gar nicht gestatten, sich auf irgendeine positive Norm des menschlichen Gedeihens zu beziehen. Die neoaristotelische Idee eines »Potenzials« ist aber gerade eine solche Norm: Die Verwirklichung solch eines Potenzials ist etwas, von dem wir finden, dass Menschen es tun sollten. Dieses philosophische Problem unterstreicht jedoch nur einen generelleren Punkt, dass nämlich das, was uns als ein rein negativer Duktus in der Gesellschaftstheorie vorkommen mag, nur selten wirklich durchweg negativ ist und oft ein implizites Bekenntnis zum Besseren und Wahren in sich birgt. 97 In einigen wohlbekannten Fällen bleibt dieses Bekenntnis aber zumeist unausgesprochen – was seinen Vertretern den

97 Ein weiterer Versuch, »das Positive« bei Adorno zu verteidigen, findet sich in Yvonne Sherratt, Adorno’s Positive Dialectic, Cambridge 2007.

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Vorwurf einer »Krypto-Normativität« eingebracht hat. 98 Im Falle von Adornos Philosophie glaube ich allerdings, dass dieser Vorwurf weit an der Realität vorbeigeht.

Die Frage der Übertreibung In der obigen Diskussion habe ich mich auf eher allgemeine Anmerkungen zu der Frage beschränkt, warum wir die immanentkritische Auffassung von Adornos Philosophie ihrer negativistischen Lesart vorziehen sollten. Man muss allerdings schon zugeben, dass sein Schreibstil ambivalent genug ist, um uns gute Gründe für beide Deutungen an die Hand zu geben. So behauptet er an manchen Stellen, dass unsere Kritik des Schlechten oder Falschen nur dann möglich sei, wenn wir einen Maßstab für das Richtige oder Wahre hätten, während er anderenorts mit nahezu identischem Eifer dafür plädiert, dass es philosophisch irrig oder politisch repressiv sei, wenn man verlange, dass Kritik immer auch an eine bessere Alternative gekoppelt sein müsse. Seine Widersprüchlichkeit in dieser Frage ist so ausgeprägt, dass Adorno gelegentlich sogar gewillt zu sein scheint, beide Positionen im selben Satz zu vertreten. In einer Radioansprache unter dem Titel »Kritik« von Ende Mai 1969 (einer seiner allerletzten öffentlichen Äußerungen) stellt er beispielsweise folgende Beobachtung an: »Tatsächlich ist es keineswegs stets möglich, der Kritik die unmittelbare praktische Empfehlung des Besseren beizugeben, obwohl vielfach Kritik derart verfahren kann, indem sie Wirklichkeiten mit den Normen konfrontiert, auf welche jene Wirklichkeiten sich berufen 98 Zur bekannten Kritik an Foucaults »Krypto-Normativität« siehe Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Kap. XI und X . Eine wichtige Analyse dazu findet sich in David Ingram, »Foucault and Habermas«, in: Gary Gutting (Hg.), The Cambridge Companion to Foucault, Cambridge 2005, S. 240-283.

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[…].« 99 Hier scheint Adorno also offenbar felsenfest davon überzeugt zu sein, dass eine »progressive Konzeption« [d. h. progressives Denken; Anm. d. Ü.] fälschlicherweise ein ungerechtfertigtes Vertrauen in die immanenten Bewegungen der Wirklichkeit setze, da »die höhere Form« der Gesellschaft »nicht mehr als Tendenz aus der Wirklichkeit konkret herauszulesen ist«. 100 Trotzdem aber beschließt er ebendiesen Beitrag (unter Verweis auf Spinoza) mit der kühnen Bekräftigung, dass »das Falsche, einmal bestimmt erkannt und präzisiert, bereits Index des Richtigen, Besseren ist«. 101 Die Lösung für dieses interpretatorische Rätsel ist keineswegs offensichtlich. Einerseits wird uns mitgeteilt, es sei (a) absolut möglich, dass Kritik immanent verfahren könne, weil wir die gegenwärtige Realität als defizient bewerten können, wenn wir sie an verfügbaren Normen messen. Andererseits heißt es aber, dass (b) Kritik keinesfalls immanent verfahren könne, weil unsere bestehende Ordnung keine inneren normativen Tendenzen umfasse, die auf eine bessere Alternative hindeuten würden. Da diese beiden Lesarten sich nun offenbar gegenseitig ausschließen, stehen wir vor einer folgenreichen Entscheidung – denn (a) und (b) können nicht beide zugleich wahr sein. Angesichts eines so grundsätzlichen Konflikts schon in der Textgrundlage könnten wir mithin zu dem Schluss tendieren, dass sich Adornos größeres philosophisches Projekt in einer unauflöslichen Antinomie verfangen hat – oder, einfacher ausgedrückt, dass seine Aussagen so wechselhaft sind wie der Wind. Es gibt allerdings noch eine dritte und wohlwollendere Möglichkeit, Adorno an dieser Stelle zu verstehen. Um wirklich zu erkennen, was in dieser Debatte auf dem Spiel steht, müssen wir uns nämlich genauer ansehen, wie er das rhetorische Mittel der Über99 GS 10.2, S. 455-799, hier S. 792 (meine Hervorhebungen, P. G.). 100 Ebd., S. 793 (meine Hervorhebung, P. G.). 101 Ebd. (meine Hervorhebung, P. G.).

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treibung einsetzt. Zustimmende Bemerkungen über die Übertreibung finden sich überall in seinem Werk, wobei die in der Minima Moralia am bekanntesten sind, wo er etwa erklärt: »An der Psychoanalyse ist nichts wahr als ihre Übertreibungen.« 102 Und in einem nicht weniger bekannten Kommentar zu den »dunklen Schriftstellern des Bürgertums« heißt es im selben Werk: »[N]ur die Übertreibung ist wahr.« 103 Diese Passage ist besonders instruktiv, da sie besagt, dass Kritiker wie Nietzsche und de Sade nicht als gnadenlose Gegner der Aufklärung, sondern als ihre Fürsprecher verstanden werden sollten. Anders als die positivistischen oder »hellen« Philosophen, die ihre Treue zur Aufklärung auch dann noch offen bekannten, als sie schon an deren Abstieg zu einem unreflektierten Instrumentalismus mitwirkten, hatten jene »dunklen Schriftsteller« immerhin den Mut gehabt, die widersprüchlichen Auswirkungen der Vernunft ehrlich in ihre Überlegungen einzubeziehen. Wir müssten ihre Kritik daher auf dialektische Weise verstehen: Ihr »geheime[r] Sinn« habe ihnen danach gestanden, »die Utopie aus ihrer Hülle zu befreien, die wie im kantischen Vernunftbegriff in jeder großen Philosophie enthalten ist: die einer Menschheit, die, selbst nicht mehr entstellt, der Entstellung nicht länger bedarf«. 104 Die verschiedenen Motive und Sinnzusammenhänge, die Adornos »Übertreibungskunst« informieren, haben zahlreiche Diskussionen angeregt. 105 Ich teile grundsätzlich die Meinung von Kritikern wie Bert van den Brink, denen zufolge die Übertreibung in 102 GS 4, S. 54. 103 GS 3, S. 139. 104 Ebd., S. 140. 105 Siehe bes. Bert van den Brink, »Gesellschaftstheorie und Übertreibungskunst. Für eine alternative Lesart der Dialektik der Aufklärung«, in: Neue Rundschau 108:1 (1997), S. 37-59. Eine entgegengesetzte Auffassung findet sich in Alexander García Düttmann, »Denken als Geste. Zur ›Dialektik der Aufklärung‹«, in: Zeitschrift für kritische Theorie 13 (2001), S. 57-66.

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seinem Werk ein in emanzipatorischer Absicht eingesetztes rhetorisches Mittel ist, insofern es uns bei unseren Bemühungen helfen soll, »dem lähmenden Zwang des Gegebenen zu entkommen«. Dies suggeriert allerdings, dass die Übertreibung dann, wenn sie auf das Ziel der menschlichen Freiheit gerichtet ist, ihr Bündnis mit der Aufklärung weiterhin aufrechterhalten würde. Die Absicht hinter der Übertreibung ist aber nicht, zu beschreiben, »was der Fall ist«, sondern vielmehr, unsere Kritik am Bestehenden zu motivieren. In seinem Aufsatz »Meinung Wahn Gesellschaft« von 1961 drückt Adorno diesen Gedanken kurz und bündig so aus: »Alles Denken ist Übertreibung, insofern als jeder Gedanke, der überhaupt einer ist, über seine Einlösung durch gegebene Tatsachen hinausschießt.« 106 Und obwohl sich noch zahlreiche weitere Stellen in seinem Werk anführen ließen, um die These zu stützen, dass die Übertreibung eine kritische Funktion besitzt, möge ein weiteres Beispiel genügen. In seinem Essay »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit« aus dem Jahr 1959 merkt Adorno nämlich an, dass viele Bürger es vorziehen würden, den Herausforderungen der Autonomie aus dem Weg zu gehen und sich einfach der Gedankenlosigkeit des Kollektivs zu überlassen. Doch diese Bemerkung will er eben nicht als bloße Beschreibung, sondern als Warnung verstanden wissen, und zwar in erster Linie vor der Welt, die immer noch im Entstehen begriffen ist. Daher erklärt er auch, dass er »das Düstere übertrieben [hat], der Maxime folgend, daß heute überhaupt nur Übertreibung das Medium von Wahrheit sei«. 107 Zu dieser sogenannten Maxime ist zunächst zu sagen, dass auch sie selbst eindeutig eine Übertreibung ist. Denn an anderen Stellen in seinem Werk lässt Adorno seine ausgefeilten rhetorischen Fertigkeiten in der Kunst der Übertreibung ungenutzt und nimmt 106 GS 10.2, S. 573-594, hier S. 577. 107 Ebd., S. 567.

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den nüchternen Tonfall eines Sozialphilosophen an, der die volle Komplexität der ihn umgebenden Welt seinem Publikum präzise vermitteln möchte. Da es also ganz offensichtlich ist, dass Adorno nicht immer übertreibt, müssen wir schlussfolgern, dass er übertreibt, wenn er sagt, dass die Übertreibung das einzige Medium der Wahrheit sei. Aber diese Maxime sollte auch noch aus einem völlig anderen und noch naheliegenderen Grund unser Misstrauen erregen. Bereits die Idee der Übertreibung impliziert nämlich eine Unterscheidung zwischen einer Aussage und den Zuständen, auf die sie sich bezieht. Denn eine Übertreibung ist schließlich immer die Übertreibung von etwas. Zu sagen, dass man übertrieben hat, heißt also einfach nur, zu sagen, dass man von einer exakten Beschreibung der gegebenen Umstände abgewichen ist, indem man bestimmte ihrer Merkmale stärker hervorgehoben und andere abgeschwächter dargestellt hat. Und Adorno gibt auch zu, dass er genau dies getan hat: In einer an eine Beichte erinnernden Weise erklärt er, er habe besonderes Gewicht auf den Aspekt des »Düsteren« gelegt. Ich schlage daher vor, dass wir die Übertreibung als eine Technik antizipatorischer Kritik begreifen, mit der er unsere Aufmerksamkeit auf jene Entwicklungen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit richten will, die bald schon ins Allgemeine metastasieren könnten, wenn man sie einfach gewähren ließe. Seine Übertreibungen dienen dann insofern einem kritischen Ziel, als sie als Mahnungen in Bezug auf die gerade im Entstehen begriffene Welt fungieren. In dieser Hinsicht haben seine diesbezüglichen Bemühungen viel mit dem Genre der dystopischen Erzählung gemein (etwa mit Aldous Huxleys Schöner neuer Welt, einem Roman, den Adorno faszinierend fand), in der die aufkeimenden Probleme der Gegenwartsgesellschaft in eine mögliche Zukunft projiziert werden. 108 108 Siehe Adornos Essay »Aldous Huxley und die Utopie«, GS 10.1, S. 97122.

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Wir können die offensichtliche Antinomie in Adornos Schriften zwischen totalem Negativismus einerseits und dialektischer Immanenz andererseits daher auflösen, wenn wir diejenigen seiner Aussagen, die dem Ersterem zuzuordnen wären, als Übertreibungen im eben von mir angedeuteten Sinne interpretieren. Sie sind also nicht als realitätsgetreue Beschreibungen der Welt in ihrem Istzustand zu verstehen; vielmehr sollen sie uns auf die in unserer bestehenden Gesellschaft erwachsenden Möglichkeiten hinweisen, die immer deutlicher hervortreten und am Ende vielleicht in totaler Finsternis enden können. In einer Diskussion im Anschluss an seinen Vortrag über die »Aufarbeitung der Vergangenheit« wurde Adorno im Jahr 1959 dazu gedrängt, zu erklären, was er mit seiner Behauptung meinte, dass Übertreibung als Mittel in Bildung und Erziehung eingesetzt werden könne. In seiner Antwort sagte er, dass er sich zunächst »gegen ein Mißverständnis« wenden wolle und »es nicht verantworten« könne, »für die Erziehung Übertreibung anzuraten«. Er räumt ein, dass er »vielleicht übertrieben« habe, erklärt dann aber, dass ihm diese Übertreibung […] ein notwendiges Medium der gesellschaftstheoretischen und der philosophischen Darstellung zu sein scheint, weil ja das mittlere, normale Fassadendasein solche Potentiale im allgemeinen verdeckt, und weil gegenüber der mittleren durchschnittlichen Alltäglichkeit der Hinweis darauf, was darunter droht, zunächst einmal immer den Charakter der Übertreibung hat. Ich würde dringend davor warnen, etwa in der pädagogischen Arbeit zu übertreiben. Im Gegenteil, ich würde sagen, je weniger der Gedanke dabei an Propaganda auch nur aufkommt, je strenger sich man an die Tatsachen hält, die ja weiß Gott für sich selber oder gegen sich selber sprechen, um so besser ist es. 109 109 Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit? Bericht über die Erzieherkonferenz am 6. und 7. November 1959 in Wiesbaden, veranstaltet und herausgegeben vom Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christ-

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In seiner Antwort zieht Adorno also eine klare Grenze zwischen dem Drohenden einerseits und den gegebenen Tatsachen andererseits, und dies legt wiederum nahe, dass Übertreibungen einen antizipatorischen Status besitzen, der mit den immanenten Möglichkeiten vergleichbar ist, die eine so prominente Rolle in der Marx’schen Geschichtsphilosophie spielen – mit dem Unterschied, dass Adornos Übertreibungen Vorwegnahmen der gesellschaftlichen Katastrophe und nicht der gesellschaftlichen Erfüllung sind. Wir sollten auch beachten, dass Adorno dann, wenn er den Versuchungen des Aphoristischen widersteht, die berühmte These vom fehlenden »richtigen Leben« nicht vertritt. So spricht er in der Vorlesung Probleme der Moralphilosophie von einer aufkommenden Entwicklungstendenz statt von einem Endzustand, wenn er uns nachdrücklich darauf hinweist, dass das, was »die Thematik einer jeden tiefergreifenden Besinnung auf moralische oder ethische Fragen ausmachen sollte, nämlich die Frage, ob die Kultur und das, wozu diese sogenannte Kultur geworden ist, überhaupt so etwas wie richtiges Leben zuläßt oder ob sie ein Zusammenhang von Institutionen ist, der in zunehmendem Maß ein solches richtiges Leben geradezu verhindert«. 110 Wir dürfen also keinesfalls den eindeutig zeitgebundenen und antizipatorischen Status der Übertreibung in Adornos Schriften aus den Augen verlieren, um nicht zu der Konklusion gezwungen zu sein, dass er gegen die Bedingung der Selbstreflexivität verstoßen hat, indem er eine Welt beschrieb, in der seine eigenen kritischen Einsichten gar nicht existieren könnten. Die Übertreibung kann den Interessen der Kritik nur so lange dienlich sein, wie es eine Lücke zwischen ihr und der Deskription gibt. Leider schreibt Adorno nun nicht immer in einer Weise, die dieser Lücke Rechlich-Jüdische Zusammenarbeit, Frankfurt/M. 1959, S. 24-33, hier S. 32 (meine Hervorhebungen, P. G.). 110 NGS, Abt. IV, Bd. 10, S. 28 (meine Hervorhebungen, P. G.).

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nung trägt, und erklärt die Welt in diesem Zuge zu einer monolithischen Ganzheit, während die explizite Absicht seiner Gesellschaftskritik doch gerade darin besteht, diese Uniformität als Täuschung zu entlarven. 111 Wir müssen daher schließen, dass gerade 111 Axel Honneth hat ein interessantes alternatives Verständnis von Adornos Übertreibungskunst vorgeschlagen. In seinen Augen verwendet Adorno diese nämlich zum Zwecke einer »erschließenden Kritik« der Gesellschaft. Dabei handelt es sich Honneth zufolge um eine Form von Kritik, die nicht länger auf immanente soziale Normen als Ausgangspunkt für die Formulierung von Einsprüchen gegen die bestehende Ordnung vertraut. Grund dafür ist, dass diese Ordnung als vollumfänglich falsch oder (mit Honneth gesprochen) »pathologisch« angesehen wird.Wenn eine gegebene Gesellschaft aber in diesem umfassenden oder totalisierenden Sinne pathologisch ist, dann ist eine immanente Kritik, die sich auf die vorhandenen Normen bezieht, nicht mehr tragfähig; vielmehr muss man sich in diesem Fall auf die rhetorische Kraft einer anderen Beschreibung der Gesellschaft stützen. Ein solches Verfahren »evoziert nicht mehr als eine neue, unvertraute Sicht unserer sozialen Welt, ohne damit als solche auch schon den sozialtheoretischen Nachweis geführt zu haben, daß es sich so tatsächlich auch verhält«. Es ist interessant, dass Honneth hier nicht versucht, diese Beobachtungen auf Adornos Philosophie generell zu übertragen; erschließende Kritik sei vielmehr in der gemeinschaftlich verfassten Dialektik der Aufklärung die kollektiv verfolgte Strategie (siehe Axel Honneth, »Über die Möglichkeit einer erschließenden Kritik«, in: ders., Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt/M. 2000, S. 70-87, hier S. 87). Die Diskussion darüber, ob wir diese Schrift als eine totalisierende Verurteilung der modernen Pathologien interpretieren sollten, wird ohne Zweifel weitergehen. Aus Gründen, die ich an anderer Stelle in diesem Buch darlegen werde, bin ich nicht davon überzeugt, dass die Dialektik der Aufklärung jegliche Berufung auf immanente Quellen der Normativität verwirft. Besonders die Kategorie der Mimesis deutet meines Erachtens gerade auf jene Art von gesellschaftsinhärenten Ressourcen hin und fungiert als Garant für eine alternative Lesart der ansonsten ziemlich pessimistisch anmutenden Schlussfolgerungen dieses Buchs. Doch jenseits unserer Differenzen in dieser Frage stimme ich zu, dass es unklug wäre, allgemeine Schlüsse über Adornos eigene philosophische Positionierungen aus den Überlegungen in dem Buch abzuleiten, das er gemeinsam mit Horkheimer verfasst hat.

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seine rhetorischen Fähigkeiten in der Kunst der Übertreibung seinen philosophischen Absichten oft einen Bärendienst erweisen, insofern seinen Leserinnen und Lesern das Moment der kritischen Antizipation in diesen Übertreibungen leicht entgeht und sie die Letzteren in der Folge als simple Feststellungen darüber deuten, wie die Welt aktuell beschaffen ist.

Marx’ kritische Methode An dieser Stelle ist es wichtig, noch eine weitere Überlegung zu erwähnen, die für die immanent-kritische Deutung spricht. Diese betrifft die Affinitäten zwischen Adorno und den größeren Traditionszusammenhängen des historischen Materialismus und des Neomarxismus. Natürlich sollten solche Affinitäten nicht überbetont werden – Adorno war ein viel zu idiosynkratischer und heterodoxer Denker, als dass wir sein Werk als einen Teil des offiziellen Kanons der marxistischen Doktrin kategorisieren dürften, und selbst noch der umfassendere Begriff des »westlichen Marxismus« könnte gerade dasjenige eher verschleiern, was an seiner Philosophie am instruktivsten ist. 112 Aber ich würde dennoch behaupten, dass es hier einen auffallenden Berührungspunkt gibt. Das möglicherweise hervorstechendste Merkmal des historischen Materialismus ist ja das ihm eigene Prinzip der dialektischen Immanenz, das heißt der Grundsatz, dass historischer Wandel sich aus den immanenten Widersprüchen der Geschichte selbst er-

112 Zu Adorno und dem Thema des immanenten Widerspruchs im Verhältnis zum westlichen Marxismus siehe Martin Jay, Marxism and Totality. Adventures of a Concept from Lukács to Habermas, Berkeley 1984, bes. Kap. 8, S. 241-275. Ein eher skeptisches Urteil über die Beziehung Adornos zum Marxismus findet sich in Perry Anderson, Considerations on Western Marxism, London 1976.

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gibt. 113 Dieses Prinzip ist eine offenkundige Reverenz an Hegels These, dass der Geist »[d]iese Macht« nicht »als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht«, sei, »sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt.«114 Marx hatte dieses Prinzip von Hegel übernommen; er war der Überzeugung, dass es möglich sei, Momente der Spannung oder des Widerspruchs innerhalb der bestehenden sozialen Wirklichkeit zu identifizieren, die Anzeichen für eine sich letztlich selbstrealisierende Zukunft seien. Es ist natürlich richtig, dass sich Marx erbittert gegen die Verunreinigung seiner sozialistischen Theorie mit von ihm so genannten »utopischen« Topoi zur Wehr setzte, da er in Abrede stellte, dass es für uns in unserem eigenen historischen Moment möglich sei, eine vollständige und unveränderliche Kenntnis von den Werten und Verhältnissen zu haben, die wir nur noch auf die noch nicht verwirklichte Zukunft anwenden müssten. 115 Sein Kollege Engels lehnte die utopischen 113 Die Bemerkung könnte relevant sein, dass dieses Prinzip eine entscheidende Differenz zwischen Adorno und seinem Kollegen Walter Benjamin markiert. Wie ich anderenorts erklärt habe, beruft sich Benjamin in seiner späten Geschichtsphilosophie auf eine extrahistorische Macht, die wie von außen in das historische Kontinuum eindringt. Diese Bezugnahme auf ein transzendentes oder »messianisches« Hereinbrechen verstößt allerdings gegen das Prinzip der dialektischen Immanenz und wirft daher ernste Zweifel daran auf, ob Benjamin überhaupt eine reale Verbindung mit dem historischen Materialismus unterhalten hat. Siehe Peter E. Gordon, Migrants in the Profane. Critical Theory and the Question of Secularization, New Haven 2020. 114 G.W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: ders., Werke, Bd. 3, Frankfurt/M. 1979, S. 36. 115 Eine versöhnlichere Lesart von Marx’ Haltung dem Utopismus gegenüber findet sich in Steven Lukes, »Marxism and Utopianism«, in: Peter Alexander, Roger Gill (Hg.), Utopias, London 1984, S. 153-167; zu einer Rekonstruktion von Marx als einem Kritiker des Utopismus siehe Shlomo Avineri, »Marx’s Vision of Future Society and the Problem of Utopianism«, in: Dissent 20:3 (1973), S. 323-331, wo dieser schreibt: »Für Marx ist das Hauptpro-

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Tendenzen im sozialistischen Denken des 19. Jahrhunderts sogar noch entschiedener ab; er war nämlich davon überzeugt, dass der Utopismus das Prinzip der geschichtlichen Immanenz verletze, indem er den Sozialismus zu einer »absolute[n] Wahrheit« aufblähe, die »unabhängig ist von Zeit, Raum und menschlicher geschichtlicher Entwicklung«. 116 Ungeachtet solcher Kritik hingen jedoch Marx wie auch Engels dem Grundsatz an, dass die Gegenwart widersprüchliche Tendenzen enthalte, die den Status von Versprechen auf die Zukunft haben. Allein dieses Prinzip der dialektischen Immanenz kann auch die berühmte marxistische Ansicht stützen, dass sich das proletarische politische Bewusstsein erst in der bürgerlichen Gesellschaft selbst entwickle. In seiner »Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation« aus dem Jahr 1864 zum Beispiel pries Marx die sogenannte Zehnstundenbill vollmundig als den »Sieg eines Prinzips«, denn mit ihr »erlag die politische Ökonomie der Mittelklasse [erstmals] in hellem Tageslicht vor der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse«. 117 Ein solches Lob für ein inneres Prinzip legt nahe, dass er trotz seines Antiutopismus einer Theorie des immanenten Widerspruchs anhing, die es ihm erlaubte, eine zumindest partielle epistemische Vertrautheit mit in die Zukunft gerichteten Elementen oder Themen zu entwickeln, die in der geschichtlichen Dynamik des gegenwärtigen Augenblem an den utopischen Denkern letztlich ein epistemologisches. Nicht, dass ihre Ideen nicht zu verwirklichen oder nicht praktikabel wären oder ihre Ursprünge in einem Wolkenkuckucksheim lägen; dass sie sich irren, liegt ihm zufolge vielmehr daran, dass sie überhaupt Systeme aushecken.« 116 Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: MEW, Bd. 19, Berlin 1973, S. 177-228, hier S. 200. 117 Karl Marx, »Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation, gegründet am 28. September 1864 in öffentlicher Versammlung in St. Martin’s Hall, Long Acre, in London«, in: MEW, Bd. 16, Berlin 1975, S. 5-13, hier S. 11 (meine Hervorhebung, P. G.).

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blicks bereits vorhanden sind. Und Marx hat diese Vertrautheit auch nie bestritten. Tatsächlich war er ja sogar der Auffassung, dass die Gegenwart zunächst einmal all ihre inneren Widersprüche maximal würde entfalten müssen, bevor deren Summe der Gegenwart dann ein Ende bereiten würde. So schrieb er im Vorwort zu Kritik der politischen Ökonomie aus dem Jahr 1859: »Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.« 118 Und in seinem Aufsatz über die Pariser Kommune von 1871 führt er weiter aus, dass die Arbeiterklasse zwar »keine fix und fertigen Utopien durch Volksbeschluß einzuführen« und »keine Ideale zu verwirklichen« habe, beharrt aber darauf, dass es dennoch ihre Aufgabe sei, »die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben«. 119 Die berühmte Metapher von der Geburtshilfe – das heißt von der Gegenwart, die mit der Zukunft schwanger geht – unterstreicht noch einmal Marx’ Bild von der Geschichte als einem Prozess, der nicht durch reine Negation voranschreite, sondern vielmehr mit jenen immanenten Kräften trächtig sei, die letztlich eine neue Wirklichkeit produzieren werden. Es wäre nun außerordentlich seltsam, wenn Marx behauptet hätte, dass die Zeitgenossen einer gegebenen Epoche nicht auch schon vor der Revolution zumindest irgendeine epistemische Vertrautheit mit solchen 118 Eine umfassende Untersuchung dieser Passage mit Blick auf Hegel findet sich in Gerald A. Cohen, Karl Marx’s Theory of History. A Defence, Princeton 1979, S. 27. 119 Karl Marx, »Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation«, in: MEW, Bd. 17, Berlin 1973, S. 313-365, hier S. 343.

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Produktivkräften entwickeln könnten. Und er hat glücklicherweise auch nie eine derart extravagante Skepsis über die immanenten Normen zum Ausdruck gebracht, die in die Richtung der Selbstüberwindung einer Epoche deuteten. 120 Ähnlich wie Hegel wollte auch Marx jenes »Sollen« identifizieren, das bereits latent im »Sein« vorhanden ist – das Vernünftige, das als untergründig aktives Moment im Wirklichen schlummert und noch nicht realisiert ist. Dieses dialektische Prinzip einer immanenten Normativität vertrat er bereits 1843 in seinem bekannten Brief an Arnold Ruge: Der Kritiker kann also an jede Form des theoretischen und praktischen Bewußtseins anknüpfen und aus den eigenen Formen der existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck entwickeln. 121

Ganz gleich also, wie rigoros er den Utopismus auch ablehnte: Marx glaubte fest an die Möglichkeit, die normativen Festlegungen des heutigen Bewusstseins als eine Ressource für die Verwirklichung des Künftigen mobilisieren zu können. Durch die Verortung des Sollens innerhalb des Seins konnte er eine dialektische Kontinuität zwischen Gegenwart und Zukunft behaupten.122 Oder 120 Siehe Georg Lohmann, »Marx’s Capital and the Question of Normative Standards«, in: Praxis International 6:3 (1986), S. 354-372. 121 Karl Marx, [Briefe aus den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern«], Brief an Arnold Ruge, September 1843, in: MEW, Bd. 1, Berlin 1976, S. 337-346, hier S. 345. 122 Eine klassische Formulierung dieses Themas der immanenten Normativität findet sich in einem Brief des jungen Marx an seinen Vater vom 10. November 1837, in dem er schreibt: »Von dem Idealismus, den ich, beiläufig gesagt, mit Kantischem und Fichteschem verglichen und genährt, geriet ich dazu, im Wirklichen selbst die Idee zu suchen. Hatten die Götter früher über der Erde gewohnt, so waren sie jetzt das Zentrum derselben geworden« (Karl Marx, [Brief an den Vater in Trier], in: MEW, Bd. 40, Berlin 1973, S. 312, hier S. 8; meine Hervorhebung, P. G.).

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wie er es gegenüber Ruge im selben Brief formulierte: »Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien.« 123

Die Idee des normativen Überschusses Der Gedanke der dialektischen Immanenz macht uns auf ein Phänomen aufmerksam, das Axel Honneth als »normativen Überschuss« bezeichnet. Die Idee eines solchen Überschusses trägt eine gewisse Ironie in die historische Dynamik gesellschaftlicher Normen ein, und zwar aus folgendem Grund. Jede Gesellschaft kann zunächst einmal als eine normative Ordnung in dem Sinne verstanden werden, dass sie sich bestimmten grundlegenden Maßstäben oder moralischen Werten verschreibt. Diejenigen, die in dieser Ordnung am erfolgreichsten sind oder am stärksten von ihr profitieren, werden behaupten, dass diese Maßstäbe im größtmöglichen Umfang realisiert worden seien. Sie werden außerdem behaupten, dass ihre Gesellschaft mittlerweile die gewünschte Übereinstimmung ihrer Maßstäbe mit ihren realen Verhältnissen erreicht habe – auch wenn die praktische Verwirklichung der Ersteren leider auf einem langen und steinigen Weg des historischen Experimentierens erfolgen musste –, so dass es fortan keiner weiteren Veränderungen mehr bedürfe. Die Ironie kommt ins Spiel, wenn sich dagegen herausstellt, dass diese Maßstäbe eben doch auch so gedeutet werden können, noch eine weitergehende Transformation über den Zustand hinaus zu implizieren, den ihre aktuellen Nutznießer möglicherweise im Sinn gehabt haben. Und das ist dann der Fall, wenn diejenigen, die nicht zu den aktuellen Profiteuren der bestehenden Verhältnisse gehören, zu der Erkenntnis gelangen, dass die betreffenden Standards Implikationen ha123 Marx, [Briefe aus den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern«], S. 345 (meine Hervorhebung, P. G.).

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ben, die bis dato entweder weithin unbemerkt geblieben sind oder als illegitim, utopisch und so weiter abgetan wurden. Diese Implikationen stehen dann für einen normativen Überschuss in der bestehenden normativen Ordnung, so dass sich in der Folge unterdrückte Gruppen auf diesen berufen können, wenn sie die Legitimität ihrer Forderungen nach einem weiteren gesellschaftlichen Wandel begründen wollen. Eine klassische Illustration dieses Phänomens findet sich in Marx’ Bemerkungen über den Unterschied zwischen politischer und menschlicher Emanzipation. In seinem Aufsatz zur »Judenfrage« bringt er seine entschiedene Unterstützung für die emanzipatorischen Ideale bürgerlicher Inklusion und Gleichheit zum Ausdruck, wie sie in den Revolutionen Europas und Nordamerikas im 18. Jahrhundert kodifiziert worden waren. 124 Marx vertritt nämlich nur äußerst selten tatsächlich die skeptische Position, dass solche Ideale nichts als Ideologie seien. 125 Vielmehr tendiert er dazu, diese Ideale sogar zu bekräftigen, da sie die damals vorherrschende Vorstellung von einer Freiheit für alle Bürger unter den Bedingungen der aufkeimenden kapitalistischen Ordnung in eine offizielle Form brachten. Bürgerliche Freiheit wird hier als politische Freiheit verstanden. Zwar betrachtet er dieses bürgerliche 124 Siehe dazu z. B. Shlomo Avineri, »Marx and Jewish Emancipation«, in: Journal of the History of Ideas 25:3 (1964), S. 445-450. 125 Eine seiner etwas bekannteren Äußerungen dieser Art findet sich in seiner »Kritik des Gothaer Programms«, in der der Satz steht: »Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft« (Karl Marx, »Kritik des Gothaer Programms«, in: MEW, Bd. 19, Berlin 1973, S. 13-32, hier S. 21). Solche Aussagen als sein letztes Wort in dieser Sache zu betrachten, ist zwar nicht gerechtfertigt, hat aber dennoch eine interessante Reihe von Forschungsarbeiten zum Thema Marxismus und Normativität inspiriert. Siehe dazu zum Beispiel Allen W. Wood, »The Marxian Critique of Justice«, in: Philosophy and Public Affairs 1:3 (1972), S. 244-282, sowie Richard W. Miller, Analyzing Marx. Morality, Power, and History, Princeton 1984.

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Freiheitsmodell eben nur als ein formelles und damit als unvollkommen, und er beharrt zudem darauf, dass es in seiner politischrechtlichen Form in einer höheren Gestalt einer wahrhaft umfassenden oder »menschlichen« Freiheit zugleich untergehen und dialektisch erfüllt werden müsse. Aber das heißt nicht, dass Marx jemals die Legitimität der bürgerlichen Freiheit leugnen würde. Ganz im Gegenteil: Er bekräftigt sie und geht sogar so weit, zu behaupten, dass jeder Staat, der sie nicht hochhalte, noch nicht vollständig bürgerlich sei. So schreibt er etwa in Die heilige Familie, dass »[d]ie Staaten […], welche den Juden noch nicht politisch emanzipieren können, […] wieder am vollendeten politischen Staate zu messen und als unentwickelte Staaten nachzuweisen [sind]«. 126 In dieser These steckt ein normatives Geschichtsmodell, das der Bourgeoisie eine notwendige Rolle bei der Aushöhlung aller Elemente der Gesellschaft zuweist bis hin zu dem Punkt, an dem »Freiheit« nichts anderes mehr meint als die Freiheit zur egoistischen Selbstbehauptung und für das Privateigentum. An dieser Stelle tritt der Gedanke eines normativen Überschusses deutlich in den Vordergrund. Denn Marx erkennt hier, dass der Maßstab der Freiheit, der als die strukturgebende Norm der bürgerlichen Gesellschaft betrachtet wird, noch weitere Implikationen besitzt, die im individualistischen Rahmen jener Gesellschaftsordnung nicht vollständig realisiert werden können, jedoch für die Idee der Freiheit selbst konstitutiv sind. Freiheit meine nämlich nicht nur die formelle (politische und rechtliche) Freiheit der besitzenden Bürger; sie meine auch die substanzielle Freiheit des vollständig verwirklichten Menschen. Was die Bourgeoisie als Freiheit verstehe, sei daher einseitig und selbstwidersprüchlich, 126 Karl Marx, Friedrich Engels, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten, in: MEW, Bd. 2, Berlin 1962, S. 3-224, hier S. 117 (zit. in Avineri, »Marx and Jewish Emancipation«, S. 450).

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selbst noch während es einen »Überschuss« oder ein unerfülltes Versprechen in sich berge. Diesem Gedanken des normativen Überschusses stellt Marx allerdings noch die weitergehende These zur Seite, dass das bürgerliche Freiheitsideal zugleich auch als Ideologie fungiere: Politische Freiheit sei der menschlichen Freiheit gegenüber nicht nur indifferent, sondern trage sogar dazu bei, die Ungleichheiten des sozioökonomischen Status der Menschen noch zu verfestigen. Marx kann daher behaupten, dass (a) politische Emanzipation eine Voraussetzung für menschliche Emanzipation sei, obgleich er parallel dazu auch behaupten kann, dass (b) die politische Emanzipation apologetischen und ideologischen Zielen diene, weil sie unsere Einsicht in die Notwendigkeit für weitere gesellschaftliche Veränderungsprozesse blockiere. Unter dem Strich gelangt er also zu der Einsicht, dass das Ideal der Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft von intrinsisch dialektischer Natur ist – es ist zugleich Ideologie und mehr als Ideologie. Mit Honneth könnten wir dies auch so ausdrücken, dass die bürgerliche Freiheitsidee einen normativen Überschuss in sich trage, der über die Beschränkungen der bürgerlichen Gesellschaft hinausweise. Und wir sollten – wiederum in Anlehnung an Marx – auch noch ergänzen, dass der normative Überschuss der aktuell geltenden Maßstäbe oft in einem solchen Ausmaß verschleiert ist, dass wir schon durch die bloße Vorstellung entmutigt werden, dass noch irgendeine weitere Transformation der Gesellschaft notwendig oder wünschenswert sein könnte. Die finale Ironie besteht dann schließlich darin, dass ausgerechnet ebendieser Überschuss ideologisch werden kann. Denn das Versprechen auf ein »Entkommen« aus der gegenwärtigen Ordnung kann auch eine apologetische Funktion erfüllen, dann nämlich, wenn jede tiefere Einsicht in unsere eigene Unfreiheit in eine Fantasie verwandelt wird, die es dieser Unfreiheit erlaubt, unangefochten fortzubestehen. Adornos Version einer kritischen Theorie vertritt alle drei dieser Thesen: Die bürgerliche Gesellschaft wird bei ihm erstens als 96

eine sich selbst bestätigende Ordnung verstanden, in der die herrschenden Normen eine weithin apologetische oder ideologische Funktion erfüllen. Zugleich wird sie aber auch zweitens als eine selbstwidersprüchliche Ordnung aufgefasst, die einen normativen Überschuss enthält, der ein genuines Ideal des menschlichen Gedeihens zum Ausdruck bringt, und zwar selbst dann, wenn es unrealisiert bleibt. Wie Marx streut auch Adorno hier allerdings die zusätzliche Ironie ein, dass drittens selbst der normative Überschuss in der bürgerlichen Gesellschaft noch ideologischen Zielen dienen kann, weil er uns die Illusion eines Auswegs gibt, die dazu beiträgt, die Probleme unserer bestehenden Verhältnisse zu verschleiern. Für Adorno ist es die Kulturindustrie, die diese ideologische Funktion erfüllt. Trotzdem geht er aber nie so weit, diesen normativen Überschuss gänzlich abzulehnen, und er glaubt auch nicht, dass dieser notwendigerweise nichts anderes als eine ideologische Fantasie wäre. Im Gegenteil ist es für seine Argumentation von entscheidender Bedeutung, dass dieser Überschuss einen dialektischen Charakter aufweist, denn er deutet ihm zufolge ja über die Gegenwart hinaus und blockiert auch unsere tiefere Einsicht in das, was gegenwärtig falsch ist. »Alles Glück bis heute verspricht, was noch nicht war, und der Glaube an seine Unmittelbarkeit ist dem im Wege, daß es werde«, wie es bei ihm heißt. 127 Es wäre daher ein Fehler, Adorno als einen modernen Gnostiker zu verstehen, da er es sich niemals gestattet, in eine einseitige oder totalisierende Kritik des Glücks als bloßer Ideologie zu verfallen. Im Gegenteil nimmt er die schwierige Position eines Dialektikers ein, der den normativen Überschuss erkennt, welcher in den ideologischen Repräsentationen oder Praktiken selbst steckt: Was noch nicht vollständig realisiert ist, fungiert dennoch als Vorzeichen für seine Verwirklichung in der Zukunft. In der Gesamtbetrachtung scheint mir die These recht unkont127 In Negative Dialektik, GS 6, S. 345f., hier S. 346.

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rovers zu sein, dass sich Adorno einem Prinzip der dialektischen Immanenz verschrieben hat. Weder verdammt er nämlich unser Leben in der Gegenwart einfach rundheraus als falsch, noch behauptet er, dass wir zur totalen Unkenntnis dessen verurteilt wären, was ein wahres Leben ausmachen würde. Stattdessen räumt er bereitwillig ein, dass wir innerhalb unserer bestehenden Ordnung und sogar innerhalb der Grenzen unserer individuellen Erfahrung Momente identifizieren können, die »nichtidentisch« sind, das heißt in Disharmonie mit der generellen Struktur der Dinge stehen. Und so wie Marx erachtet er diese Momente des Widerspruchs als immanente Anzeichen künftiger Möglichkeit. Für Adorno werden somit selbst noch die kleinsten und scheinbar unbedeutendsten Elemente unserer aktuellen Erfahrung zu dem, was er als »Übungen zum richtigen Leben« bezeichnet. 128 Und wenn wir unsere Untersuchung zumindest für den Augenblick einmal nur auf dieses Thema verengen, dann können wir mit Recht schließen, dass auch Adorno einen Platz unter den in der neomarxistischen Tradition stehenden Gesellschaftstheoretikern verdient.

Ästhetik und der normative Überschuss Diese ungefähren Ähnlichkeiten festzustellen, bedeutet nun allerdings nicht, dass Adorno im doktrinären oder politischen Sinne als Marxist charakterisiert werden sollte. Sie weisen vielmehr darauf hin, dass wir auf weitere Punkte achten sollten, die er eventuell mit Marx und anderen Theoretikern in der Tradition des dialektischen Materialismus teilen könnte. In dieser Hinsicht müssen wir auch das enorme Gewicht berücksichtigen, das Adorno dem Problem der Ästhetik beilegt. In der offiziellen Ausgabe sei128 GS 4, S. 147.

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ner gesammelten Schriften ist tatsächlich die Hälfte der veröffentlichten Bände Fragen der Musik gewidmet; und viele weitere beschäftigen sich mit literarischen Problemen. Adorno hielt mehrere Vorlesungsreihen zur Ästhetik und arbeitete noch zum Zeitpunkt seines Todes an seiner großen Abhandlung zum Thema, der Ästhetischen Theorie, die 1970 posthum erschien. Seit jener Zeit waren Kritikerinnen und Kritiker immer wieder versucht, sich dem feindseligen Urteil von Hans-Jürgen Krahl anzuschließen, der verächtlich von der Flucht seines Lehrers in die »ästhetischen Abstraktionen« sprach. 129 Die große Bedeutung, die Adorno der ästhetischen Erfahrung zusprach, darf allerdings weder als eine bürgerliche Schwärmerei noch als ein Rückzug auf den Parnass abgetan werden. Ganz im Gegenteil hat er in seinem Umgang mit Musik und Literatur konsequent das interpretative Prinzip der dialektischen Immanenz verfolgt, nach dem gilt, dass alle ästhetische Schöpfung, so wie andere Sphären des menschlichen Lebens auch, »Ideologie und zugleich mehr als bloße Ideologie« ist. 130 Ein Kunstwerk ist zwar ohne Zweifel ein Produkt seine 129 Hans-Jürgen Krahl, »Der politische Widerspruch der Kritischen Theorie Adornos«, in: ders., Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution, Frankfurt/ M. 1971, S. 291-294, hier S. 291; online verfügbar unter 〈https://krahl-seiten. de/der-politische-widerspruch-der-kritischen-theorie-adornos〉, letzter Zugriff 22. 11. 2022. 130 Dieses dialektische Prinzip erhielt seine klassische Formulierung (deren Wortlaut ich hier übernommen habe) von Jürgen Habermas im Rahmen seiner Analyse des Begriffs der Öffentlichkeit: »Solange die genannten Voraussetzungen als gegeben angenommen werden konnten, solange Öffentlichkeit als Sphäre existierte und als Prinzip funktionierte, war das, was das Publikum zu sein und zu tun glaubte, Ideologie und zugleich mehr als Ideologie. Auf der Basis der fortwährenden Herrschaft einer Klasse über die andere hat diese gleichwohl politische Institutionen entwickelt, die als ihren objektiven Sinn die Idee ihrer eigenen Aufhebung glaubhaft in sich aufnehmen […]. Wenn Ideologien nicht nur das gesellschaftlich notwendige Bewußtsein in seiner

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eigenen Epoche, birgt aber auch einen normativen Überschuss in sich, der sich von seiner Umgebung freimacht. Und nur dieser Überschuss kann erklären, warum Adorno (im Anschluss an Stendhal) in der Kunst »une promesse du bonheur«, also ein Glücksversprechen erkannte. 131 Auch Marx selbst war dieser Gedanke nicht fremd. In der Einleitung zu seinen Grundrissen etwa schrieb er über die zwiefache Eigenart von Kunstwerken, etwa solchen aus dem antiken Griechenland, dass sie »an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind«, uns aber dennoch »Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten«. 132 Mit dieser dialektischen Auffassung der Beziehung zwischen Ästhetik und geschichtlichen Umständen im Hintergrund gesteht er denn auch bereitwillig zu, dass »[e]in Mann […] nicht wieder zum Kinde werden [kann], oder er wird kindisch« – was bedeutet, dass die Kunst der Vergangenheit zumindest in diesem Sinne auch der Vergangenheit angehört. Trotzdem ließ Marx es nicht zu, dass diese historistische Sichtweise unsere WertschätFalschheit schlechthin anzeigen, wenn sie über ein Moment verfügen, das, indem es utopisch das Bestehende über sich selbst, sei es auch zur Rechtfertigung bloß, hinaushebt, Wahrheit ist, dann gibt es Ideologie überhaupt erst seit dieser Zeit« (Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1990, S. 159f.; meine Hervorhebungen, P. G.). 131 Siehe zu diesem Begriff James G. Finlayson, »The Artwork and the Promesse du Bonheur in Adorno«, in: European Journal of Philosophy 23:3 (2015), S. 392-419. Unten in Kap. 6 lege ich eine ähnliche Diskussion dieses Konzepts vor. 132 »Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin zu verstehn, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten« (Karl Marx, Grundrisse der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 13, Berlin 1971, S. 615642, hier S. 641; meine Hervorhebung, P. G.).

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zung für Kunstwerke aus früheren Zeiten mindert oder gar gänzlich zunichtemacht. Er erkannte vielmehr, dass die Kunst eine Trägerin normativer Lehren ist, die über den Augenblick ihrer Entstehung hinausreichen und eine bessere, wenn auch noch unrealisierte Welt vorwegnehmen. Dementsprechend fragt er im Anschluss dann auch rhetorisch: »Aber freut [den Mann] die Naivetät des Kindes nicht, und muß er nicht selbst wieder auf einer höhren Stufe streben, seine Wahrheit zu reproduzieren?« 133 Diese Frage diente vor allem dazu, seine Ablehnung jeglichem Historismus gegenüber deutlich zu machen, der das Kunstwerk in einer hermetisch versiegelten Vergangenheit einzuschließen bestrebt ist. Stattdessen hielt er an jener historischen Dialektik fest, die es der Wahrheit eines Kunstwerks gestattet, den Zeitpunkt seiner Entstehung zu überschreiten. Adorno wird auf dieser Thematik einer normativen Rückgewinnung [recuperation] aufbauen, und das nicht nur in Bezug auf den Wahrheitswert der ästhetischen Erfahrung; auch in seiner Analyse von Kindheitserfahrungen wird sie erneut auftauchen. Diese dialektische Auffassung des Verhältnisses früherer Normativität zu dem Bedeutungsüberschuss, der für künftige Generationen erhalten bleibt, ist einer der bedeutendsten Topoi, die Adorno mit der marxistischen Tradition verbinden, und wenn wir seine Bedeutung nicht angemessen berücksichtigen, bleibt ein erheblicher Teil von Adornos Philosophie für uns unverständlich.

133 »Ein Mann kann nicht wieder zum Kind werden, oder er wird kindisch. Aber freut ihn die Naivetät des Kindes nicht, und muß er nicht selbst wieder auf einer höhern Stufe streben, seine Wahrheit zu reproduzieren?« (Ebd., S. 641f.; meine Hervorhebung, P. G.)

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Was bei der Gesellschaftskritik auf dem Spiel steht Am Ende ist das, was hier auf dem Spiel steht, jedoch weitaus wichtiger als die interpretatorische Frage, ob es uns gelungen ist, Adorno richtig zu verstehen. Das drängendere Problem ist vielmehr das, ob die philosophische Sichtweise, die wir ihm unterstellen, sich mit unserer eigenen möglichen Auffassung davon deckt, wie unsere gegenwärtig bestehende soziale Welt beschaffen ist. Und dies ist nun genau der Punkt, an dem die immanent-kritische Interpretation einen ganz entscheidenden Vorteil besitzt. Sie macht uns nämlich auf die verfügbaren moralischen und politischen Ressourcen aufmerksam, die wir so dringend brauchen, wenn wir auch nur irgendeinen Einwand gegen die bestehenden Verhältnisse vorbringen wollen. Solche Überlegungen werfen eine drängende Frage auf: Glauben wir wirklich, dass solche Ressourcen verfügbar sind, oder sollten wir uns einem rückhaltlosen Skeptizismus hingeben, was die Aussichten auf Veränderung angeht? Zweifelsohne gibt uns der gegenwärtige Zustand der Welt reichlich Gründe zu der Annahme an die Hand, dass eine solche Skepsis gerechtfertigt sei: Krieg und Leid, Unterdrückung und Diskriminierung, Grausamkeiten und Hass – sie alle sind so allgegenwärtige Merkmale unserer lokalen und globalen Verhältnisse, dass wir oft versucht sind, mit Dante zu sagen, wir seien ins Inferno eingetreten und sollten alle Hoffnung fahren lassen. Als Beschreibung unserer Welt ist ein solches Verdikt ohne Frage verlockend, und es ist ja auch nichts anderes zu erwarten, wenn die Bilanz des menschlichen Verhaltens in der Neuzeit bei uns so oft den hoffnungslosen Eindruck erzeugt, dass wir am Rande eines Abgrunds stehen. Prekarität ist zu einer alltäglichen Erfahrung geworden. Aber es ist trotzdem von größter Wichtigkeit, dass wir zwischen dem Zustand von Prekarität und dem eines allumfassenden Gnostizismus unterscheiden. Denn wir sollten und kön102

nen uns die Akzeptanz einer Beschreibung der sozialen Welt nicht gestatten, die die Möglichkeit ihrer Kritik ausschließt. Für diejenigen, die weiterhin der Auffassung sind, dass die Gesellschaftstheorie eine Rolle bei der Verbesserung ebenjener Gesellschaft zu spielen hat, könnte gar nicht mehr auf dem Spiel stehen. Immanente Kritik verfährt auf Grundlage der Prämisse, dass die bestehende Welt zumindest einige innere Ressourcen für ihre radikale Veränderung bereitstellen kann. Ohne diese hätten wir ja tatsächlich kaum einen Grund für unsere Annahme, dass die Dinge jemals anders sein könnten, als sie sind. Und ohne eine solche Voraussetzung wäre auch nur schwer zu verstehen, wie wir behaupten könnten, dass überhaupt etwas es verdient hat, kritisiert zu werden. Eine soziale Ordnung, die uns in ihrem gegebenen Zustand einfach vorgesetzt wird und nicht einmal die geringste Vorstellung von einer Alternative zulässt, verhärtet sich zu nackter Faktizität und nimmt den illusorischen Charakter einer »zweiten Natur« an. Die zentrale Aufgabe der kritischen Theorie ist es, diesen verdinglichten Anschein einer zweiten Natur aufzubrechen und die Vorstellung von der Gesellschaft als einer von Menschen erzeugten Welt in uns wiederaufleben zu lassen. Dabei müssen wir aber unterstellen, dass alles, was wir erzeugt haben, stets auch auf andere Weise erzeugt werden kann. Nur wenn wir die Gesellschaft als menschengemacht betrachten, können wir uns daher der Tatsache bewusst bleiben, dass sie auch vollkommen anders eingerichtet werden könnte, als sie es aktuell ist. Und genau dieses Gespür für Differenz – zwischen dem, wie die Welt ist, und dem, wie sie sein sollte – ermöglicht es uns, in einer kritisch-prüfenden Haltung einen Schritt von der uns umgebenden Welt zurückzutreten. Kritik setzt diese Haltung des »Gesolltseins« oder der Normativität voraus, da wir ohne sie die Realität in ihrem Istzustand ausschließlich affirmieren könnten. Aber die Welt ist eben nicht alles, was der Fall ist.

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Temporalität und Normativität Adorno war genau deshalb ein Denker des Normativen, weil er, wie Iain Macdonald so sorgfältig herausgearbeitet hat, der Kategorie der Möglichkeit anhing. 134 Denn auch wenn er in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit der Verwirklichung einer alternativen Zukunft skeptisch war, so erlaubte er es seinen Zweifeln doch nie, sein Bekenntnis zu der Forderung zu unterlaufen, dass die Dinge anders sein sollten, als sie sind. Man könnte sagen, dass diese Forderung eine inhärent zeitliche Logik aufweist: Die Welt von einer normativen Warte aus zu betrachten heißt, davon auszugehen, dass ihr Zustand modifiziert werden kann und Veränderung möglich ist. Diese Überlegungen könnten uns erklären helfen, warum Adorno den Begriff des Fortschritts auch nie ganz verworfen hat, obgleich er ihm einen »antinomischen« Charakter bescheinigte. In seiner Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit etwa warnt er uns davor, dass wir die Geschichte zu einem Gegenstand der Götzenverehrung machen, wenn wir einem nicht näher spezifizierten Begriff des Fortschritts anhängen, der dem historischen Verlauf vermeintlich innewohnt. Ebenso warnt er uns aber auch, dass sich dieser Begriff »in geschichtslose Theologie [verflüchtigt]«, wenn wir stattdessen behaupten, dass der Fortschritt der Geschichte enthoben ist, und damit seinen zeitlichen Charakter leugnen. Adorno widersetzt sich also zwar beiden Alternativen, hält aber trotzdem an einem konkretisierten Fortschrittsbegriff als Hoffnungsträger für ein besseres Leben im Diesseits fest: Die Temporalität des Fortschritts selber, sein einfacher Begriff – denn Fortschreiten ist anders als etwas in der Zeit zunächst über134 Iain Macdonald, What Would be Different. Figures of Possibility in Adorno, Stanford 2019.

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haupt nicht vorzustellen – verklammert ihn mit der empirischen Welt; ohne solche Temporalität aber, also ohne die Hoffnung, daß es in der Zeit besser werden könnte, würde das Verruchte des Weltlaufs erst recht im Gedanken verewigt und die Schöpfung selber unaufhaltsam zum Werk eines gnostischen Dämons. 135

Wenn Adorno dieser gnostischen Verlockung widerstand, dann deshalb, weil er an der Logik des Normativen mit ihrer impliziten zeitlichen Hoffnung auf eine Zukunft festhielt, die anders sein würde als die gegenwärtige Verfasstheit der Welt. Solche Überlegungen bewogen ihn dann auch dazu, eine bemerkenswerte Bejahung unseres Bedürfnisses nach Fortschritt auszusprechen, und zwar nicht im Sinne eines klar umrissenen Begriffs oder einer empirischen Wahrheit, sondern einfach eines normativen Maßstabs, der der Logik des sozialen Handelns selbst angehört: »Zu wenig Gutes hat Macht in der Welt, als daß von ihr in einem prädikativen Urteil Fortschritt auszusprechen wäre, aber kein Gutes und nicht seine Spur ist ohne den Fortschritt.« 136 Es lohnt übrigens, sich die Tatsache ins Gedächtnis zu rufen, dass das Thema der Gnosis für Adorno von großem Interesse war, wobei er sich besonders von der Idee eines bösen Schöpfergottes fasziniert zeigte, der in dieser Lehre als der Erbauer der gefallenen Welt auftritt. In einem Brief von 1959 an Hans Jonas (der unter anderem für seine Untersuchungen zur Gnosis bekannt ist) schreibt er beispielsweise, dass ihm »die valentinianische Gnosis genauso wichtig [ist] wie die markionische, an der mich nur ein ganz bestimmtes Motiv, die Denunziation des Schöpfergottes, be-

135 NGS, Abt. IV, Bd. 13, S. 209 (meine Hervorhebung, P. G.). 136 Ebd., S. 210 (meine Hervorhebung, P. G.). Zu einer abweichenden Auffassung vom Fortschritt als etwas der kritischen Theorie Abträgliches siehe Amy Allen, Das Ende des Fortschritts. Zur Dekolonisierung der normativen Grundlagen der kritischen Theorie, Frankfurt/M. 2019.

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sonders interessiert«. 137 Für Adorno findet die gnostische Idee von der erschaffenen Welt als eines Reichs des radikal Bösen eine literarische Entsprechung in den Werken Samuel Becketts, in dessen Imagination das menschliche Dasein schlechthin als kaum mehr als eine »lebenslang[e] Todesstrafe« erscheine.138 Becketts Universum sei, wie es in der Negativen Dialektik heißt, sämtlicher Hoffnung beraubt, abgesehen vielleicht von der, »daß nichts mehr sei«. Doch selbst diese nihilistische Hoffnung verwerfe er noch. Aus diesem »Spalt der Inkonsequenz« heraus verwandle Beckett diese »Bilderwelt des Nichts« daher nun in ein »Etwas«, das »seine Dichtung festhält«. Das poetische Resultat sei dann vom gnostischen Bild der Schöpfung nicht mehr zu unterscheiden: »Gnostisch ist ihm die geschaffene Welt die radikal böse und ihre Verneinung die Möglichkeit einer anderen, noch nicht seienden. Solange die Welt ist, wie sie ist, ähneln alle Bilder von Versöhnung, Frieden und Ruhe dem des Todes. Die kleinste Differenz zwischen dem Nichts und dem zur Ruhe Gelangten wäre die Zuflucht der Hoffnung […].« 139 Es ist allgemein bekannt, dass Adorno Beckett sehr schätzte und dessen Arbeiten zu den bedeutendsten Werken der Moderne in der Literatur und im Theater rechnete. Doch dieser Umstand macht es nur noch schwieriger, die tatsächlichen Differenzen zwischen ihnen zu erkennen. Die Möglichkeiten, die es für die ästhetische Darstellung geben mag, unterscheiden sich schließlich in wesentlichen Hinsichten von denen, die für eine Gesellschaftstheorie bereitstehen und gewissen argumentativen Konsistenzanforderungen genügen müssen. Obwohl für die Herausstellung von Becketts literarischen Errungenschaften der Vergleich mit der Gnosis also einigermaßen hilfreich sein kann, so ist er doch eher 137 Zit. nach NGS, Abt. IV, Bd. 14, S. 235 (Anm. 18 des Herausgebers). 138 GS 6, S. 373. 139 Ebd., S. 373f.

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verwirrend als erhellend, wenn wir an die soziale Welt denken, wie sie in Adornos eigener Philosophie geschildert wird. Denn die Gnosis bietet trotz ihrer evokativen Kraft keine akkurate Beschreibung dessen, wie die Welt seiner Meinung nach beschaffen ist; sie ist vielmehr die Bezeichnung für eine theoretische Versuchung, der Adorno widerstehen muss, wenn er die Wirklichkeit in all ihrer irreduziblen Komplexität begreifen will. 140 Natürlich gelingt ihm das nicht immer – was vielleicht erklärt, warum er seine Welt gelegentlich als Ort allumfassender Falschheit porträtiert, dem jede interne Ressource für seine Transformation abgeht. Es bleibt von daher auch ungeklärt, ob wir Adornos bestürzende These akzeptieren sollten, dass Beckett die soziale Wirklichkeit im Ganzen als ein »Konzentrationslager« dargestellt habe. 141 Doch selbst wenn wir dies für eine plausible Charakterisierung von Becketts Werk hielten, so könnten wir dennoch daran festhalten, dass sie nicht Adornos eigenem Blick auf die gesellschaftliche Realität entspricht. Dieser betrachtet die soziale Welt nämlich nicht als ein gefallenes Reich, das den Anschein erweckt, als sei es von einem böswilligen Demiurgen erschaffen worden, im Gegenteil: Für ihn ist sie von Widersprüchen und Versprechungen durchsetzt. 142 Und dieser Unterschied ist entscheidend, denn wenn Adorno geglaubt hätte, dass die Welt vollkommen falsch wäre, dann hätte er über ihre Mauern hinausblicken müssen, um die Ressourcen für ihre Veränderung aufzutun. Dafür hätte er dann jedoch die Praxis der immanenten Kritik aufgeben müssen. 143 140 Zu einer ähnlichen Argumentation in Bezug auf die Unterschiede zwischen Adorno und Becketts »gnostischem Dilemma« siehe Espen Hammer, Adorno’s Modernism. Art, Experience, and Catastrophe, Cambridge 2015, S. 147. 141 GS 6, S. 373. 142 Siehe dazu zum Beispiel die entsprechenden Ausführungen in Hammer, Adorno’s Modernism, S. 154 f. 143 Als Anstoß für den in diesem Buch dargelegten Gedankengang könnte es sich als hilfreich erweisen, wenn wir uns vor Augen halten, auf welche

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Schlussbemerkungen Seit ihrer Begründung vor fast einem Jahrhundert hat sich die kritische Theorie als eine intrinsisch normative Praxis begriffen, und zwar in zwei miteinander zusammenhängenden Hinsichten: Erstens weigert sie sich, die falsche Bejahung der Gesellschaft zu akzeptieren, und zweitens ist ihre kritische Positionierung gegen das Falsche von einer kontinuierlichen, wenn auch impliziten Bezugnahme auf das Wahre motiviert – genauer von der Idee einer Gesellschaft, die der Menschheit würdig wäre. 144 Die Ressourcen, die uns für eine solche normative Praxis noch zur Verfügung steWeise Adornos Gesellschaftskritik die miteinander verschwisterten Fehler sowohl des Gnostikers als auch des Mephistophelisten vermeidet.Wie ich oben erläutert habe, betrachtet die gnostische Position die Gesellschaft als in Gänze falsch und hat deshalb keine andere Wahl, als sich für das Wahre auf einen die Welt transzendierenden Maßstab zu beziehen (ganz so, wie sich ein Gnostiker auf den wahren Gott berufen kann, der anderenorts residiert als in unserer gefallenen Welt). Im Vergleich dazu hat der Mephistophelist zumindest einen Vorteil, insofern er die Gesellschaft nämlich nicht einfach als falsch, sondern als widersprüchlich betrachtet und es ihm daher möglich ist, sich zum Zwecke der Negation Momenten des weltimmanenten Widerspruchs zu bedienen. Er ist zwar »der Geist, der stets verneint«, der aber im Streben nach dem Bösen dem Guten dient. Auch hier stellen wir jedoch fest, dass Adorno einen dritten Weg einschlägt. Denn obwohl auch er die Gesellschaft als fragmentiert und nicht als monolithisch ansieht, ist er dennoch kein Geist der rückhaltlosen Negation. Anders als der Mephistophelist ist er sich nämlich der Möglichkeit bewusst, selbst noch inmitten des Bösen das Gute finden zu können. 144 Siehe zum Beispiel die programmatische These von Max Horkheimer, der die Kritik der bestehenden Gesellschaft mit dem normativen Ideal einer besseren Gesellschaft verknüpft: »Wird die theoretische Anstrengung, die im Interesse einer vernünftig organisierten zukünftigen Gesellschaft die gegenwärtige kritisch durchleuchtet und anhand der in den Fachwissenschaften ausgebildeten traditionellen Theorien konstruiert, nicht fortgesetzt, so ist der Hoffnung, die menschliche Existenz grundlegend zu verbessern, der Boden ent-

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hen, sind tatsächlich knapp geworden; selbst unsere moralische Sprache ist verarmt und wird zu oft in rein strategischer Absicht verwendet. Und diejenigen, die sich heute mit Gesellschaftstheorie befassen, wirken häufig nur allzu bereit dazu, einen kompletten Verfall unserer normativen Ideale zu verkünden, so als ob die bloße Dokumentation dieses Verfalls als Ersatz für Kritik fungieren könnte. Genealogische Anstrengungen haben jedoch keinen Zweck, sofern sie nicht von zumindest einigen wenigen normativen Maßstäben angeleitet werden, auch wenn diese unvollkommen oder beschädigt sind. Es ist mehr oder weniger sinnlos, anhand einer geschichtlichen Rekonstruktion zu demonstrieren, wie selbst noch unsere menschlichsten Ideale mittlerweile auf unmenschliche Zwecke hin ausgerichtet worden sind, wenn wir nicht erklären können, gegen welche Ideale in dieser Geschichte dadurch eigentlich verstoßen wurde. Eine Genealogie ohne Normativität zehrt also ihre eigene kritische Absicht auf; sie bringt nur Zynismus und eine herablassende Einstellung gegenüber denjenigen hervor, die immer noch glauben, dass die Dinge besser sein könnten, als sie sind. Wenn wir uns nun aber nicht einem solchen lähmenden Zynismus hingeben wollen, dann müssen wir an unseren Idealen festhalten, und zwar auch dann noch, wenn wir erkennen, wie gründlich sie kompromittiert worden sind. In diesem einleitenden Kapitel habe ich viel darüber gesagt, warum ich der Meinung bin, dass andere Adorno-Interpretationen irren. In den nun folgenden Kapiteln schlage ich daher eine alternative Deutung vor, von der ich glaube, dass sie mit den Absichten des Philosophen eher im Einklang steht. Der Schlüssel zu meiner Interpretation ist die These, dass Adorno die Welt nicht als ein fugenloses Ganzes betrachtet, sondern als eine mit Widersprüchen durchsetzte Landschaft. Und diese Widersprüche macht er zogen« (Horkheimer, »Traditionelle und kritische Theorie«, S. 250; meine Hervorhebungen, P. G.).

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sich durch die Praxis der immanenten Kritik zunutze, um Momente herauszustellen, die über unsere aktuell verzweifelte Lage hinausweisen und auf eine Welt hindeuten, in der Glück oder menschliches Gedeihen am Ende Realität geworden sind. Dabei hängt meine Adorno-Lesart von der starken Prämisse ab, dass wir selbst noch in unserer aktuellen Lage Momente des Glücks ausmachen können, die diese Möglichkeit verkörpern, auch wenn das Glück unter den gegebenen Umständen prekär bleibt. Was das menschliche Gedeihen angeht, war Adorno in meinen Augen also kein totalisierender Skeptiker; seine Kritik an der bestehenden Gesellschaft wäre auch gar nicht möglich gewesen, wenn er sich nicht wenigstens indirekt auf einen normativen Begriff des Gedeihens berufen hätte – auf das also, was er den Menschen »im emphatischen Sinn« nannte. 145 Dieser Begriff gab ihm nämlich genau den kontrastierenden Maßstab an die Hand, den er benötigte, um eine gewisse kritische Distanz zu seiner gesellschaftlichen Umwelt einzunehmen und sie als defizient zu beurteilen. Dabei war dieser Maßstab alles andere als minimal, im Gegenteil: Er stellt die maximalistische Forderung, dass die Welt letztendlich so werde, wie sie sein sollte. So wie Marx der Überzeugung war, dass die Gegenwart Antizipationen der Zukunft enthalte, so glaubte mithin auch Adorno, dass es noch inmitten des Falschen möglich sei, ein bestimmtes Wissen davon zu erlangen, was ein erfülltes menschliches Dasein ausmachen würde. Momente des Widerspruchs sind demnach mehr als nur kontradiktorisch; sie besitzen vielmehr einen antizipatorischen Status, insofern sie den Weg hin zu einem allgemeinen Glückszustand weisen, der der Menschheit generell vorenthalten wird; sie sind damit Übungen zum richtigen Leben.

145 NGS, Abt. IV, Bd. 2, S. 103.

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1 IMMANENTE KRITIK

In der Einleitung habe ich die These aufgestellt, dass Adorno der Herausforderung der Selbstreflexivität in der Gesellschaftstheorie standhalten kann. Er vermag dies, indem er sich auf Quellen der Normativität beruft, die innerhalb der von ihm beschriebenen sozialen Realität selbst vorhanden sind. Des Weiteren habe ich behauptet, dass Selbstreflexivität ein Kriterium ist, dem jede Gesellschaftstheorie genügen muss, wenn ihr nicht einer von zwei Fehlern unterlaufen soll: entweder sich selbst einen privilegierten Zugang zu moralischen und politischen Einsichten anzumaßen, die den übrigen Gesellschaftsmitgliedern grundsätzlich versperrt bleiben, oder in jene Falle der Selbstsabotage zu tappen, bei der die Welt in toto kritisiert wird, so dass man nicht mehr erklären kann, wie ebendiese Kritik ihrerseits überhaupt möglich sein soll. Adorno war sich dieser möglichen Vorhaltungen sehr bewusst und hat sich das scheinbare Paradoxon, dass »[n]och die unerbittliche Strenge, mit der [die Kritik] die Wahrheit übers unwahre Bewußtsein ausspricht, […] festgehalten [bleibt] im Bannkreis des Bekämpften, auf dessen Manifestationen sie starrt«, explizit thematisiert. 1 Um sowohl den Fehler des Elitismus als auch den des performativen Widerspruchs zu vermeiden, müssen wir mithin erklären können, wie Adornos eigene kritische Praxis unter den von ihm beschriebenen gesellschaftlichen Bedingungen möglich ist. Meine in diesem Buch dazu vertretene These lautet, dass seine Sozialtheorie dieser Herausforderung insofern gewachsen ist, als sie die Praxis immanenter Kritik exemplifiziert. Im vorliegenden Kapitel möchte ich daher der Bedeutung, der Logik und den allge1 In »Kulturkritik und Gesellschaft«, GS 10.1, S. 11-30, hier S. 12.

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meinen Implikationen dieser Art von Kritik für Adornos Auffassung von den Quellen der Normativität nachgehen.

Beethovens Fidelio Um die Idee immanenter Kritik genauer zu erläutern, möchte ich dieses Kapitel mit der Analyse eines Aufsatzes beginnen, den Adorno 1955 zur »bürgerlichen Oper« verfasst hat. 2 Denn dieser Text ist nicht nur als musikästhetische Untersuchung von Interesse, sondern auch als Beitrag zu der generellen Frage, wie sein Autor über die immanenten Quellen von Normativität gedacht hat. Der für uns relevanteste Teil des Aufsatzes ist dabei der, der dem Fidelio gewidmet ist, Beethovens einzigem erfolgreichen Exkurs in die Welt der Oper. Fidelio wurde 1805 komponiert und ist das Dokument eines hoffnungsvollen Klassizismus. Erzählt wird die Geschichte von Leonore, einer hingebungsvollen und heroischen Gattin, die ihren Ehemann Florestan aus einem spanischen Gefängnis rettet. Im zweiten Akt begegnen wir Florestan in seiner Zelle, wo er die Arie »Gott! Welch Dunkel hier!« anstimmt, sich dann aber mit einer Vision von seiner Frau Leonore tröstet, über die er singt: »Ein Engel, Leonoren, der Gattin, so gleich,/Der führt mich zur Freiheit ins himmlische Reich.« Wie Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftler beobachtet haben, könnte das Thema der Erlösung, das die Oper beseelt, durchaus die Sehnsucht des Komponisten selbst sowohl nach persönlicher Liebe als auch nach einer Errettung aus der Isolation seiner Taubheit zum Ausdruck bringen, deren Elend ihn, wie wir aus dem sogenannten Heiligenstädter Testament wissen, nur wenige Jahre zuvor an den Rand des Selbstmords getrieben hatte. In Beethovens Libretto übersteigt 2 »Bürgerliche Oper«, GS 16, S. 24-39, hier S. 31.

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das Verlangen nach Erlösung jedoch die Sphäre der individuellen Psychologie und nimmt eine umfassendere politische Bedeutung an. Der erste Akt endet mit der bekannten Szene, in der den Gefangenen ein kurzer Aufenthalt im Sonnenschein gestattet wird, wobei sie »O welche Lust« singen; anschließend werden sie zurück in die Dunkelheit geführt und müssen mit dem Gesang »Leb wohl, du warmes Sonnenlicht« wieder Abschied von der Helligkeit des Tages nehmen. Details wie diese sind eine hilfreiche Ouvertüre zu meiner Diskussion immanenter Kritik. Es ist allgemein bekannt, dass sich Adorno zeit seines Lebens mit Beethovens musikalischem Erbe auseinandergesetzt hat, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil er glaubte, schon an der Form seiner Musik selbst eine formale Analogie zu seinem eigenen dialektischen Denken heraushören zu können. »Man kann nicht mehr wie Beethoven komponieren, aber man muss so denken, wie er komponierte«, wie er in diesem Sinne anmerkte. 3 Von der Frühphase seiner Laufbahn bis zu seinen letzten Lebensjahren arbeitete er wie ein Getriebener an Entwürfen und Notizen für eine immer wieder verworfene und letztlich nie vollendete Studie über den Komponisten, von der er gehofft hatte, dass sie zu seinen größten kritischen Errungenschaften zählen würde. Eine Analyse der Beethoven’schen Kompositionen sollte nämlich die Kraft der immanenten Kritik bestätigen, indem sie die unaufgelöste Dialektik auf der Ebene der musikalischen Struktur selbst offenbart hätte. Adorno fühlte sich allerdings auch zu den eher programmatischen Aspekten der musikalischen Werke des Komponisten hingezogen. So verfasste er 1955 den bereits erwähnten Aufsatz über die bürgerliche Oper, in dem er das Libretto des Fidelio als Beispiel für die Aufklärung und ihre emanzipatorischen Ideale schildert. In der Spätmoderne, in der, wie Adorno erklärt, die Aufklä3 NGS, Abt. I, Bd. 1, S. 231.

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rung ihre wahren Versprechen verrät und die entzauberte Welt offenbar auf ein stahlhartes Gehäuse reduziert ist, könnten wir versucht sein, uns die Freiheit als ein welttranszendentes oder metaphysisches Ideal vorzustellen, das der gegenwärtigen Finsternis diametral entgegengesetzt ist. In dieser Lesart erscheint unsere Welt dann wie ein geschlossenes Gefängnis und die Idee der Freiheit als ihre totale Negation. Diese metaphysische Unterscheidung sollte uns nun aber überhaupt nicht überraschen, da Freiheit so dermaßen unwahrscheinlich geworden sei, dass wir versucht sind, sie uns als eine entrückte, jenseitige Norm vorzustellen, die den Status einer nicht verwirklichten und vielleicht auch nicht zu verwirklichenden Utopie besitzt – eines Sollens, das in starkem Widerspruch zum Sein steht. Adorno warnt uns allerdings davor, die Dinge auf diese Weise zu betrachten. Denn der Traum von unserer Befreiung entpuppt sich ihm zufolge als ein nur schwacher Trost, wenn sie als ein abstraktes Prinzip verstanden wird, das der »Geschichte […] gegenübertritt«. 4 Daher sollte uns das Finale der Oper, in dem Fanfaren von der Ankunft des Ministers Don Fernando künden, auch nicht versöhnlich stimmen. Denn dieser Ausgang stellt im Grunde nur eine autoritäre Lösung dar; sie verwirklicht unsere Hoffnung auf Freiheit nicht, sondern konterkariert sie. Wenn das Ideal der Freiheit noch irgendeine Gültigkeit besitzt, dann darf es also nicht so verstanden werden, dass es die soziale Realität transzendiert. Vielmehr muss zumindest irgendein Anzeichen, irgendeine Spur dieses Ideals innerhalb dieser Realität selbst aufgespürt werden. Adorno ist sich der Tatsache sehr bewusst, dass es der Oper nicht gelingt, ein für die Philosophie so grundlegendes Problem zu lösen; allerdings ist er ohne Zweifel ebenso der Auffassung, dass sie auf die richtige Lösung zumindest hindeutet. Die Fanfare des Fidelio »vollzieht ritual fast den Augenblick des Einspruchs, 4 GS 16, S. 31.

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der die ewige Hölle des Kerkers aufsprengt und der Herrschaft von Gewalt ihr Ende bereitet«, wie er schreibt. Als tatsächliche Lösung für das Problem der Unfreiheit erweist sich dieses Ritual jedoch als unbefriedigend, da es auf Don Fernando als eine das System transzendierende Autorität abstellt (trotz der verblüffenden Tatsache, dass er Leonore die Schlüssel anvertraut, damit sie die – allerdings bloß noch zeremonielle – Rolle der Befreierin ihres Ehemannes übernehmen kann). Der Fidelio illustriert daher nach Adorno das, was er als die »Verschränkung von Mythos und Aufklärung« bezeichnet, welche nicht nur die bürgerliche Oper, sondern die bourgeoise Ideologie als solche auszeichnet. Diese schlechte Dialektik sollte uns jedoch nicht daran hindern, das unrealisierte Versprechen zu erkennen, das nach wie vor in der Aufklärung enthalten ist. Obwohl es fraglos der Fall ist, dass wir – wie Florestan – eingesperrt sind in eine von nahezu totaler Herrschaft geprägte Gesellschaftsordnung, kann, so Adorno, unsere »Gefangenschaft in einem blinden und seiner selbst unbewussten System« von »der Idee der Freiheit, welche in dessen Mitte aufgeht«, nicht separiert werden. 5 Seine Konklusion ist bemerkenswert: Metaphysik ist überhaupt nicht ein Bereich von Invarianz, dessen man habhaft würde, wenn man durch die vergitterten Fenster des Geschichtlichen hinausblickt; sie ist der sei es auch ohnmächtige Schein des Lichts, der ins Gefängnis selber fällt. 6

Diesen Zeilen gebührt eine sorgfältige Analyse, wenn wir verstehen wollen, warum Adorno sich auf die Seite der immanenten Kritik schlägt. Er spricht an dieser Stelle nämlich direkt die Fra5 »Diese Verschränkung von Mythos und Aufklärung: die der Gefangenschaft in einem blinden und seiner selbst unbewussten System mit der Idee der Freiheit, welche in dessen Mitte aufgeht, definiert das bürgerliche Wesen der Oper« (ebd.; meine Hervorhebung, P. G.). 6 Ebd. (meine Hervorhebung, P. G.).

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ge an, ob seine kritische Praxis sich auf interne Normativitätsquellen stützen könne oder ob er sich selbst jegliche Kenntnis des Guten inmitten all des Schlechten versagt habe. In der zitierten Passage fällt seine Antwort unzweideutig aus: Ungeachtet seiner düsteren Einschätzung gesellschaftlicher Möglichkeiten distanziert er sich nicht von dem Gedanken, dass wir zumindest einen gewissen Einblick in das Gute – oder in das, was er »Metaphysik« nennt – haben können. Damit beabsichtigt er gewiss keine Stärkung der Metaphysik im klassischen Sinne. Sie hat das Prestige des Unwandelbaren oder der zeitlosen Perfektion im Zeitalter der Moderne ohnehin bereits eingebüßt und erscheint nun vielmehr in der eingehegten Form einer einstmals platonischen Idee, die die Illusion ihrer Welttranszendenz aufgegeben hat. Diese Konklusion bringt Adorno mithilfe der klassischen Lichtmetaphorik zum Ausdruck. Metaphysik im spezifisch modernen Sinne besitzt demnach zwar auch weiterhin ihre Bedeutung als Freiheitsideal, wird nun aber durch die gesellschaftlichen Verhältnisse kompromittiert, in denen es sich zeigt; Freiheit erscheint damit nicht mehr als ein Licht, das uns von jenseits dieser Verhältnisse her grüßt; vielmehr ist sie jetzt ein Licht, von dem wir innerhalb dieser Verhältnisse selbst einen Blick erhaschen. Nichts an diesen Überlegungen deutet darauf hin, dass Adorno sich hier einen Ausrutscher in den utopischen Idealismus erlaubt hätte. Er räumt zwar ein, dass das Licht, das wir einst der Idee der Freiheit zugeschrieben haben, mittlerweile fahl oder sogar »ohnmächtig« geworden ist, und scheint auch zur Anerkennung jener dialektischen Gefahr bereit, die sich ergibt, wenn die metaphysische Idee und die Geschichte miteinander verknüpft werden: Werte, die Letzterer immanent sind, sind ja tatsächlich anfällig für historische Verzerrungen, und auch unsere nobelsten Ideale können noch für Zwecke eingespannt werden, die ihren erklärten Zielen widersprechen. Doch obwohl Adorno um dieses Risiko weiß, behält er seine größte Kritik der ideologischen Funktion 116

von Normen vor, die die Geschichte scheinbar transzendieren. Denn diese haben seiner Ansicht nach jegliche Glaubwürdigkeit und Zugkraft eingebüßt. Die einzigen Ideale, die ihre Kraft bewahren (oder sogar noch kraftvoller werden) können, sind ihm zufolge jene, die vollständig in den historischen Entwicklungszusammenhang eingebettet sind; Metaphysik ist daher »um so mächtiger, je tiefer ihre Ideen in Geschichte sich einsenken, um so ideologischer, je abstrakter sie ihr gegenübertritt«. 7 Die generelle Stoßrichtung dieser Argumentation ist eine dialektische: Normative Ideale, die einst einen metaphysischen Status für sich beanspruchten, haben ihre welttranszendente Autorität in der Gegenwart eingebüßt und leben als ideologische Stützen noch eine kurze Zeit weiter. Sie können also dann, aber auch nur dann noch eine kritische Kraft besitzen, wenn sie in dem immanenten Raum der Geschichte selbst zu finden sind. Ich möchte, wie bereits angedeutet, die These in den Raum stellen, dass Adornos Überlegungen über die bürgerliche Oper weder nur diese Kunstform selbst betreffen noch allein für die ästhetische Erfahrung von Bedeutung sind. In meinen Augen bieten sie uns auch einen Einstiegspunkt in seine allgemeinen Erwägungen zu der Möglichkeit immanenter Kritik und machen außerdem das, wie wir es nennen können, Desideratum seiner eigenen kritischen Praxis deutlich. Denn Kritik im Sinne Adornos 7 »Diese Verschränkung von Mythos und Aufklärung: die der Gefangenschaft in einem blinden und seiner selbst unbewusste System mit der Idee der Freiheit, welche in dessen Mitte aufgeht, definiert das bürgerliche Wesen der Oper. Von diesem Gesellschaftlichen ist ihre Metaphysik nicht etwa abzuheben. Metaphysik ist überhaupt nicht ein Bereich von Invarianz, dessen man habhaft würde, wenn man durch die vergitterten Fenster des Geschichtlichen hinausblickt; sie ist der sei es auch ohnmächtige Schein des Lichts, der ins Gefängnis selber fällt, um so mächtiger, je tiefer ihre Ideen in Geschichte sich einsenken, um so ideologischer, je abstrakter sie ihr gegenübertritt« (ebd.; meine Hervorhebung, P. G.).

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darf die Quellen ihrer eigenen Möglichkeit nicht außerhalb, sondern nur innerhalb des sozialen Feldes suchen – eben in jenem »ohnmächtige[n] Schein des Lichts, der ins Gefängnis selber fällt«. Die Bilderwelt von Beethovens Oper ist in dieser Hinsicht besonders geeignet, insofern sie Adornos generellem Eindruck entspricht, dass die moderne Welt sich allmählich in etwas verwandelt, was er an anderer Stelle, nämlich in seinem Essay »Kulturkritik und Gesellschaft«, als »Freiluftgefängnis« bezeichnet. 8 Ein entscheidender Unterschied besteht allerdings darin, dass ein Freiluftgefängnis – anders als das geschlossene Gefängnis, wie es im Fidelio beschrieben wird – ohne die Gitterstäbe einer gewöhnlichen Zelle auskommt, so dass es zunehmend schwieriger wird, das, was innerhalb des Gefängnisses zu finden ist, von dem zu unterscheiden, was außerhalb von ihm liegt. Und durch diese Differenz wird die begriffliche Herausforderung für die immanente Kritik nur noch größer, weil es heißt, dass die Verhältnisse in der Moderne die Grenze zwischen Transzendenz und Immanenz allmählich zum Verschwinden bringen. Adorno beharrt aber trotzdem darauf, dass es ihm auch weiterhin gelingen kann, in der zunehmenden Finsternis kleine illuminierte Räume auszumachen, und situiert seine eigene kritische Praxis gerade deshalb in den engen Bruchstellen, die sich in dieser Entwicklung auftun.

Der mikrologische Blick Adorno charakterisiert diese kritische Praxis als eine bestimmte Art und Weise, auf die soziale Welt zu schauen – nämlich mit einem »mikrologischen Blick«. Ziel einer solchen Praxis ist es ihm zufolge, die Illusion der Bruchlosigkeit zu entkräften, die unsere 8 GS 10.1, S. 29.

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moderne Erfahrung bestimmt und uns vor dem Gedanken zurückschrecken lässt, dass die Verhältnisse anders sein könnten, als sie sind. Diese Illusion wirkt in erster Linie durch die Auslöschung des intrinsischen Unterschieds zwischen verschiedenen Partikularitäten und ihre Reduktion auf bloße Instanzen einer allmächtigen gesellschaftlichen Logik. Letztere will Adornos kritische Praxis nun dadurch angreifen, dass sie unsere Aufmerksamkeit auf gerade diese kleinen Unterschiede richtet, da diese in seinen Augen das Versprechen auf eine Alternative in sich tragen. Die beste Beschreibung dieser Praxis findet sich in der berühmten Schlusspassage der Negativen Dialektik, in der ihr Verfasser schreibt: »[D]er mikrologische Blick zertrümmert die Schalen des nach dem Maß des subsumierenden Oberbegriffs hilflos Vereinzelten und sprengt seine Identität, den Trug, es wäre bloß Exemplar.« 9 Gegen die Illusion von der fugenlosen Vollkommenheit will Adorno also am bloßen Fragment festhalten, und zwar nicht als einfach nur eines Teils des etablierten Ganzen, sondern vielmehr als Zeichen für eine nichtverwirklichte Möglichkeit. Nur dies kann seine Überzeugung erklären, dass noch »[d]ie kleinsten innerweltlichen Züge […] Relevanz fürs Absolute« haben können. 10 Einige Aspekte der immanenten gesellschaftlichen Wirklichkeit nehmen demzufolge eine quasitranszendente oder sogar metaphysische Bedeutung an, insofern sie auf eine soziale Welt hindeuten, die von unserer eigenen radikal unterschieden ist. 11 Obgleich Adorno jedes Festhalten an der klassischen Metaphysik bestreitet, hängt er dennoch einer säkularisierten Spielart ihrer an, die der Welt zugewandt ist, statt sich von ihr auf ein Jenseits

9 GS 6, S. 400. 10 Ebd. 11 Zum Thema Wirklichkeit und Möglichkeit bei Adorno siehe Iain Macdonald, What Would be Different. Figures of Possibility in Adorno, Stanford 2019.

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hin abzuwenden. Am Schluss dieses Kapitels werde ich erklären, wie diese Konzeption einer säkularisierten Metaphysik die Form einer »immanenten Transzendenz« annimmt. Die Praxis der immanenten Kritik bekommt hier jedenfalls einen erlösenden Sinn: Sie ist eine Weise des Denkens, die nach Adorno ihre Solidarität mit der Metaphysik gerade »im Augenblick ihres Sturzes« demonstriert. 12 Mikrologische Kritik zu betreiben kann nur dann erfolgreich sein, wenn Adorno ein bestimmtes Verhältnis zwischen dem Fragment und der nichtrealisierten Zukunft (oder dem, was er »das Absolute« nennt) unterstellt. Dieses Verhältnis charakterisiert er als »metaphysisch« nur in dem Sinne, dass es einen gegebenen Zustand der Immanenz mit dem verbindet, was jene Immanenz überschreitet oder über sie hinausweist. Oder anders formuliert: Indem er seine Aufmerksamkeit auf unsere aktuelle gesellschaftliche Wirklichkeit konzentriert, glaubt Adorno, innerhalb der geschichtlichen Gegenwart kleine Elemente mit antizipatorischem Charakter ausfindig machen zu können. In seinen Vorlesungen zu Geschichte und Freiheit legt er eine prägnante Zusammenfassung dieser Überlegung vor: Indem er seinen eigenen mikrologischen Blick auf das Fragment fokussiert, kann der Geschichtsphilosoph dazu beitragen, die Illusion gesellschaftlicher Notwendigkeit zu zerstören, indem er »in diesen Fragmenten der Spur eines Möglichen und erst zu Hoffenden gewahr wird, die in genauem Gegensatz zu dem steht, was die Totalität selber ausdrückt«. 13 Adornos Praxis der immanenten Kritik setzt also offenbar voraus, dass er die Gegenwart mit der Zukunft verbinden kann, und zwar dadurch, dass er im Fragment eine antizipatorische Spur dessen verortet, was noch nicht verwirklicht ist. Und genau diese vorwegnehmende Struktur soll uns garantieren, dass die Praxis der Kritik 12 GS 6, S. 400. 13 NGS, Abt. IV, Bd. 13, S. 134.

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der Gegenwart nicht in eine reine Negativität oder einen Pessimismus abkippt. Unsere mikrologischen Bemühungen müssen daher darauf ausgerichtet sein, einzelne Fragmente der Hoffnung inmitten einer generalisierten Hoffnungslosigkeit zu finden.

Das Nichtidentische Oben habe ich behauptet, dass Adornos Praxis der immanenten Kritik ihn auf die Überzeugung verpflichtet, dass unsere soziale Welt keine monolithische Einheit bildet, sondern vielmehr von Elementen durchsetzt ist, die mit dem gesellschaftlichen Ganzen nicht im Einklang stehen. Seine nichtaffirmative Haltung den bestehenden sozialen Verhältnissen gegenüber beruht dabei auf dem Gedanken, dass diese gar nicht jenes versöhnte Ganze sind, das sie zu sein vorgeben. Wir müssen in seinen Augen daher in unserem Widerstand gegen ihre apologetischen Behauptungen standfest bleiben und anerkennen, dass die bestehende Gesellschaft tatsächlich sogar alles andere als harmonisch ist, da sie sich gerade durch das Fortbestehen einer unversöhnten Negativität auszeichnet. Genau an dieser Stelle gerät nun Adornos Differenz zur traditionellen Dialektik in den Blick. Hegel versteht die Dialektik noch als eine Logik der Versöhnung, die in einer »Identität der Identität und der Nichtidentität« kulminiert. 14 Die Geschichte des Geistes durchläuft ihm zufolge die Negativität und hebt alle negativen Momente in dem vermittelten Ganzen des »absoluten Wissens« auf. Adorno hingegen weigert sich, Hegels Weg bis hin zu dieser dialektischen »Vollendung« mitzugehen, und wendet sich gegen die triumphalistische Interpretation der Geschichte als ei14 G.W. F. Hegel, »Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie«, in: ders., Werke, Bd. 2: Jenaer Schriften 1801-1807, Frankfurt/M. 1986, S. 7-138, hier S. 96.

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nes Narrativs, das mit der Selbstbefriedigung des Geistes zum Abschluss kommt. 15 Und diese Weigerung fällt überdeutlich aus. Ohne Zweifel spiegelt sie Adornos Auseinandersetzung mit realen geschichtlichen Ereignissen wider; nach all dem Grauen des 20. Jahrhunderts kann er Hegels Versuch, das Grundmuster einer geschichtlichen Theodizee beizubehalten, nicht mehr akzeptieren. Summarisch bringt er seine ablehnende Haltung in jenen bekannten Zeilen der Negativen Dialektik auf den Punkt, wo wir lesen, dass »nach Auschwitz« jeder Versuch, die Geschichte als eine sinnvolle Erzählung zu konstruieren, sich als bloßes »Salbadern« erweist. 16 War Hegel noch davon überzeugt, »Sinn« in der Immanenz finden zu können, so nur deshalb, weil er diese als die weltliche Manifestation eines transzendenten Geistes affirmiert habe. Ein solches Konstrukt wird nach Adorno jedoch zur Apologie für absolute Negativität und fungiert sogar als ideologische Rechtfertigung für fortgesetzte Grausamkeiten. Daher verurteilt er diese historische Logik auch als »Unrecht an den Opfern«. 17 Seine Weigerung, sich Hegel anzuschließen, sollte allerdings auch in einem philosophischen Sinne verstanden werden, nämlich als eine Kritik an der Idee einer Geschlossenheit des Geschichtsverlaufs selbst. Adorno kann keine Geschichtsauffassung mehr akzeptieren, die ihr einen kohärenten und einheitlichen Sinn zuschreibt. Hegel mag zwar noch geglaubt haben, dass die Geschichte an Verstehbarkeit nur gewinnen könne, wenn man sie von der Warte einer rein retrospektiven Vernunft aus betrachtet; Adorno hingegen war der Über-

15 »Indem seine Vollendung darin besteht, das, was er ist, seine Substanz, vollkommen zu wissen, so ist dies Wissen sein Insichgehen, in welchem er sein Dasein verläßt und seine Gestalt der Erinnerung übergibt« (G.W. F. Hegel, Werke, Bd. 3: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 1979, S. 590). 16 GS 6, S. 354. 17 Ebd.

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zeugung, dass eine solche Sichtweise das befreite Auflachen am Ende der historischen Entwicklung bereits voraussetzt. Doch was Hegel als Komödie lese, sei in Wahrheit nur Verzweiflung, weil es die Geschichte als einen Raum purer Immanenz und damit als alternativlos vorstelle. In der Negativen Dialektik weist er die Hegel’sche Vorstellung eines abgeschlossenen Gangs der Geschichte folglich mit den Worten zurück: »Nicht absolut geschlossen ist der Weltlauf, auch nicht die absolute Verzweiflung […].« 18 Diese Kritik zielt direkt auf den Kern von Hegels Philosophie, denn sie lehnt jegliches Bemühen darum ab, die aktuell bestehende Welt als einen für den Geist einladenden Ort zu porträtieren. Vielmehr müsste ein Porträt der Welt nach Adorno genau umgekehrt ausfallen – was Hegel Verstehbarkeit nenne, sei in Wirklichkeit undurchschaubar, und was bei ihm Erfüllung heiße, sei tatsächlich der Albtraum einer durchgängigen Abgeschlossenheit. Aber seine Kritik richtet sich nicht allein gegen Hegel; vielmehr zielt sie auf jede philosophische Position ab, die unserer gegenwärtigen Erfahrung die Einheitlichkeit einer singulären Bedeutung zuspricht, ob diese nun positiv oder negativ sei. Sie fordert mithin sowohl die hegelianische Theodizee als auch ihr gnostisches Spiegelbild heraus. Die Kritik an der reinen Geschlossenheit wurzelt tief in Adornos frühem Denken. Schon in Die Transzendenz des Dinglichen und Noematischen in Husserls Phänomenologie, seiner Dissertation von 1924, fokussierte sich der 21-jährige Schüler von Hans Cornelius auf Husserls Unterscheidung zwischen dem »Sein als Bewusstsein« und dem »Sein als Realität«. 19 Adorno, damals noch ganz den neukantianischen Ansichten seines Lehrers verpflichtet, erblickte in der Husserl’schen Phänomenologie ein idealistisches Bestreben danach, die Realität mit den Inhalten des Bewusstseins zu identifizieren, obwohl diese Inhalte sich immer noch auf die 18 Ebd., S. 396. 19 Siehe »Résumé der Dissertation«, GS 1, S. 375-377, hier S. 376.

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»›schlechthinig[e] Transzendenz‹ der Dingwelt« bezögen. 20 Dieser Lesart zufolge wirkt die transzendente Realität wie ein kantisches Ding an sich: Ein kurzer Blick auf den Materialismus lässt sich erstmals am fernen Horizont der Landschaft des Kant’schen Idealismus erhaschen. Diese Kritik des Idealismus und die Hinwendung zu einem materiellen Residuum, das das Streben des Geistes nach absolutem Wissen übersteigt, sollte im gesamten Werk Adornos zu einem immer wiederkehrenden Thema werden. In seiner Antrittsvorlesung an der Frankfurter Universität im Jahr 1931 verkündete er beispielsweise, dass er die Illusion zu zerstören gedenke, »daß es möglich sei, in Kraft des Denkens die Totalität des Wirklichen zu ergreifen«, 21 und widersetzte sich damit der Fantasie »einer runden und geschlossenen Wirklichkeit«. 22 Gegen die Anmaßungen des Idealismus empfiehlt er einen neuen philosophischen Stil, der auf die gesetzgeberischen Ansprüche einer autonomen Vernunft verzichten und stattdessen unsere Aufmerksamkeit auf jene Orte richten werde, »wo irreduzible Wirklichkeit einbricht«. 23 Auch diese Vorstellung eines Einbrechens des »Irreduziblen« taucht in Adornos reifen philosophischen Werken immer wieder auf. So erklärt er in seinen Vorlesungen zur Dialektik aus dem Jahr 1958 seinen entschiedenen Widerstand gegen die »geschlossene Dialektik« der deutschen idealistischen Tradition und schlägt an ihrer Stelle eine »offene Dialektik« vor. 24 Die arroganten Ansprüche des absoluten Geistes werden nun als Versuche zurückgewiesen, die Reichhaltigkeit der nichtbegrifflichen Realität zu beherrschen. Das ältere Modell war bestrebt, alle Negativität in ein kohärentes und stabiles System zu fassen, das Sein und Denken miteinander vereint; die offene Dialektik hingegen bricht 20 21 22 23 24

Ebd. »Die Aktualität der Philosophie«, GS 1, S. 325-344, hier S. 325. Ebd. Ebd., S. 343. NGS, Abt. IV, Bd. 2, S. 36.

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diesen Bann der Systematizität und erkennt die Unzulänglichkeit des Begriffs, wenn er mit der Persistenz dessen konfrontiert wird, was Adorno das »Nichtidentische« nennt. Das Konzept des Nichtidentischen kann als derjenige Begriff charakterisiert werden, der sich dem begrifflichen Netz entzieht. Dies mag manchen Leserinnen und Lesern zweifellos paradox erscheinen. 25 Doch die Idee von etwas, das jenseits der Grenzen der vollkommenen Verstehbarkeit liegt, spielte auch schon lange vor Adorno eine zentrale Rolle in der Philosophie und tritt besonders in der Doktrin des transzendentalen Idealismus an prominenter Stelle auf. Man könnte sogar annehmen, dass er diesen Gedanken gerade dank seines tiefen Verständnisses von Kants Kritik der reinen Vernunft entwickelt hat (die er erstmals unter der Anleitung von Siegfried Kracauer studierte, noch bevor er das Gymnasium abgeschlossen hatte). Kant zufolge kann der Geist Wissen nur von Erscheinungen beanspruchen, insofern diese von den reinen Formen sinnlicher Anschauung (Raum und Zeit) im Zusammenspiel mit den Formen des Verstandes (den Kategorien) bedingt sind. Jenseits des Reichs der Erscheinungen liegt das unbekannte und auch unmöglich zu kennende Reich des Dings an sich. Diese beiden Sphären sind allerdings nicht metaphysisch distinkt; Kant legt im Gegenteil großes Gewicht darauf, zu erklären, dass sie vielmehr nur zwei Aspekte desselben Gegenstands seien – der Gegenstand, wie er uns erscheint, müsse von dem Gegenstand selbst unterschieden werden, wie er ganz unabhängig von den Bedingungen seines Erscheinens sein mag. 26 Kant beharrt gerade des25 Siehe etwa Jürgen Habermas, der vom »paradoxen Begriff des NichtIdentischen« spricht (ders., Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, S. 156). 26 Zu Kants Ablehnung der »Zwei-Welten-Theorie« siehe vor allem seine Entgegnung auf John Locke in Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Leipzig 1920, S. 44.

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halb so sehr auf diesem Punkt, weil er sich gegen den Vorwurf verteidigen muss, dass seine Philosophie die ganze Welt in bloße Erscheinung aufgelöst habe; das Ding an sich mag zwar außerhalb der Sphäre der Erscheinungen liegen, doch als begriffliches Postulat bewahrt das Festhalten an ihm den transzendentalen Idealismus davor, in einen absoluten Idealismus abzukippen. Die Welt ist für Kant aber immer noch mehr als ihre Erscheinung. Und die Bedeutung dieses Gedankens ist kaum zu überschätzen, da er den entscheidenden Unterschied zwischen dem Königsberger Philosophen und seinen deutschen idealistischen Nachfolgern markiert. Am wichtigsten ist dabei, dass die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich unseren Erkenntnisansprüchen eine klare Grenze setzt. Wir können ihr zufolge zwar an die Dinge denken, die von unseren eigenen kognitiven Vermögen unbeeinflusst sind, aber wir können nie behaupten, Wissen von ihnen zu haben. Die menschliche Vernunft habe nun einmal das »besondere Schicksal« zu erleiden, von Fragen bedrängt zu werden, die sie aufgrund ihrer eigenen Limitierungen nicht beantworten könne. Ungeachtet von Kants Ruf als Erzrationalist ist das, was sich aus dieser Doktrin ergibt, also eine Haltung, die Rae Langton als »kantische Bescheidenheit« bezeichnet hat: Der Geist weiß, dass er nicht alles weiß. 27 Die obigen Überlegungen sind für unsere Deutung von Adornos Philosophie von großer Bedeutung. Besonders wichtig an ihnen ist, dass er in Kants Idee des Dings an sich den Anstoß für seine Hinwendung zum Nichtidentischen findet. Diese Affinität zeigt sich speziell in seiner Vorlesung Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹ von 1959, in der er Kant ein bedingtes Lob dafür aussprach, ein Philosoph gewesen zu sein, der nicht danach gestrebt habe, die »Schwelle« zwischen Geist und Welt zu überschreiten. 27 Rae Langton, Kantian Humility. Our Ignorance of Things in Themselves, Oxford 1998.

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Unsere Erkenntnis dringe nicht bis zum Kern dessen vor, was der Fall sei, sondern bleibe »gebunden […] an etwas, worauf sie sich bezieht«. 28 Die Doktrin des Kant’schen »Blocks« verhindere, dass sich der transzendentale Idealismus zu jener späteren Version des Idealismus aufblähe, die keine Grenzen oder Beschränkungen dieser Art mehr anerkenne. Die Gründe für Adornos Lob liegen mithin auf der Hand: Mit der Unterscheidung zwischen der Sphäre der Erscheinungen und der des Intelligiblen deutet Kant auf das hin, was Adorno ein »materialistisches Motiv« nennt. 29 Natürlich sieht dieser ein, dass es jenem nicht darum ging, den transzendentalen Idealismus an jenen dialektischen Umschlagpunkt zu führen, an dem er sich selbst negieren und sich als Materialismus entpuppen würde; seine These ist vielmehr einfach die, dass Kant durch die Logik seiner eigenen Argumentation dazu gezwungen gewesen sei, »dieses Moment eines nicht weiter Reduktiblen« einzuführen. 30 Und obgleich sie sich nicht explizit dem Materialismus hingebe, stelle die Kritik der reinen Vernunft dennoch »in der neueren Zeit den ersten großen Versuch dar – oder vielleicht auch den letzten und einen zum Scheitern verurteilten –, das, was im bloßen Begriff sich nicht bewältigen läßt, durch den bloßen Begriff doch zu bewältigen«. 31 Das paradoxe Resultat sei eine Lehre, die die Kraft des Begriffs rühme, Identität zu stiften, die aber dazu gezwungen sei, »gleichzeitig die Nichtidentität an[zu]erkennen«. 32 Jeder Versuch, dem Begriff des Nichtidentischen eine feste Bedeutung zuzuschreiben, wird auf ein ernsthaftes Problem stoßen. Denn eine Definition setzt die Möglichkeit voraus, das Besondere unter ein Allgemeines zu subsumieren. Das Nichtidentische 28 29 30 31 32

NGS, Abt. IV, Bd. 4, S. 353.

Ebd. Ebd. Ebd., S. 353f. Ebd., S. 354.

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aber ist der Begriff für das, was sich weigert, sich unter ein Allgemeines fassen zu lassen. In diesem Sinne könnte es tatsächlich so aussehen, als ob uns das Nichtidentische mit einer Paradoxie konfrontiert: Es ist der Begriff dessen, was sich der begrifflichen Bestimmung entzieht. Adorno ignoriert dieses potenzielle Problem zwar nicht, betrachtet es aber auch keineswegs als Todesstoß für seine Argumentation, vor allem deshalb nicht, weil er sich auf die Analogie mit dem kantischen Ding an sich berufen kann. Denn genau so, wie der Begriff des Dings an sich der eines unbestimmten Gegenstands jenseits der Sphäre der Erscheinungen ist, so ist auch der Begriff des Nichtidentischen der Begriff dessen, was sich selbst nicht in die Sphäre der Identität einfügt. Das heißt allerdings, dass das Nichtidentische eine rein negative Kategorie ist. Es ist das, was sich der begrifflichen Bestimmung widersetzt; seine Definition besteht in nichts anderem als darin, dieser Widerstand zu sein. Hier ist die Analogie zur kantischen Lehre vom Ding an sich von großer Bedeutung. So wie Kant nämlich an diesem festhält, um sich gegen den Vorwurf des Idealismus zu wappnen, so weist Adorno dem Begriff des Nichtidentischen eine entscheidende Rolle in seiner Philosophie zu, weil er genau den Punkt des Widerstands gegen die Macht der Identität markiert. Beide Konzepte fungieren somit als Zeichen für epistemische Bescheidenheit; sie sind Symbole dafür, dass der Geist nicht in sich selbst eingeschlossen ist, sondern von der nichtbegrifflichen Welt sowohl abhängig als auch offen für sie ist. 33 Wir können diese Analogie aber auch noch einen Schritt weitertreiben. Denn so wie Kant das Ding an sich als Absicherung gegen einen idealistischen Solipsismus benötigt, so ist Adorno auf das Nichtidentische als 33 In anderen Hinsichten ist Adorno gegenüber Kant natürlich höchst kritisch eingestellt. Eine Diskussion dazu findet sich in J. M. Bernstein, »Concept and Object. Adorno’s Critique of Kant«, in: Peter E. Gordon u. a. (Hg.), A Companion to Adorno, Hoboken 2020, S. 487-502.

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Versicherung dafür angewiesen, dass die Dinge tatsächlich anders sein können, als sie sind. Für Kant ist die Gefahr des Solipsismus weithin erkenntnistheoretischer Natur: Würden wir das Ding an sich verwerfen, dann fänden wir uns in einem Meer aus selbstgemachten Erscheinungen wieder. Für Adorno ist die Gefahr hingegen auch sozialer Art: Würden wir den Begriff des Nichtidentischen aufgeben, dann würden wir uns in der Sphäre ideologischer Erscheinungen verlieren und hätten keine Handhabe mehr für die Negation der Illusionen einer sich selbst affirmierenden Gesellschaft.

Nichtidentität und Kritik In Adornos Denken wird das Nichtidentische zum Ausgangspunkt für seine Praxis immanenter Kritik. Ohne nähere Konkretisierung wird jedoch nicht ganz klar, wie diese Praxis eigentlich vorgehen soll. Denn um die gesellschaftlichen Verhältnisse anzufechten, reicht es klarerweise nicht aus, wenn Adorno den Begriff des Nichtidentischen einfach nur in die Welt hineinruft. Wir können ohne Weiteres erkennen, warum eine solche Strategie ungenügend wäre, da es die Aufgabe der Kritik sein muss, unsere Aufmerksamkeit auf spezifische Instanzen zu richten, in denen die Gesellschaft versagt hat. Wie er in der Negativen Dialektik erklärt, könne der mikrologische Blick sich mit solchen Instanziierungen von Nichtidentität aber nicht begnügen, wenn sie dabei als bloße Exemplifizierungen eines allgemeinen Begriffs verstanden würden. 34 Das Konzept des Nichtidentischen stellt Adorno damit vor ein philosophisches Dilemma, da es kaum mehr als ein leerer Platzhalter für etwas Bestimmteres zu sein scheint, mithin bloß »de[r] Gegensat[z] zwischen dem, was drunten gehalten ist, und 34 GS 6, S. 400.

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dem allherrschenden und zur Identität verurteilten Prinzip«. 35 Das Dilemma ist offensichtlich: Wie kann das Nichtidentische eine bloß generische Kategorie sein, wenn es gerade durch seinen Gegensatz zu generischen Kategorien definiert ist? Adorno kann dieses Problem nur dadurch überlisten, dass er sich mit ihm in seiner generischen Form eigentlich überhaupt nicht befasst. Die Idee des Nichtidentischen bezieht sich ja eben nicht auf eine bestimmte Sache; sie dient vielmehr als ein bloßes Zeichen für nichtbegriffliche Partikularitäten, die sich in unendlicher Vielfalt und Differenzierung überall in der weiten Landschaft der menschlichen Erfahrung manifestieren. Ich denke, dass wir es an dieser Stelle mit einer der faszinierendsten Facetten von Adornos Philosophie zu tun haben. Da seine Kritikpraxis auf die Berufung auf die Nichtidentität angewiesen ist, muss er genauer angeben, wie diese sich uns in unserer Erfahrung eigentlich zugänglich macht. An dieser Stelle bricht die Analogie zwischen dem Nichtidentischen und den Dingen an sich nun zusammen. Kant war es noch möglich, das Ding an sich als das zu definieren, was von den Bedingungen seiner möglichen Erfahrung unbeeinflusst bleibt; Adorno hingegen kann das Nichtidentische nicht vor den alles umfassenden Bedingungen des gesellschaftlichen Ganzen schützen. Das bringt ihn allerdings in eine schwierige Lage. Denn wenn das Nichtidentische in den Raum der sozialen Erscheinungen eintritt, dann wird es dabei ganz bestimmt sogar von den Bedingungen seines Erscheinens gezeichnet sein und aufhören, rein oder absolut zu sein. Soll das Nichtidentische aber weiterhin ein irgendwie von seiner gesellschaftlichen Umwelt unbeeinflusstes und damit unverfälschtes Fragment sein, dann müsste Adorno sich vorwerfen lassen, es in das Bild einer Utopie verwandelt zu haben – in eine Insel der Wahrheit inmitten eines

35 NGS, Abt. IV, Bd. 13, S. 135.

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Ozeans des Falschen. Alles jedoch, was wir von ihm wissen, warnt uns vor dieser Deutungsmöglichkeit. So spiegelt zum Beispiel seine vorbehaltlose Antipathie gegen den Kult der Eigentlichkeit seine starke Überzeugung wider, dass unsere gelebte Erfahrung von Falschheit durchdrungen sei, was das Phantasma einer unbeschädigten Vereinigung mit dem Sein verbiete. 36 Wenn er es ernst meinte mit seiner Erklärung, dass es »kein richtiges Leben im falschen« gibt, dann können wir ihm also auch nicht die Illusion einer reinen und unbelasteten Nichtidentität zuschreiben. Die Antwort auf dieses Problem liegt auf der Hand. Denn Adorno versucht ja ohnehin nie, das Nichtidentische von den Bedingungen seines Erscheinens zu isolieren, und widersteht zudem der utopischen Falle, es sich als eine Insel der Vollkommenheit auszumalen. Stattdessen vertritt er die Auffassung, dass das Nichtidentische selbst gar nicht anders könne, als gerade die Beschädigungen seiner Umgebung zu manifestieren. In einer unvollkommenen Welt müsse nämlich auch das Nichtidentische die Zeichen diesseitiger Unvollkommenheit aufweisen. 37 Diesen Gedanken erläutert er in einer wichtigen Passage seiner Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit: Was die Herrschaft des Identitätsprinzips alles an Nichtidentischem ausstößt, ist dadurch, daß es von dem Identitätsprinzip ausgestoßen wird, selber in sich vermittelt von dem Identitätszwang; es ist der schale Rest, der übrigbleibt, nachdem die Identifizierung ihr Stück sich weggeschnitten hat; und diesem schalen Rest bleibt dann selber noch gewissermaßen die Macht des identifizierenden Prinzips eingeprägt wie ein Stempel, als etwas Verstümmeltes. Der Bann des Identitätsprinzips, der Bann des Weltgeistes, um empha36 Zu Adornos Kritik der Eigentlichkeit siehe Peter E. Gordon, Adorno and Existence, Cambridge (Mass.) 2016. 37 An anderer Stelle habe ich diesen Gedanken als »christologisches« Motiv bezeichnet: ebd., S. 179.

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tisch zu reden, der verkehrt noch das, was anders ist, – und wovon freilich die kleinste Beimischung mit dem Bann unvereinbar wäre, wenn sie rein wäre. 38

Dieser Auszug sollte schon genügen, um jede Sorge darum zu zerstreuen, dass Adorno sich der tröstlichen Idee des Nichtidentischen als einer Insel der Vollkommenheit verschrieben haben könnte, die von der Macht des gesellschaftlichen Ganzen unberührt bleibe. Ganz im Gegenteil behauptet er, dass das, was dem Ganzen als »Anderes« erscheine, nicht nur unter seiner Ausschließung zu leiden habe, sondern auch einige der Merkmale dessen annimmt, dem es sich eigentlich zu entwinden versucht: Es »wird selber zu einem Bösen und Verhängnisvollen«. 39 Diese Überlegung besitzt übrigens eine auffallende Ähnlichkeit mit einer These, die sich auch in der Dialektik der Aufklärung findet und die uns daran erinnert, dass die Natur selber nicht in einem unberührten Zustand überleben kann, wenn sie der rationalen Herrschaft unterworfen wird. Der romantische Traum von einer Rückkehr zu einer unbefleckten Natur ignoriere daher die bittere Wahrheit, dass auch sie sich dem Bann der Vernunft gebeugt habe. Alles, was uns bleibt, sind folglich nach Adorno »Fetzen der unterjochten Natur, welche der Herrschaftsprozeß ausspeit«, die aber »nicht weniger verunstaltet [sind] als das in der Maschinerie Zermahlene«. 40 An dieser Stelle ist die Feststellung wichtig, dass Adorno der Überzeugung war, sein Denken weise zumindest bis zu einem bestimmten Punkt Parallelen zu dem Denken Hegels auf. Die oben zitierte Passage, die den »Bann« thematisiert, der vom Identitätsprinzip ausgeht, taucht inmitten einer umfassenderen Untersu38 NGS, Abt. IV, Bd. 13, S. 142f. (meine Hervorhebung, P. G.). 39 Ebd., S. 143. 40 Ebd., S. 143f.

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chung auf, in der er sich wohlwollend auf seinen Vorläufer bezieht. Hegel war ihm zufolge nämlich nicht nur ein Fürsprecher der gesellschaftlichen Totalität, sondern hat »dabei schon auch das zur Geltung bringen wollen, was in der Totale sich nicht erschöpft«. 41 Zu Recht sei er der Auffassung gewesen, dass jedes Moment des Ausschlusses die Totalität selbst als abstrakt, das heißt als unvollständig und daher falsch desavouiere, habe aber auch verstanden, dass gerade ein solcher Ausschluss den Boden für die Verwirklichung der Totalität in ihrer Vollständigkeit und Wahrheit bereite. Auf der anderen Seite führte seine Absicht, »das Nichtidentische selber noch in die Identität hineinzunehmen«, Adorno zufolge dazu, dass es »zwar auf der einen Seite selbst auch in den Bann hineingerät, auf der anderen Seite aber doch zu dem werden soll, wodurch der abstrakte Bann gemildert wird«. 42 Diesem Gedanken legt er großes Gewicht bei, da er zeige, dass der Dialektiker noch in den entstelltesten Fragmenten der Nichtidentität die Vorwegnahme einer besseren Welt entdecken könne. »Zur Versöhnung also«, so Adorno, »hülfe die Reflexion der Differenz.« 43 Dennoch ist diese Argumentation zugegebenermaßen irritierend. Denn Hegel konnte das Negative nur deshalb als belebendes Element der Dialektik ansehen, weil er glaubte, dass die Vernunft einen inneren Drang zur Selbstverwirklichung besitze. Dank dieser Prämisse konnte er dann behaupten, dass Negativität immer schon ihre Aufhebung und Versöhnung impliziere. Stößt die Vernunft auf Differenz, dann handelt es sich bei Letzterer demnach nicht einfach um ein Hindernis, dem Erstere bloß zufällig begegnet, sondern um ein Problem, das sie lösen muss. Dies wirft nun eine wichtige Frage auf: Kann auch Adorno eine solche Prämisse vertreten? 41 Ebd., S. 144 (meine Hervorhebung, P. G.). 42 Ebd. 43 Ebd.

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Die übliche Antwort auf diese Frage ist ein schallendes Nein. Adorno weist die Hegel’sche Annahme, dass das Nichtidentische auf irgendeine Weise eine Versöhnung antizipiere, entschieden zurück, weil er der Überzeugung ist, dass unser Bewusstsein dafür, wie eine echte Versöhnung aussehen könnte, von einer falschen Totalität vollkommen vernebelt werde. Ich hingegen möchte dafür argumentieren, dass diese typische Reaktion falsch oder zumindest drastisch überspitzt ist. Ich habe das Problem der Übertreibung schon in der Einleitung angesprochen. An dieser Stelle muss ich jedoch einem etwas anders gelagerten Problem nachgehen. Denn schwierig an dieser üblichen Entgegnung auf jene Frage ist, dass der Ausdruck »falsch« unweigerlich kontrastiv ist. 44 Genauer gesagt impliziert sie bereits, dass wir uns in einem Raum der Normativität befinden, in dem die Charakterisierung unserer gegenwärtigen Welt als falsch eine bestimmte Vorstellung davon voraussetzt, was es für sie hieße, wahr zu sein. In einem Essay namens »Kritik« macht Adorno genau diesen Punkt. Dort schreibt er (unter bewusster Anspielung an Spinoza), dass »das Falsche, einmal bestimmt erkannt und präzisiert, bereits Index des Richtigen, Besseren ist«. 45 Wahr und falsch sind demnach also nicht nur kontrastiv; vielmehr implizieren sie einander auch. 46 Diesem Gedanken ist Adorno bis in das Zentrum seiner be-

44 Ich danke Gordon Finlayson für den Ausdruck »kontrastiv«, der mir in diesem Zusammenhang besonders passend zu sein scheint (private Korrespondenz). 45 GS 10.2, S. 785-793, hier S. 793. 46 Zur wechselseitigen Implikation des Negativen und Positiven siehe die hilfreiche Untersuchung in Michael Theunissen, »Negativität bei Adorno«, in: Ludwig von Friedeburg, Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt/M. 1983, S. 41-65. Eine weitere Behandlung des Themas der Negativität bei Adorno und ihrer ethischen Implikationen findet sich in Martin Shuster, »Adorno and Negative Theology«, in: Graduate Faculty Philosophy Journal 37:1 (2016), S. 97-130.

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grifflichen Analysen hinein nachgegangen. Betrachten wir beispielsweise die folgende Passage aus der Negativen Dialektik, wo er ein typisches erkenntnistheoretisches Problem diskutiert, nämlich das, wie wir das Verhältnis zwischen unseren Begriffen und den realen Gegenständen auffassen sollten, auf die sie sich beziehen. Auf der einen Seite kritisiert er das Bestreben des Begriffs, den Gegenstand zu beherrschen, erblickt auf der anderen Seite in ebendiesem Bestreben aber auch ein verzerrtes Verlangen nach echter Versöhnung: Hybris ist, daß Identität sei, daß die Sache an sich ihrem Begriff entspreche. Aber ihr Ideal wäre nicht einfach wegzuwerfen: im Vorwurf, die Sache sei dem Begriff nicht identisch, lebt auch dessen Sehnsucht, er möge es werden. Dergestalt enthält das Bewußtsein der Nichtidentität Identität. Wohl ist deren Supposition, bis in die formale Logik hinein, das ideologische Moment am reinen Denken. In ihm jedoch steckt auch das Wahrheitsmoment von Ideologie, die Anweisung, daß kein Widerspruch, kein Antagonismus sein solle. 47

Adornos Punkt in diesem Abschnitt ist der, dass sogar noch die falsche oder ideologische Behauptung einer Identität von Begriff und Objekt von dem utopischen Versprechen einer Konstellation zeugt, die mehr wäre als bloße Herrschaft. Und zweifelsohne ist er auch der Überzeugung, dass dieses Versprechen einen normativen Charakter besitze – es sei eine »Sehnsucht« danach oder sogar die »Anweisung« dazu, dass es keinen Widerspruch geben solle. Ich glaube, dass uns diese Passage daher ein lehrreiches Beispiel für eine immanente Kritik liefert: Indem sie das Negative offenbart, greift sie die Identitätsbehauptung als falsch an; gleichermaßen wichtig aber ist, dass ebendieser kritische Angriff zugleich auch die Vorstellung von einer Identität voraussetzt, die wahr wäre. 47 GS 6, S. 152f. (meine Hervorhebung, P. G.).

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Das ist das von Adorno so genannte »Wahrheitsmoment« in aller Ideologie: Wenn wir eine Ideologie als falsch kritisieren, dann legen wir uns damit bereits auf das normative Ideal der Wahrheit fest. Ideologie und Normativität sind ineinander verschlungen. Ungeachtet all dieser Überlegungen stellt allerdings kaum etwas an der obigen Argumentation eine Garantie dafür dar, dass unser Ideal auch tatsächlich verwirklicht werden kann; der logische Vorrang des Wahren bewahrt uns nämlich nicht vor der skeptischen Herausforderung, dass sich unsere Hoffnungen trotzdem einfach als bloße Täuschung entpuppen könnten. Wenn Adorno aber nicht einmal die geringste Versicherung dafür abgeben kann, dass Versöhnung möglich ist, dann stehen wir – so der Einwand – erneut vor der bitteren Aussicht, dass das Ideal möglicherweise auch nie realisiert wird. Denn was könnte die immanente Kritik schließlich dadurch zu gewinnen hoffen, dass sie unsere Aufmerksamkeit ausschließlich auf das »Böse« oder »Verhängnisvolle« lenkt? Wenn Adorno meint, dass das Nichtidentische nicht weniger beschädigt sei als das gesellschaftliche Ganze, aus dem es verstoßen wurde, dann wirkt die Behauptung einfach unplausibel, dass es jemals als ein Vorbote des Besseren fungieren könnte. In diesem Fall könnten wir höchstens noch auf eine ehrliche Anerkennung des Falschen hoffen, nicht mehr allerdings auf eine Antizipation des Wahren. Diese skeptische Herausforderung scheint also zu suggerieren, dass wir uns mit einer rein minimalistischen Interpretation der moralischen Lehren Adornos bescheiden sollten, wobei in diesem Fall dann auch die Vermutung naheläge, dass dieser überhaupt nie die Absicht gehabt habe, uns irgendetwas anderes an die Hand zu geben als den entmutigenden Ratschlag, wir mögen doch »weniger falsch leben«. 48 Die Aufgabe meiner Argumenta48 Bei der Vorstellung seiner negativistischen Interpretation schränkt Freyenhagen klugerweise seine Beweisansprüche auf eine Weise ein, die unsere Beachtung verdient. Er räumt nämlich ein, dass man ihm vorwerfen könnte,

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tion soll es nun aber sein, zu zeigen, dass diese minimalistische Deutung irreführend ist.

Übungen zum richtigen Leben Oben habe ich dafür plädiert, dass Adorno sich nicht auf eine rein negative Interpretation des Nichtidentischen beschränkt. Anders ausgedrückt: Er ist nicht der Meinung, dass sich die Aufgabe der immanenten Kritik darin erschöpfe, nur das zu dokumentieren, was an unserer gegenwärtigen sozialen Welt falsch oder schlecht ist. Des Weiteren habe ich behauptet, dass nach Adorno schon der Begriff des Falschen selbst unsere Positionierung in einem Raum der Normativität impliziert, wo zum Falschen auch ein kontrastierender (wenn auch größtenteils impliziter) Rekurs auf das Wahre gehört. Aus diesem Grund ist er auch der Auffassung, dass eine Kritik des Falschen einen antizipatorischen Charakter besitze: Unsere gegebenen Verhältnisse als schlecht zu verdammen, bedeute, wie indirekt auch immer auf Verhältnisse anzuspielen, die gut wären. Dennoch wäre es selbstverständlich nicht richtig, dies bloß als eine logische Implikationsbeziehung zu betrachten. Da»die utopische Dimension von Adornos Denken herunterzuspielen oder gar zu leugnen«. Gegen diesen Vorwurf setzt er sich wie folgt zur Wehr: Er bestreite nicht, dass Adorno ein Utopist sei, »in dem Sinne, dass er an der Möglichkeit festhält, dass die Dinge anders sein könnten«. Sehr wohl bestreiten wolle er hingegen den Gedanken, dass jener »uns sagen kann, wie die Dinge dann sein würden – worin, positiv gesprochen, die Utopie also bestehen könnte« (Fabian Freyenhagen, Adorno’s Practical Philosophy. Living Less Wrongly, Cambridge 2013, S. 20). Diese Unterscheidung ist zwar wichtig, geht aber immer noch zu weit, weil sie die antizipatorischen Vorkommnisse des Guten inmitten des Schlechten zurückweist. Oder um die Sache kurz und bündig auf den Punkt zu bringen: Adorno ist sich der inneren Widersprüchlichkeit oder Dialektik der gesellschaftlichen Struktur und der individuellen Erfahrung bewusster, als es die negativistische Interpretation zulässt.

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mit unsere Kritik in unserer sozialen Welt Fuß fassen kann, reichen Begriffe allein nicht aus. Wie ich in den folgenden Kapiteln ausführlicher darlegen werde, ist Adorno in seinen philosophischen Überzeugungen jedoch Materialist genug, um die Ansicht zu vertreten, jede Kritik der gegenwärtigen Ordnung müsse ihre Befugnis daraus beziehen, dass sie uns auf empirische Belege aufmerksam macht, die uns nicht nur in begrifflicher Form, sondern auch in der Beschaffenheit unserer erlebten Erfahrung verfügbar sind. Glücklicherweise ist Adornos Verständnis von der Art von Belegen, die diesen Anspruch erfüllen können, alles andere als eng. Ein instruktives Beispiel findet sich in dem bezaubernden Eintrag »Kaufmannsladen« in seiner Minima Moralia, in dem er über die Relevanz von Kinderspielen sinniert. 49 Dieses Thema mag der Leserin im Hinblick auf die Aufgabe der Gesellschaftskritik als Nebensächlichkeit erscheinen. In Wirklichkeit ist es jedoch gerade die scheinbare Trivialität dieses Gegenstands, die ihn zu einem so günstigen Ansatzpunkt macht, wenn wir begreifen wollen, wie immanente Kritik vorgehen sollte. Der Text beginnt mit einer nüchternen Anmerkung zur überwältigenden Macht des Markts: Der »Erwerb« »beschlagnahmt« demnach praktisch sämtliche alltäglichen Handlungen und verwandelt sie in »bloße Mittel«, so dass ihr je besonderer Charakter ausgelöscht wird und sie »vertauschbar reduziert [werden] auf die abstrakte Arbeitszeit«. 50 Die Logik des Tauschs ist dabei nach Adorno so mächtig, dass die »Äquivalentform« nicht nur anfängt, unser Verhalten, sondern auch unsere individuellen »Wahrnehmungen« zu entstellen. Er charakterisiert den Kapitalismus hier also nicht nur als ökonomisches System, sondern betrachtet ihn als eine ganze entzauberte Welt, der Licht und Farbe nahezu vollständig entzogen worden sind: 49 GS 4, S. 259-261. 50 Ebd., S. 259.

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[D]as, worin nicht mehr das Licht der eigenen Bestimmung als »Lust an der Sache« leuchtet, verblaßt dem Auge. Die Organe fassen kein Sinnliches isoliert auf, sondern merken der Farbe, dem Ton, der Bewegung an, ob sie für sich da ist oder für ein anderes; sie ermüden an der falschen Vielfalt und tauchen alles in Grau, enttäuscht durch den trugvollen Anspruch der Qualitäten, überhaupt noch da zu sein, während sie nach den Zwecken der Aneignung sich richten, ja ihnen weithin ihre Existenz einzig verdanken. Die Entzauberung der Anschauungswelt ist die Reaktion des Sensoriums auf ihre objektive Bestimmung als »Warenwelt«. 51

Vielleicht nirgendwo sonst in seinem Werk kommt Adorno einer Bejahung des Weber’schen Porträts des Kapitalismus als »stahlhartem Gehäuse« näher als hier. In der »entzauberten Welt« müssen die Dinge der Logik des Tauschs gehorchen; ihr Gebrauchswert löst sich auf, und ihr inneres Wesen muss sich in der Folge dem Gesetz der Zweckrationalität unterwerfen. Es ist deshalb nur umso bemerkenswerter, Adorno in seinem Nachsinnen über die Bedeutung des Kinderspiels als einer Aktivität zu folgen, die offenbar überhaupt keinem Zweck dient: »In seinem zwecklosen Tun schlägt es [das Kind] mit einer Finte sich auf die Seite des Gebrauchswerts gegen den Tauschwert. Gerade indem es die Sachen, mit denen es hantiert, ihrer vermittelten Nützlichkeit entäußert, sucht es im Umgang mit ihnen zu erretten, womit sie den Menschen gut und nicht dem Tauschverhältnis zu willen sind, das Menschen und Sachen gleichermaßen deformiert«, wie er schreibt. 52 Er scheut sich also nicht, mit seinem mikrologischen Blick unsere Aufmerksamkeit noch auf die kleinsten und unbedeutendsten Dinge wie etwa Kinderspielzeuge zu lenken. Seine Analyse, so eindringlich in ihrer Genauigkeit, soll die unschuldigsten Partikularitäten als Allegorien auf eine univer51 Ebd., S. 260. 52 Ebd.

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selle Erlösung ausweisen: »Der kleine Rollwagen fährt nirgendwohin, und die winzigen Fässer darauf sind leer; aber sie halten ihrer Bestimmung der Treue, indem sie sie nicht ausüben, nicht teilhaben an dem Prozeß der Abstraktionen, der jene Bestimmung an ihnen nivelliert, sondern als Allegorien dessen stillhalten, wozu sie spezifisch da sind.« 53 Die Relevanz solcher kindlichen Gegenstände liegt ihm zufolge also darin, dass sie dem instrumentellen Imperativ, der die Erwachsenenwelt beherrscht, anscheinend entkommen sind oder sich ihm zumindest zeitweise entziehen:

Versprengt zwar, doch unverstrickt warten sie, ob einmal die Gesellschaft das gesellschaftliche Stigma auf ihnen tilgt; ob der Lebensprozeß zwischen Mensch und Sache, die Praxis aufhören wird, praktisch zu sein. Die Unwirklichkeit der Spiele gibt kund, daß das Wirkliche es noch nicht ist. Sie sind bewußtlose Übungen zum richtigen Leben. 54

Ich habe die Aufmerksamkeit hier auf Adornos Untersuchung von Kinderspielzeug gelenkt, weil sie die generelle Praxis der immanenten Kritik erhellt. Drei Themen in dieser Untersuchung stechen dabei als besonders instruktiv hervor: Marginalität, Negativität und Antizipation. (1) Zunächst zum Thema der Marginalität. Adorno ist der Überzeugung, dass es dem Kritiker nütze, wenn er seinen Blick nicht auf das Zentrum der Gesellschaft richte, sondern auf ihre Ränder und Abgründe, wo sich bestimmte Handlungsweisen oder Erfahrungen erhalten, die mit der die Gesellschaft strukturierenden Logik in einem Spannungsverhältnis stehen. Er weiß natürlich, dass etwas so Triviales wie ein Kinderspiel so wirkt, als habe 53 Ebd. 54 Ebd., S. 260f.

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es die Aufmerksamkeit der Kritik nicht verdient. Aber genau dies scheint sein Punkt zu sein: In ihrer spielerischen Unschuld sind die kindlichen Aktivitäten zwar »versprengt«, aber noch nicht vollkommen in die herrschende Ordnung »verstrickt«. Von der relativen Sicherheit ihrer sozialen Randständigkeit aus verkörpern sie Weisen des Daseins, die jene Ordnung größtenteils unterdrückt hat. (2) Der disharmonische Charakter solcher Aktivitäten macht uns, zweitens, auf das Thema der Negativität aufmerksam. Kinderspiele sind nach Adorno in dem Sinne negativ, dass sie sich der allgemeinen Tauschlogik widersetzen. Seine Konkretisierung dieses Themas lässt mehrere Interpretationen zu, und zwar sowohl passive als auch aktive. Kinderspiele weisen eine Art von passiver Negativität auf, weil sie als an der herrschenden Ordnung unbeteiligt gelten; sie »warten« einfach an den Rändern darauf, dass sich die Gesellschaft verändert, damit sie eine größere allgemeine Bedeutung annehmen können. Sie sind aber offenbar auch negativ in einem eher aktiven Sinne, insofern sie manche Gegenstände tatsächlich ihres nur allzu praktischen Status berauben und somit zur »Rettung« einer unterdrückten Alternative beitragen. Wir sollten daher auch nicht den entscheidenden Punkt übersehen, dass Kinderspiele nur in dem Sinne negativ sind, dass sie das Falsche negieren und damit für eine nichtrealisierte Wahrheit stehen. (3) Dies bringt uns zum dritten und wichtigsten Thema. Adorno deutet die Kinderspiele so, dass sie einen antizipatorischen Status haben, da man von ihnen sagen könne, dass sie künftige Verhältnisse inmitten der Gegenwart anzeigen. Für ihn impliziert bereits ihre Negativität diesen Status, und zwar unabhängig davon, ob sie eine nur passive (im Sinne eines bloßen Abwartens) oder nur aktive Negativität (im Sinne einer tatsächlichen Suche nach Rettung) besitzen. In beiden Fällen werden sie als Verkörperungen einer alternativen Weise des Menschseins betrachtet, die noch nicht zu ihrer volleren und allgemeineren Verwirklichung gelangt ist. 141

Deshalb nennt Adorno sie auch »Allegorien« oder »Übungen zum richtigen Leben«. 55 Diese drei Themen – Marginalität, Negativität und Antizipation – steuern alle etwas zu Adornos Konzeption von Gesellschaftskritik bei. Die größte Bedeutung misst er allerdings der Antizipation bei, einem Thema, das in seinem Werk in vielfachen Variationen wiederkehrt. Deren Relevanz verdankt sich dem Umstand, dass sie uns auf jene normative Forderung aufmerksam macht, die die Praxis der immanenten Kritik in Gänze motiviert: dass unser Leben endlich ein menschenwürdiges werden soll. Es ist kein Zufall, dass die Anspielung auf das »richtige Leben« erstmals in der Widmung ganz am Anfang der Minima Moralia auftaucht – eines Werks, das vielleicht eher für jenes dunkle Epigramm von Ferdinand Kürnberger auf der ersten Seite des ersten Teils bekannt ist: »Das Leben lebt nicht.« 56 Wir sollten allerdings nicht den Fehler machen, zu glauben, dass diese beiden Abschnitte des Buchs einander widersprächen: Adorno teilt die Ansicht, dass das Leben in seiner gegenwärtigen Form nicht lebt, hält aber ebenso an dem antizipatorischen Thema fest, dass wir innerhalb unseres aktuellen nichtlebenden Lebens marginale und widerständische Weisen des Daseins ausmachen können, die auf ein alternatives Leben hindeuten, das im wahren Sinne des Wortes gelebt werden könnte. Er räumt zwar ein, dass diese Weisen des Daseins in ihrer gegenwärtigen Gestalt nicht vollkommen befriedigend 55 In der englischen Fassung der Minima Moralia übersetzt Jephcott das Wort »Übungen« mit »rehearsals«. Das ist zwar ein eleganter Ausdruck, aber vielleicht trotzdem nicht ganz so passend wie das schlichtere Wort »exercises«. Ich vermute, dass Adorno als ausgebildeter Pianist diesen letzteren Ausdruck für »Übungen« aufgrund seines subtilen Anklangs an jene von Carl Czerny entwickelten Fingerübungen gewählt haben könnte, die den meisten jungen Klavierschülern der damaligen Zeit wohlbekannt waren (wobei diese Übungen zugegeben alles andere als unschuldige oder vergnügliche Spiele sind). 56 GS 4, S. 20 (Frontispiz des Ersten Teils).

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sein können, da ja die Struktur unseres momentanen Lebens insgesamt falsch ist (tatsächlich ist genau das die Bedeutung der Aussage »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«); dennoch aber sollte diese These nicht als ein universeller Bannspruch verstanden werden. Die Relevanz der Kinderspiele besteht darin, dass sie Instanzen von normativer Antizipation sind, und diese erlauben uns einen flüchtigen Blick darauf, wie ein richtiges Leben aussehen könnte.

Immanente und transzendente Kritik Bevor ich mich dem nächsten Kapitel zuwende, wird es hilfreich sein, genauer zu prüfen, was letztlich bei der These auf dem Spiel steht, dass Adornos Philosophie ein Beispiel für die Praxis immanenter Kritik ist. In der aktuellen Forschungsliteratur sind die Meinungen dazu gespalten. 57 In einer luziden und breit angeleg57 Eine umfassende Darstellung der Bedeutung von immanenter Kritik findet sich in Titus Stahl, Immanente Kritik. Elemente einer Theorie sozialer Praktiken, Frankfurt/M. 2013; zu einer Zusammenfassung seiner Argumente siehe ders., »What is Immanent Critique?«, SSRN Working Paper, online verfügbar unter 〈http://ssrn.com/abstract=2357957〉, doi: 10.2139/ xxrn.2357957, letzter Zugriff 16. 12. 2022. Neben einer Verteidigung seiner eigenen Idee von immanenter Kritik geht Stahl hier auch der historischen Genese dieser Kritikform von Hegel über Marx bis zur kritischen Theorie der Frankfurter Schule nach. Eine davon abweichende Position, die die starken Kontinuitäten von Hegel und Marx bis Adorno in Zweifel zieht, findet sich in dem exzellenten Aufsatz von James Gordon Finlayson, »Hegel, Adorno, and the Origins of Immanent Criticism«, in: British Journal for the History of Philosophy 22:6 (2014), S. 1142-1166. Zu einer weiterführenden Diskussion des bis zu Hegel zurückreichenden historischen Zusammenhangs siehe Andrew Buchwalter, »Hegel, Marx, and the Concept of Immanent Critique«, in: Journal of the History of Philosophy 29:2 (1991), S. 253-279, Robert J. Antonio, »Immanent Critique as the Core of Critical Theory. Its Origins and Developments in Hegel, Marx and Contemporary Thought«,

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ten Untersuchung nimmt Titus Stahl eine systematische Rekonstruktion der Tradition immanenter Kritik vor und formuliert darin die Position, dass wir eine wichtige Kontinuität von Hegel und Marx bis zur kritischen Theorie der Frankfurter Schule konstatieren können. James Gordon Finlayson hingegen hat bedeutende Einwände gegen diese Kontinuitätsthese aufgeworfen. Ihm zufolge kann Adorno die Praxis der immanenten Kritik nicht gutheißen, vor allem deshalb nicht, weil er auf einen, wie er es nennt, »strengen Negativismus« festgelegt sei. Im Folgenden möchte ich einige Stränge dieser Diskussion aufgreifen, um damit meine These zu motivieren, dass der Frankfurter Philosoph sehr wohl einer solchen kritischen Praxis anhing. In seinem bekannten frühen Aufsatz »Kulturkritik und Gesellschaft« trägt Adorno einige interessante Beobachtungen über den Unterschied von immanenter und transzendenter Kritik vor und bringt eine starke Präferenz für die erstere zum Ausdruck. Um die Gründe dafür zu verstehen, müssen wir uns zunächst darüber klar werden, was eine Kritik als immanent (und eben nicht transzendent) auszeichnet. Letztere nimmt Adorno zufolge »einen der Kultur und dem gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang enthobenen Standort [ein], einen archimedischen gleichsam, von dem aus das Bewußtsein die Totalität, wie sehr sie auch laste, in Fluß zu bringen vermag«. Auf den ersten Blick scheine »[d]ie transzendente Methode, die aufs Ganze geht«, daher auch »radikaler als die immanente« zu sein, 58 was dem Eindruck geschuldet sein könne, dass eine solche Kritik bereit sei, restlos alles zu verdammen, während die immanente Kritik »das fragwürdige Ganze zunächst

in: The British Journal of Sociology 32:3 (1981), S. 330-345, sowie Karin de Boer, »Hegel’s Conception of Immanent Critique. Its Sources, Extent, and Limit«, in: Ruth Sonderegger, Karin de Boer (Hg.), Conceptions of Critique in Modern and Contemporary Philosophy, London 2004, S. 83-101. 58 GS 10.1, S. 26.

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sich vorgibt«. 59 Angesichts des beklagenswerten Zustands der Welt könnten wir daher vielleicht nachvollziehen, warum eine solche Geste der totalen Verurteilung durch den transzendenten Kritiker gerechtfertigt erscheinen könne: »Der Angriff aufs Ganze hat seine Kraft darin, daß um so mehr Schein von Einheit und Ganzheit in der Welt ist, wie gelungene Verdinglichung, also Trennung.« Wolle der Kritiker sich aber nicht schon in vorauseilendem Gehorsam »der Fetischisierung der Sphäre Geist« unterwerfen, dann könne man auf den Gedanken kommen, dass eine solche »kulturtranszendente Position […] von der Dialektik in gewissen Sinn vorausgesetzt« werde. 60 Trotz der Anerkennung ihrer offenkundigen Verdienste lehnt Adorno die Strategie der transzendenten Kritik am Ende aber ab. Seine Gründe dafür sind ziemlich einleuchtend: Es gibt einfach keinen »archimedischen […] Standort« jenseits des gesellschaftlichen Ganzen. Wollte man dies doch behaupten, dann hieße das, dass man sich selbst im Besitz eines zwar privilegierten, aber dennoch vollkommen imaginären Standpunkts außerhalb der eigenen sozialen Wirklichkeit wähnt. Dieser Gedanke wiederum würde jedoch einen falschen und undialektischen Dualismus zwischen dem Kritiker und seiner Welt einführen. Oder wie Adorno selbst schreibt: »Die Wahl eines ihrem [d. h. der Ideologie; Anm. d. Ü.] Bann entzogenen Standpunkts ist so fiktiv wie nur je die Konstruktion abstrakter Utopien.« 61 Die transzendente Kritik versuche nun aber trotzdem, diesen fiktiven Standpunkt auf verschiedene Weisen zu rechtfertigen, etwa durch Rekurs auf den vermeintlich extrasozialen Maßstab einer von der Kultur gänzlich unberührten reinen Natur:

59 Ebd. 60 Ebd. 61 Ebd.

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Daher sieht sich die transzendente Kritik der Kultur, ganz ähnlich der bürgerlichen Kulturkritik, zum Rückgriff verhalten und beschwört jenes Ideal des Natürlichen, das selber ein Kernstück der bürgerlichen Ideologie bildet. Der transzendente Angriff auf die Kultur spricht regelmäßig die Sprache des falschen Ausbruchs, die des Naturburschen. Er verachtet den Geist: die geistigen Gebilde, die ja doch nur gemacht sein, nur das natürliche Leben überdecken sollen […]. 62

Adorno lehnt solche Rückgriffe aufs Transzendente jedoch ab, da das Ideal einer unverdorbenen Natur jenseits des sozial Gemachten in seinen Augen nicht weniger fiktiv ist als die gesellschaftlichen Ideologien, denen es zu entkommen sucht. Die transzendente Kritik scheitert somit an dem, was ich die Herausforderung der Selbstreflexivität genannt habe: Sie basiert auf der Vorstellung, dass Kritik von einer Position ausgeht, die der von ihr adressierten Welt äußerlich ist. Ein fundamentaler Grundsatz der Philosophie Adornos ist aber der, dass die Kritik keinen anderen Sitz als die Welt selbst hat. Und daraus folgt, dass transzendente Kritik nicht möglich ist. Nachdem er diesen Nachweis erbracht hat, könnte es nun so scheinen, als ob Adorno keine andere Wahl hätte, als die Strategie der immanenten Kritik einzuschlagen. Tatsächlich vertritt er explizit die Position, dass diese im Vergleich zur transzendenten Kritik »das wesentlicher dialektische […] Verfahren« sei, da sie keinen dualistischen Gegensatz zwischen der gänzlich falschen Gesellschaft und einem extrasozialen oder welttranszendierenden Maßstab des Wahren unterstelle. Immanente Kritik nehme vielmehr »das Prinzip ernst, nicht die Ideologie an sich sei unwahr, sondern ihre Prätention, mit der Wirklichkeit übereinzustimmen«. 63 Eine 62 Ebd. (meine Hervorhebung, P. G.). 63 Ebd., S. 27.

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Ideologie behauptet eine vollkommene Entsprechung oder Identität zwischen ihren Repräsentationen und der Welt, die sie repräsentiert. Adorno lehnt solche Identitätsanmaßungen hingegen ab; ihm zufolge müssen wir vielmehr entschieden Einspruch erheben, wo immer Ideologie das Bestehen einer solchen Identität behauptet, und stattdessen die Tatsache der Nichtidentität oder des Widerspruchs in den Vordergrund rücken. Um dies zu erreichen, können wir ihm zufolge jedoch nicht der Strategie der transzendenten Kritik folgen und normative Anleitung in einer Sphäre suchen, die angeblich außerhalb des Reichs der Ideologie liegt. Denn wir haben schlicht keinen Zugang zu einer solchen Außenperspektive. Deshalb müssten wir so vorgehen, dass wir Momente des Widerspruchs oder der Nichtidentität innerhalb unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit ausfindig machen. Die relevanten nichtidentischen Momente würden sich dabei oft auf der Ebene kultureller Formen als innere Brüche oder Dissonanzen manifestieren, die eine geduldige Interpretationsarbeit erforderten: »Immanente Kritik geistiger Gebilde heißt, in der Analyse ihrer Gestalt und ihres Sinnes den Widerspruch zwischen ihrer objektiven Idee und jener Prätention zu begreifen«, wie Adorno schreibt. 64 Diese Art von Kritik genießt daher einen entscheidenden Vorzug gegenüber der transzendenten Variante. Weil sie sich nämlich nicht auf die illusorische Suche nach einem archimedischen Punkt einlässt, der die soziale Wirklichkeit übersteigt, kann sie auch nicht so verfahren, dass sie Widersprüche zwischen der Welt und irgendeinem Bündel exotischer oder welttranszendenter normativer Maßstäbe identifiziert. Stattdessen ist sie bestrebt, solche Widersprüche innerhalb der gesellschaftlichen Realität selbst ausfindig zu machen. Wir beurteilen unsere soziale Wirklichkeit nicht als mangelhaft, indem wir sie an einer von außen beigebrachten kritischen Norm messen; wir richten unsere Aufmerksamkeit vielmehr aus64 Ebd.

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schließlich auf das, was Adorno als eine »Inkonsistenz« bezeichnet, die in »der Verfassung des Daseins« als solcher steckt. 65 Der entscheidende Vorteil einer immanenten Kritik im oben diskutierten Sinne liegt in ihrer Bezugnahme auf interne Widersprüche. Die eigentliche Besonderheit dieser Kritikform ist damit aber noch nicht vollständig beschrieben. Wir müssen nämlich immer noch verstehen, warum es überhaupt so wichtig sein sollte, auf interne Widersprüche zu achten. In seinem Aufsatz »Wozu noch Philosophie« deutet Adorno eine Antwort auf diese Frage an, wenn er bemerkt: »Dialektik ist kein dritter Standpunkt sondern der Versuch, durch immanente Kritik philosophische Standpunkte über sich und über die Willkür des Standpunktdenkens hinauszubringen.« 66 Diese Wendung ist nun zugegebenermaßen rätselhaft. Denn zu behaupten, es sei Aufgabe der immanenten Kritik, einen Standpunkt jenseits ihrer selbst zu entwickeln, suggeriert, dass etwas an ihrem gegenwärtigen Standpunkt auch schon jetzt einen normativen Überschuss oder unerfüllten Anspruch aufweist. Wie oben angemerkt, betrachtet Adorno unsere bestehende Gesellschaft nicht als in sich konsistent oder homogen, weshalb sie ihm zufolge auch nicht nur eine, sondern mehrere konkurrierende Visionen dafür anbietet, wie unser Leben aussehen sollte. Der aufmerksame Kritiker muss demnach auf diese Dissonanzen oder Inkonsistenzen Acht geben, weil verschiedene Momente derselben sozialen Wirklichkeit verschiedene und konkurrierende normative Maßstäbe ausdrücken. Die dominanten unter ihnen werden dabei ohne Zweifel eher affirmativer Natur sein – sie bestätigen einfach die normative Autorität der Welt in ihrem gegebenen Zustand. Wir können aber noch andere Maßstäbe ausfindig machen – auch wenn sie weniger geläufig sind und teilweise sogar im Verborgenen liegen –, die die Autorität der herrschenden in Frage stellen 65 Ebd. (meine Hervorhebung, P. G.). 66 GS 10.2, S. 459-473, hier S. 467 (meine Hervorhebung, P. G.).

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oder angreifen und auf alternative Möglichkeiten hindeuten. Dabei ist Adorno nicht der Auffassung, dass irgendeine dieser Visionen vollständig als explizite Ideologie oder moralisches Prinzip ausformuliert sein müsste. Tatsächlich müssten sie nicht einmal Aussagen über normative Festlegungen treffen, denn gesellschaftlich relevante Normen treten ja nicht immer in der Gestalt komplett ausgearbeiteter Moralphilosophien auf. Es reicht daher im Gegenteil schon aus, wenn sie die normativen Behauptungen darüber, wie wir leben sollten, einfach verkörpern, etwa in Form einfachster und alltäglichster Verhaltensweisen. Adorno erkennt allerdings, dass diese normativen Behauptungen heutzutage unter Druck stehen und daher möglicherweise bald verschwinden könnten. Die Minima Moralia – seine vielleicht erfolgreichste Untersuchung der gelebten und verkörperten Erfahrung – ist somit auch eine melancholische Aufzeichnung jener Erfahrung im Augenblick ihres Niedergangs. Er warnt nämlich davor, dass die Erfahrung sich letztlich dem »Gesetz ihrer reinen Zweckmäßigkeit« unterwerfen könnte, welches keinen »Überschuß sei’s an Freiheit des Verhaltens, sei’s an Selbständigkeit des Dinges […] dulden« werde. 67 Für den Moment könnten wir uns jedoch noch auf diesen Überschuss als notwendigem Ausgangspunkt für unsere kritische Praxis berufen. An dieser Stelle kann die das Soziale einbeziehende Interpretation eine wichtige Rolle spielen. Denn Adorno ist der Überzeugung, dass die internen Widersprüche in einer gegebenen Gesellschaft durch den Sozial- oder Kulturkritiker explizit gemacht werden können, da dieser in der Lage sei, mit interpretatorischen Mitteln die Dissonanzen oder die mangelnde Passung zwischen konkurrierenden normativen Ansprüchen aufzudecken und uns zudem dabei helfen könne, das antizipatorische Versprechen jener in unserer Alltagspraxis verborgenen normativen »Übungen« herauszu67 GS 4, S. 44.

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arbeiten. Dass die Aufgabe der Kritik darin besteht, einen philosophischen Maßstab zu entwickeln, bedeutet demnach, dass die Interpretation genau jene fehlende Übereinstimmung deutlich machen kann. Wichtiger wird es allerdings sein, die mangelnde Passung zwischen den herrschenden Normen und ihren unterdrückten Alternativen herauszustellen. Denn obwohl diese Alternativen eben nicht vollständig in den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen verkörpert sind, so enthalten sie doch auch einen normativen Überschuss, der mit den Mitteln der Interpretation entwickelt oder explizit gemacht werden kann. Am allerwichtigsten jedoch ist in diesem Zusammenhang Adornos Überzeugung, dass die Aufgabe der Kritik nicht einfach nur in der Offenlegung der Bruchstelle zwischen Überschuss und Status quo bestehe, sondern auch darin, zu fordern, dass dieser Bruch geheilt werden müsse. Eine so grundlegende Transformation ist aber nur durch die Adressierung jener gesellschaftlichen Verhältnisse zu erreichen, die für diesen Bruch verantwortlich sind. Und das ist dem Umstand geschuldet, dass das Missverhältnis zwischen Wirklichkeit und Norm ja nicht auf das Konto lokaler oder zufälliger Eigenschaften unserer sozialen Ordnung geht, sondern auf das konstitutiver Probleme, die diese Ordnung als Ganze belasten. Ist die obige Rekonstruktion zutreffend, dann sieht es so aus, als habe Adorno überzeugende Gründe, sich der Praxis der immanenten Kritik anzuschließen. Trotzdem ist es wichtig, mögliche Einwände gegen die hier von mir vorgelegte Darstellung zu diskutieren. Der erste lautet, dass er seine Position geändert haben könnte. Es ist nämlich in der Tat anzumerken, dass die Kontrastierung von immanenter und transzendenter Kritik, die ich oben besprochen habe, einer recht frühen Phase seines Wirkens entstammt. Gordon Finlayson behauptet zum Beispiel, dass »Adorno um das Jahr 1950 begann, Zweifel an der Umsetzbarkeit einer immanenten Kritik zu hegen« (obgleich er noch hinzufügt, dass er diese Zweifel »nicht durchgängig hatte«) und nachfolgend von 150

den Vorzügen der immanenten Kritik nicht mehr überzeugt gewesen sei, hauptsächlich deshalb, weil er die gesellschaftliche Realität als »durch und durch böse« angesehen habe: Sie sei »ein einziges integriertes System, das jeden lohnenden Zweck vollkommen eingebüßt hat und komplett instrumentell geworden ist, so dass keines seiner Elemente gegen die Komplizenschaft mit verschiedenen Formen der Herrschaft immun ist«. 68 Dieses Bild von einer integrierten Ordnung totaler Falschheit bezeichnet Finlayson (in ungefährer Übereinstimmung mit Freyenhagen) als »strengen Negativismus«. Zur Untermauerung dieser These bezieht er sich auf einige wohlbekannte Aussprüche aus der Minima Moralia, so zum Beispiel auf den, dass es »kein richtiges Leben im falschen« gebe und dass »das Ganze das Unwahre« sei, die er als »buchstäblich wahren Ausdruck« von Adornos Gesellschaftsauffassung deutet. Diese Argumentation führt Finlayson dann zu dem Schluss, dass Adorno letztlich geglaubt habe, die immanente Kritik sei kein gangbarer Weg mehr: Wenn die Gesellschaft, wie Adorno behauptet, ein sich selbsterhaltendes Ganzes ist, und wenn sie außerdem durchgängig und unrettbar böse ist; wenn also nichts in ihr frei von der Komplizenschaft in Bezug auf die Gräueltaten ist, die in ihrer Mitte stattgefunden haben, dann muss die Vorstellung aufgegeben werden, dass sie über zuverlässige Maßstäbe für Kritik verfügt, welcher Art auch immer diese sein mögen. In dem Umfang nämlich, in dem sie in den Immanenzzusammenhang eingebunden sind, sind sie grundsätzlich nicht transzendent genug: Sie sind nicht fähig, über die bestehenden Verhältnisse hinaus auf eine Gesellschaft hinzudeuten, die, wenn sie verwirklicht würde, völlig anders (und besser) wäre als die gegenwärtig existierende. Denn in dem Maße, in dem diese Standards dem Gegenstand der Kritik – der Gesellschaft – selbst gehö68 Finlayson, »Hegel, Adorno, and the Origins of Immanent Criticism«, S. 1157.

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ren, sind sie mit ihm verbunden und von ihm infiziert. Und das bedeutet, dass sie nicht die geeigneten Maßstäbe für eine kritische Theorie der Gesellschaft sind. 69

Für Finlayson sind solche Erwägungen kriegsentscheidend. So heißt es bei ihm beispielsweise auch: »Adorno sieht ohne Frage, dass eine bloß immanente Gesellschaftskritik unter den Bedingungen eines strengen Negativismus nicht genügt, da sie das Ziel der kritischen Theorie nicht erreichen wird.« 70 Daraus ergibt sich dann, dass wir die von Titus Stahl und anderen vertretene Kontinuitätsthese zurückweisen müssen, die seiner Philosophie einen Ort in der von Hegel und Marx herkommenden Traditionslinie des immanent-kritischen Denkens zuweist. Dieser Schluss wäre aber nur dann gerechtfertigt, wenn wir die These akzeptieren würden, dass Adorno die Gesellschaft tatsächlich als »durchgängig und unrettbar böse« betrachtet. Wie ich jedoch in der Einleitung angemerkt habe, setzt dies voraus, dass wir seine am stärksten übertreibenden Aussagen (die vom fehlenden »richtigen Leben« zum Beispiel) als wortwörtliche und zutreffende Beschreibungen unserer gegenwärtigen Welt verstehen. Wir müssen uns hier klar vor Augen halten, was in dieser Debatte auf dem Spiel steht. Wenn wir solche Beschreibungen als buchstäblich wahr betrachten würden und Adorno unsere Gesellschaft also wirklich als vollumfänglich und unrettbar böse angesehen hätte, dann hätte er sich dafür unmöglich auf interne Kritikmaßstäbe berufen können, und zwar einfach deshalb nicht, weil es sie gar nicht gäbe. Allerdings würde sich daraus sehr wohl ergeben, dass er die Strategie der immanenten Kritik nicht hätte befürworten können. Glücklicherweise demonstriert ein großer Teil der Befunde aus dem Textbestand jedoch, dass solche aphoristischen 69 Ebd., S. 1158. 70 Ebd.

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Aussagen von ihm überhaupt nicht als wörtliche Beschreibungen intendiert waren. Vielmehr sind sie Übertreibungen, die uns auf im Entstehen begriffene Entwicklungstendenzen der modernen Welt aufmerksam machen sollten. Trotz eines gelegentlichen Abgleitens in einen totalisierenden oder »strengen« Negativismus ist Adorno in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle um die Feststellung bemüht, dass die moderne Welt »unvollständig, widerspruchsvoll und brüchig« sei. 71 Und diese Ansicht vertritt er nicht nur in seinen Frühschriften, sondern auch im weiteren Verlauf seines Schaffens und bis weit in die späteren 1960er Jahre hinein. So bezeichnet er in der Negativen Dialektik die Vorstellung von einem »[t]otale[n] Determinismus« im Sozialen als »mythisch« und beharrt darauf, dass wir in der Gesellschaft auch weiterhin die »versprengte Spur« einer besseren Alternative vorfinden könnten, auch wenn sie aktuell in einem monotonen Grau erscheine und sich uns als »negative[s] Ganze[s]« präsentiere. 72 Solche Aussagen mögen zwar wenig eindrucksvoll erscheinen, da sie nur die minimalste Anerkennung immanenter Alternativen und Inkonsistenzen einräumen. Doch schon das geringste derartige Zugeständnis wäre ausreichend, um die These des totalen Negativismus zu widerlegen. Es sieht daher ganz so aus, als hätten wir genügend Belege an der Hand, um das Bild von Adorno als spätmodernem Gnostiker zu verwerfen, der in der Gesellschaft nur ein unrettbares Reich der absoluten Falschheit oder eines absolut Bösen gesehen habe. Sobald wir aber die These des strengen Negativismus zurückweisen, ist der Weg für eine Unterstützung der immanenten Kritikstrategie durch Adorno frei. Möglicherweise ist es von Bedeutung, am Rande anzumerken, dass Finlayson seine eigene Lesart des Philosophen in seinen jüngeren Arbeiten offenbar modifiziert hat. Er versteht ihn nun nicht 71 »Die Aktualität der Philosophie«, GS 1, S. 334. 72 GS 6, S. 370.

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mehr als strengen oder totalisierenden Negativisten, sondern bescheidet sich damit, ihn als partiellen Negativisten zu beschreiben. 73 Diese Position fasst er in der These zusammen, dass »Menschen eine – wenn auch verschwommene – Kenntnis oder Vorstellung vom Guten und Richtigen haben können, so dass ihr Zugang zu ihr unzuverlässig und diffus und das Gute oder Richtige, von dem sie wissen, nur partiell und fragmentarisch ist«. 74 Doch selbst wenn Adorno nur ein partieller Negativist wäre, so könnte er sich immer noch auf nachvollziehbare Weise auf fragmentarische Instanziierungen des Guten inmitten des Schlechten berufen. Und tatsächlich ist das alles, was es für eine immanente Kritik braucht. Wir dürfen nicht außer Acht lassen, wie oft Adorno sich eigentlich Metaphern wie der des Fragments, der Spur oder (zumindest an einer Stelle) des zerbrochenen Glases bedient. 75 Eine solche metaphorische Redeweise ist nun nicht einfach nur poetisches Schwelgen; vielmehr gehört sie zur logischen Infrastruktur seiner Konzeption von immanenter Kritik. Die Aufgabe der Interpretation ist es demnach, die kleinsten Fragmente der bestehenden Wirklichkeit als antizipatorische Zeichen für ein nicht verwirklichtes Ganzes zu begreifen. 76 Trotzdem ist die Feststellung sicherlich von Belang, dass der Wechsel hin zu einem »partiellen Negativismus« eine etwas anders gelagerte und weni-

73 James Gordon Finlayson, »Adorno’s Metaphysics of Moral Solidarity in the Moment of its Fall«, in: Gordon u. a. (Hg.), A Companion to Adorno, S. 615-630. 74 Ebd., S. 618. 75 Siehe zum Beispiel die Wendungen »Fragment des ganzen Glücks« (GS 6, S. 396) und »versprengte Spur« (ebd., S. 370) aus der Negativen Dialektik oder »zerbrochene[s] Glas« aus dem Buch über Mahler (GS 13, S. 184). 76 Michael Theunissen assoziiert diese Logik der Spur mit der metaphysischen und theologischen Figur der Prolepse, einer Antizipation eines noch unverwirklichten künftigen Zustands der Einheit. Siehe dazu die erhellende Diskussion in Theunissen, »Negativität bei Adorno«.

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ger vernichtende Analyse unserer herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse beinhaltet. Denn sobald wir einmal zugestehen, dass wir zumindest einen gewissen Zugriff auf Instanzen oder fragmentarische Vorwegnahmen des Guten haben (wie partiell oder diffus auch immer er sein mag), müssen wir die Erwartung aufgeben, dass Adornos Spielart einer immanenten Gesellschaftskritik uns für die Begegnung mit den sozialen Verhältnissen einer totalen Katastrophe wappnen könnte. Immanente Kritik bleibt nämlich nur so lange eine Option, wie wir zumindest ein Mindestmaß an Vertrauen auf die Verfügbarkeit von Alternativen hegen können. Wie Titus Stahl feststellt, »war das Modell der immanenten Kritik nie dazu gedacht, mit drastisch verzerrten Praktiken umzugehen, sondern dazu, bessere Potenziale innerhalb von Praktiken aufzuzeigen«. 77 Dem würde ich nur hinzufügen wollen, dass immanente Kritik im Sinne Adornos sehr wohl in der Lage ist, mit solchen erheblichen Verzerrungen umzugehen; erst wenn sie so stark werden, dass sie sämtliche Alternativen zunichtemachen, büßt die Praxis der immanenten Kritik ihre Wirkmacht zwangsläufig ein.

Immanente Transzendenz An diesem Punkt unserer Überlegungen müssen wir uns mit einem recht gravierenden Einwand befassen. Da Adorno sich mit Problemen von großer Tragweite beschäftigt, die die moderne Gesellschaft in Gänze belasten, könnte die Annahme nämlich unplausibel erscheinen, er hätte darauf beharrt, dennoch immanente Normen ausfindig machen zu können, die der Gesellschaft wi77 Titus Stahl, »What is Immanent Critique?«, SSRN Working Paper, S. 19, online verfügbar unter 〈http://ssrn.com/abstract=2357957〉, doi: 10.2139/ xxrn.2357957, letzter Zugriff 16. 12. 2022.

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dersprechen. Wie ich bereits in diesem Kapitel erläutert habe, hat er diesen Einwand jedoch vorhergesehen und erkennt deshalb an, dass auch die für die Kritik erforderlichen immanenten Normen durch jenes gesellschaftliche Ganze korrumpiert sind, in dem sie auftreten. »Selbst die Normen, welche die Einrichtung der Welt verdammen, verdanken sich deren eigenem Unwesen«, wie es bei ihm heißt. 78 Angesichts des Umstands, dass sie die beschädigte Welt nicht transzendieren, sondern ihr Auftreten eben genau dieser Welt zu verdanken haben, werden also auch sie notwendigerweise Beschädigungen aufweisen. Daraus folgt, dass wir von keiner der uns verfügbaren Normen völlige Perfektion oder Zuverlässigkeit erwarten sollten. Für die Praxis der immanenten Kritik bedeutet dieser Schluss allerdings ohne Zweifel eine weitere Komplikation. Diese möchte ich als das Problem des falschen Auswegs bezeichnen. In jeder gegebenen gesellschaftlichen Ordnung werden wir auf bestimmte Normen stoßen, die uns scheinbar das Versprechen auf einen Fluchtweg aus ihr heraus geben, in Wirklichkeit aber kaum mehr als einfach nur weitere Instanzen der herrschenden Ideologie sind. Diese falschen Auswege spiegeln uns die Illusion von Transzendenz vor, dienen tatsächlich aber dazu, Immanenz zu bekräftigen. Marx liefert uns in seiner Religionskritik ein paradigmatisches Beispiel für diese Idee. In der Einleitung zu seiner Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie schreibt er, dass die Religion kaum mehr als die »phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens« verspreche, das »illusorisch[e] Glüc[k]«, das als Ersatz für »wirkliches Glüc[k]« fungiere. Und selbst dort, wo sie eine »Protestation gegen das wirkliche Elend« zum Ausdruck bringe, öffne dieser Protest unsere Augen doch nicht für die realen Umstände, die jenes Elend überhaupt erst hervorbringen. Im Gegenteil diene die Religion als ein »Opium«, das dem Protest alle greifbaren Konsequenzen nehme und uns in ei78 GS 4, S. 212.

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nen affirmativen Schlummer fallen lasse. 79 Sie sei daher die Urform der Ideologie: eine Fantasie, die unsere Sehnsucht nach Befreiung nur mobilisiere, um damit unsere Unterdrückung zu bekräftigen. Adorno schließt sich dem Modell der Marx’schen Religionskritik zwar an, weitet ihren Fokus allerdings erheblich aus. Er betrachtet nämlich die Kulturindustrie als eine Sphäre des Warenförmigen und der standardisierten Erfahrung, die eine schwindelerregende Bandbreite von falschen Auswegen in kommodifizierter Form anbiete. Auf Schritt und Tritt erwecke sie Fantasien der Selbstverwirklichung oder des Ausbruchs, die Glück versprechen, nur um unsere Gefangenschaft in der verwalteten Welt zu bestätigen. Noch ernüchternder ist allerdings, dass er glaubt, die marxistische Spielart von Ideologie habe sich mittlerweile einer neuen Art von Realismus ergeben: Der falsche Ausweg erscheine nun nicht mehr als Erlösungsfantasie, sondern befehlige bloß noch unsere Unterwerfung unter die Wirklichkeit und weise dabei die »Hoheitszeichen absoluter Herrschaft dessen was ist« auf, wie er in »Kulturkritik und Gesellschaft« schreibt. 80 Nun mag es so scheinen, als ob das Problem des falschen Auswegs die immanente Kritik vor eine ernsthafte Herausforderung stelle, da der Kritiker eine bestimmte Garantie dafür braucht, dass die Norm, die sich als ein immanenter Widerspruch gegen das gesellschaftliche Ganze darstellt, authentisch ist und nicht wieder nur eine bloße Finte. Adorno hat offenbar genau dieses Problem im Sinn, wenn er die ansonsten eher verwirrende Aussage trifft, dass wir die Wahl zwischen Immanenz und Transzendenz zurückweisen sollten:

79 Karl Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung«, in: MEW, Bd. 1, Berlin 1976, S. 378-391, hier S. 378f. 80 GS 10.1, S. 29.

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Die Alternative, Kultur insgesamt von außen, unter dem Oberbegriff der Ideologie in Frage zu stellen, oder sie mit den Normen zu konfrontieren, die sie selbst auskristallisierte, kann die kritische Theorie nicht anerkennen. Auf der Entscheidung: immanent oder transzendent zu bestehen, ist ein Rückfall in die traditionelle Logik, der Hegels Polemik gegen Kant galt […]. 81

Adorno macht seinen Punkt hier zwar nicht so deutlich, wie er es hätte tun sollen, will aber sagen, dass wir uns dem schlechten und undialektischen Dualismus von Immanenz und Transzendenz widersetzen sollten. 82 Stattdessen sollten wir eine, wie Axel Honneth sie nennt, immanente Transzendenz oder, um einen Ausdruck von Habermas zu bemühen, eine »Transzendenz von innen« verfechten. 83 Solche Formulierungen sind nicht so paradox, wie sie vielleicht aussehen. Sie drücken einfach Adornos spezifische Idee einer immanenten Normativität aus, die auch über die Sphäre bloßer Immanenz hinausweist. »Die Idee, daß eine kritische Gesellschaftsanalyse der Rückbindung an eine innerweltliche Instanz der Transzendenz bedarf, stellt das Erbe der linkshegelianischen Tradition der Kritischen Theorie dar«, wie Honneth erklärt. 84 Ich habe den antizipatorischen Charakter der immanenten Normativität be81 Ebd., S. 25. 82 Eine hiermit zusammenhängende Diskussion findet sich in Brian O’Connor, Adorno, New York 2013, S. 49f. 83 Jürgen Habermas, »Exkurs: Transzendenz von innen, Transzendenz ins Diesseits«, in: ders., Philosophische Texte, Bd. 5: Kritik der Vernunft, Frankfurt/M. 2009, S. 417-450; siehe auch Axel Honneths Diskussion einer »innerweltlichen Transzendenz« in »Die Pointe der Anerkennung. Eine Entgegnung auf die Entgegnung«, in: ders., Nancy Fraser, Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt/M. 2003, S. 271305, hier S. 274-285. Eine nähere Erläuterung dieses Gedankens findet sich in Christopher Zurn, Axel Honneth. A Critical Theory of the Social, Cambridge 2015, bes. S. 150-152. 84 Honneth, »Die Pointe der Anerkennung«, S. 274.

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reits zuvor in diesem Kapitel erwähnt – das heißt die kontextübergreifende Macht von Normen, die zwar konkret situiert sind, aber ihre soziohistorische Situiertheit zugleich auch überschreiten. 85 Der Ausdruck »immanente Transzendenz« spiegelt nun diesen vorweggreifenden Charakter immanenter Normen wider. Dank diesem müssen sie als dialektisch verstanden werden – als immanente und gleichzeitig transzendente Normen: Obwohl sie in unseren bestehenden gesellschaftlichen Zusammenhängen auftreten, deuten sie auch auf die Überwindung dieser Zusammenhänge hin. Dieser Umstand ist der konstitutiven Prekarität geschuldet, die alle kritischen Normen aufweisen. Die Maßstäbe oder Erfahrungen, die uns in unserer gegebenen Situation zugänglich sind, mögen zwar wie vielversprechende Anwärter auf die Rolle von Normativitätsquellen erscheinen, laufen aber stets Gefahr, sich in dieser Rolle von realen Antizipationen in falsche Auswege zu verwandeln. Deshalb drängt uns Adorno auch dazu, die rigorose und undialektische Wahl zwischen immanenter und transzendenter Kritik zurückzuweisen. Das genuin transzendente Moment in der immanenten Transzendenz kann nämlich leicht wieder in reine Immanenz zurückfallen, so dass das, was als echter Ausweg erschienen war, sich als massive Wand entpuppen kann. Das ist vielleicht der raffinierteste Trick der Ideologie – dass sie unser Verlangen nach Flucht aus der gegenwärtigen Gesellschaft erweckt, nur um unsere Unterwerfung unter die gegebenen Normen in eine weitere Bestätigung der Gesellschaft in ihrem Istzustand zu verwandeln. Was als »kritischer Maßstab« erscheint, wird dann zu kaum mehr als ei-

85 Siehe zu dieser Überlegung auch meine Kritik des historisierenden Kontextualismus der Cambridge School in Peter E. Gordon, »Contextualism and Criticism in the History of Ideas«, in: Darrin M. McMahon, Samuel Moyn (Hg.), Rethinking Modern Intellectual History. Reappraisals and New Perspectives for the Twenty-First Century, Oxford 2013, S. 32-55.

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ner unkritischen Fantasie, die uns noch enger an das kettet, was schon da ist. 86 Adorno ist sich dieses Problems des falschen Auswegs stets bewusst. Weil er die Prekarität aller antizipatorischen Normen erkennt, erlaubt er es sich auch nur selten, sie zu billigen, ohne zugleich ihre Gültigkeit in Zweifel zu ziehen. In dieser Hinsicht bleibt seine Kritikpraxis stets wachsam gegenüber der immerwährenden Bedrohung durch die Ideologie und die dialektischen Widersprüche, die all unsere normativen Festlegungen gefährden. »Nicht anders läßt das Bestehende sich überschreiten als vermöge des Allgemeinen, das dem Bestehenden selbst entlehnt ist. Das Allgemeine triumphiert übers Bestehende durch dessen eigenen Begriff, und darum droht in solchem Triumph die Macht des bloß Seienden stets sich wiederherzustellen aus der gleichen Gewalt, die sie brach«, heißt es in der Minima Moralia. 87 Hier ist zu beachten, dass Adorno betont, die Macht des affirmativen Bestehenden sei eine Gefahr für unsere kritischen Normen; er sagt hingegen nicht, dass diese Normen notwendigerweise sämtliche Gültigkeit einbüßen. Trotz der Gefahr der Kompromittierung jener Normen kann Adorno sein Bekenntnis zu der Möglichkeit immanenter Transzendenz aber nicht gänzlich aufgeben (und tut es auch nicht). 88 Denn dies würde bedeuten, 86 Zu einer Illustration dieses Problems siehe etwa die Diskussion der Psychoanalyse und des dialektischen Charakters ihrer kritischen Maßstäbe. Adorno sieht deren Freud’sche Variante als zwischen zwei unterschiedlichen Zielsetzungen hin- und hergerissen an, nämlich der Überwindung von Unterdrückung und ihrer Affirmation. Der affirmative oder ideologische Aspekt sei dabei letztlich zwar der mächtigere, doch selbst dieser Verrat entwerte das »utopische« Element, das in der psychoanalytischen Idee der Lust stecke, nicht vollständig. Siehe dazu die Ausführungen im Abschnitt »Diesseits des Lustprinzips« in der Minima Moralia (GS 4, S. 37f.). 87 Ebd., S. 171. 88 Deshalb stimme ich auch Brian O’Connors folgender prägnanter These absolut zu: »Adorno ist nicht der Auffassung, dass die Gesellschaft vollstän-

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die Daseinsberechtigung der Gesellschaftskritik selbst zu begraben. Um zu verdeutlichen, was beim Problem des falschen Auswegs letztlich auf dem Spiel steht, möchte ich auf einige der erhellenden Überlegungen verweisen, die Rahel Jaeggi in ihrem 2014 erschienenen Buch Kritik von Lebensformen anstellt. Die Autorin versucht dort, die Praxis der immanenten Kritik als denjenigen Kritikmodus zu erweisen, der für die kritische Theorie am besten geeignet ist. Dabei trifft sie eine hilfreiche Unterscheidung zwischen immanenter und interner Kritik. Beides sind Methoden, die die Gesellschaft aufgrund von Maßstäben kritisieren, die bereits in ihr selbst vorhanden sind; zumindest in dieser Hinsicht teilen sie also beide ein Merkmal, das sie von allen Formen transzendenter Kritik grundlegend abhebt. 89 Dennoch sind beide in mehreren Hinsichten verschieden voneinander. 90 Am bedeutendsten ist der Unterschied, dass interne Kritik bestimmte Praktiken einer bestehenden Gesellschaft zwar anhand einer Norm als mangelhaft beurteilt, die in dieser Gesellschaft bereits gegeben ist, diese Norm dabei jedoch als absolut autoritativ betrachtet und die Frage außer Acht lässt, ob sie die Autorität, die unsere Gesellschaft ihr beimisst, auch wirklich verdient. Interne Kritik hat nach Jaeggi deshalb oft bemerkenswert konservative Konsequenzen: Obwohl es der Gesellschaft nicht gelungen ist, ihren erklärten Maßstäben zu genügen, gibt sie sich damit zufrieden, die existierenden sozialen Praktiken in Einklang mit den aktuell verbindlichen Normen zu bringen. Die Praxis der internen Kritik selbst trägt damit zur Bekräftigung der Autorität ebenjener Maßstäbe bei. Immanente Kritik hingegen beschränkt sich nicht auf das Missdig verloren wäre, sich in ihr also keine Spur einer positiven Vorstellung vom individuellen und kollektiven menschlichen Gedeihen mehr finden ließe« (O’Connor, Adorno, S. 50). 89 Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen, Berlin 2014, S. 277. 90 Ein Überblick über diese einzelnen Punkte findet sich ebd., S. 297f.

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verhältnis zwischen gegebenen Praktiken und Normen. Ihre Vertreterinnen und Vertreter sind vielmehr der Auffassung, dass wir unsere kritische Energie sowohl auf unsere gegenwärtigen sozialen Praktiken als auch auf die Normen richten sollten, die sie vorgeblich verkörpern. Diese Art von Kritik versteht die Gesellschaft also nicht als ein feststehendes, sondern als dynamisches Ensemble von Normen und Praktiken und erkennt an, dass sich der Maßstab der Kritik selbst im Verlauf ihres Fortgangs verändern kann. Der entscheidende Unterschied zwischen interner und immanenter Kritik ist daher der folgende: Während Erstere die Autorität der bestehenden Maßstäbe letztlich bejaht und nur darauf abzielt, eine größere Harmonie zwischen ihnen herzustellen, ist immanente Kritik potenziell transformativ. Sie unterstellt nicht, dass die zu verwirklichende Norm bereits als Ideal in der Realität vorhanden ist. 91 Ihr Ausgangspunkt liegt zwar im Inneren der gesellschaftlichen Wirklichkeit, aber sie erhebt kontextüberschreitende Ansprüche, die eine Veränderung sowohl ihrer Praktiken als auch ihrer gegenwärtigen autoritativen Maßstäbe zum Ziel haben. Jaeggi räumt allerdings ein, dass selbst die bestehenden autoritativen Maßstäbe nicht vollkommen falsch sind. Sie als solche zu verurteilen, würde die immanente Kritik nämlich einer ihrer notwendigen Voraussetzungen berauben, und zwar der, dass die Gesellschaft nicht unveränderlich ist, sondern ein dynamisches »Ferment«, das die Möglichkeit der Veränderung in sich selbst trägt. »Es ist im Bestehenden – auch in seiner Widersprüchlichkeit – das Potential vorhanden, an das sich anknüpfen lassen muss, allerdings nur auf dem Wege einer Transformation«, so Jaeggi. Im Unterschied zu Freyenhagen und anderen Verfechterinnen und Verfechtern eines totalen Negativismus ist die immanente Kritikerin daher davon überzeugt, dass (in Jaeggis Worten) »das

91 Ebd., S. 302.

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›Bessere‹ im Bestehenden aufzusuchen und in ihm schon vorgeformt ist […]«. 92 Rahel Jaeggis Unterscheidung von interner und immanenter Kritik illustriert das von mir so genannte Problem des falschen Auswegs auf hilfreiche Weise. Häufig konfrontiert uns die Gesellschaft mit normativen Maßstäben oder Idealen, die sehr anschlussfähig oder autoritativ erscheinen, und oft stellen wir auch fest, dass bestimmte Praktiken diesen Idealen nicht immer gerecht werden. Wir könnten daher den Eindruck haben, dass unsere Kritik sich in erster Linie der reformistischen Aufgabe widmen sollte, auf die Diskrepanz zwischen diesen Idealen und den aktuell betriebenen Praktiken hinzuweisen. Die Schwierigkeit liegt jedoch darin, dass jene Ideale manchmal eben auch eine kritische Überprüfung verdienen – aber weil wir sie für unsere Kritik an den existierenden Praktiken herangezogen haben, haben wir geholfen, ihre Autorität noch weiter zu festigen. Hieran können wir erkennen, wie das, was uns als ein Maßstab für gesellschaftlichen Wandel erscheinen mag, jenen Wandel am Ende sogar blockieren kann. Die Normen, die unsere Kritik motivieren, sind deshalb nicht kontextüberschreitend, sondern vielmehr kontextaffirmativ; was wie ein Ausweg aussieht, kann sich sehr wohl als eine Finte entpuppen, die uns nur noch stärker an die Gesellschaft in ihrem gegebenen Zustand bindet. Oder anders formuliert: Ein Reformismus kann zwar manchmal echte Vorteile mit sich bringen, aber auch den Effekt haben, die gegenwärtig herrschende Ideologie zu stabilisieren. Ich habe auf das Problem des falschen Auswegs aufmerksam gemacht, weil es bedeutende Implikationen dafür hat, wie Adorno die Arbeit der immanenten Kritik angeht. Im Folgenden möchte ich behaupten, dass er der Überzeugung war, auf Instanzen oder »Fragmente« des Guten inmitten des Schlechten hindeuten zu kön92 Ebd., S. 303 (meine Hervorhebung, P. G.).

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nen. Dabei werde ich die These vertreten, dass diese Instanzen des Guten hauptsächlich in einer erfahrungsmäßigen Form auftreten, nämlich als Erfahrungen materiellen Glücks, die uns auf die Möglichkeit eines menschlichen Gedeihens aufmerksam machen, die die Welt generell leugnet. Sie sollen Adorno jenen normativen Maßstab an die Hand geben, den er braucht, um die bestehende Gesellschaft als defizient beurteilen zu können – was bedeutet, dass sie dabei versagt hat, die Forderung nach menschlichem Gedeihen zu erfüllen. Die vorangegangene Diskussion macht uns allerdings auf die Gefahr aufmerksam, dass sich gerade diese Instanzen des Guten selbst als mangelhaft oder sogar illusorisch erweisen können. Ist das aber der Fall, dann verliert die immanente Kritik ihre systemverändernde Kraft und kippt dadurch in den systemaffirmativen Modus einer bloß »internen« Kritik ab. Damit stehen wir vor einem wesentlichen Problem: Wie können wir uns sicher sein, dass die Normen oder Maßstäbe, die uns in unserer Kritik anleiten, nicht einfach falsche Auswege sind, sondern ein echtes Versprechen auf Kontextüberschreitung oder Veränderung in sich bergen? Die Antwort auf diese Frage ist ganz einfach die, dass wir nie mit absoluter Sicherheit beurteilen können, ob solche Versprechen wahr sind oder nicht. 93 Die Erwartung, dass unser Vertrauen auf 93 In der anhaltenden Debatte über die Frage der immanenten Kritik in Adornos Philosophie stammt einer der erhellenden Ansätze von Rahel Jaeggi. In einem Aufsatz, der sich primär um die Minima Moralia dreht, vertritt sie die Ansicht, dass Adorno eine ungewöhnliche Variante dieser Kritik betrieben habe. Wir sind es gewohnt, uns immanente Kritik als eine dialektische Übung vorzustellen, die die Normen für die Kritik der Gesellschaft innerhalb dieser selbst verortet. Oder in Jaeggis eigenen Worten: »Die große Attraktivität dieser Methode für die Nachfolge Hegels von Marx bis zur zeitgenössischen kritischen Theorie macht […] aus, dass man so dem Problem des ›leeren Sollens‹ und des folgenlosen Moralismus entkommen zu können scheint, ist doch das Geforderte in der Wirklichkeit schon vorgebildet und nicht ganz und gar utopisch von ihr entfernt.« Die Realität, die wir kritisieren

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sie unerschütterlich sein müsste, ist schlicht unrealistisch und ignoriert zudem die dialektische Einsicht, dass unsere Maßstäbe nicht weniger von Widersprüchen durchsetzt sind als der Rest der Gesellschaft auch. Adorno hätte nie unterstellt, dass echte Versprechen auf Veränderung in vollkommener Isolation von jenen Illusionen auftreten könnten, die sich gegen diese Veränderung verbündet haben. Wahrheit und Täuschung sind, wie wir sagen könnten, untrennbar voneinander. Was er als »Zweideutigkeit« wollen, muss, wie Jaeggi treffend schreibt, »normativ aufgeladen« sein. Adorno teilt diese Vorannahme ihr zufolge jedoch nicht. Er verschreibe sich zwar immanenter Kritik, habe aber das Vertrauen in die Existenz irgendeiner »›innere[n] Normativität‹« verloren, die für seine kritischen Absichten mobilisiert werden könnte. Daher finde er sich in der merkwürdigen Position wieder, unsere gegenwärtige Lebensform zu kritisieren, ohne sich dabei auf irgendeinen verfügbaren Maßstab zu beziehen, der die erforderliche kritische Wirkung ausüben könnte. In Jaeggis Augen müsse Adorno deshalb einen ständigen »Balanceakt zwischen Maßstabslosigkeit und Entschiedenheit der Kritik« vollführen. Und in der Minima Moralia ist Adorno ihr zufolge tatsächlich in der Lage, diese Balance zu halten, da er uns dort »phänomenal«, das heißt durch empirische Evidenzen und konkrete Analysen, von dem überzeuge, was sie als »Diskrepanz zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und Möglichkeit« bezeichnet. Ihrer Meinung nach ist es nun diese Diskrepanz, die ihm einen internen kritischen Maßstab verschafft, der für seine kritische Praxis hinreicht, auch wenn eine Diskrepanz dieser Art nicht stark genug ist, um im vollen Sinne als Widerspruch gelten zu können (wie es für Hegel, Marx und andere in der Tradition der immanenten Kritik der Fall gewesen wäre). Siehe Rahel Jaeggi, »›Kein Einzelner vermag etwas dagegen.‹ Adornos Minima Moralia als Kritik von Lebensformen«, in: Axel Honneth (Hg.), Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Frankfurt/M. 2005, S. 115-141, hier S. 136-138, 141. Dies ist ein außerordentlich instruktiver Argumentationsgang, obgleich ich nicht Jaeggis Auffassung bin, dass Adorno immanente Kritik in einem paradoxen Modus der »Maßstabslosigkeit« betreibe. Allerdings stimme ich mit ihr darin überein, dass er seine Kritik primär so praktiziert, dass er uns auf phänomenologische (oder »phänomenale«) Instanzen von Normativität in der gelebten Struktur alltäglicher Erfahrungen aufmerksam macht.

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bezeichnet, ist daher ein Merkmal, das alle Quellen von Normativität in der Gesellschaftskritik belastet. Diese Zweideutigkeit lässt ihn jedoch nicht vor seiner kritischen Aufgabe zurückschrecken. Seine diesbezügliche Entschlossenheit fasst er in einer bemerkenswerten Passage der Minima Moralia zusammen, mit der ich dieses Kapitel abschließen möchte: So sagt uns eine Stimme, wenn wir auf Rettung hoffen, daß Hoffnung vergeblich sei, und doch ist es sie, die ohnmächtige, allein, die überhaupt uns erlaubt, einen Atemzug zu tun. Alle Kontemplation vermag nicht mehr, als die Zweideutigkeit der Wehmut in immer neuen Figuren und Ansätzen geduldig nachzuzeichnen. Die Wahrheit ist nicht zu scheiden von dem Wahn, daß aus den Figuren des Scheins einmal doch, scheinlos, die Rettung hervortrete. 94

94 GS 4, S. 138. Ich danke Iain Macdonald für die Erinnerung an diese Stelle.

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2 MENSCHLICHES GEDEIHEN

In Kapitel 1 habe ich die These vertreten, dass Adornos Praxis einer immanenten Kritik darauf abzielt, unsere Aufmerksamkeit auf randständige und negative Elemente in der menschlichen Erfahrung zu lenken. Dies tut sie in meinen Augen aber nicht nur, weil solche Elemente verdeutlichen, was an unseren gegenwärtigen sozialen Verhältnissen falsch ist, sondern auch, weil sie vorwegnehmen, wie unsere Gesellschaft eines Tages wahr sein könnte. Des Weiteren habe ich behauptet, dass dieses Thema der Antizipation uns auf das stößt, was wir die normative Forderung nennen können, die Adornos immanent-kritische Praxis motiviert. Diese Forderung ist in dem Sinne normativ, dass wir die Welt mit der Erwartung kritisieren, sie möge ihre Versprechen einlösen. Sie wird allerdings nicht von außen an die Welt herangetragen. Vielmehr ist sie eine immanente Forderung in dem Sinne, dass wir an unserer diesseitigen Erfahrung interne Elemente – wie marginal oder unbedeutend sie auch sein mögen – ausmachen können, die als Basis für unsere Hoffnung dienen, das Leben könnte letztendlich so werden, wie es sein sollte. Alle oben angestellten Überlegungen deuten darauf hin, dass Adornos Praxis der immanenten Kritik am Ende von einer normativen Forderung nach maximaler Erfüllung oder größtmöglichem menschlichen Gedeihen befeuert wird. 1 Die Forderung, das Leben solle richtig gelebt werden, ist einfach die, dass unsere 1 Zur Idee des menschlichen Gedeihens siehe Martha Nussbaum, »Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit. Zur Verteidigung des aristotelischen Essentialismus«, in: Holmer Steinfath (Hg.),Was ist ein gutes Leben? Philosophische Reflexionen, Frankfurt/M. 1998, S. 196-234, sowie Rosalind Hursthouse, On Virtue Ethics, Oxford 1999.

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soziale Welt so strukturiert sein sollte, dass Menschen das, was sie sind, im größtmöglichen Ausmaß verwirklichen können. Die Idee des menschlichen Gedeihens hat ihren Ursprung bei Aristoteles und ist von einer ganzen Reihe neoaristotelischer Philosophinnen und Philosophen wie Martha Nussbaum, Rosalind Hursthouse oder Alasdair MacIntyre verfochten worden. David Leopold hat die These vertreten, dass sie auch in den frühen Schriften von Karl Marx eine wichtige Rolle gespielt habe. 2 Fabian Freyenhagen, dessen Deutungsansatz ich in der Einleitung diskutiert habe, schreibt Adorno eine Art »negativen Aristotelismus« zu, weil er der Auffassung ist, dieser könne eine positive Konzeption menschlichen Gedeihens nicht begründen; daher bleibe ihm nichts anderes übrig, als sich auf den Gedanken zu berufen, dass Menschen ein unrealisiertes Potenzial in sich trügen. Ich stimme Freyenhagen zwar darin zu, dass uns der Vergleich mit Aristoteles helfen könnte, Adornos Sozialphilosophie zu verstehen, teile aber nicht seine Ansicht, dass dessen Begriff des menschlichen Gedeihens rein negativ sei. Im Gegenteil: Ich glaube, dass wir Adorno mit Blick auf seine Forderung nach menschlicher Erfüllung sogar als Maximalisten charakterisieren sollten. 3 2 David Leopold,The Young Karl Marx. Modern Politics,German Philosophy, and Human Flourishing, Cambridge 2007. 3 Mit Blick auf den moralischen Perfektionismus gibt es aus meiner Sicht Affinitäten zwischen Adorno und Stanley Cavell, wobei ich beileibe nicht der Einzige bin, der dieser Auffassung ist. Zu denjenigen, die am deutlichsten auf diese Nähe hinweisen, gehört Martin Shuster mit seinem Aufsatz »Nothing to Know. The Epistemology of Moral Perfectionism in Adorno and Cavell« (in: Idealistic Studies 44:1 [2014], S. 1-29). Seine Argumentation ist in gewisser Hinsicht durch den ersten Satz des Vorworts in Jay Bernsteins Adorno-Buch inspiriert, der lautet: »Adorno-Leserinnen und -Leser sind unweigerlich verblüfft darüber, wie alles, was der Autor schrieb, von einer strengen und imperativen ethischen Intensität durchsetzt ist« (zit. nach J. M. Bernstein, Adorno. Disenchantment and Ethics, Cambridge 2001, S. XI ; siehe auch die Anmerkung zu Cavell und dem moralischen Perfektionismus in

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Eine solche Auffassung kann uns ohne Zweifel als völlig maßlos erscheinen, und eine Skeptikerin könnte durchaus einwenden, dass es unmöglich sei, solche Kriterien jemals zu erfüllen. Dass es Menschen dadurch gut gehen soll, dass sie ihr Menschsein in allen möglichen Hinsichten verwirklichen, hat gewiss einen utopischen Beiklang, den viele Leser eher nicht mit Adornos negativkritischem Denkstil in Verbindung bringen würden. Außerdem können wir auch das Bedenken nicht ignorieren, dass die Idee des menschlichen Gedeihens durch ihre Assoziation mit einem kapitalistischen Imperativ kontaminiert wird, dem zufolge wir jedes menschliche Vermögen maximal auszubeuten haben, so als wäre der Mensch nichts anderes als eine weitere natürliche Ressource, die sich den Prinzipien der Nutzenmaximierung unterwerfen müsse. Doch Vorbehalte wie diese sollten uns nicht den Blick dafür verstellen, wie Adorno sich auf ein Ideal dessen beruft, was aus der Menschheit werden könnte und sollte. Allerdings ist er trotzdem kein Idealist. Denn wie ich oben dargelegt ebd., S. 336). Ein weiterer erhellender Aufsatz zu diesem Thema ist Alice Crary, »A Radical Perfectionist. Revisiting Cavell in the Light of Kant«, in: The Journal of Aesthetic Education 48:3 (2014), S. 87-98 (die darin eine Erwiderung auf Paul Guyers kantianische Deutung des moralischen Perfektionismus formuliert). Einen luziden Überblick über Cavells Haltung zum moralischen Perfektionismus bietet Espen Hammer, Stanley Cavell. Skepticism, Subjectivity, and the Ordinary, Cambridge 2002, S. 128-142. Dieser fasst den Vergleich mit Adorno wie folgt zusammen: »Mir scheint, dass Adornos ethische Ansichten durchaus perfektionistische Elemente enthalten. Anstatt nach Prinzipien zu suchen, sucht er nach Wegen, um das Ich in die ethische Gleichung einzubringen, wobei er Formen der Responsivität hervorhebt, die zwar manchmal weitverbreitete Annahmen in Frage stellen (und mit der Konformität brechen), letztlich aber versuchen, etwas Universelles zum Ausdruck zu bringen. In dem, was er unter ethischer Erfahrung versteht, scheint eine Form der Selbsttransformation enthalten zu sein« (Espen Hammer; zit. nach privater Korrespondenz). Siehe auch seine weiterführenden Bemerkungen zu Adorno und dem ethischen und politischen Perfektionismus in Espen Hammer, Adorno and the Political, London 2005, S. 9f.

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habe, muss er auf materielle Evidenzen innerhalb der Grenzen unseres gegenwärtigen Lebens verweisen können, die uns eine gewisse antizipatorische Vorausschau auf unser Gedeihen gestatten. Solche ungefähren Evidenzen bezeichnet er mit verschiedenen Begriffen: als »Übung«, »Allegorie« oder als »promesse du bonheur«, das heißt als Versprechen oder Verheißung von Glück. Seine philosophischen Reflexionen über Musik und Ästhetik bezeugen allesamt ebenfalls diese Vision, und an anderer Stelle versucht er, eine von ihm so genannte »metaphysische Erfahrung« zu beschreiben. Doch um welche Sphäre auch immer es geht, all diese Erfahrungen sollen unser Bedürfnis nach einer Art phänomenologischer Garantie dafür befriedigen, dass das Versprechen auf das Gedeihen des Menschen nicht nur eine Fata Morgana ist. Evidenzen wie diese sind also zwar Vorwegnahmen der Zukunft, müssen uns aber im Hier und Jetzt und zudem im Modus der Erfahrung zugänglich sein. Was Adorno vor dem Utopismusvorwurf bewahrt, ist seine weitere Annahme, dass die bestehende Welt unsere Fähigkeit, diese Evidenzen in der Fülle und Tiefe zu erfahren, die das Ideal des menschlichen Gedeihens offenbar verlangt, stark einschränke: Weil die bestehende Welt durch das Leiden entstellt ist, wird jede Erfahrung eines solchen Gedeihens ihm zufolge notwendigerweise prekär und unvollständig sein. »[Man muss] die Möglichkeit ergreifen, die sich, nach dem Maß einer wahrhaft emanzipierten Menschheit in dem gegenwärtigen Zustand, wie sehr auch immer schwach und negativ, abzeichnen«, wie es in Current of Music heißt. 4 Wir müssen jedoch beachten, dass dieser maximalistische Maßstab für das menschliche Gedeihen auch genau das ist, was Adorno zu einer schonungslosen Kritik unseres gegenwärtigen Lebens treibt. Denn da diesem hohen Standard nichts wirklich genügt, können wir uns nicht mit dem minimalistischen Ideal eines »weniger falschen« Lebens zufrieden4 NGS, Abt. I, Bd. 1, S. 660 (meine Hervorhebung, P. G.).

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geben. Im Gegenteil kann nur ein maximalistisches Kriterium dem gerecht werden, was Marx »die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden« nennt. In diesem Kapitel möchte ich eine Interpretation von Adornos Idee des menschlichen Gedeihens vorlegen, und zwar unter der Maßgabe, dass diese Idee in einem materialistischen Sinne verstanden werden muss. Adorno gestattet sich selbst nämlich keinerlei Rekurs auf Begriffe, die nicht einer möglichen Erfahrung in der sinnlichen Welt entsprechen, ist aber trotzdem der Überzeugung, dass unsere materielle Existenz allein genüge, um uns jene elementare Evidenz zu verschaffen, die wir brauchen, wenn wir unser Vertrauen in das Versprechen eines menschlichen Gedeihens untermauern möchten. Und dieses Versprechen wird uns von den Instanzen menschlichen Glücks gegeben, wobei wir bedenken müssen, dass Adorno bei diesem Begriff an eine außerordentlich reichhaltige Art von menschlicher Erfüllung denkt, die die Entfaltung all unserer vielfältigen Vermögen umfasst – angefangen vom bloß körperlichen Genuss bis hin zu den subtilsten Formen ästhetischer und geistiger Erfahrung. 5 Für ein Glück dieser Art ist sinnliche Befriedigung eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. »Alles Glück« ziele »auf sinnliche Erfüllung« ab und gewinne »an ihr seine Objektivität«, wie Adorno in der Negativen Dialektik schreibt. »Ist dem Glück jeglicher Aspekt darauf verstellt, so ist es keines.« 6 Anzumerken ist, dass es ohne einen solchen maximalistischen Begriff auch schwierig wäre, Adornos Überlegungen zur Ästhetik einen Sinn abzugewinnen, da seine Maßstäbe für Exzellenz in Kunst und Musik so enorm hoch sind. Die Art von Glück, die 5 Adornos Glücksideal hat bereits einige kritische Aufmerksamkeit erhalten. Eine exzellente Untersuchung dazu findet sich in Britta Scholze, »Adorno und das Glück«, in: Richard Klein u. a. (Hg.), Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2019, S. 454-462. 6 GS 6, S. 202.

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er im Sinn hat, wird vielleicht am besten vom griechischen Ideal der Eudämonie eingefangen, das die hedonistische Erfahrung zwar anerkennt, aber auch darauf beharrt, dass der körperliche Genuss nur ein Element in einer umfassenderen Konzeption von menschlicher Vortrefflichkeit sei. Ebenso wichtig ist, dass Eudämonie die Mitbestimmung über individuelle und gesellschaftliche Ideale impliziert: Kein Einzelner kann Glück und Selbstverwirklichung im vollen Sinne ohne die volle Verwirklichung der Gesellschaft erfahren, und umgekehrt kann keine Gesellschaft als vollständig verwirklicht gelten, wenn damit nicht die volle Befriedigung all ihrer Mitglieder einhergeht. Daraus folgt, dass kein einzelnes Individuum absolute Erfüllung erlangen kann, wenn seine gesellschaftliche Umgebung diese Erfahrung nicht zu einer wahrhaft universellen macht. In diesem Sinne warnt uns Adorno auch vor der tröstlichen Illusion eines rein privaten Glücks; denn wie oben angemerkt, ist ein in irgendeiner Weise »verstelltes« Glück für ihn keines. Und obwohl wir auch weiterhin an der schieren Denkmöglichkeit eines individuellen Glücks festhalten können, müssen wir doch anerkennen, dass dieses in einer beschädigten Welt notwendigerweise unvollkommen bleiben und mit Leiden verbunden sein wird. Zur Einleitung in meine Interpretation möchte ich nun aber zunächst das Ideal des menschlichen Gedeihens selbst genauer unter die Lupe nehmen.

Der emphatische Begriff des Menschen In seiner Einführungsvorlesung zur Dialektik aus dem Sommersemester 1958 räumt Adorno einer Diskussion der Philosophie Hegels großen Raum ein. Diese Diskussion ist hauptsächlich deshalb von Interesse, weil er sich hier nicht daranmacht, Hegel zu kritisieren; vielmehr nimmt er eine interpretatorisch wohlwollende Haltung ein, die es seinen Studierenden ermöglicht, die Grund172

prinzipien der Hegel’schen Dialektik in einem mehr oder weniger günstigen Licht zu betrachten. Dabei verheimlicht er seinen gelegentlichen Dissens mit Hegel zwar nicht, versucht aber trotzdem, genau jene Eigenheiten von dessen Werk herauszuarbeiten, die am besten in eine Vorlesung passen, welche eine »Einführung« in die Dialektik generell sein will. Für meine Zwecke bietet es sich an, an dieser Stelle kurz innezuhalten und speziell die siebte Vorlesung (vom 12. Juni 1958) zu betrachten, in der Adorno der prominenten Rolle nachgeht, die Hegel der logischen Figur des Widerspruchs zuspricht. Hegel ist ihm zufolge ein Philosoph, der versteht, dass Erkenntnis aus dem Widerspruch entsteht, statt aus »einer blanken Identität« hervorzugehen. 7 Ja, ein wahrhaft seiner selbst bewusstes Wissen müsse feststellen, dass »jede einzelne Erkenntnis überhaupt nur durch den Widerspruch hindurch zu einer Erkenntnis wird«. 8 Der Widerspruch sei für Hegel daher nichts Geringeres als das »Organon der Wahrheit«. 9 Zur Erklärung dafür, warum der Widerspruch eine derart wichtige Rolle in der dialektischen Idee der Wahrheit spielt, führt Adorno ein Beispiel oder »Modell« an, wobei er sich beeilt, seine Studierenden davor zu warnen, dass sich die Dialektik dem Denken nicht leicht über Beispiele erschließe. Für den Dialektiker sei das Konzept des Beispiels kontrovers, weil es voraussetze, dass wir die höhere oder allgemeine Kategorie, unter die das jeweilige Beispiel fällt, bereits in unserem Besitz haben. Dies wiederum setze aber voraus, dass das Allgemeine »etwas Sicheres, positiv Gegebenes« sei, also eine Art »Resultathaftes, Dinghaftes«. In der Hegel’schen Dialektik sei ein so umfassend Allgemeines jedoch keineswegs schon im Voraus gegeben; vielmehr gehe es erst aus dem Besonderen hervor: »[D]er allgemeinbegriffliche Umfang besteht 7 NGS, Abt. IV, Bd. 2, S. 100. 8 Ebd. 9 Ebd.

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eigentlich überhaupt in dem Leben des darunter befaßten Besonderen, er erfüllt sich durch das Besondere, und er umfängt es nicht bloß, sondern er entspringt in dem Besonderen und hat sein Leben daran […]«, wie Adorno sagt. 10 Seine Wortwahl ist an dieser Stelle ungewöhnlich: Uns wird mitgeteilt, dass das Allgemeine »sein Leben […] in dem Besonderen« habe; daraus ergibt sich also für uns das Verbot, uns irgendein Besonderes als »bloß totes […] Exempel« vorzustellen.11 Ungeachtet dieser Vorbehalte drängt Adorno jedoch zu jenem Punkt hin, an dem er endlich ein Beispiel dafür liefern kann, wie Dialektik Widerspruch impliziert. Das Exempel, das er uns gibt, ist das vom »Begriff des Menschen im emphatischen Sinn«. 12 Im Folgenden möchte ich Adornos Ausführungen rekonstruieren, um dadurch einige seiner interessantesten philosophischen Behauptungen herauszustellen. Betrachten wir die Aussage »X ist ein Mensch«. Wenn wir diese Aussage in Bezug auf eine bestimmte Person (»Herrn X«) treffen, dann könnte es so scheinen, als sei diese Aussage in einem unmittelbar einleuchtenden Sinne wahr: Wir verfügen über den allgemeinen Begriff des »Menschen« (B), und das bestimmte Individuum, das vor uns steht (A), wird einfach unter diesen Begriff subsumiert. Die Aussage »A ist B« scheint daher wahr zu sein. Ein Problem taucht jedoch dann auf, sobald wir erkennen, dass A nur ein Repräsentant von B ist und B nicht in seiner Gänze umfasst. Der »emphatische Begriff« des Menschen enthält nämlich »alles mögliche«, was in diesem Begriff impliziert ist, doch das Individuum X, das da vor uns steht, instanziiert eben nicht alle diese diversen Implikationen. Der emphatische Begriff umfasst also viele Merkmale, die X offensichtlich nicht aufweist. Adorno erklärt dies wie folgt: 10 Ebd., S. 101. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 103.

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[Hegel] würde sich also nicht mit einer primitiven biologischen Definition Mensch begnügen, sondern würde sagen, wenn wir in der lebendig vollzogenen Erkenntnis von Mensch überhaupt reden, dann denken wir dabei mit Kategorien wie Freiheit, wie Individuation, Autonomie, Vernunftbestimmtheit, wie eine ganze Menge anderer Dinge, die in dem Begriff Mensch schon allesamt implizit als dessen objektive Bestimmung enthalten sind […]. 13

Adorno zufolge stehen wir daher vor einem ernsthaften Problem. Wir haben den Anfang mit dem Gedanken gemacht, dass »A ist ein Mensch« trivialerweise wahr ist. Die Schwierigkeit erwächst nun aus der Tatsache, dass nach Hegel »im Begriff des Menschen immer dieses Emphatische schon mitgesetzt ist«, wie Adorno es ausdrückt. Doch wenn es um das besondere Individuum geht, mit dem wir es zu tun haben, dann wird unmittelbar klar, dass es den emphatischen Begriff eben nicht in Gänze erfüllt. Das aber heißt, dass unsere Aussage zwar wahr ist, doch »zugleich auch eigentlich nicht wahr«. 14 Adorno nimmt sich diese Analyse in all ihrer Detailliertheit nun nicht vor, ohne dabei ein größeres Ziel im Sinn zu haben. Er will nämlich auf die entscheidende Tatsache aufmerksam machen, dass die Dialektik sowohl das Wahre als auch das Falsche in ihrer unmittelbaren Gleichzeitigkeit akzeptiert. Diese Gleichzeitigkeit hat mit dem Gegensatz zwischen Begriff und Wirklichkeit zu tun: Der emphatische Begriff des Menschen sei ja beispielsweise »jetzt und hier in irgendeinem besonderen Wesen noch gar nicht verwirklicht«. 15 Man könnte nach Adorno daher sogar die These wagen, »daß es so etwas wie Mensch noch gar nicht gibt«, 13 Ebd., S. 102. 14 Ebd., S. 103. 15 »[…] denn dieses Emphatische, das darin gesetzt ist, ohne daß es implizit bereits hervorzutreten brauchte, dieses Emphatische ist ja jetzt und hier in irgendeinem besonderen Wesen noch gar nicht verwirklicht« (ebd., S. 102f.).

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zumindest insoweit nicht, »wie der Begriff der Menschen es von sich aus, objektiv eigentlich begreift«.16 Deshalb kann er eben schließen, dass »[d]er Satz ›X ist ein Mensch‹ […] richtig [ist], wie ich es Ihnen gesagt habe, und […] falsch zugleich«. 17 Diese Entdeckung der Simultaneität des Wahren und Falschen ist nun zwar ein allgemeiner Grundsatz des dialektischen Denkens als solchem, gewinnt jedoch dann eine besondere Bedeutung, wenn wir über den Antagonismus zwischen dem emphatischen Begriff des Menschseins und all den einzelnen menschlichen Wesen nachdenken, die unsere Welt bevölkern. Denn wir können ja die schmerzliche Tatsache nicht außer Acht lassen, dass kein hier und jetzt real existierender Mensch seinem emphatischen Begriff vollkommen genügt. Adorno stellt dieses fehlende Passungsverhältnis zwischen Begriff und Wirklichkeit als eine Art normatives Scheitern dar, insofern der emphatische Begriff für ihn als Maßstab für eine Wahrheit fungiert, die kein konkreter Mensch bisher erreicht hat: [I]ch glaube, man brauchte nur einmal wirklich und in allem Ernst diesen Satz auf irgendeinen Menschen anzuwenden, daß der Betreffende ein Mensch sei, und man wird sogleich dieser Differenz innewerden, daß er eigentlich dem Begriff des Menschen im emphatischen Sinn, also dem Begriff des Menschen im Sinn der absoluten Wahrheit, noch gar nicht gerecht wird. 18

Dieses normative Scheitern überrascht nun allerdings nicht, wenn wir uns darauf besinnen, dass für den Philosophen Hegel die volle Verwirklichung des Individuums jenseits der konkreten Institu16 »[M]an könnte beinahe sagen, daß es so etwas wie Mensch noch gar nicht gibt, so wie der Begriff des Menschen es von sich aus, objektiv eigentlich begreift« (ebd., S. 103). 17 »Mit anderen Worten: Der Satz ›X ist ein Mensch‹ ist richtig, wie ich es Ihnen gesagt habe, und ist falsch zugleich« (ebd.). 18 Ebd.

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tionen und Praktiken der von ihm bewohnten sozialen Welt nicht vorstellbar war. Wie Frederick Neuhouser beobachtet hat, verstand Hegel wahre Freiheit nämlich als soziale Freiheit. 19 Daraus folgt, dass der emphatische Begriff des Menschen uns unverständlich bleiben muss, wenn wir uns nicht auch auf die volle Bandbreite jener Institutionen beziehen, in denen dieser Mensch seine Konkretheit und Realität annimmt. In Hegels emphatischer Konzeption des Menschseins ist dieser institutionelle Vorbehalt vorausgesetzt. Allerdings stärkt diese Voraussetzung unser Bewusstsein für die gähnende Kluft zwischen Begriff und Wirklichkeit nur noch mehr. Unser emphatischer Begriff erhebt die exorbitante Forderung, dass die Zustände in der Welt auf eine Weise organisiert sein müssen, die bei Weitem über das hinausgeht, was gegenwärtig der Fall ist. Daher kann es uns kaum überraschen, dass unsere institutionelle Welt, so wie sie gegenwärtig strukturiert ist, diese Bedingung nicht einmal im Entferntesten erfüllt. Doch dann drängt sich zwangsläufig die Frage auf, wie wir in der Lage sein sollen, dieses Scheitern überhaupt zu diagnostizieren. Adornos Antwort lautet, dass wir uns dieses normative Versagen nur dann begreiflich machen können, wenn wir über jenen emphatischen Begriff bereits in irgendeiner Weise verfügen; unser Bewusstsein für dieses Scheitern setzt ihm zufolge also voraus, »daß man einen solchen emphatischen Begriff des Menschen, schließlich einen Begriff des richtigen Menschen, schließlich einen Begriff überhaupt der richtigen Organisation der Welt in sich trägt«. 20 19 Siehe Frederick Neuhouser, »Hegel’s Social Philosophy«, in: Frederick C. Beiser (Hg.), The Cambridge Companion to Hegel, Cambridge 1993, S. 204-229. 20 »Und ich glaube, man brauchte nur einmal wirklich und in allem Ernst diesen Satz auf irgendeinen Menschen anzuwenden, daß der Betreffende ein Mensch sei, und man wird sogleich dieser Differenz innewerden, daß er eigentlich dem Begriff des Menschen im emphatischen Sinn, also dem Begriff des Menschen im Sinn der absoluten Wahrheit, noch gar nicht gerecht wird,

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Dieser Schluss ergibt sich aus dem Prinzip der immanenten Normativität. Die Dialektik kann sich nicht auf ein »Sollen« berufen, welches das, »was ist«, vollkommen transzendiert. Sie muss die dynamischen Quellen der Transformation vielmehr innerhalb der Widersprüche der Gesellschaft verorten, wie sie hier und jetzt vorliegen. Nach Hegel muss genau dieses Prinzip auch für unsere begrifflichen Ressourcen gelten: Können wir einen Widerspruch ausmachen zwischen unserem gegenwärtigen Dasein und unserem Begriff davon, wie es sein sollte, dann müssen wir auch diesen Widerspruch in unserer gegenwärtigen Erfahrung verorten können. Es ist ein wesentliches Merkmal der Hegel’schen Dialektik, dass keine Begriffe von dieser Anforderung ausgenommen sein können, und das gilt auch für jene besondere Klasse, die Adorno als »emphatisch« (ein Terminus, auf den ich noch zu sprechen kommen werde) bezeichnet. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Begriffe eine normative Forderung an uns richten oder nicht. Wir müssen allerdings dennoch dem verlockenden Gedanken widerstehen, dass solche Normen ihre Ursprünge daher in einem Reich des reinen Denkens jenseits aller möglichen Erfahrung haben könnten. Denn kein Begriff kann einen normativen Anspruch uns gegenüber erheben, wenn er nicht in irgendeiner Weise an den Istzustand der Welt zurückgebunden ist. Und auch unsere emphatischen Begriffe müssen uns auf irgendeine Weise immer schon innerhalb der Grenzen der diesseitigen Erfahrung zugänglich sein.

was nur freilich voraussetzt, daß man einen solchen emphatischen Begriff des Menschen, schließlich einen Begriff des richtigen Menschen, schließlich einen Begriff überhaupt der richtigen Organisation der Welt in sich trägt« (NGS, Abt. IV, Bd. 2, S. 103; meine Hervorhebung, P. G.).

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Dialektischer Widerspruch Kaum etwas an den obigen Überlegungen dürfte uns sonderlich kontrovers vorkommen. Adorno nimmt diese Ausführungen auch nur deshalb vor, um damit die zentrale Rolle hervorzuheben, die der immanente Widerspruch in der Dialektik spielt. Wie sich jedoch herausstellt, muss er selbst in einem doppelten Sinne verstanden werden. Erstens besagt er nämlich, dass unsere Welterfahrung von Widersprüchen zerrissen ist; zweitens bedeutet er aber auch, dass er die Ressourcen für seine Überwindung in sich selbst trägt. Adorno beharrt auf beiden Bedeutungen: »[D]ie Erfahrung […], die das dialektische Denken überhaupt inspiriert hat«, ist für ihn »ganz einfach das Wissen vom widerspruchsvollen, vom antagonistischen Charakter der Realität selber«. 21 Hegel teilte ihm zufolge mit den Romantikern diese grundlegende Erfahrung des Widerspruchs oder der »Zerrissenheit«. 22 Anders als sie sei er allerdings der Überzeugung gewesen, dass keine wahrhafte Versöhnung der widerspruchsvollen Welt gelingen könne, wenn man dafür den Standpunkt eines auf sich selbst zurückgeworfenen Subjekts einnehmen müsste; für genauso unplausibel habe er aber auch die Idee gehalten, dadurch eine Lösung herbeiführen zu wollen, dass man sich auf welttranszendente Prinzipien oder Ideen beruft. Hegel habe vielmehr begriffen, dass der Ausgleich »nur durch diese Widersprüchlichkeit selbst hindurch eigentlich geraten kann«. Doch wenn der Widerspruch der Realität innewohne, dann gelte das auch für die Versöhnung. »Dieser Charakter, daß die Entwicklung, das Treibende, schließlich aber auch das, was auf Versöhnung abzielt, etwas ist, was selbst in der Zerrissenheit, in dem Negativen, in dem Leiden der Welt eigentlich steckt, das ist […] als Er21 Ebd., S. 108. 22 Ebd.

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fahrung von der Wirklichkeit ein tragendes Motiv der Hegelschen Dialektik […]«, wie Adorno erklärt. 23 Diese zweifache Auffassung des Widerspruchs ist ein unverzichtbares Thema in allem dialektischen Denken, weil es den Widerspruch davor bewahrt, einfach nur ein statischer oder bewegungsloser Zustand zu sein, und ihm seinen wahrhaft dynamischen Charakter verleiht. Wie wir sagen könnten, hat der Widerspruch also seine eigene dialektische Struktur; er zeigt nicht einen bloßen Gegensatz an, sondern sowohl den Gegensatz als auch seine Auflösung. Adorno widmet diesem Gedanken deshalb besondere Aufmerksamkeit in einer Vorlesungsreihe, die als allgemeine Einführung in das dialektische Denken gedacht war, weil er dessen entscheidende Bedeutung für jedes Verständnis von Dialektik erkennt, auch seine eigene. Tatsächlich legt er an dieser Stelle großen Wert auf die Feststellung, dass er in erster Linie an den allgemeinen Merkmalen der Dialektik als solcher und nicht an jenen spezifischen Eigenheiten interessiert sei, die nur ihre Hegel’sche Variante besitze. Und dies räumt er seinen Studierenden gegenüber auch mit bemerkenswerter Offenherzigkeit ein, wenn er bekennt, dass es ihm darum gehe, »Ihnen einen Begriff von Dialektik zu geben, der gleichzeitig ein strenger Begriff von Dialektik ist, der auf der anderen Seite aber doch sich innerhalb der problematisch gewordenen idealistischen Thesen nicht erschöpft«. 24 Die Voraussetzungen der idealistischen Tradition seien nicht mehr haltbar, weshalb wir uns daher nun die Dialektik in ihrer »materialistische[n] Version« zu eigen machen sollten. 25 Beide dialektischen Spielarten haben Adorno zufolge nämlich eine gedoppelte Sichtweise auf die Wirklichkeit gemeinsam, die ihr die Gleichzeitigkeit von Einheit und Entzweiung zuschreibt. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 112. 25 Ebd., S. 109.

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Natürlich gibt es aber auch einen wichtigen Unterschied. Für den Idealisten weist die Realität diese Gleichzeitigkeit in dem Sinne auf, dass sie ein vernünftiges System darstellt, das aus der vermittelten Einheit von sich intern widersprechenden Momenten besteht. Für den Materialisten besitzt die Wirklichkeit eine ähnliche Simultaneität, wird nun aber als ein irrationales System des gesellschaftlichen Tauschs aufgefasst, dessen Wirken zwar die gesamte Gesellschaft vereint, zugleich aber auch Widersprüche erzeugt. Und dieser Unterschied sollte nicht außer Acht gelassen werden. Denn nach Adorno glaubt der Idealist, dass die Gleichzeitigkeit von Einheit und Entzweiung ihre Auflösung bereits in einer höheren Identität gefunden habe oder zumindest an der Schwelle dazu stehe. Anders ausgedrückt: Vermittlung erscheint vor diesem Hintergrund als schon mehr oder weniger vollendete Tatsache. Für den Materialisten hat jene Gleichzeitigkeit dagegen noch keine derartige Lösung gefunden. Die antagonistischen gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich aus dem Tauschprozess ergeben, können ihm zufolge im bestehenden System nicht bewältigt werden und stellen daher vielmehr die Vorboten seines Untergangs dar. Diese Differenz findet in Adornos Unterscheidung zwischen zwei Auffassungen von Dialektik als entweder »geschlossen« oder »offen« ihren Widerhall. Dabei beharre die geschlossene Variante der idealistischen Tradition auf der Identität von Identität und Nichtidentität, während eine offene Dialektik die Nichtidentität von Identität und Nichtidentität behaupte. 26 Obwohl er die Bedeutung dieses Unterschieds nicht in Abrede stellt, ist Adorno doch der Überzeugung, dass das dialektische Denken in all seinen Erscheinungsformen stets demselben Gedanken verpflichtet sei: Es verstehe den Widerspruch nicht als statisches Faktum, sondern als ein dynamisches und antizipatorisches Prinzip, das in sich selbst die Kraft zu seiner eigenen Über26 Ebd., S. 361.

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windung enthält. »Dialektisch denken heißt also nicht etwa, einem Satz irgendwelcher Art von außen eine andere Meinung entgegenzusetzen«, wie er erklärt, »sondern den Gedanken an die Stelle zu treiben, an der [er] gewissermaßen seiner eigenen Endlichkeit, seiner eigenen Falschheit innewird und dadurch über sich hinaustreibt.« 27 Damit scheint Adorno das besagte Motiv einer immanenten Transzendenz zu bekräftigen, dem zufolge die gesellschaftliche Wirklichkeit Momente enthält, die ihre eigene Überwindung antizipieren. Dieser Gedanke gerät leicht aus dem Blick, wenn wir Widerspruch als etwas bloß Statisches auffassen. Adorno beharrt jedoch darauf, dass wir auch den Widerspruch – sofern wir ihn ernst nehmen wollen – auf eine streng dialektische Weise betrachten müssen, die es ihm nicht erlaubt, sich zum bloßen Gegensatz zu verhärten. Denn dadurch würde Nichtidentität fälschlicherweise einfach zu einer weiteren Identität erklärt werden. Stattdessen müssten wir die Negation des Widerspruchs als eine Art Impuls oder Antrieb verstehen, der bereits dem Widerspruch selbst innewohne. So zumindest lässt sich seine mit einigem Pathos vorgetragene These verstehen, nach der »das Treibende« oder »das, was auf Versöhnung abzielt«, nicht etwas die Welt Überschreitendes und auch »nichts etwa von außen Hinzugefügtes« sei, 28 sondern vielmehr etwas, »was selbst in der Zerrissenheit, in dem Negativen, in dem Leiden der Welt eigentlich steckt«. 29 Das Ergebnis dieser ganzen Überlegungen lautet, dass wir die von mir so genannte »gnostische« oder negativistische Interpretation der Philosophie Adornos zurückweisen müssen. Wenn dieser die Welt also nicht als ein Reich der absoluten Falschheit darstellt, dann deshalb, weil sein Begriff des Falschen bereits in dem Sinne dialektisch ist, dass er seine eigene Negation schon in sich enthält. 27 Ebd., S. 49 (meine Hervorhebung, P. G.). 28 Ebd., S. 108, 48. 29 Ebd., S. 108.

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Natürlich sieht Adorno, dass eine solche Argumentation den Anschein erwecken könnte, die Grenzen der Logik arg zu strapazieren, hält dies aber nicht für eine philosophische Blamage. Stattdessen argumentiert er, dass die Dialektik mehr als bloße sei, da sie es den Kategorien des Wahren und Falschen nicht gestatte, in einem extremen Gegensatz zueinander zu verharren. Sie sei deshalb schlicht eine höhere Manifestation der Vernunft selbst, weil sie deren Fähigkeit repräsentiere, auf selbstreflektierte und kritische Weise über ihr eigenes logisches Instrumentarium nachzudenken. Mit der Dialektik gehe deshalb auch ein »Zerfall der traditionellen Logik mit logischen Mitteln« einher. 30 Dieser sollte jedoch nicht durch eine Kritik »von außen her« herbeigeführt werden, sondern »durch den Nachweis, daß sie [diese logischen Mittel; Anm. d. Ü.] immanent, also nach ihrem eigenen Maß jeweils nicht die Wahrheit seien«. 31 Nur ein solcher dialektischer Ansatz erlaubt es uns, zu der entscheidenden Einsicht zu gelangen, dass das Wahre und Falsche nicht einander streng entgegengesetzt sind. Diese Einsicht ist nun aber nicht nur in einem formalen Sinne – als Zeichen für das Vermögen der Vernunft zur Selbstreflexion – relevant, sondern hat auch wichtige Folgen jenseits solcher bloß formalen Feststellungen, und zwar dann, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf unsere konkrete Umgebung richten. Denn wenn das Wahre und das Falsche tatsächlich keine strikten Gegensätze bilden, dann können wir die Welt auch nicht als ein Reich absoluter Falschheit betrachten, in der das Wahre nur noch als welttranszendenter Maßstab bestehen könnte. Das Wahre wird nicht als ihr gnostisches Anderes aus der Welt verstoßen; es ist dem Falschen vielmehr immer schon inhärent. 30 Ebd., S. 306. Siehe zu einem ähnlichen Gedanken Adornos Äußerung, dass »der Gang der Logik […] mit ihren eigenen Mitteln gebrochen werden« solle (ebd., S. 305f.). 31 Ebd. (meine Hervorhebung, P. G.).

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Ausgehend von diesen Überlegungen können wir also schließen, dass Adorno sich dem Gedanken einer, wie wir sie nennen können, Wahrheitsimmanenz verschrieben hat, den wir allerdings immer noch auf zwei unterschiedliche Weisen verstehen können: entweder als Frage der begrifflichen Implikation oder als die Frage danach, was wir zu Recht von unserer Erfahrung erwarten dürfen. Erstens könnten wir der Meinung sein, dass Wahrheitsimmanenz etwas sei, was wir einfach als eine Sache der begrifflichen Implikation voraussetzen müssten, und zwar in dem Sinne, dass wir uns bei einer Kritik von etwas als falsch immer schon auf den Begriff des Wahren festlegen, selbst wenn keine empirischen Belege vorliegen, die ihn bestätigen würden. Adorno ist offenbar der Auffassung, dass diese Frage nach der bloß begrifflichen Implikation unproblematisch sei. »[D]ie dialektische Theorie hält an der Idee der Wahrheit fest«, wie er erklärt, und er fügt hinzu: Eine Dialektik, die nicht ebenso strikt an jede einzelne Erkenntnis das Maß der Wahrheit so lange anlegt, bis diese einzelne Erkenntnis eben darüber zergeht, wäre von vornherein gewissermaßen der Kraft bar, ohne die ein dialektischer Prozeß überhaupt gar nicht gefaßt werden kann. Und in der Einsicht in das Unwahre, also in dem kritischen Motiv, das ja das eigentlich entscheidende der Dialektik ist, steckt, als ihre notwendige Bedingung, die Idee der Wahrheit drin. 32

Adorno ist mithin der Ansicht, dass eine Kritik gesellschaftlicher Falschheit nur möglich ist, wenn der Begriff der Wahrheit bereits vorausgesetzt wird. »Wahrheit« in diesem Sinne ähnelt mithin einem kantischen Postulat, sofern uns bereits die Ausübung der Kritik selbst dazu nötigt, sie zu akzeptieren – allerdings nur vom praktischen Standpunkt aus betrachtet. »[I]n diesem Moment der Kritik, in dem Moment des weitertreibenden Denkens« ist 32 Ebd., S. 268.

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nämlich, wie er weiter ausführt, »unabweisbar und unabdingbar das Motiv der Wahrheit gesetzt und gemeint«. 33 Der Gedanke des Vorausgesetztseins muss hier nach Adorno aber noch mehr bedeuten als nur eine begriffliche Implikationsbeziehung. Und tatsächlich legt ihn sein Materialismus nun auch auf die zweite und viel stärkere These fest, dass wir nur dann Anspruch auf einen Begriff erheben dürfen, wenn es tatsächlich eine diesseitige Anschauung gibt, der er entspricht. Denn die in Rede stehende »Wahrheit [wird] nicht vorgestellt […] als ein Verdinglichtes, Festes jenseits der Phänomene selber«, wie er sagt. 34 Daher kann er nur dann an der Idee der Wahrheitsimmanenz festhalten, wenn er glaubt, dass wir annehmen dürfen, eine Unterfütterung dieser Wahrheit in unserer materiellen Erfahrung entdecken zu können. Den Vorschlag, dass sie nur Postulat bleiben könnte, kann er nicht akzeptieren, da sie damit schutzlos bliebe gegenüber dem Einwurf, dass sie überhaupt nichts der Welt Immanentes, sondern eben etwas »jenseits der Phänomene selber« sei. Ein solcher Schluss wäre allerdings, wie er erklärt, nur ein weiteres Symptom für »das gegenwärtige dichotome Bewußtsein«. Indem er ihn zurückweist, legt er sich also auf die stärkere Behauptung fest, dass Wahrheit mehr sein müsse als nur ein Begriff, der in unserem Denken vorausgesetzt wird – nämlich etwas, das uns in unserer Erfahrung tatsächlich gegeben sein kann. Daher müssen wir ihm zufolge dafür plädieren, »daß die Wahrheit gesucht wird in dem Leben der Phänomene selber«. 35 Ob Adorno wirklich die Absicht hatte, diese stärkere These vorbehaltlos zu vertreten, bleibt ungewiss. Gelegentlich scheint er be33 Ebd. 34 Ebd. 35 Ebd. (meine Hervorhebung, P. G.). Siehe dazu auch Adornos weitere Bemerkung aus derselben Vorlesung: »Ich hatte Ihnen gesagt, daß der Maßstab, oder daß die einzige Möglichkeit, die die Dialektik dafür sieht, eben die immanente ist« (ebd., S. 272).

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haupten zu wollen, dass Wahrheitsimmanenz letztlich bloß auf eine ausschließlich an das Denken gerichtete »Forderung« hinauslaufe, während die Frage nach ihrer »Wirklichkeit oder Unwirklichkeit […] fast gleichgültig« sei. 36 Öfters jedoch akzeptiert er beide Bedeutungen, so als ob er sich nicht habe vorstellen können, wie wir jemals den bloßen Begriff der Wahrheit hochhalten könnten, ohne zugleich seine zumindest partielle Bestätigung durch unsere Erfahrung anzustreben. In einer wichtigen Passage der Negativen Dialektik ist er sogar kurz davor, diese beiden Bedeutungen in eins zu fassen. Dort schreibt er: »Bewußtsein könnte gar nicht über das Grau verzweifeln, hegte es nicht den Begriff von einer verschiedenen Farbe, deren versprengte Spur im negativen Ganzen nicht fehlt.« 37 Diese außerordentliche Stelle verdient unsere Aufmerksamkeit, weil sie in bewundernswerter Knappheit das, wie wir es nennen könnten, motivierende Prinzip hinter Adornos Kritikpraxis ausdrückt: So wie es unmöglich wäre, ein gegebenes Objekt als grau zu identifizieren, ohne eine Bekanntschaft mit Farben zu haben, die anderswo auf dem Spektrum liegen, so setzt auch unser Wissen vom Falschen zumindest eine gewisse Vertrautheit mit besseren Alternativen voraus. Diese Licht- und Farbmetaphorik verdeutlicht, dass es ihm dabei nicht nur darum ging, eine begriffliche, sondern eben auch eine erfahrungsmäßige Legitimation seiner normativen Maßstäbe zu erlangen. Die Aussicht darauf, dass die Welt eines Tages aus ihrer Finsternis erlöst werden könnte, ist demnach nicht nur ein frommer Wunsch; die Lichtinseln, die wir in unserer bestehenden Gesellschaft hier und da ausmachen können, mögen zwar bedingt und partiell sein, aber unser Hoffen ist nicht vergebens.

36 GS 4, S. 283. 37 GS 6, S. 370.

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Der normative Status emphatischer Begriffe Oben habe ich behauptet, dass sich die Praxis der immanenten Kritik für Adorno nicht auf eine Identifikation des Falschen beschränkt. Denn dessen Missbilligung durch uns setzt ihm zufolge bereits irgendeinen Begriff oder, wie er sagt, ein »Maß« der Wahrheit voraus. Da er jedoch kein Idealist ist, weist er auch die Ansicht zurück, dass ein solcher Begriff auch dann Gültigkeit für sich beanspruchen könnte, wenn er nur einen rein konzeptuellen oder welttranszendenten Charakter besitzt. Vielmehr müsste er zumindest teilweise in der Welterfahrung oder durch die »Phänomene selber« legitimiert werden. Allerdings erkennt er durchaus an, dass er sich durch diese Verengung des Kreises der gültigen Begriffe eine bestimmte philosophische Ungewissheit einhandelt, da unsere weltliche Erfahrung in seinen Augen ja unter durchgängigen Beschädigungen leidet und nur noch stärker beschädigt wird, je mehr Zeit vergeht. Dieses von ihm so genannte »Absterben der Erfahrung« stellt für Adorno ein ernsthaftes Problem dar, weil seinetwegen keine Beglaubigung durch die real existierenden Phänomene je dafür hinreichend sein kann, unseren begrifflichen Maßstäben voll und ganz zu genügen; in einer unvollkommenen Welt sind eben auch alle zur Verfügung stehenden Belege und Evidenzen von Unvollkommenheit gezeichnet. Trotzdem fühlt sich Adorno nicht dazu genötigt, diesen Maßstab aufgrund seines prekären Status einfach gänzlich zu verwerfen. Im Gegenteil scheint er der Auffassung zu sein, dass das Festhalten an ihm für die Praxis der immanenten Kritik geradezu unerlässlich sei, auch wenn nichts in unserer gegenwärtigen Erfahrung ihm vollständig genügen kann. Denn ohne dieses Maß wäre Adorno gar nicht fähig, überhaupt eine Einschätzung zu den fraglichen Beschädigungen abzugeben. 38 38 Wie oben bereits erwähnt, bringt Adorno das Erfordernis eines solchen

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Ich werde später noch mehr zu dieser philosophischen Schwierigkeit und zu den skeptischen Bedenken sagen, die sie möglicherweise hervorruft. Für meine an dieser Stelle verfolgten Zwecke möchte ich jedoch die Aufmerksamkeit zunächst auf eine terminologische Frage richten, die für Adornos Überlegungen eine zentrale Rolle spielt. Oben habe ich behauptet, dass er an einer bestimmten Art von begrifflichem Maßstab festhalten will, obgleich er diesen in der Welterfahrung nur teilweise und auf unzuverlässige Weise bestätigt findet. Wenn Adorno sich nun auf diesen Maßstab bezieht, dann lautet der Kunstausdruck, den er für dessen Bezeichnung am geeignetsten hält, emphatischer Begriff. Diese Wendung tritt in seinem Werk sehr häufig auf, und fast immer dient sie dazu, einen Begriff zu bezeichnen, der die Rolle eines höheren Maßstabs oder einer höheren Norm spielen soll, anhand deren wir bestimmen können, ob ein gegebenes Phänomen seinem eigenen Begriff gerecht wird. Diese spezifische Verwendungsweise reflektiert dabei den etymologischen Hintergrund des Wortes: »Emphatisch« geht auf das griechische »ἐμφατικός« zurück, was seinerseits auf dem Wort ἐμφαίνω basiert, das sich aus »ἐμ« (für »in«) und »φαίνω« (für »ich lasse scheinen« oder »ich zeige«) zusammensetzt. Nicht zufällig liegt dieses Verb auch der Wurzel des Ausdrucks »Phänomen« zugrunde. Sieht man sich etwa die platonischen Dialoge an, dann kann man dort bestaunen, wie die Wurzelbegriffe, die mit »Emphase« assoziiert werden (zum Beispiel »ἐμφανῆ« oder »ἐμφαίνεται« im Timaios, 46a2-b2) das wichtige Thema des In-Erscheinung-Tretens vermitteln sollen. 39 Die PoliMaßstabs in der Negativen Dialektik auf denkwürdige Weise wie folgt auf den Punkt: »Bewußtsein könnte gar nicht über das Grau verzweifeln, hegte es nicht den Begriff von einer verschiedenen Farbe, deren versprengte Spur im negativen Ganzen nicht fehlt« (GS 6, S. 370). 39 Diese Erkenntnis habe ich Martin Jay zu verdanken, der anmerkt, dass Platon seine ursprüngliche Anregung zu diesem Gedanken offenbar von Demokrit bezogen hat. Zu Untersuchungen über den Bedeutungsgehalt des

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tikwissenschaftlerin Jill Frank hat die These vertreten, dass dieser Topos deshalb von Sokrates in Der Staat aufgegriffen werde, um mit ihm »alle feststehenden Unterscheidungen zwischen dem, was gedacht, und dem, was gesehen wird«, in Zweifel zu ziehen. Daher kann sie auch behaupten, dass (zum Beispiel in der Politeia, 508e) sogar die Idee des Guten »durch die Erfahrung vermittelt zu sein scheint«. 40 Wir können berechtigte Zweifel daran anmelden, dass Adorno sich dieses philologischen Hintergrunds bewusst gewesen ist – seine Kenntnisse der griechischen Philosophie waren eher begrenzt. Die Assoziation von »Emphase« mit dem, was sich in der Erscheinung dartut, ist aber trotzdem philosophisch instruktiv, denn sie unterstreicht den grundlegenden Punkt, dass Adorno, wenn er sich auf einen emphatischen Begriff bezieht, stets verlangt, dass dieser sich irgendwie in unserer Erfahrung manifestieren muss.Wichtiger ist es an dieser Stelle aber vielleicht, dass wir uns die Bedeutung dieses Ausdrucks in der Rhetorik ins Gedächtnis rufen. Vom griechischen Substantiv ἔμφασις leitete sich nämlich auch das lateinische emphasis ab, ein Terminus, der mit der Zeit die technische Bedeutung einer unüblich starken Betonung eines gegebenen Wortes zum Zwecke des Hinweises angenommen hat, dass es in einem spezifischen Kontext etwas jenseits seiner gewöhnlichen oder alltäglichen Bedeutung meint. Wenn Adorno den Ausdruck »emphatisch« verwendet, dann können wir ihn so verstehen, dass Ausdrucks »Emphase« bei Demokrit siehe Kurt von Fritz, »Democritus’ Theory of Vision«, in: Edgar Ashworth Underwood (Hg.), Science, Medicine and History. Essays on the Evolution of Scientific Thought and Medical Practice, New York 1953, S. 83-99, hier S. 93-95, sowie David Lindberg,Theories of Vision from Al-Kindi to Kepler, Chicago 1976, S. 2f. 40 Jill Frank, Poetic Justice. Rereading Plato’s Republic, Chicago 2018, S. 182f. (meine Hervorhebung, P. G.). Meinen aufrichtigen Dank an die Autorin dafür, dass sie mir zu verstehen geholfen hat, wie Platon mit dem Thema der Erscheinung verfährt.

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er dieser rhetorischen Praxis folgt. So ist bei ihm an verschiedenen Stellen die Rede etwa vom »emphatischen Begriff der Erfahrung«, einem »emphatischen Begriff des Menschen«, dem »emphatischen Kunstbegriff«, einem »emphatischen Begriff von Erkenntnis« und dem »emphatischen Wahrheitsbegriff«; ja, er spricht sogar vom generischen Begriff einer »nachdrücklichen Philosophie« [»emphatic philosophy« in der englischen Übersetzung; Anm. d. Ü. ]. 41 In all diesen Fällen suggeriert Adorno einen Unterschied zwischen der konventionellen Bedeutung des jeweiligen Begriffs und seiner emphatischen Bedeutung, wobei Letztere als ein höherer Maßstab oder eine höhere Norm fungiert. Eine solche Norm ist demzufolge insofern emphatisch, als sie mehr meint als das, was jener Begriff seiner typischen Bedeutung bedeutet, und ein emphatischer Begriff ist in dem Sinne normativ, dass er von dem, was sich uns in unserer Erfahrung zeigt, verlangt, dass es besagtem höheren Maßstab gerecht wird. 42 41 Eine exemplarische Aussage, die das Ideal (oder den emphatischen Begriff ) der Kunst mit ihren empirischen Instanziierungen kontrastiert, ist Adornos These aus der Ästhetischen Theorie: »Sie [die Kunst] muß gegen das sich wenden, was ihren eigenen Begriff ausmacht« (GS 7, S. 10). Siehe zu einer ähnlichen Aussage die Legitimität des Begriffs einer »emphatischen Erkenntnis« betreffend die Negative Dialektik (GS 6, S. 161 [Fußnote]); zum »emphatischen Begriff der Wahrheit« NGS, Abt. IV, Bd. 2, S. 107, und zu den allgemeinen Begriffen einer »nachdrücklichen Philosophie« die bemerkenswerte Diskussion von John Deweys Pragmatismus (ebenfalls in der Negativen Dialektik), in der Adorno behauptet, dass die Philosophie zwar scheitern könne, aber trotzdem auf ein bestimmtes Gelingen ausgerichtet sei: »Prinzipiell kann sie stets fehlgehen; allein darum etwas gewinnen. Skepsis und Pragmatismus, zuletzt noch dessen überaus humane Version, die Deweysche, haben das einbekannt; es wäre aber als Ferment einer nachdrücklichen Philosophie zuzuführen, nicht auf diese zugunsten ihrer Bewährungsprobe vorweg zu verzichten« (GS 6, S. 25). 42 Zur Differenz zwischen konventionellen und emphatischen Begriffen bietet Owen Hulatt eine prägnante Unterscheidung an: »Konventionelle Begriffe versuchen, die dargestellten Eigenschaften von Gegenständen zu mo-

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Wenn wir den Status des Normativen in Adornos Philosophie verstehen wollen, dann ist diese Berufung auf emphatische Begriffe dafür von großer Bedeutung. Vor allem hilft sie uns dabei, eine Unterscheidung innerhalb der sozialen Realität selbst vorzunehmen, und zwar zwischen (a) den empirischen Maßstäben, die gesellschaftliche Autorität genießen, und (b) dem höheren Ideal, von dem man sagen kann, dass es diesen empirischen Maßstäben innewohnt, obgleich seine Ansprüche weithin unerfüllt bleiben. In der Negativen Dialektik etwa wendet Adorno dieses Prinzip auf den Begriff der Freiheit an und drängt uns dazu, zwischen (a) den empirischen Individuen, die Freiheit zumindest bis zu einem gewissen Grad und unter den gegebenen Umständen zu verkörpern scheinen, und (b) dem emphatischen Begriff von Freiheit zu unterscheiden, der mehr als die Freiheit im empirischen Sinne impliziere: Das Urteil, jemand sei ein freier Mann, bezieht sich, emphatisch gedacht, auf den Begriff der Freiheit. Der ist jedoch seinerseits ebensowohl mehr, als was von jenem Mann prädiziert wird, wie jener Mann, durch andere Bestimmungen, mehr ist denn der Begriff seiner Freiheit. Ihr Begriff sagt nicht nur, daß er auf alle einzelnen, als frei definierten Männer angewandt werden könne. Ihn nährt die Idee eines Zustands, in welchem die Einzelnen Qualitäten hätten, die heut und hier keinem zuzusprechen wären. 43

dellieren, so wie sie aktuell existieren. Emphatische Begriffe hingegen sind auf zukünftige Zustände hin ausgerichtet – sie haben einen normativen Kern. Letztere korrespondieren deshalb auch nicht mit den Gegenständen, so wie wir sie vorfinden, und genau das erlaubt es ihnen, eine Kritik an der Welt, wie wir sie vorfinden, zu begründen« (Owen Hulatt, »The Place of Mimesis in The Dialectic of Enlightenment«, in: Peter E. Gordon u. a. [Hg.],The Routledge Companion to the Frankfurt School, London 2018, S. 351-364, hier S. 361). 43 GS 6, S. 153f. (meine Hervorhebung, P. G.).

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Der entscheidende Gedanke ist hier der, dass, obwohl empirische Instanzen von Freiheit ihrem emphatischen Begriff ganz gewiss nicht adäquat sind, diese Inadäquatheit trotzdem nicht als eine Gelegenheit dazu genutzt werden sollte, den emphatischen Begriff als illegitim zurückzuweisen. Er fungiert nämlich immer noch als normative Richtschnur oder, wie Adorno es ausdrückt, nährt die Idee eines Zustands, in dem die Freiheit zur Realität werden wird. Die Unterscheidung zwischen empirischen und emphatischen Begriffen ist für seine Philosophie von zentraler Bedeutung, da sie uns den Gedanken an gesellschaftliche Verhältnisse erlaubt, die anders wären, als sie es gerade sind. Wollen wir uns nicht der Autorität des Gegebenen unterordnen, dann müssen wir daher an emphatischen Begriffen als den Maßstäben der Kritik festhalten, auch wenn nur wenig an der empirischen Wirklichkeit ihre Legitimität bezeugt. Eine weitere Illustration dieser Idee findet sich in der Ästhetischen Theorie, wo Adorno häufig von der »Kunst im emphatischen Sinne« spricht. 44 Damit meint er eine Kunst, die es vermag, ihrem eigenen Begriff gerecht zu werden. Die Idee eines emphatischen Kunstbegriffs scheint allerdings zwei sich gegenseitig ausschließende Implikationen zu haben. Denn auf der einen Seite ist der Begriff der Kunst stark diskriminatorisch in dem Sinne, dass er es nicht jedem künstlerischen Werk erlaubt, das Kriterium für sein Gelungensein zu erfüllen. In ihm steckt nämlich die Möglichkeit, dass bestimmte Instanzen dessen, was unter Umständen wie Kunst im konventionellen Verständnis erscheint, in Wirklichkeit gar keine Kunst sind. Tatsächlich teilt uns Adorno mit: »Der Begriff des Kunstwerks impliziert den des Gelingens. Mißlungene Kunstwerke sind keine […].« 45 Seine Idee von einem emphatischen Kunst44 »[…] daß es Kunst emphatischen Anspruchs bis heute nur als bürgerliche gegeben hat« (GS 7, S. 251). 45 Ebd., S. 280.

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konzept legt die Latte damit also so hoch, dass sie sehr viele Objekte ausschließt, von denen wir angenommen hätten, sie seien ganz offensichtlich Instanzen des in Rede stehenden Begriffs. Auf der anderen Seite jedoch scheint diese Idee wiederum nicht diskriminatorisch genug zu sein. Denn in einem bestimmten Sinne ist Adorno auch der Meinung, wir könnten eben keine klare Abgrenzung vornehmen zwischen der emphatischen und der konventionellen Verwendungsweise eines Begriffs, da Erstere nichts anderes als die Selbstrealisierung der Letzteren sei. Somit zeigt sich, dass beide Seiten dieses Rätsels einen wichtigen Aspekt der Idee eines emphatischen Begriffs einfangen: Dieser stellt eine normative Forderung, die seine konventionelle Instanziierung erfüllen sollte. Von dieser konventionellen Instanziierung kann deren Erfüllung jedoch nur deshalb verlangt werden, weil sie immer schon auf diese Erfüllung hin ausgerichtet ist. Die Beziehung zwischen beiden ist daher selbstregulativ. Natürlich kann der Begriff, um den es hier geht, nicht einfach der sein, der in den gegebenen Verhältnissen gerade zufällig einen autoritativen Status genießt, da er in diesem Fall affirmativ und nicht regulativ wäre; er würde einfach nur das bejahen, was ohnehin schon da ist. Ein genuin emphatischer Begriff hingegen müsste über die bestehenden Verhältnisse hinausreichen. Und das ist auch der Grund für Adornos Überzeugung, dass er auf nachvollziehbare Weise sagen könne, etwas solle seinem eigenen Begriff gerecht werden. Die selbstregulative Logik emphatischer Begriffe gilt allerdings nicht nur für die Kunst, sondern findet auch in anderen Sphären ihre Anwendung. So illustriert Adorno deren Funktion auch mit Bezug auf den Begriff der Aufklärung. Gegen diejenigen, die ihn als umfassenden oder totalisierenden Gegner der Aufklärung missverstanden haben, macht er ausführlich deutlich, dass eine Kritik ihres Begriffs nur dann funktionieren kann, wenn sie sich die Erfüllung dieses Begriffs verschreibt. Er betont zwar, dass, wenn man »immer wieder auf eine Dialektik der Aufklärung stößt 193

[…], feststellen muß, was alles auf dem Weg der Aufklärung, auf der Bahn der Aufklärung an Opfer und Unrecht liegenbleibt«; das aber bedeute, dass wir diese Schuldigkeit als Momente verstehen müssten, in denen die Aufklärung ihr eigenes Versprechen verraten und gezeigt habe, dass sie »selber als eine noch partielle, als nicht aufgeklärt genug gewissermaßen sich erweist«. 46 Eine solche Bemerkung mag besonders solche Leserinnen und Leser überraschen, die Adorno als radikalen Skeptiker in Bezug auf normative Begriffe wie Vernunft, Aufklärung und Fortschritt betrachten, und ist folglich ein willkommenes Korrektiv für diese Auffassung. Anstatt ein totalisierendes und negatives Verdikt über die Aufklärung zu verhängen, behauptet er nämlich, »daß nur dadurch, daß man ihr Prinzip konsequent weiterverfolgt, diese Wunden vielleicht geheilt werden können«.47 Die Kritik der Aufklärung ist daher selbstregulativ, denn sie beruft sich auf ihren eigenen emphatischen Begriff, um zu zeigen, wobei genau hier eigentlich versagt worden ist, während sie zugleich jenem Begriff selbst verpflichtet bleibt, um dieses Versagen zu beheben. 48 Haben wir den selbstregulativen Status emphatischer Begriffe in Adornos Philosophie einmal erkannt, dann können wir uns auch seine Vorliebe für sprachliche Wendungen besser erklären, die uns ansonsten paradox oder hoffnungslos selbstreferenziell vorkommen könnten. Nehmen wir zum Beispiel den bekannten Satz, dass »Fortschritt sich dort ereignet, wo er endet«. Die Philosophin Amy Allen hat diese These recht wörtlich interpretiert, so als habe Adorno einfach nur sagen wollen, dass der Begriff des Fortschritts in einem totalen Scheitern geendet sei und daher fortan keine legitime Rolle in der kritischen Theorie mehr spielen 46 NGS, Abt. IV, Bd. 2, S. 266 (meine Hervorhebung, P. G.). 47 Ebd. (meine Hervorhebung, P. G.). 48 Zu einer Diskussion dieses Themas siehe Martin Shuster, »The Critique of the Enlightenment«, in: Peter E. Gordon u. a. (Hg.), A Companion to Adorno, Hoboken 2020, S. 251-270.

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könne. 49 Ein so totalisierendes Urteil würden wir uns aber nur dann zu eigen machen, wenn wir ignorieren, was jener als den intrinsisch dialektischen Charakter dieses Begriffs ansieht. Er will nämlich nicht sagen, dass wir auf das Konzept des Fortschritts vollkommen verzichten sollten, sondern, dass Fortschritt im emphatischen Sinne nur dann gelingen könne, wenn wir Fälle von scheinbarem Fortschritt als unvollkommene und verzerrte Instanzen des höheren Maßstabs betrachten. Adorno gibt sich hier also ebenso wenig einfach dem Paradoxen hin, wie er sich einem allumfassenden Skeptizismus verschreibt. Wie genau er diesen Irrwegen entgeht, werden wir jedoch nur dann wirklich nachvollziehen können, wenn wir den nichtidentischen oder vermittelten Status des in Rede stehenden Begriffs anerkennen. Und das gilt nun nicht nur für das Konzept des Fortschritts, sondern auch für weitere normative Begriffe, die eine tragende Rolle in seiner Philosophie spielen. Ein weiteres bekanntes Beispiel ist der von mir bereits in Kapitel 1 zitierte, scheinbar paradoxe Satz »Das Leben lebt nicht« von Ferdinand Kürnberger, der die erste Seite des ersten Teils der Minima Moralia ziert. 50 Dessen Bedeutung erschließt sich uns dann, wenn wir die beiden Bedeutungen von »Leben« entwirren, die hier in einem einzigen Satz in eins gefasst sind. Dann können wir jenes Eingangszitat in die normative Feststellung eines Scheiterns zerlegen, die besagt: Das Leben, wie es aktuell gelebt wird, hat bislang seinem eigenen Begriff nicht genügt; oder anders formuliert: Das Leben lebt (noch) nicht im emphatischen Sinne. Zergliedert man Kürnbergers Satz in seine unversöhnten Momente, dann büßt er zugegebenermaßen viel von seiner rhetorischen Wucht ein, gewinnt zugleich aber genauso viel an dialek49 Amy Allen, Das Ende des Fortschritts. Zur Dekolonisierung der normativen Grundlagen der kritischen Theorie, Frankfurt/M. 2019. 50 GS 4, S. 20 (Frontispiz des Ersten Teils). Er stammt aus Kürnbergers Roman Der Amerika-Müde von 1855 und ist Teil eines Gedichts des Protagonisten Moorfeld.

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tischer Präzision, da wir seine Bedeutung jetzt als eine immanente Kritik dessen begreifen können, was aus unserem Leben geworden ist. Wenn Adorno uns mitteilt, dass etwas seinem eigenen Begriff nicht genügt hat, dann will er uns damit also auf die intrinsisch dialektische Beziehung aufmerksam machen, die zwischen einem emphatischen Begriff und seiner verzerrten Manifestation besteht. Dieses Verhältnis sollte, mit anderen Worten, nicht als eine bloße Identitätsbeziehung missverstanden werden, sondern wäre am ehesten als eine von Differenz-in-der-Identität aufzufassen. Ein emphatischer Begriff ist und ist zugleich nicht identisch mit seiner empirischen Manifestation; er zeigt nicht nur an, worin Letztere versagt hat, sondern auch, wie sie beschaffen sein sollte, wenn es ihr tatsächlich gelänge, ihrem eigenen Begriff gerecht zu werden. Dies führt uns zu einer der kontroverseren Fragen, was die Deutung von Adornos Philosophie betrifft. Gemeinhin herrscht die Überzeugung vor, dass er jedes Bekenntnis zu Konzepten wie dem der »Aufklärung« oder des »Fortschritts« aufgekündigt habe, da er Zeuge jenes katastrophalen Endes geworden sei, zu dem solche Begriffe führen müssten, weshalb er sich zu dem Urteil veranlasst gesehen habe, sie für durch und durch korrumpiert zu halten und als bloße Maskierungen der Macht anzusehen. Und dieses skeptische Verdikt habe ihm dann keine andere Wahl gelassen als die, sich auf die paradoxe Vorstellung von einer kritischen Praxis einzulassen, der sämtliche normativen Begriffe oder Grundlagen abgehen. Die obige Diskussion der Idee emphatischer Begriffe kann uns nun dabei helfen, zu erkennen, warum diese Interpretation seiner Philosophie irrig ist. Der Fehler ist dem Eindruck geschuldet, dass Adorno unsere gegenwärtige Welt als bruchlos und absolut falsch angesehen habe. Das aber war nicht seine Auffassung. Unsere Gesellschaft ist für ihn kein monolithisches oder selbstidentisches Ganzes, sondern zeichnet sich im Gegenteil durch interne Differenzen und Widersprüche aus. Und nun zeigt 196

sich, dass die Struktur unserer Begriffe eine starke Ähnlichkeit zu der Struktur unserer Welt aufweist. Denn auch unsere Begriffe sind nicht bruchlos oder selbstidentisch, sondern besitzen ebenfalls einen inneren und widersprüchlichen Charakter einer Differenz-in-der-Identität. Adorno kann die Sackgasse einer totalisierenden Skepsis gegenüber unseren normativen Begriffen also nur deshalb entgehen, weil sie für ihn dialektisch sind: Sie drücken sowohl eine unerfüllte Forderung als auch das Scheitern der Welt daran aus, jene Erfüllung zu gewährleisten.

Normativität und Beschädigung An dieser Stelle ist es wichtig, einem schwerwiegenden philosophischen Einwand zu begegnen. Nehmen wir an, wir würden uns der Negativismus-These verschreiben und damit deren grundlegende Ansicht teilen, dass wir laut Adorno in einer »bösen Welt« leben, das heißt in einer gnostischen Welt, in der wir von jeglicher Erfahrung des Guten abgeschnitten sind. Wenn wir nun aber weiterhin der Auffassung sind, dass ein emphatischer Begriff einer möglichen Anschauung entsprechen muss, dann sieht es so aus, als ob uns kein emphatischer Begriff als Maßstab zur Verfügung stünde, anhand dessen wir die Welt als gescheitert beurteilen könnten. Natürlich könnte man sagen, dass sich in diesem Szenario eine gewisse Schwierigkeit auftut, da nicht ganz klar ist, wie wir die Welt überhaupt als »böse« beschreiben könnten, ohne zumindest über eine gewisse Ahnung vom Guten zu verfügen, die hier als Kontrastfolie dienen würde. Die Welt würde uns dann genau so erscheinen wie Hegel, der uns in der Vorrede zu seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts das bekannte Bild von der Eule der Minerva präsentiert. Am Ende eines gegebenen Zeitalters würde die Philosophie die Aufgabe der Kritik demnach aufgeben und sich auf das bloße Wissen um das Vorhandene beschrän197

ken; sie hätte damit keine andere Mission mehr als die, die Welt in ihrem »Grau in Grau« zu malen. 51 Und genau diesen Abschnitt aus Hegels Werk scheint Adorno im Sinn gehabt zu haben, als er schrieb, dass Kritik (und selbst die bloße »Verzweiflung« schon) auf eine reichhaltigere Farbpalette angewiesen sei. Denn ihm zufolge gilt eben – und der Leser wird es mir nachsehen, dass ich dieses bemerkenswerte Zitat hier ein weiteres Mal anführe –, dass das »Bewußtsein […] gar nicht über das Grau verzweifeln [könnte], hegte es nicht den Begriff von einer verschiedenen Farbe, deren versprengte Spur im negativen Ganzen nicht fehlt«. 52 Doch wie dem auch sei, diejenigen, die Adorno als absoluten Negativisten verstehen, könnten immer noch einwenden, dass die bloße »Spur« einer anderen Farbe sicherlich nicht das Gleiche ist wie eine robuste Anschauung oder Erfahrung des Guten. Timo Jütten räumt zum Beispiel ein, dass Adorno in der zitierten Passage offenbar die Möglichkeit zulasse, dass wir »flüchtige Momente des Glücks und des Andersseins in unserer radikal bösen Welt« erfahren könnten, insistiert aber zugleich darauf, dass solche Momente viel zu ephemer seien, als dass sie den Bedürfnissen moralischer oder politischer Kritik dienlich sein könnten; »ihre Verwicklungen mit dem radikal Bösen sowie ihr flüchtiger Charakter« würden nämlich bedeuten, »dass sie nicht auf die gleiche Weise wie andere Ereignisse konzeptualisiert, gebraucht und reproduziert werden können. Vor allem ist Adorno nicht der Auffassung, dass die von ihm beschriebenen Phänomene Spuren des 51 G.W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders., Werke, Bd. 7, Frankfurt/M. 1986, S. 28. Einen ähnlichen Gedanken formuliert Hegel in den Vorlesungen zur Rechtsphilosophie von 1819/1820, wo es heißt: »Die Zeit hat gegenwärtig nichts anderes zu tun, als das, was vorhanden ist, zu erkennen und somit dem Gedanken gemäß zu machen« (ders., Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/1820 in einer Nachschrift, hg. von Dieter Henrich, Frankfurt/M. 1983, S. 291). 52 GS 6, S. 370.

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Guten in dem Sinne wären, dass sie einer normativen Ethik als Fundament dienen könnten.« 53 Solche Erfahrungen könnten (in Jüttens Worten) bestenfalls als eben »ephemere Erinnerungen an die Möglichkeit nichtinstrumenteller und herrschaftsloser Beziehungen« dienen, »die Hoffnung stiften, wenn sie auf diese Weise erfahren werden. Sie bleiben jedoch nur Verheißungen auf ein zukünftiges Glück und Anderssein.« 54 Dieser Einwand verdient eine genauere Prüfung, da er die, wie ich sie nennen würde, Kernprämisse der negativistischen These zum Ausdruck bringt. Diese besagt offenbar, dass keine »flüchtige« oder unvollkommene Erfahrung des Guten je wirklich als eine seiner genuinen Instanziierungen gelten könne. Oder anders ausgedrückt: Wenn wir behaupten könnten, eine normativ gehaltvolle Erfahrung »des Guten« zu machen, dann impliziere das, dass wir auch eine bestimmte Erfahrung des Guten in seiner unverfälschten Vollkommenheit gemacht haben. Da wir eine solche Vollkommenheit aber eben nicht erfahren könnten, kann demnach das, was wir als die bloße Möglichkeit des Guten erfahren, auch nicht wirklich das Gute sein. Wir mögen ihm zwar immer noch irgendeinen reduzierten Status als »Erinnerung« daran zubilligen, dass unsere Welt eines Tages eine bessere sein könnte, als sie es gegenwärtig ist; diesen Erfahrungsgehalt auf einer so niedrigen Stufe anzusiedeln, ist allerdings etwas völlig anderes, als ihm eine bedeutsame Funktion in unserem moralischen oder politischen Denken zuzusprechen. Aus der Perspektive von Jüttens »normativer Ethik« betrachtet müssten alle derartigen Erfahrungen jedenfalls als folgenlos verworfen werden. Diese Kernprämisse ist nun in mehreren Hinsichten verwirrend. In einer ganz allgemeinen Fassung soll sie anscheinend lauten, dass 53 Timo Jütten, »Adorno on Hope«, in: Philosophy and Social Criticism 45:3 (2019), S. 284-306, hier S. 300. 54 Ebd. (meine Hervorhebung, P. G.).

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»keine unvollkommene Version von X als X gelten kann«. Um zu verstehen, worin hier der Irrtum liegt, müssen wir uns daran erinnern, dass für Adorno alles in unserer Erfahrung beschädigt oder unvollkommen ist. Ja, er war sogar der Auffassung, dass alle Erfahrung von einer unabänderlichen Flüchtigkeit gekennzeichnet sei: Jedes Daseiende auf dieser Welt sei endlich, zeitgebunden und mit einer für es konstitutiven Unvollkommenheit durchsetzt. Die Tatsache allein, dass unsere Erfahrung flüchtig und unvollkommen ist, kann jedoch kaum dafür hinreichend sein, die Möglichkeit auszuschließen, sie in Begriffe zu fassen. Adorno rückt zugegebenermaßen allerdings auch nicht von seiner These ab, dass unsere sinnliche und zeitgebundene Wirklichkeit eine Art Reichhaltigkeit und Tiefe besitze, die die Grenzen des bloß Begrifflichen stets übersteige. Alle subjektive Erfahrung ist demnach die Erfahrung einer Welt, die einen objektiven »Vorrang« an den Tag legt. Was nun aber für alle Welterfahrung gilt, trifft logischerweise auch auf alle Erfahrungen zu, die uns einen kurzen Blick auf das Glück oder das Gute erhaschen lassen. Und daraus ergibt sich dann, dass der »flüchtige Charakter« dieser Erfahrungen uns keinen speziellen Grund dafür an die Hand gibt, sie als normativ bedeutungslos abzutun. Dieser letztere Schluss entspringt vielmehr der Auffassung, dass beschädigte Normen überhaupt nicht mehr als Normen gelten können und sollten. Doch kaum etwas in Adornos Philosophie rechtfertigt so ein vorschnelles Urteil. Er gesteht zwar bereitwillig zu, dass die für uns verfügbaren Normen in unserer unvollkommenen Welt unweigerlich korrumpiert sein werden, wenn er etwa schreibt: »Selbst die Normen, welche die Einrichtung der Welt verdammen, verdanken sich deren eigenem Unwesen.« 55 Aber er erlaubt es dieser allgemeinen Wahrheit nicht, ihnen ihre Bedeutung abzusprechen. Jütten will die These vertreten, dass aufgrund ihrer »Verwicklungen mit dem radikal Bösen« 55 GS 4, S. 212.

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keine unserer Erfahrungen eine Rolle in unserem ethischen Denken spielen könnte, doch Adorno zieht keine solche Schlussfolgerung, im Gegenteil: Er beharrt darauf, dass unsere Erfahrungen trotz allem für die Ziele einer normativen Kritik fruchtbar gemacht werden könnten. Wir müssen unsere Kritik also unter nichtidealen Bedingungen betreiben – was allerdings keine Überraschung ist, da nichtideale Bedingungen die einzigen sind, die wir haben. Treten wir nun einen Schritt von den einzelnen Streitpunkten in dieser Kontroverse zurück und widmen uns der allgemeineren methodologischen Frage, warum der flüchtige Charakter menschlicher Erfahrung die Position eines allumfassenden normativen Skeptizismus untermauern sollte. Genau dieser Frage geht Adorno in der letzten Veranstaltung seiner Vorlesung Philosophie und Soziologie aus dem Jahr 1960 nach. Diese Vorlesung ist nicht zuletzt deshalb von so großem Belang, weil er hier bekennt, dass sein eigenes Denken an der brisanten Grenze zwischen zwei Disziplinen angesiedelt ist, deren methodologische und metaphysische Annahmen sie anscheinend auf ewig miteinander in Widerstreit geraten lassen. Denn die Philosophie behauptet die Geltung von Begriffen, die die Soziologie allein aus ihrer konkreten Entstehungsgeschichte heraus begreifen möchte.Wenn Genese und Geltung nun offenbar so unmöglich zu versöhnen sind, dann ist das allerdings einem hartnäckigen Vorurteil geschuldet, das mindestens so alt ist wie die Philosophie selbst. Spätestens seit Platon gilt als metaphysische Leitprämisse in der Philosophie nämlich die Annahme, dass nichts, was erst allmählich ins irdische Dasein getreten ist, jemals einen Anspruch auf Geltung erheben könnte. Nur das, was beständig ist, besitzt demnach absolute Wahrheit, während alles Vergängliche der Relativität anheimfallen muss. Der Soziologe, der die gesellschaftlichen und historischen Ursprünge eines Gedankens zu ermitteln sucht, ist daher in einer permanenten metaphysischen Gegnerschaft zu dem Philosophen gefangen, 201

der die Geltung dieses Gedankens von den Wechselfällen der Zeit und der Gesellschaft isolieren will. Dieser methodologische Streit zwischen Soziologie und Philosophie macht uns zudem auf die tieferliegende und eher metaphysische Frage aufmerksam, ob es eigentlich gerechtfertigt ist, wenn wir an der geläufigen Unterscheidung zwischen Genese und Geltung festhalten. Adorno vertritt in besagter letzter Veranstaltung der Vorlesung am 28. Juli 1960 die These, dass diese Unterscheidung auf einem metaphysischen Irrtum basiere. Seine Begründung dafür (die er auch schon in Zur Metakritik der Erkenntnistheorie von 1956 formuliert hat) lautet, dass Genesis und Geltung keine strikten Gegensätze seien, sondern sich im Gegenteil wechselseitig implizieren. So ist er sowohl der Ansicht, dass »genetische Momente der Geltung implizit sind«, als auch der, dass »ein […] Verweis auf Geltung auch von den genetischen Momenten unabtrennbar ist«. 56 Dabei ist ihm zwar vollkommen bewusst, dass selbst unsere erhabensten normativen Begriffe eine zeitliche Genese haben, ist aber dennoch nicht gewillt, daraus die skeptische Schlussfolgerung zu ziehen, dass sie alle daher höchstens eine relative Bedeutung haben könnten. Dieser skeptische Schluss speise sich nämlich, wie er anmerkt, aus dem erwähnten uralten metaphysischen Vorurteil, dem wir bereits in Platons Philosophie begegnen und das besagt, dass »das Gewordene nicht wahr sein kann, sondern daß nur das, was unmittelbar ist […], eigentlich Anspruch auf Wahrheit überhaupt erheben« könne. 57 Um zu erläutern, warum dieses Vorurteil falsch ist, stellt Adorno im Folgenden einige Überlegungen zur sozialgeschichtlichen Genese des bürgerlichen Freiheitsideal an. Dieses sei erstmals im Kontext eines historisch spezifischen Kampfes der Eigentümer beweglicher Güter gegen diejenigen aufgetreten, deren gesellschaft56 NGS, Abt. IV, Bd. 6, S. 281. 57 Ebd., S. 282.

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liche Autorität an ihren Besitz von Grund und Boden gekoppelt war. Bürgerliche Freiheit sei daher Ausdruck eines Bündels von normativen Behauptungen über die Legitimität gesellschaftlicher Machtverhältnisse gewesen, habe aber auch normative Ansprüche hervorgebracht, deren Geltung über die Sphäre ihres ursprünglichen Anwendungskontexts hinausgegangen sei. Und diese Geltung konnte sich ihm zufolge dann unabhängig von den besonderen Umständen ihrer Genese »schließlich gegen die [wenden], auf die sie beschränkt geblieben ist«. 58 Das Marx’sche Thema, das in dieser These anklingt, macht Adorno zwar nicht explizit, doch ist der Rekurs auf den historischen Materialismus an dieser Stelle trotzdem ziemlich offensichtlich. »[B]ereits das bürgerliche Freiheitsideal« stellt ihm zufolge »als ein kritisches Verhältnis zu dem Vorhergehenden sich da[r]«, und zwar in dem Sinne, dass es »eigentlich die Realisierung der dort bereits konzipierten und gemeinten Freiheit meint«. Daraus ergebe sich, dass der bürgerliche Machtanspruch als Ideologie und Ideologiekritik zugleich fungiere; denn »die Genese, das Werden, das von der einen Gesellschaftsform zu der anderen zieht«, sei »von der Geltung, nämlich von der Frage nach der Adäquanz zwischen Begriff und Realität, eigentlich gar nicht abzusondern«. 59 Das aber bedeutet, dass Geltung sowohl aus der Genese entsteht als auch über sie hinausreicht. Ein Begriff, der eigentlich nur dazu geschaffen wurde, bürgerliche Rechte zu legitimieren, bereitet also gleichzeitig den Boden für die dialektische Selbstüberwindung ebenjener bürgerlichen Ansprüche selbst. Ideologie und ihre Kritik sind hier in einem einzigen Begriff enthalten. Adorno illustriert dieses dialektische Verhältnis von Genesis und Geltung noch weiter anhand eines Beispiels aus der Musikhistorie. Aus einer bestimmten Perspektive betrachtet ist es offen58 Ebd., S. 280. 59 Ebd.

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kundig, dass alles, was wir unter den Begriff der musikalischen Erfahrung subsumieren, mit den genetischen Kategorien der Sozialgeschichte erklärt werden kann. Richard Wagner habe diese soziogenetische Erkenntnis einmal in Form der abfälligen Bemerkung zum Ausdruck gebracht, »er müsse bei Stücken von Mozart an das Klappern des Geschirrs denken, das bei manchen eben dieser Stücke, bei Banketten von irgendwelchen Fürsten oder Erzbischöfen, aufgetragen wird«. 60 Diese These verallgemeinert Adorno nun zu dem soziologischen Grundsatz, dass selbst die höchsten Formen autonomer Musik, wie sie von Beethovens Symphonien und späten Quartetten repräsentiert würden, sich auf ihre Herkunft »aus dem Heteronomen und Niedrigen, aus der Tafelmusik« zurückverfolgen ließen. Gleichzeitig müssten diese Werke aber auch als »das Äußerste an Ausdruck des Ideals von Humanität« gehört werden. Nimmt man die rein äußerliche Perspektive eines soziogenetischen Determinismus ein, dann bleibt dieses Ideal unsichtbar; aus der Innenperspektive der musikalischen Form heraus betrachtet können wir hingegen die »autonome Logik« erkennen, die im Verbund mit seiner gesellschaftlichen Heteronomie existiert. Es gehört zur Struktur dieser Musik selbst, dass sie »in sich, in ihrer eigenen Formensprache, eben alles das [enthält], was darüber [d. h. über ihre »niedrigen« Ursprünge; Anm. d. Ü.] hinausweist«. 61 Mit solchen Erläuterungen im Sinn will Adorno uns die allgemeine Lektion vermitteln, dass die Prinzipien von Genese und Geltung sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr wechselseitig konstitutiv füreinander sind. Dementsprechend fordert er auch seine Zuhörerschaft dazu auf, zu »versuchen, mit größter Energie von dieser Vorstellung, daß die Wahrheit nichts Gewordenes sein könne, sich freizumachen, sich freizumachen von der Vorstellung, daß auf der einen Seite Wahrheit als ein Stati60 Ebd., S. 284. 61 Ebd., S. 285.

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sches und auf der andern Seite faktisch Seiendes, Bewegtes, Werdendes stehe, [was] man dann von außen irgendwie zusammenzubringen hat«. 62 Er verlangt also von uns, zu erkennen, dass wir Gesellschaftskritik nur dann auf angemessene Weise betreiben können, wenn wir jenes (ursprünglich platonische) Vorurteil überwinden, demzufolge Genesis und Geltung vollkommen unvereinbar miteinander sind. Die Soziogenese eines Begriffs zu ermitteln, bedeutet in seinen Augen daher nicht, dass dieser damit alle Geltung einbüßt; ebenso wenig könnten wir aber auch eine vermeintlich naturgegebene Geltung eines Begriffs behaupten, indem wir ihn aus seinen sozialhistorischen Ursprüngen herauslösen. Das tatsächliche Verhältnis von Genesis und Geltung ist nicht dualistisch, sondern dialektisch. Und das ist auch in Bezug auf sämtliche normative Begriffe so; diese entspringen zwar einer ideologischen Matrix, dienen aber zugleich auch den Zielen moralischer und politischer Kritik. Aus diesen Überlegungen folgt, dass wir das Prinzip verwerfen sollten, eine gesellschaftlich und historisch kompromittierte Instanziierung einer Norm X könne nicht als gültige Norm X gelten. Denn wie Adorno in Philosophie und Soziologie erklärt, wäre ein solcher Schluss insofern ein metaphysischer Fehler, als er die Geltung einer gegebenen Norm von den gesellschaftlichen und geschichtlichen Umständen abzukoppeln suche, aus denen jene Norm erst hervorgegangen sei. Dieser Fehler beruhe auf der Annahme, dass unsere normativen Ideale ewige Geltung besitzen müssten und keinerlei Anzeichen für ihre Gewordenheit aufweisen dürften; der Irrtum liege mithin in dem Versuch, das Sein vorm Werden oder die Ewigkeit vor der Zeit zu retten. Dies ist nach Adorno deshalb falsch, weil er (ähnlich wie Nietzsche und Marx) die ganze gesellschaftliche Wirklichkeit als in den endlosen Ozean des Werdens versenkt betrachtet. An der scharfen Tren62 Ebd., S. 286.

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nung von Sein und Werden festzuhalten, würde daher bedeuten, Adorno der begrifflichen Ressourcen zu berauben, die er für seine gesellschaftskritische Praxis benötigt. In diesem Fall fände er sich in der Position eines hegelianischen Philosophen wieder, der seine robuste Kritik aufgeben und die Philosophie primär als eine affirmative Aufgabe begreifen müsste, die eben das Grau in Grau der Welt zu malen habe.

Nietzsche, Genealogie, Geltung Die oben angestellten Überlegungen sind nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil wir mit ihrer Hilfe einige der tieferliegenden Affinitäten zwischen Adorno und Nietzsche erkennen können. Wenn wir herausfinden wollen, worin diese bestehen, ist es allerdings wichtig, zuvor ein verbreitetes Missverständnis darüber aus dem Weg zu räumen, wie Nietzsches Genealogie funktioniert und welche kritischen Lehren sie eigentlich vermitteln soll. Einige der Leserinnen und Leser seiner Philosophie, und zwar sowohl aufseiten ihrer Fürsprecher als auch ihrer Gegner, betrachten die genealogische Methode nämlich als Stratagem einer bloßen skeptischen Dekonstruktion – das heißt als ein Verfahren, das eine gegebene Norm in dem Moment für ungültig erklärt, sobald ihre historischen Ursprünge in gesellschaftlichen Machtverhältnissen offengelegt worden sind. Adorno formuliert in seiner Vorlesung zu Philosophie und Soziologie gegen diese Lesart jedoch den Einwand, dass sie Nietzsche die metaphysische Auffassung zuschreibe, nur ewige Begriffe würden normative Autorität besitzen, wohingegen jedes aus dem Fluss des Werdens geborene Konzept als ungültig verworfen werden müsse. Doch Nietzsche war natürlich kein Krypto-Platoniker; vielmehr richtete sich seine stärkste Abneigung gerade gegen jenes erstmals von Platon formulierte Vorurteil, das eine scharfe Grenze zwischen Sein und Werden zu etab206

lieren beabsichtigte. Daher führt Adorno in den erwähnten Vorlesungen eben auch Nietzsche ins Feld, der dieses metaphysische Vorurteil in seinem Spätwerk Götzen-Dämmerung als den geschichtlich »längsten Irrtum« bezeichnet. 63 Dessen Genealogie sollte aber nicht als bloße Fingerübung in Sachen Entzauberung verstanden werden, nur weil sie den zeitlichen Charakter angeblich ewiger Werte offenbart. Ganz im Gegenteil: Nietzsche weiß, dass Werte auf historische Weise und mit bestimmten sozialen Absichten in die Welt kommen. Ihre geschichtlichen Ursprünge anzuerkennen, würde ihren Status als Werte daher nur dann schmälern, wenn man sich der krypto-platonischen Ansicht verschreibt, dass Werte ewig sein müssten. Doch da Nietzsche diese Prämisse nicht teilt, steht es ihm frei, die Methode der Genealogie als eine normative Praxis aufzufassen, die auf die Entdeckung von Wahrheit hin orientiert ist. 64 Ähnliche Überlegungen sind auch von Bedeutung, wenn wir 63 Ebd., S. 281f. 64 Nietzsche akzeptiert daher den Gedanken, dass die Genealogie selbst auch ein Ausdruck unseres »Glaube[ns] an die Wissenschaft« ist, der wiederum auf einem »metaphysische[n] Glaube[n]« basiert, und fordert seine Leserschaft zu der Einsicht auf, dass »auch wir Erkennenden von Heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, […] unser Feuer noch von jenem Brande [nehmen], den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist …«. Allerdings lässt er es bei diesem Eingeständnis seiner eigenen Verpflichtung der Metaphysik der wissenschaftlichen Wahrheit gegenüber nicht bewenden, sondern wirft die Frage auf: »Aber wie, wenn gerade dies immer mehr unglaubwürdig wird, wenn Nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrthum, die Blindheit, die Lüge, – wenn Gott selbst sich als unsre längste Lüge erweist?« (Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 5, München 1999, S. 245-412, hier S. 400f.) Dieser letzte argumentative Schritt macht es ihm nun aber unmöglich, zu erklären, warum seine eigenen genealogischen Befunde als wahr gelten sollten. Daher trennen sich an dieser Stelle folglich auch seine und Adornos Wege, da dieser weiterhin uneingeschränkt

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den Status normativer Begriffe in der Philosophie Adornos genauer unter die Lupe nehmen. Wie Nietzsche lehnt auch er die krypto-platonische Prämisse ab, nach der »nichts Gewordenes soll wahr sein können«, und nennt sie »geradezu de[n] Prototyp von verdinglichendem Denken«, da sie Wahrheit als etwas Feststehendes oder Ewiges vorstelle, das wir nur dann wirklich wertschätzen könnten, wenn wir sie uns als in einer Sphäre irgendwo jenseits von Vergänglichkeit und Tod beheimatet denken würden. 65 Als Kritiker jeder Verdinglichung akzeptiert Adorno daher gerne den soziologischen oder genealogischen Befund, dass unsere normativen Begriffe in die Wechselfälle gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Veränderungsprozesse eingelassen sind. Allerdings nutzt er diese Entdeckung nicht als Freifahrtschein für einen allgemeinen normativen Skeptizismus, widerspricht also der unbegründeten skeptischen Konklusion, dass wir unsere normativen Begriffe als völlig ertraglos verwerfen müssten, da sie ja eben nicht die Vollkommenheit außerweltlicher oder ewiger Formen aufweisen. Um einzusehen, warum dieser Schluss unbegründet wäre, sollten wir zunächst die von mir bereits angesprochene quasiaxiomatische Wahrheit anerkennen, dass nach Adorno nichts in der menschlichen Erfahrung eine solche Perfektion besitzt – vielmehr ist die gesellschaftliche Wirklichkeit insgesamt von Vergänglichkeit und Beschädigung gekennzeichnet. Der Einwand, dass unsere normativen Begriffe sozial konstituiert und unvollkommen sind, ist demzufolge nicht wirklich eine Entgegnung gegen speziell diese Art von Begriffen, sondern beklagt unter dem Strich eigentlich nur die Verfasstheit der menschlichen Welt allgemein. Daher ist kaum zu sehen, warum eine solch umfassende Beschreibung uns einen spezifischen Grund dafür an an der Norm der Wahrheit auf dem Gebiet der Sozialforschung und -kritik festhält. 65 NGS, Abt. IV, Bd. 6, S. 282.

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die Hand geben sollte, nur eine einzige Begriffskategorie als nicht überzeugend herauszustellen. Dies ist jedoch nur die offensichtlichste Schwierigkeit, die sich ergibt, wenn man Adorno als einen durchgängigen Negativisten versteht; das tieferliegende und ironischere Problem (das ich oben bereits erwähnt habe) ist nämlich das, dass die negativistische Lesart an einen verdeckten Idealismus gekoppelt ist. In diesen geht die stillschweigende Hintergrundannahme ein, dass »keine unvollkommene Norm X als ein X gelten kann«. Diese unausgesprochene Prämisse legt die Latte nun allerdings so hoch, dass überhaupt nichts diesen Test bestehen könnte. Adorno selbst geht diesem Problem dadurch aus dem Weg, dass er (ganz ähnlich wie Nietzsche) diese Prämisse einfach rundheraus ablehnt: Statt auf einer scharfen und quasimetaphysischen Unterscheidung zwischen Sein und Werden zu beharren, erkennt er an, dass Vergänglichkeit und Unvollkommenheit allgemeine Merkmale jeder soziohistorischen Erfahrung sind. Geltung ist mit Genese durchsetzt, und Genese bedeutet keine Einschränkung von Geltung. In den letzten Minuten seiner abschließenden Vorlesung über Philosophie und Soziologie gemahnt Adorno seine Zuhörerinnen und Zuhörer daran, einen recht einfachen Punkt stets im Kopf zu behalten, nämlich den, dass die Lösung für die Probleme unserer sozialen Welt nicht in irgendeiner fiktiven Zone außerhalb von ihr zu finden sein wird. Denn, wie er schreibt, »damit wir diese Probleme lösen können, sind wir auf unsere eigene Spontaneität, auf Subjektivität verwiesen. Das Problem wartet zwar gewissermaßen auf uns in der Sache, aber es wartet eben doch auf uns, und ohne die Tätigkeit des Geistes ist es schlechterdings überhaupt nicht aufzulesen«. 66 Das heiße jedoch nicht, dass wir uns in irgendeiner Form als vollkommen freie und voraussetzungslose We-

66 Ebd., S. 290 (meine Hervorhebung, P. G.).

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sen betrachten müssten, deren Begriffe eine ebenso bedingungslose Vollkommenheit aufweisen würden, da »die Menschen, deren die Probleme von sich aus zu ihrer Lösung bedürfen, ja wiederum die Menschen sind, die ihrerseits einer gesellschaftlichen Totalität angehören, die präformiert sind durch die Kategorien dieser gesellschaftlichen Totalität, die sie an die Probleme herantragen«. Mit anderen Worten: Unsere Begriffe sind aus genau der Welt heraus geboren, auf die sie reagieren. Geltung entsteht aus Genese, denn die Menschen würden »dadurch, indem sie in den Problemen selbst verbleiben, ihnen zugleich doch etwas aufprägen von der Gestalt der Gesellschaft, der sie selber angehören«, so Adorno weiter. Die Lehre, die er daraus zieht, lautet somit, dass wir trotz der schockierenden Beschädigungen sowohl unserer Begriffe als auch unserer Umwelt weiterhin einer Art immanenter Normativität anhängen dürfen, das heißt einer Spielart von Kritik, die sich im Grunde nur aus den inneren Widersprüchen unseres gesellschaftlichen Lebens selbst speist. Oder in seinen eigenen Worten formuliert: Die sich entfaltende Rationalität, die innerhalb der geistigen Gebilde waltet, die nach richtig und falsch scheidet [und] ein geistiges Gebilde, eine Philosophie, ein Theorem zum nächsten treibt, die ist selber identisch mit dem Entfaltungsprinzip der Gesellschaft, die ja eben, soweit sie eine in sich zusammengeschlossene, durch das Tauschprinzip vergesellschaftete Gesellschaft ist, diesem Moment der Rationalität so lange gehorcht, bis es schließlich auch noch über die Form der Tauschgesellschaft hinaustreibt. 67

Diese Spezies von immanenter Normativität ist uns demnach in unserer sozialen Erfahrung zugänglich, obwohl dieser naturgemäß das Prestige absoluter Gültigkeit abgeht. Emphatische Begriffe selbst sind zwar ohne Zweifel unvollkommen, aber wenn wir uns 67 Ebd., S. 291.

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unsere ebenso unvollkommene Welt erschließen wollen, so können wir dennoch unmöglich auf sie verzichten. Adorno ist sich allerdings trotzdem vollkommen im Klaren darüber, dass nichts in unserer aktuellen gesellschaftlichen Erfahrung jenen hohen normativen Anforderungen gänzlich genügt, die in unseren emphatischen Begriffen zum Ausdruck kommen. Diese ähneln stark den Kant’schen Ideen, insofern sie uns auch dann eine Orientierung in unserem Denken verschaffen, wenn nichts, was uns in unserer empirischen Erfahrung aktuell gegeben ist, uns eine ihnen entsprechende Anschauung bieten kann. So müssen wir beispielsweise einräumen, dass kein empirisches menschliches Wesen X den emphatischen Begriff des Menschseins hinreichend erfüllt, ebenso wie keine empirische Glückserfahrung den emphatischen Begriff vom Glück im vollen Umfang realisiert. Das Vorliegen von solcherlei unzureichenden Passungsverhältnissen dieser Art zwischen emphatischen Begriffen einerseits und den bestehenden Umständen andererseits ist jedoch auch vollkommen erwartbar, da die Ersteren eben keine deskriptiven Begriffe sind, die die Welt in ihrem Istzustand abbilden. Sie sind vielmehr normative Begriffe, die das moralische und politische Verlangen danach ausdrücken, dass die Welt zu dem werden möge, was sie sein soll. Dass sie in ihrem Status quo an der Befriedigung dieses Verlangens scheitert, könnte unseren Rückzug auf einen totalen moralischen und politischen Skeptizismus also nicht rechtfertigen. Adorno spricht sich daher auch klar dafür aus, dass die Lehren, die die Genealogie uns vermitteln kann, nicht missbraucht werden dürften: Die genealogische Arbeit kann uns zwar helfen, die soziale Unvollkommenheit noch unserer höchsten Ideale zu erkennen, darf aber nicht in einem skeptischen Sinne dazu genutzt werden, jegliche Normativität als metaphysische Illusion enttarnen zu wollen. In seinen Vorlesungen zur Metaphysik von 1965 weist er diese skeptische Schlussfolgerung daher auch auf das Schärfste zurück. 211

Es sei, wie er erklärt, »ein metaphysischer Fehlschluß«, wenn man glaube, daß man deshalb, weil die Kultur mißlungen ist, weil sie also das nicht gehalten hat, was sie verspricht; weil sie Freiheit, weil sie Individualität, weil sie wahre Allgemeinheit den Menschen vorenthalten hat; weil sie also ihrem eigenen Begriff nicht genügt hat, daß sie deshalb nun zum alten Eisen zu werfen und frisch-fröhlich durch die zynische Herstellung der Machtverhältnisse unmittelbar zu ersetzen sei. Es ist einer der gefährlichsten Irrtümer, würde ich sagen, die im kollektiven Unbewußten heute bereit sind – und das Wort Irrtum ist dafür viel zu schwach und zu intellektualistisch –, anzunehmen, daß etwas deshalb, weil es nicht das ist, was es verspricht, weil es noch nicht sein eigener Begriff ist, auch schlechter sei als das Gegenteil der puren Unmittelbarkeit, das es zerstört. 68

Diese Kritik an einem totalisierenden Skeptizismus ist insofern aufschlussreich, als sie explizit auf die Logik emphatischer Begriffe rekurriert. Wenn wir unsere Welt mit offenen Augen durchstreifen, dann fallen uns als Erstes die geballten Belege für ein katastrophales Scheitern auf: Die Normen, auf die wir uns verpflichtet haben, sind nur zum Teil und auf verzerrte Weise wirklich umgesetzt worden; das menschliche Dasein haben sie nicht verbessert, sondern unsere Probleme und unser Leiden vielmehr noch verschlimmert. Wir könnten uns daher zu dem Schluss berechtigt wähnen, dass die »Kultur« selbst versagt habe und keines der mit ihr zusammenhängenden Konzepte (wie Freiheit, Individualität oder wahre Allgemeinheit) irgendein Verdienst für sich in Anspruch nehmen könne. Adorno lehnt diese drastische Schlussfolgerung nun aber gerade deshalb ab, weil er der Auffassung ist, dass sie den nichtidentischen Status unserer normativen Begriffe nicht 68 NGS, Abt. IV, Bd. 14, S. 200 (meine Hervorhebungen, P. G.).

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berücksichtige. Ihm zufolge sind sie gerade nicht einfach mit irgendeinem unterschiedslosen und alles umfassenden Medium namens »Macht« gleichzusetzen. Es ist zwar gewiss zutreffend, dass diese Konzepte durchaus als Machtinstrumente fungieren, aber sie sind zugleich eben auch mehr als das; aufgrund dieses inneren Spannungsverhältnisses sind sie nämlich sowohl Ideologie als auch zugleich mehr als Ideologie. 69 Deshalb können wir sie auch so verstehen, dass sie ihr ureigenstes Versprechen nicht einlösen würden. Aber das sollte uns nun kaum überraschen, wenn wir uns daran erinnern, dass unsere Begriffe Teil unserer eigenen sozialen Ordnung sind und in ihrer Nichtidentität somit die gleiche dialektische Natur aufweisen wie die Gesellschaft selbst. Man muss zugeben, dass Adornos Gebrauch von emphatischen Begriffen die wichtige Frage danach hervorruft, wie solche Begriffe eigentlich gerechtfertigt sein könnten. Nur allzu häufig wirkt es nämlich so, als betrachte er ihren Status als selbstevident, so als wäre bereits der bloße Akt der Bejahung eines solchen Begriffs dafür hinreichend, ihn als validen Maßstab für eine kritische Praxis ausweisen zu können. So wird uns zum Beispiel mitgeteilt, dass »[e]mphatisches Denken […] Zivilcourage« fordere, 70 das heißt Standfestigkeit angesichts von Anfechtungen implizieren würde. Oder ein anderes Beispiel: Falls wir von einer »Kraft des Denkens« sprechen könnten, so umfasst diese nach Adorno auch die Fähigkeit, »nicht mit dem eigenen Strom zu schwimmen«, das heißt ein Vermögen zum »Widerstan[d] gegen das Vorgedachte«. 71 Diese Definition kann jedoch kaum hinreichend erklären, warum irgendein gegebener emphatischer Begriff überhaupt akzeptiert wer69 Zu einer ähnlichen These in Bezug auf den Begriff der Öffentlichkeit siehe Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1990, S. 160. 70 In »Anmerkungen zum philosophischen Denken«, GS 10.2, S. 599-607, hier S. 604. 71 Ebd.

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den sollte. Schließlich haben viele Menschen das Gefühl, über eine ganz bemerkenswerte Stärke in ihren Überzeugungen zu verfügen, wenn sie auch noch im Angesicht einer überwältigenden gesellschaftlichen Ablehnung an falschen oder irrationalen Vorstellungen festhalten. Doch diese Überzeugungsstärke allein teilt uns eben nur sehr wenig darüber mit, ob die betreffenden Überzeugungen tatsächlich von Wert sind. Die Idee eines emphatischen Begriffs ruft daher das Schreckgespenst einer sich selbst autorisierenden Irrationalität auf den Plan, und es wäre nicht verkehrt, zu fragen, ob Adorno möglicherweise ein dezisionistisches Element in seine Philosophie hat einfließen lassen. Eine zumindest partielle Entlastung von diesem Vorwurf könnte allerdings darin zu finden sein, dass er so bereitwillig zugibt, alles emphatische Denken müsse stets für die Möglichkeit seines Scheiterns offenbleiben: »Der einzelne Denkende muß es riskieren, darf nichts unbesehen eintauschen oder abkaufen; das ist der Erfahrungskern der Lehre von der Autonomie. Ohne Risiko, ohne die präsente Möglichkeit von Irrtum, ist objektiv keine Wahrheit.« 72 Nietzsche schreibt er sogar das Motto zu, man müsse »gefährlich denken« lernen. Wir würden Adorno jedoch falsch verstehen, wenn wir deshalb glaubten, dass er uns im Angesicht der Gefahr eine nietzscheanische Haltung stoischer Ataraxie oder Courage anempfiehlt. Im Gegenteil ist diese hier in Rede stehende »Gefahr« für ihn eine Eigenschaft selbstkritischer Subjektivität und nicht eine der Welt; sie impliziert demnach eine Bereitschaft dazu, Irrtümer zuzugestehen. Und wo ein solches Denken genuin emphatisch ist, da erlaubt es sich kaum die selbstgefällige Ethik eines Willens zur Macht, sondern bleibt vielmehr ein, wie Adorno es nennt, »ungedecktes Denken«. 73 Ich habe Adorno in diesem Kapitel als dialektischen Denker verteidigt, der überzeugt ist, dass unsere Kritik sich auf von ihm 72 Ebd. (meine Hervorhebung, P. G.). 73 Ebd., S. 605.

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so genannte emphatische Begriffe stützt. Diese spielen für die Praxis immanenter Kritik eine unverzichtbare Rolle, da sie normative Forderungen ausdrücken und deshalb als Maßstäbe dienen, an denen wir bemessen können, bis zu welchem Grad unsere gegebenen Verhältnisse diesem Maßstab entweder genügen oder nicht genügen. Weil emphatische Begriffe die Erwartung erzeugen, dass etwas »seinem eigenen Begriff gerecht wird«, ähneln sie einer Art Schuldschein oder, so Adorno wörtlich, einer »Anweisung« auf eine unerfüllte Forderung. In der Negativen Dialektik vertritt er sogar die Ansicht, dass »apologetische« Trends in der Philosophie, zum Beispiel die Ontologie, ein »nachdrückliches Bedürfnis« respektive ein legitimes Verlangen nach etwas ausdrücken, was fehlt. »In all ihren einander sich befehdenden und sich gegenseitig als falsche Version ausschließenden Richtungen ist Ontologie apologetisch. Ihre Wirkung wäre aber nicht zu verstehen, käme ihr kein nachdrückliches Bedürfnis entgegen, Index eines Versäumten, die Sehnsucht, beim Kantischen Verdikt übers Wissen des Absoluten solle es nicht sein Bewenden haben«, wie es dort heißt. 74 Er ist allerdings auch zweifellos zu sehr Realist, als dass er hätte glauben können, irgendetwas in unserer bestehenden Gesellschaft hätte ein solches Bedürfnis tatsächlich erfolgreich erfüllt.Vielmehr ist er der Überzeugung, dass unsere Welt auf nachgerade katastrophale Weise dabei versage. Aber es ist typisch für ihn als Dialektiker, dass er aus diesem Versagen nicht den Schluss zieht, wir sollten unsere Treue zu den emphatischen Begriffen nun einfach pauschal aufgeben. Selbst noch im Angesicht der Katastrophe hält er an ihnen fest, da sie es uns ermöglichen, überhaupt erst einmal das volle Ausmaß der Beschädigung zu ermessen. Trotzdem glaubt Adorno nicht, dass sie irgendeinen Wert 74 GS 6, S. 69 (meine Hervorhebung, P. G.). Adorno variiert seine Terminologie natürlich; hier gebraucht er das Wort »nachdrücklich« als mehr oder weniger bedeutungsgleich mit »emphatisch«.

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hätten, sofern wir in unserer aktuellen Erfahrung nicht wenigstens auf einige Belege dafür verweisen können, worin ihre tatsächliche Erfüllung eigentlich bestehen würde.

Glück und menschliches Gedeihen Diese philosophischen Motive können uns verstehen helfen, wie Adorno seine immanent-kritische Praxis auf einen unverwirklichten Begriff des menschlichen Gedeihens hin ausrichtet. Um hier schon vorab einem möglichen Missverständnis entgegenzuwirken, sollte ich betonen, dass er diesen Ausdruck – menschliches Gedeihen – selbst nicht gebraucht. Ich bringe ihn an dieser Stelle aber deshalb ins Spiel, weil er weit genug gefasst ist, um die ganze Palette an unerfüllten Hoffnungen und Erwartungen abzubilden, die seine Philosophie motivieren. Wenn wir uns seinen Schriften zuwenden, müssen wir aber bedauerlicherweise feststellen, dass er mit seiner Terminologie nicht immer ganz konsistent verfährt. Wie bereits im Vorwort erwähnt, bedient er sich einer ganzen Bandbreite an Ausdrücken – wie »Glück«, »Wahrheit«, »Frieden«, »das richtige Leben« oder »der versöhnte Zustand« –, die alle eher grundsätzlich auf die Idee einer unsere ganze Gattung umfassenden Befriedigung hindeuten. Und auch in diesem Kapitel, wo wir seine einführenden Bemerkungen zur Dialektik diskutiert haben, sind wir bereits auf eine ähnliche Idee gestoßen, nämlich in Gestalt des »emphatischen Begriffs des Menschen«. Adorno selbst hat ihn in erster Linie zur Erläuterung der logischen Voraussetzungen von Hegels Dialektik herangezogen; ich hingegen möchte an dieser Stelle nun aber die These plausibilisieren, dass dieser Begriff auch jenseits des Hegel’schen Bezugsrahmens zumindest eine partielle Gültigkeit besitzt. Zur Debatte steht hier das grundlegende Prinzip, dass Menschen außerhalb des größeren Rahmens der gesellschaftlichen Verhältnisse und Institutionen, die Hegel den 216

»objektiven Geist« nannte, nicht gedeihen können. 75 In Ermangelung dieses sozialen Zusammenhangs könne nämlich, so Hegel, kein menschliches Wesen seinen Begriff vollkommen verwirklichen und sich in seinem Umfeld wirklich heimisch fühlen. Adorno sieht diese Voraussetzung ebenfalls als gegeben an. Wie Hegel vertritt auch er den Grundsatz, dass wir eine wahre und unverzerrte Erfüllung unseres eigenen Menschseins nicht erreichen können, wenn die Welt, in der wir leben, verzerrt und falsch bleibt. Anders als jener glaubt er jedoch, dass es in unserer aktuellen Umwelt praktisch nichts gebe, was diese Bedingung vollkommen erfülle. Zwar geht er nicht so weit, zu leugnen, dass wir überhaupt irgendein antizipatorisches Anzeichen dafür finden könnten, wie eine solche Erfüllung aussehen würde, ist aber der Überzeugung, dass unsere gegenwärtige Situation, so wie wir sie heute leben, immer noch sehr weit entfernt sei von jenem nichtverwirklichten Zustand, der in der Idee des menschlichen Gedeihens zum Ausdruck komme. Diesen letzteren Zustand charakterisiert er als einen von wahrhafter Identität oder Erfüllung. »Soll die Menschheit des Zwangs sich entledigen, der in Gestalt von Identifikation real ihr angetan wird, so muß sie zugleich die Identität mit ihrem Begriff erlangen«, wie es resümierend bei ihm heißt. 76 Um diese Idee menschlicher Erfüllung auszubuchstabieren, zieht Adorno eine breite Palette an Ausdrücken und Wendungen heran. Wie erwähnt, spricht er selbst zwar nicht vom »menschlichen Gedeihen«, aber dafür stoßen wir in seinem Werk auf häufige und explizite Bezugnahmen auf das menschliche Glück. Dieser Terminus mag uns zugegebenermaßen recht unpräzise erscheinen, und den Leserinnen und Lesern sei verziehen, wenn sie finden, dass er in seinen semantischen Implikationen einfach zu unver75 Zum Begriff des objektiven Geistes siehe Jean-François Kervégan, The Rational and the Actual. Hegel and Objective Spirit, Chicago 2018. 76 GS 6, S. 149 (meine Hervorhebung, P. G.).

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bindlich ist, um philosophisch von sonderlichem Interesse sein zu können. In meinen Augen ist es aber gerade dieser Unschärfe zu verdanken, dass Adorno den Begriff des Glücks mit einer solchen normativen Relevanz aufladen kann. Glück in seinem Sinne ist nämlich ein emphatischer Begriff höchster Ordnung, denn in diesem einen Wort verdichtet sich für ihn die nahezu unmögliche Forderung danach, dass die Menschheit ihrem eigenen Begriff gerecht werden möge. Es bedarf keiner besonderen Erwähnung, dass ein solches Konzept nicht nur auf eine Dimension des menschlichen Daseins beschränkt sein kann, sondern viele Facetten und zahlreiche Dimensionen besitzt. Zudem ist es hinreichend weitgefasst, um die ganze Bandbreite der menschlichen Erfahrung abzudecken, von der einfachsten körperlichen Lust bis hin zu der komplexesten Befriedigung des Geistes. Seine moralischen Implikationen betreffen sowohl die untersten als auch die obersten Ebenen: Sie erstrecken sich hinab bis auf unser kollektives Bedürfnis nach animalischer Wärme und steigen bis in die höchsten Höhen der ästhetischen Sphäre empor, wo kein geklagtes Leiden ungehört bleiben darf. Zudem ist der Glücksbegriff in sozialer Hinsicht inklusiv: wie die Hegel’sche Idee der sozialen Freiheit trägt er dem universalistischen Prinzip Rechnung, dass kein menschliches Wesen vollkommen verwirklicht sein kann, solange es alle anderen nicht auch sind. Dies setzt allerdings eine radikale Transformation sowohl unserer objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse als auch unserer subjektiven Verfasstheit als Individuen voraus. Oder wie Adorno selbst es in Minima Moralia formuliert: »Nicht bloß die objektive Möglichkeit – auch die subjektive Fähigkeit zum Glück gehört erst der Freiheit an.« 77 Seine Glückskonzeption ist daher nichts Geringeres als ein umfassendes Modell des menschlichen Gedeihens. 78 77 GS 4, S. 102. 78 Mein Ansatz zur Interpretation der Philosophie Adornos ist bei Weitem

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Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass ein solcher Begriff insgesamt viel zu voraussetzungsreich sei und Erwartungen schüre, die unmöglich zu erfüllen wären. Dies ginge jedoch am Punkt vorbei. Denn Adorno gebraucht Glück als normatives Konzept für unsere Erfahrung und nicht als einen empirischen Begriff, der nur dann gültig sein kann, wenn er zu einer entsprechenden und vollständigen Anschauung in unserer Erfahrung passt. In dieser Hinsicht ähnelt er einem kantischen Postulat: Er dient als Anleitung für die Praxis der Kritik und referiert nicht auf einen Gegenstand möglicher Erkenntnis. Es ist sogar möglich, dass er mehr oder weniger kontrafaktisch bleibt. Doch um das Glück als einen emphatischen Begriff zu evozieren, muss Adorno keine Kenntnis davon haben, ob dieser in der Vergangenheit einmal vollständig verwirklicht gewesen ist, noch muss er mit absoluter Sicherheit wissen, dass er künftig einmal vollständig verwirklicht werden wird. Er muss lediglich auf bestimmte Erfahrungen in der Gegenwart verweisen können, die die richtige Art von antizipatorischem Charakter aufweisen. Diese Erfahrungen erfüllen den emphatischen Begriff zwar nicht vollständig, aber das sollten wir von ihnen auch nicht erwarten. Tatsächlich beschreiben sie überhaupt nicht, sondern versprechen bloß. »Alles Glück bis heute verspricht, was noch nicht war, und der Glaube an seine Unmittelbarkeit ist dem in Wege, daß es werde«, wie es in der Negativen Dialektik heißt. 79 Wir dürfen dabei allerdings nicht vergessen, dass Adorno sich niemals einem hyperbolischen Skeptizismus hingibt – das heißt, er bestreitet nicht, dass unsere speziellen Ernicht der einzige, der diese Position vertritt. So plädiert Britta Scholze in ihrem herausragenden Essay zum Thema für die These, dass Glück als »Drehund Angelpunkt seines Denkens« fungiere. Und obwohl Adorno selten gewillt sei, diesen Begriff genauer oder ausführlicher zu erläutern, so betrachte er ihn nach Scholze doch als »Maßstab und Ziel einer gelingenden Einrichtung der Menschheit« (Scholze, »Adorno und das Glück«, S. 454). 79 GS 6, S. 346.

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fahrungen in der Gegenwart wirklich Instanziierungen von Glück sind. Müsste er sie nämlich pauschal als bloße Illusionen abtun, dann hätte er kaum Grund dafür, sie als genuine »Brüche« in der ansonsten fugenlosen Fassade unserer Alltagserfahrung anzusehen. Sein Punkt ist ganz einfach der, dass keine dieser besonderen Instanzen den Begriff des Glücks auf vollkommen befriedigende Weise erfüllt. Die einzigen Erfahrungen vom Glück, die wir haben, sind eben unvollkommen und ungewiss; unvollkommen in erster Linie deshalb, weil sie einen Zustand der Fülle heraufbeschwören, in dem sich das Glück auf die gesamte Menschheit erstreckt. Denn was Adorno »den teleologischen Begriff eines Glücks der Menschheit« nennt, meint notwendigerweise mehr als bloß das Glück atomisierter Individuen. 80 Solange es aber nur als Befriedigung persönlicher Begierden verstanden wird, bleibt dieser teleologische Begriff unerfüllt; »die Fixierung des eigenen Bedürfnisses und der eigenen Sehnsucht verunstaltet die Idee eines Glücks, das erst aufginge, wo die Kategorie des Einzelnen nicht länger sich in sich verschlösse«, wie er schreibt. 81 Die von diesem emphatischen Glücksbegriff implizierte Universalität streicht die Relevanz unserer besonderen Erfahrungen zwar nicht komplett durch, trägt aber durchaus eine gewisse Verzerrung in sie hinein, die sie sogar schon als Versprechen nur noch weniger zuverlässig werden lässt. »Was an Glück intermittierend vom bestehenden Ganzen geduldet oder gewährt wird, trägt« nach Adorno nämlich »vorweg die Male der eigenen Partikularität.« 82 Unsicher sind diese Versprechen aber auch deshalb, weil uns keine teleologische Struktur in der Menschheitsgeschichte eine absolute Garantie dafür geben kann, dass dieser Zustand in der Zukunft jemals eintreten wird. Versprechen können schließlich 80 Ebd., S. 345. 81 Ebd., S. 345f. 82 Ebd., S. 346.

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auch einfach wieder zurückgenommen werden. Oder wie Adorno schreibt: »So hinfällig in ihm alle Spuren des Anderen sind; so sehr alles Glück durch seine Widerruflichkeit entstellt ist, das Seiende wird doch in den Brüchen, welche die Identität Lügen strafen, durchsetzt von den stets wieder gebrochenen Versprechungen jenes Anderen. Jegliches Glück ist Fragment des ganzen Glücks, das den Menschen sich versagt und das sie sich versagen.« 83 Unsere Glückserfahrungen in der Gegenwart sind demnach unvollständig, bloße »Fragmente« eines universellen Zustands. Doch auch das, was sie versprechen, bleibt unsicher, so dass wir auf sie als Wegweiser in eine bereits feststehende Zukunft nicht vertrauen können. Diese Überlegungen können uns dabei helfen, zu erkennen, warum Adorno jegliche Erfahrung von Glück gleichzeitig auch als Erfahrung seiner Ungewissheit betrachtet. Er geht sogar so weit, zu behaupten, dass in einer von großem Leid gezeichneten Gesellschaft jede Glückserfahrung die unerschrockene Anerkennung einer Gefahr mit sich führen müsse, der wir knapp entronnen seien. Diesen Gedanken erläutert er in einer der wohl amüsanteren, wenn auch etwas schauerlichen Passagen der Minima Moralia, in der er sich an ein Lied aus seinen Kindertagen über zwei Hasen erinnert, die im Gras mümmeln. Dabei werden sie von einem Jäger niedergeschossen und fallen wie tot zu Boden. Als sie jedoch bemerken, dass sie noch am Leben sind, sammeln sie sich und hoppeln schnell davon. Adorno interpretiert diese kleine Geschichte als einen Kommentar auf die Verwobenheit von Glück und Angst: Weil die Welt in ihrem gegebenen Zustand von ihrer Zerstörung bedroht ist, so ist es unsere Erfahrung auch. Was er unser »Aufgeschlossensein für Erfahrung« nennt, versetzt uns in einen Zustand totaler Vulnerabilität, der an »Selbstpreisgabe« grenzt, und trotzdem ist es eben nur dieser Zustand, in dem »der Erliegende sich wiederfin83 Ebd., S. 396.

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det«. 84 Daraus schlussfolgert er, dass man den Irrsinn der Welt nur überleben könne, wenn man versuche, sich ihm möglichst zu entziehen. Wer am Rande der herrschenden Ordnung oder ihr gegenüber exzentrisch bleibe, der könne »die Unwirklichkeit der Verzweiflung« erkennen und »dessen innewerden, nicht bloß daß er noch lebt, sondern daß noch Leben ist«. 85 Die »List der ohnmächtigen Hasen« fungiere dabei als Zeichen nicht nur für ihr eigenes individuelles Überleben, sondern berge auch das allgemeine Versprechen auf Erlösung aller Betroffenen in sich, von dem nicht einmal der Jäger selbst ausgenommen sei. Scheinbar liegt es hier auf der Hand, dass Adorno in dieser Passage seine persönliche Erfahrung als der Verfolgung in Europa Entronnener verklausuliert geschildert hat. Doch dies macht seine Interpretation jenes Liedchens nur umso bemerkenswerter. Denn obwohl er an dem Versprechen auf Erlösung festhält, gestattet er es einer solchen kontrafaktischen Möglichkeit nicht, das Gedenken an die Katastrophe zu übergehen, die er überlebt hat. Tatsächlich bleibt kein Überlebender von der bitteren Erkenntnis verschont, dass Glück und Leid stets ineinander verwoben sind, denn »[w]as wäre Glück, das sich nicht mäße an der unmeßbaren Trauer dessen was ist?«. 86 Obwohl es nun einfach wäre, diesen Glücksbegriff aufgrund seiner extremen Allgemeinheit oder Unschärfe zu bemängeln, möchte ich behaupten, dass das, was hier wie Vagheit aussieht, eher als Ausdruck einer maximalistischen Forderung zu verstehen ist. Adornos Kritik an der Welt ist ja gerade deshalb so rücksichtsund rückhaltlos, weil er sich weigert, irgendeinen Begriff von der menschlichen Erfüllung zu akzeptieren, der seiner Befriedigung Schranken auferlegen würde. Seine Idee von Glück ist insofern 84 GS 4, S. 226-228. 85 Ebd., S. 228 (meine Hervorhebung, P. G.). 86 Ebd., S. 227f.

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umfassend, als sie auf Verhältnisse abzielt, die alle menschlichen Wünsche und Bedürfnisse auf einmal befriedigen würden. Vielleicht fällt es uns schwer, uns ein so allumfassendes Glück vorzustellen; Adorno war jedoch trotzdem davon überzeugt, dass wir selbst noch in unseren herrschenden deformierten Verhältnissen bestimmte Instanzen ausmachen können, die als Vorbilder für oder eben »Anweisungen« auf eine derartige Erfüllung gelten würden. Eine hilfreiche Erläuterung dessen, was er hier im Sinn hat, findet sich in »Kultur und Culture«, einem Vortrag, den er zwischen 1956 und 1965 nicht weniger als achtzehnmal gehalten hat. Diese außerordentliche Wiederholungsfrequenz macht deutlich, welche Relevanz sein Autor diesem Text beimaß, in dem er eine besonders bewegende und breit angelegte Theorie des menschlichen Glücks formuliert. Adorno erklärt darin, dass Kultur auf begrifflicher Ebene nicht als die Zähmung oder Beherrschung der Natur, sondern vielmehr als ein »Bewahre[n] um des Bewahrten willen« verstanden werden solle. Das vom lateinischen colere abgeleitete Wort Kultur bedeute ursprünglich »Pflege« und impliziere, »daß also das, was von den Menschen angeeignet, was unter ihre Herrschaft gebracht wird, dabei nicht radikal gebrochen, nicht ausgerottet werden soll, sondern gleichzeitig in seinem eigenen Wesen erhalten [werden soll]«. 87 Im weiteren Verlauf meiner Untersuchung (genauer in Kapitel 3) werde ich diese Vorstellung von der Kultur als einer nichtbeherrschenden Ethik der Responsivität der Welt gegenüber näher erläutern. Für den Moment möchte ich jedoch einfach nur die Tatsache hervorheben, dass Adornos Kulturbegriff eine große Spannbreite an menschlichen Erfahrungen abdeckt. Er bezieht sich nämlich sowohl auf Artefakte aus der formellen Kultur (im ästhetischen Sinne) als auch auf die somatische Dimension der Alltagserfahrung (im sozusagen anthropologischen Sinne). So stößt Adorno auch in Shakespeares Drama Romeo und 87 NGS, Abt. V, Bd. 1, S. 156-176, hier S. 157.

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Julia auf das menschliche Verlangen nach einer »utopischen Erfüllung«: Ja, die überwältigende Kraft dieses Stücks, die würde doch wohl kaum existieren, wenn die Idee dieses Stückes nicht die Erfüllung, die schrankenlose Erfüllung der Liebe, und zwar der vollen erotischen Liebe zwischen diesen beiden Menschen wäre, wenn in diesem Stück nicht etwa als Tendenz, aber doch als die Kraftquelle, aus der all das lebt, das stünde: ›Es soll Glück sein, die Menschen sollen sich einander gewähren können, es soll erfüllt sein, es soll nicht verboten sein‹ – dann wäre selbst das Gedicht von der Nachtigall und der Lerche, das eines der höchsten Gedichte ist, die je ein Mensch in einer europäischen Sprache geschrieben hat, eben wirklich, auch als Kunstwerk, auch als geistiges Gebilde, arm. 88

Dies ist eine bemerkenswerte Bestätigung der philosophischen Bedeutung, die Adorno dem Glück als normativer Forderung zuspricht. Beispiele wie diese haben allerdings bei einigen bedauerlicherweise den Eindruck erzeugt, dass der Philosoph ein in ästhetischer Hinsicht Konservativer gewesen wäre, der ausschließlich an den etabliertesten Werken der »hohen« und exklusiv europäischen Kultur sein Gefallen gefunden hätte. Dieser Eindruck wird jedoch dann sofort korrigiert, wenn wir seine liebevolle (wenn auch recht sentimentale) Schilderung jenes Glücks vernehmen, das amerikanische Kinder bei der simplen Erfahrung des Eisessens empfinden: »Die Art, in der jedes amerikanische Kind eigentlich ununterbrochen einen sogenannten ›ice cone‹, einen Kegel mit Eiscreme essen kann, in jedem Augenblick eine Art Erfüllung des Kinderglücks finden kann, nach dem unsere Kinder im allgemeinen sich die Hälse ausreißen und ausrenken, das ist wirklich ein Stück der erfüllten Utopie […].« 89 Trotz der unübersehbaren Ge88 Ebd., S. 162 (meine Hervorhebung, P. G.). 89 Ebd., S. 163 (meine Hervorhebung, P. G.).

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fühligkeit solcher Beispiele bleibt die entscheidende Einsicht bestehen, die Adorno uns mit ihnen vermitteln will: dass unser Leben nämlich schon heute mit besonderen Erfahrungen gespickt ist, die eine normative Forderung zum Ausdruck bringen, eben die, dass »Glück sein soll«. Und diese Forderung ist nicht auf die Erfahrung von Kunst im klassischen Sinne beschränkt, sondern manifestiert sich in einer erstaunlichen Vielfalt von menschlichen Erfahrungen, von denen jede einzelne als eine »Kraftquelle« betrachtet werden könnte. Am wichtigsten ist jedoch, dass dieses Verlangen nach Erfüllung wahrhaft grenzenlos und uneingeschränkt ist. Im oben zitierten Abschnitt über die Liebe zwischen Romeo und Julia beschreibt Adorno sie in maximalistischen Begrifflichkeiten. Trotz seines Rufs als Architekt einer »melancholischen Wissenschaft« ist er also offenbar nicht gewillt, seiner Auffassung vom Glück oder dem menschlichen Gedeihen irgendwelche Beschränkungen aufzuerlegen. »Kultur« wird damit gleichbedeutend mit der Erfüllung des menschlichen Lebens als solchem.

Glück und die Grenzen des Formalismus Oben habe ich erklärt, wie Adorno Glück in einem wahrhaft umfassenden Sinne als einen Zustand des menschlichen Gedeihens begreift. Ferner habe ich aber auch ausgeführt, dass keine uns in unserer gegenwärtigen Welt mögliche Erfahrung diesem emphatischen Begriff vollkommen gerecht wird. Hier mag nun der Hinweis von Bedeutung sein, dass Kant schon vor langer Zeit den Einwand vorgetragen hat, dass Glück nicht als zuverlässiger Begriff im Rahmen der moralischen Deliberation dienen könne, weil es ein schlicht zu alltägliches Konzept und die Bandbreite seiner Bedeutungen außerdem zu groß sei. »[A]lle Menschen« haben nach Kant »schon von selbst die mächtigste und innigste Neigung zur Glückseligkeit, weil sich gerade in dieser Idee alle Neigungen zu 225

einer Summe vereinigen.« Allerdings zeigt sich ihm zufolge, dass eine solche einheitliche Konzeption in sich widersprüchlich ist: »Nur ist die Vorschrift der Glückseligkeit mehrentheils so beschaffen, daß sie einigen Neigungen großen Abbruch thut«, woraus sich ergebe, dass für die Befriedigung einiger Neigungen die Befriedigung anderer unterbleiben müsse. Um Kants eigenes Beispiel zu zitieren: Ein Mensch, der von der Gicht geplagt wird, könnte dazu geneigt sein, sein besonderes Bedürfnis nach kulinarischen Vergnügungen zu stillen, obwohl diese Befriedigung seinem nicht weniger legitimen Bedürfnis nach Gesundheit nur zum Nachteil gereichen könnte. Zudem ist Kant der Überzeugung, dass verschiedene Menschen auch verschiedene Auffassungen davon haben, was sie glücklich mache, was bedeute, dass Glück eben nicht als universelles Kriterium für die Moralphilosophie dienen könne. Deshalb kommt er zu dem Schluss, dass »der Mensch sich von der Summe der Befriedigung aller [seiner Neigungen] unter dem Namen der Glückseligkeit keinen bestimmten und sichern Begriff machen kann«. 90 In seinen eigenen Überlegungen zur Moralphilosophie bezieht Adorno sich zwar oft auf Kants Glücksauffassung, hält dessen Einwände jedoch nicht für sonderlich überzeugend; im Gegenteil ist er offenbar der Meinung, dass ein angemessen reichhaltiger Glücksbegriff einen Zustand implizieren würde, der tatsächlich alle unsere Bedürfnisse zugleich, und zwar ohne Widersprüche oder Ausschlüsse, befriedigen würde. Diese Annahme ist aber nur plausibel, weil er sich Glück nicht in einem restringierten Sinne als besondere Befriedigung individueller Bedürfnisse oder Wünsche vorstellt, sondern in einem wahrhaft ausladenden Sinne als breit angelegtes Ideal menschlichen Gedeihens unter den Bedingungen sozialer Freiheit. Nach Adorno verlangt das Glück eine komplette Transformation des Menschen im Verbund mit einer 90 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, A A IV, S. 399.

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kompletten Transformation seiner gesellschaftlichen Verhältnisse. Auf die Mutmaßung, dass bestimmte Individuen auch in einer veränderten Gesellschaft nicht gedeihen könnten, erwidert er, dass diese dann immer noch unter den subjektiven Beschädigungen durch deren beschädigte Vorgängergesellschaft leiden würden: »Auch der Kritischste wäre im Stande der Freiheit ein ganz anderer gleich denen, die er verändert wünscht. Wahrscheinlich wäre für jeden Bürger der falschen Welt eine richtige unerträglich, er wäre zu beschädigt für sie.« 91 Der Dissens zwischen Adorno und Kant in Bezug auf die für das Glück vorgesehene Rolle in unserer moralischen Urteilsfindung verdient es, genauer unter die Lupe genommen zu werden. Nach Kant können wir uns nur dann als moralische Akteure verstehen, wenn wir auf der Grundlage von Maximen handeln, die die Form eines allgemeinen Gesetzes annehmen. Dieser Auffassung von Freiheit zufolge darf nichts von dem, was wir uns zufällig gerade wünschen, Eingang in unsere moralischen Überlegungen finden. Der kantische Wille muss allen Gegenständen der empirischen Welt gegenüber unbeeindruckt bleiben, und dieses Verbot betrifft auch alle unsere natürlichen Neigungen. Allerdings lässt Kant es zu, dass sich alle Menschen um ihre eigene Glückseligkeit kümmern, denn »[g]lücklich zu sein, ist nothwenig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens«, wie es in der Kritik der praktischen Vernunft heißt. Zu diesem Zugeständnis ist er deshalb bereit, weil er erkennt, dass Menschen in ihrer Endlichkeit diesseitige Bedürfnisse haben, die nicht schon im Vorfeld befriedigt sind: »[D]ie Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein [d. i. das Dasein des vernünftigen, endlichen Wesens; Anm. d. Ü.] ist nicht etwa ein ursprünglicher Besitz und eine Seligkeit, welche ein Bewußtsein seiner unabhängigen Selbstge91 GS 6, S. 345-347.

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nugsamkeit voraussetzen würde, sondern ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem, weil es bedürftig ist, und dieses Bedürfniß betrifft die Materie seines Begehrungsvermögens […].« 92 Für Kant ist dieses Zugeständnis an unsere endliche Natur als weltliche Wesen jedoch nur von begrenzter Bedeutung. Sie darf und kann der universalistischen Konzeption von Moral als Verpflichtung auf das moralische Gesetz nämlich nicht im Weg stehen. Unsere natürlichen Begierden sind bloß subjektiv, ebenso wie die Gefühle von Vergnügen oder Missvergnügen, die erregt werden, wenn wir danach streben, diese Begierden zu stillen. »Denn«, wie Kant weiterhin schreibt, »obgleich der Begriff der Glückseligkeit der praktischen Beziehung der Objecte aufs Begehrungsvermögen allerwärts zum Grunde liegt, so ist er doch nur der allgemeine Titel der subjectiven Bestimmungsgründe […].« Glück bezeichnet in seinen Augen also kein universelles Prinzip, da das, was es verlangt, nur durch Bezugnahme auf die individuellen Empfindungen einzelner Subjekte in Erfahrung gebracht werden kann. Und selbst noch im einzelnen Individuum sind diese Gefühle wandelbar, weshalb sie für Kant niemals mehr als »subjektiv notwendig« sein, also nie über den Status bloßer »Naturgesetze« hinauskommen können. Und sie unterscheiden sich auch noch zwischen den einzelnen Subjekten. Kants Schlussfolgerung lautet daher, dass ein derartiges Gefühl »niemals ein Gesetz abgeben kann, weil es bei der Begierde nach Glückseligkeit nicht auf die Form der Gesetzmäßigkeit, sondern lediglich auf die Materie ankommt […]«. 93 92 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Erstes Hauptstück, Anmerkung II , A A V, S. 25. 93 Ebd. Der Hinweis dürfte von Bedeutung sein, dass Jürgen Habermas mit Kant mehr oder weniger darin übereinstimmt, Glück könne nicht als die oberste Norm in unserer moralischen Urteilsbildung fungieren, weil es keine Gründe zulasse. In einem Interview vom November 1984 mit Perry An-

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Ungeachtet dieser Einwände streitet Kant jedoch auch nicht gänzlich ab, dass die Glückseligkeit in den Überlegungen der praktischen Vernunft einen rechtmäßigen Platz hat. Er lässt also zu, dass sie in die Moralphilosophie einfließen darf – nicht als apriorisches Prinzip des freien Willens zwar, aber doch als eine unverzichtbare Komponente der Idee des summum bonum, des »höchsten Guts«. 94 In unserem moralischen Verhalten gehorchen wir ihm zufolge zwar ausschließlich dem, was die Form eines allgemeinen Gesetzes annimmt, und die Moralität einer Handlung kann nicht von ihrem Zweck abhängen; doch selbst wenn wir uns nicht zu einem bestimmten Zweck moralisch verhalten, so wollen wir dennoch über die letztendlichen Konsequenzen unserer Handlungen Bescheid wissen. Im weitesten Sinne gilt dies, insofern wir die Gesamtheit unserer Handlungen als auf das höchste derson und Peter Dews erörtert er die Frage, ob eine Moraltheorie der Aufklärung auf einen Begriff des Glücks verzichten könnte. Aus seiner Antwort lässt sich der Kant’sche Einwand heraushören, dass Glückseligkeit kein klar definierter Begriff sei, der universell für alle Individuen gelte: »Die Moral hat gewiß mit Gerechtigkeit und auch mit dem Wohlergehen anderer, sogar mit der Förderung des allgemeinen Wohls zu tun. Aber Glück läßt sich nicht intentional herbeiführen und nur sehr indirekt fördern. Ich bevorzuge einen relativ engen Begriff von Moral. Moral bezieht sich auf die praktischen Fragen, die sich mit Gründen entscheiden lassen – auf konsensuell lösbare Handlungskonflikte. Moralischer Natur sind nur solche Fragen, die sich sinnvollerweise unter dem Kantischen Gesichtspunkt der Universalisierung – was alle wollen könnten – beantworten lassen. Gleichzeitig bevorzuge ich einen schwachen Begriff von Moraltheorie. Wir sprachen schon davon: sie soll den ›moral point of view‹ erklären und rechtfertigen, nichts weiter. Deontische, kognitivistische und universalistische Moraltheorien in der Nachfolge Kants sind Theorien der Gerechtigkeit, die die Frage des guten Lebens unbeantwortet lassen müssen« (Jürgen Habermas, »Ein Interview mit der New Left Review« in: ders., Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V, Frankfurt/M. 1985, S. 213-257, hier S. 236f.). 94 Siehe dazu die Beiträge in Thomas Höwing (Hg.), The Highest Good in Kant’s Philosophy, Berlin, Boston 2016.

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Gut ausgerichtet verstehen, wobei Letzteres die Idee eines Zustands ist, in dem sich unser Glück proportional zu unserer Tugend verhält. Daraus ergibt sich dann, dass, obwohl die Glückseligkeit nach Kant nicht unmittelbar in unsere Überlegungen über die Forderungen der Moral eingeht, das höchste Gut dennoch unserer vernünftigen Hoffnung darauf Ausdruck verleiht, dass das, was die Moral verlangt, auch (am Ende) mit unserer Glückseligkeit zusammenfallen wird. Diese Hoffnung ist aber mehr als nur ein frommer Wunsch; wir können uns dem höchsten Gut nämlich nur dann verschreiben, wenn wir es auch als möglich erachten. Oder in Kants eigenen Worten ausgedrückt: »So fern nun Tugend und Glückseligkeit zusammen den Besitz des höchsten Guts in einer Person, hiebei aber auch Glückseligkeit, ganz genau in Proportion der Sittlichkeit […] ausgetheilt, das höchste Gut einer möglichen Welt ausmachen: so bedeutet dieses das Ganze, das vollendete Gute […].« Allerdings beeilt er sich, uns sogleich im Anschluss zu erklären, dass die Tugend, anders als das Glück, uns ihre Forderungen ohne weitere Bedingungen auferlege. Für das Glück gelte dies hingegen nicht, denn dieses sei »nicht für sich allein schlechterdings und in aller Rücksicht gut […], sondern [setzt] jederzeit das moralische gesetzmäßige Verhalten als Bedingung vorau[s]«. 95 Glück haben wir demnach nur dann verdient, wenn wir moralisch tugendhaft sind. Doch das menschliche Leben ist leider endlich, so dass uns Kant zufolge weder garantiert werden kann, jemals des Glücks in seiner Vollkommenheit noch jener moralischen Vollkommenheit teilhaftig zu werden, die die Voraussetzung dafür ist. Dass wir das höchste Gut überhaupt als Möglichkeit in Betracht ziehen können, macht es daher erforderlich, dass wir zum einen uns selbst als unsterblich vorstellen (damit wir moralische Perfektion erlangen können) und zum anderen über die Vorstellung von einem gütigen Gott verfügen (der 95 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A A V, S. 111.

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das Glück verbürgt, das wir verdienen). Unsterblichkeit und Gott sind daher nach Kant Postulate der praktischen Vernunft, die für unseren Begriff des höchsten Guts notwendig sind. 96 Im nächsten Kapitel werde ich mehr über Adornos Diskussion dieser Postulate sagen. Für meine argumentativen Absichten an dieser Stelle möchte ich aber zunächst auf seine Reaktion auf die kantische Ansicht zu sprechen kommen, nach der der Begriff einer moralischen Handlung im engen Sinne nicht von der Glückseligkeit abhängig gemacht werden könne, die sie eventuell mit sich bringt. 97 Wie oben schon angemerkt, schließt der kategorische Imperativ – das »moralisch gesetzmäßige Verhalten« – jede solche Abhängigkeit vollkommen aus. Für Adorno ist diese bekannte Entkopplung von Freiheit und Glück in der Philosophie Kants jedoch nur ein weiteres Symptom für ihre »erhabene Nüchternheit« 98 – und das ist in seinen Augen kein Lob. Kant hebe den Willen nämlich in eine autonome Sphäre empor, in der alle unsere Sorgen um unsere materielle Existenz keine moralische Bedeutung haben, und bestreite nicht zuletzt deshalb, dass unser aktuell verspürtes Glück ein legitimer Faktor in unserem moralischen Denken sein könne, weil er menschliche Gefühle generell für 96 Die Literatur zum höchsten Gut und zu jenen Postulaten ist sehr umfangreich. Für meine Untersuchung hier habe ich mich vor allem auf folgende Schriften bezogen: Christine Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends, Cambridge 1996, bes. S. 27-31, Allen Wood, Kant’s Moral Religion, Ithaca 1970, Stephen Engstrom, »The Concept of the Highest Good in Kant’s Moral Theory«, in: Philosophy and Phenomenological Research LII /4 (Dezember 1992), S. 747-780, John Silber, »Kant’s Conception of the Highest Good as Immanent and Transcendent«, in: Philosophical Review 68 (1959), S. 469492, sowie Klaus Düsing, »Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie«, in: Kant-Studien 62 (1971), S. 5-42. 97 Eine andere Lesart von Kants Idee des höchsten Guts mit Bezug auf Adorno findet sich in Martin Shuster, Autonomy after Auschwitz. Adorno, German Idealism, and Modernity, Chicago 2014, bes. S. 42-70. 98 GS 6, S. 255.

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wechselhaft oder inkonsistent halte. Adorno weist diese Erklärung allerdings ausdrücklich zurück. »Glück ist keine Invariante«, wie er schreibt; »nur das Unglück ist es, das sein Wesen hat an der Immergleichheit.« 99 Alles, was menschlich ist, zeichne sich durch seine Vergänglichkeit aus, und keine Philosophie, die diese konstitutive Tatsache unserer menschlichen Natur ignoriere, könne uns bei unseren Überlegungen zum menschlichen Gedeihen helfen. Das sei Kants fataler Irrtum: Weil er das Vergängliche zugunsten einer reinen Vernunft zurückweise, habe seine Moralphilosophie überhaupt keinen Sitz in unserer realen Erfahrung, und indem er das Primat des vernünftigen Willens über unsere natürlichen Neigungen behaupte, werde der Glücksbegriff von seinem rechtmäßigen Sitz im menschlichen Leben vertrieben. Diese Vertreibung tut nach Adorno nun aber sowohl der Vernunft als auch der menschlichen Natur Unrecht. Kant wolle zwar der Freiheit die »Ehre« erweisen, indem er sie von aller Unvollkommenheit reinige, doch dieser Versuch misslinge, denn er »verurteilt zugleich prinzipiell die Person zur Unfreiheit«, wie er schreibt. 100 Dieser Drang zur Reinheit resultiere daher in einem verzerrten Begriff des Menschseins schlechthin, den Kant ihm zufolge sogar selbst für nicht völlig plausibel erachtet haben dürfte. Adorno entdeckt in dessen Ausführungen nämlich Anzeichen für eine gewisse Ambivalenz: Neigte Kant gleichwohl in manchen Passagen wie der großartigen zweiten Anmerkung zum zweiten Lehrsatz aus den Grundsätzen der praktischen Vernunft dem Glück sich zu, so durchbrach seine Humanität die Norm von Konsequenz. Ihm mochte dämmern, daß ohne solche Erbittlichkeit nach dem Sittengesetz nicht zu le99 Ebd., S. 346. 100 »Aber die Ehre, welche Kant der Freiheit angedeihen läßt, indem er sie von allem sie Beeinträchtigenden reinigen möchte, verurteilt zugleich prinzipiell die Person zur Unfreiheit« (ebd., S. 253).

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ben wäre. Das reine Vernunftprinzip der Persönlichkeit müßte konvergieren mit dem der Selbsterhaltung der Person, der Totalität seines »Interesses«, die das Glück einbegreift. 101

Für Adorno gerät dieses Zugeständnis an ein Glück, das sich innerhalb der Grenzen von Kants eigener Philosophie zeigt, also zu einem Symptom für eine vollere Menschlichkeit, die eben nicht völlig getilgt werden könne. Kants Haltung zur Glückseligkeit sei daher »so ambivalent wie der bürgerliche Geist insgesamt«, da er dem Einzelnen zwar »the pursuit of happiness« zusichere, ihm das Glück aber trotzdem »aus Arbeitsmoral« verbiete. 102 Adorno glaubt nun, dass die in Kants Moralphilosophie der Glückseligkeit auferlegten Beschränkungen ein allgemeineres Problem illustrieren, nämlich die limitierte Rolle, die dem Glück im modernen (liberalen) Freiheitsverständnis schlechthin zugesprochen werde. Es ist nicht ohne Bedeutung, dass er in der Negativen Dialektik die Formel »the pursuit of happiness« auf Englisch anführt, da er diese Idee für ein Paradigma jenes kapitalistischen Arbeitsethos erachtet, das in der modernen Gesellschaft und dabei besonders (aber nicht ausschließlich) in Großbritannien und Nordamerika vorherrschend ist. Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft wird demzufolge zur bloßen Freiheit für den Markt. Daraus ergibt sich allerdings eine Antinomie in der modernen Freiheitsidee selbst: Sie ist definiert als die Freiheit zum Streben nach dem Glück, obwohl die moderne liberale Ideologie sie zugleich als Freiheit vom Glück versteht. Diese Idee ist mithin nicht nur restriktiv, sondern repressiv, denn die »absolute Autonomie des Willens« impliziert nach Adorno nichts Geringeres als die »absolute Herrschaft 101 Ebd., S. 253f. 102 »Zu diesem [dem Glück; Anm. d. Ü.] steht Kant so ambivalent wie der bürgerliche Geist insgesamt, der dem Individuum the pursuit of happiness garantieren und aus Arbeitsmoral verbieten möchte« (ebd., S. 254).

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über die innere Natur«. 103 Die Kant’sche Idee des absolut freien Willens wird für ihn damit nur zu einem weiteren Beleg für den Herrschaftswillen der Vernunft; die »formale Logik der reinen Konsequenz« werde die »höchste moralische Instanz«, die »jeglich[e] Regung unter die logische Einheit« zwinge und »ihren Primat über das Diffuse der Natur, ja über alle Vielfalt des Nichtidentischen« ausübe. 104 Und wenn wir nun einen Schritt von den Details dieser These zurücktreten, dann erkennen wir, wie sie uns eine weitere Illustration von Adornos Bekenntnis zur Praxis der immanenten Kritik liefert: Der unsichere Status des Glücks in der Philosophie Kants verdeutlicht die generelle Unsicherheit des Glücks in der modernen Erfahrung selbst; als Entstelltes und Verachtetes ist es daher selbst das Nichtidentische, wie es sich unter dem Bann der bürgerlichen Moralität präsentiert. Adornos Bestreben ist es, das Glück von diesem Bann zu erlösen. In einer weithin von Not und Verzweiflung gezeichneten Gesellschaft kann sich das Versprechen auf Glück nur als das Nichtidentische manifestieren – und zwar in den Rissen und Brüchen, die den Anspruch der Welt auf Identität als Täuschung entlarven. Trotzdem bleibt es, wie ich in diesem Kapitel dargelegt habe, ein emphatischer Begriff in dem Sinne, dass es als ein Maßstab fungiert, mit dessen Hilfe Adorno bestimmen kann, wie weit unsere Gesellschaft ihr eigenes Versprechen unerfüllt gelassen hat. Allerdings ist es wichtig, zu bemerken, dass Glück an sich für ihn auch nicht nur einen Maßstab oder einen Begriff darstellt. Es ist vielmehr der Name, mit dem er sich auf eine umfassende Erfahrung menschlichen Gedeihens bezieht, von der wir nur in den seltensten Fällen einen Blick erhaschen können. Dies ist ein Zustand, der die Grenzen des rein Begrifflichen übersteigt, da Adorno der Überzeugung ist, dass unsere Begriffe im Verhältnis zu der Welt, 103 Ebd., S. 253. 104 Ebd.

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die sie beschreiben sollen, stets unzureichend seien. Und das Glück ist nun sicherlich die beste Illustration für diesen Mangel, da es das Andere der Vernunft, aber zugleich auch ein intrinsischer Bestandteil ihrer eigenen Idee des höchsten Guts ist. Diese Antinomie ist Adorno zufolge aber nicht spezifisch für Kant; sie ist vielmehr für alle konventionelle Philosophie typisch, die dem magischen Bannkreis des Idealismus nicht entronnen ist. In unseren moralischen Reflexionen ebenso wie in unseren Wissensansprüchen strebt das Subjekt demnach über seine eigenen formalen Kategorien hinaus und auf eine nichtbegriffliche Welt zu, unterminiert dieses Ziel sogleich aber dadurch, dass es den Begriff für den Gegenstand selbst hält. Das menschliche Gedeihen hingegen bricht für Adorno all solche Formalismen auf und besitzt eine irreduzibel materialistische Bedeutung, insofern es die volle Befriedigung unserer objektiven Wünsche und Bedürfnisse impliziere. »[A]lles Glück« ziele nämlich, wie er schreibt, »auf sinnliche Erfüllung« ab und »[gewinnt] an ihr seine Objektivität«. 105 Und dieser Umstand lässt uns verstehen, warum er das Glück nur selten durch Definitionen verengt. Stattdessen zieht er es vor, marginale Erfahrungen zu beschreiben (oder einfach nur auf sie hinzudeuten), die, auf welche unvollkommene Weise auch immer, illustrieren können, wie wahrhaftes Glück aussehen würde.

105 Ebd., S. 202.

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3 MATERIALISMUS UND NATUR

Im vorangegangenen Kapitel habe ich dafür argumentiert, dass Adorno sich auf Glück als einen emphatischen Begriff des menschlichen Gedeihens bezieht. Dieser ist insofern allumfassend, als er die Erfüllung des Menschseins in all seinen Dimensionen vorsieht, von den grundlegendsten Bedürfnissen bis hin zu den höchsten geistigen und ästhetischen Genüssen. Da Adorno sich Glück ohne eine solche multidimensionale Erfüllung nicht vorstellen kann, richtet seine Kritik an der gegenwärtig bestehenden Welt die maximalistische Forderung an sie, eine weitreichende Transformation zu durchlaufen. Diese müsste allerdings nicht nur deren objektive Verhältnisse, sondern auch unsere subjektive Fähigkeit dazu umfassen, unsere Befriedigung in ihnen zu finden. In diesem Kapitel möchte ich diesen Gedanken weiter ausführen, indem ich die Reihe der Implikationen genauer herausarbeite, die im, wie ich ihn nennen möchte, Materialismus Adornos enthalten sind. Meine These dazu lautet, dass er als Materialist in einem weiten und nicht doktrinären Sinne verstanden werden kann, da seine Philosophie unser diesseitiges, sinnliches Dasein als den Ort aller menschlichen Erfüllung erkennt. In dieser Hinsicht bezieht sie ihre Inspiration von Marx’ Grundsatz, dass wir uns unsere Befriedigung als Menschen jenseits unseres »Verhältnis[ses] zur sinnlichen Außenwelt« gar nicht vorstellen können. 1 Der Marxismus ist allerdings bei Weitem nicht die einzige Res-

1 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW, Bd. 40 (Ergänzungsband, Erster Teil), Berlin 1968, S. 465-588, hier S. 515.

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source für Adornos Materialismus. 2 In seiner Vorlesung Metaphysik. Begriff und Probleme von 1965 geht er sogar so weit, bestimmte Ähnlichkeiten seiner eigenen diesbezüglichen Auffassungen mit denen früherer materialistischer Philosophen wie Leukipp oder Demokrit zu behaupten. Da diese jedoch »Materie als letzte[n] Seinsgrund« verstanden, haben sie ihm zufolge ihre Bindung an die Logik metaphysischer Erklärungen immer noch nicht ganz aufgegeben, weshalb man sie sogar als »metaphysische Materialisten« kategorisieren könne. 3 Solche Vergleiche reichen aber sowieso nicht hin, um das Charakteristische an Adornos eigenen materialistischen Bestrebungen einzufangen. Denn in seinem Verständnis impliziert diese Position auch eine bestimmte Art von philosophischer Anthropologie, welche die Idee mit Leben erfüllt, dass unser sinnliches Dasein die Form einer mimetischen Beziehung zwischen äußerer und menschlicher Natur besitzt. Dabei ist diese Beziehung Adorno zufolge keine idealistische Abstraktion, sondern in der gesamten menschlichen Erfahrung – von der unschuldigsten bis zur erhabensten – enthalten und bleibt selbst noch in jenen Momenten weltlicher Erfüllung bestehen, die er als »metaphysische Erfahrung« charakterisiert. Zwar gesteht er bereitwillig zu, dass diese entscheidende Komponente unserer Erfahrung im Rahmen unserer bestehenden Verhältnisse von ihrer Auslöschung bedroht ist, glaubt aber nicht, dass sie bereits vollständig zerstört sei. Tatsächlich hätte er ja auch keinerlei empirische Anhaltspunkte für jene normativen Quellen mehr, auf die seine Philosophie angewiesen ist, wenn er nicht zumindest noch einige schwache Spuren dieser fortwährenden mimetischen Verbindung auftun könnte. 4 Eine solche Idee von menschlicher Erfüllung kann 2 Eine wichtige Erörterung des Marx’schen Materialismus findet sich in einer Studie des Adorno-Schülers Alfred Schmidt (Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Frankfurt/M., Köln 1962). 3 NGS, Abt. IV, Bd. 14, S. 21f. 4 Martin Seel hat einen ähnlichen Einwand gegen Adornos angeblichen to-

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nun selbstredend nur im umfassendsten Sinne als materialistisch beschrieben werden; doch nur eine derartig ambitionierte Idee wäre eben auch breit genug angelegt, um jene weitreichende Forderung erfüllen zu können, die Adornos Gesellschaftskritik zugrunde liegt.

Die kritische Aneignung Marx’scher Themen Jeder aufrichtige Leser Adornos sollte zuzugeben bereit sein, dass dieser kein Marxist im doktrinären Sinne des Wortes war. Würde man uns dazu drängen, die einzelnen Punkte aufzulisten, an denen er sich von der marxistischen Doktrin abgrenzt, dann könnten wir auf die drei folgenden Thesen verweisen. Erstens: Adorno hatte wenig Vertrauen in die revolutionären Ambitionen eines klassenbewussten Proletariats. Die real existierende arbeitende Klasse in West- und Mitteleuropa konnte im Nachgang des Ersten Weltkriegs und der bolschewistischen Revolution für ihn nicht mehr als die singuläre Verkörperung jener Hoffnung auf einen radikalen Umbau der Gesellschaft fungieren, und das aus dem einfachen Grund, dass sie sich selbst großteils in den institutionellen Rahmen der bürgerlichen Demokratie ein-

talen Negativismus erhoben. Er merkt an, dass dieser sich auch auf »radikal positiv[e]« Erfahrungen als Inspirationsquellen für seine ethische Positionierung berufe: »Von seinen jungen Jahren an hat Adorno immer wieder betont, dass Freiheit und Glück, Moral und Gerechtigkeit, überhaupt das individuell und sozial Gute unter den Bedingungen der Gegenwart allein negativ bestimmt werden könnten. Nur an ihren verkehrten Gestalten seien sie zu erkennen. Dies jedoch ist eine eklatante Selbsttäuschung. Denn Adornos Ethik nimmt ihren Ausgang radikal von positiven und darüber hinaus von radikal positiven Erfahrungen. Das Proust’sche und Benjamin’sche Motiv der erfüllten Zeit wirkt hier mit großer Kraft nach« (Martin Seel, Adornos Philosophie der Kontemplation, Frankfurt/M. 2004, S. 34 f.).

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gefügt hatte, obgleich sie nach wie vor keinen gerechten Anteil an ihrem materiellen Wohlstand hatte. Dieser Vertrauensverlust in eine vereinte und revolutionäre Arbeiterklasse ist ein Merkmal der kritischen Theorie Frankfurter Provenienz generell. In den Anfangstagen seiner Planung in den frühen 1920er Jahren sollte das Institut für Sozialforschung noch »Institut für Marxismus« heißen, und auch lange Zeit danach bezeichneten es die Studierenden liebevoll als »Café Marx«. Unter der frühen Leitung Carl Grünbergs widmete sich das Institut in erster Linie der Aufgabe, die Geschichte der Arbeiterklasse empirisch zu erforschen. Doch bereits am Ende des Jahrzehnts war es von dieser marxistischen Agenda abgewichen, und als Max Horkheimer Anfang der 1930er Jahre die Direktion übernahm, war die Trennung von ihr endgültig vollzogen. 5 Für Adorno und seine Mitstreiter am Institut war dieses verlorene Vertrauen aufs Proletariat der Anfangspunkt für eine dramatische Revision marxistischer Grundsätze, die letztlich in der kritischen Theorie kulminieren sollte. Zweitens: Adorno setzte sich auch insofern von der marxistischen Lehre ab, als er wenig Begeisterung für die anonyme Entwicklung von Technologien als Vorbedingung für den geschichtlichen Fortschritt empfand. Seine Skepsis in Bezug auf die technische Fortentwicklung war sicherlich (zumindest teilweise) der biografischen Tatsache geschuldet, dass er in der Zeit des desaströsen Ersten Weltkriegs heranwuchs, als ein so großer Anteil des technischen Erfindergeists sich gewaltsam gegen die menschliche Zivilisation selbst richtete. Sein Widerstand gegen den Technikoptimismus fand auch in Walter Benjamins Aufsatz über den Begriff der Geschichte weitere Unterstützung, in dem der technologische Evolu5 Zu Horkheimers Übernahme des Direktorenpostens und der Hinwendung des Instituts zu einem breiter und interdisziplinärer angelegten sozialphilosophischen Programm siehe Martin Jay, »Ungrounded. Horkheimer and the Founding of the Frankfurt School«, in: Peter E. Gordon u. a. (Hg.), The Routledge Companion to the Frankfurt School, London 2018, S. 137-151.

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tionismus des Bernstein’schen Revisionismus zusammen mit dem »Vulgärmarxismus« verworfen wird, indem beide als Vorwegnahmen der faschistischen Idee eines historischen Fortschritts als rücksichtsloser Steigerung der Naturbeherrschung gedeutet werden. 6 Drittens (und am grundsätzlichsten): Adorno sah wenig Anlass für ein Festhalten an der marxistischen Deutung der Geschichte als offenes Spielfeld für die Selbstbehauptung der menschlichen Gattung. In der Mitte des 20. Jahrhunderts war vollkommen klar geworden, dass die säkularisierte Teleologie, der der Marxismus anhing, ein schlechtes Erbe der Aufklärung war, die viel von ihrer Glaubwürdigkeit eingebüßt hatte. Die marxistische Orthodoxie selbst war daher auch nicht immun gegen die schlechte Dialektik von Aufklärung und Barbarei. Folglich konnte Adorno kaum Vertrauen in irgendeine der überlieferten (liberalen oder historistischen) Fortschrittsteleologien setzen, auch wenn seine begründete Skepsis gegenüber den älteren, ideologisch verbrämten Fortschrittskonzeptionen ihn nicht dazu gebracht hat, sich gänzlich von der Hoffnung auf eine der ganzen Menschheit zugutekommende Verbesserung ihrer sozioökonomischen Umstände zu verabschieden. Materialismus in der Lesart Adornos hat daher wenig mit seiner reduktiven Variante gemeinsam, wie sie in der Ideologie des Ostblocks vertreten worden ist, die er in einer »materialistischen Weltanschauung« gefangen sah, wie er in seiner Vorlesung Philosophische Terminologie klarmacht. 7 Dort geht er sogar so weit, die Warnung auszusprechen, eine materialistische Ideologie könne »repressi[v]« sein, da »die Vorstellung von der Stoffhaftigkeit des Menschen« ihn auch »zu einem reinen Objekt von Beherrschung« 6 Siehe die Diskussion der Naturbeherrschung in »These XI « von Walter Benjamins Text »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I .2, Frankfurt/M. 1974, S. 691-704, hier S. 698f. 7 NGS, Abt. IV, Bd. 9, S. 609.

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machen könne. 8 Ein reduktiver Materialismus dieser Art verfehlt aber die Anerkennung der entscheidenden Tatsache der dialektischen Vermittlung, denn er betrachtet das menschliche Bewusstsein als bloßes Epiphänomen einer materiellen Basis. Eine Philosophie jedoch, die die Anerkennung einer zumindest relativen Autonomie des Bewusstseins verweigert, kann nicht als Fundament eines emanzipatorischen Denkens dienen, da sie jene Freiheit von Anfang an leugnet, die sie eigentlich befördern soll. Der historische Materialismus gibt damit seine normative Festlegung auf ein noch unrealisiertes Freiheitsideal auf; damit ist er aber nicht mehr eine auf die Utopie hin orientierte Theorie, sondern eine Affirmation der Dystopie. Speziell als Kritik der bürgerlichen Gesellschaft verortet der Marxismus das Geheimnis der sozialen Reproduktion zwar richtigerweise in der Tatsache der ausgebeuteten Arbeitskraft, doch als Theorie jeder menschlichen Gesellschaft verewigt er diese Ausbeutung, mit der ironischen Konsequenz, dass er am Ende jene Illusion gesellschaftlicher Notwendigkeit affirmiert, die er eigentlich zu demontieren angetreten ist. Verhält sich das Bewusstsein im Verhältnis zu seiner vermeintlichen natürlichen Basis nämlich rein epiphänomenal, dann ist es sinnlos, gegen solche kausalen Mechanismen aufzubegehren. Ein Marxismus in dieser reduktionistischen Form weist zudem noch den ideologischen Makel seiner bürgerlichen Ursprünge auf, denn er bringt eine Metaphysik des Zwangs zum Ausdruck. Das ist der eigentliche Hintergrund von Adornos bekanntem Ausspruch, »Marx habe die ganze Welt in ein gigantisches Arbeitshaus verwandeln wollen«. 9 In dieser Klage steckt aber auch die philosophische Sorge, dass 8 Ebd., S. 524. 9 Diese Bemerkung hat Adorno in einem Gespräch mit Martin Jay getätigt; siehe Martin Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt/M. 1981, S. 80.

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die marxistische Betonung unserer materiellen Verhältnisse in einen reinen Determinismus abzukippen drohe und unsere unkritische Unterwerfung unter das Gegebene befördere. Adorno war sich des Problems akut bewusst, dass die vorherrschenden philosophischen Schulen in einer affirmativen Gesellschaft ebenfalls zu Instrumenten der Affirmation gemacht werden können. Diese apologetische Tendenz zeige sich, wie er glaubte, überdeutlich an der Phänomenologie, die sich, getreu der Husserl’schen Maxime, man müsse »zu den Sachen selbst« zurückkehren, nicht nur zu einer bestimmten methodologischen Ausrichtung, sondern zu einer Ideologie der Anpassung entwickelt habe. Die Möglichkeit, sich den gegebenen Verhältnissen zu unterwerfen, wird besonders an Heideggers Existentialontologie überdeutlich, in der die Philosophie ihr kritisches Moment verraten hat und (in Adornos Worten) zu kaum mehr als einem pseudoreligiösen Exerzitium geworden ist, das den »Alltag heiligt«. 10 Die schlichte Faktizität nimmt dabei die unanfechtbare Autorität des Normativen an, so dass die Kritik ihren Rückhalt verliert. Eine ähnliche Gefahr des Apologetischen zeigt sich aber auch am Marxismus selbst, besonders dann, wenn er sich zu einer nichthinterfragbaren Ideologie verhärtet und im Gewand eines »dialektischen Materialismus« zu einer Spielart des Positivismus degeneriert. Die marxistische Theorie ist daher nach Adorno für zwei Arten von Verzerrung anfällig: »Einerseits wird sie diffamiert – im Westen –, andererseits fetischisiert – im Osten. Im Osten ist sie tabubesetzt, im Westen glaubt man, eine Todsünde zu begehen, sich mit ihr zu befassen.« 11 Damit wirft er eine wichtige Frage auf: Wie können wir angemessen 10 Jargon der Eigentlichkeit, GS 6, S. 413-526, hier S. 435. Zu dem paradoxen Versuch, quasiheilige Kategorien auf das säkulare Leben anzuwenden, siehe Peter E. Gordon, Adorno and Existence, Cambridge (Mass.) 2016, bes. S. 88-98. 11 »Theodor W. Adorno über Marx und die Grundbegriffe der soziologischen Theorie. Aus einer Seminarmitschrift im Sommersemester 1962«, in:

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zwischen Materialismus im kritisch-philosophischen Sinne und seiner Schwundform als affirmativer und positivistischer Ideologie unterscheiden? In seinem Seminar zu »Marx und den Grundbegriffen der soziologischen Theorie« aus dem Sommersemester 1962 will Adorno genau dieser Frage nachgehen. Seine Antwort lautet dort, dass Marx’ eigene materialistische Erkenntnisse nur dann für die kritische Theorie von Wert sein können, wenn wir sie uns mit den Mitteln einer immanenten Kritik aneignen würden. Die marxistische Theorie sei nämlich »mit einem Rattenschwanz an Fragen belastet«, und unser philosophisches Problem heute hauptsächlich dem Umstand geschuldet, »daß an diesen Stellen nicht weiter gearbeitet, sondern von außen kritisiert wird, ohne die Theorie mit ihren immanenten Schwierigkeiten zu konfrontieren«. 12 Eine immanente Kritik kann demnach nur funktionieren, wenn sie das Problem der materiellen Bedingtheit vom Inneren her angeht. Das heißt genauer, dass das Bewusstsein nicht einfach umschifft werden kann, so als sei es bloßes Epiphänomen einer materiellen Basis. Die Realität der materiellen Verhältnisse muss vielmehr zuerst im Bewusstsein selbst aufgespürt werden, indem nämlich die Erfahrung des Subjekts von der Abhängigkeit dessen erforscht wird, was jenseits seiner eigenen Sphäre liegt. Die Dimensionen der Erfahrungsoffenheit und der Innerlichkeit des Subjekts werden damit zum irreduziblen Ausgangspunkt für eine dialektische Hinwendung zum Objekt.

Hans-Georg Backhaus, Dialektik der Warenform. Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik, Freiburg 1997, S. 501-513, hier S. 512. 12 Ebd. (meine Hervorhebung, P. G.).

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Der Vorrang des Objekts Diese Hinwendung zum Objekt zeigt sich nicht allein an Adornos philosophischer Interpretation des Marxismus, sondern ist das verbindende Thema in seinen Annäherungen an praktisch alle dominanten philosophischen Strömungen der Moderne, darunter auch jene, die ihren Fokus hauptsächlich auf die Innerlichkeit des subjektiven Bewusstseins richten. 13 Ich habe oben bereits seine Dissertation von 1924 mit dem Titel »Die Transzendenz des Dinglichen und Noematischen in Husserls Phänomenologie« erwähnt, in der er die dialektische Verbindung zwischen dem »Sein als Bewusstsein« und dem »Sein als Realität« herausstellt. 14 Die Aporie, die sich im Zentrum des Husserl’schen Idealismus zeigt, ist jedoch nur eine Instanz eines allgemeineren Problems, das der Idealismus in all seinen Varianten hat, dass er sich nämlich nicht von der »Dingwelt« ablösen kann, die die Sphäre des Geistigen überschreitet. 15 In seiner Untersuchung über das Unbewusste von 1927 geht er dieser Problematik ein weiteres Mal nach und entdeckt durch immanente Kritik auch in der Psychoanalyse ein materialistisches Motiv. Mentale Phänomene sind demnach in ihrer Ätiologie weder bloß individuell, noch können sie eine Unabhängigkeit von der äußeren Welt für sich beanspruchen. Sie sind in seinen Augen vielmehr die innerlichen Ablagerungen gesellschaftlicher Gehalte, selbst wenn ihr Ursprung im Sozialen bestritten wird. 16 13 Zu Adornos Interpretation der »Philosophien bürgerlicher Innerlichkeit« siehe Gordon, Adorno and Existence. 14 Siehe »Resúmé der Dissertation«, GS 1, S. 375-377, hier S. 376. 15 Im »Resúmé der Dissertation« spricht Adorno von der »›schlechthinigen Transzendenz‹ der Dingwelt« (ebd.). Siehe dazu auch oben, Kap. 1, S. 123f. 16 Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre, GS 1, S. 79-322, hier S. 321f. Zu einer luziden Darlegung der Position, den diese

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Diese frühen Studien können beide als Übungen in immanenter Kritik verstanden werden. Denn sowohl mit Blick auf die Psychoanalyse als auch auf die Phänomenologie ist Adorno der Auffassung, dass wir unseren Blick zunächst nach innen richten müssten, um uns im Anschluss daran nach außen zu wenden. Mit seiner Erforschung der Innerlichkeit des Bewusstseins erschließt er also zugleich die Äußerlichkeit der den Geist transzendierenden Welt. Schon in diesen frühen Untersuchungen können wir somit die Umrisse jener Einsicht erkennen, die seine spätere Philosophie bestimmen sollte: Das einzelne Subjekt ist weder selbstidentisch noch selbstgenügsam und besitzt auch nicht jenes metaphysische Primat, das es gerne für sich in Anspruch nehmen würde. Zu dieser Erkenntnis gelangt Adorno jedoch nicht dadurch, dass er sich einfach vom Subjekt abkehrt; sie kommt vielmehr dadurch zustande, dass er sich zunächst tief in das Subjekt hineingräbt, um dessen verdrängte Abhängigkeit ans Tageslicht zu bringen. Sie ist, mit anderen Worten, eine spezifisch dialektische Erkenntnis. Adorno will nun aber das Terrain des Idealismus auch nicht vollständig hinter sich lassen. Seine Absicht ist es vielmehr, dessen Autorität von innen her zu untergraben, und zwar dadurch, dass er ihn dazu nötigt, seine Angewiesenheit auf den Materialismus als seine erste und wichtigste Voraussetzung anzuerkennen. Diese Strategie verfolgt er hauptsächlich deshalb, weil er glaubt, dass die Abhängigkeit des Menschen von äußeren Umständen durch eine Erforschung der inneren Antinomien der subjektiven Erfahrung selbst offenbart werden könne. Das heißt aber eben, dass der Idealismus nicht einfach verworfen, sondern in einer neuen Spielart des Ma-

Untersuchung im Rahmen von Adornos Gesamtwerk einnimmt, und besonders zu einer Vorwegnahme seiner späteren Reflexionen über die Dialektik von Psyche und Gesellschaft siehe Brandon Bloch, »The Origins of Adorno’s Psycho-Social Dialectic. Psychoanalysis and Neo-Kantianism in the Young Adorno«, in: Modern Intellectual History 16:2 (2019), S. 501-529.

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terialismus aufgehoben wird, in der sein Wahrheitsmoment erhalten bleibt und überdauert. Zu jener Zeit, als er die Negative Dialektik verfasste, konnte Adorno auf seine philosophische Laufbahn wie auf eine Reihe von Variationen stets des einen Themas zurückblicken. »Seitdem der Autor den eigenen geistigen Impulsen vertraute, empfand er es als seine Aufgabe, mit der Kraft des Subjekts den Trug konstitutiver Subjektivität zu durchbrechen«, wie er dazu in der »Vorrede« des Buchs notiert.17 Dies ist der reife Ausdruck jener dialektischen Hinwendung zum Materialismus, die bereits in den Werken des jungen Gelehrten zu erkennen war. Trotz bestimmter Abweichungen in ihrer Ausformulierung können wir also Adornos anhaltende Treue zu der grundlegenden These konstatieren, dass der Materialismus nicht dadurch am besten zu entwickeln ist, dass man das Subjekt einfach außer Acht lässt, sondern vielmehr dadurch, dass dessen ureigenste Sphäre analysiert wird, um die Illusion ihrer Autorität auf diesem Wege nur umso nachhaltiger erschüttern zu können. »Als dialektische muß Theorie – wie weithin die Marxische – immanent sein, auch wenn sie schließlich die gesamte Sphäre negiert, in der sie sich bewegt«, so Adorno im späteren Verlauf der Negativen Dialektik. 18 Auf diesem Punkt beharrt er nicht zuletzt deshalb so sehr, weil er eine scharfe Abgrenzung zwischen seiner eigenen philosophischen Auffassung vom Materialismus und einem Materialismus im »vulgärmetaphysischen« Sinne vornehmen will. Und dieser Unterschied ist beträchtlich. Denn Materialismus im vulgären Sinne ist einfach nur der Name, den wir einer reduktionistischen, aber dennoch freischwebenden Metaphysik geben, die keinerlei Verbindungen zu dem Idealismus hat, dem sie gegenübergestellt wird. Ein Materialismus im genuin dialekti-

17 GS 6, S. 10. 18 Ebd., S. 197 (meine Hervorhebung, P. G.).

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schen Sinne entsteht hingegen überhaupt erst dann, wenn er die Lehren des Idealismus selbst erst einmal in sich aufgenommen hat. Oder wie Adorno es formuliert: »Materialismus ist […] keine durch Entschluß zu beziehende Gegenposition mehr, sondern der Inbegriff der Kritik am Idealismus […].« 19 Diese Unterscheidung ist besonders aufschlussreich, da Adorno hier erklären möchte, wie sein eigener Materialismus den Irrweg eines geistlosen Positivismus vermeidet. Und erneut taucht dabei jene dialektische Geste eines Durchgangs durch die Präsuppositionen des Idealismus selbst auf. Denn letztlich ist es ja dieser, der die Preisgabe des Geistes am meisten fürchtet. Die Angst, dass das Bewusstsein zum Stillstand gebracht und unter das »unmittelbar Gegebene« gezwungen werden könnte, ist in erster Linie jedoch eine Fiktion, die das Bewusstsein selbst erfunden hat, und zwar hauptsächlich zu dem Zweck, um mit ihr sein fortwährendes Primat abzusichern. 20 Der Idealismus missinterpretiert den Materialismus als Positivismus, um ihm dadurch seiner Legitimität zu berauben. Ihn auf diesem Wege zurückweisen zu wollen, wäre aber ein eher unausgegorener Schachzug. »Materialismus ist« nämlich, wie Adorno erklärt, »nicht das Dogma, als das seine gewitzigten Gegner ihn verklagen, sondern Auflösung eines seinerseits als dogmatisch Durchschauten; daher sein Recht in kritischer Philosophie.« 21 Will er den Irrtum eines positivistischen Materialismus bekämpfen und seine Wahrheit für die kritische Theorie zurückgewinnen, so kann er dies aber eben nicht durch einen bloßen Wechsel des Terrains erreichen, sondern nur durch eine Demontage des idealistischen Dogmas von der Vorherrschaft des Geistes, die aus seinem Inneren heraus erfolgen muss. In seinem Spätwerk kündigt sich diese Wende zum Materialis19 Ebd. 20 Ebd. 21 Ebd.

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mus unter dem Stichwort vom »Vorrang des Objekts« an. 22 Adorno wählt diese Formulierung mit Bedacht, da sie eine Abstufung und kein absolutes Dominanzverhältnis impliziert. Er missversteht Vorrang also nicht als einen exklusiven Anspruch auf metaphysische Realität – oder anders ausgedrückt, er erkennt an, dass sowohl Subjekt als auch Objekt weiterhin eine unverzichtbare Rolle in der Philosophie spielen müssen; keines von beiden kann vollständig im jeweils anderen aufgehen. Seine Absicht ist es auch nicht, das Primat des Subjekts einfach durch seine brachiale Umkehrung herauszufordern. Vielmehr akzeptiert er dessen Primat, und das auch noch im Versuch, über es hinauszugelangen. Der Grund dafür ist hauptsächlich, dass der vom Subjekt erhobene Anspruch auf seine Vorrangstellung ein initiales, aber notwendiges Moment in seinem Unterfangen darstellt, sich aus seinem eigenen dinghaften Feststehen zu befreien. »Die Wendung zum Subjekt […] verschwindet nicht einfach mit ihrer Revision; diese erfolgt nicht zuletzt im subjektiven Interesse von Freiheit«, wie Adorno an anderer Stelle schreibt. 23 Aber er akzeptiert den Vorrang des Subjekts auch bereits aus rein epistemologischen Gründen, da er den wahren Kern von Kants sogenannter kopernikanischer Wende anerkennt: Die objektive Welt wird durch die Subjektivität erkannt, und die vermittelnde Rolle des Subjekts in der Erkenntnis kann nicht eliminiert werden, ohne damit die wohlgeordnete Struktur der objektiven Wirklichkeit selbst zunichte zu machen. Mit der Behauptung eines Vorrangs des Objekts möchte Adorno nun den Gedanken zum Ausdruck bringen, dass das dialektische Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt nicht vollkommen symmetrisch ist. »Vorrang des Objekts heißt vielmehr, daß Subjekt in einem qualitativ anderen, radikaleren Sinn seinerseits Objekt sei 22 Ebd., S. 184-187. 23 In »Zu Subjekt und Objekt«, GS 10.2, S. 741-758, hier S. 746.

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als Objekt, weil es nun einmal anders nicht denn durch Bewußtsein gewußt wird, auch Subjekt ist«, wie es bei ihm heißt. 24 Es ist zwar trivialerweise wahr, dass das Objekt nur durch das Bewusstsein gewusst werden kann, aber es ist dennoch mehr als nur unser Wissen um es: »Das durch Bewußtsein Gewußte muß ein Etwas sein«, so Adorno. Bereitwillig pflichtet er daher auch der Lektion jener kopernikanischen Wende bei, dass das Subjekt eine notwendige und vermittelnde Rolle bei der Konstitution von Objekten spielt, beharrt aber noch auf einer weiteren Implikation, dass sich nämlich »Vermittlung […] auf Vermitteltes« beziehe. 25 Es wäre ohne Zweifel naheliegend, selbst diese These als bloß abgewandelte Ausformulierung von Kants transzendentalem Idealismus zu begreifen, in dem das Ding an sich als ein quasimetaphysischer, wenn auch unerkennbarer Aspekt der Wirklichkeit aufgefasst wird, der jenseits aller möglichen Erfahrung liegt. Adorno warnt jedoch vor dieser Interpretation. Denn damit der Vorrang des Objekts überhaupt bestätigt werden könne, müsse es auch irgendwie bestimmbar oder, in seinen eigenen Worten, »mehr also denn das Kantische Ding an sich als unbekannte Ursache der Erscheinung« sein. 26 Ich werde nun zeigen, dass diese These weitreichende Konsequenzen hat für seine Idee vom Nichtidentischen als etwas, was innerhalb und nicht außerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung auftritt. Die starke Asymmetrie zwischen Subjekt und Objekt wird an der Stelle besonders deutlich, wo Adorno die recht sonderbare Behauptung aufstellt, das Subjekt sei zugleich auch Objekt. Das Subjekt müsse etwas sein und nicht nichts, und das heiße, dass es ein »irreduzibel objektives Moment« besitze. Tatsächlich könne das Subjekt kaum eine wesentliche Rolle in der Konstitution der ob24 Ebd. (meine Hervorhebung, P. G.). 25 Ebd. 26 Ebd., S. 748.

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jektiven Welt spielen, wenn es nicht als »ein Seiendes« rangieren würde. Obwohl wir es uns möglicherweise also lieber als einen »actus purus« oder reine Denkgeste vorstellen würden, müssen wir das Subjekt ihm zufolge trotzdem als »ein Agierendes« verstehen. Seine Objektivität lasse daher »nicht sich eskamotieren«. 27 (Wie ich später noch näher ausführen werde, spielt das Objektivitätsthema für Adornos Auffassung vom Subjekt als materiellem, sinnlichem Wesen tatsächlich eine ganz entscheidende Rolle.) Der Umkehrschluss gilt für ihn hingegen nicht: Damit das Objekt Objekt sein kann, muss es nicht zugleich auch Subjekt sein. Das Objekt ist zwar auch vermittelt, muss also den eigenen konstitutiven Bedingungen des Subjekts gehorchen, wenn es ein Gegenstand möglicher Erfahrung sein soll; die Tatsache seiner Vermitteltheit durch die konstitutiven Bedingungen des Subjekts zum Zwecke der Erkenntnis setzt jedoch für sein bloßes Dasein eine solche Vermittlung nicht voraus. Und daher rührt für Adorno eben die erwähnte Asymmetrie, die er in der Negativen Dialektik wie folgt auf den Punkt bringt: Vermöge der Ungleichheit im Begriff der Vermittlung fällt das Subjekt ganz anders ins Objekt als dieses in jenes. Objekt kann nur durch Subjekt gedacht werden, erhält sich aber diesem gegenüber immer als Anderes; Subjekt jedoch ist der eigenen Beschaffenheit nach vorweg auch Objekt. Vom Subjekt ist Objekt nicht einmal als Idee wegzudenken; aber vom Objekt Subjekt. Zum Sinn von Subjektivität rechnet es, auch Objekt zu sein; nicht ebenso zum Sinn von Objektivität, Subjekt zu sein. 28

Hier geht es also um eine Frage asymmetrischer Abhängigkeitsverhältnisse: Während der Idealismus das Objekt als abhängig vom Subjekt betrachtet, versteht er das Subjekt als abhängig vom 27 Ebd., S. 747. 28 GS 6, S. 184.

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Objekt. Auch das Objekt sei zwar subjektiv und sozial vermittelt, allerdings »nur nicht dem eigenen Begriff nach so durchaus auf Subjekt verwiesen wie Subjekt auf Objektivität«. 29 Diese Abhängigkeit lässt sich aber auch in einem profaneren Sinne verstehen. Als Materialist weigert sich Adorno nämlich, dem Subjekt im Verhältnis zur materiellen Welt einen herausgehobenen Status zuzusprechen. Denn da der Mensch in seinen Augen keinen Deut weniger Objekt ist als die ihn umgebenden materiellen Gegenstände, ist seine Abhängigkeit von ihnen eine Sache des puren Überlebens. Den eigenen Status als Objekt zu verlieren, würde daher bedeuten, sich selbst vollkommen zu verlieren. Diese materialistische Einsicht in die radikale Abhängigkeit des Menschen scheint mir die tiefere Bedeutung von Adornos Behauptung zu sein, dass das Subjekt auch Objekt ist. Doch wie dem auch sei, angesichts dieser grundlegenden Asymmetrie urteilt er jedenfalls, dass der Vorrang nicht dem Subjekt, sondern dem Objekt zugesprochen werden sollte. Im Rahmen einer raffinierten (wenn auch vielleicht eher kontraintuitiven) Interpretation der Kritik der reinen Vernunft vertritt Adorno die Ansicht, dass wir sogar in Kants Philosophie eine Anerkennung des Primats des Objekts entdecken könnten. Trotz ihrer wohlbekannten These von der Spontaneität des Verstandes ist die kantische Doktrin für ihn zwischen Aktivität und Passivität hin- und hergerissen, weil der Verstand nur dann wirkliche Erkenntnis erlangen könne, wenn er seine Abhängigkeit von dem akzeptiere, was ihm in der Erfahrung gegeben sei. Kant verorte das Ding an sich zwar jenseits aller möglichen Erfahrung, sehe aber ein, dass es zugleich auch die Bedingung für die Erfahrung sei: »Keine Objektivität des Denkens als eines Aktes wäre überhaupt möglich, wäre Denken nicht in sich selber, der eigenen Gestalt nach, immer auch gebunden an das, was nicht selbst Denken 29 GS 10.2, S. 747.

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ist […].« 30 Für Adorno bedeutet das, dass zu jedem Denken nicht nur Aktivität, sondern auch eine tiefere und sogar noch wirkmächtigere Passivität gehören muss. Damit Erfahrung überhaupt möglich ist, braucht es ihm zufolge also ein Vermögen zur Passivität, vergleichbar mit dem, was in der Psychoanalyse als »Objektbesetzung« bezeichnet wird: Wo es [das Denken; Anm. d. Ü.] wahrhaft produktiv ist, wo es erzeugt, dort ist es immer auch ein Reagieren. Passivität steckt im Kern des Aktiven […]. Seine Anstrengung fällt zusammen mit seiner Fähigkeit zu jener. Die Psychologie nennt sie Objektbeziehung oder Objektbesetzung. Sie reicht aber weit hinaus über die psychologische Seite des Denkvorgangs. Objektivität, die Wahrheit der Gedanken hängt an ihrer Relation zur Sache. 31

Ungeachtet der Lehre von der Objektkonstitution ist Adorno also der Auffassung, dass diese »Objektbesetzung« eine Voraussetzung für jede Art von Erfahrung ist. »Denken als subjektiver Akt muß erst recht der Sache sich überantworten, wo es, wie Kant und die Idealisten es lehrten, die Sache konstituiert oder gar produziert«, wie er schreibt. 32 Diese Besetzung oder Kathexis des Objekts betrachtet er nun allerdings als etwas, was seiner Bedeutung nach weit über die bloße Erkenntnistheorie hinausgehe. Denn das, was er »den zerbrechlichen […] Vorrang des Objekts« nennt, wird für ihn zu einem Charakteristikum unserer Erfahrung als körperliche Wesen, deren Bedürfnis nach animalischer Wärme sie an die Welt bindet. In einer seiner bemerkenswertesten Formulierungen drückt er dies so aus, »daß Denken einem Objekt sich anschmiegen muß«. 33 Das Thema des Vorrangs des Objekts verweist uns somit 30 »Anmerkungen zum philosophischen Denken«, GS 10.2, S. 599-607, hier S. 601. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 602 (meine Hervorhebung, P. G.).

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auf eine Kategorie, die für Adornos Philosophie von einzigartiger Bedeutung ist: die Kategorie der Erfahrung. 34

Die Hinwendung zur Erfahrung In Kapitel 2 habe ich das Thema des Glücks oder des menschlichen Gedeihens eingeführt und erklärt, dass Adorno eine sehr weite Vorstellung vom Glück vertritt, die die vollständige Anerkennung unseres materiellen Lebens beinhaltet. In diesem Kapitel bin ich darum bemüht, die These näher zu erläutern, dass er als Materialist verstanden werden sollte, und habe dazu eine, wie ich glaube, im Großen und Ganzen akkurate Rekonstruktion seiner Argumentation zugunsten des Vorrangs des Objekts vorgelegt. Allerdings ist es wichtig, dass wir die Bedeutung dieses Primats nicht missverstehen. Die Hinwendung der philosophischen Aufmerksamkeit zum Objekt sollte nicht fälschlicherweise als ein bloßer Rückfall in eine subjektlose Unmittelbarkeit interpretiert werden. Vielmehr erfordert sie die, so Adorno, »zweit[e] Reflexion der Kopernikanischen Wendung«. 35 Demnach muss die Philosophie die konstitutive Macht des Subjekts zwar vorbehaltlos anerkennen, diese Macht aber auch zugleich von innen heraus in Fra-

34 Die eher ungewöhnliche These, dass Erfahrung bedeute, sich dem Gegenstand »anzuschmiegen«, findet sich auch an anderen Stellen seines Werks wieder. So bezieht Adorno sich in seinen Vorlesungen zur Einführung in die Dialektik auf das Ideal einer »Freiheit […], dieser Realität sich zu überlassen und gewissermaßen dem Objekt sich anzuschmiegen, dem Objekt zu folgen«, und fügt noch hinzu, dass »[d]iese Art der Schmiegsamkeit, der produktiven Passivität oder der spontanen Rezeptivität« eigentlich den Begriff der Erfahrung ausmache (NGS, Abt. IV, Bd. 2, S. 119). Obwohl er dieses Begriffsverständnis hier eigentlich Hegel zuschreibt, dürfen wir annehmen, dass auch er selbst diesen Erfahrungsbegriff geteilt hat. 35 GS 10.2, S. 752.

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ge stellen. Es obliegt somit dem Subjekt, dass es in einem Zustand kritischer Bewusstheit eine bessere Einsicht in die Grenzen seiner Autorität gewinnt. Nach Adorno ist nämlich »[e]inzig subjektiver Reflexion, und der aufs Subjekt, […] der Vorrang des Objekts erreichbar«. 36 Diese Aussage aus der Negativen Dialektik gemahnt stark an ihr kantisches Vorbild: Die kopernikanische Wendung, wie Kant sie verstanden hat, besagte ja, dass die Vernunft sowohl das Ausmaß als auch die Grenzen ihrer Erkenntnis festlegt. Und diese doppelte Einsicht sei nur durch einen Akt ihrer kritischen Selbstreflexion erreichbar. In seiner Forderung nach einer zweiten kopernikanischen Revolution geht es Adorno nun nicht darum, die Vernunft erneut um 180 Grad zu wenden und damit wieder zurück an ihren Ausgangspunkt zu bringen – als wäre jene erste Stufe der Selbstkritik nie erreicht worden –, sondern er betrachtet seine eigenen philosophischen Bestrebungen vielmehr als eine dialektische Überwindung ihres Kant’schen Vorbilds. Konkret heißt das: Adorno schließt sich Kants Idee zwar an, dass wir die Legitimität unserer Erkenntnisansprüche nur vermittels eines Akts der Selbstkritik erweisen können, ist zugleich aber auch der Überzeugung, dass diese Geste bei Kant nicht weit genug ging, da er sich die Grenzen unserer Erkenntnis nur als eine feststehende Limitierung aller möglichen Erfahrung vorstellen konnte und die Erfahrung jener Begrenzung innerhalb der Erfahrung selbst nicht berücksichtigt habe. Eine echte Hinwendung zum Objekt würde hingegen darin bestehen, dass wir über das Prinzip hinausgelangen, demzufolge das Subjekt innerhalb seiner eigenen Sphäre volle Souveränität genießt; stattdessen würde sie implizieren, dass es selbst in Bezug auf seine eigene Erfahrungswelt eine epistemisch bescheidene Haltung einnimmt. Von ihrer kantischen Vorgängerin würde diese Wendung jedoch die entscheidendste 36 GS 6, S. 186.

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Erkenntnis aufbewahren, die nämlich, dass unsere Erfahrung stets schon ein Moment der Nichtidentität in sich enthält, welches die konstitutive Macht des Verstandes in Frage stellt: Auch nach der zweiten Reflexion der Kopernikanischen Wendung behält Kants anfechtbarstes Theorem, die Distinktion von transzendentem Ding an sich und konstituiertem Gegenstand, einige Wahrheit. Denn Objekt wäre einmal das Nichtidentische, befreit vom subjektiven Bann und zu greifen durch dessen Selbstkritik hindurch […]. 37

Adorno ist also der Überzeugung, dass Kant damit richtiglag, das Ding an sich als das aufzufassen, was dem Subjekt gegenüber nichtidentisch ist, und erahnte auch schon die weiterführenden Implikationen dieser Idee, dass nämlich diese Nichtidentität den »Bannspruch« der Herrschaft des Subjekts über seine eigene Erfahrung breche. Kant selbst habe diese Folgerungen jedoch nicht in Gänze akzeptieren können, sondern an seinem »unerschütterten Glauben an den Primat der Subjektivität« festgehalten.38 Das heißt, dass er sich das Nichtidentische einzig als das erhabene Andere der Erkenntnis hatte vorstellen können. Was er hingegen nicht erkannte, war der Umstand, dass das Nichtidentische nicht jenseits aller möglichen Erfahrung als ein unbekanntes und unerkennbares Ding an sich liegt, sondern sich als ein Moment des Widerstands oder des Andersseins offenbart, das für die Welterfahrung selbst konstitutiv ist. Die Hinwendung zum Objekt kulminiert daher in einer neuen Theorie der Erfahrung. Adorno ist sich der Tatsache schmerzlich bewusst, dass der Erfahrungsbegriff in der modernen Philosophie von Ambivalenzen und Kontroversen belastet ist. 39 Dieser kann 37 GS 10.2, S. 752 (meine Hervorhebung, P. G.). 38 GS 6, S. 188. 39 Eine Untersuchung des Erfahrungsbegriffs findet sich in Martin Jay,

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nämlich sowohl als Freifahrtschein für einen geistlosen Empirismus als auch als für Exkursionen in die grenzenlose Schwärmerei herangezogen werden, auf die eine rationale Kritik überhaupt keinen Zugriff mehr hat. Besonders deutlich ist für Adorno jedoch, dass die Möglichkeit unserer Offenheit für die Erfahrung unter den modernen Bedingungen sozialer Konformität nur noch unwahrscheinlicher geworden ist. Der klassische Ideologiebegriff, der einstmals hinreichend dafür erschien, unsere freiwillige Unterwerfung unter gesellschaftlich repressive Institutionen zu erklären, ist für die Verhältnisse im Spätkapitalismus ihm zufolge nicht mehr geeignet. Denn heute stehen wir vor der Situation, dass selbst unsere innersten Wünsche und Bedürfnisse so beeinflusst werden, dass sie die Illusion eines harmonischen Passungsverhältnisses zwischen Bewusstsein und Gesellschaft erzeugen. Zur Erklärung dieser Illusion führten Adorno und Horkheimer die Theorie der Kulturindustrie ein. Diese war für sie weit mehr als nur ein Ansatz zur Erklärung massenmedialer Phänomene (wie etwa das des populären Films oder der Werbung); »Kulturindustrie« hieß in diesem Kontext vielmehr jene spätmoderne ideologische Ausprägung, die wie ein kantischer Schematismus auf die Präformation individueller Erfahrung einwirkt. Unsere innersten Glaubenssätze wie unsere öffentlichen Äußerungen werden demnach nicht aus einer unstrukturierten Begegnung mit unserer Umwelt heraus geboren, sondern werden uns in stereotypisierter Form gegeben, und zwar erst dann, wenn sie die Standardisierungsprozesse jener kulturellen Industrie bereits durchlaufen sind. 40 Diese Prozesse erkennen dabei ausschließlich den Imperativ der instrumentellen Vernunft an, demzufolge sich alles dem Prinzip des Warentauschs unterwerfen möge. Damit beherrscht dieser inSongs of Experience. Modern European and American Variations on a Universal Theme, Berkeley 2005. 40 Zum Vergleich mit dem Schematismus Kants siehe GS 3, S. 145f.

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strumentelle Imperativ nahezu unser gesamtes Verhalten, und das nicht in unseren Begegnungen mit anderen Subjekten, sondern sogar in unserer Konfrontation mit Alltagsgegenständen. Tatsächlich hat er nach Adorno unsere Befähigung zur Erfahrung in einem solchen Ausmaß korrumpiert, dass wir mittlerweile ein »Aus-« oder »Absterben der Erfahrung« bis hin zu dem Punkt befürchten müssen, an dem das Subjekt vollständig in sich selbst eingekerkert ist. 41

Offenheit und Vulnerabilität Um Missverständnisse zu vermeiden, müssen wir uns klar vor Augen halten, dass Adorno eine wichtige Unterscheidung zwischen emphatischen (oder normativ reichhaltigen) Erfahrungen und Erfahrungen im konventionellen (oder normativ verarmten) Sinne vornimmt. 42 Tatsächlich ist es für das Gelingen von Adornos kritischem Projekt insgesamt von höchster Bedeutung, dass er sich nicht zu der These versteigt, unsere Befähigung zur emphatischen Erfahrung wäre schon vollständig erloschen. Er gibt zwar zu, dass sie aktuell gefährdet ist oder sich im Prozess des Absterbens befindet, bestreitet aber die übertriebene Schlussfolgerung, dass sie überhaupt nicht mehr möglich wäre. Meistens bescheidet er sich sogar damit, uns in einem verzweifelten Ton von »den in sich bruchlosen, stromlinienförmigen, kategorialen Formen« zu berichten, »die heute zu den vorwaltenden werden«. 43 Das »Verküm-

41 GS 4, S. 19. 42 Eine genauere Untersuchung der »emphatischen Erfahrung« findet sich in Lambert Zuidervaart,Truth in Husserl, Heidegger, and the Frankfurt School. Critical Retrieval, Cambridge (Mass.) 2017, und in J. M. Bernstein, Adorno. Disenchantment and Ethics, Cambridge 2001, S. 420-429. 43 NGS, Abt. IV, Bd. 2, S. 261.

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mern der Erfahrung« ist also, anders formuliert, für Adorno eine Tendenz, aber noch nicht ein Endzustand. Und obgleich sich nicht bestreiten lässt, dass er unsere Erfahrungsfähigkeit als immer stärker von der Kulturindustrie und der vorherrschenden Tendenz zur gesellschaftlichen Uniformität unterlaufen betrachtet, so hält er dennoch an seiner Auffassung fest, dass Momente der Erfahrung im höheren Sinne zumindest noch eine Möglichkeit sind, auch wenn die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens allmählich gegen null tendiert. Wir sind nun bei einem der eher rätselhaften Themen in Adornos Philosophie angelangt. Erfahrungen, die trotz allem noch als wahr oder emphatisch gelten können, besitzen in ihr die Qualität materieller Offenbarungen. Sie seien »Momente […], wo die lebendige Erfahrung oder die lebendige Erkenntnis die Kruste der verdinglichten, uns vorgegebenen konventionellen Anschauungen und Begriffe durchbricht«, wie es bei ihm heißt. 44 Dieser Auffassung nach sind Erfahrungen solcher Art in dem Sinne besonders, dass sie uns eine Ahnung von den Dingen in ihrer Singularität vermitteln und uns nicht einfach nur eine Reproduktion dessen vor Augen führen, was für uns bereits vorverdaut worden ist. Dies ist nach Adorno also der Punkt, an dem »wir wirklich etwas erkennen, wo unser Denken seine Sache erreicht, anstatt daß es sich abspeisen läßt mit der bereits gesellschaftlich approbierten Einsicht über den Gegenstand, die je schon gegeben ist«. 45 Eine derartige Erfahrung beschreibt er als »eine Art von Zusammenstoß« oder »Explosion«, aus der »das Jähe und Aufleuchtende des sogenannten Intuitiven« aufsteige. 46 Dabei legt er allerdings Wert auf die weitergehende Feststellung, dass keine solche Erfahrung gänzlich ohne Vorgeschichte stattfinde, denn sie wäre gar nicht mög44 Ebd., S. 144. 45 Ebd. 46 Ebd.

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lich, gäbe es nicht »jenes ganze Geflecht der Erfahrungen, das sich in uns vollzieht und lebendig vollzieht nur so und gerade in der Weise, wie wir nicht kontrolliert denken, wie wir noch etwas wie die Freiheit unseres Bewußtseins überhaupt uns bewahren, wie unser Denken nicht bereits zugerichtet ist von den Normen, denen es unterworfen werden soll«. 47 In solchen Momenten emphatischer Erfahrung wird uns ein kurzer Blick auf das Nichtidentische zuteil. Wie ich im vorigen Kapitel diskutiert habe, ist eine emphatische Erfahrung insofern mit einem emphatischen Begriff vergleichbar, als auch sie die Rolle eines normativen Maßstabs spielt, mit dessen Hilfe wir die Verzerrungen unserer Erfahrungen im landläufigen Sinne bestimmen können. Ein solcher Maßstab ist mithin anspruchsvoller als die rein konventionellen Normen, die für gewöhnlich unsere Alltagserfahrung restringieren. Hätte Adorno nicht an die Möglichkeit dieser Art von besonderer oder emphatischer Erfahrung geglaubt, dann hätte er auf gar keinen Standard mehr zurückgreifen können, um anhand seiner zu dem Urteil zu gelangen, dass unsere alltägliche Erfahrung verzerrt oder verfehlt ist. Zwar sind solche Erfahrungen in seinen Augen alles andere als ein reguläres Schauspiel, da unsere soziale Zurichtung hinreichend mächtig ist, um uns als Menschen für gewöhnlich darin auszubremsen, jene vielfältigen Vermögen auszubilden, die wir brauchen, um sie als solche zu erkennen; praktisch alles an unserer gesellschaftlichen Ordnung ist daher auch darauf ausgelegt, dass diese Vermögen in einem elementaren Entwicklungsstadium verbleiben, auch wenn sie noch nicht gänzlich verschwinden. Adorno ist aber trotzdem eindeutig der Auffassung, dass die emphatische Erfahrung zumindest eine winzige Möglichkeit bleibt, und nur dieser besonderen Erfahrungsweise ist es ihm zufolge zu verdanken, dass wir von Zeit zu Zeit eben doch die konventionalisierten Schemata durch47 Ebd.

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brechen und dem Nichtidentischen in seiner irreduziblen Partikularität begegnen können. Zu der subjektiven Disposition, die diese Erfahrungen möglich macht, gehört es, eine bestimmte Haltung der Offenheit und Antizipation einzunehmen. »Jede Theorie« sei, wie Adorno uns mitteilt, »offen« und müsse es bleiben, ebenso wie die Erfahrung selbst. 48 Und so wie bei der »offenen« Dialektik, die er sich – im Gegensatz zu der »geschlossenen« Dialektik der deutschen Idealisten – für die Philosophie angeeignet hat, ist er auch in diesem Zusammenhang der Überzeugung, dass wir uns der Welt in unserem praktischen Verhalten nicht so nähern sollten, als hätten wir uns gegen sie mit dem ganzen Arsenal unserer Begriffe und Kategorien bewaffnet. Stattdessen sollten wir eine Pose der Offenheit für das einnehmen, was uns unsere Erfahrung bringen mag. Wie Adorno diese Pose charakterisiert, verdient eine genauere Betrachtung: Seiner Erkenntnis nähert sich der Akt, in dem das Subjekt den Schleier zerreißt, den es um das Objekt webt. Fähig dazu ist es nur, wo es in angstloser Passivität der eigenen Erfahrung sich anvertraut. An den Stellen, wo die subjektive Vernunft subjektive Zufälligkeit wittert, schimmert der Vorrang des Objekts durch; das an diesem, was nicht subjektive Zutat ist. 49

Diese Zeilen gehören vielleicht zu den faszinierendsten, die Adorno je geschrieben hat, und es dürfte auch nicht unwichtig sein, dass sie zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht geblieben sind; ihr Ton ist zu ungeschützt, ganz so wie die Einstellung, zu der sie raten. Und obgleich ihre Botschaft an dieser Stelle unentwickelt bleibt, so liefern sie doch die Skizze für eine, wie wir sie nennen 48 Ebd., S. 145. 49 GS 10.2, S. 752.

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können, Ethik der Vulnerabilität: Das menschliche Wesen kann seine Menschlichkeit demnach nur dann verwirklichen, wenn es – in vollem Bewusstsein, ohne Naivität und willentlich – seine intellektuelle Bewaffnung ablegt und sich selbst der Welt übereignet. 50 Adorno beschreibt diese Haltung als unsere »Offenheit« für die Erfahrung, eine Haltung, die eine besondere Nähe zum Empirismus aufweise. In der letzten Sitzung seiner Vorlesungsreihe zur Metaphysik aus dem Jahr 1965 bemerkt er dazu, dass jenes Konzept der Offenheit aber auch die »Möglichkeit des Enttäuschtwerdens« in sich berge. 51 Sie impliziert demnach also Verletzlichkeit und sogar das Risiko, Leid zu verspüren. 52 Das ist nun die tiefere, 50 Adorno führt diesen Gedanken auch an vielen weiteren Stellen seines Werks aus. Siehe zum Beispiel seine Kommentare zu der wahren Einsicht in die Begrenzungen der menschlichen Freiheit und Subjektivität in Fällen von Zwangsneurose: »[D]ieses Gefühl des Das-bin-ich-doch-gar-nicht, das man an der Zwangsneurose aktualisiert, das hat ebenso etwas Scheinhaftes wie etwas Wahres. Es ist deshalb Schein, weil dieses Ich, das man darin als etwas Festes und Gegebenes ansieht, ja selber gar kein Seiendes sondern etwas höchst Prekäres ist, dessen eigene Hinfälligkeit einem nur an diesen Erlebnissen deutlich wird. Es ist aber auf der anderen Seite auch wieder wahr, weil das Ich seine Möglichkeit, gegen die ein solcher Zwang sich verfehlt, als sein eigenes Wesen eben doch weiß. Das Subjekt weiß – möchte ich damit also sagen – die innere Kausiertheit seiner Impulse als nicht eigene […].« Aus dieser Analyse schließt er dann, dass in unserem Freiheitsbegriff eine Antinomie vorliege und wir daher »frei und nicht frei in eins sind« (beide Zitate aus NGS, Abt. IV, Bd. 13, S. 302f.). 51 NGS, Abt. IV, Bd. 14, S. 220. Zum Begriff der Enttäuschung bei Adorno siehe Max Pensky, »Critique and Disappointment. Negative Dialectics as Late Philosophy«, in: Peter E. Gordon u. a. (Hg.), A Companion to Adorno, Hoboken 2020, S. 503-518. 52 Hartmut Rosa geht diesem Thema in seiner soziologischen und phänomenologischen Untersuchung der »Unverfügbarkeit« nach; siehe etwa seine Bemerkungen zu »einer Weltbeziehung, welche von der dynamischen Offenheit im Verhältnis zwischen Welt und Subjekt geprägt ist«, und »einer Welthaltung, welche versucht, die damit verbundene Unsicherheit (die immer auch Risiken birgt) auszuschalten«. Rosa drängt uns dazu, diese Offenheit

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ethische Relevanz von Adornos philosophischer Hinwendung zum Objekt: Mit deren Vollendung wird die konkrete Erfahrung zu dem Schauplatz, auf dem das menschliche Subjekt erstmals die Grenzen seiner eigenen Subjektivität entdeckt und mit der Möglichkeit des Leidens wie auch des Glücks konfrontiert wird. 53

Die Natur in der menschlichen Natur In der obigen Diskussion habe ich behauptet, dass Adornos Ethik der Vulnerabilität bereits von seinem Erfahrungsbegriff impliziert wird und wir demnach erst dann wahrhaft menschlich werden, wenn wir es uns erlauben, für die Welt empfänglich zu werden. Im Folgenden möchte ich diesen Erfahrungsbegriff noch weiter ausführen, und zwar dadurch, dass ich den verschiedenen Arten und Weisen nachgehe, auf die Erfahrung für Adorno zum Ort normativer Erkenntnis wird. Bevor ich diese These jedoch genauer entwickeln kann, ist es wichtig, einem möglichen Einwand zuvorzukommen. Keiner seiner Leser würde Adorno gerne vorhalten müssen, ein Fürsprecher der Regression zu sein; seine Hinwendung zur Erfahrung könnte aber trotzdem zu dem Verdacht Anlass geben, dass das, was er eigentlich herbeigesehnt hat, all seinen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz eine Art geistlose Verschmelzung gewesen sein könnte, in der sämtliche kognitiven und praktischen Vermögen der menschlichen Vernunft einfach und das, was er »Resonanz« nennt, anzuerkennen und zu akzeptieren, obwohl Resonanz ihm nach »Verletzbarkeit« impliziert (Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, Berlin 2020, S. 60, 62). 53 Britta Scholze schreibt, dass das Ich nur dann als glücklich beschrieben werden könne, »wenn es sich Objekten im weitesten Sinne öffnet« und dadurch die »Verhärtung des bürgerlichen Subjekts« überwinde (Britta Scholze, »Adorno und das Glück«, in: Richard Klein u. a. [Hg.], AdornoHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2019, S. 454-462, hier S. 457).

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beiseitegeschoben werden könnten. Träfe dieser Verdacht zu, dann wäre die »zweite Wendung« der kopernikanischen Revolution kaum mehr als eine regressive Rückkehr zu jenen vorkritischen und dogmatischen Ausgangspunkten, an denen das Subjekt bei der Konstitution der Erfahrung wieder überhaupt keine Rolle spielen würde. Ein solcher Einwand würde nun zwar offenkundig fehlgehen, käme aber trotzdem nicht überraschend, da er nur ein weiteres Beispiel für jene generelle Stoßrichtung in der AdornoExegese darstellen würde, die ihn als einen Philosophen kategorisieren will, der nicht mehr an die Versprechen der Aufklärung glaubt. Um uns klarzumachen, warum diese Interpretation falsch ist, ist es hilfreich, einen kleinen Ausflug in jene »philosophischen Fragmente« zu unternehmen, die er gemeinsam mit Horkheimer verfasst hat. Die Dialektik der Aufklärung mag durchaus das »schwärzeste[ ] Buch« in der Geschichte der kritischen Theorie sein. 54 Aber wir dürfen es nicht als eine totalisierende Anklageschrift gegen die Vernunft schlechthin lesen. Zwar widmet es sich in der Hauptsache tatsächlich einer kritischen Genealogie der historischen Komplizenschaft von Vernunft und Macht, doch seine eigentliche Absicht besteht (wie bereits in der »Vorrede« von den beiden Verfassern proklamiert wird) darin, »einen positiven Begriff von ihr [der Aufklärung; Anm. d. Ü.] vor[zu]bereiten, der sie aus ihrer Verstrickung in blinder Herrschaft löst«. 55 Dieser positive Begriff ist emphatisch in dem Sinne, dass er als die unverzichtbare Norm fungiert, anhand deren der Selbstbetrug der Aufklärung überhaupt erst einmal diagnostiziert werden kann. Oder anders formuliert: Damit eine solche Selbstkritik möglich wird, muss die Aufklärung so verstanden werden, dass sie ihrem eigenen Begriff nicht ge54 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, S. 130. 55 GS 3, S. 16 (meine Hervorhebung, P. G.).

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recht geworden ist. Nur dies kann erklären, warum die Autoren ihre Behauptung »Aufklärung ist mehr als Aufklärung« für gerechtfertigt halten: 56 Die Nichtidentität innerhalb ihres Begriffs erlaubt ihnen nämlich die Annahme, dass Aufklärung – aller gegenläufigen geschichtlichen Belege zum Trotz – »der Herrschaft überhaupt entgegengesetzt« sei. 57 Solange sie diese Nichtidentität im Blick behalten, kann die These vom »Umschlag der Aufklärung in den Mythos« in der Tat nicht als einseitige und totale Verurteilung der Vernunft betrachtet werden. Sie fungiert vielmehr als eine Erinnerung daran, dass die Vernunft ihre uneingelöste Verheißung immer noch aufrechterhält. Denn »[j]eder Fortschritt der Zivilisation hat mit der Herrschaft auch jene Perspektive auf deren Beschwichtigung erneuert«, wie Horkheimer und Adorno schreiben. 58 Und dieses Versprechen könnte nicht erfüllt werden, wenn die Vernunft ihre eigenen Errungenschaften einfach verwerfen würde. Stattdessen brauche es dringend eine »Selbstbesinnung eben des Denkens«. 59 Aufklärung in diesem selbstreflexiven Sinne kann also nicht den bloßen Rückfall des Subjekts in seinen prärationalen Zustand bedeuten, sondern meint ihnen zufolge das »Eingedenken der Natur im Subjekt«. 60 Aus dem obigen Exkurs können wir den wichtigen Schluss ziehen, dass Adorno nicht einfach eine Rückkehr in eine vorvernünftige Erfahrungswelt herbeigesehnt hat. Die Öffnung des Subjekts für das Objekt meint demzufolge keinen Akt der Regression, sondern einen der Erinnerung (des »Eingedenkens«) und der Anerkennung, der vom Standpunkt seiner Mündigkeit her vollzogen werden muss. Nur aus der Perspektive der Rückschau eines Subjekts, das sich selbst aus einer allesverzehrenden Natur freige56 57 58 59 60

Ebd., S. 57. Ebd., S. 58. Ebd., S. 57. Ebd., S. 58. Ebd.

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kämpft hat, kann es der Natur eingedenk sein, die es verdrängt hat. »Erinnerung« sollte daher nicht mit der Erneuerung eines verlorenen Paradieses verwechselt werden und bezeichnet auch nicht ein geistfreies Arkadien, wo Schafe sicher weiden können. Auf der Höhe seiner rationalen Selbstreflexion gibt das Subjekt die kognitiven und praktischen Zugewinne, die es im Laufe der Aufklärung erzielt hat, nicht einfach auf. Denn die Idee des Menschen verwirklicht ihre eigene Wahrheit nur, wenn er gedeiht: »[K]ein Fortschritt ist derart zu unterstellen, als wäre die Menschheit überhaupt schon und könne deshalb fortschreiten. Vielmehr wäre er erst ihre Herstellung […].« 61 Der emphatische Begriff der Humanitas ist daher teleologischer und nicht deskriptiver Art. Das dürfte im Übrigen auch die tiefere Bedeutung von Adornos These »Der Mensch ist Resultat, kein είδος« sein. Und an diesem Befund hält er fest, da er als antizipatorischer Maßstab fungiert, an dem all die verschiedenen Hinsichten zu bemessen sind, in denen die historische Aufklärung ihren Begriff bislang verfehlt hat. Diese Überlegungen fließen nun sämtlich in dem Gedanken zusammen, dass das menschliche Wesen nur dann qua seiner Menschlichkeit gedeihen kann, wenn es – als vollständig aufgeklärtes Subjekt – ihm auch gelingt, sich seiner eigenen Erfahrung gegenüber zu öffnen. Dabei muss es sich demnach allerdings um eine spezielle Art von Erfahrung handeln – sie muss dem Menschen nämlich eine rückerinnernde Anerkennung jener Natur ermöglichen, die zwar Teil seiner eigenen ihm inhärenten Natur ist, von der er sich aber in seinem Kampf um seine Freiheit zugleich abgespalten hat. Deshalb müssen wir uns nun der Frage zuwenden, was Adorno unter menschlicher Natur versteht. 62 Ein wichtiger Hinweis auf 61 »Fortschritt«, GS 10.2, S. 617-638, hier S. 619. Ich danke Iain Macdonald dafür, dass er mich auf diesen Abschnitt aufmerksam gemacht hat. 62 Diese Frage war auch Gegenstand einer wichtigen Untersuchung von

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die Antwort findet sich in seiner Idee, es gehöre zum innersten Kern unseres Menschseins, dass wir sinnliche Wesen seien, deren Gedeihen von der Befriedigung ihrer sinnlichen Wünsche und Bedürfnisse abhänge. Dieser Gedanke ist ganz offensichtlich von jenem Ideal der menschlichen Freiheit inspiriert, wie Marx es verstanden hatte, der dazu schrieb: »Die Aufhebung des Privateigentums ist daher die vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften; aber sie ist diese Emanzipation grade dadurch, daß diese Sinne und Eigenschaften menschlich, sowohl subjektiv als objektiv, geworden sind.« 63 Dieser Abschnitt aus den sogenannten Pariser Manuskripten repräsentiert die frühe und eher humanistische Phase in der Laufbahn des jüngeren Marx, als er sich nicht scheute, seine Vorstellung von Freiheit in den Begriffen einer philosophischen Anthropologie auszubuchstabieren. 64 Der Mensch wird hier teleologisch als ein Wesen definiert, das nur insofern zu sich selbst kommt oder gedeiht, als es seine gesellschaftlichen Verhältnisse zulassen. Unter den Bedingungen des Privateigentums kann sich seine Natur als empirisches, sinnliches Wesen jedoch nicht verwirklichen; nur mit der Abschaffung jener Eigentumsform könnten seine Sinne überhaupt erst einmal genuin menschlich werden. Die Emanzipation des Menschen im emphatischen Sinne meint demzufolge nicht weniger als die Emanzipation seines sinnlichen Daseins. Adorno teilt mit Marx diese grundlegende Idee, dass der Mensch ein Sinneswesen ist, dessen Selbstverwirklichung als menschlich nicht von seiner vollkommenen Befriedigung als Naturwesen losgelöst werden kann. Allerdings teilt er mit ihm auch eine gewisse Zurückhaltung, was die einseitige oder reduktionistische Lesart Deborah Cook (Adorno on Nature, New York 2014), deren Befunde mein Verständnis dieses Themas unglaublich bereichert haben. 63 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, S. 540. 64 Siehe Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx.

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dieser Idee angeht, nach der der Mensch vollkommen in den Begriffen seiner elementarsten Bedürfnisse verstanden werden könnte. Deren Befriedigung ist ihm nach zwar eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung für das Menschsein. 65 Adorno betont diesen Umstand aber hauptsächlich auch deshalb so stark, weil er erkennt, dass unsere rein materielle Belohnungserfahrung mit unserer allmählichen Zivilisierung auf schwerwiegende Weise verzerrt worden ist. Der Prozess der »geschichtlichen Sublimierung« hat uns in seinen Augen nämlich bis zu dem Punkt geführt, dass wir mittlerweile eine scharfe Unterscheidung zwischen sinnlicher und intellektueller Beglückung vornehmen. Doch diese Unterscheidung stellt für ihn eine schlechte Folge der Dialektik der Aufklärung dar. Denn wir sollten uns »das buchstäbliche, sinnliche« Glück nicht so vorstellen, als wäre es etwas für unser Menschsein Besseres oder Grundlegenderes als das »unerlaubt[e] Glück des Geistes«. Mit dieser Unterscheidung vergessen wir Adorno zufolge nämlich, dass »das abgespaltene sinnliche Glück etwas ähnlich Regressives annimmt, wie das Verhältnis von Kindern zum Essen den Erwachsenen abstößt«. 66 Wahrhafte Freiheit würde diese sinnliche Regression hingegen vermeiden; sie würde vielmehr das Sinnliche mit dem Geistigen in einer allumfassenden Erfahrung menschlichen Gedeihens vereinen, die Aufklärung mit Sinnlichkeit und Vernunft mit Natur versöhnt. Diese These möchte ich dadurch illustrieren, dass ich im Folgenden drei aufschlussreiche Passagen aus Adornos Werk genauer unter die Lupe nehme.

65 Siehe Ágnes Heller, Theorie der Bedürfnisse bei Marx, Hamburg 2022. 66 GS 6, S. 243.

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Drei Illustrationen (1) Die Lotusesser. Eine wichtige Warnung vor der sinnlichen Regression findet sich in der Dialektik der Aufklärung, und zwar an jener Stelle, wo Adorno und Horkheimer sich der Episode mit den »Lotusessern« aus Homers Odyssee zuwenden. Jene Seefahrer, die von der honigsüßen Frucht essen, verfallen dort in einen Zustand des angenehmen Vergessens. Wörtlich heißt es bei Homer: »Wer nun die Honigsüße der Lotosfrüchte gekostet,/Dieser dachte nicht mehr an Kundschaft oder an Heimkehr:/Sondern sie wollten stets in der Lotophagen Gesellschaft/Bleiben, und Lotos pflücken, und ihrer Heimat entsagen.« Die beiden Autoren interpretieren diese Fabel nun als ein weiteres Symptom für die der Aufklärung immanente Dialektik von Fortschritt und Regression: Von der Warte einer fortschrittlichen Zivilisation aus betrachtet könne sich Glück eben nur in dem verzerrten Gegenbild einer geistlosen und sinnlichen Regression zeigen, die den Menschen in der modernen Gesellschaft für gewöhnlich verboten ist. Denn »[s]olche Idylle, die doch ans Glück der Rauschgifte mahnt, mit deren Hilfe in verhärteten Gesellschaftsordnungen unterworfene Schichten Unerträgliches zu ertragen fähig gemacht wurden, kann die selbsterhaltende Vernunft bei den Ihren nicht zugeben«, so Adorno und Horkheimer. Doch die Fantasie von einem Glück ohne jede rationale Aktivität ist für sie auch kaum mehr als eine Schimäre, die auf jene Natur zurückprojiziert wird, der wir entronnen sind. »Jene [Idylle] ist in der Tat der bloße Schein von Glück, dumpfes Hinvegetieren, dürftig wie das Dasein der Tiere«, wie sie schreiben. 67 Die Autoren sind sich also gewiss, dass diese Episode uns nicht ein wahrhaftes Bild des menschlichen Glücks vorführt, sondern bestenfalls »die Absenz des Bewußtseins von Unglück«. 67 GS 3, S. 81 (meine Hervorhebung, P. G.).

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Unsere Bestrebungen müssten sich daher stattdessen nach vorne richten, und zwar auf einen Zustand hin, der weit mehr als Regression wäre, denn »Glück […] enthält Wahrheit in sich«. 68 Das Ideal unserer tatsächlichen Erfüllung könnte also nicht darin bestehen, dass wir uns einer wohligen Ahnungslosigkeit hingeben, da das Glück »wesentlich ein Resultat« sei. Jenes Glück, das der Menschheit am Ende ihres Entwicklungsgangs winke, umfasse deshalb zwar auch unsere sinnliche Erfüllung, aber eben nur als notwendige und nicht schon als hinreichende Bedingung, da es eben in der Verwirklichung unseres Menschseins im umfassendsten Sinne bestünde. (2) Somatische Lust. Adornos Antipathie gegenüber der Regression ins Natürliche ist zwar in seinem gesamten Werk unübersehbar, hält ihn jedoch nicht von dem Versuch ab, zugleich das rein sinnliche Element in der menschlichen Erfahrung vor jenen repressiven gesellschaftlichen Normen bewahren zu wollen, die unsere Vorstellung vom menschlichen Glück so grundlegend entstellt haben. Und obgleich er Wert auf die Feststellung legt, dass mehr zu unserem Glück gehöre als nur eine Vereinigung mit der Natur, bekennt er sich mit gleicher Verve auch zu dem Prinzip, dass Glück eine vollumfängliche Anerkennung des Körpers und seiner sinnlichen Gelüste einschließen muss. Dieses Prinzip wird in seinen Bemerkungen über den ambivalenten Status der Lust in der Psychoanalyse ganz besonders stark betont. In seinen diesbezüglichen Überlegungen, die er in Minima Moralia unter dem Titel »Diesseits des Lustprinzips« ausführt, kritisiert er Freud für seine »unaufgeklärte Aufklärung«. Erneut begegnen wir hier jener impliziten Logik, die das Scheitern der Aufklärung an ihrem eigenen emphatischen Begriff feststellt. Die Verdrängung, die Freud als für eine aufgeklärte Zivilisation notwendig erachtet, verwandle die Vernunft in einen »bloße[n] Überbau«, weil sie in dessen 68 Ebd. (meine Hervorhebung, P. G.)

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Augen kaum mehr als ein rationales Instrument für die Kontrolle irrationaler Triebe sei. Diese Theorie der Verdrängung verzerre jedoch auch die verdrängte Lust selbst; Freud habe sie sich nämlich nur in einem sehr begrenzten Rahmen als ein Werkzeug zur Arterhaltung vorstellen können. Damit aber ziehe er eine zu scharfe Grenze zwischen Vernunft und Lust und deformiere dadurch beide, wodurch der Lust ein Fortleben ausschließlich noch als prärationaler Instinkt zugebilligt werde. Freud entgehe also die Einsicht in jenes »Moment« an ihr, »das über den Kreis der Naturverfallenheit hinausgeht«. 69 Adorno fasst dieses bloß instrumentelle und naturalistische Verständnis von Lust als Anzeichen für eine generelle Feindseligkeit der Psychoanalyse gegen jedes utopische Ideal auf. Der schaudernde Tonfall, in dem Freud all »die perversen Praktiken« der modernen Kultur verdamme, hänge mit jenem abweisenden Ton zusammen, den er in Die Zukunft einer Illusion anschlage, wo er das Urteil eines »Commis-voyageur« zitiert, man solle den Himmel »den Engeln und den Spatzen« überlassen. Diese beiden Haltungen mögen uns nun zwar als vollkommen verschieden erscheinen – die erste verurteilt den diesseitigen Hedonismus, während die andere jenseitige Fantasiegebilde verhöhnt –, doch Adorno betrachtet sie beide als Symptome genau desselben Reduktionismus, der am Menschen nur das anerkenne, was sich in rein instrumentelle Begrifflichkeiten übersetzen lasse. »Denen Lust und Himmel gleichermaßen verekelt wird, die taugen dann in der Tat am besten zu Objekten«, wie er schreibt. Deshalb lasse sich an Patienten, die eine Analyse erfolgreich absolviert haben, oft auch etwas »Leere[s] und Mechanisierte[s]« feststellen. Die Psychoanalyse ist demnach, da sie den Menschen auf ein kontrollierbares Objekt herunterbricht, zugleich ein Heilverfahren und die Affirmation einer tieferliegenden sozialen Pathologie. Adorno bemüht sich da69 GS 4, S. 68.

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her darum, die Lust vor ihrer psychoanalytischen Entstellung zu bewahren, und erhebt sie in den Raum einer utopischen Wahrheit, der früher einmal der Religion vorbehalten war; denn »[n]ur wer es vermöchte, in der blinden somatischen Lust […] die Utopie zu bestimmen, wäre einer Idee von Wahrheit fähig, die standhielte«. 70 Häufig bekennt sich Adorno nur widerwillig zu seinen eigenen normativen Festlegungen; in den obigen Bemerkungen über die Psychoanalyse erklärt er jedoch rundheraus, dass wir die Utopie des menschlichen Gedeihens nicht von der körperlichen Befriedigung abkoppeln dürften. Freud wirft er vor, dieses utopische Ideal verraten zu haben; die Psychoanalyse bilde in der bürgerlichen Kultur eine widersprüchliche Struktur und habe daher »etwas vom Januscharakter der Kultur selber« an sich. Sie offeriere nämlich eine Diagnose der Unterdrückung und gleichzeitig eine Rechtfertigung dafür, warum diese notwendig sei. Zumindest in diesem Aspekt sei Freud deshalb wahrlich ein Kind seiner Zeit, weil er »zwischen dem Willen zur hüllenlosen Emanzipation des Unterdrückten und der Apologie hüllenloser Unterdrückung« hin- und hergerissen sei. Seine Lösung für diese Ambivalenz bestehe darin, vor den bürgerlichen Imperativen zu kapitulieren und seinen eigenen emanzipatorischen Zielen zuwiderzuhandeln. Durch seine Lustfeindlichkeit verstoße er jedoch gegen jenen »kritische[n] Maßstab«, der in der Psychoanalyse selbst stecke, nämlich den einer Utopie unentstellten Glücks. Hier haben wir es folglich mit einem aufschlussreichen Beispiel für eine immanent-kritische Methode zu tun: Adorno tut die Psychoanalyse nicht einfach als durch und durch ideologisches Gebilde ab, sondern kehrt vielmehr jenes Moment des Widerspruchs an ihr hervor, durch das sie von ihren ideologischen Beschränkungen befreit werden könnte. Dieser Ansatz ist also mehr als nur eine spezifische Kritik an der Psychoana70 Ebd.

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lyse; ohne Frage beabsichtigt er hier vielmehr, das Glück als den normativen Maßstab für seine eigene Philosophie zu verteidigen. (3) Die Gabe. Das Vorhaben, den sinnlichen Aspekt unseres natürlichen Daseins für ein umfassendes Ideal des menschlichen Gedeihens zu bewahren, ist auch das Kernthema eines anderen Abschnitts der Minima Moralia. Adorno nutzt dort seinen mikrologischen Blick zur Analyse der kulturellen Praxis des Gabentauschs. Dabei ähnelt seine Interpretation stark jenen Befunden, die Marcel Mauss in seiner erstmals 1924 erschienenen Studie zum selben Thema zusammengetragen hat. 71 So hatte dieser in seinen Anmerkungen zur Institution des Potlatschs behauptet, dass die Praxis des Gabentauschs nicht isoliert von der sie umgebenden Kultur verstanden werden könne. Ihre Bedeutung sei vielmehr echt pluridimensional und erstrecke sich auf jede Wertsphäre des Lebens – die juridische, ökonomische, religiöse und die ästhetische. Diese Praxis sei daher nicht weniger als ein fait social totale, eine »totale soziale Tatsache«. Mauss’ entscheidende Entdeckung war nämlich die, dass der Gabentausch für diejenigen, die ihn ernst nahmen, viel mehr war als ein bloßer Transfer von Gegenständen. »[J]emand etwas geben [heißt] soviel […], wie jemand etwas von sich selbst geben«, wie er schrieb. Und dieser Erkenntnis ging er nun mit der kritischen und erklärtermaßen sozialistischen Absicht weiter nach, jene halb eingeschlafene Praxis des Gabentauschs zum Nutzen der modernen Gesellschaft wiederzubeleben. Denn, so Mauss, »[e]in großer Teil unserer Moral und unseres Lebens schlechthin steht noch immer in jener Atmosphäre der Verpflichtung und Freiheit zur Gabe. Zum Glück ist noch nicht alles in Begriffen des Kaufs und Verkaufs klassifiziert. Die

71 Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1968.

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Dinge haben neben ihrem materiellen auch einen Gefühlswert. Unsere Moral ist nicht ausschließlich eine kommerzielle.« 72 Adorno verfolgt in Minima Moralia eine ganz ähnliche Analysestrategie. Wie Mauss glaubt auch er, dass die Gabe nichts mit einem bloßen Tausch zu tun habe; sie ist für ihn vielmehr die Erfüllung einer Art von Glück in und vermittels unserer kollektiven Verbindung als menschliche Wesen, da wir im Akt des Gebens und Empfangens eine mimetische Responsivität den uns umgebenden Menschen gegenüber erleben: »Wirkliches Schenken hatte sein Glück in der Imagination des Glücks des Beschenkten. Es heißt wählen, Zeit aufwenden, aus seinem Weg gehen, den anderen als Subjekt denken.« 73 Und ebenfalls wie Mauss vertritt er diese These mit der kritischen Gesinnung von jemandem, der die Mystifizierungen des Kapitalismus durchschaut. Sein spezifisches Ziel ist dabei die Logik des Warenfetischismus, die Marx als »eine bestimmte soziale Beziehung zwischen Menschen« beschreibt, »die, in ihren Augen, die fantastische Form einer Beziehung zwischen Dingen annimmt«. Da die Gabe nun eine Alternative zur Ware darstellt, kann die Praxis des Gabentauschs in der kapitalistischen Gesellschaft nur allzu leicht den falschen Anschein eines sentimentalen Atavismus annehmen. Adorno ist allerdings der festen Überzeugung, dass sie eben nicht einfach nur ein Ausweis bloßer Sentimentalität sei; der Gabentausch bleibe vielmehr ein verheißungsvolles, wenn auch bedrängtes und marginalisiertes Ideal, das uns ein Modell für eine bessere Gesellschaft vorführe. Das Problem sei aber, dass dieses Ideal heutzutage vor dem Aussterben stehe; von der »verwalteten Wohltätigkeit« verdrängt, werde der selbstlose Akt des Gebens zu etwas ebenso Seltenem und Gefährdetem wie das Menschsein selbst. »In ihrem organisierten Betrieb hat die menschliche Regung schon keinen Raum mehr«, wie er 72 Ebd., S. 35 und 157. 73 GS 4, S. 47.

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schreibt. Die ganze Gewohnheit einer selbstlosen Generosität sei heute im »Verfall« begriffen, da »[d]ie Menschen […] das Schenken [verlernen]«. 74 Der Niedergang der Gabe ist für Adorno nun weder Zufall noch eine bloße Ablenkung von den schwerwiegenderen Problemen, die die moderne Gesellschaft plagen. Vielmehr weigert er sich, dieses Phänomen isoliert von der Totalität unserer sozialen Erfahrung zu betrachten. Und auch darin folgt er dem Mauss’schen Vorbild: Das Geschenk ist mit seinem unter Druck geratenen Status ihm zufolge ebenfalls eine totale soziale Tatsache, in der sämtliche Probleme der Gesellschaft ihren Ausdruck finden. Allerdings ist es wichtig, zu bemerken, dass Adorno sich an keiner Stelle seiner Untersuchung zu der übertriebenen und unplausiblen Behauptung hinreißen lässt, das Schenken wäre schlechthin verschwunden. Die Prinzipien des kapitalistischen Tauschs sind für ihn zwar in nahezu jede Facette des menschlichen Erlebens vorgedrungen, doch in den Fugen und Lücken unserer Erfahrung könnten wir nach wie vor die Umrisse alternativer Praktiken ausmachen, die die vorherrschende Logik herausfordern. Der Markt sei zwar ein vereinheitlichtes System, aber dennoch mit Widersprüchen durchsetzt. Und diese Annahme braucht es auch, denn ohne sie müsste Adorno unsere gesellschaftliche Welt in Gänze als durchgängig falsch betrachten; das Geschenk wäre dann keine totale soziale Tatsache mehr, sondern bloß noch eine Anomalie. In diesem Fall könnte er dem Faktum seines unwahrscheinlichen Fortlebens allerdings keine Bedeutung mehr beimessen. Das wirklich Bemerkenswerte an seiner Analyse ist nun aber genau das: Er betrachtet das Geschenk eben nicht als simple Anomalie, sondern als ein Anzeichen für bestimmte menschliche Qualitäten, die selbst noch inmitten einer allgemeinen gesellschaftlichen Deformierung überdauern. »[D]enn es gibt keinen heute, für den Phantasie 74 Ebd.

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nicht genau das finden könnte, was ihn durch und durch beglückt«, so Adorno. 75 Die eigentliche Praxis der Gabe mag also zwar im Verschwinden begriffen sein, doch das Geschenk ist für ihn trotzdem nach wie vor die Manifestation »unersetzliche[r] Fähigkeiten«. 76 Letztere betrachtet er als wesentlich für unsere sinnliche Natur als menschliche Wesen und mahnt, dass sie »nicht in der Isolierzelle der reinen Innerlichkeit, sondern nur in Fühlung mit der Wärme der Dinge gedeihen können«. Das Geschenk mutet daher vielleicht wie eine marginale und unbedeutende gesellschaftliche Praxis an, erweist sich nach Adorno jedoch als ein essenzielles Zeichen für unser natürliches Dasein. Oder wie es bei ihm heißt: »Alle nicht entstellte Beziehung, ja vielleicht das Versöhnende am organischen Leben selber, ist ein Schenken.« 77 Was er also fürchtet, ist der Verlust unserer gesamten Empfänglichkeit für die Welt dann, wenn wir diese Fähigkeiten wirklich einmal gänzlich einbüßen sollten. Denn in diesem Fall würde sich eine »Kälte« auf all unsere Erfahrung legen und wir die Verbindung zu unserem eigenen Menschsein verlieren. Die Praxis der Gabe ist demnach mehr als nur ein kulturelles Phänomen; sie markiert unseren Status als organische Wesen, die an der Grenze zwischen Kultur und Natur angesiedelt sind.

Schlussbemerkungen Alle drei oben diskutierten Fälle leisten einen Beitrag dazu, den von mir so genannten Materialismus Adornos zu erhellen. Zudem unterstreichen sie seine spezifische Ansicht, dass der Mensch nur dann als Mensch gedeihen kann, wenn er sich der sinnlichen 75 Ebd. 76 Ebd. 77 Ebd.

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Welt offen und ungeschützt präsentiert. Zum menschlichen Gedeihen gehört demnach also auch das Gedeihen unseres Daseins als Naturwesen. In einem Gespräch mit Max Horkheimer merkte Adorno einmal an: »Die Philosophie ist eigentlich dazu da, das einzulösen, was im Blick des Tieres liegt.« 78 Auch der Mensch ist zwar ein Tier unter Tieren, auch wenn die moderne Zivilisation große Anstrengungen unternommen hat, ihn von seinen eigenen animalischen Grundlagen abzusondern. Wenn aber die Philosophie diese natürliche Seite der menschlichen Natur ignoriert, dann kerkert sie sich selbst in das rein kognitive Subjekt ein und verliert folglich ihren Kontakt mit der sinnlichen Erfahrung. Das wäre allerdings gleichbedeutend mit dem Verrat an ihrer eigenen Mission. Und genau diesen Verrat durch die Rettung unserer Natürlichkeit zu verhindern, ist das eigentliche Motiv hinter Adornos Hinwendung zum Vorrang des Objekts. Wenn die Aussichten für das Gedeihen des Menschen heute bedroht sind, dann liegt das jedoch vornehmlich daran, dass unsere Gesellschaftsordnung dazu konzipiert ist, unsere Fähigkeit zur Erfahrung zu schwächen. Aus der hier vorgelegten Analyse sollte daher deutlich geworden sein, dass Adorno selbst noch in seiner immanenten Kritik der bürgerlichen Erfahrung die objektive Welt nicht aus dem Blick verloren hat. Vielmehr steht für ihn weiterhin fest, dass die primäre Quelle unserer Schwierigkeiten nicht in den Unvermögen individueller Subjekte, sondern in den objektiven Merkmalen unserer Gesellschaft zu suchen ist. Die Verbindung von Subjekt und Objekt ist zwar noch nicht gänzlich zerstört, aber ebenso wie Marx glaubt auch Adorno, dass nur ein totaler Wandel der sozialen Verhältnisse dafür hinreichend wäre, die Emanzipation der Sinne und die Rettung der menschlichen Natur zu bewirken. 78 »[Diskussion über Theorie und Praxis]«, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 19, Frankfurt/M. 1996, S. 32-73, hier S. 58.

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4 VON DER METAPHYSIK ZUR MORAL

Meine Behauptung im vorangegangenen Kapitel war, dass Adorno in einem weiten Sinne als ein Materialist verstanden werden kann, der den Menschen als ein sinnliches Geschöpf betrachtet, dessen Gedeihen von der vollkommenen Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse abhängt (sich aber nicht in ihr erschöpft). Das Konzept des menschlichen »Bedürfnisses« ist nun aber natürlich ein sehr umstrittener Topos, und das nicht nur im Denken Adornos, sondern auch in der übergeordneten Tradition emanzipatorischer Gesellschaftskritik, zu der er beigetragen hat. 1 Eine der in diesem Zusammenhang kontroverseren Fragen ist die, ob nicht bereits der Gedanke eines menschlichen Bedürfnisses per se eine transhistorische Konstante impliziert, die der menschlichen Natur selbst zugeschrieben werden kann, oder ob er nicht eher als geschichtlich variabel verstanden werden sollte. In meiner obigen Untersuchung bin ich Adornos ungewöhnlicher These nachgegangen, dass Menschen ihr Menschsein nur dann verwirklichen könnten, wenn sie ihre »Fühlung mit der Wärme der Dinge« aufrechterhielten. Sie deutet auf seine Bereitschaft hin, einen Begriff des menschlichen Bedürfnisses zu vertreten, der nicht nur historisch, sondern für unser Menschsein als solches konstitutiv ist. In Bezug auf diese Frage findet sich Adorno allerdings in einer schwierigen Position wieder: Er will nicht dogmatisch irgendeine unwandelbare menschliche Natur behaupten, aber auch die materialistische Sichtweise nicht gänzlich aufgeben, nach der Menschen sehr wohl bestimmte biologische Bedürfnisse haben, die einfach erfüllt werden müssen. Sein Versuch, dieses philosophi1 Siehe etwa Ágnes Heller,Theorie der Bedürfnisse bei Marx, Hamburg 2022.

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sche Problem zu lösen, ist nun sehr aufschlussreich, nicht zuletzt deshalb, weil er uns vor Augen führt, wie sehr seine Kritik der modernen Gesellschaft auf einen emphatischen Begriff des menschlichen Gedeihens abzielt. In diesem Kapitel möchte ich den in Kapitel 2 entwickelten Begriff des menschlichen Gedeihens mit dem in Kapitel 3 präsentierten Konzept des Materialismus zusammenführen, um damit das zu erklären, was ich Adornos materialistische Moralkonzeption nennen werde. Mein Ziel ist es, zu demonstrieren, dass sein Materialismus in einem neuen Begriff normativer Verpflichtung – in dem, was er das »Du sollst« nennt – gipfelt. Dieses Sollen wohnt demnach unseren alltäglichen Erfahrungen als sinnliche Wesen inne, die zwar für das Leid anfällig, teleologisch jedoch auf das Glück ausgerichtet sind. Um diese Argumentation anzustoßen, will ich aber zunächst einmal die zuvor eingeführte umfassendere These vertiefen und weiter ausführen, dass Adorno sich einem Ideal des Glücks oder des menschlichen Gedeihens verschrieben hat. Ich habe oben gesagt, dass dieses Ideal in dem Sinne umfassend ist, dass es die volle Bandbreite der menschlichen Erfahrung abdeckt, von der Befriedigung unserer basalsten körperlichen Bedürfnisse bis hin zu den anspruchsvollsten Formen ästhetischer und sogar »metaphysischer« Erfüllung. Wie dieses übergreifende Ideal die verschiedenen Facetten von Adornos Philosophie vereint, können wir uns dadurch verdeutlichen, dass wir mit dem elementaren Faktum alltäglicher Bedürfnisse beginnen und seine Überlegungen dann in ihrem Fortgang vom Somatischen und Mimetischen bis hinein in die Sphäre der metaphysischen Erfahrung nachverfolgen. Am Schluss sollten wir dann erkennen, wie die These vom menschlichen Gedeihen in einer breit angelegten materialistischen Moralauffassung kulminiert, die Adorno als »Forderung nach dem richtigen Leben« bezeichnet. 2 2 NGS, Abt. IV, Bd. 14, S. 182f.

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Bedürfnisse und Wünsche In seinen »Thesen über Bedürfnis« von 1942 will Adorno die Frage beantworten, ob sich die kritische Theorie auf die Kategorie eines vollständig natürlichen oder historisch unwandelbaren Bedürfnisses festlegen muss oder nicht. Selbstverständlich ist ihm dabei bewusst, dass eine Unterscheidung zwischen dem Natürlichen und dem Sozialen durchaus schwer zu verteidigen sein kann – besonders dann, wenn man die Perspektive des historischen Materialismus ernst nimmt, nach der die menschliche Natur der Geschichte nicht vorausliegt oder vorgeordnet ist, sondern sich selbst erst historisch herausbildet. Daraus würde folgen, dass auch »Bedürfnis« eine historische Kategorie sein muss. Das wahre Problem stellt sich jedoch erst dann, wenn wir eine klare Unterscheidung zwischen Bedürfnissen und Wünschen treffen wollen, wobei mit Ersteren natürliche Erfordernisse gemeint sind, die sich dem Menschen von außen als nackte Notwendigkeiten aufdrängen, und Letztere ein sozial erworbenes Verlangen bezeichnen, das wir nur insofern befriedigen, als es Ausdruck unserer Freiheit ist. Adorno lehnt eine solche Unterscheidung ab, und zwar in erster Linie deshalb, weil er der Meinung ist, dass sie eine schlechte Folgerung aus unserem Leben in der Gegenwart sei. »Die Bedürfnisse sind« nämlich, wie er schreibt, »nicht statisch. Die Statik, die sie heute scheinbar angenommen haben, ihre Fixierung auf die Reproduktion des immer Gleichen, ist selber bloß der Reflex auf die materielle Produktion, die mit der Eliminierung von Markt und Konkurrenz bei gleichzeitigem Fortbestand der Klassenherrschaft stationären Charakter annimmt. Mit dem Ende dieser Statik wird das Bedürfnis völlig anders aussehen.« 3 Unter Bedingungen der Knappheit und der strukturellen Ungleichheit proji3 »Thesen über Bedürfnis«, GS 8, S. 392-396, hier S. 394.

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zieren wir demnach in die menschliche Vergangenheit fälschlicherweise eine plumpe und ahistorische Unterscheidung zurück zwischen dem, was Menschen aus purer Notwendigkeit brauchen, und dem, was sie einfach nur haben wollen, auf das sie aber ebenso gut auch verzichten könnten. Diese Differenz zwischen Freiheit und Notwendigkeit geht jedoch der menschlichen Geschichte nicht voraus; sie ist vielmehr eine Unterscheidung, die die Geschichte selbst erst hervorbringt. 4 Daraus ergibt sich, dass wir, wären die historischen Bedingungen hinreichend anders gewesen, sogar die Kategorie der puren Notwendigkeit grundlegend anders auffassen würden, als wir es aktuell tun. Adorno schreibt: Wenn die Produktion unbedingt, schrankenlos sogleich auf die Befriedigung der Bedürfnisse, auch und gerade der vom Kapitalismus produzierten, umgestellt wird, werden sich eben damit die Bedürfnisse selbst entscheidend verändern. Die Undurchdringlichkeit von echtem und falschem Bedürfnis gehört wesentlich zu der Klassenherrschaft. In ihr bilden die Reproduktion des Lebens und dessen Unterdrückung eine Einheit […]. 5

Daher zieht er es vor, die Frage danach, was Menschen wirklich brauchen, als ideologisch aufgeladen zurückzuweisen. Der Versuch, wahre Bedürfnisse zu spezifizieren, sei gleich auf mehreren Ebenen philosophisch verdächtig, nicht zuletzt deshalb, weil er einen transhistorischen und quasinatürlichen Maßstab implizie4 Dies ist eine Erkenntnis, die Adorno bereits zu Beginn seiner Laufbahn hatte und die in seinem frühen Vortrag »Idee der Naturgeschichte« in der Form zum Ausdruck kommt, dass die Unterscheidung zwischen Natur und Geschichte eben keine natürliche, sondern eine geschichtliche sei; siehe GS 1, S. 345-365. Zum Begriff der Naturgeschichte siehe Max Pensky, »Natural History. The Life and Afterlife of a Concept in Adorno«, in: Critical Horizons. A Journal of Philosophy and Social Theory 5:1 (2004), S. 227-258. 5 GS 8, S. 394.

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re, der mit unserer Einsicht konfligiere, dass die Natur des Menschen durch Gesellschaft und Geschichte konstituiert werde. Anrüchig sei die Idee wahrer Bedürfnisse aber auch, weil sie ganz einfach als Begründung dafür dienen könne, jene Bedürfnisse, die anderswo auf dem Planeten beheimateten Menschen zugeschrieben werden, bis auf ihr absolutes Minimum kleinzureden: Die Frage nach der Sofortbefriedigung des Bedürfnisses ist nicht unter den Aspekten gesellschaftlich und natürlich, primär und sekundär, richtig und falsch zu stellen, sie fällt zusammen mit der Frage nach dem Leiden der gewaltigen Mehrheit aller Menschen auf der Erde. Wird produziert, was alle Menschen jetzt, hier am dringendsten brauchen, so ist man allzu großer sozialpsychologischer Sorgen wegen der Legitimität ihrer Bedürfnisse enthoben. 6

Mit der Zurückweisung der Frage, ob ein Bedürfnis gesellschaftlich oder natürlich ist, antizipiert Adorno einen noch unrealisierten Zustand, in dem die Menschen sich Bedürfnisse nicht mehr als eine uns von der Natur auferlegte Notwendigkeit vorstellen. Und unter einer solchen Bedingung würde der Freiheitsbegriff selbst auch einen dramatischen Wandel erfahren. Zwei Aspekte an dieser These verdienen besondere Aufmerksamkeit. Erstens hat Adorno hier offenbar eine Bedingung im Sinn, die weitaus mehr als minimalistisch ist, da er die Vorstellung, dass wir nur für eine minimale Bedürfnisbefriedigung sorgen müssten, für ein Stück bürgerlicher Ideologie hält. Daher drängt er uns dazu, ein Ideal des menschlichen Gedeihens zu akzeptieren, das die Befriedigung minimaler Maßstäbe dramatisch übersteigen würde. Und zweitens weist seine Ablehnung einer bloß minimalen Bedürfnisbefriedigung auch auf ein anderes Verhältnis zwischen Mensch und Natur hin. Denn wenn sich die Menschheit einmal von den Gesetzen einer quasinatürlichen Notwendigkeit emanzipiert 6 Ebd., S. 395.

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hat, würden wir uns fortan nicht mehr als Subjekte verstehen, die ihrem Wesen nach von einer Welt separiert sind, welche sie als eine bloße Ansammlung von Objekten betrachten, deren Relevanz für sie sich allein im Hinblick auf ihre potenzielle Nützlichkeit ergibt. Oder wie es bei Adorno heißt: »Die Produktivität wird nun erst im eigentlichen, nicht entstellten Sinn aufs Bedürfnis wirken: nicht indem das unbefriedigte mit Unnützem sich stillen läßt, sondern indem das gestillte vermag, zur Welt sich zu verhalten, ohne sie durch universale Nützlichkeit zuzurichten.« Nur durch eine echte Befriedigung unserer Bedürfnisse werden wir ihm zufolge also in die Lage kommen, uns ein »Verhalten« anzueignen, das uns endlich »die Versöhnung mit der Natur« erahnen lässt. 7

Mimesis und Materialismus Adornos Reflexionen über Wünsche und Bedürfnisse verdienen eine ausführlichere Erörterung, als ich sie an dieser Stelle vorzunehmen vermag. Allerdings habe ich mich hier auch nur deshalb mit dieser Problematik beschäftigt, weil sie Licht auf die Frage wirft, wie er eigentlich die fortwährende Anbindung des Menschen an die Natur versteht. Dieser spricht er nämlich eine enorme philosophische Bedeutung zu und bezeichnet sie als ein sehr grundsätzliches oder gar »archaisches« Merkmal der menschlichen Erfahrung, das allen Nützlichkeitserwägungen vorausliege. Lange bevor der Mensch eine instrumentelle Haltung zu seiner Umgebung einnahm und anfing, die Welt seinen eigenen willkürlichen Zwecken untertan zu machen, besaß er demnach bereits das besondere Vermögen zur Ansprechbarkeit für die Natur, das nicht in bloß instrumentelle Begriffe gefasst werden kann. Dieses umfasst Mimikry oder Anähnelung. In seiner Untersuchung die7 Ebd., S. 396.

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ses mimetischen Vermögens beschreibt Adorno ein bestimmtes »Verhalten«, durch das wir uns in einem Zustand der Responsivität der Natur gegenüber offenhalten. Dieses sogenannte mimetische Vermögen meint ihm zufolge also nicht unsere Herauslösung aus der Natur, sondern bringt vielmehr die fundamentale Ähnlichkeit zum Ausdruck, die immer schon zwischen Mensch und Natur besteht, einfach aufgrund der Tatsache, dass der Mensch selbst ein natürliches Wesen ist. In seiner Vorlesung zu Geschichte und Freiheit von 1965 erklärt Adorno dementsprechend auch, dass mimetisches Verhalten weder volitionaler noch kausaler Art sei; vielmehr gehöre es einer Schicht der menschlichen Erfahrung an, die daher tiefer liege als die Unterscheidung von Wünschen und Bedürfnissen. Mimetisches Verhalten ist in seinen Augen nämlich keines, »das sich kausal nach gegenständlichen und als gegenständlich erkannten Momenten richtet, sondern eine unwillkürliche Anpassung an irgendwelches Extramentales […]«. 8 Und obgleich er diese Anpassung für in gewisser Weise irrational hält, so versteht er sie dennoch als der »Bestimmung der Freiheit selber« immanent. 9 Bei der Entwicklung seiner Mimesiskonzeption bedient sich Adorno freimütig bei Walter Benjamin, der sie in seinem einschlägigen Aufsatz aus dem Jahr 1933 als »Fähigkeit« der Natur »im Produzieren von Ähnlichkeiten« definiert, das heißt dazu, »ähnlich zu werden und sich zu verhalten«. Benjamin geht sogar so weit, zu behaupten, dass es möglicherweise gar keine höhere Funktion beim Menschen gebe, an der »das mimetische Vermögen« nicht entscheidend beteiligt sei. 10 Ferner hat Adorno auch Roger Cal8 NGS, Abt. IV, Bd. 13, S. 294 (meine Hervorhebung, P. G.). 9 Ebd. 10 Walter Benjamin, »Über das mimetische Vermögen«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II .1, Frankfurt/M. 1977, S. 210-213, hier S. 210. Zu einer Darstellung der Beziehung von Benjamin und Adorno mit Blick auf den Mimesisbegriff siehe Shierry Weber Nicholsen, »Aesthetic Theory’s Mimesis of

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lois’ Überlegungen zur Rolle der Mimesis in der Natur einiges zu verdanken, ebenso wie den Soziologen Marcel Mauss und Henri Hubert, die den Begriff in ihrem »Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie« ihm zufolge als eine Beziehung der »Sympathie« verstehen. 11 In der Dialektik der Aufklärung, wo Horkheimer und Adorno ihn als unsere »organisch[e] Anschmiegung ans andere« charakterisieren, nimmt der Mimesisbegriff eine besonders prominente Rolle ein. 12 Ihre Autoren argumentieren an dieser Stelle nämlich ganz im Sinne einer spekulativen Anthropologie. 13 In der Frühphase seiner Entwicklung hat das menschliche Tier demzufolge eine unwillkürliche Responsivität gegenüber seiner natürlichen Umgebung an den Tag gelegt; eine Gefahrensituation etwa konnte dafür sorgen, dass ihm die Haare zu Berge

Walter Benjamin«, in: Tom Huhn, Lambert Zuidervaart (Hg.), The Semblance of Subjectivity. Essays in Adorno’s Aesthetic Theory, Cambridge (Mass.) 1997, S. 55-92; zu einer allgemeinen Diskussion der Mimesis-Thematik bei Adorno siehe Martin Jay, »Mimesis and Mimetology. Adorno and LacoueLabarthe«, in: ebd., S. 29-54. 11 »So beschreiben Hubert und Mauß den Vorstellungsgehalt der ›Sympathie‹, der Mimesis: ›L’un est le tout, tout est dans l’un, la nature triomphe de la nature.‹ – H. Hubert et M. Mauß,Théorie générale de la Magie, in: L’Année Sociologique. 1902-3. S. 100« (zit. nach GS 3, S. 31, Anm. 20; der erwähnte Text ist auch in deutscher Übersetzung erschienen, siehe Marcel Mauss, Henri Hubert, »Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie«, in: Marcel Mauss, Schriften zur Religionssoziologie, Berlin 2012, S. 243-404). Eine erhellende Diskussion der Mimesis und ihrer Ursprünge findet sich in Anson Rabinbach, »The Cunning of Unreason. Mimesis and the Construction of AntiSemitism in Horkheimer and Adorno’s Dialectic of Enlightenment«, in: ders., In the Shadow of Catastrophe. German Intellectuals between Apocalypse and Enlightenment, Berkeley, Los Angeles u. a. 1997, S. 166-198. 12 GS 3, S. 205. 13 Siehe zu diesem Thema Pierre-François Noppen, »The Anthropology in Dialectic of Enlightenment«, in: Peter E. Gordon u. a. (Hg.), A Companion to Adorno, Hoboken 2020, S. 207-220.

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standen oder sogar sein Herz zu schlagen aufhörte. 14 Eine solche Empfänglichkeit liege jenseits unserer subjektiven Kontrolle und sei ein konstitutives Merkmal der menschlichen Biologie: »Das Ich, das in solchen Reaktionen, wie der Erstarrung von Haut, Muskel, Glied sich erfährt, ist ihrer doch nicht ganz mächtig. Für Augenblicke vollziehen sie die Angleichung an die umgebende unbewegte Natur.« 15 Unsere Fähigkeit, mimetisch auf die Natur zu reagieren, gehöre also der frühesten Phase der Menschheitsgeschichte an, als Instrumentalität noch nicht Herrschaft bedeutet habe. Das Menschenwesen wollte demnach selbst noch bei den banalsten Aktivitäten primitiver Domestizierung wie etwa bei der Bändigung des Feuers oder bei der Ernte von Feldfrüchten nur eine gewisse Kontrolle über die Natur erlangen. Mit dem Aufkommen der instrumentellen Vernunft wurde das mimetische Element jedoch verdrängt und begann zu verkümmern. Das Ich verhärtete sich allmählich seiner Umgebung gegenüber und suchte die Natur fortan nur noch zu beherrschen, statt mitfühlend (oder eben »sympathisch«) auf sie zu reagieren. Natürliche Verschiedenheit wurde unter die Kategorie des Gleichen gezwungen, und »[a]nstelle der leiblichen Angleichung an Natur tritt«, so Adorno und Horkheimer, nun »die ›Rekognition im Begriff‹«. 16 Trotz des allmählichen Verkümmerns unserer mimetischen Vermögen erklären die beiden Autoren allerdings ausdrücklich, dass diese noch nicht völlig verschwunden seien. Tatsächlich ist es eine entscheidende Prämisse der in der Dialektik der Aufklärung entwickelten Argumentation, dass die Mimesis selbst dort noch überdauert, wo sie schwerwiegende Entstellungen erlitten hat. Der Fortschritt der Vernunft verstärke nämlich nicht nur die Notwendigkeit der Unterdrückung, sondern auch die Sehnsucht danach, 14 GS 3, S. 204. 15 Ebd. 16 Ebd.

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das Unterdrückte freilassen zu können; daher wende sich das kultivierte Subjekt auch voller Missgunst gegen alles, was sich den Imperativen der Zivilisation noch nicht vollständig unterworfen habe, und deshalb reagiere die zivilisierte Menschlichkeit auch mit einer solchen Abscheu auf Gesten unterdrückter natürlicher Unmittelbarkeit wie »Berühren, Anschmiegen, Beschwichtigen, Zureden«. 17 Feindseligkeit schlägt demnach in erster Linie all jenen entgegen, die Anzeichen von Enthemmung zeigen oder als »naturnäher« wahrgenommen werden. Das moderne Mimesis-Tabu ist folglich für Adorno und Horkheimer auch ein entscheidender Faktor bei der Entstehung des Antisemitismus: 18 Der Hass auf den rassifizierten Anderen ist für sie eine äußerliche Manifestation jenes Hasses, mit dem sich das Ich gegen seine eigenen natürlichen Triebe richtet. Und der Faschismus mache sich diese Art von Hass zunutze: Er zerstöre die Strukturen der modernen Zivilisation nicht, sondern biete dem Mob lediglich eine simulierte Regression an; deshalb sei er auch keine echte Rückkehr zur Natur, sondern lediglich eine »Mimesis der Mimesis«. 19 Für Adornos Hinwendung zum Objekt spielt das Konzept der Mimesis eine entscheidende Rolle; wir könnten sogar behaupten, dass Mimesis einfach jene nichtinstrumentelle Beziehung meint, in der sich das Subjekt für das Objekt öffnet und sich seiner eigenen sinnlichen Erfahrung hingibt. 20 Überraschender ist hingegen 17 Ebd., S. 206. 18 Eine exzellente Untersuchung hierzu findet sich in Fabian Freyenhagen, »Adorno and Horkheimer on Anti-Semitism«, in: Gordon u. a. (Hg.), A Companion to Adorno, S. 103-122. 19 GS 3, S. 209. 20 Eine vorzügliche Erläuterung des Mimesisbegriffs findet sich in Owen Hulatt, »The Place of Mimesis in The Dialectic of Enlightenment«, in: Peter E. Gordon u. a. (Hg.),The Routledge Companion to the Frankfurt School, London 2018, S. 351-364. Ich glaube allerdings, dass Hulatt irrt, wenn er das Resultat der Mimesis als »bloße leere Imitation und ›Verschmelzung‹ mit der

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seine Behauptung, dass sie auch einen Platz in unserem Freiheitsverständnis beanspruchen darf. Da unser mimetisches Verhalten einen unwillkürlichen und irrationalen Charakter aufweise, werde seine Relevanz für Theorien der Freiheit nur selten erkannt. 21 Im Gegenteil neigen wir Adorno zufolge eher dazu, ein solches Verhalten als archaischen und regressiven Impuls zu betrachten, der vollkommen ausgelöscht werden müsse, wenn wir uns selbst als autonome Wesen begreifen wollten. Die Imperative der Zivilisation hätten es uns zudem nur noch schwerer gemacht, sein Fortleben zu bemerken. Nach Adorno stellt sein Vorliegen jedoch eine notwendige Komponente von Freiheit selbst dar, ohne die unsere Freiheitserfahrung auf fatale Weise beeinträchtigt wäre. Denn »[j]e mehr das Ich über sich gebietet; und je mehr es über die Natur gebietet, um so mehr lernt es ja auch über sich gebieten, desto fragwürdiger wird ihm nun seine eigene Freiheit […]; so daß also – man könnte fast sagen: während erst mit der Entfaltung des Bewußtseins überhaupt so etwas wie Freiheit möglich wird, gleichzeitig durch die Entfaltung des Bewußtseins Freiheit selber in diesem archaisch-mimetischen Moment, das ihr wesentlich ist, immer mehr zurückgedrängt wird«. 22 Freiheit und Mimesis sind demnach einander nicht entgegengesetzt, sondern vielmehr komplementäre und notwendige Momente unseres emphatischen Begriffs des Menschen. »Ohne Rekurs auf das Vor-Ichliche« nämlich, so Adorno weiter, »auf jene Regung, die gewissermaßen eine Körperregung ist, die noch nicht von der zentralisierenden Bewußtseinsinstanz gelenkt wird, wäre der Freiheitsbegriff übersie umgebenden Welt« charakterisiert. Denn Adorno sagt explizit, dass sie keine Verschmelzung oder Fusion, sondern eine Ähnlichkeitsbeziehung über Unterschiede hinweg meint. Siehe dazu auch Owen Hulatt, »Reason, Mimesis, and Self-Preservation in Adorno«, in: Journal of the History of Philosophy LIV :1 (2016), S. 135-152. 21 NGS, Abt. IV, Bd. 13, S. 294 f. 22 Ebd., S. 294 f.

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haupt nicht zu schöpfen […].« 23 Und diese Aussage ist nun gar nicht so kontraintuitiv, wie es vielleicht scheint. Denn wie ich bereits ausgeführt habe, hat sich Adorno einem wahrhaft umfassenden Modell des menschlichen Gedeihens verschrieben, das bestrebt ist, die sinnlichen und die intellektuellen Facetten unserer Erfahrung miteinander zu versöhnen. Und in diesem Licht betrachtet überrascht seine Aussage nicht, dass echte Freiheit auch die Befriedigung solcher materiellen Impulse beinhalten würde, die unterhalb der Schwelle des Bewusstseins liegen.

Metaphysische Erfahrung In Kapitel 3 habe ich dafür argumentiert, dass Adorno einer materialistischen Auffassung des menschlichen Gedeihens anhängt. Diese Idee ist zwar nicht im engen Sinne marxistisch, übernimmt von Marx aber die generelle Prämisse, dass der Mensch einen irreduzibel sinnlichen Charakter besitze, den zu ignorieren sich keine Gesellschaftskritik leisten könnte. Zu einer wahren Freiheit würde dementsprechend die Emanzipation unseres sinnlichen und materiellen Wesens von solchen repressiven sozialen Verhältnissen gehören, die uns nur jene Merkmale unseres Daseins erkennen lassen, deren Wert sich im marktwirtschaftlichen Rahmen unter Beweis stellen lässt. Das Thema einer Hinwendung zum Objekt ist das philosophische Analogon zu dieser emanzipatorischen Aufgabe. Begriffe ermöglichen es dem Subjekt, Kontrolle über die Natur zu erlangen, weil sie das Besondere unter das Allgemeine subsumieren; materielle Unterschiede werden auf eine uniforme oder homogene Masse reduziert. Diese Reduktion verwandelt aber nicht nur die Welt, sondern auch das menschliche Leben in potenziell tauschbares Material. Unsere Begriffsbildung 23 Ebd., S. 295.

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wird daher als initialer und vorbereitender Moment in der Vorgeschichte des Kapitalismus verstanden. Indem Adorno sich nun vom Subjekt zum Objekt wendet, bringt er somit einen Protest gegen die Herrschaft des Tauschprinzips zum Ausdruck, denn er will das Objekt in all seiner Differenz und Andersartigkeit freilassen. Unsere Sinne sind jedoch nur dann vollkommen offen für die Welt, wenn auch unser mimetisches Vermögen endlich gedeihen darf, das der Warentausch betäubt hat, der auf diese Weise die Möglichkeit der Erfahrung selbst in Gefahr bringt. Dies bringt mich zu einer Frage, die für den Erfolg von Adornos kritischen Bemühungen von entscheidender Bedeutung ist. Oben habe ich behauptet, dass die Praxis der immanenten Gesellschaftskritik in seinem Sinne nur dann vom Fleck kommen kann, wenn er auf konkrete Instanzen in unserer aktuellen Erfahrung zu verweisen vermag, die den richtigen normativen und antizipatorischen Charakter besitzen, um uns einen Blick darauf erhaschen zu lassen, wie echte Erfüllung aussehen würde. Wäre Erfahrung als solche aber nicht mehr möglich, dann gäbe es solche Instanzen nicht, und Adornos Vorhaben würde folglich in sich zusammenfallen. Daher ist es für seine Argumentation zwingend erforderlich, dass er zumindest ein minimales Vertrauen in den Fortbestand der Möglichkeit setzen kann, Erfahrungen zu machen. Die Mimesis spielt in diesem Zusammenhang deshalb eine so große Rolle, weil es allein unserem mimetischen Vermögen zu verdanken ist, dass wir für unsere Erfahrung offenbleiben und der Welt in ihrem nichtreduzierten Zustand begegnen können. Adorno weiß natürlich, dass das mimetische Vermögen verkümmert ist, ist aber, wie erwähnt, nicht der Auffassung, es sei vollkommen erloschen. Immanente Gesellschaftskritik ist daher also dann und aber auch nur dann möglich, wenn mimetische Erfahrung ebenfalls möglich ist. Eine pointierte Illustration dieser Überlegung liefert er uns, wie in Kapitel 1 diskutiert, in seinem kurzen Abriss zu den Kinder289

spielen. 24 Es lohnt sich, wenn wir uns an dieser Stelle Adornos wesentliche Gedanken dazu noch einmal vergegenwärtigen. In einer Marktökonomie schwebt die ganze menschliche Erfahrung in der Gefahr, auf die von Marx so genannte Äquivalentform reduziert zu werden. Adorno zitiert diese These aus dem Kapital zwar, erläutert sie aber auf verblüffende Weise wie folgt: Der Imperativ der Lebenserhaltung verwandle alle menschlichen Aktivitäten in »bloße Mittel […], vertauschbar reduziert auf die abstrakte Arbeitszeit«. Im Ergebnis werde »[d]ie Qualität der Dinge […] aus dem Wesen zur zufälligen Erscheinung ihres Wertes«. Das Äquivalenzprinzip ist ihm zufolge aber nicht nur ein objektives Element der Ökonomie, sondern »verunstaltet« auch »alle Wahrnehmungen«. Wenn die Welt nun aber in ein Sammelsurium bloßer Waren verwandelt werde, dann durchlaufe auch der Sinnesapparat des Menschen eine Art »Entzauberung«. Und daher rührt nun die Bedeutung der Kinderspiele: »In seinem zwecklosen Tun schlägt es [das Kind; Anm. d. Ü.] mit einer Finte sich auf die Seite des Gebrauchswerts gegen den Tauschwert. Gerade indem es die Sachen, mit denen es hantiert, ihrer vermittelten Nützlichkeit entäußert, sucht es im Umgang mit ihnen zu erretten, womit den Menschen gut und nicht dem Tauschverhältnis zu willen sind, das Menschen und Sachen gleichermaßen deformiert.« 25 Adorno erblickt in diesen Spielen also das Überdauern eines rettenden Prinzips, das ansonsten von seiner Auslöschung bedroht ist. Ohne es theoretisch zu begreifen, erwecke das Kind in seinen Spielzeugen nämlich ein Moment des Widerstands gegen die Warenform zum Leben: »Der kleine Rollwagen fährt nirgendwohin, und die winzigen Fässer darauf sind leer; aber sie halten ihrer Bestimmung der Treue, indem sie sie nicht ausüben, nicht teilhaben an dem Prozeß der Abstraktionen, der jene Bestimmung an ihnen 24 GS 4, S. 259-261. Siehe auch oben, Kap. 1, S. 138-143. 25 Ebd., S. 260.

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nivelliert, sondern als Allegorien dessen stillhalten, wozu sie spezifisch da sind.« Für die Logik des Marktes sind Spiele wie diese natürlich ein Randphänomen; sie sind in die herrschende Ordnung »versprengt«, aber »unverstrickt«. Doch gerade aufgrund ihrer Randständigkeit verkörpern sie für ihn eine Alternative zu der gegenwärtigen Welt, denn »[s]ie sind bewußtlose Übungen zum richtigen Leben«. 26 Diese Rekapitulation von Adornos Anmerkungen zu den Kinderspielen soll hier dazu dienen, die besondere Bedeutung zu unterstreichen, die er Erfahrungen nichtfungibler Partikularität beimisst. Wenn er einen solchen Wert auf »Szenen von der Kindheit« legt, dann nämlich deshalb, weil er glaubt, dass solche Momente normalerweise nicht von der nahezu tödlichen Entstellung betroffen seien, die sich der Erfahrung bemächtige, sobald der Einzelne seine Rolle in der Erwachsenenwelt des Warentauschs einnehme. Das könnte übrigens auch erklären, warum auch Erwachsene es manchmal so angenehm finden, Kindern beim Spielen zuzusehen; in ihrer Unschuld können wir die chiffrierte Verheißung eines besseren Lebens erahnen. Das Kind bewahrt in sich noch das mimetische Vermögen im vollen Umfang auf, das sich beim Erwachsenen tendenziell abschwächt – was weiterhin erklären könnte, warum das Kind eine so starke Faszination für die Tiere hegt, deren Namen allein schon ihre Besonderheit zu verkörpern scheinen und das »schlechterdings nicht Vertauschbare« sind. 27 Solche Erfahrungen von dem, was der Äquivalentform widersteht, sind für Adorno vor allem deshalb von so enormer Relevanz, weil er der Überzeugung ist, dass sie uns den Vorschein einer besseren Welt erhaschen lassen, in der es endlich allen Dingen gestattet wäre, sich in ihrer irreduziblen Andersartigkeit und Besonderheit zu zeigen. Dieser »versöhnte Zustand annektierte« also »nicht mit 26 Ebd., S. 260f. 27 Ebd., S. 261.

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philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, daß es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogen wie des Eigenen«, wie er in der Negativen Dialektik schreibt. 28 Ich bin auf diese Reflexionen hier also nicht deshalb erneut eingegangen, weil ich sagen wollte, dass Adorno solche Erfahrungen als spezielles Privileg betrachtet hätte, das allein der verzauberten Welt der Kindheit vorbehalten wäre. Das Glück, das wir in der nichtfungiblen Partikularität der Dinge finden, ist uns ihm zufolge nämlich auch in jenem rätselhaften Phänomen zugänglich, das er »metaphysische Erfahrung« nennt. 29 Die Verbindung zwischen ihr und den Kinderspielen der Kindheit ist dabei gar nicht so überraschend, wie man vielleicht vermutet. Denn jene Erfahrung, die Adorno »metaphysisch« nennt, liegt nicht in einem übersinnlichen Reich der reinen Ideen oder Formen; sie besitzt vielmehr genau die Eigenschaften der Materialität und Partikularität, die dieser auch in der Kindheitserfahrung erblickt. Erstmals eingeführt hat er diese Kategorie offenbar in seinen Vorlesungen zur negativen Dialektik aus dem Jahr 1965/66, wo er über die Möglichkeit »geistige[r] Erfahrung« spekuliert. 30 In der gedruckten Fassung der Negativen Dialektik selbst modifiziert er diese Wortwahl und nennt sie fortan »metaphysisch«. Diese Änderung ist nicht unwichtig, denn die Idee metaphysischer Erfahrung zählt gewiss zu den undurchsichtigsten Themen in all seinen Schriften, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil dieser Terminus selbst eine bewusste, gegen die philosophische Tradition gerichtete Grenzüberschreitung signalisiert. Für Kant meint Metaphysik das, was die 28 GS 6, S. 192. 29 Eine genauere Erläuterung dieses Begriffs findet sich in Peter E. Gordon, »Adorno’s Concept of Metaphysical Experience«, in: ders. u. a. (Hg.), A Companion to Adorno, S. 549-564. 30 NGS, Abt. IV, Bd. 16; zum »Begriff der geistigen Erfahrung« siehe bes. die 8. Vorlesung (ebd., S. 114-128).

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Grenzen aller möglichen Erfahrung übersteigt; 31 zu behaupten, dass unsere Erfahrung dennoch eine genuin metaphysische Dimension besitzen oder sogar eine Form von metaphysischem Wissen hervorbringen könne, würde daher augenscheinlich im Widerspruch mit der althergebrachten Terminologie stehen. Trotzdem zeigt sich Adorno fasziniert von der Frage, ob so etwas wie eine »metaphysische Erfahrung« in der Moderne möglich wäre, wo für ihn die Erfahrung als solche ja schon von ihrer Auslöschung bedroht ist. 32 So wie er sie versteht, würde sie in einigen Aspekten jenen »Urerlebnissen« ähneln, die religiösen Charakter besitzen – mit dem Unterschied, dass eine Erfahrung metaphysischer Art auch an einem ganz konkret bestimmbaren diesseitigen Ort für jene möglich wäre, die der Religion abgeschworen haben. Am besten fängt möglicherweise Marcel Proust diese Idee ein, der nach Adorno nämlich jenes »Glück« beschwört, »das Namen von Dörfern verheißen wie Otterbach, Watterbach, Reuenthal, Monbrunn«. 33 Ganz in diesem Sinne des Proust’schen Vorbilds glaubt nun auch er, dass Ortsnamen das Paradigma wahrer Erfahrung selbst seien. Dies gelte besonders (aber nicht nur) für Kinder:

31 Dieser bekannte Einwand gegen metaphysisches Wissen von welttranszendierenden Entitäten (wie Gott oder der unsterblichen Seele) hält Kant jedoch nicht davon ab, die »metaphysischen Anfangsgründe« der Naturwissenschaft zu erforschen, ebenso wie die »Metaphysik der Sitten« und so weiter. Solche Untersuchungen stiften allerdings auch kein genuines Wissen von den Gegenständen, die jenseits der Grenzen möglicher Erfahrung liegen. 32 Siehe zu einer anderen Auffassung von metaphysischer Erfahrung J. M. Bernstein, »Why Rescue Semblance? Metaphysical Experience and the Possibility of Ethics«, in: Huhn/Zuidervaart (Hg.), The Semblance of Subjectivity, S. 177-212. Siehe auch Gordon, »Adorno’s Concept of Metaphysical Experience«. 33 GS 6, S. 366.

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Dem Kind ist selbstverständlich, daß, was es an seinem Lieblingsstädtchen entzückt, nur dort, ganz allein und nirgends sonst zu finden sei; es irrt, aber sein Irrtum stiftet das Modell der Erfahrung, eines Begriffs, welcher endlich der der Sache selbst wäre, nicht das Armselige von den Sachen Abgezogene. 34

Das entscheidende Signet einer solchen Erfahrung ist demnach ihre Singularität, dass sie also an einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit gebunden ist. Daraus folgt allerdings, dass sie für jeden Menschen vollkommen anders sein muss. So hat Adorno selbst offenbar eine besondere Verbindung zu dem Örtchen Amorbach verspürt, wo er und seine Eltern häufig ihre Ferien verbrachten. 35 Die metaphysische Erfahrung präsentiere sich »[e]inzig angesichts des absolut, unauflöslich Individuierten« und um34 Ebd. 35 »[Es] läßt einzig an einem bestimmten Ort die Erfahrung des Glücks sich machen, die des Unaustauschbaren, selbst wenn nachträglich sich erweist, daß es nicht einzig war« (»Amorbach«, in: GS 10.1, S. 302-309, hier S. 305). Siehe auch jene bemerkenswerte Passage aus der letzten Vorlesung aus der Reihe von 1965 zur Metaphysik, wo es heißt: »Ich selber habe es auch an solchen Namen erfahren; wenn man als Kind in Ferien ist und Namen wie Monbrunn, Reuenthal, Hambrunn liest oder hört, dann hat man das Gefühl dabei: wenn man dort wäre, an diesem Ort, da wäre es. Dieses ›es‹, – was das ›es‹ ist, ist außerordentlich schwer zu sagen; man wird, auch darin den Spuren Prousts folgend, wohl am ehesten sagen können, daß es das Glück sei. Wenn man dann an einen solchen Ort hingelangt, dann ist es dort auch nicht, dann hat man es nicht. Sehr oft sind das dann ganz törichte Dörfer. Und wenn in ihnen überhaupt noch eine Stalltür offen ist und es nach einer lebendigen und wirklichen Kuh und Mist und ähnlichen Dingen riecht, woran wohl auch diese Erfahrung haftet, dann muß man schon sehr dankbar heutzutage sein. […] Man hat also in solchen Momenten ein eigentümliches Gefühl viel eher des Zurückweichens […]. Ich würde danach sagen, daß das Glück – und es besteht eine unendlich tiefe Konstellation zwischen metaphysischer Erfahrung und Glück – das Innere der Gegenstände als ein diesen zugleich Entrücktes sei« (NGS, Abt. IV, Bd. 14, S. 218f.).

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fasse die »Hoffnung«, dass einem durch die Annäherung an jenen spezifischen Ort eine Erfahrung vollkommener Befriedigung oder vollkommenen Glücks zuteilwerde. Man würde »hingerissen sein an dem einen Ort, ohne aufs Allgemeine zu schielen«. 36 Dies schildert er als Erfahrung einer nahezu vollkommenen Verschmelzung, so als könne man endlich einen ganz einzigartigen Ort wirklich bewohnen: »Man glaubt, wenn man hingeht, so wäre man in dem Erfüllten, als ob es wäre.« 37 Die Erfahrungslücke zwischen Subjekt und Objekt würde sich in einer solchen Situation endlich schließen, und es wäre, mit Adornos eher rätselhaften Worten gesprochen, der »Begriff des Begriffs« erfüllt. In der metaphysischen Erfahrung scheint das Subjekt mithin denjenigen paradoxen Zustand erlangt zu haben, nach dem es sich immer schon gesehnt hat: seine komplette Identifikation mit dem Nichtidentischen. Metaphysische Erfahrung würde daher nichts Geringeres als das »Versprechen des Glücks« bedeuten. 38 Zwar könnten Adorno seine Ausführungen zu diesem enigmatischen Begriff im Prinzip den Vorwurf eines naiven Romantizismus eintragen; wir dürfen allerdings nicht darüber hinwegsehen, dass er die Frage verneint, ob eine solche Erfahrung jemals vollständig gelingen könne, und das vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil das ihn umgebende Unglück der Welt einem solchen Moment der vermeintlichen Seligkeit stets entgegenstehen wird. Das Ideal der Verschmelzung von Subjekt und Objekt mag zudem zwar irgendwo am Horizont aufscheinen, doch selbst wenn man letztlich an jenem bestimmten Ort ankäme, so könnte man dort doch niemals jene angestrebte Erfüllung finden: »Ist man wirklich dort, so weicht das Versprochene zurück wie der Regenbogen«, wie Adorno es formu36 GS 6, S. 366. 37 Ebd. 38 Ebd.

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liert. 39 Trotz der Unvollkommenheit dieser Erfahrung verspüre man aber keine Enttäuschung; vielmehr »fühlt man, nun wäre man zu nah, und darum sähe man es nicht«. 40 Metaphysische Erfahrung ist demzufolge ein Konzept, das auf eine Form der vollkommenen Erfüllung oder des Glücks hindeutet, die wir noch nicht wirklich erreicht haben. Dabei ist dieser Begriff offenbar in sich selbst widersprüchlich – oder »antinomisch«, wie Adorno uns mitteilt, wenn auch nicht im Kant’schen Sinne –, weil er uns auf die Möglichkeit einer Erfahrung des Subjekts aufmerksam macht, die sich zugleich dessen Kontrolle entzieht: Was an Metaphysischem ohne Rekurs auf die Erfahrung des Subjekts, ohne sein unmittelbares Dabeisein verkündet wird, ist hilflos vor dem Begehren des autonomen Subjekts, nichts sich aufzwingen zu lassen, was nicht ihm selber einsichtig wäre. 41

Die antinomische Qualität, die er dieser Erfahrungsweise zuschreibt, ist folglich ein konstitutives Merkmal jeder Erfahrung, die scheinbar totale Erfüllung verheißt. »Glück, das einzige an metaphysischer Erfahrung, was mehr ist denn ohnmächtiges Verlangen, gewährt das Innere der Gegenstände als diesen zugleich Entrücktes«, so Adorno weiter. 42 Ungeachtet dieser diversen Erläuterungen bleibt der Status der metaphysischen Erfahrung in seiner Philosophie jedoch unklar. Bevor ich mich seiner Analyse des Verhältnisses zwischen Metaphysik und Moral zuwende, verdienen drei Punkte eine besondere Erwähnung. Erstens sollten wir die metaphysische nicht mit der religiösen 39 40 41 42

Ebd. Ebd. Ebd., S. 367. Ebd. (meine Hervorhebung, P. G.).

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Erfahrung in eins fassen, auch wenn es zweifellos naheliegt, sie als ein säkulares Analogon zur Offenbarung zu verstehen. Besonders wichtig scheint es Adorno gewesen zu sein, klar zwischen ihr auf der einen Seite und »religiöse[n] Urerlebnisse[n]« auf der anderen zu differenzieren. Dies könnte auch erklären, warum er seine Wortwahl geändert und von dieser Erfahrung fortan als »metaphysischer« statt wie zuvor als »geistiger« gesprochen hat. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass die metaphysische Erfahrung einen absolut diesseitigen Charakter aufweist. Sie fordert die Selbstgewissheit des Subjekts zwar heraus, ist aber trotzdem die Begegnung mit einem bestimmten Ort, der im Diesseits der objektiven Welt lokalisiert ist, und keine Theophanie, die das Subjekt für ein himmlisches Jenseits empfänglich macht. 43 Zweitens bezeichnet »metaphysische Erfahrung« eine Begegnung mit der materiellen Welt in all ihrer irreduziblen Fülle und Partikularität. Dass dieser Gedanke Adorno so außerordentlich stark beschäftigt, liegt insbesondere daran, dass er seinen Wunsch repräsentiert, unsere philosophische Aufmerksamkeit auf das Nichtidentische als dasjenige zu lenken, was die Vermögen des kognitiven Subjekts stets übersteigt. Er ist zwar nicht primär an der Frage geografischer Singularität interessiert, zeigt sich aber dennoch fasziniert von der Macht der Eigennamen, da diese immer nur auf Besonderes und nie auf Allgemeines referieren. Drittens und am bedeutsamsten: Das wichtigste Merkmal metaphysischer Erfahrung ist, dass sie ein Glücksversprechen bereithält. Ich habe in diesem Buch dafür plädiert, dass Adorno in der Lage sein muss, zumindest auf einige Instanzen in unserer Erfahrung hinzudeuten, die bezeugen, dass unsere Hoffnungen auf eine bessere Welt nicht aussichtslos sind, um wirklich von der 43 Zu einer alternativen Lesart des Gedankens einer »geistigen« Erfahrung siehe Hent de Vries, »On the ›Spiritual‹ in Aesthetic Experience; or, The ›Nonfactual‹ in Facticity«, in: New German Critique 48:2 (2021), S. 43-61.

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Möglichkeit eines menschlichen Gedeihens sprechen zu können. Und die Kategorie der metaphysischen Erfahrung soll nun genau diese philosophische Bedingung erfüllen. 44 Sie ist normativ aufgeladen – aber genauso wie bei jener »Metaphysik«, die sich in Gestalt des Lichtschlags zeigt, der in Beethovens Fidelio in die Gefängniszelle einfällt, ist dies eine Art von Normativität, die der Welt absolut immanent ist. Und obgleich eine solche Erfahrung zwangsläufig partiell und unvollkommen sein wird, weist sie auf die Möglichkeit totalen Glücks hin, die unter den herrschenden Bedingungen unverwirklicht bleibt.

Eine materialistische Moral In meiner bisherigen Untersuchung zu den verschiedenen Weisen, auf die Adorno den Materialismus versteht, haben wir gesehen, dass seine diesbezügliche Auffassung so geräumig ist, dass sie es ihm sogar ermöglicht, vermeintlich tote Kategorien aus der metaphysischen Tradition in materialistischen Begriffen wiederzubeleben. Dies ist auch, wie ich sagen würde, der philosophische Hintergrund seiner bemerkenswerten Aussage, die Metaphysik sei »in das materielle Dasein […] geschlüpft«. 45 In jedem Fall ist sein

44 An dieser Stelle stimme ich mit Bernsteins klugen Bemerkungen über »flüchtige ethische Ereignisse« und ihren bedrängten normativen Status überein. »Flüchtige ethische Ereignisse sind«, wie er schreibt, »Adornos Vorstellung davon, wie Normativität in der Spätmoderne erfahren wird: Die Sphäre des Normativen, die, wenn sie im vollen Sinne, das heißt als mehr als negative gedacht wird, ist ein Reich der emphatischen, aber doch materiellen Erfahrung; und eine derartige Erfahrung ist eine von Transzendenz und überlagert sich daher mit dem, was früher einmal unter die Rubrik des Metaphysischen gefasst wurde« (J. M. Bernstein, Adorno. Disenchantment and Ethics, Cambridge 2001, S. 419). 45 NGS, Abt. IV, Bd. 14, S. 183.

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Punkt der, dass der metaphysische Forschungsansatz weder einfach verschwunden noch durch die logische Sprachanalyse entwertet worden sei, wie es die logischen Positivisten, so etwa Rudolf Carnap, behauptet haben. 46 Adorno widersetzt sich einer solchen deflationären Geste mit Entschiedenheit und behauptet stattdessen, die Metaphysik sei dialektisch aufgehoben worden: Ihre veränderte Bedeutung bilde eine fundamentale Veränderung in der Erfahrung und im Selbstverständnis des Menschen ab. 47 Und diese These präsentiert er uns in diversen Ausführungen immer wieder, aber vielleicht nur ein einziges Mal in einer so kraftvollen Formulierung wie im Schlussteil der Negativen Dialektik, der mit »Meditationen zur Metaphysik« überschrieben ist. Sie umfasst nämlich auch eine starke Interpretation jener historischen Ereignisse, die er unter der Ortsbezeichnung »Auschwitz« zusammenfasst – ein Terminus, den er nicht nur als Platzhalter für die Verbrechen des »Dritten Reichs«, sondern auch in einem abstrakteren Sinne als Bezeichnung für alle ähnlichen Gräueltaten und den sich daraus ergebenden Bruch im menschlichen Selbstverständnis verwendet. Die Annahme, dass unsere metaphysischen Ideen irgendwie mit unserer Welterfahrung kompatibel sind, war nach Adorno einst eine der tragenden Säulen der philosophischen Tradition; das unveränderliche Reich der »platonischen Formen« oder des Hegel’schen Geistes stellten wir uns als manifestiert im zeitlichen Reich der Erscheinungen vor. Diese Säule 46 Siehe Rudolf Carnap, »Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache«, in: Erkenntnis 2 (1931), S. 219-241. Ein Kommentar dazu findet sich in Michael Friedman, A Parting of the Ways. Carnap, Cassirer, and Heidegger, Chicago, La Salle 2000. Siehe auch Peter E. Gordon, Continental Divide. Heidegger, Cassirer, Davos, Cambridge (Mass.) 2010, S. 99 und 327f. 47 Zur »Aufhebung« der Metaphysik bei Adorno: Michael Theunissen, »Negativität bei Adorno«, in: Ludwig von Friedeburg, Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt/M. 1983, S. 41-65, hier S. 60f.

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habe somit als säkularisierter Ausdruck jener »mystischen« oder theologischen Lehre fungiert, dass das »Innerweltliche« für die »Transzendenz« relevant sei. Nach Auschwitz jedoch haben alle solche Annahmen ihre Glaubwürdigkeit vollkommen eingebüßt; die Behauptung, wir könnten in der weltlichen Katastrophe immer noch eine transzendente Bedeutung erkennen, ist nach Adorno kaum mehr als ein »Salbadern« und füge zudem den Opfern massives Unrecht zu. 48 Seine Schlussfolgerung aus alldem lautet, dass unsere »Fähigkeit zur Metaphysik« nach Auschwitz »gelähmt« sei, da »was geschah, dem spekulativen metaphysischen Gedanken die Basis seiner Vereinbarkeit mit der Erfahrung zerschlug«. 49 Die mit dem Namen »Auschwitz« assoziierten Grausamkeiten nötigen uns deshalb dazu, unser aus der metaphysischen Tradition überliefertes Vokabular einer Revision zu unterziehen. Im Verbund mit den katastrophalen Veränderungen in der geschichtlichen Erfahrung durchliefen auch jene einstmals der metaphysischen Spekulation angehörigen Kategorien eine dramatische Transformation und waren gezwungen, sich von ihren jenseitigen Bezugspunkten abzuwenden. Adorno betont allerdings, dass dieser Wandel die Kategorien nicht vollständig ihrer Bedeutung beraubt habe; dieser Wandel ist ihm zufolge nämlich keine schlichte »Überwindung«, sondern eben eine dialektische »Aufhebung« der Metaphysik in den Rahmen der diesseitigen Realitätserfahrung. Die metaphysischen Ideen überdauern nicht als Verweise auf ein jenseitiges oder übersinnliches Reich, sondern nur in der Sphäre unseres moralischen Denkens, wo sie als Postulate für eine diesseitige kritische Praxis eine wichtige Rolle spielen. Wie ich unten noch näher ausführen werde, versucht Adorno hier, die kantische Kategorie der metaphysischen Ideen für die Zwecke einer neuen Moralphilosophie fruchtbar zu machen. Damit wir 48 GS 6, S. 354. 49 Ebd.

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verstehen, wie das möglich sein soll, müssen wir jetzt die von ihm so genannte Kant’sche »Rettung der intelligiblen Sphäre« einer genaueren Analyse unterziehen. 50

Das Postulat des höchsten Guts Zu den bemerkenswertesten Themen in Adornos Philosophie zählt seine Aussage, dass wir an den überlieferten Begriffen der metaphysischen Tradition festhalten sollten, obgleich sie entleert und mit der modernen Erfahrung nicht mehr kompatibel seien – und zwar deshalb, weil sie ihre Geltung möglicherweise bewahren könnten, wenn sie eine Rolle in unserer kritischen Praxis spielen. Diese These bringt er an vielen Stellen seines Werkes zum Ausdruck, am prominentesten aber wohl im letzten Satz der Negativen Dialektik, wo uns mitgeteilt wird, dass das kritische Denken »solidarisch mit der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes« sei. 51 Die Bedeutung dieses eigenartigen Gedankens können wir uns besser klarmachen, wenn wir uns Adornos Bemerkungen zum Status der Postulate in Kants praktischer Philosophie vergegenwärtigen. Betrachten wir dazu etwa die folgende Passage: Der Kant der Vernunftkritik hat in der Ideenlehre ausgesprochen, ohne Metaphysik sei Theorie nicht möglich. Daß sie aber möglich ist, impliziert jenes Recht der Metaphysik, an dem der gleiche Kant festhielt, der sie, durch die Wirkung seines Werkes, zerschmetterte. Die Kantische Rettung der intelligiblen Sphäre ist nicht nur, wie alle wissen, protestantische Apologetik, sondern möchte auch in die Dialektik der Aufklärung dort eingreifen, wo sie in der Abschaffung von Vernunft selbst terminiert. 52 50 Ebd., S. 377f. 51 Ebd., S. 400. 52 Ebd., S. 377f.

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Hier wird uns ein Paradigma der dialektischen Interpretation vorgeführt: Adorno erkennt an, dass Kant in den üblichen philosophiegeschichtlichen Darstellungen als jener »Alleszermalmer« (Moses Mendelssohn) porträtiert wird, der die spekulative Metaphysik an ihr Ende gebracht habe. Nicht weniger bekannt ist er allerdings dafür, dass er in der zweiten Kritik darum bemüht war, eine Ehrenrettung genau derjenigen metaphysischen Ideen vorzunehmen, die er in der ersten noch als illegitim verworfen hatte. Dies tat er dadurch, dass er die zentralsten unter ihnen (Gott, Freiheit und Unsterblichkeit) von Kategorien der metaphysischen Erkenntnis in Postulate der praktischen Vernunft verwandelte. Seine »Rettung« des Reichs des Intelligiblen sollte nun allerdings nicht als fadenscheinige Fingerübung in religiöser Apologetik abgetan werden, so wie es Kritiker wie etwa Heinrich Heine lange Zeit behauptet haben. 53 Stattdessen muss sie nach Adorno als ein Versuch gedeutet werden, das zu bewahren, was an unseren metaphysischen Begriffen wirklich unverzichtbar ist, auch wenn Kant in Komplizenschaft mit der Aufklärung darauf hingearbeitet hat, ihnen das Anrecht auf einen legitimen Platz in der empirischen Erfahrung zu nehmen. Der nominalistische Trend in der modernen Philosophie hat laut Adorno sämtlichen metaphysischen Ideen allmählich ihre objektive Bedeutung genommen; dass Kant dennoch zu ihren Gunsten aktiv auf diese Entwicklung einwirken konnte, war der Tatsache geschuldet, dass er sie zwar aus der theoretischen Philosophie verbannt, zugleich aber ihre entscheidende Rolle für die praktische Philosophie anerkannt 53 Der Vorwurf Heines gegen Kant lautete konkret, dass die Wiederbelebung der Religion in Gestalt der Theorie der Postulate ein Einknicken vor dem moralischen Volksempfinden sei. »›Der alte Lampe« nämlich »muß einen Gott haben, sonst kann der arme Mensch nicht glücklich sein‹«, wie Heine Kant über seinen alten Diener Lampe sagen lässt (Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Berlin 2013, S. 269).

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hat. Dabei richteten sich seine Bemühungen speziell auf die religiöse Idee der Unsterblichkeit. Oder wie Adorno es formuliert: »Wieviel tiefer die Kantische Begierde des Rettens gründet denn einzig im frommen Wunsch, etwas von den traditionellen Ideen inmitten des Nominalismus und wider ihn in Händen zu halten, bezeugt die Konstruktion der Unsterblichkeit als eines Postulats der praktischen Vernunft. Es verurteilt die Unerträglichkeit des Bestehenden und bekräftigt den Geist, der sie erkennt.« 54 Um die Relevanz dieser Kant-Interpretation richtig zu begreifen, braucht es einigen Hintergrund. In der Kritik der praktischen Vernunft führte Kant das Postulat der Unsterblichkeit ein, um damit eine Lücke in unserem moralischen Denken zu schließen. Ihm zufolge handeln wir in moralischer Hinsicht nämlich ausschließlich auf Grundlage einer aus der Vernunft abgeleiteten Pflichtvorstellung und ohne Rücksicht auf ein von ihr eventuell tangiertes Lustempfinden oder unsere persönliche Zufriedenheit. Kant sah allerdings auch ein, dass eine so strenge und vollkommen unpersönliche Auffassung von Pflicht uns keinerlei Zusicherung zu leisten vermag, dass unser Tun am Ende einen Zustand hervorbringen wird, in dem sich die Forderungen der Moral mit unserem persönlichen Bedürfnis nach Glückseligkeit decken würden. Wie ich bereits erläutert habe, ist die praktische Vernunft ihm zufolge deshalb darin gerechtfertigt, das Postulat des höchsten Guts aufzustellen. Adorno legt nun eine beeindruckende, wenn auch unkonventionelle Interpretation dieses Argumentationsgangs vor, weil er darin ein Anzeichen für einen ungelösten Wettstreit in Kants Denken zwischen der Vernunft einerseits und den ihr von ihr selbst auferlegten Beschränkungen andererseits erblickt. Trotz seines Anspruchs, die Vernunft einzuhegen, käme Kant nämlich nicht umhin, sich einen Zustand ultimativer Befriedigung ausmalen zu müssen, der sich notwendigerweise selbst noch über 54 GS 6, S. 377-382, hier S. 378.

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die Grenzen des Todes hinaus erstrecken würde. Denn, so Adorno, »[d]aß keine innerweltliche Besserung ausreichte, den Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; daß keine ans Unrecht des Todes rührte, bewegt die Kantische Vernunft dazu, gegen Vernunft zu hoffen. Das Geheimnis seiner Philosophie ist die Unausdenkbarkeit der Verzweiflung.« 55 Adorno selbst kann das Konzept Unsterblichkeit zwar in keinem wörtlichen Verständnis akzeptieren, da ihn sein Materialismus daran hindert, sich solch extravaganten Vorstellungen zu verschreiben. 56 So wie Kant lehnt nämlich auch er den Gebrauch metaphysischer Ideen innerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung als illegitim ab. Ebenso wie bei Kant kehrt aber auch bei ihm die Vorstellung, die er als Gegenstand möglicher Erkenntnis verworfen hat, in Gestalt eines Postulats der praktischen Vernunft wieder. Für Adorno ist das Postulat des höchsten Guts für die gesellschaftskritische Praxis unverzichtbar, da es ihm zufolge ein maximalistisches Verlangen zum Ausdruck bringt: Wir konfrontieren die Welt mit der Maximalforderung nach ultimativem Glück, und an diesem Maßstab gemessen muss sie als gescheitert beurteilt werden. Dabei kann es durchaus sein, dass die Forderung unmöglich zu befriedigen ist; dennoch ist sie die motivationale Kraft, die all unserer Kritik innewohnt und ohne die wir da-

55 Ebd. 56 Siehe allerdings sein Gespräch mit Ernst Bloch (»Etwas fehlt … Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. Ein Gespräch mit Theodor W. Adorno«, in: Rainer Traub, Harald Wieser [Hg.], Gespräche mit Ernst Bloch, Frankfurt/M. 1980, S. 58-77), in dem er sagt, »daß ohne die Vorstellung eines, ja, fessellosen, vom Tode befreiten Lebens der Gedanke an die Utopie, der Gedanke der Utopie überhaupt gar nicht gedacht werden kann«. Die Idee der Utopie sei gewiss widersprüchlich, da sie »ohne die Abschaffung des Todes gar nicht konzipiert werden kann«. Andererseits gebe es aber dort, »wo die Schwelle des Todes nicht zugleich mitgedacht wird, […] eigentlich auch keine Utopien« (ebd., S. 68).

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zu gezwungen wären, die Welt so hinzunehmen, wie sie ist. Was Adorno und Kant in ihrer Berufung auf diesen Maßstab unterscheidet, ist die Überzeugung des Ersteren, die aus der Metaphysik gewonnene Vorstellung vom höchsten Gut müsse in rein materialistischen Termini reformuliert werden. Das ist genau das, was er meint, wenn er sagt, dass »die Metaphysik […] in das materielle Dasein [geschlüpft]« sei. 57 Der Grund dafür, dass Adorno das Thema einer materialistischen Transformation metaphysischer Begriffe aufwirft, ist seine Absicht, eine neue Moralkonzeption zu entwickeln. In seiner Vorlesung Metaphysik. Begriff und Probleme, die er 1965, nur ein Jahr vor der Veröffentlichung der Negativen Dialektik, gehalten hat, scheut er sich nicht, von dieser neuen Moral als der »Forderung nach dem richtigen Leben« zu sprechen, die ein metaphysisches, nämlich »über die Faktizität hinausweisendes Prinzip« ausdrücke. In der folgenden Passage fasst er diese Thesen zu einer robusten Fürsprache für einen moralischen Materialismus zusammen: Wenn ich Ihnen sage, daß eigentlich der Grund der Moral heute in […] dem Körpergefühl, in der Identifikation mit dem unerträglichen Schmerz beruht, so zeige ich Ihnen damit etwas von einer anderen Seite her an, was ich Ihnen vorhin in einer viel abstrakteren Form anzudeuten versucht habe, – nämlich daß die Moral, das was man moralisch nennen kann, also die Forderung nach dem richtigen Leben, fortlebt in ungeschminkt materialistischen Motiven; daß gerade also das metaphysische Prinzip eines solchen »Du sollst« – und dies »Du sollst« ist ja ein metaphysisches, ein über die bloße Faktizität hinausweisendes Prinzip –, daß das selber seine Rechtfertigung eigentlich finden kann nur noch in dem Rekurs auf die materielle Wirklichkeit, auf die leibhafte, physische Realität und nicht an seinem Gegenpol, als reiner Gedanke, daß also, sage ich, die Metaphysik geschlüpft ist in das materielle Dasein. 58 57 NGS, Abt. IV, Bd. 14, S. 183. 58 Ebd., S. 182f. (meine Hervorhebungen, P. G., außer bei »Du sollst«).

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Dieser Abschnitt verdient eine genauere Inaugenscheinnahme, da er eine der unverhohlensten Ausformulierungen von Adornos moralischem Materialismus ist und uns an seinem Versuch teilhaben lässt, die metaphysischen Ideen für eine materialistische Moralauffassung zu retten. In ihrer ursprünglichen Form bezogen diese Ideen sich auf die intelligible Welt; nach dem historischen Zusammenbruch der metaphysischen Tradition ist diese Bezugnahme jedoch nicht mehr möglich. Trotzdem ist Adorno auch nicht der Meinung, dass sie ihre Relevanz aufgrund dieses Kollapses komplett verloren hätten. Stattdessen glaubt er, dass sie von der rein intelligiblen Sphäre umgeleitet und in die materielle Wirklichkeit verlagert werden könnten. Dabei bestätigen sie nicht einfach die Realität in ihrem Istzustand; im Anschluss an das Modell der kantischen Postulate ist ihre Funktion stärker eine präskriptive als eine deskriptive, denn sie tragen, wie erwähnt, die normative Kraft eines »Du sollst« in sich. Ihre Form ist zudem auch nicht eine bloß negative; »Du sollst« bedeutet mehr als »Du sollst nicht«. 59 Sie richten also eine moralische Forderung an uns, die über die bestehende Welt hinausweist und auf das hindeutet, was Adorno das »richtige Leben« nennt. 60 In diesen Überlegungen steht einiges auf dem Spiel. Zunächst: Wenn wir seine Ausdrucksweise wörtlich nehmen, dann sieht es so aus, als könnten wir seine Moralphilosophie nicht mit rein negativen Begriffen charakterisieren, da seine kritischen Bemühungen sich nicht einfach fort vom Schlechten, sondern auf das Gute hin orientieren. Bedeutsamer ist allerdings, dass wir nicht übersehen können, wie sehr dieses Konzept des guten oder »richtigen Lebens« mit einer maximalistischen Bedeutung aufgeladen ist. Die normative Forderung, die es der Welt auferlegt, weist immer noch eine Spur jener metaphysischen Idee auf, dass nichts, nicht 59 Diese Einsicht verdanke ich Iain Macdonald (private Korrespondenz). 60 GS 4, S. 13.

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einmal der Tod, unsere Hoffnung auf menschliche Erfüllung trüben dürfe. Und obgleich das summum bonum oder »höchste Gut« nur als Postulat für die kritische Praxis überlebt, bleibt sein Anspruch auf ultimative Erfüllung ungeschmälert bestehen. In diesem Sinne einer wahrhaft maximalen Forderung hat Adorno von der kantischen Postulatenlehre offenbar die, wie er sie nennt, »Unausdenkbarkeit der Verzweiflung« übernommen. Er erkennt natürlich, dass diese normative Forderung unwahrscheinlich stark ist und keine Welt, in der es noch Leid gibt, einem dermaßen strengen Kriterium genügen könnte. Denn noch »[d]ie kleinste Spur sinnlosen Leidens in der erfahrenen Welt straft die gesamte Identitätsphilosophie Lügen«, wie er schreibt und anschließend, Walter Benjamin zitierend, ergänzt: »›Solange es noch einen Bettler gibt, solange gibt es noch Mythos.‹« 61 Doch gerade diese entmythologisierte Utopie einer Welt ohne Leiden ist es, die Adorno genau die kritische Orientierung verschafft, die er benötigt: Weil unsere Forderungen maximal sind, muss folglich auch unsere Kritik an der bestehenden Welt radikal und schonungslos sein.

Glück und Leiden Zum Abschluss dieses Kapitels möchte ich noch den Punkt hervorheben, dass Adornos Materialismus nicht einfach nur ein Thema in einem formalen philosophischen Argumentationsgang ist. Vielmehr ist er eindeutig davon überzeugt, dass der Materialismus den einzig geeigneten Rahmen abgebe, in dem wir das Phänomen des Leidens in der menschlichen Erfahrung im vollen Sinne erfassen können. Tatsächlich ist schon das Faktum, dass wir überhaupt leiden können, schlicht konstitutiv für unsere materielle Existenz als menschliche Wesen. Diese Möglichkeit steckt 61 GS 6, S. 203 (meine Hervorhebung, P. G.).

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nämlich schon in der philosophischen Idee vom Vorrang des Objekts, »[d]enn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet«, wie Adorno behauptet. 62 Die philosophische These, dass wir diesen Vorrang anerkennen sollten, soll jedoch mehr als nur eine These sein. Sie beschreibt nämlich eine moralische Forderung oder ein »Du sollst«, das wir auf einer somatischen Ebene fühlen und das uns dazu drängt, uns der Realität des menschlichen Leidens offen und ungeschützt zu stellen. Natürlich könnten wir auch versuchen, uns vor dieser Realität zu verbarrikadieren, doch das würde voraussetzen, dass wir uns von der Welterfahrung insgesamt abschneiden. Und das ist genau das, worauf die idealistische Tradition in Adornos Augen letztlich hinausläuft: Für ihn ist sie ein langes und fruchtloses Bemühen darum, die Tatsache unserer eigenen Abhängigkeit von der Welt und den materiellen Bedingungen zu leugnen, die unser Leiden zu einer stets vorhandenen und wahrhaft konstitutiven Möglichkeit machen. In Kapitel 3 habe ich von Adornos Ethik der Vulnerabilität gesprochen. Jetzt sind wir endlich an einem Punkt angelangt, an dem wir die eigentliche Bedeutung dieses ethischen Themas erfassen können. Die Bedingungen der Möglichkeit für unser Glück sind auch die unseres Leidens; wir können nicht auf das eine hoffen, wenn wir uns dem anderen nicht zugleich auch aussetzen. Dies ist daher auch der eigentliche Grund dafür, warum wir dem Idealismus abschwören und den Vorrang des Objekts anerkennen müssen. Denn wir können keine authentische Erfahrung von Glück machen, wenn wir uns nicht auch für das Risiko seiner Negation vulnerabel halten. Glück hat aber auch die Funktion einer unerlässlichen, materialistischen Norm, ohne die unsere Kritik nicht in der Wirklichkeit verfangen könnte. Und außerdem könnten wir das Versagen der Welt gar nicht erst diagnostizieren, wenn wir nicht zumindest eine gewisse Erfahrung davon hätten, worin 62 Ebd., S. 29.

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Glück besteht. Erinnern wir uns an Adornos bemerkenswerten Satz, wie er bereits oben in Kapitel 2 zitiert worden ist: »Bewußtsein könnte gar nicht über das Grau verzweifeln, hegte es nicht den Begriff von einer verschiedenen Farbe, deren versprengte Spur im negativen Ganzen nicht fehlt.« 63 Das Falsche in der Welt zu verdammen, zieht uns bereits in ein Medium kontrastierender Begriffe hinein. Wenn wir also nicht in einer bloßen Affirmation des Bestehenden eingesperrt bleiben wollen, dann müssen wir einige uns in der Erfahrung gegebene Hinweise darauf haben, wie die Welt anders sein könnte, als sie ist. An dieser Stelle können wir nun auch erkennen, warum Adorno Leiden und Glück als in einem dialektischen Implikationsverhältnis befindlich ansieht. Uns aufs Glück zu orientieren heißt, den auf die Zukunft hin ausgerichteten Maßstab explizit zu machen, der unsere kritischen Bemühungen motiviert. »Glück« ist nämlich, so Adorno, »wesentlich ein Resultat. Es entfaltet sich am aufgehobenen Leid.« 64 Deshalb ist er auch der Auffassung, dass uns für ein mögliches Leiden offenzuhalten die wichtigste Voraussetzung für jede Moral und jede moralische Kritik sei. 65 Wir müssen uns voll und ganz dazu verpflichten, für das Leiden offenzubleiben und empfänglich für es zu sein, wenn unsere Kritik einen irgendwie gearteten Halt in der materiellen Welt finden soll. Adorno behauptet sogar, dass wir am menschlichen Leid selbst schon eine Art Protest gegen die es hervorbringenden Umstände vernehmen können, wenn wir nur genau genug hinhören. 63 Ebd., S. 370. 64 GS 3, S. 81. Der Ausdruck »aufgehoben« weist uns auf jenes von mir so genannte dialektische Implikationsverhältnis von Leiden und Glück hin. 65 Eine ähnliche Argumentation findet sich auch in den außerordentlich scharfsinnigen Reflexionen in Lambert Zuidervaart, »Metaphysics after Auschwitz. Suffering and Hope in Adorno’s Negative Dialectics«, in: Donald Burke u. a. (Hg.), Adorno and the Need in Thinking. New Critical Essays, Toronto 2007, S. 133-162.

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Oder wie er es ausdrückt: »Weh spricht: vergeh.« Dies trifft allerdings nur insofern zu, als wir auf das Leiden auch auf die angemessene Weise reagieren, das heißt nach Abhilfe für ebenjene Umstände suchen. Es bräuchte eine Form von Anerkennung, durch die unsere eigene Responsivität und Vulnerabilität für die Lage anderer als Ausgangspunkt für ethisches und politisches Handeln fungieren könnten. »Darum konvergiert das spezifisch Materialistische« nach Adorno auch »mit dem Kritischen, mit gesellschaftlich verändernder Praxis«. 66 In dieser Aussage erblicken wir bereits die Keimzelle eines Ansatzes, der erst unter den späteren Vertretern der kritischen Theorie prominent werden sollte, namentlich bei Axel Honneth, der die Anerkennung zum Hauptthema seines Werks gemacht hat. 67 Und obwohl Adorno diese Argumentation nicht im Detail ausgearbeitet hat, so war ihm doch klar, dass jegliche Empfänglichkeit für den Schmerz anderer die Erfahrungsoffenheit des Subjekts voraussetzen muss. Für ihn könnte in der kritischen Theorie daher kaum mehr auf dem Spiel stehen. Denn wie er feststellt, ist »[d]as Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, […] Bedingung aller Wahrheit«. 68

66 GS 6, S. 203. 67 Siehe z. B. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 1994, sowie ders., Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt/M. 2000. 68 GS 6, S. 29.

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5 ÄSTHETISCHE THEORIE

Als der unredigierte Text von Adornos Ästhetischer Theorie im Jahr 1970 posthum veröffentlicht wurde, fiel die Rezeption des Buchs eher kühl aus – nicht zuletzt deshalb, weil darin ein Loblied auf eine Spielart der klassischen Moderne gesungen wurde, die schon in ihrem Niedergang begriffen war. Besonders in den bildenden Künsten hatte sich (im Einklang mit dem sich wandelnden globalen Kapitalismus) das Zentrum der Aufmerksamkeit bereits entscheidend verlagert, nämlich von Paris und Berlin nach New York. Dort hatte in den 1960er Jahren auch noch die letzte, vom heroischen Individualismus eines Jackson Pollock geprägte Phase des abstrakten Expressionismus das Zepter an neue Moden wie die Pop-Art abtreten müssen. Zwei Arbeiten von Andy Warhol aus dem Jahr 1962, die Campbell’s Soup Cans und Marilyn Diptych, wurden zu Zwillingsikonen für das Altern der Avantgarde und ihre Ablösung durch ein viel ironischeres Empfinden, das die Grenzen zwischen Kunst und Kommerz spielerisch übertrat und dabei sowohl den Waren- als auch den Personenfetisch unverhohlen feierte. Es sollte uns daher kaum überraschen, dass Adornos Versuch, das moderne Ideal der autonomen Kunst gegen die Einflüsterungen der Kulturindustrie aufrechtzuerhalten, einigen Leserinnen und Lesern in diesem neuen ästhetischen Klima als hoffnungslos antiquiert erschien. Bei der jüngeren Leserschaft, die sich in den 1970er Jahren einen engagierteren künstlerischen Ausdruck wünschte, war nicht selten die Überzeugung anzutreffen, dass nicht nur Adorno, sondern auch die ganze Institution der kritischen Theorie in der Variante der sogenannten Frankfurter Schule vor der Tradition kapituliert habe und ihre Berufung auf die klassische Moderne nur ein weiteres Zei311

chen für ihre Veralterung sei. Unter den zahlreichen Fehldarstellungen Adornos, die sich damals in der öffentlichen Wahrnehmung vielfach festgesetzt haben, hält sich vielleicht keine bis heute so hartnäckig wie die Ansicht, dass er ein wohlhabender und privilegierter Mensch gewesen sei, der sich von den Niedrigkeiten der Massenkultur abgewendet und einen exzentrischen Zufluchtsort in einer entpolitisierten Sphäre der reinen Kunst gefunden hätte. Dieses harsche Urteil gegen ihn aufgrund seines angeblichen Rückzugs in einen bloßen Ästhetizismus war sogar unter seinen eher wohlwollenden und verständigen Leserinnen und Lesern ein Gemeinplatz. Diese hatten nämlich den Eindruck, dass die »emanzipatorischen Hoffnungen« in Adornos Werk, die sich einstmals auf die Sphäre der Öffentlichkeit richteten, nun »in das Reich der Ästhetik verlagert«, dadurch aber vollkommen kraftlos geworden seien und ihr Versprechen uneingelöst lassen müssten. 1 Für diese Leserschaft war es selbstverständlich, dass die Imperative der gesellschaftlichen und politischen Praxis den Vorrang haben müssten, was jeder Beschäftigung mit Fragen der Ästhetik somit das konservative Stigma jener politischen Hilflosigkeit eintrug, die Walter Benjamin einmal als »linke Melancholie« diagnostiziert hatte. 2 In diesem Kapitel möchte ich eine zumindest partielle Verteidigung Adornos gegen diese negative Rezeption vornehmen. Ästhetik heißt für ihn nicht Ästhetizismus. Er betrachtet die Kunst 1 Seyla Benhabib, Critique, Norm, and Utopia. A Study of the Foundations of Critical Theory, New York 1987, S. 11. Zu einer allgemeinen Diskussion dieses Problems siehe Robin Celikates, »Critical Theory and the Unfinished Project of Mediating Theory and Practice«, in: Peter E. Gordon u. a. (Hg.), The Routledge Companion to the Frankfurt School, London 2018, S. 206-220. 2 Walter Benjamin, »Linke Melancholie. Zu Erich Kästners neuem Gedichtbuch«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. III , Frankfurt/M. 1972, S. 279-283.

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nicht als einen Rückzug aus gesellschaftlichen Belangen, sondern im Gegenteil als eine Art sozial engagierte Kritik. Das Kunstwerk ist für ihn durch und durch, bis in seine innersten Strukturen hinein, gesellschaftlicher Natur und muss es auch sein. Nur dann könne es als eine materielle Manifestation von Wahrheit fungieren, wenn es der Tatsache des sozialen Leidens gegenüber offen und empfänglich bleibe. Das bedeutet für ihn aber nicht, dass seine Zwecke rein negativer Art wären; als Seismograph der gesellschaftlichen Erfahrung ist das Kunstwerk in seinen Augen vielmehr zugleich ein Protokoll des Leidens und eine Antizipation des menschlichen Gedeihens. Es erkennt beide Momente an, ohne sie gegeneinander aufzulösen, und macht uns nur insofern ein promesse du bonheur, als es auch auf unsere Verzweiflung reagiert. Tatsächlich ist es nach Adorno allein seiner offenen oder unaufgelösten Dialektik zu verdanken, dass das Kunstwerk als Zeichen der Freiheit in einer unfreien Welt dienen kann. Im vorigen Kapitel habe ich untersucht, wie Adorno die Praxis der immanenten Kritik dazu einsetzt, Möglichkeitsmomente in den Lücken und Leerstellen der Alltagserfahrung und in der mimetischen Bindung zu identifizieren, die das menschliche Dasein wieder in Kontakt mit seiner eigenen unterdrückten Natur bringt. In diesem Kapitel möchte ich nun seinem umfassenderen Versuch nachgehen, antizipatorische Fragmente eines unrealisierten Glücks aufzuspüren, die unerschlossen in den Artefakten der modernen Kunst stecken. Adornos Überlegungen zur Ästhetik dürfen nicht ignoriert werden. Keine Untersuchung der Quellen von Normativität in seinem Werk kann vollständig sein, wenn sie nicht jene kritische und normative Kraft berücksichtigt, die der ästhetischen Erfahrung innewohnt. Um diese These zu verstehen, müssen wir eine Tatsache ins Auge fassen, die leicht zu übersehen ist, wenn wir Adornos Denken in einen konventionellen Kanon der Philosophien des Sozialen und des Politischen einordnen. In seinen Gesammelten Werken machen diejenigen Bände, 313

die Fragen der Kunst gewidmet sind – hauptsächlich musikwissenschaftlichen Fragen, aber auch solchen der Literatur –, die Hälfte des publizierten Textbestands aus. Dazu zählen die musikalischen Monographien (über Wagner, Mahler und Berg, ebenso die posthum veröffentlichten Notizen und Entwürfe zu Beethoven), scharf formulierte Polemiken wie die Philosophie der Neuen Musik und diverse Essays, welche die Inspiration belegen, die Adorno durch die Zweite Wiener Schule (Schönberg, Berg und Webern) erfuhr. Nicht weniger erwähnenswert sind seine scharfsinnigen Aufsätze zur Literatur (die sich unter anderem mit Hölderlin, Kafka und Beckett beschäftigen). Allerdings geht es natürlich nicht einfach um die schiere Anzahl der Seiten, die er einem bestimmten Thema gewidmet hat, sondern um dessen jeweilige Bedeutung für seine übergreifenden philosophischen Zielsetzungen. Die Ästhetik ist für ihn keineswegs ein Randthema, und bereits der Gedanke führt in die Irre, sie gehöre einer eigenen, aber separaten Sphäre seiner Philosophie an. Das Gegenteil ist der Fall. Wie ich zeigen werde, nimmt sie sogar einen ganz zentralen Platz in seiner Auffassung davon ein, was es heißt, menschlich zu sein. 3 Wenn wir unsere Augen vor dem hellen 3 In seiner Untersuchung zu Adornos praktischer Philosophie hat Freyenhagen relativ wenig zur Kunst zu sagen, obwohl er anerkennt, dass sie »die reale Möglichkeit widerspiegelt, dass die Dinge anders sein könnten« (Fabian Freyenhagen, Adorno’s Practical Philosophy. Living Less Wrongly, Cambridge 2013, S. 45, Anm. 54). Dennoch stellt er die zentrale Funktion der Kunst als einer Quelle von Normativität in Abrede: »Adorno gesteht der Kunst, der Theologie und der Metaphysik eine positive Funktion zu: Sie erinnern und versprechen uns, dass die Dinge anders sein könnten, dass das, was wir jetzt haben, nicht alles sein muss, was sein könnte. Gleichzeitig ist es jedoch eine Illusion, zu glauben, dass sie oder die mit ihnen verbundenen Erfahrungen uns mit dem Guten in Berührung bringen.Wir können die Totalität unserer bestehenden bösen Welt durch unsere Erfahrung der Auseinandersetzung mit Kunst, Theologie oder Metaphysik nicht wirklich transzendieren. Vielmehr ermöglicht uns ihr Anspruch auf Transzendenz, diese

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Glanz der Kunst verschließen, dann machen wir uns selbst blind für das, was Adorno zu den stabilsten Bollwerken von Normativität in der sich verfinsternden Landschaft der spätkapitalistischen Erfahrung zählte.

Das Fortleben der Aura Das hervorstechendste Merkmal von Adornos Auffassung ästhetischer Erfahrung zeigt sich zuerst dann, wenn man sie mit dem berühmten Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« parallelisiert, den sein Freund und Kollege Walter Benjamin Mitte der 1930er Jahre schrieb. Darin beabsichtigt dieser, die Geschichte der Ästhetik als ein notwendiges Kapitel im dialektischen Narrativ der menschlichen Emanzipation zu erzählen. Das Kunstwerk trat demnach erstmals im Kontext archaischer Gesellschaften auf, in denen die ästhetische Erfahrung jedoch noch kaum mehr als ein einzelnes Moment innerhalb des holistischen Geflechts von magischen und religiösen Praktiken ausmachte. Im spezifisch modernen Sinne trete es hingegen erst dann auf, wenn es einen Prozess der Entzauberung durchlaufen habe und aus jenem traditionellen Rahmen herausgelöst worden Totalität als das zu sehen, was sie ist: etwas, was nur scheinbar unveränderlich und ohne echte Alternative ist, in Wirklichkeit aber durch unser Handeln aufrechterhalten wird und sowohl veränderbar als auch veränderungsbedürftig ist« (ebd., S. 227). Man beachte, dass Freyenhagen das Kriterium für Normativität verschärft, indem er behauptet, die Kunst müsse (ebenso wie die Theologie und die Metaphysik) »die Totalität unserer bestehenden bösen Welt […] wirklich transzendieren«, wenn sie uns mit dem Guten in Berührung bringen solle (meine Hervorhebung, P. G.). Adorno erhebt aber klarerweise keine solche Forderung. Schon ein flüchtiger Blick auf das Gute aus dem Inneren unserer unfreien sozialen Welt (und nicht vom sie Transzendierenden her) wäre nach ihm hinreichend dafür, um die Kunst als Verkörperung normativer Wahrheit zu qualifizieren.

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sei; zu diesem Zeitpunkt betrete die Ästhetik die Bildfläche als eine Erfahrung, die volle Autonomie gegenüber ihrer Umwelt für sich beanspruche. Benjamins Genie als Kulturkritiker mit marxistischen Ambitionen zeigt sich hier daran, dass er diesen Autonomieanspruch als bürgerliche Illusion enttarnt. Der Kult des L’art pour l’art bleibe nämlich trotz allem dem überlieferten Bann eines quasireligiösen Rituals verhaftet, das den Betrachter nach wie vor in seiner Unterdrückung halte. Diese sogenannte negative Theologie der hochbürgerlichen Kunst sei ironischerweise ebenso sehr ein Symptom der Unfreiheit wie die feudale Ästhetik, an deren Stelle sie getreten sei. Die Verehrung des Kunstwerks wurde ihm zufolge für die Bourgeoisie zu einem einsamen Akt der Frömmigkeit, der sich jeder sozialen Einbindung widersetzte und sich in einem psychologischen Zustand der »Sammlung« oder Konzentration ausschließlich dem Werk selbst widmete. Konzentration heiße dabei: säkulare Entrückung. Benjamin fordert nun, dass auch diese letzte Illusion noch zerstört werden müsse. Dazu sollten die technischen Verfahren zur Reproduktion in Fotografie und Film die Kunstwerke fortan aus den Fesseln des bürgerlichen Götzendienstes lösen und sie in das dynamische Reich der kollektiven Erfahrung stürzen, wo sie sich frei vervielfältigen und unbegrenzt zirkulieren könnten. Die »Aura« des Kunstwerks solle sich am Ende auflösen, mit der Folge, dass das Werk seine singuläre Autorität einbüßen würde. Erstmals in der Geschichte würden die Massen dann mit einer neuartigen illusionsfreien Kunsterfahrung konfrontiert werden: Statt sich den Werken als Objekten der Anbetung zu unterwerfen, würden sie sie in einem Zustand der Zerstreuung in sich aufnehmen und in dieser Erfahrung eine Verheißung auf ihre eigene politische Handlungsmacht entdecken. In den vielen Jahren seit seiner Entstehung hat Benjamins »Kunstwerkaufsatz« in Debatten um den Status der Kunst in der Spätmoderne ein nahezu sakrosanktes Ansehen genossen. Mit sei316

nem Angriff auf den traditionellen Götzen der ästhetischen Autonomie im Verbund mit seiner etwas überraschenden Affirmation der »Zerstreuung« im Gegensatz zur »Sammlung« als dem für die moderne Kunsterfahrung psychologisch am besten geeigneten Modus wurde er für zahlreiche Theoretikerinnen und Theoretiker zu einer frühen Antizipation jener innermodernen und zugleich gegen die Moderne gerichteten Revolte, die später als Postmoderne definiert werden sollte. Und als Peter Bürger (trotz seiner spezifischen Meinungsverschiedenheiten mit Benjamin) 1974 in Theorie der Avantgarde das bürgerliche Konzept der ästhetischen Autonomie kritisierte, schien es, als sei Benjamins grundlegendes Verdikt nun für alle Zeiten in Stein gemeißelt: Die Moderne war ab sofort ein Stück unwiederbringliche Vergangenheit, und unter Kunstkritikern wie Philosophinnen gleichermaßen herrschte die Auffassung vor, dass nur dann, wenn das Kunstwerk aus dem Bann der Moderne befreit werden würde, die »Lücke zwischen der ästhetischen und der praktischen Sphäre« endgültig geschlossen werden könnte. 4 Es ist alles andere als einfach, Adornos Platz in diesen anhaltenden Debatten zu bestimmen. Wir können uns seinen eigenen Beitrag zur ästhetischen Theorie jedoch verdeutlichen, indem wir seine Entstehung aus dem ununterbrochenen dialektischen Wettstreit mit seinem Kollegen nachzeichnen. In einem bemerkenswerten Brief vom 18. März 1936 formuliert Adorno seine Unzufriedenheit mit Benjamins Essay und äußert insbesondere Zweifel daran, ob es richtig wäre, den Niedergang der Aura als einen notwendigen Schritt auf dem linearen Pfad hin zur ästhetischen und menschlichen Freiheit zu interpretieren. Dabei greift er Benjamins Aufsatz gleich an zwei Fronten an. Einerseits räumt er zwar 4 Siehe Peter Hohendahl, »Autonomy of Art. Looking Back at Adorno’s Ästhetische Theorie«, in: The German Quarterly 54:2 (März 1981), S. 133-148, hier S. 145.

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ein, dass es »bürgerliche Romantik« wäre, würde man die Kraft des Kunstwerks dem Fortleben traditioneller Kategorien wie der der individuellen »Persönlichkeit« zuschreiben. Auf der anderen Seite warnt er aber auch vor jener »anarchistische[n]« Romantik, die »blinde[s] Vertrauen auf die Selbstmächtigkeit des Proletariats im geschichtlichen Vorgang« lege. Keine dieser beiden Versionen von Romantik sei akzeptabel; sie seien bloß »die auseinandergerissenen Hälften der ganzen Freiheit«, welche nicht einfach dadurch wiederhergestellt werden könne, indem man sie wieder zusammenzwinge. 5 Benjamin ignoriert also die Ironie vollkommen, dass er zwar das Kunstwerk von der Tradition emanzipieren, es dann aber in das nicht weniger autoritäre Milieu der Arbeiterklasse hineinzwängen will. Mit seinem (laut Adorno) Brecht’schen Eifer für eine vorgeblich kommunistische Ästhetik eröffnet er damit letztlich eine falsche Wahlmöglichkeit: Er optiert für das Ideal des Kunstwerks als eines Instruments zur politischen Massenmobilisierung, erkennt aber nicht, dass diese Mobilisierung ebenjene Kunst verrät, die sie zu erretten gehofft hatte. Noch bedenklicher ist allerdings, dass Benjamin der befreienden Wirkung der technologischen Innovation in der Ästhetik gegenüber viel zu optimistisch eingestellt ist. Dabei entgeht ihm jedoch eine entscheidende Tatsache, nämlich die, dass die mechanische Reproduzierbarkeit das Kunstwerk nicht einfach aus seinen sozialen Bindungen befreit, sondern sie auch verstärkt, da sie das Werk fortan seiner totalen Kommodifizierung überlässt. Adorno erkennt seinerseits diese Ironie. Das Verschwinden der Aura sollte ihm zufolge daher eben auch nicht als ein unzweideutiges Zeichen des Fortschritts gedeutet werden, sondern ist vielmehr ein höchst ambivalentes Phänomen, das sowohl Emanzipation als auch Verdinglichung anzeigt. Die Aura ist in seinen Augen 5 Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Briefwechsel 1928-1940, Frankfurt/M. 1994, S. 168-177, hier S. 171.

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nicht ein Überrest einer bürgerlichen Ideologie, der wie ein feuchter Nebel am Kunstwerk hafte und seine Entwicklung behindere. Zwar signalisiert sie auch für ihn durchaus die Verwicklung des Werks in einen magischen Bann, aber diese Magie könne einfach nicht vollständig aufgelöst werden, wenn wir wollen, dass das Werk sein emanzipatorisches Versprechen erfülle: »Es scheint mir […], daß die Mitte des autonomen Kunstwerks nicht selber auf die mythische Seite gehört«, wie er erklärt. Vielmehr sei die Autonomie des Kunstwerks »in sich dialektisch«, weil »sie in sich das Magische verschränkt mit dem Zeichen der Freiheit«. 6 Die Spannung zwischen Adorno und Benjamin in Bezug auf den umkämpften Status der Aura war allerdings nicht auf eine kurze Episode in ihrer Freundschaft beschränkt; vielmehr hat Adorno ihre Diskussion auch noch lange nach Benjamins Suizid im Jahr 1940 einseitig weitergeführt. Vor allem auf den Seiten seiner Ästhetischen Theorie betreibt er diese Kontroverse mit seinem verstorbenen Freund in einer solchen Intensität weiter, dass Benjamin dort wie eine geisterhafte Erscheinung fortzuleben scheint, deren Aussagen nach wie vor Gehör verlangen. Die Erklärung für dieses unheimliche Nachleben könnte zum Teil biografisch bedingt gewesen sein. Seit ihrer ersten Begegnung in Frankfurt 1923 hatte Adorno den elf Jahre älteren Benjamin als einen begabten Denker bewundert, dessen interpretatorische Originalität ihm als Vorbild für seine eigene Kulturkritik diente. Seine Habilitationsschrift über Kierkegaard aus dem Jahr 1933 wies zwar nicht thematisch, aber methodisch eine so starke Ähnlichkeit mit Benjamins Untersuchung über den Ursprung des deutschen Trauerspiels auf, dass Gershom Scholem dem Letzteren anvertraute, er betrachte Adornos Buch als ein »sublimes Plagiat Deines Denkens«. 7 6 Ebd., S. 169 (meine Hervorhebung, P. G.). 7 Walter Benjamin, Gershom Scholem, Briefwechsel 1933-1940, Frankfurt/ M. 1980, S. 109.

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Die Tatsache, dass Benjamins Studie nicht als Habilitationsschrift angenommen wurde und er fortan zu einem steten intellektuellen Wanderleben außerhalb der Universität verdammt war, hatte bei Adorno einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen, der nicht schwächer werden wollte – nicht zuletzt deshalb, weil er jene Katastrophe überlebte, die ihm seinen Freund genommen hatte. 8 Mit Blick auf die Frage nach seiner eigenen negativen Besetzung mit Benjamin – das heißt seinen andauernden Versuchen, Benjamins Aussagen zu kritisieren, noch während er sich dessen guten Namen zunutze machte – mag es daher nicht ganz falsch sein, hier von einer Art Überlebensschuld-Syndrom [survivor’s guilt] zu sprechen. Keines dieser biografischen Details sollte uns jedoch davon abhalten, den sachlichen Gehalt ihrer Diskussion näher zu betrachten.9 Wenn die Kunst für Adorno das »Zeichen der Freiheit« inmitten der Unfreiheit ist, dann deshalb, weil sie das beste Analogon darstellt, das uns innerhalb der Grenzen unseres sinnlichen Lebens zur Verfügung steht, um eine Erfahrung zu machen, die von den Fesseln des Sozialen losgelöst ist. Ästhetische Autonomie ist immer nur partiell, weil das Kunstwerk die es erst ermöglichende gesellschaftliche Welt nie wirklich überschreiten kann; es genießt also nur eine relative Autonomie. Trotzdem wird es innerhalb materieller Bedingungen zu einem Zeichen der Transzendenz gegenüber den materiellen Bedingungen, die es von der Religion geerbt hat. In der Ästhetischen Theorie bezeichnet Adorno die 8 Benjamin, der wusste, dass seine Schrift abgelehnt werden würde, zog sie vor der Beurteilung zurück. Siehe zu den Einzelheiten dieser Episode Howard Eiland, Michael Jennings,Walter Benjamin. Eine Biographie, Berlin 2020, S. 310-312. 9 Eine weitere vorzügliche Zusammenfassung dieser Diskussion findet sich in Michael Rosen, »Benjamin, Adorno, and the Decline of the Aura«, in: Fred Rush (Hg.), The Cambridge Companion to Adorno, Cambridge 2004, S. 40-56.

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Kunst denn auch als »Säkularisierung von Transzendenz«. 10 Diese Aussage ist besonders instruktiv, weil sie uns daran erinnert, dass er den Prämissen von Benjamins Aufsatz ja nicht vollkommen widerspricht; vielmehr teilt er mit dessen Verfasser die grundlegende Ansicht, dass das bürgerliche Kunstwerk in seinen Autoritätsansprüchen immer noch den Abglanz jener theologischen Macht aufbewahre, der es ebenfalls abschwören müsse. Benjamin hatte behauptet, dass die rituelle »Fundierung« des Kunstwerks, die »so vermittelt sein [mag] wie sie will«, immer noch »in den profansten Formen des Schönheitsdienstes« fortlebe. Ihre archaischen Überreste könnten wir daher bis heute im »säkularisierte[n] Ritual« einer sogenannten reinen Kunst erblicken, wo sie die minimalistische Gestalt einer »negativen Theologie« annehme. 11 Adorno pflichtet dieser Diagnose zwar bei, lehnt aber die weitergehende Schlussfolgerung ab, das Kunstwerk könne nur dann frei sein, wenn es von diesen theologischen Anhaftungen vollkommen gereinigt werde. Die totale Entzauberung der Kunst, die Benjamin empfiehlt, würde in seinen Augen nämlich nicht die Freiheit der Kunst, sondern bloß ihre Selbstnegation bewirken; ja, sie würde sogar »die Entkunstung der Kunst« bedeuten. 12 Vielleicht an keiner anderen Stelle in der Ästhetischen Theorie bringt Adorno seine von Benjamin abweichende Auffassung mit solch apodiktischer Verve zum Ausdruck wie in dieser: »Nicht nur das Jetzt und Hier des Kunstwerks ist, nach Benjamins These, dessen Aura, sondern was immer daran über seine Gegebenheit hinausweist, sein Gehalt; man kann nicht ihn abschaffen und die Kunst wollen.« 13 10 GS 7, S. 50. 11 Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I .2, Frankfurt/M. 1991, S. 431-508, hier S. 441. 12 GS 7, S. 73. 13 Ebd. (meine Hervorhebung, P. G.)

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Das Zeichen der Freiheit Ich will den Einzelheiten der intellektuellen Debatte zwischen Adorno und Benjamin hier nicht weiter nachgehen, sondern einfach nur die Aufmerksamkeit auf Adornos Aussage lenken, dass das autonome Kunstwerk als ein »Zeichen der Freiheit« verstanden werden sollte, das noch inmitten unfreier Umstände fortbestehe. 14 Diese Behauptung ist ohne Zweifel kontrovers, nicht zuletzt deshalb, weil sie verdächtig nach einer Verteidigung des ästhetischen Idealismus klingt, konkret jener Ansicht, dass ein »autonomes« Werk Träger eines nicht abhängigen oder intrinsischen Wertes sei, der nichts mit den sozialen Verhältnissen zu tun habe, die seine Existenz begründen. Wenn Adorno nun wirklich hätte behaupten wollen, dass das autonome Kunstwerk einen in diesem Sinne intrinsischen Wert besitzt, dann wären wir darin gerechtfertigt, ihm einen schwerwiegenden theoretischen Irrtum vorzuhalten. Er hätte sich dann nämlich eines, wie wir sagen könnten, Kunstwerkfetischs schuldig gemacht, einer ideologischen Fehlinterpretation, die ihrem Wesen nach dem von Marx definierten Warenfetisch ähneln würde. Die Analogie ist zwar unpräzise, aber dennoch aufschlussreich. Im Kapital sagt Marx von der Ware, sie sei »ein sehr vertracktes Ding […], voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken«. 15 Ein Fetisch im ursprünglichen oder religiösen Sinne ist ein durch menschliche Arbeit erschaffenes Objekt, das wirkt, als sei es eine mit einem eigenständigen Leben ausgestattete Gottheit. Marx bedient sich dieser Analogie, um zu erklären, wie der Kapitalismus die notwendige 14 Siehe zu einer detaillierteren Analyse Peter E. Gordon, »Social Suffering and the Autonomy of Art«, in: New German Critique 143 (2021) (= Sonderausgabe zu Adornos Ästhetischer Theorie, hg. von Peter E. Gordon), S. 125-146. 15 Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, in: ders., Friedrich Engels,Werke, Bd. 23, Berlin 1968, S. 85.

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Illusion erzeugt, dass eine Ware einen ihr innewohnenden Wert besitze, der ihr unabhängig von den Bedingungen ihrer Herstellung genuin zukomme. Und Adornos Konzeption des autonomen Kunstwerks lädt nun scheinbar zu genau dem gleichen Vorwurf ein, da sie dem Kunstwerk einen intrinsischen Wert zuschreibt, so als ob dieser in völliger Losgelöstheit von den Produktionsverhältnissen bestehen könnte, die es hervorgebracht haben. Um ihn gegen diesen Verdacht in Schutz zu nehmen, müssen wir uns zunächst daran erinnern, dass er eine wichtige Unterscheidung zwischen dem autonomen Kunstwerk und dem Kunstwerk als Ware trifft. Letzteres unterscheidet sich nicht von allen anderen Waren, da sein Wert hauptsächlich in der Tatsache begründet liegt, dass es auf dem Markt getauscht werden kann. Deshalb zieht Adorno es auch vor, von diesem nicht als Kunstwerk, sondern als Produkt der Kulturindustrie zu sprechen. Das autonome Kunstwerk hingegen besitzt einen eher widersprüchlichen oder konfliktuösen Charakter. Es ist zwar ebenfalls eine Ware, die als solche getauscht werden kann, aber eben auch Träger eines Gebrauchswerts, der nichtfungibel ist beziehungsweise sich dem Tausch widersetzt. In seinem Aufsatz »Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens« von 1938 äußert Adorno jedoch die Befürchtung, dass sich der Tauschwert allmählich des Gebrauchswerts bemächtigen und ihn am Ende gänzlich überrollen könnte. »Je unerbittlicher das Prinzip des Tauschwerts die Menschen um die Gebrauchswerte bringt, um so dichter vermummt sich der Tauschwert selbst als Gegenstand des Genusses«, wie er dort schreibt. 16 Wo dies geschieht, etwa beim Konsum von massenproduzierter Musik, wird die Ware nur insofern als wertvoll betrachtet, als sie allen anderen Waren ähnelt. Dies erklärt zum Beispiel, warum alle Spielarten der sogenannten leichten Musik einander bis auf ihre innerste Form gleichen. Was einen Song zu einem 16 GS 14, S. 14-50, hier S. 25.

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»Hit«, das heißt zu einem kommerziellen Erfolg macht, ist der Umstand, dass er kaum von all den anderen Hits zu unterscheiden ist, die vor ihm kamen. Adorno ist daher der Auffassung, dass der Standardisierungsprozess unsere ästhetische Erfahrung immer weiter bis zu dem Punkt kolonisiere, dass eines Tages kein Kunstwerk mehr seine Autonomie behalten werde und sie alle dem Imperativ einer vollkommenen Kommodifizierung unterworfen wären. Die obigen Überlegungen lassen die Kernfrage allerdings nach wie vor unbeantwortet: Selbst wenn Adorno geglaubt hätte, dass das autonome Kunstwerk kurz vor seinem Verschwinden stand, so könnten wir ihn trotzdem noch verdächtigen, ihnen jene magische Eigenschaft einer außersozialen Abhängigkeitslosigkeit zugesprochen zu haben, die kein Kunstwerk aber jemals wirklich haben kann. Vor ihrer Gefährdung zu warnen, heißt ja, sie immer noch für im Grunde möglich zu halten. Was Adorno aber schlussendlich wirklich vor diesem Vorwurf bewahrt, ist der Umstand, dass er die Unterscheidung zwischen autonom und kommodifiziert oder warenförmig als eine qualitative und nicht als eine typologische versteht. Diese Unterscheidung betrifft, anders ausgedrückt, eine Eigenschaft, die alle Kunstwerke gemeinsam haben, statt dass sie sie in zwei Typen oder Klassen einordnet. Das heißt, dass jene Eigenschaft, die er der autonomen Kunst zuspricht, potenziell in allen Kunstwerken zu finden ist, wenn auch in unterschiedlichen Graden (wobei einige Artefakte bereits aus formalen Gründen, die nichts mit ihrer Kommodifizierung zu tun haben, nicht als Kunstwerke zählen). In dieser Hinsicht bleibt er dem dialektischen Geist von Benjamins bekanntem Diktum treu: »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.« 17 17 Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I .2, Frankfurt/M. 1974, S. 691-706, hier S. 696 (meine Hervorhebung, P. G.).

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Diese inklusive Einsicht in den dialektischen Charakter aller kulturellen Artefakte entgeht vor allem denjenigen schnell, die Adorno als elitären Denker betrachten, der nur eine einzige Art von ästhetischen Objekten würdige und die Warensphäre als unwiederbringlich verloren verschmähe. Für das Entstehen dieses Eindrucks könnte er allerdings selbst durchaus mitverantwortlich gewesen sein, da er sich in seinen schriftlichen Äußerungen über die Produkte der Kulturindustrie in schierer Polemik ergeht. Lesen wir ihn jedoch wohlwollend, dann können wir auch noch durch seine überspitzten Aussagen hindurch auf die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien blicken, die eine philosophische Betrachtung verdienen. Selbst noch an seiner scharfen Verurteilung der Kulturindustrie in der Dialektik der Aufklärung wird nämlich deutlich, dass Adorno die Unterscheidung zwischen autonomer Kunst und Kunst als Ware qualitativ und nicht typologisch meint. Er räumt sogar ein, dass selbst die »leichte« Kunst subversive Merkmale besitzen könne (wie etwa die Filmkomödien der Marx Brothers), 18 und erkennt an, dass auch das autonome Kunstwerk eine Ware ist; schließlich habe selbst Beethoven seine Kompositionen gegen Bezahlung veräußert. 19 Sein gelegentlich polemischer Stil sollte uns daher nicht von der dahinterliegenden Prämisse immanenter Kritik ablenken, dass nämlich unsere soziale Welt nicht unterschiedslos falsch, sondern von Widersprüchen durchsetzt ist. Und dieser widersprüchliche Status zeigt sich ebenso deutlich an den diversen Artefakten, die in unserer sozialen Welt als Kunstwerke und Waren zugleich zirkulieren. Adorno erkennt diesen unaufgelösten Antagonismus, der in den von uns konsumierten Artefakten selbst liegt, vollkommen an, was auch der Grund dafür ist, dass er (gegen Benjamin) darauf beharrt, das autonome Kunstwerk weise einen »in sich dialektisch[en]« Cha18 GS 3, S. 159. 19 Ebd., S. 180.

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rakter auf. Er hat also gar nicht die Vorstellung im Sinn, dass irgendein Kunstwerk gänzlich frei von Unvollkommenheit sein könnte, so als ob es irgendwie als eine reine Form von Schönheit über den Widersprüchen der kapitalistischen Welt schwebe. Im Gegenteil, es geht für ihn überhaupt erst aus ebenjenen Widersprüchen hervor und muss ihnen gerade deshalb Rechnung tragen. Das ist die eigentliche Bedeutung seiner ansonsten eher rätselhaften Bemerkung zu Benjamin, dass im autonomen Kunstwerk »das Magische verschränkt [ist] mit dem Zeichen der Freiheit«. 20

Die Analogie zum Spiel Im vorigen Abschnitt habe ich einige der Gründe dafür untersucht, warum Adorno sich der Kategorie des autonomen Kunstwerks verschreibt. Die von mir bis jetzt dafür gelieferte Erklärung könnte bei uns allerdings immer noch den Eindruck hinterlassen, dass er diese Autonomie in einem rein negativen Sinne versteht, so als ob sie nicht mehr bedeutet als den Widerstand des Kunstwerks gegen den Tausch auf dem Markt. Und dieser Eindruck wäre tatsächlich nicht ganz falsch, insofern Adorno das autonome Werk ja wirklich als einen Ort fortwährender Negativität in einer Gesellschaftsordnung betrachtet, die ihm zufolge in anderen Hinsichten immer »affirmativer« wird, indem sie jegliches Bewusstsein für mögliche Alternativen verbaut. Ich habe jedoch noch nicht hinreichend erläutert, worin diese Negativität – abgesehen von der bloßen Tatsache ihrer Widerständigkeit – genau besteht. 21 Wenn 20 Adorno/Benjamin, Briefwechsel 1928-1940, S. 169 (meine Hervorhebung, P. G.). 21 Eine hilfreiche Untersuchung dazu findet sich in Owen Hulatt, »Aesthetic Autonomy«, in: Peter E. Gordon u. a. (Hg.), A Companion to Adorno, Hoboken 2020, S. 351-364.

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die autonome Kunst also eine Bedeutung hat, die über ihren Status als Negation hinausgeht, dann müssen wir verstehen, welche Alternative sie verkörpern soll – oder, anders formuliert, wir müssen fragen: Widerstand zugunsten wovon? Einer provisorischen Antwort auf diese Frage sind wir bereits in Adornos Analyse des kindlichen Spiels begegnet. Wie ich im vorigen Kapitel in einiger Ausführlichkeit dargelegt habe, vertritt er die Ansicht, dass das Spielzeug den »Gebrauchswert« in den Dingen vor ihrer Reduktion auf bloße Tauschobjekte bewahre und dadurch das an ihnen rette, was »den Menschen gut« sei. 22 Das Spielzeug dient demnach als unbewusste Vorwegnahme einer vom »Prozeß der Abstraktion« erlösten Welt, in der die Gegenstände endlich zu dem werden dürften, »wozu sie spezifisch da sind«. 23 Diese Einsichten möchte ich jetzt dazu mobilisieren, um eine Analogie zwischen dem autonomen Kunstwerk und dem Spielzeug zu skizzieren. Diese wird ohne Frage unvollkommen sein, so wie alle Analogien, soweit sie uns auf über Differenzen hinweg bestehende Ähnlichkeiten hinweisen. Eine solche bedenkenswerte Differenz lautet in diesem Fall, dass die meisten Kunstwerke ein höchst planvolles und handwerklich versiertes Arrangement ihres jeweiligen Materials bezeugen, statt einfach das Ergebnis einer freudigen Explosion reiner und ungezügelter Fantasie zu sein. Trotzdem ist diese Analogie aus mehreren Gründen aufschlussreich. Wie ein Spielzeug bewahrt nämlich auch das Kunstwerk den unter Druck geratenen Gebrauchswert des Objekts vor jenen Kräften, die es gerne in das Lösungsmittel des allgemeinen Tauschs eintauchen würden. Die an dieser Stelle möglicherweise auftretende kleine Irritation lässt sich leicht beheben, wenn wir bedenken, dass Adorno von »Gebrauchswert« spricht, um die Besonderheit eines Gegenstands zu beschreiben, sofern 22 GS 4, S. 260. 23 Ebd.

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er einen spezifischen Platz in der menschlichen Erfahrung einnimmt, und von »Tauschwert« als der generischen Eigenschaft eines Objekts, soweit es als Ware auf dem Markt zirkuliert. Das autonome Kunstwerk betrachtet er ganz ähnlich, wie ein Kind sein geliebtes Spielzeug sieht: als einzigartiges, besonderes Ding, das buchstäblich unersetzlich ist. Diese Qualität der Einzigartigkeit meint Adorno, wenn er (im Anschluss an Benjamin) von »Aura« spricht: So wie ein Kind das Spielzeug mit all der Bedeutungsfülle seiner eigenen Welt auflädt, so wird man auch deshalb von einem Kunstwerk angezogen, weil man darin etwas Einzigartiges erblickt, über das nur dieses Werk allein verfügt. Und wie der Gebrauchswert eines Spielzeugs besteht auch der des Kunstwerks in seiner nichtfungiblen Partikularität. Es für austauschbar gegen ein anderes Werk zu halten, würde bedeuten, dass man genau das an ihm übergeht, was es überhaupt erst als Kunstwerk auszeichnet. Das ist der Gedanke hinter jener schon zitierten markanten These Adornos, dass »man […] nicht die Aura abschaffen und die Kunst wollen [kann]«. Wir können die Analogie auch noch ein Stück weitertreiben. Ein Kind, das einen Gegenstand in seiner Besonderheit wertschätzt, sieht es als Träger eines inneren Zwecks an, der um seiner selbst willen für wertvoll erachtet wird und nicht deshalb, weil er weiteren Zwecken dient, die außerhalb des Kontexts des fantasievollen Spiels liegen. 24 Adorno zufolge könnte dies auch erklären, warum Kinder so instinktiv von Tieren angezogen werden, die »ohne den Menschen irgend erkennbare Aufgabe« zu existieren und deren Eigennamen »das schlechterdings nicht Vertauschbare« auszudrücken scheinen. 25 Ein analoges Prinzip finden wir auch in 24 Zu weitergehenden Überlegungen zu diesem Thema siehe Kathy J. Kiloh, »Adorno’s Materialist Ethics of Love«, in: Gordon u. a. (Hg.), A Companion to Adorno, S. 601-614. 25 GS 4, S. 260.

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der kantischen Ästhetik, in der ein schönes Werk als Verkörperung einer »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« gilt. 26 In der Dialektik der Aufklärung warnen uns Adorno und Horkheimer jedoch, dass dieses Prinzip in der modernen Gesellschaft verkehrt worden sei: Das Kunstwerk müsse sich in der Gegenwart »der Zwecklosigkeit für Zwecke« unterordnen, »die der Markt deklariert«. 27 Einst sei die Kunst als Trägerin eines intrinsischen Werts betrachtet worden und habe sogar als Gegenstand einer säkularen Anbetung fungiert (wie im Ideal der »Kunst um der Kunst willen« oder des L’art pour l’art); heute werde sie hingegen hauptsächlich durch ihren Tauschwert definiert und nicht um ihrer selbst willen, sondern zur Entspannung oder aus Prestigegründen konsumiert. 28 Die Analogie zwischen Kunst und Spiel kann jedoch auch in die Irre führen. In den »Paralipomena« zur Ästhetischen Theorie akzeptiert Adorno zwar die grundsätzliche Ansicht, dass das Spiel insofern in der Kunst überdauere, als es jenes erlösende Moment anzeige, durch das die Kunst sich selbst über die Unmittelbarkeit der instrumentellen Praxis erhebe. 29 Trotzdem hegt er aber auch die Sorge, dass das Spiel – anders als die Kunst – immer noch von regressiven Merkmalen geprägt sein könnte, die es an die Kindheit und sogar an das prärationale Leben der Tiere binden könnten. Die entscheidende Differenz liegt seiner Meinung nach in der Tatsache begründet, dass »Spielformen« stets und ausnahmslos Formen von »Wiederholung« seien und daher immer noch einen Anflug bloßer »Zweckrationalität« aufweisen. 30 Deshalb lehnt Adorno auch Schillers These aus Über die ästhetische Erziehung des Menschen ab, der zufolge der »Spieltrieb« eine »Zweckfreiheit« anzeige, die uns als genuin menschlich auszeichne. Diese 26 27 28 29 30

Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, A A V, S. 226. GS 3, S. 181. Ebd. GS 7, S. 469. Ebd.

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Behauptung spiegelt für ihn nämlich lediglich den grundsätzlichen Irrtum der bürgerlichen Gesellschaft wider, die Freiheit ohne Zwang nicht zu denken vermöge. Gegen Schiller beharrt er daher darauf, dass das Spiel, im Gegensatz zur Kunst, dem Bann eines Wiederholungszwangs unterworfen bleibe, der »Gehorsam als Glück« missinterpretiere.31 Ähnliche Überlegungen bringen ihn außerdem dazu, die bekannte These des Homo ludens zu kritisieren, die der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga 1938 in seinem gleichnamigen Buch aufgestellt hat und die besagt, dass das Spiel die universelle und notwendige Vorbedingung aller Kultur sei. 32 Dem hält Adorno primär die mangelnde Einsicht entgegen, dass das Element des Spiels auf eine instrumentelle Praxis zurückgehe und nur wenig mit der genuin ästhetischen Kategorie des Scheins gemeinsam habe. Trotz dieser Kritik lässt er jedoch weiterhin die Möglichkeit zu, dass das Spiel selbst ein Moment des Scheins oder der Imagination enthalten könnte, das sich der Logik der instrumentellen Vernunft entzieht. 33 Denn nicht alle Instanzen des Spiels nehmen eine Form an, die ein ständig wiederholtes Gehorsam gegenüber Regeln verlangt. In seinen Überlegungen zum utopischen Moment im Kinderspiel wird es daher auch recht deutlich, dass Adorno hier ohnehin keine kompetitiven Spiele, sondern die Interaktion von Kindern mit ihren Spielsachen und ihr Eintauchen in eine Landschaft der Fantasie im Sinn hat. Aufgrund dieser imaginativen oder kontrafaktischen Elemente kann das Spiel ihm zufolge daher also auch das Brechen von Regeln oder sogar ihre bewusste Übertretung meinen, wie es sich für ihn zum Beispiel am Humor 31 Ebd., S. 470. 32 Ebd., S. 471. Der hier in Rede stehende Text ist Johan Huizinga, Homo Ludens.Vom Ursprung der Kultur im Spiel [1938], Reinbek bei Hamburg 1987. 33 Eine ähnliche Überlegung findet sich bei Erica Weitzman, »No ›Fun‹. Aporias of Pleasure in Adorno’s Aesthetic Theory«, in: The German Quarterly 81:2 (2008), S. 185-202.

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zeigt. Daher lobt er Huizinga andererseits auch, nämlich für seine Erkenntnis des Umstands, dass alles Spiel ein Element des Witzes oder des Unglaubens umfasse. »Unter diesem Aspekt, dem Bewußtsein der Unwahrheit des Wahren, partizipiert jegliche Kunst am Humor«, wie er schreibt. Und diese humoristische Dimension der Ästhetik zeige sich besonders deutlich an den Repräsentationen der »verfinsterte[n] Moderne« wie etwa den Werken Kafkas und Becketts. Was Huizinga »›die Einheit und Untrennbarkeit von Glauben und Nicht-Glauben‹« nennt, wird für Adorno mithin zu einem entscheidenden Charakteristikum, das sowohl vom Spiel als auch »wohl von jeglicher Kunst« ausgesagt werden kann. 34 Ich bin dieser Analogie zwischen Kunst und Spiel in erster Linie deshalb nachgegangen, weil sie ein ungewöhnliches Licht auf seine ästhetische Theorie wirft, die viele Leserinnen und Leser als sehr ernst oder sogar verdrießlich beschreiben würden. Dieser Eindruck ist tatsächlich nicht ganz unzutreffend, aber ich glaube doch, dass er ein ganz entscheidendes Thema außer Acht lässt, das Adorno nicht nur in seinen Reflexionen über die Kunst, sondern auch in seiner ganzen übrigen Philosophie antreibt – den Umstand nämlich, dass immanente Kritik auf die Entdeckung des Nichtidentischen als demjenigen ausgerichtet ist, was sich der herrschenden Ordnung widersetzt und damit Versöhnung antizipiert. Wenn Adorno also in der metaphysischen Erfahrung ebenso wie in der Erfahrung des Kindes beim Spielen eine besondere Bedeutung erkennt, dann liegt das tatsächlich daran, dass er beide als Instanziierungen von Nichtidentität begreift, die in sich selbst das Versprechen auf Glück oder menschliches Gedeihen birgt. Und es ist ebendieses Versprechen, das Adorno in seiner ästhetischen Kritik motiviert. Deren Ernst und Heftigkeit ist deshalb auch nicht einfach ein Symptom von Trübsinn oder Verzweif34 GS 7, S. 472.

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lung, sondern vielmehr die Schattenseite der anspruchsvollen maximalistischen Erwartung auf Erfüllung unseres Menschseins, die er an seine Begegnung mit der Kunst heranträgt. Diese normative Forderung, die in Adornos ästhetischer Kritik am Werk ist, ist für die Leserinnen und Leser vor allem deshalb nur so selten offensichtlich, weil er es vielfach vorzieht, sie in ihrer negativen Form, nämlich als Urteil über ein Scheitern zum Ausdruck zu bringen. Doch dieses Scheitern können wir uns kaum anders denn als eine mangelnde Passung zwischen einem emphatischen Begriff und seinen empirischen Instanziierungen begreiflich machen. Dem Begriff des Kunstwerks selbst wohnt also die Erwartung inne, dass es außerordentlich anspruchsvollen Kriterien zu genügen hat; es sollte uns daher auch nicht wundern, wenn nur einige wenige Werke dieser Erwartung wirklich gerecht zu werden vermögen. 35

Kunst und Leiden Wir sind nun bei dem in meinen Augen allerwichtigsten, aber am wenigsten beachteten Thema von Adornos ästhetischer Theorie angelangt. Wenn wir über das Konzept eines vollkommen autonomen Kunstwerks nachdenken, dann mag die Vermutung naheliegen, dass es nur dann ein solches sein könnte, wenn es den Status eines welttranszendenten Objekts besitzt, das der Welt den Rücken gekehrt hat. Dieser Vermutung ist auch die weitverbreitete Ansicht geschuldet, dass Adorno als Philosoph ein unverbesserlicher elitärer Ästhet gewesen sei, der den Genuss hochbürger35 Siehe dazu auch die hilfreichen Anmerkungen in Fred Rush, »Adorno after Adorno«, in: J. M. Bernstein u. a., Art and Aesthetics After Adorno (= The Townsend Papers in the Humanities No. 3), Berkeley 2010, S. 41-68, speziell die Bemerkung, dass »[…] Kunstsein heißt, notwendig gescheitert zu sein […]« (ebd., S. 57).

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licher Kunst der Last der Verantwortung für die Gesellschaft vorgezogen habe. Ganz so wie dieses Bild von ihm führt aber auch jene Konzeption des autonomen Kunstwerks völlig in die Irre. Denn nach Adorno hat das autonome Kunstwerk seinen Status als Werk nur insofern verdient, als es sich den Lebensumständen der Menschen gegenüber als empfänglich erweist. Wollte es sich vor der Welt abschließen, dann würde es zwar weiterhin seine äußerliche Erscheinung sowohl mit Blick auf seine formale Komposition als auch auf seine sinnfälligen Gehalte beibehalten, die wir von einem Kunstwerk zu erwarten gelernt haben, wenn wir einen Konzertsaal oder ein Museum betreten, wäre aber keine Kunst mehr. Um die eigentliche Durchschlagskraft dieser These zu erahnen, müssen wir verstehen, dass das Konzept der autonomen Kunst in seiner Philosophie eine nicht wegzudenkende normative Bedeutung hat. »Der Begriff des Kunstwerks impliziert den des Gelingens. Mißlungene Kunstwerke sind keine«, wie es dementsprechend bei ihm heißt. 36 Ein Kunstwerk kann nun aber nicht im relevanten Sinne gelungen sein, wenn es den Problemen gegenüber gleichgültig bleibt, die uns als soziale Wesen bedrängen. Im Gegenteil: Gelingen, also überhaupt Kunstwerk sein, kann es nur, wenn es sich diesen Problemen gegenüber vollständig öffnet. Wenn wir herausfinden wollen, welche Vorstellung Adorno von der Kunst hat und welche Rolle sie in seiner Philosophie generell spielt, dann ist diese Annahme unverzichtbar. Vor allem in den Kapiteln 3 und 4 habe ich einige Bemerkungen zu seiner Ethik der Vulnerabilität gemacht und gesagt, dass sein materialistischer Moralbegriff seinen Anfang mit der menschlichen Erfahrung macht, wenn sie sich der Realität des menschlichen Leidens offen und ungeschützt aussetzen. In der Negativen Dialektik heißt es sogar, dass »[d]as Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, […] 36 GS 7, S. 280. Siehe dazu auch oben, Kap. 2, S. 192f.

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Bedingung aller Wahrheit« sei. 37 Und auch in seinen Überlegungen zur Ästhetik trägt Adorno ebendiesem Grundsatz Rechnung: Ein Kunstwerk, das dem Leiden keine Stimme gäbe, wäre nicht mehr wahrhaftig, sondern bloß noch ein weiterer Fall von Ideologie. In dieser Schlussfolgerung beruft er sich implizit auf eine Prämisse, die er von den deutschen Idealisten und von Marx übernommen hat, nämlich die, dass ein Kunstwerk ein durch und durch menschliches Artefakt und eine Verkörperung menschlicher Arbeitskraft ist. Es ist demnach nicht weniger als eine Vergegenständlichung menschlicher Subjektivität. 38 Würde sich ein Kunstwerk gänzlich von den gesellschaftlichen Bedingungen seiner Produktion abkoppeln, dann würde es uns wie etwas Fremdes (oder, wie wir sogar sagen könnten, als entfremdete Arbeit) gegenübertreten. In dieser Hinsicht ist es nicht anders als der Mensch: Die gleiche Vulnerabilität, die wir von diesem erwarten, sollten wir auch von den Kunstwerken erwarten, die er hervorbringt. Soll ein solches Werk den Status haben, wahr zu sein, dann muss es seiner Umgebung gegenüber responsiv sein und ein wirklichkeitsgetreues Protokoll menschlichen Leidens vorlegen. In der Ästhetischen Theorie wirft Adorno daher sogar die Frage auf, ob Kunst ohne eine derartige Responsivität überhaupt als solche gelten könnte; konkret lautet sie dort: »Was aber wäre Kunst als Geschichtsschreibung, wenn sie das Gedächtnis des akkumulierten Leidens abschüttelte.« 39 37 GS 6, S. 29. 38 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW, Bd. 40 (Ergänzungsband, Erster Teil), Berlin 1968, S. 465-588, hier S. 517. Man beachte, dass Marx auch die künstlerische Arbeit in seine weitgefasste Definition der menschlichen Selbstobjektivierung integriert: Wenn der Mensch die gegenständliche Welt erschafft, vergegenständlicht er sich selbst, und das gilt in Fällen künstlerischen Schaffens ganz genauso; »der Mensch formiert« nach Marx eben »auch nach den Gesetzen der Schönheit« (ebd.). 39 GS 7, S. 387.

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Autonomie und Heteronomie Oben habe ich behauptet, Adorno glaube, dass Kunst nur dann »wahr« sein könne, wenn sie sich von den sie umgebenen realen Verhältnissen berühren lässt und auf sie reagiert. Oder kurz und prägnant formuliert: Ein Kunstwerk darf nicht weniger beschädigt sein als seine beschädigte Welt. Diese Bedingung wird nun nicht immer explizit gemacht, obgleich klar sein sollte, dass Adorno sie als das Leitprinzip seiner philosophischen Ästhetik betrachtet. Wenn er sich trotzdem nur selten bemüßigt fühlt, es geradeheraus auf den Punkt zu bringen, dann deshalb, weil er sich primär mit der Frage beschäftigt, wie ein Kunstwerk seine Autonomie auch noch inmitten der beschädigten und beschädigenden sozialen Umstände, auf die es antwortet, bewahren kann. Meiner Ansicht nach ist dies die Hauptfrage, die Adorno in seinen Überlegungen zur Kunst antreibt. Tatsächlich geht es hierbei um viel, da es alles andere als offensichtlich ist, wie er sein Bekenntnis zur Autonomie der Kunst aufrechterhalten und gleichzeitig dem Prinzip Rechnung tragen kann, dass die Kunst für ihre Umwelt offen und responsiv bleiben muss. Von einem Kunstwerk heißt es, dass es dann autonom ist, wenn es der herrschenden Logik des sozialen und ökonomischen Tauschs widersteht. Unsere bestehende Gesellschaftsordnung ist jedoch eine, die Differenz auf universelle Fungibilität zu reduzieren sucht, um damit den kapitalistischen Imperativ zu stützen, dem zufolge alle Dinge zu bloßen Koordinatenangaben auf ein und demselben Wertmaßstab werden sollen. Wenn Autonomie bedeutet, dass ein Ding Regeln gehorcht, die es sich selbst auferlegt, dann bezeichnet ästhetische Autonomie die Qualität, mit der ein Kunstwerk seinen sich selbst gegebenen Regeln folgt statt denen, die ihm von den gesellschaftlichen Imperativen des Tauschs vorgeschrieben werden. In Adornos Augen gilt nun, dass ein 335

Kunstwerk diese selbstgesetzgeberische Eigenschaft dann an den Tag legt, wenn es den Regeln des gesellschaftlichen Tauschs widersteht und stattdessen dem »Formgesetz« gehorcht. 40 Dieses Kriterium ist für seine Kunstdefinition tatsächlich von überragender Bedeutung: Der »Formbegriff« bildet ihm zufolge nämlich das »Zentrum« der Ästhetik. 41 An dieser Kunstauffassung können wir eine ungefähre Analogie zu Kants Moralphilosophie erkennen: So wie der moralische Akteur bei diesem seine Freiheit dadurch aufrechterhält, indem er seinen sich selbst gegebenen Gesetzen folgt, so löst sich auch das Kunstwerk nur durch die Gesetze seiner sich selbst auferlegten Form aus seiner gesellschaftlichen Determiniertheit heraus. Adorno erkennt allerdings auch, dass die ästhetische Autonomie nicht weniger prekär ist als die moralische; so wie unser moralisches Verhalten uns den anspruchsvollen Formalismus des kategorischen Imperativs aufnötigt, so gelingt dem Kunstwerk seine Autonomie auch nur dann, wenn es gegen die Forderungen seiner Umwelt an den Gesetzen seiner sich selbst auferlegten Form festhält: »Der Formbegriff markiert die schroffe Antithese der Kunst zum empirischen Leben, in welchem ihr Daseinsrecht ungewiß ward. Kunst hat soviel Chance wie die Form, und nicht mehr.« 42 Trotz all dieser Überlegungen geht Adorno aber doch nie so weit, die Autonomie der Kunst mit sozialer Transzendenz gleichzusetzen. Kunstwerke weisen für ihn stets eine »Doppelschlächtigkeit« auf, insofern sie zugleich »autonom[e] Gebilde und gesellschaftlich[e] Phänomene« sind. 43 Das aber bedeutet eben, dass es ihnen nie gelingt, sich komplett vor ihrer sozialen Umwelt abzuschotten. Ein autonomes Werk ist ebenso wenig ein bruchloses 40 41 42 43

Ebd., S. 21. Ebd., S. 213 (meine Hervorhebung, P. G.). Ebd. Ebd., S. 368 (meine Hervorhebung, P. G.).

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Ganzes wie die Gesellschaft selbst. Tatsächlich lehnt Adorno das Ideal eines »geschlossenen Kunstwerks« ab, ebenso wie das einer »geschlossenen Gesellschaft« – beide seien gleichermaßen »fragwürdig«, wie es bei ihm heißt. 44 Ein Kunstwerk ist kein geschlossenes, perfektes Ding, sondern eine Verkörperung unaufgelösten Widerspruchs. Daraus folgt, dass ein gelingendes Werk also gleichzeitig autonom und heteronom sein muss. Diese These mag uns paradox erscheinen, ist aber letztlich nur eine andere Formulierung jener fundamentalen Erkenntnis der negativen Dialektik, dass keine Instanziierung der Wirklichkeit des Menschen von sich behaupten kann, vollständige Versöhnung erlangt zu haben. In der Ästhetischen Theorie drängt Adorno uns sogar zu der Einsicht, dass die autonomen und heteronomen Momente des Kunstwerks nicht nur zeitgleich auftreten, sondern sich selbst in ihrem Antagonismus gegenseitig bedingen. Von der Kunst heißt es daher bei ihm auch: »Sie ist für sich und ist es nicht, verfehlt ihre Autonomie ohne das ihr Heterogene.« 45 Anders ausgedrückt: Ein Kunstwerk kann nur dann wahrhaftig auf die jenseits seiner Grenzen liegende beschädigte Welt reagieren, wenn es ihm gelingt, sich von der Welt als ihre Negation zurückzuziehen. Würde es sich nicht auf irgendeine Weise von ihr abscheiden, so würde es einfach als eine weitere Ware von ihr absorbiert werden. Umgekehrt würde aber auch das Kunstwerk seinen Wahrheitsanspruch preisgeben, wenn es seine Bindung an die Welt vollständig aufkündigen und sich nicht für ihren beschädigten Zustand interessieren würde. Mit diesem doppelten Charakter, gleichzeitig autonom und heteronom zu sein, ähnelt es daher nach Adorno einer Monade: Obwohl es nicht auf die Welt reduzierbar sei, rekapituliere es sie dennoch, »fensterlos«, in seinem individuellen ästhetischen Rahmen. 46 44 Ebd., S. 236. 45 Ebd., S. 17. 46 Ebd., S. 350.

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Adornos Ausführungen über den monadischen Charakter der Kunstwerke konfligieren miteinander. Kunstwerke weisen seiner Auffassung nach eine immanente »Gefügtheit« auf, die die Illusion ihrer hermetischen Abgeschlossenheit verstärkt; gerade durch diese innere Organisation ihres eigenen Materials würden sie aber auch »die geistige Herrschaft über die Wirklichkeit« reproduzieren. 47 Adorno zufolge ist es daher unmöglich, bei der Analyse eines Kunstwerks gänzlich zwischen seinem Inneren und seinem Äußeren zu unterscheiden, obwohl nichts, was äußerlich ist, als sedimentierter sozialer Inhalt lesbar bleibt, ohne eine alchemistische Transformation zu durchlaufen. »Insofern ist ihnen transzendent, kommt ihnen von außen zu, wodurch sie zu einem Immanenzzusammenhang überhaupt werden. Jene Kategorien werden aber dabei so weitgehend modifiziert, daß nur der Schatten von Bündigkeit übrig ist«, wie er schreibt. 48 Das soll offenbar heißen, dass der gesellschaftliche Gehalt eines Kunstwerks nur vermittels einer immanenten Analyse der ästhetischen Form des jeweiligen Werks aufgesucht werden sollte. Zugleich mahnt Adorno aber auch, dass dieses Vorgehen nicht dazu dienen dürfe, die Illusion der hermetischen Abgeschlossenheit des Kunstwerks noch weiter zu untermauern. Dessen Anspruch auf eine totale Unabhängigkeit in seiner Bedeutung ist für ihn nämlich nicht weniger illusorisch als ein Anspruch des menschlichen Subjekts auf Unabhängigkeit von seiner gesellschaftlichen (Um-) Welt: »Wird sie verabsolutiert, so fällt die immanente Analyse der Ideologie als Beute zu, deren sie sich erwehrte, als sie in die Werke sich hineinbegeben wollte, anstatt Weltanschauung von ihnen abzuziehen.« 49 Der monadenartige Charakter des Kunstwerks müsse daher dialektisch verstanden werden, denn, so Ador47 Ebd., S. 268. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 269.

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no, »[d]ie monadologische Konstitution der Kunstwerke an sich weist über sich hinaus«. 50 Daraus folgt, dass gerade das Formprinzip, durch das das Kunstwerk angeblich seine Autonomie absichert, ausgerechnet auch das Prinzip ist, durch das es der es umgebenden Gesellschaft gegenüber responsiv bleibt. Oder wie Adorno in der Ästhetischen Theorie wörtlich schreibt: »Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form.« 51 Dieses dialektische Verständnis der Monade untermauert Adornos Doppelthese, dass das Kunstwerk zugleich autonom und dem diesseitigen Leiden gegenüber empfänglich sei. »Alle Kunstwerke […] sind a priori polemisch«, insofern sie nämlich »von der empirischen Welt, ihrem Anderen emphatisch sich trennen [und dabei] bekunden […], daß diese selbst anders werden soll«. 52 Natürlich warnt er uns auch vor der naiven Idee, die Kunstwerke könnten sich uns im Zuge der Realisierung ihrer kritischen Aufgabe jenes »Bekundens« als Inseln der Utopie oder der totalen Erfüllung präsentieren. Für ihn gilt ganz im Gegenteil, »daß es keine vollkommenen Werke gibt«. Wenn uns ein Kunstwerk als ein Abbild makelloser Vollkommenheit entgegentreten könnte, dann würde das ja heißen, dass »Versöhnung inmitten des Unversöhnten möglich« wäre. 53 An der Unterscheidung zwischen dem »emphatischen« oder normativen Maßstab des gelungenen Kunstwerks und seiner kompromittierten empirischen Instanziierung hält Adorno also zwar fest, glaubt aber nicht, dass diese Lücke vollständig geschlossen werden könnte. Denn da alle Kunst menschlich ist, ist sie auch von den Wunden und Makeln der menschlichen Welt gezeichnet, aus der sie hervorgeht. In ei50 51 52 53

Ebd. Ebd., S. 16. Ebd., S. 264. Ebd., S. 283.

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ner unvollkommenen Welt muss daher auch die Kunst unvollkommen sein, damit sie nicht ihren Wahrheitsstatus preisgibt und zu einer bloßen ideologischen Affirmation einer falschen Realität wird. In diesem Sinne ist es nun zu verstehen, dass alle gelingende Kunst negativ sein muss – nicht, weil sie die Welt als ein Reich der totalen Verzweiflung schildert, sondern weil sie uns durch ihre immanente Nichteinheit auch ein getreues künstlerisches Abbild unseres unversöhnten Zustands liefert. Dies gilt laut Adorno sogar für scheinbar »schöne« und »harmonische« Werke wie etwa die Musik Mozarts, dessen Kompositionen für uns so klingen mögen, als seien sie »unpolemisch« und schwebten in einer »reinen Sphäre des Geistes« fernab gesellschaftlicher Kontamination. 54 Doch auch Mozarts Musik sei partiell negativ, da sie einen Wettstreit zwischen Versöhnung und gesellschaftlicher Wirklichkeit inszeniere, den wir als »schmerzhafte Süße« vernehmen würden. 55

Jazz, Leiden, Hoffnung Wir sollten noch anmerken, dass Adornos Interpretation populärer Kunstformen nicht immer widerspruchsfrei war und er sich auch nicht immer an seinen erklärten Grundsatz gehalten hat, dass ein Kunstwerk die dialektischen Widersprüche der Gesellschaft verkörpere. Seine Auffassung der kommodifizierten Musik stellt hierfür ein besonders unglückliches Beispiel dar. Diese hat viel Verwirrung gestiftet und ihm diverse Vorwürfe eingebracht – nicht nur den des Elitismus, sondern auch den des Rassismus und einer kulturell reaktionären Haltung. In der Sekun54 Ebd., S. 264. 55 Ebd. Diesen Absatz habe ich, mit einigen kleinen Änderungen, meinem Aufsatz »Social Suffering and the Autonomy of Art« entnommen.

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därliteratur zu seiner Musik- und Kulturkritik ist denn auch ein überproportional großer Teil der Aufmerksamkeit seinen Texten zum Jazz gewidmet. Die Debatten zu diesem Thema sind nach wie vor im Gange und zeichneten sich bisher oft durch grundlegende Missverständnisse oder sachliche Fehler aus. 56 Ich möchte an dieser Stelle nicht ausführlich auf diese Kontroversen eingehen, sondern lediglich darauf hinweisen, dass sie die Frage nach Adornos angeblichem Negativismus weiter erhellen. Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass diejenige musikalische Form, die er »Jazz« nannte, nicht das war, was wir heute unter diesem Begriff verstehen; vielmehr handelte es sich dabei um eine für einen Massenmarkt produzierte Art von leichter Unterhaltung, die vor allem mit Big-Band-Orchestern wie dem von Paul Whiteman in Verbindung gebracht wurden, dem Leiter eines rein weißen Ensembles, der in der Zeit zwischen den Weltkriegen als »König des Jazz« gefeiert wurde. Dies könnte erklären helfen, warum Adorno den Jazz nicht als eine legitime musikalische Form, sondern als

56 Die Literatur zu dieser Kontroverse ist sehr umfangreich. Ein hilfreicher Überblick über die relevanten Themen findet sich im Kommentartext des Herausgebers Richard Leppert zu dem von ihm besorgten englischsprachigen Auswahlband von Adornos musikalischen Schriften (Theodor W. Adorno, Essays on Music, Berkeley 2002, S. 327-372). Zur These, dass Adorno unrecht daran tat, sämtliche Spielarten des Jazz als bloße Waren abzutun, siehe Theodore A. Gracyk, »Adorno, Jazz, and the Aesthetics of Popular Music«, in: Musical Quarterly 76:4 (1992), S. 526-542, hier S. 532f. Ein ähnlicher Kommentar zu Adornos irriger Auffassung, dass Jazz weithin populär gewesen sei, findet sich in Ulrich Schönherr, »Adorno and Jazz. Reflections on a Failed Encounter«, in: Telos 87 (1991), S. 85-96. Zu Adornos mangelndem Verständnis für Improvisation siehe Richard Quinn, »Playing with Adorno. Improvisation and the Jazz Ensemble«, in: Yearbook of Comparative and General Literature 44 (1996), S. 57-67. Zu den jüngsten und kreativsten Versuchen, Adornos Erkenntnisse theoretisch fruchtbar zu machen, zählt Fumi Okiji, Jazz as Critique. Adorno and Black Expression Revisited, Stanford 2018.

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bloße Ware begriff, die sich zugunsten ihrer besseren Verkäuflichkeit den Standardisierungsregeln total unterworfen hatte. Selbst Gesten scheinbarer Freiheit wie die Improvisation wurden von ihm als Einbildungen interpretiert, die lediglich die Unfreiheit bestätigt hätten: »[D]ie sogenannten Improvisationen [reduzieren sich] auf mehr oder minder schwächliche Umschreibungen der Grundformeln, unter deren Hülle das Schema in jedem Augenblick hervorlugt.« 57 Doch selbst wenn wir die spezifische historische Situiertheit von Adornos Auffassung vom Jazz als Warenform berücksichtigen, sind seine Schlussfolgerungen eindeutig übertrieben, weil sie keinerlei Raum für die Erkenntnis eines dialektischen Widerspruchs lassen. Als Musterbeispiel für eine vollständig kommodifizierte Musik tut er den Jazz stattdessen pauschal als eine bloße Ware ab, in der die konstitutive Spannung zwischen Freiheit und Unfreiheit einer vorschnellen Versöhnung gewichen sei. Ein solches Verdikt sollte uns allerdings als einseitig erscheinen, vor allem deshalb, weil es die Möglichkeit unterstellt, dass sich hier ein musikalisches Genre der Warenform vollständig unterworfen habe. Oben habe ich jedoch für die Auffassung plädiert, dass die Unterscheidung zwischen autonomer Kunst und Kunst als Ware am ehesten als qualitative und nicht als typologische zu verstehen ist; Adorno macht sich in seinen Anmerkungen zum Jazz hingegen gerade die typologische Unterscheidung zu eigen und kann daher überhaupt nichts mehr darin vernehmen, was auf das Fortbestehen einer unaufgelösten Dialektik hindeuten könnte. Am bemerkenswertesten ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass er die unbändigen Energien des Protests und der Hoffnung nicht wahrnimmt, die zum Jazz als dem Seismographen der afroamerikanischen Erfahrungswelt gehören. »Schon die Negro Spirituals, Vorformen des Blues, mögen als Sklavenmusik die Kla57 »Zeitlose Mode. Zum Jazz«, GS 10.1, S. 123-137, hier S. 125.

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ge über die Unfreiheit mit deren unterwürfiger Bestätigung verbunden haben«, wie er schreibt. 58 Dieser Satz dürfte zu den ignorantesten in seinem gesamten Werk zählen. Denn mit ihm übergeht er schlicht jene Hoffnung auf eine bessere Welt, die im Rahmen einer komplexen musikalischen Tradition in ihr über viele Jahrhunderte hinweg immer wieder erklungen war. Außerdem verstößt diese Auffassung gegen sein erklärtes Prinzip aus der Negativen Dialektik, dass nämlich alle Kunst insofern an der Wahrheit teilhabe, als sie ein Protokoll menschlichen Leidens sei. »Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen«, heißt es dort. 59 Mit diesem Prinzip revidiert Adorno sein vorheriges und häufig missverstandenes Diktum, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben sei barbarisch. 60 Daher ist es nur umso erstaunlicher und bedauerlicher, dass er diesen Grundsatz nicht auch für den Blues und den Jazz hat gelten lassen: 61 Statt zuzugestehen, dass dem Jazz das gleiche Recht auf Ausdruck gewährt werden muss wie allen anderen Kunstformen auch, macht er sich lieber das übermäßig kritische Urteil zu eigen, dem zufolge diese Musik das bruchlose Produkt einer bruchlosen Welt sei. »Mit dem Jazz stürzt ohnmächtige Subjektivität aus der Warenwelt in die Warenwelt; das System läßt keinen Ausweg«, so Adorno in seinem Essay »Über Jazz«. 62 Das 58 Ebd., S. 124. 59 GS 6, S. 355. 60 »Kulturkritik und Gesellschaft«, GS 10.1, S. 11-30, hier S. 30. 61 Die Behauptung, seine Meinungen zum Jazz seien Belege für seinen Rassismus gewesen, müssten allerdings mit seinen rassismuskritischen Bemerkungen an anderen Stellen seines Œuvres quergelesen werden. Dabei müsste dann auch die, so Richard Leppert, »bitterironische Konversation« zwischen Tom Sawyer und Huck Finn über den Lynchmord an einem Schwarzen berücksichtigt werden, die in Adornos unvollendetem Libretto Der Schatz des Indianer-Joe. Singspiel nach Mark Twain (Frankfurt/M. 1979) stattfindet; siehe Lepperts Kommentar in Adorno, Essays on Music, S. 60. 62 GS 17, S. 74-108, hier S. 83.

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ist nun zwar eine eindeutig überspitzte Schlussfolgerung; trotzdem ist festzuhalten, dass dieses absolut negative und undialektische Urteil offenbar eine Instanz ist, die die negativistische Interpretation seines Denkens generell zu bestätigen scheint. Jazz wird damit zum Markenzeichen einer total gewordenen gesellschaftlichen Falschheit. Wollen wir diesem negativen Urteil widersprechen, dann müssten wir aber auch das totalisierende Bild von einer Gesellschaft ohne Ausweg zurückweisen, das dabei im Hintergrund steht.

Schlussbemerkungen In diesem Kapitel habe ich Adornos übergreifende These untersucht, nach der Kunstwerke dann und nur dann gelingen, wenn sie auf menschliches Leiden reagieren. Diesem Anspruch können sie aber nur gerecht werden, wenn sie eine kritische Haltung gegenüber der Welt einnehmen und deren Widersprüche auf der Ebene ihrer eigenen Form thematisieren. Eine solche Kritik ist allerdings nicht rein negativ, weil sie auch das Versprechen auf ein Glück ausspricht, das jenseits des von ihr verzeichneten Leidens liegt. In diesem Sinne ist ein gelingendes Kunstwerk zugleich transzendent und immanent – das heißt eine Instanz »immanenter Transzendenz«. Diese Idee eines dialektischen Status des Kunstwerks – als sowohl autonom als auch dem Leiden gegenüber responsiv – bleibt allerdings kontrovers, nicht zuletzt deshalb, weil der Autonomiebegriff in der philosophischen Ästhetik per se veraltet ist und sein Gebrauch oft als verzweifelter Versuch betrachtet wird, die Illusion der Abgeschiedenheit von der Gesellschaft aufrechtzuerhalten, während er in Wahrheit doch kaum mehr als eine Maskierung sozialer Privilegien darstellt. Der Wille dazu, das Trugbild ästhetischer Autonomie zu zerstören, wurde in der modernen Ästhetik zu einem einflussreichen Gestus, insbe344

sondere im Anschluss an Brecht, dessen sogenannte Verfremdungseffekte die unbewegliche bürgerliche Saturiertheit unter Beschuss nahmen. Es ist daher verlockend, Adorno vorzuhalten, er habe eine erpresste Versöhnung zwischen zwei unvereinbaren ästhetischen Schulen angestrebt – einerseits der, die an der Tradition des bürgerlichen Idealismus und seinem Konzept der ästhetischen Autonomie festhielt, und andererseits einer rebellischen Schule, die dieses idealistische Erbe ablehnte und die sogenannte vierte Wand der rein fiktiven Darstellung durchbrechen wollte. Um ihn gegen diesen Vorwurf in Schutz zu nehmen, müssten wir seine Behauptung akzeptieren, dass Autonomie und Sozialkritik in einem wahrhaften Kunstwerk keine Gegensätze darstellen, sondern einfach zwei notwendige Momente des ästhetischen Gelingens. Kein Kunstwerk kann demnach den gesellschaftlichen Umständen gegenüber sensibel sein und ihre Unvollkommenheit kritisieren, wenn es sich der Autorität der Welt zugleich einfach beugt. Einmal mehr scheint an dieser Stelle Adornos anhaltender Disput mit Benjamin durch: Ein Werk, das seinen autonomen Charakter aufgibt, wird nicht zu einem Paradigma ästhetischen Engagements, sondern schlicht zu einer Ware unter anderen. Es kann seine Absonderung von seinem gesellschaftlichen Umfeld zwar nicht komplett vollziehen, diese im Interesse politischer »Relevanz« aber auch nicht vollständig aufgeben. Wenn die Kunst dadurch eine wirklich kritische Rolle in der Gesellschaft spielen soll, dass sie deren Unvollkommenheiten aufdeckt, so vermag sie dies also nur dann, wenn sie sich weiterhin auf dem schmalen Grat zwischen Immanenz und Transzendenz hält, die beide für sich genommen nicht vor Ideologie gefeit sind. Kritik setzt nach Adorno eben »einen Standort vorau[s], der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist, während doch jede mögliche Erkenntnis nicht bloß dem was ist erst abgetrotzt werden muß, um verbindlich zu geraten, sondern eben darum 345

selber auch mit der gleichen Entstelltheit und Bedürftigkeit geschlagen ist, der sie zu entrinnen vorhat«. 63 Und sein Begriff des Kunstwerks verkörpert nun genau diese kritische Möglichkeit. Adorno wusste, dass die Kategorie der autonomen Kunst umstritten war, und war auch nicht sonderlich optimistisch in Bezug auf die Frage, ob die Kunst an sich auf Dauer überhaupt Bestand haben würde. In der Ästhetischen Theorie schreibt er zum Beispiel, es sei »[v]orstellbar und keine bloß abstrakte Möglichkeit, daß große Musik – ein Spätes – nur in einer beschränkten Periode der Menschheit möglich war«, 64 da die historische Entstehung der autonomen Kunst für ihn an den gesellschaftlichen Aufstieg des Bürgertums und dessen institutionelle und ideologische Emanzipation von der Autorität des Adels gebunden war. Kunst wurde nach Adorno also erst zu einem recht späten Zeitpunkt in der modernen Geschichte zu einer realen Möglichkeit, nämlich mit der Entkopplung der ästhetischen Erfahrung von ihren sakralen Ursprüngen. Wenn aber die autonome Kunst in Verbindung mit der gesellschaftlichen Rationalisierung auftrat, dann gefährdeten genau diejenigen Prozesse, die sie überhaupt erst möglich gemacht hatten, auch ihr Fortbestehen; die Geburt der Kunst war zugleich der Beginn ihres Todes. Wir sind hier mit einem Phänomen konfrontiert, das wir als Dialektik der ästhetischen Säkularisierung bezeichnen könnten: Im Zuge der allmählichen Verdinglichung des Bewusstseins durch die Kulturindustrie warnte Adorno vor der »verdorrte[n] Erfahrung« im Allgemeinen und hegte die Befürchtung, dass »Kunst ins Zeitalter ihres Untergangs könnte eingetreten sein«. 65 Für ihn war, wie wir sagen könnten, 63 GS 4, S. 283. 64 GS 7, S. 13. 65 Ebd. Zur »verdorrte[n] Erfahrung« siehe GS 4, S. 61. Ein wichtiger Kommentar zu diesem Thema findet sich in Martin Jay, »Is Experience Still in Crisis? Reflections on a Frankfurt School Lament«, in: Rush (Hg.), The Cambridge Companion to Adorno, S. 129-147.

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die autonome Kunst zwar vergänglich, aber trotzdem essenziell. Ohne die Verheißung, die von der ästhetischen Erfahrung noch ausging, konnte er nur noch wenig Hoffnung auf die Erlösung der Menschheit hegen.

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6 ÄSTHETISCHE ERFAHRUNG

Im vorangegangenen Kapitel habe ich für die These argumentiert, dass Adorno das Kunstwerk als eine Verkörperung der unaufgelösten Dialektik zwischen Freiheit und Unfreiheit betrachtet hat. Ähnlich wie das menschliche Subjekt ist auch dieses für ihn nur insofern voll verwirklicht, als es sich offenhält und empfindsam bleibt gegenüber der Welt, aus der es hervorgeht. Zuvor hatte ich in diesem Buch schon die Ansicht vertreten, dass diese Haltung der Responsivität die unabdingbare Voraussetzung für Moral ist. Daraus folgt, dass ein Kunstwerk nur dann gelingt oder »wahr« ist, wenn es dieser moralischen Haltung verpflichtet bleibt. Adornos große Sorge war, dass in einer Zeit zunehmender Kommodifizierung gelingende Kunst in diesem ausgeprägt normativen Sinn zu verschwinden droht, und er befürchtete, dass die Menschheit mit Eintreten dieses Falls eine unschätzbar wertvolle Ressource verlieren würde, da Kunst ein ebenso rares wie bedrängtes Refugium sei, das sowohl die Erinnerung an menschliches Leid als auch das Versprechen auf unser Glück umfasse. Um diese Überlegungen weiter zu vertiefen, sollten wir uns aber nicht allein mit den philosophischen Thesen über die Kunst befassen, die er in seiner ästhetischen Theorie untersucht, sondern auch mit den praktischen Beispielen für kunstwissenschaftliche, besonders musikwissenschaftliche Analysen, die einen so großen Teil seines Werks ausmachen. Wenn wir uns wirklich vergewissern wollen, was an seinen Gedanken zu diesem Feld heute noch von Wert sein kann, gilt es, ebenso seine Einsichten in die erfahrungsmäßige Dimension spezifischer Kunstwerke zu verstehen wie seinen Beitrag zur Ästhetik. Tatsächlich ist es ein wesentliches Prinzip von Adornos Philosophie, dass die Theorie stets in 348

einer intimen, wenn auch dialektischen Nähe zu dem Objekt verbleiben muss, das sie zu begreifen sucht. Dazu schreibt er in seiner »frühen Einleitung« zur Ästhetischen Theorie, dass die Ästhetik nur dann produktiv sein könne, wenn sie die kritische »Distanz von der Empirie« mit einer »leibhaften« Nähe zu ihr verbinde. 1 Es müsse möglich sein, das Kunstwerk sowohl von außen als auch »von der Innenseite der Produktion her« zu beurteilen, um die, wie er sie nennt, »andrängend[e] Erfahrung der Sache« selbst zu erfassen.2 Dieser Forderung möchte ich in diesem Kapitel nachkommen. Was an der Kunst von überragender Bedeutung ist, muss sich am Ende zwar auch seiner diskursiven Analyse stellen, erschließt sich uns aber zunächst in der sinnlichen Besonderheit der Kunsterfahrung selbst. Diese Betonung des ästhetischen Erfahrungsmoments gegenüber der ästhetischen Theorie steht im Einklang mit Adornos prinzipiellem Bekenntnis zum Vorrang des Objekts als solchem. Sie ist ein weiterer Ausdruck seiner Grundüberzeugung als Materialist, dass unsere Begriffe auf ein Moment der Nichtidentität referieren, das die Reichweite des bloß Begrifflichen stets übersteige. 3 Wenn die Kunst für ihn also ein besonderes Prestige genießt, dann deshalb, weil er sie als Hort des nichtbegrifflichen und mimetischen Elements in der menschlichen Erfahrung betrachtet, das anderswo in der Gesellschaft bereits auszusterben drohe. Dies mag auch erklären, warum schon der Begriff einer ästhetischen Theorie für Adorno höchst ambivalent ist. So scheut er sich einerseits nicht, mit apodiktischer Gewissheit zu verkünden, dass »[d]er Wahrheitsgehalt eines Werkes […] der Philosophie [bedarf]«; 4 kein Kunstwerk bleibt seiner Ansicht nach selbstiden1 2 3 4

GS 7, S. 497.

Ebd. Siehe dazu oben, Kap. 3. GS 7, S. 507.

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tisch oder rein das, was es ist, so als wäre es eine zeitlose Wahrheit. Solche Werke werden demnach erst zu dem, was sie sind, weil sie durch den Prozess von »Kommentar und Kritik« »Formen des Geistes herbei[zitieren]«. 5 Andererseits ist er aber auch der Überzeugung, dass die ästhetische Theorie nicht gelingen könne, wenn sie der ästhetischen Erfahrung gegenüber äußerlich bleibe, so als wäre die Erstere eine Ansammlung luftiger Thesen ohne innere Verbindung zu den Objekten, die sie zu deuten versucht. Dementsprechend heißt es bei ihm unter Rekurs auf Goethe denn auch: »Solange nicht in die Werke […] eingetreten wird, bleibt die Rede von Objektivität in ästhetischen Dingen […] bloße Behauptung.« 6 Jede genuine Theorie der Ästhetik, die nicht in einen sterilen Theoretizismus zurückfallen will, muss daher aus der Arbeit der immanenten Kritik und aus der wirklichen Begegnung mit dem Kunstgegenstand in seiner ganzen sinnlichen Partikularität hervorgehen. Mit den obigen Überlegungen sind wir nun besser dazu gerüstet, die normative Bedeutung zu begreifen, die Adorno der ästhetischen Erfahrung zuschreibt. Im Folgenden möchte ich vier Beispiele für eine solche Erfahrung untersuchen. Dabei werde ich mich insbesondere auf die musikalische Erfahrung konzentrieren, und zwar nicht nur einfach deshalb, weil die Musik das ästhetische Medium ist, mit dem ich am besten vertraut bin, sondern vor allem, weil sie dasjenige ist, das eindeutig im Zentrum von Adornos eigenem Denken steht. Tatsächlich könnte man ohne Übertreibung sagen, dass die Musik für ihn unter allen Künsten einen paradigmatischen Status besessen hat. Die Gründe dafür liegen zum Teil in seiner Biografie begründet. Adorno scheint 5 Ebd. 6 »Solange nicht in die Werke, nach dem Goetheschen Vergleich mit der Kapelle, eingetreten wird, bleibt die Rede von Objektivität in ästhetischen Dingen […] bloße Behauptung« (ebd., S. 530).

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nämlich von frühester Kindheit an in der Musik jenes einzigartige Versprechen auf Erfüllung oder Glück erblickt zu haben, das er als »metaphysische Erfahrung« bezeichnete. So denkt er in der Minima Moralia an das »Wiegenlied« von Brahms zurück, das er mit der Gardine vor seinem Kinderbett assoziiert, die ihn vor dem Licht schützte und es ihm ermöglichte, »unendlich lange […] ohne Angst schlafen« zu können. 7 Erinnerungen wie diese trugen daher gewiss dazu bei, in ihm nicht nur eine persönliche Liebe zur Musik, sondern auch die prinzipielle Überzeugung zu nähren, dass die formalen und erfahrungsmäßigen Qualitäten der Musik als ein Modell für die Philosophie selbst dienen könnten. Schon früh in seinem Leben war Adorno mit der Forderung konfrontiert, eine schmerzliche Wahl zwischen verschiedenen beruflichen Werdegängen zu treffen. So versuchte sein Kompositionslehrer Alban Berg, seinen Schüler in einem Brief aus dem Jahr 1926 seines musikalischen Talents zu versichern, ihn aber zugleich auch zu warnen, dass er nicht Musik und Philosophie zugleich betreiben könne: »Ich bin«, wie Berg ihm schrieb, »zu der sichern Überzeugung gekommen, daß Sie auf diesem Gebiet der tiefsten Erkenntnis der Musik […] das Höchste zu leisten berufen sind u. es in Form großer philosophischer Werke auch erfüllen werden. Ob dabei nicht Ihr musikalisches Schaffen (ich meine das Komponieren), auf das ich so große Dinge setze, zu kurz kommt, ist eine Angst, die mich immer befällt, wenn ich an Sie denke. Es ist ja klar: Eines Tages werden Sie sich […] für Kant oder Beethoven entscheiden müssen.« 8 Und obwohl Adorno Berg in höchstem Maße schätzte, weigerte er sich, die Notwendigkeit einer solchen Entscheidung zu akzeptieren. In einem mehr als 20 Jahre später verfassten Brief an Thomas Mann aus dem Jahr 7 GS 4, S. 227. 8 Zit. nach »Editorisches Nachwort zu den Bänden 18 und 19«, GS 19, S. 633-654, hier S. 635.

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1948 formulierte er denn auch (mit erheblicher Verspätung) eine Erwiderung auf seinen Lehrer: »Ich studierte Philosophie und Musik. Anstatt mich zu entscheiden, hatte ich mein Leben lang das Gefühl, in den divergenten Bereichen eigentlich das Gleiche zu verfolgen.« 9 Diese Behauptung möchte ich im Folgenden dadurch ernst nehmen, dass ich jene »Lektionen« für die Philosophie betrachte, von denen Adorno meinte, sie aus der Erfahrungsstruktur der Musik selbst ableiten zu können. Ich werde mich dabei auf vier musikalische Beispiele beschränken, von denen zwei von Beethoven stammen.

Vorbemerkung zum Spätstil Bevor ich zu den musikalischen Illustrationen komme, lohnt es sich, einen Moment innezuhalten, um den besonderen, ja sogar privilegierten Platz zu betrachten, den Beethovens Musik in Adornos ästhetischem philosophischen Denken einnimmt. 10 Es ist bekannt, dass er Beethovens Kompositionen zu den bedeutendsten Werken der bürgerlichen Kultur zählte. Dies wird überdeutlich, wenn wir die Notizen und Fragmente betrachten, die Adorno für seine nie vollendete Studie über den Komponisten angefertigt und uns hinterlassen hat. 11 Diese bereits ab 1938 ver9 Adorno an Thomas Mann, 5. Juli 1948, in: Theodor W. Adorno, Thomas Mann, Briefwechsel, 1943-1955, Frankfurt/M. 2002, S. 33-37, hier S. 33 (meine Hervorhebung, P. G.). 10 Zu einer allgemeinen Untersuchung von Adornos Ansichten zum Spätstil siehe Peter E. Gordon, »The Artwork Beyond Itself. Adorno, Beethoven, and Late Style«, in: ders.,Warren Breckman u. a. (Hg.),The Modernist Imagination. Intellectual History and Critical Theory. Essays in Honor of Martin Jay, New York 2008, S. 77-98. 11 Wir alle sind dem 2018 verstorbenen Adorno-Schüler Rolf Tiedemann zu großem Dank verpflichtet, dass er die Aufzeichnungen seines Lehrers

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fassten und bis 1966 andauernden Aufzeichnungen belegen, dass ihn Beethovens Musik während seiner gesamten Laufbahn immer wieder beschäftigt hat. Dabei fühlte er sich zu ihr nicht einfach nur aufgrund seines persönlichen Geschmacks hingezogen, sondern vor allem deshalb, weil er zu der Überzeugung gelangt war, dass sie bestimmte nichtdiskursive oder erfahrungsmäßige Qualitäten verkörpere, die sie zu einem geeigneten Analogon seiner eigenen Philosophie machten. Dies galt in erster Linie für jene Werke, die Beethoven in seinem letzten Lebensjahrzehnt (also ungefähr von 1815 bis 1827) komponiert hatte und die exemplarisch für das standen, was Adorno dessen »Spätstil« nannte. Die ersten zwei musikalischen Beispiele, die ich gleich untersuchen werde, repräsentieren beide diesen späten Stil. Als Vorbereitung darauf mag es sich als hilfreich erweisen, den grundlegenden Unterschied zwischen den Werken der sogenannten mittleren Periode und denen aus den späteren Jahren des Komponisten noch einmal zu betrachten. In Anlehnung an den berühmten Beinamen »Eroica«, der der 3. Sinfonie in Es-Dur gegeben wurde, haben Musikwissenschaftler wie Scott Burnham die Werke der mittleren Periode als »heroisch« bezeichnet, obwohl wir diesen Stil genauso gut auch »prometheisch« nennen könnten. 12 Dem griechischen Mythos zufolge widersetzt sich Prometheus den Göttern und stärkt die Macht der Menschen, indem er ihnen das Feuer schenkt. Sein Name scheint zur Bezeichnung dieses Stils nun besonders passend zu sein, wenn wir uns daran erinnern, dass Beethoven das Hauptthema des Finales seines Balletts Die Geschöpfe des Prometheus op. 43 von 1801 sowohl für den vierten Satz der 3. Sinfonie als auch für die »Eroica-Variationen« über Beethoven zusammengetragen, redigiert und dem Publikum in lesbarer Form zugänglich gemacht hat: Theodor W. Adorno, Beethoven. Philosophie der Musik, Frankfurt/M. 1994 (= NGS, Abt. I , Bd. 1). 12 Scott Burnham, Beethoven Hero, Princeton 1995.

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für Klavier op. 35 entliehen hat. 13 Das hervorstechendste Merkmal des heroischen Stils (und eines, das für fast jeden Hörer, selbst für musikalisch wenig Gebildete, sofort erkennbar ist) ist der Eindruck, dass die Musik eine Verkörperung eigenwilliger Subjektivität ist: Das thematische Material ist typischerweise kühn oder selbstbewusst, und während es ausgearbeitet und entwickelt wird, nimmt das musikalische Subjekt anthropomorphe Eigenschaften an, um letztlich zum Hauptdarsteller in einem heroischen Drama des Kampfes und der Selbstverwirklichung zu werden. Für Adorno stellt der heroische Stil die starke Affinität zwischen den Werken aus Beethovens mittlerer Periode und der Philosophie Hegels unter Beweis. Beide veranschaulichen ihm zufolge eine Logik der dialektischen Vermittlung, die durch Spaltung und Kampf zur Erfüllung führt. In dem zu seinen Lebzeiten unveröffentlichten Fragment »Zur Theorie Beethovens« aus dem Jahr 1939 konstatiert Adorno eine »besondere Beziehung des Beethovenschen Systems zum Hegelschen«, die sich darin zeige, dass der Komponist wie der Philosoph die »Einheit des Ganzen« zu bestätigen suchten. Die Beethoven’sche Form sei »ein integrales Ganzes, in dem jedes einzelne Moment sich aus seiner Funktion im Ganzen bestimmt nur insoweit, als diese einzelnen Momente sich widersprechen und im Ganzen aufheben«. 14 Damit stellt er die Analogie zwischen dem musikalischen Material und dem individuellen Subjekt heraus, dem die soziale Welt zunächst als Hindernis gegenübertritt, dem es aber letztendlich gelingt, seine Handlungsfähigkeit in seiner gesamten Umgebung zu manifestieren: »Erst das Ganze beweist ihre Identität, als einzelne sind sie einander so entgegengesetzt, wie das Individuum der ihm ent13 Lewis Lockwood, Beethoven. Seine Musik. Sein Leben, Kassel, Stuttgart 2009, S. 115-117. 14 Enthalten in NGS, Abt. I , Bd. 1, fr. 29, S. 34-37, hier S. 35.

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gegengesetzten Gesellschaft«, wie es bei ihm heißt. 15 In der Phänomenologie des Geistes stellt Hegel fest, dass »das Wahre das Ganze ist«; die prometheischen Werke der mittleren Periode Beethovens veranschaulichen nach Adorno nun genau diese Logik der dialektischen Erfüllung insofern, als das musikalische Subjekt analog zu dem Hegel’schen Geist ist, der durch die Schwierigkeiten zur Versöhnung hindurchgeht. Daraus schließt er, dass »[d]ie Beethovensche Musik […] gewissermaßen die Probe aufs Exempel« sei, »daß das Ganze die Wahrheit ist«. 16 In den Werken des Spätstils wird diese hegelianische Idee ihm zufolge jedoch als gescheitert entlarvt. »Beethovens Musik ist die Hegelsche Philosophie«, schreibt Adorno, »sie ist aber zugleich wahrer als diese […].« 17 Der Komponist lehne nämlich nicht nur die Ästhetik der Selbstbehauptung und -erfüllung ab, sondern wende sich auch gegen das Prinzip der Totalität selbst: »Der Schlüssel zum letzten Beethoven liegt wahrscheinlich darin, daß seinem kritischen Genius in dieser Musik die Vorstellung der Totalität als einer schon geleisteten unerträglich wurde.« 18 Und obwohl er nie erklärt, welche individuellen Faktoren für den Stilwandel im Schaffen des Komponisten verantwortlich gewesen sein könnten, so ist er doch eindeutig der Meinung, dass dieser eine überpersönliche Bedeutung habe, insofern er mit allgemeineren historischen Veränderungen sowohl in der Philosophie als auch im gesellschaftlichen Bewusstsein korreliere. Der heroische Stil basierte ihm zufolge auf einer weitgehend fiktiven Identität zwischen dem bürgerlichen Subjekt und der objektiven Welt, auch wenn es in der frühen Phase der kapitalistischen Expansion für die Bourgeoisie selbstverständlich war, an ihre Macht zu glauben, die Welt 15 16 17 18

Ebd., S. 35 (meine Hervorhebung, P. G.). Ebd., S. 34. Ebd., S. 36 (meine Hervorhebung, P. G.). Ebd. (meine Hervorhebung, P. G.).

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nach ihrem eigenen Bilde gestalten zu können. In der Spätphase jedoch werde dieser Wille zur Herrschaft als Illusion entlarvt und das Subjekt mit den Grenzen seiner Macht konfrontiert. Subjekt und Objekt würden auseinandergerissen, und das Ergebnis sei ein Stil nicht der Einheit, sondern der Fragmentierung: »Der Wahrheitsanspruch des letzten Beethoven verwirft den Schein jener Identität des Subjektiven und Objektiven, der fast eins ist mit der klassizistischen Idee. Es erfolgt eine Polarisierung. Einheit transzendiert zum Fragmentarischen.« 19 Adorno beschreibt diesen Gedanken am ausführlichsten in seinem bekannten Essay »Spätstil Beethovens« von 1937. Die Werke der späteren Jahre des Komponisten sind demzufolge keine Dokumente der persönlichen Not oder des Niedergangs. Sie würden vielmehr von der Ohnmacht des menschlichen Subjekts als solchem zeugen: Die Gewalt der Subjektivität in den späten Kunstwerken ist die auffahrende Geste, mit welcher sie die Kunstwerke verläßt. Sie sprengt sie, nicht um sich auszudrücken, sondern um ausdruckslos den Schein der Kunst abzuwerfen. Von den Werken läßt sie Trummer zurück und teilt sich, wie mit Chiffren, nur vermöge der Hohlstellen mit, aus welchen sie ausbricht. Vom Tode berüht, gibt die meisterliche Hand die Stoffmassen frei, die sie zuvor formte; die Risse und Sprünge darin, Zeugnis der endlichen Ohnmacht des Ichs vorm Seienden, sind ihr letztes Werk. 20

Diese Passage kann als Ausgangspunkt für unseren Versuch dienen, uns begreiflich zu machen, wie Adorno philosophische Lehren aus der musikalischen Erfahrung ableiten will. Wir sollten dabei nicht übersehen, dass er in seiner Charakterisierung von 19 »Verfremdetes Hauptwerk. Zur Missa Solemnis«, GS 17, S. 145-161, hier S. 159. 20 GS 17, S. 13-17, hier S. 15.

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Beethovens Spätstil Themen einführt, die auch in seiner eigenen Philosophie auftauchen. Die Werke jener Zeit sind für Adorno nicht mehr harmonisch, sondern von »Rissen und Sprüngen« durchzogen, die ein Künstler hinterlasse, der nicht mehr nach der totalen Beherrschung seines Materials strebe. 21 Diese metaphorische Redeweise nimmt bereits den berühmten Schlussteil der Minima Moralia vorweg, in dem es heißt, dass auch die Philosophie eine Perspektive auf die Welt einnehmen müsse, die ihre »Risse und Schrunde« offenlege.22 An solcherlei Bemerkungen können wir erkennen, wie Adorno schon hier auf jene Kritik der idealistischen Totalisierung zusteuert, die dann in der Negativen Dialektik zur vollen Blüte kommen sollte. Beethovens Spätstil wird somit zu mehr als bloß einer ästhetischen Vorliebe; er verwandelt sich in ein methodologisches Vorbild für das, was die Philosophie selbst sein sollte. In einem Fragment aus dem Jahr 1953 konnte Adorno diese Lektion mithin in dem kühnen Aphorismus zusammenfassen: »Man kann nicht mehr wie Beethoven komponieren, aber man muß so denken wie er komponierte.« 23

Erstes musikalisches Beispiel: Ludwig van Beethoven, 9. Sinfonie in d-Moll op. 125 Betrachten wir nun das erste Musikbeispiel, Beethovens 9. Sinfonie in d-Moll op. 125, und zwar den Schlussteil des ersten Satzes (Allegro ma non troppo, un poco maestoso), in dem das thematische Subjekt wieder auftaucht. Die betreffende Passage beginnt etwas nach der Hälfte des Satzes in Takt 301. Während die Pauken zu rollen beginnen, kehren die Streicher zum Anfangsthema zurück, 21 Ebd. 22 GS 4, S. 283. 23 NGS, Abt. I, Bd. 1, fr. 320, S. 231f., hier S. 231.

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einer sparsamen Aussage einer fallenden Quinte von der Dominante zur Tonika, auf die eine fallende Quarte von der Tonika zur tieferen Dominante folgt, die dann ein letztes Mal zur Tonika eine Oktave tiefer absteigt. In der musikalischen Grammatik gehört dies zu den einfachsten Aussagen, die möglich sind: Es ist kaum mehr als ein blockartiger Abstieg, dem es an melodischer Gestalt fehlt und der an die zaghaften Phrasen der Geigen erinnert, mit denen der Satz begann. Doch in der Reprise werden die Phrasen nun fortissimo gespielt; unterstützt von den donnernden Pauken klingen sie viel entschlossener oder sogar harsch. 24 In der Zwischenzeit hat sich die Tonart von d-Moll nach D-Dur verschoben, wobei die große Terz (Fis) nun im Bass zu hören ist – eine höchst instabile erste Umkehrung. Es heißt zwar manchmal, dass die gesamte Sinfonie aus einer tonalen »Suche nach D-Dur« bestehe, doch diese frühe Verschiebung bringt wenig Trost oder tonale Definition mit sich. 25 Im Gegenteil: Die Wirkung ist so verheerend, dass der Hörer sich leicht wie aus dem Gleichgewicht geworfen fühlen kann. Und dieses Gefühl der harmonischen Desorientierung wird nur noch intensiver, wenn das musikalische Thema sein tonales Zuhause verlässt und das Eindringen einer verminderten Quinte den Weg zur Reprise öffnet. In der Ästhetischen Theorie interpretiert Adorno diese Passage als einen paradigmatischen Moment, in dem das Subjekt die Erfahrung einer »Erschütterung« mache: Der Zuhörer »verliert den Boden unter den Füßen«, und »die Möglichkeit der Wahrheit, welche im ästhetischen Bild sich verkörpert, wird ihm leibhaft«. 26 Noch bedeutsamer ist allerdings, dass er sie als einen Moment beschreibt, der sich nicht in den kategorialen Strukturen der bloß 24 Einen hervorragenden Kommentar dazu bietet Maynard Solomon, »The Ninth Symphony. A Search for Order«, in: ders., Beethoven Essays, Cambridge (Mass.) 1990, S. 3-34. 25 Ebd., S. 18f. 26 GS 7, S. 363.

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Abb. 1: Ludwig van Beethoven, 9. Sinfonie in d-Moll op. 125, erster Satz, Allegro ma non troppo, un poco maestoso (Auszug). 359

subjektiven Erfahrung, das heißt des »Erlebnisses« fassen lasse. Vielmehr gehöre er »dem Augenblick an, in denen [sic!] der Rezipierende sich vergißt und im Werk verschwindet«. Das Gefühl der Erschütterung ist demzufolge also weniger eine individuelle Erfahrung als eine mimetische Reaktion auf die Unmittelbarkeit des musikalischen Ereignisses: »Die Erfahrung von Kunst als ihrer Wahrheit oder Unwahrheit ist mehr als subjektives Erlebnis: sie ist Durchbruch von Objektivität im subjektiven Bewußtsein.« Diesen Durchbruch wiederum versteht Adorno zwar als Zeichen sowohl für die Liquidation des Subjekts als auch für den Vorrang des Objekts, setzt dem aber zugleich noch hinzu, dass das Subjekt diesen Vorrang nur dann erfahren könne, wenn es jegliche Regression vermeide und in einem Zustand der »Anspannung« verharre: Erschütterung, dem üblichen Erlebnisbegriff schroff entgegengesetzt, ist keine partikulare Befriedigung des Ichs, der Lust nicht ähnlich. Eher ist sie ein Memento der Liquidation des Ichs, das als erschüttertes der eigenen Beschränktheit und Endlichkeit innewird. Diese Erfahrung ist konträr zur Schwächung des Ichs, welche die Kulturindustrie betreibt. […] Das Ich bedarf, damit es nur um ein Winziges über das Gefängnis hinausschaue, das es selbst ist, nicht der Zerstreuung sondern der äußersten Anspannung; das bewahrt Erschütterung, übrigens ein unwillkürliches Verhalten, vor der Regression. 27

Mit dieser Deutung versucht Adorno, durch eine quasiphänomenologische Beschreibung das einzufangen, was er mit dem Vorrang des Objekts meint: Die musikalische Erfahrung der »Erschütterung« stelle die Integrität des Subjekts fast bis zu dem Punkt der 27 Ebd., S. 364. Ein weiterer Kommentar, der Adornos Gedanken der Anspannung als die der Zerstreuung vorzuziehende Haltung empfiehlt, wenn es um ästhetische Erfahrungen geht, findet sich in Espen Hammer, Adorno’s Modernism. Art, Experience, and Catastrophe, Cambridge 2015, S. 213.

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Vernichtung auf die Probe und diene damit als »Memento der Liquidation des Ichs«, das sich seiner eigenen »Beschränktheit und Endlichkeit« bewusstwerde. 28 Entscheidend ist hier, dass er diese Erfahrung jedoch nicht als Trauma, sondern als ein Versprechen auf Emanzipation interpretiert: »Für Momente […] wird das Ich real der Möglichkeit inne, seine Selbsterhaltung unter sich zu lassen«, wobei sich dieses Ereignis natürlich auf den Bereich des ästhetischen Scheins beschränke und für das Ich daher nicht »dazu ausreichte, jene Möglichkeit zu realisieren«. 29 In der Reprise erhascht das Ich also einen Blick über das »Gefängnis« des gut gepanzerten Selbst hinaus. Für Adorno ist dies eine Vision von Freiheit, wie sie schon in den früheren, »heroischen« Werken wie dem Fidelio versprochen worden sei, wo sie nur als schwacher Lichtschein im Inneren der Gefängnismauern erschien. In Beethovens Spätstil wird diese Verheißung nun zu einer empirischen Offenbarung: Das Subjekt wird mit seinen eigenen Grenzen konfrontiert. 30 An dieser Stelle mag die Anmerkung hilfreich sein, dass Adornos Interpretation in einem krassen Gegensatz zu der feministischen Deutung der 9. Sinfonie durch die Musikwissenschaftlerin Susan McClarey steht, die genau diesen Moment in der Reprise als »eine der beängstigendsten, brutalsten Episoden in der Geschichte der Musik« bezeichnet. Für sie thematisiert diese Passage nicht die Endlichkeit des Ichs, sondern die Gleichsetzung des Vergnügens mit »drängender Lust« und »mörderischer Wut«. 31 Unter Expertinnen und Experten hat diese kontroverse Interpretation 28 GS 7, S. 364. 29 Ebd. 30 Siehe zu einer ähnlichen Diskussion Kathy Kiloh, »Towards an Ethical Politics. T.W. Adorno and Aesthetic Self-Relinquishment«, in: Philosophy and Social Criticism 43:6 (2017), S. 571-598. 31 Susan McClary, »Getting Down Off the Beanstalk. The Presence of a Woman’s Voice in Janika Vandervelde’s Genesis II «, wiederabgedruckt in:

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große Bekanntheit erlangt und eine Menge interessanter Kommentare provoziert, die ich hier nicht einmal ansatzweise darstellen kann. 32 Ich möchte dazu lediglich anmerken, dass McClareys Deutung eine Identität zwischen dem musikalischen Material und einem personalen (vermutlich männlichen) Akteur anzunehmen scheint, dessen Handlungen expressiv in die Textur der Musik selbst eingeschrieben werden. 33 Doch Adorno stellt diese Identität ja gerade in Frage, indem er sie als Symptom für das ungerechtfertigte Vertrauen des Subjekts in seine eigene weltgestaltende Kraft betrachtet. Und da er nicht dem Subjekt, sondern dem Objekt den Vorrang einräumt, neigt er eben auch eher der Möglichkeit zu, dass sich das Subjekt durch seine desorientierende Begegnung mit dem musikalischen Material eher erschüttert als bestätigt fühlen würde. Gehen wir dieser Interpretation noch dies., Feminine Endings. Music, Gender, and Sexuality, Minneapolis 1991, S. 112-131, hier S. 128. 32 Die Erwiderungen auf McClary umfassten das gesamte Spektrum von überlegt und wohlwollend bis zu ablehnend und feindselig. Ein Beispiel für einen Kommentar aus der ersteren Kategorie ist Robert Fink, »Beethoven Antihero. Sex, Violence, and the Aesthetics of Failure, or Listening to the Ninth Symphony as Postmodern Sublime«, in: Andrew Dell’Antonio (Hg.), Beyond Structural Listening? Postmodern Modes of Hearing, Berkeley 2004, S. 109-153. Für die zweite Kategorie siehe exemplarisch Pieter C. van den Toorn, »Politics, Feminism, and Contemporary Music Theory«, in: The Journal of Musicology 9:3 (1991), S. 275-299. Siehe dazu auch die nuancierte Stellungnahme von Ruth Solie, »What Do Feminists Want? A Reply to Pieter van den Toorn«, in: The Journal of Musicology 9:4 (1991), S. 399-410. 33 Zur Rolle des Anthropomorphismus in Adornos Musikdeutung siehe Max Paddison, Adorno’s Aesthetics of Music, Cambridge 1993. Paddison hat zwar in Teilen recht, doch entscheidend für Adornos interpretative Methode ist, dass ihre Zuschreibung von Handlungsfähigkeit oder anthropomorphen Eigenschaften an die Musik nicht notwendigerweise eine Identität von Musik und Zuhörer impliziert, und erst recht nicht eine der Musik und ihres Komponisten.

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einen Schritt weiter nach, dann könnten wir (bei allem Respekt für McClarey) tatsächlich zu der feministischen Schlussfolgerung gelangen, dass die Musik die vermutlich männliche Autorität des Subjekts nicht bestärkt, sondern eigentlich sogar untergräbt. Genau das besagt nun Adornos Schlussfolgerung, die er in seiner Bemerkung, dass das Subjekt in der Reprise nicht seine Macht, sondern seine Begrenzung erkenne, auch explizit darlegt. In Beethovens Musik vernimmt er eine ästhetische Zurückweisung aller Ansprüche auf Subjekt-Objekt-Identität. »Die IX . Symphonie ist weniger identitätsgläubig als die Hegelsche Philosophie«, wie er schreibt. 34 Wo Identität erschüttert wird, schimmert das Nichtidentische durch; im Gefängnis des modernen Subjekts erhaschen wir einen Blick auf ein Glück ohne Herrschaft.

Zweites musikalisches Beispiel: Ludwig van Beethoven, Streichquartett Nr. 13 B-Dur op. 130 In einem Beitrag für den Norddeutschen Rundfunk kam Adorno im Jahr 1966 mit einem Kommentar zum Streichquartett Nr. 13 in B-Dur op. 130 erneut auf die Frage des »Spätstils« zu sprechen. Er beendete ihn mit einigen Bemerkungen zum fünften Satz, der »Cavatina«, einem gefühlvollen, langsamen Satz in Es-Dur, der mit der Anweisung Adagio molto espressivo versehen ist. Der schriftliche Text der Rundfunkansprache von 1966 teilt uns mit, dass Adorno an seine Ausführungen zudem eine kurze Einspielung eines Auszugs dieses Stücks (Takte 23 bis 30) anschloss. Bevor ich auf diese Ausführungen eingehe, ist es aber vielleicht wichtig, zu erwähnen, dass Beethoven selbst diesen Satz zu seinen Lieblingskompositionen zählte. Karl Holz, der zweite Geiger des Schuppanzigh-Quartetts, berichtet, dass der Komponist ihm einst 34 NGS, Abt. I, Bd. 1, fr. 31, S. 37f., hier S. 38.

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gestand, er habe die Cavatina »unter Tränen der Wehmut komponiert, und […] dass noch nie seine eigene Musik einen solchen Eindruck auf ihn hervorgebracht habe«. 35 Allerdings haben nicht alle Zuhörer so positiv reagiert. Strawinsky etwa tat das Stück kurzerhand als »schwunglos« ab (eine Bezeichnung, die er auch auf viele der späten Streichquartette anwendete). 36 Gängiger ist hingegen die Meinung von Joseph Kerman, der von diesem Satz sagte, dass seine Emotionen »so intim sind, dass es sich fast falsch anfühlt, sie miterleben zu dürfen«. 37 Gerade dieser Eindruck, dass diese Musik von unzugänglichen privaten Gefühlen zeuge, könnte uns jedoch wie Ironie erscheinen, da die Cavatina nicht nur öffentlichen, sondern potenziell sogar kosmischen Ruhm erlangt hat, als sie 1977 mit den beiden Voyager-Raumsonden als allerletzter musikalischer Beitrag auf der »Golden Record« ins All geschickt wurde. 38 Adorno wusste natürlich nichts von dieser späteren Geschichte. In seinen eigenen Ausführungen zur Cavatina geht es ihm vor allem darum, die Ansicht zu widerlegen, dass es sich bei ihr um eine Protokollierung privater Gefühle handele. Er versteht sie stattdessen als höchste Ausprägung des Spätstils, da sie die Schwächung der Subjektivität verzeichne und damit am »Prozeß der musikalischen Entmythologisierung« mitwirke. 39 Beethovens Werke im 35 Zit. nach Georg Kinsky, Hans Halm (Hg.), Das Werk Beethovens.Thematisch-bibliographisches Verzeichnis seiner sämtlichen vollendeten Kompositionen, München, Duisburg 1955, S. 393. 36 Zit. nach Joseph Kerman, The Beethoven Quartets, New York 1966, S. 199, der aus einem Gespräch zwischen Strawinsky und Robert Craft zitiert. 37 Ebd., S. 198. 38 Daniel K. L. Chua, Alexander Rehding, Alien Listening.Voyager’s Golden Record and Music from Earth, New York 2021, S. 112. 39 »Über den Spätstil Beethovens«, frei gehaltener Rundfunkvortrag mit Musikbeispielen, Norddeutscher Rundfunk, Hamburg, NGS, Abt. I , Bd. 1, Anhang, Text 9, S. 263-274, hier S. 273.

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heroischen Stil ehrten noch die unanfechtbare Autorität des Harmonieprinzips, womit Adorno »Harmonie im Sinn der ästhetischen Harmonie, also der Ausgewogenheit, der Rundheit« meinte. Einst habe sie die »Identität des kompositorischen Subjekts mit seiner Sprache« bedeutet. In den späten Werken werde diese Identität jedoch als Mythos entlarvt. Spätwerke wie das Opus 130 stellen ihm zufolge daher auch nicht den Höhepunkt des subjektiven Ausdrucks dar, sondern vielmehr die Zerstörung der Macht des Subjekts. »[D]ie sterbende Hand«, so Adorno, »gibt frei, was sie zuvor umklammerte, formte, bändigte, und dadurch wird es ihre höhere Wahrheit.« Die Cavatina veranschauliche mithin »den Verzicht auf den Schein der Harmonie«. In den letzten Momenten seiner Radioansprache setzt er allerdings noch rasch hinzu, dass wir diese Schwächung des Subjekts nicht in einem rein negativen Sinne als Machtverlust oder Verzicht, sondern vielmehr als »Ausdruck der Hoffnung« verstehen sollten. 40 40 Ebd., S. 268, 273 (meine Hervorhebung, P. G.). Was die Stellung der Hoffnung betrifft, mag es hilfreich sein, sich den Kontrast zwischen Adorno und Ernst Bloch vor Augen zu halten: Während Bloch der Auffassung war, dass das Hoffnungskonzept eine religiöse Komponente in sich trage, hielt sich Adorno von der Anerkennung der Zulässigkeit explizit religiöser Vorstellungen fern. Sofern uns überhaupt Hoffnung gegeben sei, so erscheine sie nicht in der Unmittelbarkeit religiöser Traditionen, sondern nur als gebrochen durch die materielle Erfahrung und im säkularisierten Medium der Kunst. In den Entwürfen zu seinem unvollendeten Buch über Beethoven trifft er beispielsweise eine faszinierende Bemerkung zu dessen Klaviersonate Nr. 26 in Es-Dur op. 81a, deren Beiname »Les Adieux« aus ihrem musikalischen »Lebewohl« an Beethovens Freund, den Erzherzog Rudolf, hervorgeht, dessen Flucht aus Wien in den drei Sätzen der Sonate thematisiert wird. Darin bringt der Komponist seinen Wunsch nach dessen baldiger Rückkehr zum Ausdruck. Adorno schreibt zu dieser Sonate, dass »das Getrappel sich entfernender Pferde mehr von der Hoffnung verbürgt als die vier Evangelien« (ebd., fr. 362, S. 250). Eine ähnliche Anmerkung zum Thema der Hoffnung und Beethovens »Les Adieux« findet sich in GS 7, S. 531.

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Es wäre ein Irrtum, zu glauben, dass irgendein musikalisches Werk uns ein uneingeschränktes Hoffnungsversprechen geben könnte. Seit Hesiod die ambivalente Geschichte von der Hoffnung (ἐλπίς) als dem letzten Übel erzählt hat, das nicht aus der Büchse der Pandora entkommen durfte, ist sie ein von Widersprüchen durchsetztes Konzept geblieben: 41 Entweder ist sie etwas, das der Menschheit erhalten bleibt, um ihren Glauben an die Zukunft zu stützen, oder sie ist eine Gefahr, die der Menschheit zu ihrem eigenen Schutz vorenthalten wird. In der Cavatina wird nun genau diese Ungewissheit thematisch. In Takt 42, wo die Tonalität abrupt in eine sehr entfernte Tonart wechselt, fügt Beethoven die Vortragsanweisung »beklemmt« ein: 42 Für ein paar kurze Augenblicke reduziert sich dort die Begleitung auf einen einfachen Pulsschlag, während die erste Geige, die vormals die Hauptmelodie des Satzes trug, offenbar nicht mehr zu singen vermag; sie ist auf eine Reihe von zaghaften, zögerlichen Gesten reduziert, die ihren rhythmischen Halt verloren zu haben scheinen. In den Skizzen zu seinem Beethoven-Buch kommentiert Adorno diesen Moment der Unterdrückung in der Cavatina, indem er ihn als »Schatten« beschreibt, oder als den Klang einer Stimme, die »kaum sich zu regen« wagt und »Atem an[hält]«. 43 Nur wenige andere Momente in Beethovens Musik illustrieren jene Ästhetik der Ungewissheit besser, die er als Vorbild für die menschliche Erfahrung propagiert. Die Stimme der Geige ist die Stimme des Menschen, der weiß, dass er weitermachen muss, aber keine Gewissheit über das Endresultat hat. Wenn er überhaupt noch hof41 Willem J. Verdenius, »A ›Hopeless‹ Line in Hesiod.Works and Days 96«, in: Mnemosyne 24:3 (1971), S. 225-231. 42 Eine vorzügliche Untersuchung der Cavatina findet sich in Lewis Lockwood, »On the Cavatina of Beethoven’s String Quartet in B-flat Major, Opus 130«, in: ders., Beethoven. Studies in the Creative Process, Cambridge (Mass.) 2014 (1992), Kap. 10, S. 209-217. 43 NGS, Abt. I, Bd. 1, fr. 172, S. 110f.

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fen kann, dann nur in Form der »beklommenen« Aspiration eines Subjekts, das sich unterdrückt oder im Schatten übermächtiger gesellschaftlicher Mächte gefangen fühlt und erkennt, dass die Aussichten auf Glück immer unwahrscheinlicher geworden sind. 44 Es ist der Klang eines durch sein Verbot entstellten Glücks. Bevor wir die musikalische Welt Beethovens verlassen und uns dem dritten Beispiel zuwenden, möchte ich den Punkt hervorheben, dass Adorno den Begriff »Spätstil« nicht exklusiv den letzten Kompositionen Beethovens vorbehalten hat. Seine typischen Merkmale wurden von ihm vielmehr in den Rang von Kriterien erhoben, die über die historischen Unterschiede hinweg allgemeine Geltung haben sollen. Dies mag uns insofern paradox erscheinen, als wir Adorno gemeinhin nicht nur in seiner Sozialphilosophie, sondern auch in seiner Ästhetik als Historisten betrachten. Wenn für Hegel »die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt« ist, dann sind wir natürlich versucht, zu sagen, dass auch für Adorno ein großes Kunstwerk »seine Zeit« sein müsste, wie sie sich in der Besonderheit seines sinnlichen Materials manifestiert. Sehr zu unserer Überraschung lehnt er jedoch dieses historistische Prinzip als Kriterium fürs ästhetische Gelingen ab. Der Spätstil wird bei ihm also nicht zu einem Stil unter vielen, sondern zu einem Stil, der sich dem Stil widersetzt. Denn für Adorno ist das Moment der Hoffnung in einem Kunstwerk dasjenige, das uns einen Blick über die Herrschaft hinauszuwerfen erlaubt. In der Dialektik der Aufklärung heißt es, dass »[d]ie großen Künstler« nie diejenigen gewesen seien, »die Stil am bruchlosesten und vollkommensten verkörperten«. Das habe bereits für den 44 Siehe hierzu Adornos Analyse des »Schattens« als eines von Beethovens »großartigsten Formmitteln« (ebd.). Ich danke Alex Rehding und John Schott für ihre Hilfe bei der Aufklärung von Adornos eigenartiger Analyse des »Schatteneffekts« in Beethovens Musik.

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Abb. 2: Ludwig van Beethoven, Streichquartett Nr. 13 B-Dur op. 130, fünfter Satz, Cavatina. Adagio molto espressivo (Auszug).

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»klassischen« Stil Mozarts gegolten, dessen Werke »objektive Tendenzen« enthalten, »welche es anders wollten als der Stil, den sie inkarnieren«, und sich »[b]is zu Schönberg und Picasso« fortgesetzt, dass »die großen Künstler sich das Mißtrauen gegen den Stil bewahrt« hatten. 45 Wenn ich Adorno hier richtig verstehe, dann will er damit sagen, dass der Begriff des »Stils« per se eine Art Schematismus impliziere, der der Erfahrungsvielfalt nicht nur Verstehbarkeit verleihe, sondern ihr auch Einheitlichkeit und Regelmäßigkeit aufzwinge. Eine solche Regelmäßigkeit würde allerdings die gesellschaftliche Konformität bekräftigen, denn sie würde bedeuten, dass sich innerhalb der Grenzen unserer Erfahrung nichts zeigen könnte, was nicht die ewige Wiederholung des Immergleichen affirmiert. Wenn ein Kunstwerk als Ausdruck von Hoffnung dienen soll, dann muss es demnach die Grenzen dieser mythischen Wiederholung überschreiten und sich den Regeln entziehen, die sowohl in den Werken als auch in der Gesellschaft verankert sind. Deshalb kann der Spätstil für Adorno auch zu einer allgemeinen Kategorie der ästhetischen Bewertung werden, selbst wenn sich die spezifischen Modalitäten jener ästhetischen Grenzüberschreitung im Laufe der Zeit ändern mögen. Selbst die Werke Richard Wagners, dessen ästhetischen Stil des mythischen Heroismus und der Selbstbehauptung Adorno in seiner Monographie von 1964 ausführlich kritisiert, werden von ihm so interpretiert, dass sie ein dialektisches Moment des Protests gegen ihre eigenen Werte in sich tragen: Nicht Siegfried, sondern Mime wird demnach zum Antihelden von Wagners Ring-Zyklus. Gerade in seiner Schwäche verkörpert er die Kritik an der Herrschaft. Dieser implizite Protest gegen den muskelbepackten Heroismus tritt für ihn speziell in Wagners Spätwerk in den Vordergrund. Besonders im Parsifal erblickt Adorno einen Stil, der in den Orbit der Dekadenz falle und seinen Hauptfiguren nicht als mächtig, 45 GS 3, S. 151.

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sondern als tödlich verwundet darstelle. 46 In der Ästhetischen Theorie (einer Studie, die in der Regel als auf die Hochmoderne fokussiert gilt) ist der historische Untersuchungsrahmen viel weiter gesteckt, als es häufig erkannt wird, und ihr Autor scheut sich auch nicht, dort vom Spätstil als einem Merkmal zu sprechen, das auch viel frühere Künstler wie Michelangelo und Rembrandt geteilt hätten. 47 Diejenigen, die Adorno nur als einen Theoretiker der Moderne lesen wollen, ignorieren häufig, dass »Spätstil« bei ihm nicht nur der Name eines »ominösen Lebensgefühls« ist. Vielmehr besitze er, wie er erklärt, eine »exemplarische Kraft«, die »weit über das individuelle œuvre hinaus[geht]«. 48 Diesen Punkt sollten wir im Hinterkopf behalten, wenn wir nun die Welt Beethovens verlassen und unsere Aufmerksamkeit späteren Beispielen der musikalischen Moderne zuwenden.

Drittes musikalisches Beispiel: Gustav Mahler, 3. Sinfonie in d-Moll Unter allen musikwissenschaftlichen Monographien Adornos ist es vielleicht die Studie über Gustav Mahler aus dem Jahr 1960, die den Spätstil als die einzige für die Moderne geeignete Ästhetik bestätigt. Der Hinweis mag relevant sein, dass zum Zeitpunkt 46 Zu Adornos Äußerungen über Wagner siehe Peter E. Gordon, »Wounded Modernism. Adorno on Wagner«, in: New German Critique 129:3 (2016) (= Sonderausgabe zu Adorno und Musik), S. 155-173. 47 GS 7, S. 168. 48 Ebd. Zu einer anderen Ansicht siehe James Gordon Finlaysons Erwiderung auf meine Thesen zur transhistorischen Geltung des Spätstils, in: James Gordon Finlayson, »The Artwork and the Promesse du Bonheur in Adorno«, in: European Journal of Philosophy 23:3 (2012), S. 392-419; siehe dazu auch oben, »Einleitung« und dort bes. der Abschnitt »Ästhetik und der normative Überschuss«, S. 98-101.

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der Erstveröffentlichung dieser Schrift die unvollendete 10. Sinfonie ihre Uraufführung in der bekannten Fassung von Deryck Cooke noch nicht erlebt hatte (diese fand erst 1964 in London statt). Im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Mahler-Schrift von 1963 glaubt Adorno, sich dafür erklären zu müssen, warum er dieses Werk darin vollkommen außen vor gelassen hatte, obwohl er sie ausdrücklich für ein maßgebliches Beispiel von Mahlers »Spätstil« hielt. Seine Rechtfertigung lautete dabei wie folgt: Es sei zwar üblich, die Werke des Komponisten in drei Perioden zu unterteilen, aber es wäre auch nicht unplausibel, den Begriff eher lose auf alle reiferen Werke anzuwenden, zumindest auf die Zeit im Anschluss an die sogenannte erste Periode, die im Jahr 1901 mit Des Knaben Wunderhorn endete. Ganz ähnlich wie die Musik des späteren Beethoven hätten auch die Kompositionen des späteren Mahler den Willen zur Vollendung aufgegeben; ihr »Erfahrungskern« sei »Gebrochenheit«. 49 Ironischerweise sollte dann ausgerechnet diese ausgesparte 10. Sinfonie als die überragende Veranschaulichung von Adornos These fungieren. Das Mahler-Buch trägt einen verblüffenden Untertitel: Eine musikalische Physiognomik. Seine Absicht ist es jedoch nicht, nach innen, sondern nach außen fortzuschreiten. Denn Adorno will nicht von der äußeren Form der Werke auf die innere Psychologie des Komponisten schließen. Vielmehr ist es sein Ansinnen, in der spezifischen Form von Mahlers Musik die allgemeinen Konturen der modernen Gesellschaft zu entdecken. Sein Buch ist eine Physiognomie der Moderne mit den Mitteln ihrer Musik. Darin setzt sein Autor sein ganzes literarisches Können für eine musikalische Beschreibung ein, die zugleich auch mehr als musikalisch ist; tatsächlich ist sie nicht weniger als ein Porträt seiner eigenen kritischen Methode. Nicht anders als Adorno selbst ist der Außenseiter Mahler nämlich in der Lage, in seiner zerrütteten Umgebung klei49 Mahler. Eine musikalische Physiognomik, GS 13, S. 149-319, hier S. 182.

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ne Fragmente gefährdeter Schönheit auszumachen. »Frei wie nur einer, der selber von Kultur nicht ganz verschluckt ist, greift er auf musikalisch obdachlosem Zug nach dem zerbrochenen Glas auf der Landstraße und hält es gegen die Sonne, daß alle Farben darin sich brechen«, wie Adorno schreibt. 50 In dieser bemerkenswerten Passage wird Mahlers Kompositionsmethode mithin ein Analogon zu seiner Art der Gesellschaftskritik: Die winzigsten Fragmente der Nichtidentität werden zusammengetragen, um nicht nur die Finsternis, sondern auch kleine Lichtblicke zu offenbaren. Für Adorno liegt das, was in Mahlers Musik Erfüllung anzeigt, nicht in seinen seltenen Gesten des totalen Abschlusses (wie im grandiosen Chorfinale der 2. Symphonie mit seinem buchstäblichen Versprechen auf »Auferstehung«), sondern in der für ihn typischen Betonung von Ausgrenzung und Fragmentierung. Indem sich die Musik mit den an den Rand der Gesellschaft Gedrängten verbünde, proklamiere sie einen Protest gegen Herrschaft und Ausgrenzung. 51 Thematische Materialien wie Ländler oder Volksweisen und sogar Elemente des osteuropäischen jüdischen Klezmers würden dabei als jener »schäbige Rückstand« zusammengetragen, der »die Triumphierenden an[klagt]«. 52 Allerdings interpretiert Adorno diese Ästhetik nicht als eine bloß negative; wenn der Komponist sich dem Fragment zuwende, dann deshalb, weil er in ihm eine Hoffnung erblicke, die stärker sei als das Ganze, von dem es ausgeschlossen wurde. »Im erniedrigten und beleidigten Musikstoff schürft er nach unerlaubtem Glück«, wie es bei ihm heißt. 53 Vielleicht nirgendwo sonst in Mahlers Musik kommt das unerfüllte Versprechen auf Glück deutlicher zum Ausdruck als in der 50 51 52 53

Ebd., S. 185. Ebd., S. 166. Ebd. Ebd., S. 184 (meine Hervorhebung, P. G.).

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3. Sinfonie. Mit Blick auf diese interessiert sich Adorno speziell für jene Passage aus dem Trio im Scherzo (dem dritten Satz), in der das Posthorn seinen »skandalös gewagte[n]« Auftritt hat und dann zum zweiten Mal von den Geigen begleitet wird. Mahlers Partitur gibt ihnen hier die Anweisung »wie nachhorchend«, was nach Adorno darauf hindeutet, dass sie dem Leiden des Posthorns nicht den Rücken kehren werden, selbst wenn das Solo Anflüge von Kitsch zeigt. 54 In ihre Musik werde »[s]o […] noch das Brüchige eingebaut, ohne daß das Ganze zerbräche«. Die Geigen gehen damit also über die bloße Negation hinaus; sie »bejahen […] die Möglichkeit, das Versprechen, ohne das keine Sekunde sich atmen ließe«. 55 Diese Interpretation macht die Homologie zwischen musikalischer und sozialer Form deutlich: Die Geigen drücken die Beharrlichkeit des menschlichen Atems und die Forderung nach Emanzipation aus, doch was sie versprechen, ist nicht sicherer als der »beklommene« Atem der Geige in Beethovens Cavatina. Von dieser 3. Sinfonie Mahlers ist Adorno besonders deshalb so fasziniert, weil er sie als den Verwahrort einer bedrängten Natur hört. Es ist bekannt, dass der Komponist jedem seiner Sätze unzweideutige programmatische Titel gegeben hat. So trägt der zweite Satz den Namen »Was die Blumen auf der Wiese mir sagen«, und der dritte heißt »Was mir die Tiere im Walde erzählen«. 56 Die prominente Rolle dieser kreatürlichen Symbolik zeugt sowohl von der Sehnsucht nach einer Rückkehr zur Natur als auch von der melancholischen Einsicht, dass uns der Weg zurück ins Paradies versperrt ist. »An den Tieren wird Menschheit ihrer 54 Ebd., S. 185f. Die Vortragsbezeichnungen sind nicht – oder zumindest nicht wörtlich – in den deutschen Text, wohl aber in die von Jephcott besorgte englische Übersetzung des Buchs eingegangen (dort in deutscher Sprache). 55 Ebd., S. 186. 56 Gustav Mahler, Briefe 1879-1911, hg. von Alma Mahler-Werfel, Wien 1925, Nachdruck Hildesheim, New York 1978, S. 198.

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Abb. 3: Gustav Mahler, 3. Sinfonie in d-Moll, dritter Satz, Commodo. Scherzando (Auszug). 374

selbst als befangener Natur inne«, wie Adorno dazu schreibt. 57 Immer wieder bringt Mahler die Sehnsucht nach einem Aufbrechen des geschlossenen Weltlaufs zum Ausdruck, auch wenn er einsieht, dass dieser vereitelt worden ist. Aber auch hier sollten wir die Wirkung nicht als nur negative interpretieren; in der Ästhetischen Theorie teilt uns Adorno nämlich mit, dass das Kunstwerk, obwohl es rein θέσει (oder ganz menschliches Artefakt) ist, dennoch der Repräsentant von φύσει (oder Natur) sei. Es stehe für das, was nicht nur für das Subjekt ist, oder – mit Kant gesprochen – für das, was das Ding an sich wäre. 58 In seinem MahlerBuch nimmt Adorno nun genau diese Schlussfolgerung bereits vorweg: Die Kultur entziehe sich der Natur und wolle zugleich dasjenige retten, was in ihr zum Schweigen gebracht worden sei. Mahlers Musik werde dadurch mimetisch – sie wolle sich »wie Tiere« benehmen und schenke »den Sprachlosen […] den Laut durch tönende Imitation ihres Gehabes«. »Wie in Kafkas Fabeln ist ihm Tierheit die Menschheit so, wie sie von einem Standpunkt der Erlösung aus erschiene«, so Adorno weiter. 59 Indem sie sich mit der von der Zivilisation verdrängten Natur verbündet, trägt Mahlers Musik für ihn dazu bei, dass wir unser eigenes, geschwächtes mimetisches Vermögen erhalten, und damit wiederum dazu, unsere Responsivität für das menschliche Leid zu bewahren. »Das Kunstwerk, gekettet an Kultur, möchte die Kette zerreißen, Barmherzigkeit üben am schäbigen Rest«, wie Adorno schreibt. 60 Mahler, selbst ein Ausgestoßener, halte in seiner Musik den Schmerz all jener fest, die ausgestoßen sind – »die verlorene Feldwacht« und »die aus der Reihe Gefallenen«. Und selbst »die ganz Unfreien« bleiben Adorno zufolge hier nicht bloße 57 58 59 60

GS 13, S. 157. GS 7, S. 99. GS 13, S. 156f.

Ebd., S. 187.

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Chiffren ihres eigenen Unglücks, sondern »verkörpern für Mahler die Freiheit«. 61 Diese Erwägungen untermauern die These noch weiter, dass der Philosoph die Musik des Komponisten nicht nur als ein Klagelied, sondern auch als Ausdruck von Hoffnung hört. Ganz wie Beethoven in der Cavatina aus seinem Opus 130 schreibe Mahler diese Hoffnung nämlich in negativer Form als »Brüche« in seine Musik ein, die vom menschlichen Leid zeugen – auch wenn er sich weigere, sich der totalen Verzweiflung hinzugeben. Und diese Brüche in der Musik seien wie lesbare Zeichen, die über die bestehende Welt hinausweisen und ihren Wandel antizipieren; sie sind, mit Adorno selbst gesprochen, »die Schrift von Wahrheit«. 62 Nur drei Jahre nach Erscheinen der zweiten Auflage seines Mahler-Buchs 1963 veröffentlichte Adorno seine Negative Dialektik. Und obwohl diese beiden Werke ihrer Form nach kaum unterschiedlicher sein könnten, sind ihre vielfältigen thematischen Affinitäten doch so ausgeprägt, dass man fast sagen möchte, Mahlers Musik sei für Adorno zu einer ästhetischen Vorlage seiner Philosophie geworden. Zentrale Einsichten aus dem früheren Buch tauchen bei ihm nämlich fast wortgleich in dem später erschienenen wieder auf. Dabei sind die Ausführungen zum Glück, einem Thema, dem Adorno als dem Maßstab fürs menschliche Gedeihen höchste Bedeutung beimisst, natürlich besonders relevant. So lesen wir in der Schrift über den Komponisten etwa, dass »die Musik des reifen Mahler […] Glück nur noch als widerrufliches« kenne, 63 und begegnen exakt der gleichen Lehre auch in der Negativen Dialektik wieder: »[A]lles Glück« sei, wie es dort heißt, »durch seine Widerruflichkeit entstellt […].« 64 Oder ein 61 62 63 64

Ebd., S. 309. Ebd. Ebd., S. 200. GS 6, S. 396.

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weiteres Beispiel: Im Scherzo der 3. Sinfonie hört Adorno in den Geigen ein »Versprechen« darauf, dass das verworfene Fragment endlich seine Anerkennung finden werde, und ebendieses musikalische Versprechen wird im späteren Buch als das charakteristische Prinzip von seiner eigener Philosophie rekapituliert: So hinfällig in ihm alle Spuren des Anderen sind; so sehr alles Glück durch seine Widerruflichkeit entstellt ist, das Seiende wird doch in den Brüchen, welche die Identität Lügen strafen, durchsetzt von den stets wieder gebrochenen Versprechungen jenes Anderen. Jegliches Glück ist Fragment des ganzen Glücks, das den Menschen sich versagt und das sie sich versagen. 65

Viertes musikalisches Beispiel: Alban Berg, Kammerkonzert für Klavier und Geige mit Dreizehn Bläsern Adorno merkte in seinem Mahler-Buch auch an, dass das »schmerzlich[e] Moment«, das besonders in den späteren Werken des Komponisten so ausgeprägt sei, die Avantgarde bereits antizipiert habe. Mahlers »tonale, überwiegend konsonierende Musik« weise nämlich schon auf »das Klima der absoluten Dissonanz, die Schwärze der neuen« hin. 66 Er war allerdings nicht der Einzige, der jene starke Inspiration erkannte, die vom Spätwerk Mahlers aus auf die »emanzipierten« Dissonanzen einwirkte, welche die Werke der sogenannten Zweiten Wiener Schule prägten. In der Musikgeschichte ist diese Affinität allgemein bekannt. 67 Mahler selbst hat zwar nie den entscheidenden Sprung in die Atonalität 65 Ebd. 66 GS 13, S. 200. 67 Siehe etwa Arnold Schönberg, »Mahler«, in: ders., Stil und Gedanke, Leipzig 1989, S. 56-83.

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gewagt, aber dennoch große Bewunderung für den jüngeren Arnold Schönberg geäußert, trotz der großen Unterschiede in ihrem musikalischen und persönlichen Temperament. Er war sogar Schönbergs Kompositionsmentor und wurde umgekehrt von diesem als »Heiliger« verehrt. 68 Adornos Wertschätzung für die Leistungen Schönbergs und seines Kreises ist ausführlich dokumentiert und muss an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. 69 Vor allem nach seinen musikalischen Lehrjahren bei Alban Berg wurde er zu einer Art Impresario des gesamten Kreises und präsentierte sich in seiner Philosophie der neuen Musik von 1949 als Verfechter der Schönberg’schen Ästhetik, die er dort wohlwollend (wenn auch etwas zu polemisch) der »Archaik« und »Regression« von Strawinskys musikalischen Werken gegenüberstellte. 70 Allerdings hegte er auch 68 Arnold Schönberg, »Gustav Mahler«, in: Gotthart Wunberg (Hg.), Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Stuttgart 1981, S. 596f., hier S. 596. 69 Ein hilfreicher Überblick dazu findet sich in Sherry D. Lee, »Adorno and the Second Viennese School«, in: Peter E. Gordon u. a. (Hg.), A Companion to Adorno, Hoboken 2020, S. 67-84. 70 Es ist allgemein bekannt, dass Schönberg selbst solche Kritik nicht schätzte und sogar einem Bekannten in einem Brief anvertraute, er sehe trotz seiner persönlichen Abneigung gegen Strawinskys Musik kaum eine sachliche Grundlage für Adornos philosophische Polemiken. Ich möchte mich hier nicht mit der Diskussion über die Frage befassen, ob Adornos spezifische Anmerkungen zum Wettstreit zwischen Schönberg und Strawinsky verdienstvoll sind oder nicht. Fest steht jedenfalls, dass der polemische Charakter von Adornos Buch – trotz seiner erklärten Bewunderung für Schönbergs Frühwerk – dem Komponisten selbst nicht zusagte. Kurz nach dessen Veröffentlichung schrieb dieser nämlich an den Musikkritiker Hans Stuckenschmidt und teilte ihm sein Missfallen mit: »Die neue Musik hat also eine Philosophie – es würde genügen, wenn sie einen Philosophen hätte. Er [Adorno; Anm. d. Ü.] attackiert mich darin ganz vehement. Wieder ein Abtrünniger. […] ekelhaft, nebenbei, wie er Strawinsky behandelt. Ich bin gewiß kein Strawinsky-Anhänger, obwohl mir hier und da ein Stück von ihm

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ernsthafte Vorbehalte gegenüber der seiner Meinung nach »mechanischen« Anwendung der Zwölftontechnik in Schönbergs späterem Werk, da er befürchtete, dass sie mit ihren vielfältigen Vorschriften zu einer unreflektierten Methode werden könnte, »die sie objektiv zum Bild der repressiven Gesellschaft« verhärte. 71 Und er mahnte, dass Schönbergs Erbe nur dann Bestand haben könne, wenn seine Technik künftig als Unterstützung für das »freie Komponieren« fungieren würde. 72 Die sowohl ästhetischen als auch philosophischen Inspirationslinien, die Adorno mit der Zweiten Wiener Schule verbinden, sind so zahlreich, dass es irreführend wäre, hier ein einzelnes Werk für eine ausführliche Analyse zu isolieren. 73 Bergs 1925 vollendetes Kammerkonzert für Klavier und Geige mit Dreizehn Bläsern ist ein kraftvolles Beispiel, nicht zuletzt deshalb, weil der Komponist im ersten Satz ein Thema einführt, das eine Hommage an seine beiden Kollegen darstellt, indem er ihre Namen in deutscher Notation ausschreibt: Schönberg, Webern, Berg. Zu den dramatischeren Momenten gehört die erste Variation, die vom Soloklavier gespielt wird. Statt also meine Aufmerksamkeit hier auf eine einzige Kompoganz gut gefällt – aber so muß man nicht schreiben« (Arnold Schönberg an Hans Heinz Stuckenschmidt, 5. Dezember 1949, zit. nach Heinz-Klaus Metzger, »Adorno und die Geschichte der musikalischen Avantgarde«, in: Otto Kolleritsch [Hg.], Adorno und die Musik, Graz 1979, S. 9-14, hier S. 9). 71 GS 12, S. 109. 72 Ebd., S. 110. Zu Adornos Ansichten über Schönberg siehe etwa Robert Hullot-Kentor, »The Philosophy of Dissonance. Adorno and Schoenberg«, in: Tom Huhn, Lambert Zuidervaart (Hg.), The Semblance of Subjectivity. Essays in Adorno’s Aesthetic Theory, Cambridge (Mass.) 1997, S. 309-319. 73 Es könnte allerdings durchaus fruchtbar sein, eine spezifische Komposition aus Schönbergs frühen Jahren hervorzuheben, etwa die Verklärte Nacht oder die Gurre-Lieder, die Adorno in seiner Kranichsteiner Vorlesung von 1955 beide für eine gesonderte Analyse herangezogen hat. Siehe »Der junge Schönberg«, in: NGS, Abt. IV, Bd. 17, S. 9-122.

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Abb. 4: Alban Berg, Kammerkonzert für Klavier und Geige mit Dreizehn Bläsern (Auszug). 380

sition zu verengen, möchte ich für das vierte Beispiel die verschiedenen Themen der vorangegangenen Diskussion zusammenfassen, indem ich einen etwas längeren Text untersuche. Bei den alljährlich stattfindenden Darmstädter Ferienkursen hielt Adorno im Jahr 1957 eine Vorlesung unter dem Titel »Kriterien der neuen Musik«, die die Basis für seinen gleichnamigen Aufsatz bildete, der zwei Jahre später in dem Band Klangfiguren erschienen ist. Dieser Vorlesung maß er eine derart große Bedeutung bei, dass er sie seinen Studierenden in seiner Veranstaltung zur Ästhetik im Jahr 1958/59 ausdrücklich als Paradigma für seine eigene philosophische Methode empfahl. 74 Sie ist deshalb von so besonderer Bedeutung, weil sie ein Korrektiv zu dem oberflächlichen Eindruck bietet, dass »die avancierte Musik […] keine andere Wahrheit [hätte], als daß sie so scheußlich sei wie die Welt, in der sie geschrieben wird«. Aus diesem Eindruck könnten ihre Gegner nämlich leicht den Schluss ziehen, dass es die neue Musik überhaupt nicht brauche, da sie die Welt mit all ihren vielfältigen Schrecken ja bloß verdopple. 75 In jener Darmstädter Vorlesung unternimmt Adorno nun einen Versuch, die neue Musik gegen dieses Verdikt zu verteidigen. Den Anfang macht er damit, dass er seiner Zuhörerschaft die traditionellen Kriterien des ästhetischen Urteils wieder ins Gedächtnis ruft, wie sie von Kant in der Kritik der Urteilskraft kanonisiert wurden. Dort hatte dieser in seinen bekannten Ausführungen über das Dynamisch-Erhabene jene Empfindungen beschrieben, die ihm zufolge in uns entstehen, wenn wir mit überwältigenden Naturereignissen konfrontiert sind. Zu diesen Ereignissen zählte er unter anderem: »›Kühne, überhangende, gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen 74 NGS, Abt. IV, Bd. 3, S. 17. 75 »Kriterien der neuen Musik«, GS 16, S. 170-228, hier S. 226. Ich zitiere den Vortrag im Folgenden nach dem Abdruck in den GS.

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und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlose Ozean in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u. dgl. […].‹« 76 Solche Erfahrungen hinterlassen nach Kant in uns den Eindruck, dass unsere eigenen Widerstandskräfte den Naturgewalten vielleicht nicht gewachsen sind. Und er schließt daran noch eine wichtige Einschränkung an. Seiner Auffassung zufolge finden wir den Anblick der Erhabenheit der Natur nämlich nur so lange anziehend, wie wir ihn aus einer Position relativer Sicherheit heraus genießen können. Oder wie Kant selbst es ausdrückt: »[W]ir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen und ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns entdecken lassen, welches uns Mut macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können […].« 77 In unserer Konfrontation mit der Unwiderstehlichkeit der Naturgewalt erkennen wir demzufolge also nicht nur unsere physische Ohnmacht, sondern auch unser »Vermögen, uns als von ihr unabhängig zu beurteilen«. Die Erfahrung des Erhabenen errege somit in uns die Empfindung unserer grundsätzlichen Überlegenheit über die Wechselfälle unseres materiellen Lebens (in Bezug auf weltliche Güter, unsere Gesundheit und sogar das Leben selbst), von denen wir uns bisher abhängig geglaubt hätten. Für Kant ist die Lehre des Erhabenen daher eine doppelte: Obwohl der Mensch sich (äußerlich) der Herrschaft der Natur unterwerfen müsse, bleibe »die Menschheit in unserer Person« dadurch »unerniedrigt«. 78 Adorno behauptet nun, dass dieses klassische Verständnis des 76 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, A A V, S. 261; zit. nach ebd., S. 226. 77 Ebd. 78 Ebd., S. 261f.

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Erhabenen in der Spätmoderne einer ernsthaften Revision unterzogen werden müsse. 79 Für Kant war es noch plausibel, zu glauben, dass wir in der erhabenen Erfahrung eine Absicherung des menschlichen Geistes entdecken konnten. Adorno lehnt diese Unterstellung hingegen ab. Denn nachdem unsere Erfahrung des Erhabenen aus der Sphäre der Natur in die der Gesellschaft übergegangen ist, haben wir es ihm zufolge heute mit dem Faktum einer sozialen Welt zu tun, die sich zu einer zweiten Natur verhärtet hat. 80 Der natürliche Schrecken des Erdbebens von Lissabon wurde für Adorno durch den rein menschlichen Schrecken von Auschwitz sowohl erreicht als auch weit übertroffen. Aber diese Verschiebung des Terrains – von der Natur- zur Gesellschaftskatastrophe – hat in seinen Augen auch unsere Auffassung des Erhabenen verändert. Heute müssten wir uns diesem nämlich ohne jedes Vertrauen in unsere eigene Absicherung stellen, da wir mittlerweile der »Illusion« beraubt seien, »es wäre durch dies Standhalten des Geistes ein Absolutes verbürgt«. 81 Denn die moderne Erfahrung des Schreckens ist nicht länger das Gefühl eines menschlichen Subjekts, das sich seiner Distanz zu dem, was es beobachtet, völlig gewiss sein könnte. Der Schrecken ist vielmehr objektiv geworden. Dieser Wandel hat nun weitreichende Folgen für Adornos Theorie der modernen Kunst. Um zu erklären, warum dem so ist, sollten wir bemerken, dass er selbst hier wieder auf jenes menschliche Vermögen zur Mimesis rekurriert, das er als »reflexhafte Nachahmung« unserer natürlichen Umgebung charakterisiert. Mimesis erlaube es dem menschlichen Geist, eine gewisse Distanz zur Natur zu gewinnen, ohne diese damit unmittelbar in einen Gegen79 Zu Adornos Berufung auf die Kategorie des Erhabenen siehe Wolfgang Welsch, »Adornos Ästhetik. Eine implizite Ästhetik des Erhabenen«, in: Christine Pries (Hg.), Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989, S. 185-216. 80 GS 16, S. 226. 81 Ebd., S. 227.

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stand der Beherrschung zu verwandeln. Diese Distanzierung kann demzufolge auch nur eine partielle sein, da der menschliche Geist seinen Rückzug aus der Natur nicht komplett vollziehen kann, ohne sich damit zugleich von seinem eigenen natürlichen Dasein zu verabschieden. Aber sie ist dennoch notwendig, insofern »Geist« etwas bezeichnet, »was anders ist als das Seiende«. 82 Die Mimesis ist daher, wie wir sagen könnten, die früheste Manifestation unserer besonderen Fähigkeit als menschliche Wesen, eine Einstellung zweiter Ordnung, das heißt eine reflexive Einstellung den gegebenen sinnlichen Bedingungen gegenüber einzunehmen. Sie ist also nichts anderes als unsere eigene kritische Vernunft, aber eben innerhalb der Natur; eine Art von Rationalität, die wir schon praktiziert haben, bevor allmählich die Verdinglichung begann und die Vernunft dazu angesetzt hat, einen totalen Bruch mit der Natur zu vollziehen. Mimesis ist, mit anderen Worten, das Vermögen der Natur, eine gewisse reflexive Distanz zu sich selbst einzunehmen. 83 In der Moderne verschwindet dieses Vermögen jedoch. Die Kunst aber bildet einen Rückzugsort für die Mimesis, und in der neuen Musik ist sie daher noch zu vernehmen: Am Ende des bürgerlichen Zeitalters erinnert sich der Geist an vorweltliche Mimesis, die reflexhafte Nachahmung, die wie immer auch vergebliche Regung, aus der einmal entsprang, was an82 »Am Ende des bürgerlichen Zeitalters erinnert sich der Geist an vorweltliche Mimesis, die reflexhafte Nachahmung, die wie immer auch vergebliche Regung, aus der einmal entsprang, was anders ist als das Seiende: der Geist selber« (ebd.). 83 Es ist vielleicht auch nicht überraschend, dass sich Adornos Auffassung in gewisser Weise Benjamins Definition von Mimesis und der ihres Überdauerns in der Sprache als »unsinnlicher Ähnlichkeit« verdankt. Das mimetische Moment in der Sprache ist, wie ich behaupten würde, dasjenige, welches es der Sprache erlaubt, eine reflektierte kritische Haltung (oder eben eine Haltung zweiter Ordnung) gegenüber der Welt einzunehmen, ohne sich von dieser vollständig loszumachen.

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ders ist als das Seiende: der Geist selber. Vor der Übermacht der Dingwelt versteckt er sich in dem rudimentären Minimum, auf das zu regredieren die Dingwelt ihn nötigt. Dies prekäre Glück indessen ist in der exponierten neuen Musik so gegenwärtig wie die Verzweiflung. 84

Dieser Gedanke wird hier sehr gedrängt wiedergegeben und bedarf deshalb einer genaueren Ausformulierung, die wie folgt aussehen könnte: Da die Welt der Dinge in ihrer schieren Faktizität immer überwältigender geworden ist und unser unkritisches Einverständnis verlangt, hat sich der menschliche Geist zurückgezogen. Er war dazu gezwungen, sich im »rudimentären Minimum« einer ästhetischen Erfahrung zu verstecken, die zumindest noch einige Spuren der mimetischen Fähigkeit aufbewahrt, die anderswo marginalisiert oder verdrängt wird. Nun ist es vielleicht vor allem die Kunst, die diese Erinnerung an die unterdrückte Mimesis aufrechterhält. Die autonome Kunst ist daher eine Instanziierung unseres eigenen Vermögens zur Reflexion über die Natur. Noch während sie die moderne Trennung zwischen Natur und Geist thematisiert, bezeugt sie deren fortwährende Verbundenheit. Und genau diese Dialektik – die gleichzeitige Trennung und Verbindung von Natur und Geist – macht die moderne Musik zu einer Instanz dessen, was Adorno ein prekäres Glück nennt. In den letzten Zeilen von »Kriterien der neuen Musik« gemahnt er seine Leserinnen und Leser daran, dass selbst die dissonantesten Akkorde nicht nur Schmerz, sondern auch Lust ausdrücken können. »Die vieltönigen Klänge tun nicht nur weh, sondern waren in ihrer schneidenden Gebrochenheit immer zugleich auch schön«, wie er dort schreibt. 85 Außerdem erinnert er sich, wie Alban Berg einst die Sehnsucht geäußert habe, »einmal einen Ak84 Ebd. (meine Hervorhebung, P. G.). 85 Ebd. (meine Hervorhebung, P. G.).

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kord aus acht verschiedenen Tönen von acht Blechbläsern fortissimo zu hören«. 86 Eine solche Sehnsucht bezeuge aber genau jenen mimetischen Impuls, der nicht nur in der Musik, sondern auch in seltenen Momenten der Alltagserfahrung und besonders in der Glückseligkeit der Kindheit überdauere. So gehört das, »[w]as ein Kind empfindet, das im Neuschnee seine Fußspur hinterläßt«, nach Adorno »zu den mächtigsten ästhetischen Triebkräften«, 87 und derartige somatische Erfahrungen ähneln ihm zufolge in gewisser Weise auch unseren Erfahrungen mit der musikalischen Avantgarde. Der Komponist der neuen Musik lässt diese jedoch nicht zu einem reinen Seismographen des sozialen Schreckens werden, da die Kritik unserer gegenwärtigen Verhältnisse auch ein gewisses Gespür für die Schönheit behalten muss, die jenseits von ihnen liegt. »Die Schwelle, die den avancierten Künstler von dem Muff des Heilen scheidet, ist heute […], daß er dieser Schönheit ohne Reservat sich überantwortet«, wie Adorno schreibt. 88 Auch die neue Musik ist also mehr als nur ein Spiegel der gesellschaftlichen Katastrophe; sie zeugt auch von einem normativen Versprechen auf allgemeines Glück, dessen vollständige Erfüllung jenseits unseres gegenwärtigen Leids liegt.

Une promesse du bonheur In diesem Kapitel habe ich untersucht, auf welche Weisen Adorno die ästhetische Erfahrung als Ressource für den philosophischen Erkenntnisgewinn betrachtet hat. Dass er der Frage der Ästhetik große Bedeutung beimaß, ist dabei vollkommen offensichtlich und wird allein schon durch einen kurzen Blick auf seinen Lehr86 Ebd. 87 Ebd. 88 Ebd. (meine Hervorhebung, P. G.).

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plan bestätigt. In seinen letzten beiden Lebensjahrzehnten von 1950 bis 1968, in denen er als Professor für Philosophie in Frankfurt tätig war, bot er nämlich nicht weniger als sechsmal eine thematisch einschlägige Vorlesung an. Selbstverständlich wäre es nun falsch, daraus zu schließen, dass er sich zur Ästhetik nur als philosophischer Erkenntnisquelle hingezogen gefühlt oder sich primär für die theoretischen Lektionen interessiert habe, die aus der Begegnung mit autonomer Kunst gezogen werden können. Denn ein solches Verständnis von Kunst würde diese auf eine Art Rohstoff für menschliche Zwecke reduzieren, ganz so, wie Kohle zum Zweck der Energieerzeugung abgebaut wird. In seinen Interpretationen der Dichtung Hölderlins und von Becketts Endspiel lässt Adorno deshalb auch eine große Feindseligkeit gegen jene (mit Heidegger und anderen assoziierte) Interpretationsstrategie erkennen, Kunst als bloßen Speicher philosophischer »Bedeutung« zu verstehen, die daher auch aus ihrem ästhetischen Kontext herausgelöst und für nichtästhetische Zwecke eingespannt werden könnte. 89 Trotzdem war er der festen Überzeugung, dass die autonome Kunst, wenn sie in der modernen Erfahrung weiterhin eine Rolle spielen solle, dies vor allem deshalb tun werde, weil sie ein Versprechen des Glücks oder des menschlichen Gedeihens in sich berge, das überall sonst vom Aussterben bedroht sei. In seiner Vorlesung zur Ästhetik aus dem Jahr 1958/59 ging er auf diese Frage ungewöhnlich freimütig ein; »Kunstwerke«, so lesen wir dort, »sind keine göttlichen Manifestationen, sondern Menschenwerk und haben insofern allerdings ebenso ihre Grenze wie auch ihre Beziehung auf Menschliches.« 90 Wenn wir der ästhetischen Erfahrung Bedeutung zuschreiben könnten, dann nach Adorno zufolge in erster Linie aufgrund des »Glück[s], das von den Kunstwerken aus-

89 »Versuch, das Endspiel zu verstehen«, in: GS 11, S. 281-324. 90 NGS, Abt. IV, Bd. 3, S. 192.

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geht«. Dieses stellt für ihn nämlich ein unverzichtbares Element in der ästhetischen Erfahrung dar, ohne das die Kunst keinen relevanten Platz in unserem Leben einnehmen könnte; denn »wenn es gar keine Beziehung zum Glück in der Tat mehr in sich enthält, warum soll ich dann schließlich gehalten sein, mit den Kunstwerken mich abzugeben?«. 91 Die These, dass die Kunst ein »promesse du bonheur« oder »Versprechen des Glücks« für uns bereithalte, taucht in Adornos Philosophie immer wieder auf, wenngleich das ursprüngliche Diktum, so wie es von Stendhal formuliert wurde (»La beauté n’est que la promesse du bonheur«), ein wenig davon abweicht; der Schriftsteller spricht hier von der Schönheit und nicht von der Kunst. 92 Variationen dieses Themas finden sich bei Adorno jedenfalls schon in dem 1938 erschienenen Aufsatz »Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens«, wo es heißt, dass »die promesse du bonheur, als welche man einmal Kunst definiert hat, […] nirgends mehr zu finden [ist], als wo dem falschen Glück die Maske heruntergerissen wird«. 93 Einige Zeit später taucht diese Wendung auch in der Minima Moralia auf, wobei sie sowohl in der Negativen Dialektik als auch in der Ästhetischen Theorie noch mehr an Bedeutung gewinnt, weil Adorno Stendhals Satz dort fast so behandelt, als wäre er eine ver-

91 Ebd. (meine Hervorhebung, P. G.). 92 Baudelaire greift diesen Satz auf und schreibt: »Stendhal, ein unverschämter, streitsüchtiger, ja abstoßender Geist, dessen Unverschämtheiten jedoch zu nützlichem Nachdenken anregen, [ist] der Wahrheit näher gekommen als viele andere, wenn er sagt, daß das Schöne nur die Verheißung des Glücks sei« (Charles Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 5, München, Wien 1989, S. 216). Eine exzellente Analyse dieser Wendung und ihrer Abwandlungen bei Stendhal und Baudelaire ist enthalten in Finlayson, »The Artwork and the Promesse du Bonheur in Adorno«. 93 GS 14, S. 14-50, hier S. 19.

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bindliche Definition. Gerade in dieser letzten Version konkretisiert er diese Aussage aber sogleich durch eine charakteristische Geste der Negation – »Kunst ist das Versprechen des Glücks, das gebrochen wird«, wie es dort heißt – 94 und spitzt diese Konkretisierung in den »Paralipomena« zur Ästhetischen Theorie noch weiter zu, indem er sie um den eher paradox wirkenden Gedanken ergänzt, dass die Kunst ihr Versprechen gerade deshalb brechen müsse, um ihm treu zu bleiben: Stendhals Diktum von der promesse du bonheur sagt, daß Kunst dem Dasein dankt, indem sie akzentuiert, was darin auf die Utopie vordeutet. Das aber wird stets weniger, das Dasein gleicht immer mehr bloß sich selber. Kunst kann darum immer weniger ihm gleichen. Weil alles Glück am Bestehenden und in ihm Ersatz und falsch ist, muß sie das Versprechen brechen, um ihm die Treue zu halten. 95

Es wäre ein Leichtes, die obige Behauptung als eine pauschale Leugnung des Glücksversprechens der Kunst zu deuten. Bei genauerer Lektüre erkennen wir hingegen, dass Adorno hier eigentlich darauf hindeuten will, das verheißungsvolle (oder »utopische«) Moment in der Kunst sei heutzutage zwar gefährdet oder sogar schon im Begriff, zu verschwinden, aber nicht, dass es bereits gänzlich verschwunden wäre. Die Kulturindustrie versuche, uns dadurch zufriedenzustellen, dass sie »das Glücksbedürfnis« verplane und es ausnutze. 96 Hier haben wir es daher wieder mit dem Problem des falschen Auswegs zu tun (worauf ich gleich noch zurückkomme). Weil Adorno das genuin verheißungsvolle Element in der Kunst aber vor dieser Gefahr seiner Sabotage zu Zwecken der ideologischen Absorption bewahren will, beharrt 94 GS 7, S. 205. 95 Ebd., S. 461. 96 Ebd.

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er darauf, dass die Kunst ihren eigenen Status als Schein explizit thematisieren müsse. Dem wahren Glücksversprechen kann die Kunst also nur deshalb treu bleiben, weil sie das Glück, das sie verkündet, nicht fälschlicherweise als mehr als eine Illusion ausgibt – im Gegenteil gelte von ihr: »Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.« 97 In diesem Abschnitt möchte ich den Sinn von Adornos These untersuchen, dass Kunst ein »Versprechen des Glücks« sei. Zu diesem Zweck beziehe ich mich zunächst auf den bereits erwähnten ausgezeichneten Aufsatz von Gordon Finlayson zu diesem Thema. 98 Darin heißt es, dass der Begriff des Versprechens nicht im illokutionären Sinne eines Subjekts verstanden werden solle, das sich auf die Erfüllung einer Verpflichtung festlege; nach Finlayson gebraucht Adorno »Versprechen« hier vielmehr in einem objektiven Sinne, wie wenn man beispielsweise feststellt, dass »Teddie ein guter Komponist zu werden verspricht« oder »das Wetter vielversprechend aussieht«. Und diese Unterscheidung ist von zentraler Bedeutung – nicht zuletzt deshalb, weil sie dazu beiträgt, Adorno gegen den Vorwurf zu verteidigen, dass er die Kunst in unzulässiger Weise anthropomorphisiere, indem er sie in einen Akteur verwandle, der in der Lage sei, Verpflichtungen einzugehen oder zu erfüllen. Sie ist aber auch deshalb hilfreich, weil sie uns erkennen lässt, wie der Gedanke eines Versprechens der Kunst mit Ungewissheit verwoben bleibt. Das heißt, die Behauptung, dass die Kunst uns ein Glücksversprechen gibt, ist primär deshalb von Bedeutung, weil ein Versprechen einen intermediären modalen Status besitzt: Es ist stärker als bloße Sehnsucht, aber schwächer als eine Garantie. Zu sagen, dass etwas ein Versprechen ist, ist nicht gleichbedeutend mit der Behauptung, dass der künftige Zustand, den es bezeichnet, mit Sicherheit eintreten wird; schließ97 GS 4, S. 254. 98 Finlayson, »The Artwork and the Promesse du Bonheur in Adorno«.

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lich gehört es zu seinem Begriff, dass es gebrochen werden kann. Wenn Adorno nun also sagt, die Kunst sei ein Glücksversprechen, dann meint er damit, dass das Glück zwar nur als Antizipation zur Kunsterfahrung gehört, diese Antizipation allerdings mit der zusätzlichen Kraft einer normativen Erwartung ausgestattet ist. Und das bedeutet, dass sie uns etwas darüber mitteilt, was unser Leben noch nicht ist, aber sein sollte, obwohl sie uns keine absolute Garantie dafür gibt, dass unser Leben in der Zukunft tatsächlich so sein wird. Ich glaube, dass Adorno genau das im Sinn hat, wenn er behauptet, dass uns in der neuen Musik eine Erfahrung gegenübertrete, in der sich Glück und Verzweiflung vermischen. Zu behaupten, dass die Musik uns das Versprechen eines prekären Glücks gibt, heißt demnach schlicht, dass wir angesichts des beschädigten Zustands unserer Welt nur hoffen können, in der Musik eine Antizipation von Glück zu entdecken, das ebenso beschädigt ist wie die Welt selbst. Wir haben gesehen, wie Adorno die ästhetische Erfahrung, speziell die musikalische, so zu interpretieren versucht, dass sie uns eine wesentliche Einsicht in unsere Natur als menschliche Wesen bietet. Die allgemeine Lehre, die sich aus den oben diskutierten Fällen ergibt, lässt sich mithin zu der These zusammenfassen, dass unser Glück prekär ist oder, anders ausgedrückt, dass unser Gedeihen keineswegs garantiert ist. An dieser Stelle könnten sich die Leserinnen und Leser allerdings zu dem Einwand veranlasst sehen, dass Adornos ästhetische Theorie viel zu abgeklärt sei, um selbst noch diese eher bescheidene Diagnose eines versprochenen Glücks unwidersprochen lassen zu können. Die generelle Stoßrichtung meiner Argumentation besagt hingegen, dass dieser Einwand nicht triftig ist. Wenn Adorno nämlich kein (mit Finlayson gesprochen) »strenger Negativist« ist, dann deshalb nicht, weil er der Überzeugung ist, dass unsere Kunsterfahrung uns mit etwas weitaus Dialektischerem und Konfliktgeladenerem konfrontiere als einer durchgehenden Negati391

vität. 99 Denn genauso wie er jedes harmonische Bild von der sozialen Wirklichkeit als ideologisch ablehnt, so beharrt er auch darauf, dass ein Kunstwerk eine »Einheit des Mannigfaltigen« sei – oder mit anderen Worten, dass jedes wahre Kunstwerk »in sich selbst antagonistisch und gespalten« sei. 100 Und dies gelte nicht nur für die zeitgenössische Kunst; vielmehr spekuliert Adorno, dass eine solche Spaltung durchaus ein bestimmendes Merkmal des Kunstwerks schlechthin sein könnte. Selbst wo er nur »latent« vorhanden sei, könnten wir diesen inneren Antagonismus also »wahrscheinlich überhaupt […] aller Kunst« zuschreiben. 101 Diejenigen, die die These des strengen Negativismus verteidigen wollen, könnten an dieser Stelle den weiteren Einwand erheben, dass das Thema Glück in Adornos Schriften nur selten nachhaltige philosophische Aufmerksamkeit erfahre. Darauf ließe sich allerdings erwidern, dass schon das kleinste Zugeständnis ans Glück als echter Möglichkeit ausreichend wäre, um zu beweisen, dass die These einer totalisierenden Negativität nicht ganz zutreffend sein kann. Dass sich Adorno nur so selten utopische Spekulationen darüber erlaubt, worin das wahre Glück bestehen könnte, liegt also nicht daran, dass er es für völlig irrelevant hält, sondern an seiner Sorge, dass jeder Versuch, seine Bedeutung genauer herauszuarbeiten, der Falsifikation zum Opfer fallen würde. In seiner Ästhetik-Vorlesung von 1958/59 stellt er in einem unbedachten Moment die kühne und recht untypische Behauptung auf, der Idee des Kunstwerks sei das Versprechen einer »Utopie« oder einer »absolute[n] Erfüllung« inhärent. 102 Zugleich müssten wir uns aber vor dem Gedanken hüten, dass uns diese absolute Erfüllung »als ein schon jetzt und hier Seiendes« vollständig zugäng99 Den Begriff des »strengen Negativismus« habe ich entlehnt aus ebd. 100 NGS, Abt. IV, Bd. 3, S. 224. 101 Ebd. (meine Hervorhebung, P. G.). 102 Ebd., S. 227.

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lich sei. Dieser Illusion der unmittelbaren Gegenwärtigkeit können wir in seinen Augen nämlich leicht erliegen, wenn wir »die Antagonismen und das Leiden zu[schminken], die in Wirklichkeit Schuld daran tragen, daß die Utopie eben nicht erfüllt ist«. 103 Im ersten Kapitel habe ich dies als das Problem des »falschen Auswegs« bezeichnet: Die Kulturindustrie versucht, unsere Sehnsucht nach wahrem Glück mit falschen Versprechungen zu erfüllen, die uns nur noch stärker an die verwaltete Welt binden. 104 Und in dem Maße, in dem sie immer mächtiger wird, steigt auch die Gefahr eines solchen »falschen Auswegs«. Deshalb müssen wir uns den oberflächlichen Befriedigungen eines Glücks widersetzen, das keine weiteren Ansprüche an unsere gesellschaftlichen Verhältnisse stellt. In einer beschädigten Welt muss zwar jede Glückserfahrung, die wir in der Kunst machen, ebenfalls beschädigt und unvollkommen sein. Aber wir sollten daraus nicht den Schluss ziehen, dass wir überhaupt keine solchen Erfahrungen mehr machen könnten. Alle Kunstwerke sind entweder in sich gespalten oder zählen nicht mehr als Kunstwerke. Ein Kunstwerk muss deshalb Negativität enthalten, wenn es als eine wahrhaftige Verkörperung unserer unwahren Welt dienen soll. Daraus folgt dann aber in der Tat, dass das Kunstwerk eine »zugleich kritische und utopische Intention« in sich trägt. 105 Das Negative und das Utopische verbleiben darin in einem Spannungsverhältnis, das nicht aufgelöst werden kann, ohne dass das Werk in Ideologie abkippt. Es ist daher nach Adorno »schlechterdings und stets ein Verletzendes«, und da, »wo es nicht mehr verletzt, sondern wo es ganz und gar in die geschlossene Oberfläche der Erfahrung sich einfügt«, habe es »eigentlich aufgehört […], überhaupt ein lebendiges Kunstwerk zu sein«. 106 103 104 105 106

Ebd., S. 227f. Siehe oben, Kap. 1, Abschnitt »Immanente Transzendenz«, S. 155-166. NGS, Abt. IV, Bd. 3, S. 271. Ebd.

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In Kapitel 5 habe ich argumentiert, dass die Unterscheidung zwischen dem autonomen Kunstwerk und dem Kunstwerk als Ware in einem qualitativen Sinne und nicht als Typologie zweier separierbarer Klassen von Gegenständen aufgefasst werden sollte. Adorno bestätigt diesen Punkt nun mit seiner Behauptung, dass sogar noch dem autonomen Kunstwerk das ideologische Moment nicht gänzlich auszutreiben sei: »Man kann vielleicht sagen, daß der Geist, der aus dem Kunstwerk spricht, wenn er sich wahrhaft objektiviert hat, immer der Geist der Gesellschaft und zugleich der Geist einer Kritik an der Gesellschaft ist«, wie er schreibt. 107 Die Gleichzeitigkeit von Ideologie und deren Kritik ist also ein Charakteristikum aller Kunstwerke, das wir unsererseits als die Gleichzeitigkeit von Glück und Schmerz erleben – wobei wir bedenken sollten, dass diese Momente ohnehin nicht klar zu unterscheiden sind, da Glück auf eine echte Verheißung hindeutet, die nicht auf Ideologie reduzierbar ist. Das Beispiel der Dissonanz in der Musik gibt uns eine hilfreiche Illustration dieses allgemeinen Prinzips an die Hand. In ihr entdecken wir nämlich nicht nur dieses Moment des Ausdrucks der Negativität, dieses Leidens, sondern immer zugleich auch das Glück, der Natur ihre Stimme zu geben, etwas nicht Erfaßtes zu finden, etwas in das Kunstwerk hereinzuziehen, was […] noch nicht domestiziert ist, sondern was gewissermaßen Neuschnee ist und was dadurch an das mahnt, was anders wäre als der immergleiche Betrieb der bürgerlichen Gesellschaft, in der wir alle Gefangene sind. […] Das dissonierende Moment ist Schmerz und Glück in eins […]. 108

Die musikalische Dissonanzerfahrung ist zwar Adornos bevorzugtes Beispiel, aber auch in der Literatur und den bildenden Künsten 107 Ebd., S. 338. 108 Ebd., S. 66f. (meine Hervorhebungen, P. G.).

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lässt sich ihm zufolge genau diese Gleichzeitigkeit von Negativität und Glück ebenfalls feststellen. Zum Ende seiner Ästhetik-Vorlesung von 1958/59 etwa äußert er ähnliche Kommentare über unsere Erfahrung der Farben in den Gemälden Édouard Manets, die »durch die Härte und Schärfe der Kontraste etwas Drohendes, Beängstigendes, Böses ausdrücken und die dann doch wieder als Reizwerte, ganz unmittelbar, ja, als ein Positives, als etwas wie Glück oder wie Rausch erfahren werden […]«. 109 Ob wir nun der Musik Alban Bergs lauschen oder von einem Bild Manets gebannt sind, in beiden Fällen begegnen wir etwas, was Adorno ein »Ineinanderspielen« nennt, und zwar »der Negativität auf der einen Seite und der Erfahrung des Glücks oder der Utopie auf der andern«. 110 Es ist ein wiederkehrendes Thema in Adornos ästhetischer Theorie, dass die unaufgelöste Spannung in der Kunst stets Gefahr läuft, vorschnell gelöst zu werden. Unsere Erfahrung eines Kunstwerks droht stets entweder in den illusorischen Trost der Ideologie oder in die nicht weniger oberflächlichen Vorzüge des Genusses abzukippen. Doch wie er nicht müde wird, uns zu erinnern, wohnt diese Prekarität eben dem Begriff des autonomen Kunstwerks selbst inne. Der Gedanke, dass wir in einer zerrütteten Welt etwas entdecken könnten, das auch nur entfernt etwas mit einer nichtzerrütteten Schönheit zu tun hat, ist einfach unplausibel, da er die Bereitschaft voraussetzt, auf jene einfacheren Freuden zu verzichten, die uns unmittelbar zur Verfügung stehen. »[D]ie Sublimierung, die bezeichnend ist überhaupt für das [sic!] Bereich des Schönen, [ist] eine sehr prekäre«, wie er schreibt. 111 Tatsächlich ist es so, »daß sie nie ganz gelingt« und dass jener Bereich »immer wieder vergehen kann«. 112 109 110 111 112

Ebd., S. 325 (meine Hervorhebung, P. G.). Ebd. Ebd., S. 153. Ebd.

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In der Vorlesung von 1958/59 konfrontiert Adorno seine Hörerschaft immer wieder mit diesem Gedanken. So beharrt er etwa darauf, »daß dieses Etablieren der ästhetischen Sphäre als einer jenseits des Begehrens überhaupt stets prekär ist«, 113 und betont an anderer Stelle: »Sie dürfen also auch etwa eine solche Bestimmung wie die des Ausgegliedertseins des Ästhetischen aus der empirischen Realität nicht als ein Absolutum nehmen, sondern Sie müssen das selber auch nehmen als ein Moment, das in der geschichtlichen Dialektik steht und das prekär ist – ebenso prekär, wie ich Ihnen in einer der vorigen Stunden gesagt habe, daß das sogenannte interesselose Wohlgefallen etwas Prekäres ist […].« 114 Dass er so oft immer wieder auf diesen einen Gedanken zu sprechen kommt, ist dem Umstand geschuldet, dass er das Auftauchen des autonomen Kunstwerks als nur ein Moment im Rahmen der größeren Dialektik der Aufklärung betrachtet: Das Kunstwerk schwebt stets in Gefahr, sein wahres Ziel zu verraten, indem es sich den Imperativen der instrumentellen Vernunft unterwirft. Ästhetische Erfahrung ist nur dann möglich, wenn sie sich aus der Sphäre einer rein zweckgerichteten Rationalität zurückzieht, aber um das tun zu können, muss sie sich von dem Glück der instantanen Befriedigung verabschieden. Ganz so wie Odysseus, der sich selbst an den Mast binden muss, um den Gesang der Sirenen als reinen, zweckfreien Genuss zu erfahren, so exemplifizieren auch unsere kulturellen Ideale ästhetischer Autonomie Glück und Unfreiheit zugleich. 115 Und daraus folgt, dass »gewissermaßen in der Idee des Schönen selber […] immer auch das Potential des Absturzes drin« liegt. 116 Diese Überlegungen werfen noch weiteres Licht auf die Idee, 113 Ebd., S. 55 (meine Hervorhebung, P. G.). 114 Ebd., S. 83. 115 Siehe Rebecca Comay, »Adorno’s Siren Song«, in: New German Critique 81 (2000), S. 21-48. 116 NGS, Abt. IV, Bd. 3, S. 153 (meine Hervorhebung, P. G.).

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dass Kunst ein Versprechen des Glücks ist. Man beachte, dass die These, ein Kunstwerk verspreche Glück, nicht zugleich besagt, dass ein Kunstwerk allein tatsächlich erfüllen kann, was es versprochen hat. Diese Unterscheidung ist für Adornos Auffassung ästhetischer Erfahrung von zentraler Bedeutung, versteht er diese doch als etwas, was nur in solchen gesellschaftlichen Verhältnissen vorkommt, die der Erfahrung generell scharfe Grenzen auferlegen und uns daher daran hindern, so etwas wie reine Befriedigung oder Glückseligkeit zu erleben. Platon dagegen scheint anzunehmen, dass die Erfahrung von Schönheit (wie er sie im Symposion beschreibt) den Geist aus seinen materiellen Zwängen herauslösen kann und uns letztlich einen Blick auf das ewige Schöne selbst erhaschen lässt. Doch Adorno hält an seiner Auffassung fest, dass unsere vergängliche materielle Welt diejenige Sphäre ist, in der wir so etwas wie Schönheit überhaupt erfahren können – ästhetische Erfahrung ist nie kontextfrei, sondern wird von den materiellen Bedingungen beherrscht, unter denen sie stattfindet. Nur wenn diese dramatisch transformiert würden, könnte das Glück, das die Kunst lediglich verspricht, seine endgültige Erfüllung erlangen. Zugleich ist er aber auch der Meinung, dass uns in unserer Begegnung mit einem wahrhaft kraftvollen Werk etwas widerfährt, was viel folgenreicher ist als die Erfahrung, ein Versprechen zu erhalten. Wir durchlaufen dabei nämlich eine wirkliche Transformation. So heißt es in den »Paralipomena« zur Ästhetischen Theorie: »Die Gefühle, welche von den Kunstwerken erregt werden, sind real und insofern außerästhetisch.« 117 Vielleicht nirgendwo sonst in seinen Schriften führt Adorno ein Prinzip an, das dem Vorwurf des bloßen Ästhetizismus so deutlich widerspricht. Die Kategorie der ästhetischen Erfahrung ist insgesamt zu eng, um die Bedeutung dieser Transformation erfassen zu können. Eine gewisse Ironie liegt nun aber vielleicht darin, dass sich seine Darstellung dieses Verände117 GS 7, S. 400.

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rungsvorgangs gar nicht so sehr von jener Erfahrung unterscheidet, die er Platon zuschreibt. Die Begegnung mit einem schönen Kunstwerk bestehe nämlich in »wahre[r] ästhetische[r] Begeisterung« oder »Platonische[m] ἐνθουσιασμός«, und in einem solchen euphorischen Zustand könnte man sich in schierer Begeisterung zu dem Ausruf »›Wie schön, wie schön, wie schön‹« hingerissen fühlen, selbst noch während er – samt dem Ausrufer selbst – »erlischt in der Anschauung der Sache selbst«, da der Ausruf alle reflexive Distanz zum Werk und der Ausrufer all seine Subjektivität in der Unmittelbarkeit der ästhetischen Anschauung einbüßt. 118 Der Vergleich mit Platon mag uns überraschen, vor allem dann, wenn wir uns an die Auffassung gewöhnt haben, dass Adorno jede Erfahrung von Schönheit als illusorisch oder unauthentisch abtut. Wir können uns diesen Vergleich aber plausibler machen, sobald wir verstanden haben, warum er solche Erfahrungen »real« nennt. Damit ist bei ihm eindeutig nicht gemeint, dass wir uns in unseren Begegnungen mit der Kunst irgendwie vergrößert oder in unserem Selbst erweitert vorkommen; eine solche Vorstellung von der ästhetischen Erfahrung als spirituell erhebend ist seinem Denken vollkommen fremd. Im Gegenteil behauptet er, dass die Kunst »sich jener Gleichmachung an uns und an das Subjekt entzieht«. 119 Die Konfrontation mit ihr stellt das Subjekt also vielmehr in Frage und ermöglicht ihm eine Freiheitserfahrung jenseits seines Eingesperrtseins in seiner eigenen Subjektivität. In der Ästhetik-Vorlesung vom 8. Januar 1959 bezeichnet er dieses Ereignis als einen »Durchbruch«: Unter Durchbruch verstehe ich dabei, daß es dann Augenblicke gibt […], in denen jenes Gefühl des Herausgehobenseins, jenes Gefühl, wenn Sie wollen, der Transzendenz gegenüber dem blo118 NGS, Abt. IV, Bd. 3, S. 333. 119 Ebd., S. 198.

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ßen Dasein, sich intensiv zusammendrängt, sich aktualisiert, und in denen es uns so vorkommt, als ob das absolut Vermittelte, nämlich eben jene Idee des Befreitseins, doch ein Unmittelbares wäre, wo wir glauben, sie unmittelbar greifen zu können. 120

Adorno zufolge sind solche Momente »die höchsten wohl und die entscheidenden, deren die künstlerische Erfahrung überhaupt mächtig ist«. 121 Tatsächlich beschreibt er sie als Glücksmomente, in ihrer Kraft vergleichbar mit den höchsten Momenten, die im Leben möglich sind. Allerdings kommt es ihm dabei gerade darauf an, dass das Subjekt in ihnen keine volle Bestätigung von sich selbst als Subjekt erlangt. Sein Glück besteht vielmehr in seinem »Überwältigtwerde[n]«, seiner »Selbstvergessenheit«, bis hin zu dem Punkt, an dem es so scheint, als ob es so etwas wie seine »Auslöschung« erfahre: 122 Es ist dann so, wie wenn in diesen Augenblick – man könnte sie die Augenblicke des Weinens nennen – das Subjekt in sich erschüttert zusammenstürzen würde. [Es sind] eigentlich Augenblicke, in denen das Subjekt sich selber auslöscht und sein Glück hat an dieser Auslöschung – und nicht etwa darin, daß ihm als einem Subjekt nun etwas zuteil würde. 123

Die Begegnung mit der Kunst ist für Adorno also genau deshalb bedeutsam, weil sie uns die Erfahrung eines Glücks erlaubt, die jenseits der Schranken der Subjektivität liegt. Selbstverständlich sieht er ein, dass diese Aussage paradox klingen könnte, da es recht schwierig sein mag, sich die Idee einer »Erfahrung ohne Subjektivität« begreiflich zu machen. Allerdings will er mit ihr ohnehin 120 121 122 123

Ebd., S. 196. Ebd. Ebd., S. 197. Ebd.

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nicht die Wirklichkeit des Subjekts schlechthin leugnen, sondern lediglich sagen, dass die ästhetische Erfahrung uns eine wichtige Einsicht in die Grenzen unserer subjektiven Macht und ein tieferes Bewusstsein für unsere Prekarität als menschliche Wesen verschafft. In den »Paralipomena« zu seiner Ästhetischen Theorie etwa betont er: »Das von Kunst erschütterte Subjekt macht reale Erfahrungen […].« 124 Das Glück, das wir in unserem Aufeinandertreffen mit der Kunst erfahren, hilft uns dabei, jene Verhärtung aufzubrechen, die in der modernen Gesellschaft allmählich Besitz von uns ergreift. Und diesen Moment der Transformation hält Adorno für die höchste und wichtigste Konsequenz der ästhetischen Erfahrung – denn »[e]r errettet Subjektivität, sogar subjektive Ästhetik durch ihre Negation hindurch«. 125

Ästhetische Erfahrung und Gesellschaftskritik Die obige Diskussion sollte deutlich gemacht haben, dass Adorno nicht der Meinung ist, die ästhetische Erfahrung allein könne hinreichend sein, um einen radikalen Wandel im menschlichen 124 GS 7, S. 401. 125 Es lohnt sich, diese Passage aus der Ästhetischen Theorie in voller Länge zu zitieren: »Während die Kunstwerke der Betrachtung sich öffnen, beirren sie zugleich den Betrachter in seiner Distanz, der des bloßen Zuschauers; ihm geht die Wahrheit des Werkes auf als die, welche auch die Wahrheit seiner selbst sein sollte. Der Augenblick dieses Übergangs ist der oberste von Kunst. Er errettet Subjektivität, sogar subjektive Ästhetik durch ihre Negation hindurch. Das von Kunst erschütterte Subjekt macht reale Erfahrungen; nun jedoch, kraft der Einsicht ins Kunstwerk als Kunstwerk solche, in denen seine Verhärtung in der eigenen Subjektivität sich löst, seiner Selbstsetzung ihre Beschränktheit aufgeht. Hat das Subjekt in der Erschütterung sein wahres Glück an den Kunstwerken, so ist es eines gegen das Subjekt; darum ihr Organ das Weinen, das auch die Trauer über die eigene Hinfälligkeit ausdrückt« (ebd.; meine Hervorhebung, P. G.).

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Leben herbeizuführen. Er erkennt an, dass die ästhetische Erfahrung nicht isoliert von dem größeren Netzwerk menschlicher Beziehungen und Institutionen verstanden werden kann, in die sie eingebettet ist, und er weiß auch, dass es daher naiv wäre, sich vorzustellen, dass die Kunst allein den vielfachen Mängeln der modernen Gesellschaft abhelfen könnte. Gleichwohl schreibt er der Kunst eine enorme Bedeutung zu und weigert sich, sie als bloße Ablenkung oder gar Rückzug von dem ernsthafteren Unterfangen der Gesellschaftskritik zu betrachten. Ich habe versucht, seine etwas eigenwillige These begreiflich zu machen, dass die Kunst als ein Versprechen des Glücks oder ein »Zeichen der Freiheit« in einer unfreien Welt erscheine. Adorno ist sich allerdings ebenso im Klaren darüber, dass das von uns in der ästhetischen Erfahrung entdeckte Glück nur ein Versprechen bleiben muss, solange es im krassesten Widerspruch zu seiner Umwelt steht. Dies könnte auch erklären, warum es in der Ästhetischen Theorie heißt, dass nicht nur manche, sondern alle Kunst mit Trauer versehen sei; sie bringe einen melancholischen Seufzer mit sich, ein »O wär es doch«, der das wahre Glücksversprechen mit der bitteren Einsicht verknüpft, dass dieses Versprechen unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen eben unerfüllt bleiben muss. 126 Für Adorno könnten die zentralen Fragen der Ästhetik also gar nicht von den Fragen menschlicher Bestrebungen getrennt werden, die das kritische Denken über alle Grenzen disziplinärer Spezialisierung hinweg motivieren. Sein Bekenntnis zur »Autonomie« der Kunst steht dabei nicht im Widerspruch zu diesem holistischen Prinzip, denn Kunst ist beides, sozial und antisozial; nur durch ihren Rückzug auf die immanenten Gesetze ihrer eigenen Form kann sie gegenüber ihren eigenen gesellschaftlichen Bedingungen eine kritische Funktion ausüben. Diese Betonung des Kritikmoments sollte uns aber nicht dazu verleiten, das tieferlie126 Ebd., S. 161.

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gende normative Versprechen aus dem Blick zu verlieren, das der ästhetischen Erfahrung innewohnt. An dieser Stelle können wir nun die Reprise des materialistischen Motivs vom »Vorrang des Objekts« vernehmen: Wenn Adorno sich so leidenschaftlich an das Überdauern der Kunst klammert, dann hauptsächlich deshalb, weil er sie als ein Versprechen auf ein materielles Glück betrachtet, das die Gesellschaft verweigert. Trotz all der Verzerrungen des Menschseins verfügen wir immer noch über das Vermögen, in der Kunst auf eine Erfahrung von Schönheit zu reagieren, die uns früher einmal in der Naturerfahrung gegeben war. Das Naturschöne werde uns, so Adorno, nämlich durch eine sinnliche Wahrnehmung jenseits aller Herrschaft zuteil und deute damit »auf den Vorrang des Objekts in der subjektiven Erfahrung«. 127 Allerdings glaubt er nicht, dass die Natur an sich immer noch mit jener Unabhängigkeit fortlebt, die sie bräuchte, um diese Responsivität beizubehalten. Und wenn diese Kraft sich also tatsächlich in den meisten Bereichen des Lebens erschöpft hat, so bleibt sie doch in der Kunst noch bestehen, als das letzte Vermächtnis einer Natur, die schon lange dem Untergang anheimgefallen ist. Ich habe in diesem Buch die Ansicht vertreten, dass Adorno die materielle Erfahrung als eine Erkenntnisquelle ansieht, die der Gesellschaftskritik ihre benötigte normative Orientierung geben kann, wenn sie über die bestehenden Verhältnisse hinaus auf eine nicht verwirklichte Zukunft soll hindeuten können. Deshalb ist die Kunst für sein kritisches Projekt auch so enorm wichtig. In seiner Vorlesungsreihe zur Ästhetik im Jahr 1958/59 wird uns etwa mitgeteilt, dass »[d]ie Kunst […] nun gewissermaßen der Versuch [ist], dem gerecht zu werden, was da diesem fortschreitenden Begriff der Naturbeherrschung zum Opfer fällt […]«. 128 Ist die Dialektik der Aufklärung ein anhaltender Prozess zunehmender Herr127 Ebd., S. 111. 128 NGS, Abt. IV, Bd. 3, S. 79.

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schaft, der uns sowohl voneinander als auch von unserer nichtmenschlichen Umwelt entfernt, dann hat die Kunst die Aufgabe, »gleichsam diesen Prozeß wieder zu revozieren«. 129 Kunst ist die »Erinnerung an das Unterdrückte«, das heißt, sie hält für uns »die Erinnerung an all das an innermenschlichen Kräften [wach], was durch diesen Prozeß der fortschreitenden Rationalisierung in den Menschen zerstört wird«. 130 Gewiss bleibt die Kunst auf die Sphäre des Scheins beschränkt; sie kann über ihr vermitteltes Verhältnis zur sinnlichen Natur nicht hinausgelangen, und Adorno ist sich wie gesagt der Tatsache durchaus bewusst, dass ein Kunst129 »Man müsste […] wohl sagen, daß eben durch die Naturbeherrschung und überhaupt durch die damit zusammenhängenden Herrschaftsformen der Gesellschaft die Entfremdung der Menschen voneinander und die Entfremdung der Menschen von der Natur sich gerade verstärkt haben und daß die Kunst es auf allen ihren Stufen zur Aufgabe hat, gleichsam diesen Prozeß wieder zu revozieren« (ebd., S. 234). 130 Ausführlicher heißt es an dieser Stelle in den Ästhetik-Vorlesungen von 1958/59, dass die Kunst wünsche, »dem gerecht zu werden, was da diesem fortschreitenden Begriff der Naturbeherrschung zum Opfer fällt, dem ein wenn auch einstweilen nur symbolisches Maß an Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, nämlich das Maß der Erinnerung, der Erinnerung an das Unterdrückte, an das, was Opfer wird, auch der Erinnerung an all das an innermenschlichen Kräften, was durch diesen Prozeß der fortschreitenden Rationalisierung in den Menschen zerstört wird« (ebd., S. 79). Ich danke Jay Bernstein dafür, mich auf diese Passage aufmerksam gemacht zu haben. Dieser Gedanke nimmt bereits Adornos spätere These aus der Ästhetischen Theorie vorweg, nach der wir in der Kunst »den Vorrang des Objekts« erfahren lernen. Obwohl das Kunstwerk Kultur und nicht Natur ist, ist es nach Adorno nämlich diesem zu verdanken, dass wir in Kontakt mit jener Natur gebracht werden, die die subjektive Vernunft bislang beherrscht hat: »Der Vorrang des Objekts behauptet ästhetisch allein sich am Charakter der Kunst als bewußtloser Geschichtsschreibung, Anamnesis des Unterlegenen,Verdrängten, vielleicht Möglichen. Der Vorrang des Objekts, als potentielle Freiheit dessen was ist von der Herrschaft, manifestiert sich in der Kunst als ihre Freiheit von den Objekten« (GS 7, S. 384). Das Kunstwerk sei daher der »vermittelt[e] Statthalter von Unmittelbarkeit« (ebd., S. 98).

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werk das von ihm versprochene Glück nicht einlösen könnte, wäre dieses Versprechen allein auf seinen ästhetischen Bezugsrahmen beschränkt. Er macht sich jene einst von Schiller formulierte utopische Fantasie also gerade nicht zu eigen, dass die Menschheit ihre letzte Erfüllung in der ästhetischen Erfahrung allein finden könne. Dessen ungeachtet hält er an dem Status der Kunst als »antezipierte[r] Versöhnung« fest: 131 Das Kunstwerk tritt zwar innerhalb des Scheins auf, weist aber über ihn hinaus und auf wahrhaften Frieden hin.

131 Ebd., S. 383.

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SCHLUSS. GESELLSCHAFTSKRITIK HEUTE

In diesem Buch habe ich versucht, Licht auf die Frage nach der Normativität in Adornos kritischer Philosophie zu werfen. Dabei ist meine Untersuchung von der anfänglichen Prämisse ausgegangen, dass ihre Beantwortung in dem Sinne umfassend ausfallen müsste, dass sie für die ganze Bandbreite der philosophischen Interessen Adornos zu gelten haben würde. Die Frage kann aus meiner Sicht nicht richtig verstanden werden, wenn wir, den wissenschaftlichen Gepflogenheiten gemäß, nur eine Dimension seines Denkens besonders herausheben. Denn Adorno hat im Laufe seines Lebens erstaunlich viele verschiedene Themengebiete erkundet und sich nie dauerhaft in nur einem einzigen akademischen Bereich angesiedelt; vielmehr leistete er Beiträge zur Soziologie ebenso wie zur Musikwissenschaft und zur Philosophie genauso wie zur Literaturkritik. All diesen Feldern gegenüber verblieb er jedoch in der Haltung eines Außenseiters und Kritikers, der die Erfahrung der Exterritorialität zu einem zentralen Motiv seines Denkens gemacht hatte. So stellte er fest, dass es »heute […] zur Moral [gehört], nicht bei sich selber zu Hause zu sein«. 1 Diese Bemerkung sollte meiner Auffassung nach auch als ein Desiderat unserer Interpretation seines philosophischen Erbes fungieren. Von seiner Ästhetik oder seiner praktischen Philosophie als separaten Bereichen zu sprechen, könnte uns nämlich auf eine falsche Spur bringen, und zwar dann, wenn wir uns sein Denken dementsprechend so vorstellen, als ob es den üblichen Differenzierungen entspräche, die in der modernen Forschungsuniversität der Gegenwart vorherrschend sind. Sein entschiedener Widerstand 1 GS 4, S. 43.

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gegen diese Unterscheidungen zeigt sich gleich im allerersten Aphorismus der Minima Moralia, wo es heißt: »Die Beschäftigung mit geistigen Dingen ist mittlerweile selber ›praktisch‹, zu einem Geschäft mit strenger Arbeitsteilung, mit Branchen und numerus clausus geworden.« 2 Adorno war bewusst, dass man jeden Denker für unprofessionell oder einfach dilettantisch halten würde, der sich einer solchen Kompartmentalisierung zu entziehen versuchte. Trotzdem hatte er wenig Respekt vor den Konventionen disziplinärer Zugehörigkeit und entwickelte sein Denken in einem Geist der Freiheit, der sich bewusst über deren Autorität hinwegsetzte. Ich bin dem Beispiel des Philosophen in meiner Studie gefolgt, indem ich angenommen habe, dass der seine Kritik motivierende normative Maßstab so weit gefasst sein muss, dass er seine Relevanz für sein gesamtes Werk beibehält – von seinen Beiträgen zur Soziologie bis hin zu seinen metaphysischen Spekulationen und von seinen Vorlesungen über Moralphilosophie bis hin zu seinen musikalischen und literaturästhetischen Schriften. Diesen Maßstab habe ich als Glück oder »menschliches Gedeihen« charakterisiert, ein Begriff, der den Vorzug hat, Adornos Denken in einer bestimmten philosophischen Tradition zu verorten, dabei aber immer noch umfassend genug zu sein, um seiner Idee einer totalen Erfüllung in allen Lebensbereichen Ausdruck verleihen zu können. Ferner habe ich behauptet, dass dieser Maßstab in seinem Werk in Gestalt eines »emphatischen Begriffs« auftaucht – ein Kunstwort, das er zur Bezeichnung jener höheren Normen verwendet, anhand der wir bestimmte Instanzen des Versagens oder Scheiterns beurteilen können. Dies erweckt allerdings sofort den Verdacht, ich könnte den Geist seiner Philosophie verraten, wenn ich darauf beharre, dass diese Frage nur eine einzige Antwort haben kann. Schließlich scheute sich Adorno nicht vor der Aussage, 2 Ebd., S. 21.

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sein Denken habe einen fragmentarischen und antisystematischen Charakter. Schon 1931, in seiner Antrittsvorlesung als Professor in Frankfurt, verkündete er ja, dass die Philosophie die Illusion eines »absoluten Beginns« zurückweisen müsste, und diese antifundamentalistische Orientierung sollte bis ganz zum Ende seiner Laufbahn eine Konstante seiner Philosophie bleiben. In seinem Vortrag über »Resignation« aus dem Jahr 1969 (aus der ich im Vorwort zitiert habe) bekräftigt er denn auch noch einmal, dass das Denken »nicht gedeckt [ist], weder von bestehenden Verhältnissen noch von zu erreichenden Zwecken, noch von irgendwelchen Bataillonen«. 3 Angesichts dieser Beweislage mag es daher wie schlichter Widerspruchsgeist wirken, wenn ich trotzdem darauf beharre, dass wir einen einzigen und vereinheitlichenden normativen Impuls aufspüren, der sich durch Adornos gesamte Gesellschaftskritik hindurchzieht. Für all jene, die Zweifel im Hinblick auf den Ort normativer Bekenntnisse in der Sozialtheorie hegen, möchte ich auf diesen abschließenden Seiten einige Bemerkungen dazu anbieten, warum wir uns dieser Aufgabe dennoch widmen sollten.

Normativität in der Gesellschaftstheorie Die Praxis der Sozialkritik nimmt ihren Ausgang von der grundlegenden Einsicht, dass die bestehende Welt nicht so ist, wie sie sein soll. Allerdings darf man sich nicht an diese pauschale Feststellung klammern; es reicht nicht, einfach nur zu verkünden, dass man die gesellschaftliche Realität kritikwürdig findet – so als wäre man ein Kind, dem das Essen nicht schmeckt, das ihm vorgesetzt wird. Die steile These, dass die Welt fein säuberlich in zwei entgegengesetzte Lager von »Freund« und »Feind« eingeteilt werden könnte, ist eher ein Symptom einer infantilen Regression 3 GS 10.2, S. 794-799, hier S. 798.

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denn ein Ausweis existenzieller Tiefe, wie es ihre Vertreter wohl annehmen mögen. 4 Die Gesellschaftskritikerin muss also über jenes anfängliche Gefühl der Unzufriedenheit hinausgelangen und genauer angeben, in welchen Hinsichten die soziale Wirklichkeit defizient ist und welche Erwartungen sie enttäuscht hat. Dies ist aber nur möglich, wenn sie auf irgendeine Weise ihre Zustimmung zu den gegebenen Verhältnissen zurückzieht. Adorno nennt diese Geste ein »von der Schwere des Faktischen sich Loslöse[n]«. 5 Dabei darf sich die Kritikerin jedoch auch nicht einbilden, sie könne sich jemals vollständig von der sozialen Welt befreien, in der sie lebt, da es ja keine alternative Welt des reinen Denkens oder der bloßen Ideale gibt, in die sie sich zurückziehen könnte. Jenes »Loslösen« läuft daher am Ende auf nicht viel mehr als auf das kritische Urteil hinaus, dass die soziale Umwelt daran gescheitert sei, ihre eigenen ihr inhärenten Wertvorstellungen zu realisieren. Gesellschaftskritik ist deshalb entweder immanente Kritik oder gar keine. Damit steht die Gesellschaftskritik unmittelbar vor der Aufgabe, alternative Quellen für Einsichten oder normative Forderungen zu identifizieren, die unserer eigenen sozialen Wirklichkeit innewohnen. Der Skeptiker, der einwenden wollte, dass solche alternativen Quellen nicht zur Verfügung stünden, wäre zu der Schlussfolgerung gezwungen, dass die bestehenden Verhältnisse nicht sinnvoll kritisiert werden könnten. Dies würde allerdings einer Preisgabe der Gesellschaftskritik insgesamt gleichkommen. Adorno ist aber kein Skeptiker in diesem Sinne. Er erkennt zwar an, dass die hier in Rede stehende Loslösung nicht eine Welttranszendenz beinhalten kann, und räumt daher ein, dass der Skeptiker zum Teil darin gerechtfertigt ist, dieses Vorhaben als »das ganz Unmögliche« zu bezeichnen, »weil es einen Standort voraussetzt, 4 GS 4, S. 149f. 5 Ebd., S. 144.

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der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist«; 6 dennoch bleibt er weiterhin der Aufgabe verhaftet, in der Welt nach alternativen Normativitätsquellen zu suchen, die über sie in ihrem Status quo hinausdeuten und einen Vorausblick auf ihre (noch) nicht verwirklichten Möglichkeiten erlauben. In diesem Sinne bleibt er der Marx’schen (von Hegel ererbten) Vorstellung treu, dass der Weg der Kritik ein immanenter zu sein habe und wir »der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien [entwickeln]« müssten. 7 An dieser Stelle bekommt es Adorno jedoch mit einem etwas schwerwiegenderen Problem zu tun. Denn angesichts der überwältigenden »Schwere des Faktischen« könnte es so aussehen, als dürfte es sehr schwierig für uns werden, jemals solche Prinzipien zu entdecken und sie als Ansatzpunkte für eine kritische Einflussnahme auf unsere Umgebung zu nutzen. Der Skeptiker wird anführen, dass die Welt so, wie wir sie vorfinden, einfach zu mächtig sei und wir selbst in dem Fall, dass wir tatsächlich mit der bestehenden Ordnung konfligierende Prinzipien ausfindig machen könnten, diese viel zu schwach wären, um uns als zuverlässige Anleitung dienen zu können. Eine Hauptaufgabe dieses Buchs bestand darin, nachzuweisen, dass Adorno die Schlagkraft dieses Einwands anerkennt. Das wird an seinem Eingeständnis deutlich, dass die Quellen der Normativität, die uns in einer beschädigten Welt für das Betreiben von Sozialkritik zur Verfügung stehen, für sich genommen ebenfalls beschädigt und ungewiss sind. »[J]ede mögliche Erkenntnis« müsse nämlich »nicht bloß dem was ist erst abgetrotzt werden […], um verbindlich zu geraten, sondern [ist] eben darum selber auch mit 6 Ebd., S. 283. 7 Karl Marx, [Briefe aus den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern«], Brief an Arnold Ruge, September 1843, in: MEW, Bd. 1, Berlin 1976, S. 337-346, hier S. 345.

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der gleichen Entstelltheit und Bedürftigkeit geschlagen […], der sie zu entrinnen vorhat«. 8 Wir müssen daher zugeben, dass wir kein Wissen vom absoluten Guten besitzen. Die philosophische Herausforderung liegt für ihn allerdings darin, dass er die Abwesenheit absoluter oder unbeschädigter Maßstäbe nicht als Beleg für einen durchgängigen Skeptizismus zulassen will. Er hält also am Glücksversprechen fest, auch wenn nichts in unserer Erfahrung uns die absolute Sicherheit geben kann, dass dieses Versprechen einlösbar ist. Im Laufe meiner Untersuchung habe ich immer wieder darauf hingewiesen, dass Adorno seine philosophische Verbundenheit mit der linkshegelianischen oder marxistischen Tradition pflegte, obgleich er sich der Auffassung vom Marxismus als feststehender Doktrin nie angeschlossen hat. Die eben von mir umrissene Einsicht den beschädigten Zustand unserer Maßstäbe betreffend ist nun eine weitere Illustration dieser anhaltenden Verbundenheit. Marx selbst war sich im Klaren darüber, dass die bürgerliche Gesellschaft sich zu einer normativen Autorität für die uns gegebene Welt aufgeschwungen und sowohl in ideologischer als auch in institutioneller Hinsicht ungeheure Hindernisse errichtet hat, die uns davon abhalten, zu erkennen, wie die Welt jemals anders sein könnte. Auch das Proletariat ist in dieses autoritäre Netzwerk verwickelt, obwohl es nach Marx das erste und vielleicht sogar das einzige Opfer des Funktionierens dieses Systems ist. Das Proletariat ist aber auch die leibhaftige Möglichkeit: Es birgt in sich die latente Antizipation eines noch nicht real gewordenen Zustands. Weil Marx jedoch allergisch gegen den Utopismus war, sah er, dass es naiv wäre, in einer unvollkommenen Gesellschaft die Arbeiterklasse als ein Paradigma für Vollkommenheit zu betrachten. Im Hunger und Elend der Proletarier erkannte er nicht nur ihre Erniedrigung, sondern auch einen Protest gegen die Verhältnisse, 8 GS 4, S. 283.

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die dieses Elend verursacht hatten. Die Arbeiterinnen und Arbeiter wurden zur beschädigten Verkörperung eines unrealisierten Ideals. Adorno hat sich dieses von Marx stammende dialektische Bild von einer beschädigten Normativität zu eigen gemacht; er ist der Überzeugung, dass wir die für die Aufgabe einer Gesellschaftskritik erforderlichen Normen in unserer sozialen Umwelt selbst suchen sollten, auch wenn sie all die Wunden und Macken jener Welt aufweisen werden, die sie hervorgebracht hat.

Antifundamentalismus und Prekarität Die oben skizzierten Überlegungen könnten es uns erlauben, eine wichtige Unterscheidung zwischen Prekarität und totalem Skeptizismus vorzunehmen. Adorno war sich darüber bewusst, dass der Maßstab des menschlichen Gedeihens, der seiner Gesellschaftskritik zugrunde lag, nicht auf einem sicheren Fundament ruhte, da er sich uns nur in einer partiellen und ungewissen Gestalt zeigen kann: Wir mögen flüchtige Momente des Glücks erleben, doch auch sie werden von dem allgemeinen Leiden beeinträchtigt sein, das sie sowohl umgibt als auch sie bis in ihren innersten Kern durchzieht. In einer bemerkenswerten Passage der Minima Moralia stellt er den Gesellschaftskritiker als einen Sucher nach moralischer Erkenntnis dar, der sich zugleich ihrer Unsicherheit bewusst sei: »Während er danach tastet, die eigene Existenz zum hinfälligen Bilde einer richtigen zu machen, sollte er dieser Hinfälligkeit eingedenk bleiben und wissen, wie wenig das Bild das richtige Leben ersetzt.« 9 Trotzdem aber betrachtete Adorno den zerbrechlichen Charakter unserer moralischen Erkenntnis nicht als eine Lizenz zur Resignation. Er räumte ein, dass unser Wissen vom Guten zwar ungewiss sei, wollte aber nicht in Abrede stellen, dass 9 GS 4, S. 27 (meine Hervorhebung, P. G.).

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es für uns in irgendeiner – wie immer auch prekären und partiellen Weise – dennoch verfügbar bleibe. So erklärt sich letztlich auch seine Bemerkung, dass der »emphatisch[e] Begriff von Denken« für die Erfahrung »offen« bleibe und »die Möglichkeit fest[hält]«, obgleich dieses Denken »nicht gedeckt« sei oder in irgendeiner aktuellen oder zukünftigen Realität gründe. 10 Adorno betrachtete den Antifundamentalismus als eine generelle Problematik aller modernen Philosophie. So merkte er in einer seiner Vorlesungen zur Ästhetik an, dass der »gesichert[e] Bestand« sämtlicher philosophischer Teilgebiete »eine etwas prekäre Angelegenheit« geworden sei. 11 Allerdings erkannte er darin nicht einen Defekt, für den man Abhilfe schaffen müsste, sondern betrachtete diesen Umstand als ein unvermeidliches und sogar konstitutives Merkmal der modernen Verhältnisse selbst. Sobald wir uns einmal ernsthaft die tatsächlichen Implikationen der modernen Geschichte vor Augen geführt haben, müssen wir die grundlegende Wahrheit akzeptieren, dass es keinen Weg zurück zu den naiven Lehren des vormodernen Zeitalters gibt, als wir uns noch in einer friedvollen Einheit mit der Natur wähnten und uns mit auf den Glauben stützten, dass unsere moralischen Grundsätze irgendwie der Struktur des Universums selbst eingeschrieben seien. Für Adorno ist der Zusammenbruch dieses holistischen Bilds nun aber nichts, was zurückgenommen werden könnte – und wir sollten es ihm zufolge auch gar nicht erst versuchen. Die Entzauberung der Welt ist nämlich nicht ein bloßer Prozess des Verlusts, sondern ein Weg, den wir beschreiten müssen, wenn wir zu irgendeiner Art von wahrhafter Erkenntnis sowohl der Welt als auch un10 GS 10.2, S. 798. 11 »Die philosophische Ästhetik […] hat es schwer […]. Es komme der philosophischen Ästhetik [vermeintlich; Anm. d. Ü.] kein so gesicherter Bestand zu wie anderen philosophischen Disziplinen. Nun meine ich, mit dem gesicherten Bestand der anderen philosophischen Disziplinen ist es auch so eine etwas prekäre Angelegenheit […]« (NGS, Abt. IV, Bd. 3, S. 9).

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serer selbst gelangen wollen. Und in diesem Zustand einer allgemein gewordenen Prekarität ist der Antifundamentalismus dann die einzige Haltung, die der modernen Philosophie noch angemessen ist. Allerdings bietet sie nicht nur metaphysische Einsichten an, sondern kann auch als Ansatzpunkt für ein neues Moralverständnis betrachtet werden. Denn die Prekarität der Philosophie macht uns auch auf eine bestimmte Prekarität aufmerksam, die für das menschliche Leben selbst konstitutiv ist. Diesem Gedankengang folgend, habe ich behauptet, dass Adorno eine von mir so genannte Ethik der Vulnerabilität vertreten hat. Im Folgenden möchte ich einige der weiteren Implikationen dieser Idee herausarbeiten und dabei besonders darauf eingehen, wie sie sich auf das Problem der modernen politischen Pathologien auswirken könnte.

Faschismus und Vulnerabilität Der ethische Antifundamentalismus macht seinen Anfang mit der simplen Aussage, dass der Mensch keine absolut sichere Basis für die Moral finden könne, weder in den objektiven Tatsachen der Natur noch in den intersubjektiv gültigen Prinzipien der menschlichen Vernunft selbst. Adorno schließt sich dieser negativen Auffassung zwar an, interpretiert sie aber auf eine neuartige Weise. Für ihn führt sie nämlich nicht zu einem unbrauchbaren moralischen Skeptizismus, sondern zu einem anderen Verständnis von moralischem Verhalten. Denn für Adorno heißt moralisch sein gerade, die Suche nach totaler Gewissheit in der Sphäre des moralischen Wissens einzustellen. Tatsächlich will er das ganze Vorhaben beendet wissen, der Moralphilosophie absolute Grundlagen zu verschaffen, obgleich er selbst sich auch weiterhin auszumalen versucht, worin ein genuines moralisches Verhalten bestehen würde. Statt also eine Anleitung durchs moralische Denken anzustreben, verortet er die Ursprünge der Moral vielmehr in einer bestimmten 413

Art von moralischer Disposition. Dieses imaginative Bemühen meine ich, wenn ich von seiner Ethik der Vulnerabilität spreche. Eine solche Ethik würde die Bereitschaft umfassen, die Tatsache unserer Prekarität zu akzeptieren, indem wir für die Erfahrung offenbleiben und uns ihr ungeschützt aussetzen, um auf diese Weise unsere volle Responsivität gegenüber anderen und deren Leiden zu bewahren. Moral besteht demnach also eher in so etwas wie einem Verhalten oder einer moralischen Disposition statt in einem Bündel diskursiver Prinzipien. Wie ich in der Einleitung bemerkt habe, scheint Adorno das Vorhaben für irregeleitet zu halten, sich die Voraussetzungen der Moral durch rationale Argumentation erschließen zu wollen, und Fabian Freyenhagen bietet in seiner Untersuchung zu Adornos praktischer Philosophie eine exzellente Erklärung für dessen Ablehnung des rationalistischen Ansatzes. Mein Dissens mit Freyenhagen betrifft daher vornehmlich die Frage, ob Adorno eine überzeugende Alternative an dessen Stelle zu setzen vermag. Darauf möchte ich antworten, dass er uns tatsächlich etwas Substanzielleres anzubieten hat als die negative Ethik eines weniger falschen Lebens – nämlich das Porträt einer moralisch responsiven Persönlichkeit. Vielleicht sollten wir an dieser Stelle kurz innehalten und uns gegen ein bestimmtes Missverständnis verwahren. Adornos Idee der »Disposition« besagt nicht, dass er sich mit einem individualistischen Modell des moralischen Charakters bescheiden würde, zum Beispiel mit dem, das wir mit der Tugendethik in Verbindung bringen. Denn ungeachtet seines Interesses an den psychologischen oder charakterologischen Aspekten des ethischen Lebens zieht er sich niemals aus dem politischen und institutionellen Leben auf eine selbstgenügsame Moralphilosophie zurück, die allein auf individuellem Verhalten gründet. So merkt er in dem späten Essay »Marginalien zu Theorie und Praxis« an, dass Kant seine Anschauungen die Natur des moralischen Handelns betreffend »allesamt aus der Privat- und der geschäftlichen Sphäre« entwickelt habe 414

und »der Begriff der Gesinnungsethik, deren Subjekt der individuierte Einzelne sein muß, […] davon bedingt« sei. 12 Adorno erkennt also, dass eine rein individualistische Moral, die in der Privatheit des Willens wurzelt, den sozialen und institutionellen Rahmen außer Acht lässt, den es dafür braucht, dass sich menschliche Wesen im vollen Umfang selbstverwirklichen. Die Mängel in der Moralphilosophie Kants müssten daher durch Rückgriff auf das hegelianische Modell sozialer Freiheit aufgewogen werden. »Kants Moral- und Hegels Rechtsphilosophie repräsentieren zwei dialektische Stufen des bürgerlichen Selbstwußtseins von Praxis«, wie er schreibt. Allerdings hegt er auch die Befürchtung, dass das Hegel’sche Modell nicht weniger einseitig sein könnte als das Kants, für das es ein notwendiges Korrektiv darstelle. Hegels Begriff der Sittlichkeit sollte nämlich zwar dem Begriff der Moral gesellschaftliche Objektivität verleihen, doch »[i]ndem Hegel [ihn] ins Politische erweitert, löst er ihn auf«. »Beide«, das heißt Kants wie Hegels Konzeption, »sind, gespalten nach den Polen des Besonderen und des Allgemeinen, die jenes Bewußtsein auseinanderreißt, auch falsch.« 13 Adorno versucht nun, zwischen Kant und Hegel zu vermitteln. Während Kants Moralphilosophie ihm zufolge das Risiko einer ontologischen Selbstisolation in sich birgt, besteht bei Hegels Ideal der sozialen Freiheit die nicht minder gravierende Gefahr, dass das Individuum im bürokratischen Kollektiv verlorengeht. Eine politische Philosophie, die das öffentliche und institutionelle Leben so stark betone, könne zu leicht in eine Rechtfertigung für einen bloßen Instrumentalismus umschlagen, der zudem eine schwerwiegende Verzerrung in das Menschsein eintrage, welches sich dann zu jener kalten und rein praktisch orientierten Persona verhärte, die die moderne Gesellschaft benötige. Oder wie er selbst 12 GS 10.2, S. 759-782, hier S. 764. 13 Ebd., S. 765.

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es ausdrückt: »Während Praxis verspricht, die Menschen aus ihrem Verschlossensein in sich hinauszuführen, ist sie eh und je verschlossen; darum sind die Praktischen unansprechbar; die Objektbezogenheit von Praxis a priori unterhöhlt. Wohl ließe sich fragen, ob nicht bis heute alle naturbeherrschende Praxis in ihrer Indifferenz gegens Objekt Scheinpraxis sei.« 14 Wenn er uns also vor dem verfrühten Sprung in die Praxis warnt, dann nicht, weil er jedem sozialen Handeln abgeschworen hätte, sondern weil er auf jeden Fall sicherstellen will, dass die Gesellschaft als Schauplatz für das Gedeihen des Menschen in all seinen mannigfachen Dimensionen auch wirklich geeignet ist. Wir können uns ein klareres Bild davon machen, wie Adorno sich eine solche moralische Disposition vorstellt, wenn wir einen Blick in die Studien zum autoritären Charakter von 1950 werfen, jene bahnbrechende sozialpsychologische Untersuchung, die er mit einer kleinen Forschergruppe im kalifornischen Berkeley durchgeführt hat. 15 An anderer Stelle habe ich mich ausführlich über die Voraussetzungen und Ziele dieser Studien geäußert und werde mich hier deshalb auf eine kurze Zusammenfassung beschränken. 16 Das Buch geht von der Annahme aus, dass diejenigen, die am ehesten für faschistische Propaganda anfällig sind, bestimmte psychologische Tendenzen aufweisen, die zunächst mit den Mitteln der quantitativen und qualitativen empirischen Sozialforschung ermittelt werden können (zu denen sowohl Massenfragebögen als auch persönliche Interviews gehörten). Diese Ten14 Ebd., S. 759 (meine Hervorhebung, P. G.). 15 Theodor W. Adorno u. a., The Authoritarian Personality, New York 1950; auszugsweise in deutscher Übersetzung erschienen als Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt/M. 1995. 16 Anmerkungen zu den Implikationen dieser Untersuchung für die Gegenwart finden sich in Peter E. Gordon, »The Authoritarian Personality Revisited. Reading Adorno in the Age of Trump«, in: Wendy Brown u. a., Authoritarianism. Three Inquiries in Critical Theory, Chicago 2018, S. 45-84.

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denzen werden anschließend auf einer Skala abgebildet, wobei diejenigen, die den Autoren zufolge im oberen Bereich dieser sogenannten F-Skala anzusiedeln sind, die stärkste Neigung zum Faschismus aufweisen. Wir müssen nicht extra betonen, dass das dieser Untersuchung zugrundeliegende Faschismusverständnis auffallend weitgefasst ist; die beteiligten Forscherinnen und Forscher waren weder so borniert noch so fantasielos, um sich mit der Überzeugung zufriedenzugeben, der Faschismus sei ein genuin europäisches Phänomen, das nicht auch an anderen Orten oder zu anderen Zeiten in verschiedenen Gestalten wiederkehren könnte. Sie verstanden ihn vielmehr als die moderne Manifestation von Tendenzen, die in der gesamten menschlichen Zivilisation zumindest latent vorhanden sind; eine Dialektik von Herrschaft und Unterwerfung, die unserer kollektiven Geschichte innewohnt und die wir noch nicht zu überwinden vermocht haben. Trotz dieser weiten Definition unterstellen sie jedoch nie, dass der Faschismus seine Wurzeln in der Psychopathologie allein habe, sondern vertreten die Ansicht, dass sie es hier mit rein subjektiven (psychologischen) statt objektiven (politischen und sozioökonomischen) Faktoren zu tun hätten. Ihre Aufgabe war es nämlich nicht, die Ursachen des Faschismus zu untersuchen, sondern die Frage zu klären, warum sich so viele zu ihm hingezogen fühlten. Die Antwort, die sie geben, ist bemerkenswert. Eine Person, die einen hohen Wert auf der F-Skala erreicht und daher am ehesten als für faschistische Einstellungen anfällig gilt, muss ihnen zufolge die ganze Bandbreite an explizit faschistischen Überzeugungen nämlich gar nicht aktiv bejahen. Vielmehr handelt es sich bei ihr um ein Individuum, das eine generalisierte psychologische Disposition an den Tag legt, die keinem bestimmten Typus angehört, sondern ein Syndrom von Tendenzen ist, die alle Individuen belasten, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Dazu zählen unter anderem Konventionalismus, Angst vor Verschwörungen, eine feindselige Haltung gegenüber Außenseitern oder Fremden, »Kraft417

meierei« sowie ein stereotypes oder rigides Denken. In seinem Vorwort zu der englischen Originalausgabe des Buchs schreibt Max Horkheimer (der als Herausgeber der Reihe Studies in Prejudice fungierte, in der diese Untersuchung erschien), das Forscherteam habe gar eine neue »›anthropologische‹ Spezies« entdeckt. 17 Und obwohl dies eine Übertreibung gewesen sein mag, brachte es doch die grundlegende Einschätzung dieser Studie auf den Punkt, dass nämlich die Neigung zum Faschismus auf ganzheitliche Merkmale einer allgemeinen sozialpsychologischen Disposition zurückzuführen sei und nicht auf spezifische Defekte in der individuellen Psyche. Im Schlusskapitel ihrer Studie vertreten die Autorinnen und Autoren daher auch die These, dass die autoritäre Persönlichkeit ein viel grundlegenderes Problem widerspiegele, das sie als die »Unfähigkeit, Erfahrungen zu machen« bezeichnen. 18 Die Anfälligkeit für faschistische Propaganda könne nur dann vermieden werden, wenn es »eine Zunahme der Fähigkeit der Menschen« gebe, »sich selbst wahrzunehmen und sie selbst zu sein«. Ambivalent fällt allerdings ihre Antwort auf die Frage aus, ob die Unfähigkeit zur Erfahrung etwas sei, dem allein auf individualistischer Basis Abhilfe verschafft werden könne. Denn einerseits behaupten sie, dass der Schlüssel in der frühen Kindheitserfahrung liege, wenn sie schreiben, dass »[d]as, worauf es wirklich ankommt«, darin bestehe, »dass Kinder aufrichtig geliebt und als eigenständige Menschen behandelt« werden, 19 während es andererseits bei ihnen heißt, dass die Unfähigkeit, Erfahrungen zu machen, »die totale Organisation der Gesellschaft« reflektiert und »nur durch eine veränderte Gesellschaft« behoben werden kann. 20 17 Adorno u. a., The Authoritarian Personality, S. IX. Man beachte, dass Horkheimer den Begriff »anthropologisch« in einfache Anführungsstriche setzt, so als ob er signalisieren wollte, dass er ihn nicht wörtlich meine. 18 Ebd., S. 973 (meine Hervorhebung, P. G.). 19 Ebd., S. 975. 20 Ebd.

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Diese ganzheitliche Faschismusdiagnose wirft viele Fragen auf. Die sich durch das ganze Buch ziehende Ambivalenz in Bezug darauf, was gegen den Autoritarismus möglicherweise helfen würde, ist nämlich ein Zeichen für ein ungelöstes Problem in seiner sozialpsychologischen Methode: Bestimmt die Gesellschaft die prägenden Umstände für die Individualpsychologie, oder erklären umgekehrt bestimmte Faktoren der Individualpsychologie, warum die Gesellschaft ihre gegenwärtige Form angenommen hat? Die Autorinnen und Autoren vertreten zwar mit Nachdruck die Auffassung, dass die Gesellschaft stets am Anfang der Kausalkette stehen müsse, doch die totale Veränderung der objektiven sozialen Verhältnisse, die sie empfehlen, kann kaum irgendwelche Auswirkungen zeitigen, wenn die subjektiven Umstände so bleiben, wie sie sind. In seinen erst kürzlich veröffentlichten »Bemerkungen« zu den Studien über den autoritären Charakter versucht Adorno, dieses Problem durch eine Historisierung ihrer psychoanalytischen Instrumente zu lösen. 21 Demnach basierte diese Untersuchung auf dem psychoanalytischen Modell eines stabilen und gut integrierten Egos, das sich unter den modernen Bedingungen mittlerweile aufzulösen begonnen hat. Wenn das moderne Selbst seine strukturelle Integrität aber verliert, dann sinkt es zu kaum mehr als einem »Bündel konditionierter Reflexe« herab, das seine Fähigkeit verloren haben wird, echte Erfahrungen zu machen, und sogar noch anfälliger für eine Beeinflussung von außen ist. Diese Kritik bestärkt Adorno nun noch weiter in seinem Zweifel daran, ob die fortwährende Anziehungskraft des Faschismus auf rein individualistischer Ebene abgewehrt werden könnte.

21 Theodor W. Adorno, »Bemerkungen zu The Authoritarian Personality von Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson, Sanford«, in: ders., Bemerkungen zu The Authoritarian Personality und weitere Texte, hg. von Eva-Maria Ziege, Berlin 2019, S. 21-70.

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Allerdings können wir in dieser Argumentation aber auch den thematischen Schlüssel zu seiner Moralphilosophie erblicken. Ich habe oben gesagt, dass Adorno in seinen Überlegungen über die Voraussetzungen moralischen Handelns die Grundzüge einer moralischen Disposition oder Persönlichkeit umreißt. Der Kontrast mit dem autoritären Charakter kann dieser Alternative nun schärfere Konturen verleihen. Das individuelle Subjekt, das als »autoritärer Charakter« gilt, ist eines, das die »Härte« fetischisiert, wie Adorno in »Erziehung nach Auschwitz« darlegt. 22 In seinem Sehnen nach Sicherheit und Unverletzlichkeit schließt es sich gegen alles ab, was es für eine Bedrohung hält, und erleidet daher einen fatalen Mangel, nämlich die Unfähigkeit, Erfahrungen zu machen. Anders als sein Widerpart ist das potenziell moralische Subjekt hingegen bereit, seine Vulnerabilität einzugestehen. Dieses hält sich passiv, aber ohne Angst offen für die Welt und kann auf das Leiden anderer reagieren, sofern es »in angstloser Passivität der eigenen Erfahrung sich anvertraut«.23 Der Gegensatz zwischen diesen beiden psychologischen Porträts ist nun kaum zufällig. Schließlich ist die Klinge von Adornos Gesellschaftskritik ursprünglich im historischen Schmelztiegel des aufkommenden Faschismus geschmiedet worden, weshalb es uns nicht überraschen sollte, dass auch seine Moralphilosophie primär als eine Reaktion auf ebendiese weltgeschichtliche Gefahr entstanden ist. Doch dies wirft unmittelbar die damit zusammenhängende Frage auf, ob Adorno glaubte, das Risiko eines neuerlich aufkeimenden Faschismus könne durch die Kultivierung einer angemessen moralischen Disposition wirkungsvoll minimiert werden. Man darf bezweifeln, dass er so naiv gewesen sein könnte, dies anzunehmen. Wie 22 GS 10.2, S. 674-690; siehe ebd., S. 682: »Das gepriesene Hart-Sein, zu dem da erzogen werden soll, bedeutet Gleichgültigkeit gegen den Schmerz schlechthin.« 23 »Zu Subjekt und Objekt«, GS 10.2, S. 742-758, hier S. 752.

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oben angemerkt, erkannte er nämlich, dass die moralische Persönlichkeitsstruktur, die sich als dem Faschismus gegenüber am widerständigsten erweist, zunehmend rar wurde. Generell tendierte die Gesellschaft zu einem »Absterben der Erfahrung« hin, und zwar im Verbund mit dem Niedergang jener Umstände, die das Subjektsein überhaupt erst möglich machten. Daraus folgte dann, dass die dem Faschismus förderliche Bedingungen sich mit großer Wahrscheinlichkeit nur noch stärker ausprägen würden. In seinem Vortrag von 1959 über die kollektive Aufgabe der Aufarbeitung der Vergangenheit legte Adorno daher auch das ernüchternde Geständnis ab, dass er »das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potenziell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie« betrachte. 24 Seine Moralphilosophie war also kaum naiv; vielmehr entstand sie im Kontext einer durchaus realistischen Prognose über die Zukunft der zivilisierten Menschheit.

Nie wieder Auschwitz Zu Beginn dieses Buchs habe ich Adornos Bemerkungen aus seinen Vorlesungen über die theoretische Philosophie Kants von 1959 erwähnt, mit denen er seine Zuhörerschaft dazu aufforderte, die erste Kritik ohne Rekurs auf verdinglichte und konventionelle Interpretationen zu lesen, die ihren eigentlichen Sinn verschleiern könnten. Im Verlauf meiner Untersuchung war ich nun auch selbst 24 »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit«, GS 10.2, S. 554-572, hier S. 555f. Mit dieser Bemerkung blieb er jenem berühmt-berüchtigten Horkheimer’schen Diktum mehr oder weniger treu, dass, wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, auch vom Faschismus schweigen sollte (Max Horkheimer, »Die Juden und Europa«, in: Zeitschrift für Sozialforschung 8 [1939], S. 115-137, wiederabgedruckt in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 4, Frankfurt/ M. 1988, S. 308-331).

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stets bemüht, dieser Forderung Genüge zu tun, und habe auf die philosophischen Affinitäten zwischen Adorno und Kant hingewiesen, wo immer sie sich als erhellend herausstellten. Diese sind genauso stark wie die Differenzen zwischen den beiden Philosophen. Adorno war der Auffassung, durch immanente Kritik in Kants Philosophie Lehren entdecken zu können, die möglicherweise in eine materialistische Richtung gewendet und für seine eigenen Zwecke mobilisiert werden könnten. Wie wir gesehen haben, interessierte er sich dabei vor allem für die kantische Doktrin vom Ding an sich als Markierung der Grenzen der subjektiven Vernunft. In die Sprache des Materialismus übersetzt, wurde das Ding an sich in seiner Philosophie zu einem Modell für das Nichtidentische, jene innerweltliche Objektivität, die sich der subjektivistischen Reduktion widersetzt. An diesem philosophischen Erbe lassen sich nun bereits die Umrisse einer neuen moralischen Haltung ausmachen: Die Doktrin vom Ding an sich kann, wenn sie dialektisch umstrukturiert wird, als eine Lektion in epistemischer Bescheidenheit fungieren. 25 Adorno war allerdings auch sehr an Kants praktischer Philosophie interessiert. Die metaphysischen Ideen, die Kant zu Postulaten der praktischen Vernunft umdeutete, wurden von ihm in das materialistische Motiv des Glücks als des höchsten Guts oder summum bonum transformiert, das aller gesellschaftskritischen Praxis zugrunde liege. 26 Die bemerkenswerteste Affinität der beiden Denker ist jedoch möglicherweise die, die erst auf den letzten 25 Daher rührt auch Adornos bemerkenswerter Kommentar, dass zu unseren moralischen Reflexionen »vor allem das Bewußtsein der eigenen Fehlbarkeit« gehöre, woran er anschließt: »[W]enn man mich pressen würde, nach dem alten antiken Gebrauch die Kardinaltugenden zu nennen, würde ich wahrscheinlich und nun allerdings recht hintersinnig keine andere zu nennen wissen als die Bescheidenheit« (NGS, Abt. IV, Bd. 10, S. 251f.; meine Hervorhebungen, P. G.). 26 Genauere Ausführungen zu Adornos Auffassung der kantischen Postu-

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Seiten der Negativen Dialektik auftaucht, wo ihr Verfasser das dringende Bedürfnis nach einem »neuen kategorischen Imperativ« verkündet. Auch hier glaubt er, ein Thema der Philosophie Kants mobilisieren zu können, auch wenn er es in die Sprache des Materialismus übersetzt: »Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nicht Ähnliches geschehe.« 27 Dabei erweist er der ursprünglichen Kant’schen Idee einer moralischen Verpflichtung seine Reverenz, indem er darauf pocht, dass jener neue Imperativ die Form eines wahrhaften Universalismus besitzen müsse. Denn das negative Gebot wird ja nicht einzelnen Individuen, sondern allen Menschen auferlegt. Und diese Universalität ist nur deshalb möglich, weil »Auschwitz« zu weit mehr als nur dem Namen für ein einzelnes Ereignis wird: Für Adorno bezeichnet er auch alle ähnlichen Gräueltaten, von denen keine das finstere Prestige der Unvergleichbarkeit für sich in Anspruch nehmen kann. Allerdings weigert er sich, auch Kants weitergehende Prämisse zu akzeptieren, dass der moralische Imperativ nur dann auf ein sicheres Fundament gestellt werden könne, wenn er eine rational-begriffliche Form annehme. Jener neue Imperativ ist ihm zufolge nämlich zu »widerspenstig« für eine solche »Begründung«. Adorno geht sogar so weit, zu behaupten, dass wir uns der Forderung nach rationalen Begründungen schlechthin widersetzen sollten, da es bereits ein »Frevel« sei, diesen Imperativ »diskursiv« zu behandeln. Dies würde nämlich eine scharfe Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und sinnlicher Erfahrung voraussetzen, so als sei die nackte Tatsache des menschlichen Leidens an sich noch nicht genug, um unsere moralische Empörung late finden sich in J. M. Bernstein, Adorno. Disenchantment and Ethics, Cambridge 2001. 27 GS 6, S. 358 (meine Hervorhebung, P. G.).

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zu erregen. Adorno weist diese rationalistische Bedingung also zurück und besteht darauf, dass sich der Impuls zur Moral anfangs als etwas Nichtdiskursives und sogar »leibhaft« präsentiere und die materialisierte »Abscheu vor dem unerträglichen physischen Schmerz« sei. Damit übersetzt er Kants diskursive Formulierung einer universellen Moral in die Sprache des Materialismus. Denn sobald die »Begründung« ihre Legitimität einmal verloren hat, ist alles, was uns noch bleibt, das bloße Faktum der materiellen Erfahrung, weshalb ihm zufolge gilt: »Nur im ungeschminkt materialistischen Motiv überlebt Moral.« 28 Das spezifische Begründungsproblem im Rahmen moralphilosophischer Überlegungen macht uns auf eine grundsätzliche Frage aufmerksam: Lässt die moderne Philosophie überhaupt noch die Möglichkeit von Begründungen zu? Es ist gewiss naheliegend, Adorno im Umfeld anderer Denker der Moderne zu verorten, die sich der von Nietzsche übernommenen Einsicht verschrieben hatten, nach der die Philosophie mittlerweile von all ihren fundamentalistischen Gewissheiten befreit sei. Und wie ich oben ausgeführt habe, ist es tatsächlich plausibel, ihn zumindest in bestimmten Hinsichten als antifundamentalistischen Denker anzusehen. Schließlich betrachtet er die Metaphysik als eine philosophische Tradition, die ein ungerechtfertigtes Vertrauen in die Einheit und Verstehbarkeit der Welt gesetzt habe, und ist der Meinung, dass durch die geschichtliche Katastrophe von dieser Tradition heute nichts als Ruinen übrig seien. Wenn wir aber erkennen wollen, was an seinem Denken wirklich besonders ist, dann ist die Bezeichnung »Antifundamentalismus« viel zu weitgefasst, um uns in dieser Hinsicht von Nutzen sein zu können. Wir müssen allermindestens zwischen Antifundamentalismus und Antihumanismus differenzieren. Denn obwohl Adorno mit anderen modernen Antifundamentalisten eine allgemeine Skepsis dem Versuch gegenüber teilt, 28 Ebd.

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unsere Wissensansprüche und unsere Moral in einer unwandelbaren oder metaphysischen Grundlage zu verankern, so löscht diese Skepsis doch seinen Glauben an das humanistische Subjekt nicht aus. Es ist zwar zutreffend, dass er diesem Subjekt die Illusion seiner Selbstbegründung vorenthalten will, da er es nicht als Grund, sondern als das Auftun einer Nichtidentität begreift, die seine Macht übersteigt. Dennoch verlässt er das Terrain des humanen Subjekts aber auch nie zur Gänze, sondern mobilisiert vielmehr die Energien kritischer Subjektivität, um seine Autorität von innen her herauszufordern. In dieser Hinsicht müssen wir Adorno scharf von Heidegger abgrenzen, der sich besonders nach dem Zweiten Weltkrieg vom Humanismus distanziert und ihn nur noch als ein finales Kapitel in der Geschichte der metaphysischen Irrtümer betrachtet hatte. Allerdings zog er die falschen Schlüsse aus dem Antifundamentalismus: In seinen früheren Arbeiten zur Existentialontologie ist die Entdeckung, dass das Dasein keinen anderen Grund als den Abgrund hat, noch der Anstoß für eine transformative Angst, die den Menschen dazu bewegt, sich der Endlichkeit seiner eigenen Existenz mit noch größerer Entschlossenheit zu stellen. Die Philosophie des Antifundamentalismus, die den Menschen zu einer Erfahrung größerer Offenheit und Responsivität für das Leiden der anderen hätte erwecken können, verhärtet ihn nur gegenüber der Welt und endet in einer leeren Ethik der Selbstaffirmation. Der frühe Heidegger schreibt dem Sein zum Tode als der individuierenden oder »nichtrelationalen« Antizipation des Todes die höchste normative Bedeutung zu. Vor allen anderen verspricht es diese Kategorie, das Dasein in seiner unvermeidlichen Endlichkeit, seinem »Sichhineinhalten in das Nichts« zu offenbaren, so als sei dies die essenzielle Verfasstheit eines Wesens, dem es an jeglicher Essenz fehlt. Ein Tod jedoch, der eine solche Verwandlung durchläuft, wird klinisch rein – ein bloßes Mittel zum Zweck der ontologischen Erkenntnisgewinnung, das wenig gemein hat mit der 425

Erfahrung, die er benennen soll. Obwohl er vieles über die Bedeutung des Todes zu sagen hat, erwähnt Heidegger die Tatsache unseres materiellen Leidens fast nie. Statt unsere Vulnerabilität anzuerkennen, preist er lieber die augenöffnende Wahrheit des Seins zum Tode an, dem das Dasein überantwortet sei und das den Menschen auf »die Härte seines Schicksals« zurückwerfen werde.29 In seinen späteren Werken versuchte Heidegger, das anthropozentrische Thema des Daseins ganz zu umschiffen, und nimmt die schwermütige Pose eines Weisen an, der kaum mehr tun kann, als die Durchgangsstationen auf dem Irrweg des Daseins zu dokumentieren. Er versichert uns zwar, dass das Vorhaben, den metaphysischen Humanismus zu überwinden, nicht zur Inhumanität führe, doch bleiben dem Seinsphilosophen nur wenig Ressourcen übrig, mit denen er die eigentliche Bedeutung jener Verbrechen gegen die Menschlichkeit hätte erfassen können, die er nie explizit verurteilt hat. Statt aber das gewaltige Ausmaß seines eigenen Fehlers anzuerkennen, geht er sogar so weit, die Opfer selbst zu beschuldigen und deren Ermordung zu ihrer »Selbstvernichtung« umzudeuten.30 Adorno interpretiert die Gräueltaten des 29 Martin Heidegger, zit. nach Kant und das Problem der Metaphysik, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 3, Frankfurt/M. 1991, S. 72, sowie »Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger«, in: ebd., S. 274297, hier S. 291. Zu einer Rekonstruktion und Analyse der Disputation und einer Untersuchung speziell dieser Bemerkung siehe Peter E. Gordon, Rosenzweig and Heidegger. Between Judaism and German Philosophy, Berkeley 2003, S. 287. 30 Martin Heidegger, »Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942-1948)«, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 97, Frankfurt/M. 2015, S. 20. Siehe auch Peter Trawny, Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Frankfurt/M. 2015. Ein exzellenter Kommentar zu Trawnys Interpretation stammt von Taylor Carman, online verfügbar unter 〈https://ndpr.nd.edu/reviews/ heidegger-and-the-myth-of-a-jewish-world-conspiracy/#_ednref〉, letzter Zugriff 10. 3. 2023. Zu einer Auswahl von kritischen Aufsätzen dazu siehe Andrew Mitchell, Peter Trawny (Hg.), Heidegger’s Black Notebooks. Responses

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Krieges hingegen als das Herzstück einer neuen Moralphilosophie, in der das handfeste Leiden zu dem negativen Maßstab wird, an dem sich alles mögliche Glück fortan messen lassen muss. Sein neuer kategorischer Imperativ kann zum Teil auch als eine Erwiderung auf Heidegger gelesen werden: Dialektik ersetzt Ontologie, und »Denken« verliert sein pseudotheologisches Prestige als abstrakte Praxis des Sinnierens über die Offenbarungen des Seins. Stattdessen werden wir dazu aufgefordert, nicht nur unser Denken, sondern auch unser Handeln so einzurichten, dass sich ähnliche Taten nie wiederholen. Die spezifische Frage einer »Ethik nach Auschwitz« wirft auch noch eine umfassendere philosophische Schwierigkeit auf, von der ich dachte, dass es am besten wäre, sie für den Schluss dieses Buchs aufzuheben. Bis hierher war ich darum bemüht, die Ansicht zu verteidigen, dass Adorno einen maximalistischen Maßstab für Glück oder menschliches Gedeihen vertreten hat, und ich habe ferner behauptet, dass dieser Maßstab als ein Postulat für seine Gesellschaftskritik notwendig ist. Man kann sich nun allerdings leicht den folgenden Einwand vorstellen: »Sie wollen also sagen, dass Adorno sich – wie mittelbar auch immer – auf eine implizite und weithin kontrafaktische Vision des guten Lebens, des richtigen Lebens, eines versöhnten Zustands und so weiter beruft. (Wie Sie selbst zugeben, ist seine Wortwahl stets auffallend vage, wenn es um diese Verhältnisse geht, aber sehen wir über dieses Problem einmal hinweg.) Der generellere philosophische

to Anti-Semitism, New York 2017, sowie Peter E. Gordon, »Heidegger in Black«, in: The New York Review of Books, 9. Oktober 2014. Den Versuch, einen Überblick darüber zu geben, wie Heideggers Philosophie sich immer noch kritisch aneignen lassen könnte, habe ich unternommen in »The Critical Appropriation of Heidegger’s Philosophy. Five Motifs«, in: Gregory Fried, Richard Polt (Hg.), After Heidegger?, London, New York 2017, S. 29-40.

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Vorbehalt im Hinblick darauf lautet jedenfalls, dass ›Nie wieder Auschwitz‹ als ethischer Maßstab viel zu dünn ist, um die Arbeit leisten zu können, die es dafür bräuchte, uns etwas so Reichhaltiges wie das menschliche Gedeihen zu verschaffen. Adornos ›neuer kategorischer Imperativ‹ hat tatsächlich allem Anschein nach überhaupt keinen positiven Inhalt irgendeiner Art. Er mag uns sagen, was wir nicht tun sollen, aber hält für uns keinerlei substanzielle Vorschriften in Bezug darauf bereit, was wir sehr wohl tun sollten. Selbst wenn man mit aller Macht versuchen würde, ihm irgendeine positive Aussage abzuringen, so scheint es immer noch recht offensichtlich zu sein, dass er uns kaum mehr als das absolute Minimum oder eine bloße Grundlinie für unser moralisches Verhalten an die Hand geben könnte. Und dass dieses Minimum weit hinter jedem Begriff vom guten oder richtigen Leben zurückbleibt, liegt doch auf der Hand, oder? Denn eine Ethik nach Auschwitz hat ja jenseits dieser Grundlinie nichts mehr zu sagen und kann uns keine weitere Orientierung dafür geben, wie unser Leben strukturiert sein sollte. Trotz all Ihrer Bemühungen darum, einen substanziellen Maßstab des Guten aus Adornos Philosophie zu extrahieren, sieht die ethische Forderung ›Nie wieder Auschwitz‹ doch ziemlich dürftig aus. Und warum ist sie eigentlich nicht die perfekte Illustration gerade für die negativistische Interpretation seiner Philosophie? Um das Problem auf den Punkt zu bringen: Wie könnte eine solche minimalistische Moral den maximalistischen Maßstab eines menschlichen Gedeihens informieren?« Auf den ersten Blick sieht dieser Einspruch sicherlich überzeugend aus. Deshalb ist es wichtig, dass ich genau erkläre, wo er fehlgeht. Wäre er nämlich zutreffend, dann sollten wir in der Lage sein, zwischen zwei ethischen Aufgaben zu unterscheiden. Die erste würde darin bestehen, dass wir für die Befriedigung der absoluten moralischen Minimalstandards sorgen, um unsere Welt so einzurichten, dass solche Ereignisse wie Auschwitz künftig ver428

hindert werden, und die zweite darin, die Welt auf eine viel dramatischere und radikalere Weise umzugestalten, um den Zustand menschlichen Gedeihens herbeizuführen. Der obige Einwand unterstellt, dass es sich hierbei um zwei getrennte Aufgaben handelt; ihm liegt die Annahme zugrunde, dass die Aussicht auf jenes menschliche Gedeihen substanzielle und spezifische moralische und politische Voraussetzungen hätte, die weit über das rudimentäre Minimum der Verhinderung einer erneuten Menschheitskatastrophe hinausgehen. Doch diese Annahme weist Adorno rundheraus zurück. Er sieht im Gegenteil eine wesentliche Kontinuität zwischen den alltäglichen Gegebenheiten der modernen Zivilisation und den extremen Gegebenheiten, die Auschwitz überhaupt erst möglich gemacht haben. 31 Die bürgerliche Gesellschaft enthält für ihn bereits die »latent[e] Gewalttat«, die sich jederzeit von ihren brüchigen Fesseln befreien und in offene Barbarei umschlagen kann. 32 Diese Überzeugung von der starken Kontinuität zwischen der »normalen« bürgerlichen Gesellschaft und der faschistischen Katastrophe kann uns nun dabei helfen, seine eher extravagante Thesen über jenen Faschismus zu würdigen, der in unserem alltäglichen Verhalten steckt – etwa die, dass selbst in den simpelsten Mechanismen, deren wir uns zum Öffnen von Fenstern und Türen bedienen, »schon das Gewaltsame, Zuschlagende, stoßweis Unauf31 Siehe zu diesem Thema den hervorragenden Überblicksartikel von Lars Fischer, »The Frankfurt School and Fascism«, in: Beverly Best u. a. (Hg.), The Sage Handbook of Frankfurt School Critical Theory, London 2018, S. 799-815. Fischer behauptet darin, dass die frühen kritischen Theoretiker ihre beiden gleich starken, sich aber widersprechenden Deutungen nicht gänzlich in Einklang bringen konnten und den Faschismus demnach gleichermaßen als »den Extremfall der verwalteten Welt« und aber auch als »das dysfunktionale Andere der verwalteten Welt« betrachtet hätten (ebd., S. 812). 32 GS 4, S. 51.

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hörliche der faschistischen Mißhandlungen« liege. 33 Adorno zeigt sich wenig beeindruckt von den selbstzufriedenen Ideologen der liberalen Demokratie, die sich mit dem Gedanken trösten, man könne den Faschismus als bloße Anomalie oder als Abweichung vom eigentlichen Pfad der Geschichte ansehen. Anders als die theoretischen Vertreter des sogenannten Sonderwegs beharrt er stattdessen auf der wechselseitigen Komplizenschaft von Faschismus und vermeintlich »normaler« bürgerlicher Moderne und urteilt deshalb auch: »Daß der Faschismus nachlebt […], rührt daher, daß die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die den Faschismus zeitigen.« 34 Es wäre mithin verfehlt, Adorno den beruhigenden Gedanken zuzuschreiben, dass man eine starke Unterscheidung zwischen den Bedingungen für den Faschismus und denen für die moderne bürgerliche Gesellschaft vornehmen könnte. Im Gegenteil: Er betrachtet sie als sich wechselseitig überlappend, und wir könnten sogar sagen, dass dies nur eine Instanz der generelleren These darstellt (wie sie in der Dialektik der Aufklärung und anderenorts ausgearbeitet worden ist), nach der die Bedingungen für den Zivilisationsbruch und die Barbarei bereits in der bürgerlichen Moderne selbst angelegt sind. Haben wir diese These von der wechselseitigen Überlappung aber einmal akzeptiert, dann wird es viel schwieriger für uns, uns auszumalen, wie wir die moralischen Grundbedingungen erfüllen könnten, die der Katastrophe vorbeugen würden, ohne damit zugleich eine vollkommene Transformation der Verhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt zu bewirken. Für Adorno ist »Auschwitz« schlicht der Name für eine konstitutive Möglichkeit, die dieser Gesellschaft innewohnt. Die Bedingungen zu eliminieren, die Auschwitz möglich gemacht haben, würde es daher erfordern, dass wir auch jene grundlegenden Merkmale der 33 Ebd., S. 44. 34 GS 10.2, S. 566.

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bürgerlichen Gesellschaft angehen, die sie für solche barbarischen Folgen überhaupt erst anfällig gemacht haben. Der von mir oben paraphrasierte Einwand beruht folglich auf einer fehlerhaften Annahme über Adornos Deutung der »normalen« Gesellschaft, wie wir sie nennen könnten. Denn wie sich zeigt, bezeichnet die Forderung »Nie wieder Auschwitz« etwas weitaus Substantielleres als nur einen minimalistischen Maßstab für moralisches Verhalten. Sind wir nämlich moralisch dazu verpflichtet, »unser Denken und Handeln so einzurichten«, dass sich Auschwitz nicht wiederholt, dann ist so eine Verpflichtung alles andere als minimal. Sie erlegt uns vielmehr außerordentlich strenge Anforderungen auf, die wiederum maximalistische Implikationen für die Art und Weise haben, wie wir sowohl unser individuelles als auch unser gemeinschaftliches Leben organisieren. Und die einzige Art von Gesellschaft, die wirklich immun gegen die Gefahr einer neuerlichen Barbarei wäre, wäre eine, in der es uns letztlich möglich ist, als wahrhaft menschliche Wesen zu gedeihen.

Antihumanismus und Genealogie Das Schlagwort vom »Antihumanismus« taucht in der modernen französischen Philosophie im Kontext politisch aufgeladener Debatten um das Nachleben Nietzsche’scher und Heidegger’scher Motive nur allzu häufig auf. In diesen Kontroversen spielte Adorno nur eine winzige Nebenrolle, da er die wesentlichen Topoi seiner negativen Dialektik in einem deutschen kulturellen und philosophischen Klima entwickelt hatte, das immer noch relativ immun war gegen die nouvelle vague jener antihumanistischen Philosophie, die im Frankreich der Nachkriegszeit eine besonders prominente Rolle erlangen sollte. Trotzdem ist die Frage erlaubt, ob wir irgendeine Lehre aus dem Vergleich zwischen seinem Denken und dem Michel Foucaults ziehen können. Zum Abschluss dieses Buchs 431

möchte ich einen kurzen Kommentar dazu abgeben, warum mir dieser Vergleich philosophisch irreführend erscheint. Meine Bemerkungen mögen an dieser Stelle deplatziert wirken, aber ich hoffe dennoch, dass dieser Vergleich noch weiteres Licht darauf wirft, was Adornos eigene Philosophie eigentlich wirklich auszeichnet. 35 Konkret besteht meine Absicht hier darin, eine wichtige Differenz in Bezug auf das Problem der Normativität herauszustreichen. Adorno starb 1969 und Foucault im Jahr 1984. In dem mittlerweile fast halben Jahrhundert seit seinem Tod gewann Foucaults Denken extrem an Popularität, nicht zuletzt deshalb, weil er dazu beigetragen hatte, einem genuin emanzipatorischen Denkstil den Weg zu ebnen, der die besten Einsichten sowohl von Nietzsche als auch von Heidegger übernahm, ohne deren Fehler zu wiederholen. Anders als seine Vorläufer ist Foucault nämlich weder an dem Heroismus einer grundlosen Existenz noch an der Wiederherstellung eines halb in Vergessenheit geratenen »Seinsverständnis« interessiert. Der frühe Foucault ist allen metaphysischen oder naturalisierenden Behauptungen gegenüber misstrauisch. Er setzt den Historismus im Dienst einer »Archäologie« ins Werk und stellt damit die geschichtliche Wandelbarkeit und Kontingenz aller epistemischen und institutionellen Regime heraus. In Die 35 Zu vergleichenden Betrachtungen von Adorno und Foucault siehe Deborah Cook, Adorno, Foucault, and the Critique of the West, London, New York 2018, und Amy Allen, Das Ende des Fortschritts. Zur Dekolonisierung der normativen Grundlagen der kritischen Theorie, Frankfurt/M. 2019. Einen hervorragenden Versuch, zwischen kritischer Theorie und Genealogie zu vermitteln, leistet Colin Koopman,Genealogy as Critique. Foucault and the Problems of Modernity, Bloomington 2013. Siehe dazu auch Christoph Menke, »Genealogie und Kritik. Zwei Formen ethischer Moralbefragung«, in: Nietzscheforschung 5/6 (2000), S. 209-226. Eine vorzügliche Aufsatzsammlung zum Thema Adorno und Postmoderne hat Max Pensky herausgegeben: ders. (Hg.), The Actuality of Adorno. Critical Essays on Adorno and the Postmodern, Albany 1997.

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Ordnung der Dinge von 1966 geht er sogar so weit, selbst das humanistische Subjekt zu historisieren, das in der Moderne als die transzendentale Grundlage allen Wissens fungiert hat, und sagt ein neues Zeitalter voraus, in dem »der Mensch verschwinden wird wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand«.36 (Die verwirrende Frage, wie das Phänomen eines Bedeutungsrahmens überhaupt zustande kommen könnte, wenn es aus seinen eigenen Möglichkeitsbedingungen herausgerissen wird, erhält dabei allerdings keine befriedigende Antwort.) Und diese historisierende Demontage des transzendentalen Humanismus setzt sich bis weit in die spätere Phase seiner Laufbahn fort, als er die Wende von der Archäologie zur Genealogie vollzieht. 37 Diese neue Methode lässt konventionelle Impulse humanitärer Weltverbesserung plötzlich fremdartig erscheinen und zwingt uns dazu, uns der fortwährenden Komplizenschaft von Wissen und Macht zu stellen. In klassischen Werken wie Überwachen und Strafen (1975) unternimmt Foucault eine neue Darstellung des Projekts der Aufklärung, und zwar aus der ernüchterten Perspektive eines Genealogen, der erkennt, dass die Normen der Befreiung zugleich Strategien zur Disziplinierung 36 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M. 1974, S. 462. Das französische Original erschien 1966. 37 Philosophische Betrachtungen zur Genealogie und ihrer Bedeutung finden sich in Raymond Geuss, »Nietzsche and Genealogy«, in: ders., Morality, Culture, and History. Essays on German Philosophy, Cambridge, New York 1999, S. 1-28; siehe ferner die Beiträge Richard Schacht (Hg.),Genealogy, Morality, History. Essays on Nietzsche’s On the Genealogy of Morals, Berkeley 1994, sowie Wendy Brown, »Politics without Banisters. Genealogical Politics in Nietzsche and Foucault«, in: dies., Politics Out of History, Princeton 2001, S. 91-120, Michel Foucault, »Nietzsche, Genealogy, History«, in: Donald F. Bouchard (Hg.), Language, Counter-Memory, Practice. Selected Essays and Interviews by Michel Foucault, Ithaca 1977, S. 139-164, und David Garland, »What is a ›History of the Present‹? On Foucault’s Genealogies and their Critical Preconditions«, in: Punishment and Society 16:4 (2014), S. 365-384.

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und Überwachung sind. 38 Die Gefängnisreform wird somit nur zu einem weiteren Vorkommnis im Rahmen dieses ironischen Narrativs: Was einst wie ein bloß mildtätiger Akt gewirkt haben mag, mit dem der sozialen Disziplinierung Grenzen gesetzt werden sollten, wird hier nun als eine List zur Ausweitung ihrer anonymen Macht enttarnt. In seinen späten Werken wie etwa Sexualität und Wahrheit von 1984 wendet Foucault diese genealogische Methode dann auch auf den Genozid selbst an. Staatliche Kampagnen zur Kontrolle oder Ausrottung ganzer Bevölkerungen erscheinen in diesem Bild jedoch nicht mehr als katastrophische Zivilisationsbrüche, sondern werden zu Instanzen einer »Bio-Politik« umgedeutet, die in allen modernen Gesellschaften als Teil ihres vermeintlich normalen Gangs steckt. 39 Foucault ist immer dann am besten, wenn er seinen Historismus für die Zwecke einer Verfremdung geschichtlicher Beschreibungen einsetzt, die Normativität als Macht enttarnen. Daher verwirft er alle expliziten normativen Festlegungen, sofern sie ebendieser Demaskierungsstrategie mit Sicherheit ebenfalls zum Opfer fallen würden. Dennoch übernimmt er von Nietzsche zumindest einen impliziten Maßstab anarchischer Freiheit, während er alle übrigen als bloße Zwänge betrachtet, die das menschliche Subjekt nur von der Praxis des endlosen Experimentierens und der Selbsterfindung abhalten würden. Und obwohl auch dieser letzte Maßstab noch als Macht enttarnt werden könnte – eine selbstreflexive Geste, die Nietzsche begrüßt hätte –, hielt sich 38 Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1976. Das französische Original erschien 1975. 39 Ders., Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M. 1987 (das französische Original erschien 1984; siehe darin besonders das Kapitel »Recht über den Tod und Macht zum Leben«, S. 129-153. Eine Analyse dazu findet sich in Alan Milchman, Alan Rosenberg, »Michel Foucault, Auschwitz and Modernity«, in: Philosophy and Social Criticism 22:1 (1996), S. 101-113.

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Foucault lange von der Aufgabe fern, zu erklären, warum die Selbsterfindung die bessere Alternative darstellen würde (obgleich es recht eindeutig ist, dass er sie präferierte). Die Frage der Selbstreflexivität bleibt also unbeantwortet: Foucault betreibt seine Genealogie in einem Geiste der Emanzipation, weigert sich aber, anzugeben, wo er selbst in der von ihm beschriebenen Welt zu verorten wäre. Für ihn ist dies eine Frage im Sinne »eine[r] Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere«. 40 Das ist nun aber gewiss keine adäquate Antwort. Eine Gesellschaftstheorie, die ihre eigenen kritischen Absichten nicht zu erklären vermag, gerät zwangsläufig in ernsthafte philosophische Schwierigkeiten, wenn sie uns dazu auffordert, die soziale Welt in ihrer Gesamtheit als analog zu einem Gefängnis zu betrachten, in dem das einzig vorhandene Licht nur ein Instrument pausenloser Überwachung ist. Soll die genealogische Beschreibung jedoch als kritische Strategie fungieren, dann muss es dem Kritiker oder der Kritikerin zumindest möglich sein, sich auf irgendeine (auch völlig kontrafaktische) Freiheitsnorm zu berufen, die nicht bloß als eine weitere Manifestation der »karzeralen Gesellschaft« gelten würde. Foucault hat aber keine solche Norm anzubieten. 41 Stattdessen pocht 40 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1981, S. 30 [konziser an dieser Stelle ist die englische Übersetzung dieses Buchs, wo es heißt, dass es »den Bürokraten und der Polizei überlassen bleiben sollte, sich darum zu kümmern, dass unsere Papiere in Ordnung sind«; ders.,The Archaeology of Knowledge, New York 1972, S. 17; Anm. d. Ü. ]. 41 Umsichtige Kommentare zu diesem Problem sind enthalten in David Owen, »Kritik und Gefangenschaft. Genealogie und Kritische Theorie«, in: Axel Honneth, Martin Saar (Hg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt/M. 2003, S. 122144. Owen behauptet dort, dass die generell feindselige Haltung der kritischen Theoretiker gegenüber Foucaults genealogischer Praxis auf einem Missverständnis fuße, da dieser gar keine Ideologiekritik habe betreiben wollen. Nach Owen sollten wir ihn eher so verstehen, dass er uns eine Einsicht in die »Grenzen eines Bildes« gibt und die Arbeit der historisierenden Genealo-

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er darauf, dass Macht allgegenwärtig und schöpferisch sei; soziale Disziplinierung ist demnach nicht bloß eine Herrschaftstechnik, sondern bringt ihre Gegenstände überhaupt erst in die Welt. Und durch diese Verwischung der Grenzen zwischen Macht und Ontologie kann er die extravagante Schlussfolgerung ziehen, dass jene Disziplin die menschlichen Subjekte, auf die ihr Blick primär gerichtet ist, in Wirklichkeit erst erzeugt. 42 Dies bringt ihn jedoch in die paradoxe Situation, nicht mehr erklären zu können, warum irgendeine spezielle Form von sozialer Disziplinierung kritikwürdiger sein könnte als andere. Die Instrumente der Gesellschaftsbeschreibung haben kein Wahrheitsmoment, das auch nur teilweise über die Grenzen ihres Wirkungskreises hinausgehen könnte. Unterhalb der Macht-Netzwerke können wir kein schon gie darin besteht, »daß andere ihre konkurrierenden Bilder anbieten«, man dadurch »die Begrenztheit des eigenen Bilds« sieht »und darüber hinaus erkenn[t], in welcher Hinsicht es die Selbstregierung blockiert« (ebd., S. 142). Mit dieser Deutung von Foucaults Vorhaben bin ich zwar einverstanden, doch die Argumentation in Bezug auf die »Selbstregierung« bleibt unklar und entbehrt normativer Motivation. Denn wie sollten wir die Selbstregierung von anderen Gouvernementalitätsmodi abgrenzen, ohne dabei zumindest eine minimale Unterscheidung zwischen dem Subjekt und seiner gesellschaftlichen Konstitution vorzunehmen? Wenn Foucault jegliches normative Vokabular grundsätzlich ablehnt, dann kann er nicht mehr erklären, warum die bloße Tatsache, dass ein Bild begrenzt ist, schon als Kritik gelten sollte. Vermutlich nimmt er ja an, dass alle Bilder begrenzt sind. Aber selbst dann müsste er immer noch irgendwie begründen, warum wir das eine Bild dem anderen vorziehen sollten. 42 Natürlich ist es eine Sache, zu behaupten, dass Menschen als x oder y bekannt sind, aber etwas ganz anderes, zu sagen, dass sie schlicht x oder y sind. Ian Hacking hat diese stärkeren Begrifflichkeiten der Ontologie (zu der Ausdrücke wie »real« und so weiter gehören) als »Hebewörter« [elevator words] bezeichnet. Es ist allerdings zu bezweifeln, ob Foucault philosophisch tatsächlich auf jene stärkere These festgelegt ist. Siehe Ian Hacking, Was heißt ›soziale Konstruktion‹? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften, Frankfurt/M. 1999, S. 43-45.

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vorher existierendes Subjekt des Begehrens und Leidens ausmachen, das danach ruft, aus ihrer unverlangten Kontrolle befreit zu werden. Das durch die soziale Disziplinierung überhaupt erst etablierte Subjekt würde im Moment seiner Befreiung also schlicht verschwinden. Adorno hingegen ist gegen dieses Paradox immun. Einerseits widersetzt er sich vehement dem aufgeblasenen Begriff vom Subjekt als eines Willens zur Macht, lässt sich andererseits aber auch niemals von der krypto-metaphysischen These verführen, der zufolge das menschliche Subjekt als solches vollständig durch soziale Arten von Disziplinarwissen konstituiert wird. An keiner Stelle seines Werks lässt er sich zu dem Gedanken hinreißen, dass es schon für seine schlichte Existenz auf gesellschaftliche Wissensstrategien angewiesen sei, so als wäre es nicht mehr als der brüchige Faden in einem von anonymen Kräften gesponnenen Spinnennetz. Anders als Foucault will er das humanistische Subjekt aber auch nicht überwinden oder es als bloße metaphysische Täuschung enttarnen. Ihm geht es lediglich darum, seinen Vorrang, das heißt seine Vorherrschaft über die materielle Welt zu kritisieren. Diese kritische Aufgabe geht er allerdings vom Inneren des Erfahrungshorizonts des Menschen her an, ohne seine grundlegende Realität in Frage zu stellen. Seit dem Beginn seiner philosophischen Laufbahn hatte sich Adorno eigentlich nur einer einzigen Aufgabe verschrieben, nämlich »mit der Kraft des Subjekts den Trug konstitutiver Subjektivität zu durchbrechen«.43 Und wenn er mit diesem Bemühen Erfolg hat, dann deshalb, weil er an der Wirklichkeit des menschlichen Subjekts festhält, und das auch noch während er dessen Ansprüche auf Weltbeherrschung kritisiert. Das ist es, was ich als Adornos philosophische Anthropologie bezeichnet habe: Der Mensch, so wie er ihn auffasst, hat sowohl Materialität als

43 GS 6, S. 10.

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auch innere Tiefe; sein Leiden ist nicht weniger real als sein Verlangen nach Glück. Hier sind wir nun bei der entscheidenden Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Philosophen angelangt: Anders als Adorno treibt Foucault das Projekt der genealogischen Demontage nämlich bis zu seinem antirealistischen Ende voran, an dem jeder Glaube an das Subjekt als natürliches Wesen suspendiert wird. Das Subjekt, wie Foucault es versteht, wird nicht geboren, sondern geschaffen, ein reiner Nomos ohne Physis. Diese These von der totalen sozialen Konstitution hat jedoch nichts Überzeugenderes zu bieten als eine poststrukturalistische Reprise eines vorkritischen Idealismus. Bischof Berkeley glaubte, er könne die Wirklichkeit Gottes auf das berühmt-berüchtigte Diktum esse est percipi (»Sein ist Wahrgenommenwerden«) stützen; Foucault seinerseits streicht zwar die Gottesidee, beharrt aber auf dem Gedanken der Subjektkonstitution unter dem gesellschaftlichen Blick mit seiner allwissenden Macht und meint, die Realität des menschlichen Subjekts damit aufgelöst zu haben: Gesehenwerden heißt Sein. 44 Adorno hingegen widersetzt sich dieser idealistischen Wendung. Als Materialist, der immer noch das bedrängte und vulnerable Moment der Natur in der menschlichen Natur erkennt, sieht er, dass die Welt ihre Nichtidentität behält und nicht von den Schemata abhängt, durch die sie gewusst wird. Er beharrt also auf der dialektischen Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt und weigert sich, eines von beiden als Ausfluss des anderen zu betrachten. 45 Um zu verdeutlichen, was bei der philosophischen Uneinig44 Zu einer Kritik an Foucaults antirealistischen Gesten siehe Peter E. Gordon, »Agonies of the Real. Anti-Realism from Kuhn to Foucault«, in: Modern Intellectual History 9:1 (2012), S. 127-147. Zu den Spielarten des Antirealismus in der kontinentalen Philosophie siehe die genaue und umfassende Studie von Lee Braver, A Thing of This World. A History of Continental Anti-Realism, Evanston 2007. 45 Es könnte relevant sein, anzumerken, dass Foucault im Jahr 1983 in einer

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keit zwischen Adorno und Foucault wirklich auf dem Spiel steht, könnte es schon ausreichen, auf die sehr unterschiedlichen Konzeptionen des Gefängnisses einzugehen, die die beiden Autoren vertreten. In Foucaults karzeraler Gesellschaft lässt sich kaum sinnvoll danach fragen, ob wir in ihr eine immanente Quelle von Normativität aufspüren können; das Licht, das im Inneren der Gefängnismauern erscheint, fungiert nur als ein alles durchBefragung einräumte, dass er einiges von der kritischen Theorie hätte lernen können: »Wenn ich die Verdienste der Philosophen der Frankfurter Schule anerkenne, so tue ich es mit dem schlechten Gewissen von jemanden, der ihre Bücher früher hätte lesen, sie früher hätte verstehen sollen. Hätte ich ihre Bücher gelesen, so hätte ich eine Menge Dinge nicht sagen müssen, und mir wären Irrtümer erspart geblieben« (Michel Foucault, Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori, Frankfurt/M. 1996, S. 82). Dieses Zugeständnis ist nicht zuletzt deshalb interessant, weil es noch einmal die Frage danach aufwirft, wie die erste Generation der kritischen Theorie eigentlich verstanden werden sollte. Wollte Foucault damit sagen, dass Adorno und Kollegen Verbündete bei der Erschaffung einer normativ indifferenten Genealogie waren, die die dialektische Differenz zwischen Subjekt und Objekt in sich zusammenfallen lässt? Oder wollte er im Gegenteil implizieren, dass er seinen eigenen Irrweg einer totalisierenden Vernunftkritik hätte vermeiden können, die die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit in der von ihr beschriebenen Gesellschaft nicht erklären kann? Da Foucault nicht näher auf die Bedeutung dieser ausgebliebenen Begegnung eingeht, können wir nur spekulieren, ob er in der kritischen Theorie ein Spiegelbild oder nicht doch vielmehr ein heilsames Korrektiv für sein eigenes philosophisches Unternehmen erblickt hätte.Wichtige Kommentare zum kritischen Potenzial in Foucaults Werk finden sich beispielsweise in Koopman, Genealogy as Critique. Axel Honneth legt eine in meinen Augen endgültige Einschätzung vor, wenn er über Foucaults späte Schriften schreibt: »[I]m ganzen bleiben deren normative Kriterien doch so im dunklen und überdies vom erkenntnistheoretischen Perspektivismus so überschattet, daß sich die normative Richtung der Machtkritik Foucaults häufig nur an seinen politisch-publizistischen Äußerungen, nicht aber an den Schriften selber ablesen läßt« (Axel Honneth, »Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie«, in: ders., Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt/M. 2000, S. 11-69, hier S. 65).

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dringendes Medium jener Macht, die das Subjekt überhaupt erst als das Objekt einer disziplinierenden Überwachung konstituiert. Adorno widersetzt sich hingegen einem solchen Schluss. Mit Blick auf das Gefängnis in Beethovens Fidelio deutet er gesellschaftliche Immanenz nicht als ein nahtloses und harmonistisches Ganzes, sondern als eine mit flüchtigen Momenten normativer Verheißung durchsetzte widerspruchsvolle Formation. Die Idee der Freiheit ist zwar trüb und praktisch ohnmächtig geworden, ist aber immer noch da, und zwar als der »Schein des Lichts, der ins Gefängnis selber fällt«. 46

Prousts theologische Idee In diesem Buch habe ich die These vertreten, dass Adornos Philosophie ein Beispiel für die Praxis immanenter Kritik ist. Sie betrachtet die gegenwärtige Gesellschaft nicht als eine gefallene Welt, der jede normative Möglichkeit abgeht, sondern als einen Raum von Widersprüchen, der kritische Ressourcen in sich birgt, die sowohl auf seine Überwindung als auch auf seine Vervollkommnung hindeuten. Diese immanent-kritische Deutungsstra46 GS 16, S. 31 (meine Hervorhebung, P. G.). Ich hoffe, den Leserinnen und Lesern ist deutlich geworden, dass die Uneinigkeit von Foucault und Adorno in Bezug auf den Begriff des Gefängnisses eine viel tieferliegende Meinungsverschiedenheit darüber widerspiegelt, wie philosophische Kritik möglich ist und auf welche normativen Festlegungen sie angewiesen ist. In diesem Buch habe ich behauptet, dass wir nicht in eine schlechte Form des »Utopismus« abgleiten, wenn wir sagen, dass wir uns auf immanente Quellen von Normativität berufen können, und erst recht nicht in das, was manche kritische Theoretiker oftmals verächtlich als »ideale Theorie« bezeichnen. Die Frage, wie über Gefangenschaft nachzudenken wäre, stellt ein hilfreiches Paradigma für jene größeren philosophischen Fragen dar. Eine erhellende Diskussion dieser Punkte findet sich in Tommie Shelby, The Idea of Prison Abolition, Princeton 2022, bes. Kap. 6, »Dreaming Big«, S. 183-201.

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tegie verfolgt er über alle Regionen der sozialen und individuellen Erfahrung hinweg. Von der Moralphilosophie zur Soziologie und von der Politik zur Ästhetik: Sein mikrologischer Blick macht an allem, worauf er sich richtet, die »Risse und Schründe« sichtbar und vermittelt uns damit ein Bild von der Welt, deren Bedeutung nicht ein für alle Mal endgültig feststeht, sondern die immer für Alternativen offenbleibt. Seine Dialektik definiert sich nicht durch Abschließung, sondern durch Möglichkeit. Zweifellos kann dieses Interpretationsverfahren den einen oder anderen Leser schwindlig machen, da Adorno kaum ein Element in unserer sozialen Erfahrung gänzlich unangetastet lässt oder es ihm gestattet, sich zu etwas Endgültigem und Sicherem zu verfestigen. Was aber wandelbar ist, kann stets erneut zum Gegenstand der Kritik werden. Die Schwierigkeiten wie die Verheißungen von Adornos immanent-kritischer Methode illustriert vielleicht kein anderer Gegenstand besser als die Theologie – ein Thema, über das ich mich anderenorts eingehend äußere und das ich hier bislang nur am Rande erwähnt habe. 47 Allerdings ist die Rolle theologischer (oder religiöser) Vorstellungen in seiner Philosophie sehr umstritten und verdient es daher, auch hier etwas ausführlicher kommentiert zu werden. Wenn man sich der Frage nach Adorno und der Theologie widmet, dann besteht die große Versuchung darin, sein Werk nur einem von zwei einander ausschließenden Lagern zuzuordnen, nämlich entweder dem Atheismus oder der Religion. Einige würden ihn als der Religion gegenüber ablehnend eingestellt bezeichnen, während andere der Auffassung sind, dass er im Grunde ein religiöser Denker sei. Beiden interpretatorischen Lagern in diesem Streit ist allerdings die gleiche offenkundige dialektische Antwort zu geben: Adorno widersetzt sich der dualistischen Unterstellung, 47 Peter E. Gordon, Migrants in the Profane. Critical Theory and the Question of Secularization, New Haven 2022.

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dass wir hier eine Wahl treffen müssten. Vielmehr besteht er auf der dialektischen Möglichkeit, dass wir die Einsichten der religiösen Tradition wiedergewinnen können, auch wenn wir sie für nichtreligiöse Zwecke einsetzen. Michael Theunissen bezeichnet diese Geste als »Aufhebung« der Metaphysik, die dialektische Alternative zu Heideggers Vorhaben ihrer »Überwindung«. 48 Adorno bezeichnet sie als »die Transmutation von Metaphysik in Geschichte«. 49 »Transmutation« meint dabei mehr als nur eine Übertragung oder einen Wechsel des Terrains; wenn die klassischen metaphysischen Begriffe ihre »Einwanderung ins Profane« vollziehen, dann können sie nicht so bleiben, wie sie einmal waren. Vielmehr »säkularisiert« ihre geschichtliche Transformation »Metaphysik in der säkularen Kategorie schlechthin, der des Verfalls«. 50 Die Philosophie konzentriert ihre Aufmerksamkeit nicht länger auf die Ewigkeit, sondern sucht nach Erlösung »im Kleinsten«, in »den Bruchstücken, welche der Verfall schlägt« und die selbst in ihrer Vergänglichkeit noch »die objektiven Bedeutungen tragen«. 51 Doch selbst der Status der Objektivität ist mittlerweile prekär geworden. Nach Adorno drängt uns die Geschichte daher dazu, das Versprechen auf unsere Erfüllung nicht in einem metaphysischen Jenseits, sondern ausschließlich eben im Flüchtigsten oder Winzigsten zu suchen. In der Negativen Dialektik heißt es: »Kein Eingedenken an Transzendenz ist mehr möglich als kraft der Vergängnis; Ewigkeit erscheint nicht als solche sondern gebrochen durchs Vergänglichste hindurch.« 52 In einem Vortrag aus dem Jahr 1945 über »Kunst und Religion 48 Michael Theunissen, »Negativität bei Adorno«, in: Ludwig von Friedeburg, Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt/M. 1983, S. 41-65, hier S. 59. 49 GS 6, S. 353. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Ebd.

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heute« bringt Adorno seine Verehrung für Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zum Ausdruck, einem literarischen Meisterwerk, das eine, wie er sagt, »wahrhaft theologische Idee« verdeutliche. Proust ist zwar kein Theologe im klassischen Sinne, da er sich nicht für die Ewigkeit interessiert, sondern sich nach Adorno vielmehr rückhaltlos dem hingibt, »was am nichtigsten ist, dem Unbedeutendsten, den flüchtigsten Erinnerungsfetzen«. 53 Doch diese Betonung »des Konkreten und Singulären« wird bei ihm so sehr mit dem Glücksversprechen aufgeladen, dass es jene erlösende Bedeutung annimmt, die einst der Religion zugesprochen wurde. Proust rettet das Leben vor dem Tod nicht, indem er die jenseitsbezogene Metaphysik der religiösen Tradition beschwört, sondern indem er sich selbst gänzlich der Vergänglichkeit und Partikularität der weltlichen Erfahrung übereignet. An dieser Deutung erkennen wir erneut, inwiefern Adorno eine Strategie der immanenten Kritik verfolgt: Noch in den unbedeutendsten Details des materiellen Lebens erblickt er eine Vorwegnahme menschlichen Gedeihens, und selbst die geringsten Bruchstücke diesseitigen Glücks werden mit der maximalistischen Forderung nach einer Veränderung der ganzen Welt versehen. Adornos Anmerkungen zu Proust sind hilfreich mit Blick auf die Frage, wie die aus der Religion abgeleitete Vorstellung von einer Erlösung unserer ganzen Gattung in einer negativen Dialektik überdauern kann, ohne deren materialistische Prämisse zu gefährden. Der Schlüssel liegt hier darin, dass er mit seiner Idee des Fragments einem impliziten kantischen Prinzip der Universalisierung die Ehre erweist; ein Fragment ist nämlich das Bruchstück eines fehlenden Ganzen. Daraus ergibt sich für ihn, dass es für den Einzelnen kein Glück geben kann, das nicht schon die Forderung nach dem Glück der ganzen Menschheit enthält. In diesem Buch habe ich ja behauptet, dass der Glücksbegriff in Adornos 53 »Theses Upon Art and Religion Today«, GS 11, S. 647-653, hier S. 653.

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Philosophie eine kritische Funktion erfüllt, nicht unähnlich dem kantischen Konzept des höchsten Guts: Er ist ein Postulat, das man für die gesellschaftskritische Praxis voraussetzen muss, selbst wenn es ihm von der Warte der theoretischen Vernunft aus betrachtet offenkundig an objektiver Gültigkeit mangelt. Anders als Kant zieht er das Thema des Glücks jedoch, kaum dass er es eingeführt hat, auch schon wieder als Skandalon zurück, da das Faktum des Unglücks seine Gültigkeit von allen Seiten her unter Beschuss nimmt; angesichts des enormen Drucks, den gesellschaftlicher Konformismus und gesellschaftliche Repression ausüben, bezweifelt er sogar, dass selbst der Einzelne jemals vollkommen glücklich sein könnte. »Jegliches Glück« sei nämlich »Fragment des ganzen Glücks, das den Menschen sich versagt und das sie sich versagen« (um diese wichtige Stelle aus der Negativen Dialektik noch einmal zu zitieren). 54 Trotz dieses Zweifels erlaubt es sich Adorno aber auch nicht, einfach den Weg des geringsten Widerstands einzuschlagen und sich der totalen Verzweiflung hinzugeben. Denn obwohl er zugesteht, dass es nichts in unserer Erfahrung gibt, was als Instanz eines absoluten Glücks ohne jede Einschränkung gelten würde, räumt er flüchtigen Glückserfahrungen sehr wohl einen legitimen Platz in seinem Denken ein, wie wir gesehen haben. Diese Unterscheidung ist für seine Moralphilosophie von höchster Relevanz, da wir ansonsten wohl versucht wären, diese in die Kategorie eines radikalen moralischen Skeptizismus einzuordnen. Rufen wir uns noch einmal meine These ins Gedächtnis, dass für Adorno auch ein unvollkommenes x immer noch als x gilt. Er ist also überzeugt, dass wir kein Wissen vom »absolut Gute[n]« haben können, was ihn aber nicht davon abhält, trotzdem zu behaupten, dass wir sehr wohl Wissen von dem Guten haben können, wie es sich uns in seiner partiellen und beschädigten Form darbie54 GS 6, S. 396.

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tet. 55 Der entscheidende Gedanke ist hier der, dass Wissen von einem fragmentarischen Glück (oder einem fragmentarischen Guten) zu behaupten nicht bedeutet, dass man auch Wissen vom Glück (oder vom Guten) in seiner bruchlosen Vollkommenheit behaupten müsste. Wie ich oben ausgeführt habe, orientiert sich Adornos Glücksvorstellung an dem Versuch Kants, die metaphysischen Ideen für die praktische Philosophie zu retten. Dies wirft natürlich die Frage auf, ob er damit unerlaubterweise an einem Begriff festhält, der mit dem Zusammenbruch der Metaphysik eigentlich all seine objektive Bedeutung eingebüßt haben sollte. Ist die Forderung nach allgemeinem Glück also bloß die illegitime Hinterlassenschaft theologischer Aspirationen, die Adorno eigentlich hätte verwerfen müssen? Hält er trotz seiner Skepsis somit an einer Art religiöser Philosophie fest? Die Antwort hierauf liegt keineswegs auf der Hand, und das nicht zuletzt deshalb, weil er – wie oben angemerkt – mit seiner prinzipiellen Festlegung auf ein dialektisches Denken sich dem grobschlächtigen Dualismus von Atheismus und Religion verweigert. Hingegen sollte offensichtlich sein, dass Adornos Philosophie kaum auf so etwas Konkretes wie eine Krypto-Theologie hinausläuft; selbst sie als »Minimaltheologie« zu bezeichnen, dürfte schon übertrieben sein. 56 Diejenigen Leserinnen und Leser, die in ihr nach einer bedingungslosen Affirmation eines religiösen Bewusstseins suchen, werden zwangsläufig enttäuscht sein, da sie auf die Wirklichkeit des Göttlichen keinerlei Rücksicht nimmt. Im Gegenteil, von der Theologie übernimmt Adorno nur jene kontrafaktische Idee einer »messianischen« Perspektive, die die Gebrochenheit der Welt deutlicher hervortreten lässt. Diese kontrafaktische Methode rechtfertigt ihre Bezeich55 NGS, Abt. IV, Bd. 10, S. 261. 56 Hent de Vries, Minimal Theologies. Critiques of Secular Reason in Adorno and Lévinas, Baltimore 2005.

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nung als »Theologie« aber nicht, ja nicht einmal die als »negative Theologie«, da sie von dieser ja nichts weiter als ein Postulat für ihre kritische Praxis entlehnt. 57 Die unbefriedigte (und möglicherweise auch nicht zu befriedigende) Idee der Erlösung mag zwar in der »Forderung« stecken, die die Kritik an die Welt richtet. Doch im letzten Satz der Minima Moralia bestreitet Adorno ausdrücklich, dass er sich mit der Berufung auf den Erlösungsgedanken um der kritischen Praxis willen in irgendeiner Weise auf eine positive theologische Erkenntnis festgelegt habe, wenn er schreibt: »Gegenüber der Forderung, die damit an ihn [den Gedanken; Anm. d. Ü.] ergeht, ist aber die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig.« 58 Mit dieser agnostischen Schlussfolgerung macht er also deutlich, dass er von den Thesen des religiösen Glaubens unbeeinflusst bleibt. Vielmehr sieht er in der Theologie ein bedeutendes Archiv, aus dem er die begrifflichen Ressourcen für seine Kritikpraxis entlehnen kann, beharrt aber darauf, dass diese Ressourcen ihre Gültigkeit nur dann behalten werden, wenn sie eine immanent-kritische Aneignung oder, wie er es nennt, eine »Einwanderung ins Profane« durchlaufen. 59 In der lurianischen Kabbala, wie sie ihm durch Gershom Scholem vorgestellt wurde, war er auf den Gedanken der »Schalen« oder Fragmente des göttlichen Lichts gestoßen, die über die ganze Schöpfung hinweg verstreut seien. Isaac Luria zufolge steht die Menschheit deshalb gemeinschaftlich in der Verantwortung, diese Fragmente aufzuspüren, um die Einheit des Göttlichen wiederherzustellen. Am Schluss der Negativen Dialektik macht Adorno nun von diesem mystischen Motiv Ge57 Diesen Gedanken führe ich genauer aus in Migrants in the Profane, S. 140. 58 GS 4, S. 283. 59 Gordon, Migrants in the Profane; siehe auch Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. II , Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Berlin 2019, S. 806f.

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brauch, um mit dessen Hilfe seine eigene immanent-kritische Praxis zu beschreiben. Der von ihm so genannte mikrologische Blick zielt demnach darauf ab, das Besondere aus den »Schalen« zu bergen, in denen es versteckt worden ist. Doch wie Proust verfolgt er diese Aufgabe nicht zugunsten irgendeines Bezugspunkts im Jenseits, sondern nur zum Zwecke der diesseitigen Vollkommenheit. Die Sprache der Theologie steht ihm auch nur deshalb weiter zur Verfügung, weil sie eine maximalistische Forderung zum Ausdruck bringt: »Die kleinsten innerweltlichen Züge hätten Relevanz fürs Absolute.« Ein solches Denken ist daher zwar nicht mehr explizit theologisch, aber dennoch eben »solidarisch mit der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes«. 60 Mit diesem letzten Satz seines Buchs vermittelt Adorno uns den Doppelgedanken, dass er die Metaphysik im traditionellen Sinne zwar ablehne, einer verschwindenden Metaphysik aber gerade durch die Praxis immanenter Kritik die Treue halten könne. Diese Aussage ist nicht zuletzt deshalb so bemerkenswert, weil sie die Relevanz der Theologie für eine säkulare Kritik gleichzeitig zu bestätigen und zu leugnen scheint. Diese Auffassung von Säkularisierung ist allerdings dialektisch, und zwar insofern, als sie beide Momente gleichzeitig erfasst. Die finale Lektion von Adornos philosophischem Meisterwerk ist also anscheinend die, dass die negative Dialektik zwar die Wahrheit in der Theologie bewahren will, aber nur insofern die Theologie einem rücksichtslosen Säkularisierungsprozess unterzogen worden ist. Denn ähnlich wie Benjamin glaubt auch er, dass in der »Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit[schwingt]«; 61 trotzdem aber wird Adorno es der Erlösung nicht gestatten, ohne metaphysischen Kompromiss zu überleben. Nach Maßgabe einer materialistischen Philosophie ist 60 GS 6, S. 400. 61 Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I .2, Frankfurt/M. 1974, S. 691-704, hier S. 693.

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Glück nämlich die einzig gültige Form, in der dieser theologische Begriff überhaupt noch verstehbar ist. Das Konzept der Erlösung kann daher für sich nicht mehr das Prestige der Transzendenz oder Invarianz in Anspruch nehmen; es ist vielmehr genauso fragil und flüchtig geworden wie das menschliche Leben selbst. 62 Die kleinsten Glücksmomente, wie sie etwa von Proust aufgezeichnet wurden, dienen als Antizipationen des höchsten Guts in der Gegenwart; selbst das Glück eines Kindes ist »ein Stück der erfüllten Utopie«, die »etwas so von der Friedlichkeit, dem Mangel an Angst und Bedrohung hat, das man sich in einem chiliastischen Reich eigentlich vorstellt«. 63

Quellen und Rechtfertigungen Da sich dieses Buch nun seinem Ende nähert, sei noch angemerkt, dass ich hier kein philosophisches Argument dafür vorgelegt habe, wie Adorno seinen normativen Festlegungen eine endgültige und unanfechtbare Grundlage verschafft. Ich hoffe, dass mittlerweile aber auch klargeworden ist, warum er derartige Voraussetzungen ablehnt. Ohne sich einem durchgängigen Skeptizismus hinzugeben, sieht er nämlich doch ein, dass unser Wissen vom Guten nie »absolut« sein kann, und er akzeptiert die Prekarität unserer normativen Erkenntnis als ein konstitutives Merkmal unserer Situiertheit in den Verhältnissen der Moderne. Es sei mir gestattet, noch einmal an jene Radioansprache aus dem Februar 1969 zu erinnern, mit der ich dieses Buch begonnen habe. Darin war Adorno bemüht, sich gegen die studentischen Aktivisten zur 62 Die Kategorien der klassischen Religion haben ihre Selbstverständlichkeit ebenfalls eingebüßt; »die Existenz eines Heiligen ist heute auch prekär«, wie Adorno schreibt (NGS, Abt. IV, Bd. 10, S. 250). 63 »Kultur und Culture«, NGS, Abt. V, Bd. 1, S. 156-176, hier S. 163.

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Wehr zu setzen, die ihm politischen Quietismus vorwarfen. Seine einzige Verteidigung bestand dabei allerdings darin, auf der intrinsischen Macht des kritischen Denkens zu beharren. Stärker als jedes bloß strategische Theoretisieren, das sich bereits seiner instrumentellen Anwendung beuge, sei »[o]ffenes Denken« bereits eine »verändernd[e]« Praxis. Dabei gesteht er aber eben zu, dass »[e]in solcher emphatischer Begriff von Denken […] nicht gedeckt« sei, »weder von bestehenden Verhältnissen noch von zu erreichenden Zwecken, noch von irgendwelchen Bataillonen«. 64 Was uns an diesen Bemerkungen auffallen sollte, ist Adornos starker Widerwille gegen die Annahme, unsere normativen Festlegungen könnten nur dann valide sein, wenn sie eine Überprüfung durch rationale Argumente überstehen und sich in Form eines vollkommen sicheren Wissens präsentieren. Um zu verstehen, worin die Relevanz dieses Umstands liegt, könnte es hilfreich sein, zwischen Quellen und Rechtfertigungen zu unterscheiden. Die Quellen von Normativität wären dann die diversen Phänomene, die wir als normativ erfahren, also als solche, die uns zu einer bestimmten Art von moralischer Reaktion veranlassen. Adorno identifiziert solche Phänomene mit einer ganzen Bandbreite von Erfahrungen, die ein rein leibliches Lustempfinden ebenso umfassen wie höhere Formen des ästhetischen Erfülltseins sowie viele Instanzen von »Mimesis«, die unsere Offenheit und Responsivität sowohl der Natur als auch anderen Menschen gegenüber repräsentieren. Dies sind die Erfahrungen, die er in der Negativen Dialektik als die »Fragmente« eines absoluten Glücks charakterisiert, das uns die Welt generell verweigert. Diese Fragmente sind keine Konstruktionen der Vernunft, sondern sind uns in der empirischen Erfahrung gegeben. Adorno bestreitet zudem, dass uns solche Erfahrungen unfehlbare Normativitätsmaßstäbe an die Hand geben könnten. Die Tatsache, dass sie gegeben sind, reicht nicht dafür 64 »Resignation«, GS 10.2, S. 794-799, hier S. 798.

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hin, eine Rückkehr zu der vormodernen Überzeugung zu begründen, dass die Moral irgendwie in die objektive Struktur der nichtmenschlichen Welt eingelassen ist. Adorno ist sich also darüber im Klaren, dass unsere normativen Erfahrungen den Glanz unerschütterlicher Wahrheit eingebüßt haben und dass die Orientierung, die sie uns noch geben können, prekär und ungewiss geworden ist. Diese Prekarität ist insbesondere dem von ihm so genannten Absterben oder Verdorren der Erfahrung geschuldet. Die Dialektik der gesellschaftlichen Rationalisierung hat nämlich nicht nur die kollektiven Rahmenbedingungen der politischen Freiheit kompromittiert, sondern auch uns als individuelle menschliche Wesen beschädigt, indem sie uns noch kälter und unempfänglicher für das Leiden anderer hat werden lassen. An dieser Stelle müssen wir uns den vielleicht rätselhaftesten und kontroversesten Problemen in Adornos Denken stellen. Jene Quellen von Normativität beschreibt er nämlich oft so, als würden sie sich selbst beglaubigen – als wären solche Erfahrungen intrinsisch normativ und als stünde ihnen ihre moralische Wahrheit auf die Stirn geschrieben. Eine solche Prämisse fußt aber offenbar auf dem Mythos des normativ Gegebenen. Die Normativitätsquellen, so wie er sie versteht, präsentieren sich uns jedoch gar nicht im prestigeträchtigen Gewand ihres rationalen Gerechtfertigtseins; tatsächlich scheint er sogar der Annahme widersprechen zu wollen, dass sie überhaupt irgendeiner derartigen Rechtfertigung bedürfen. Sie ähneln stattdessen vielmehr phänomenologischen Modellen, die nicht begründen, sondern nur zeigen. 65 Ihre Rolle 65 Adornos Rekurs auf die phänomenologische Beschreibung wird auch von Jürgen Habermas bestätigt, der vom »Reiz einer moralischen Phänomenologie« schreibt, »die eine spröde, auf die Erklärung des moralischen Gesichtspunktes beschränkte Moraltheorie ergänzen kann. Für eine augenöffnende Phänomenologie sind freilich die literarischen Fähigkeiten und Sensibilitäten von philosophischen Schriftstellern wie Nietzsche oder Adorno eher geeignet als die analytischen Fähigkeiten konventioneller Philosophen« (Jür-

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besteht demnach darin, andere Weisen des Menschseins in ihrer ganzen Fragilität zu illustrieren; sie verkörpern also die groben Umrisse eines richtigen Lebens inmitten des falschen. Die Probleme, die derartige Konzeptionen des normativ Gegebenen zwangsläufig belasten, sind allerdings hinreichend bekannt. So ist es für Adorno nur allzu leicht, zu behaupten, dass die Erfahrungen moralischer Erkenntnis sich ihre Gültigkeit einfach selbst bescheinigen und keines weiteren Beweises bedürfen. Doch wenn er dann gefragt wird, wie er wissen kann, dass die betreffenden Quellen diese normativen Wahrheiten tatsächlich hergeben, kann er kaum anders antworten als mit dem Beharren auf der Autorität seiner eigenen Interpretation. Will er die intuitionistischen und irrationalistischen Implikationen dieser Antwort vermeiden, dann muss Adorno seine Interpretation nun aber wenigstens für künftige Korrekturen offenhalten. Meiner Ansicht nach müssen wir deshalb der Annahme widerstehen, dass auch nur irgendeine Normativitätsquelle für sich selbst spricht oder ihre eigene Rechtfertigung automatisch mit sich führt. Stattdessen sollten wir der Rechtfertigung einen spezifischen Raum als einer diskursiven Praxis zweiter Ordnung geben, in dem all diese Quellen in einen kontinuierlichen Wettstreit rivalisierender Interpretationen eintreten und alle Beteiligten bestimmte intersubjektive Begründungsmaßstäbe akzeptieren.66 Ob Adorno gewillt gewesen wäre, die Regen Habermas, »Einleitung«, in: ders., Philosophische Texte. Studienausgabe in fünf Bänden, Bd. 3: Diskursethik, Frankfurt/M. 2009, S. 9-30, hier S. 20 f. Siehe auch Finlaysons aufmerksamen Beobachtungen zum »Zeigen« statt »Sagen« bei Adorno in James Gordon Finlayson, »Adorno on the Ethical and the Ineffable«, in: European Journal of Philosophy 10:1 (2002), S. 1-25, bes. S. 16. 66 In seinen eigenen theoretischen Überlegungen über die Rolle der Rechtfertigung in der kritischen Theorie vertritt Rainer Forst die These, dass selbst Adorno die Relevanz der Norm der Gerechtigkeit anerkenne. Oben in der »Einleitung« habe ich aus Adornos Vorlesungen zu den Problemen der Mo-

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levanz einer solchen Praxis anzuerkennen, bleibt unklar. Sein ganzes Werk durchzieht jedenfalls ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber der philosophischen Rechtfertigung als solcher, da er befürchtet, dass wir durch unseren Rekurs auf Begriffe dazu tendieren könnten, jene Quellen aus den Augen zu verlieren, die jenseits des Raums der Gründe in der stofflichen Erfahrung selbst liegen. Wir stehen daher nun vor einer entscheidenden Frage: Können wir das Beste von Adornos Theorie der Quellen von Normativität bewahren, auch wenn wir es mit einer Theorie der intersubjektiven Rechtfertigung in Einklang bringen? Kann die Forderung nach Überprüfung und Bestätigung mit dem Rekurs auf die Erfahrung kombiniert werden? In jedem Fall lässt sich festhalten, dass diese Aufgabe ein kontinuierliches Bemühen um die Aussöhnung der beiden intellektuellen Hauptstoßrichtungen beinhalten würde, die sich durch die Geschichte der kritischen Theorie ziehen. Damit geht sie allerdings weit über den Horizont dieser Studie hinaus.

ralphilosophie von 1963 seine folgende skeptische Bemerkung zitiert: »Wir mögen nicht wissen, was das absolute Gute, was die absolute Norm, ja auch nur, was der Mensch oder das Menschliche und die Humanität sei, aber was das Unmenschliche ist, das wissen wir sehr genau.« Forst lehnt es klugerweise ab, diese skeptische These für bare Münze zu nehmen, indem er dazu schreibt: »Aber auch dabei bleibt die Idee der Gerechtigkeit, einer höheren, besseren und doch ›menschlichen‹ Form der Gerechtigkeit, leitend, das, was Adorno ›gesamtgesellschaftliche Freiheit‹ […] nennt; und so zeigt sich auch hier, dass die Kritik der Unmenschlichkeit der Gerechtigkeit primär eine Kritik der mangelnden Gerechtigkeit im Namen der Gerechtigkeit ist« (Rainer Forst, Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse. Perspektiven einer kritischen Theorie der Politik, Kap. 7, »Die Ungerechtigkeit der Gerechtigkeit. Normative Dialektik nach Ibsen, Cavell und Adorno«, Berlin 2011, S. 181196, hier S. 192f.; meine Hervorhebung, P. G.). Wenn Adorno also eine Kritik unseres normativen Scheiterns entwickelt, dann setzt diese Kritik einen normativen Maßstab voraus, gegen den verstoßen worden ist.

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Denken und Glück Ich habe in diesem Buch versucht, die These zu verteidigen, dass Adorno sich auf fragmentarische Glückserfahrungen als Quellen von Normativität beruft, die seine eigene kritische Praxis motivieren. Diese Behauptung habe ich jedoch mit der entscheidenden Einschränkung versehen, dass solche Erfahrungen in seinen Augen nicht weniger beschädigt sind als die Welt, in der sie anzutreffen sind. Adorno ist bewusst, dass alle Normativitätsquellen in der Gegenwart eine merkliche Schwächung erfahren haben, und er ist nicht sonderlich zuversichtlich, dass die Philosophie die Macht habe, solche ursprünglichen Erfahrungen wiederaufleben zu lassen, nachdem sie ihre Autorität erst einmal verloren haben. Das kritische Denken ist, wie er uns mitteilt, nicht weniger prekär geworden als das Glück selbst; »[w]as einmal gedacht ward, kann unterdrückt«, ja »vergessen werden« oder sogar ganz »verwehen«. 67 Wenn man Adorno liest, muss man solche Warnungen stets im Hinterkopf behalten, da sie uns dazu anhalten sollen, keinem unausgereiften oder utopischen Glauben an die Gewissheit eines besseren Lebens in der Zukunft anzuhängen. In der Einleitung habe ich geschrieben, er habe die Gnosis als »Versuchung« betrachtet, der er nicht immer zu widerstehen vermochte. Hier am Ende des Buchs ist es nun wichtig, diese These dahingehend zu konkretisieren, dass die Gnosis nicht eine ungewollte, sondern eine notwendige Versuchung darstellt, da sie unsere normativen Aussagen mit einer skeptischen Prüfung konfrontiert, die sie bestehen müssen. Wenn sich Adorno von der Gnosis fasziniert zeigte, dann deshalb, weil er begriffen hatte, dass die Praxis der Gesellschaftskritik, wenn sie frei vom Dogmatismus bleiben sollte, ihren Sitz in der Unsicherheit eines historischen Zustands 67 GS 10.2, S. 798.

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haben muss, in dem unsere ethischen und politischen Überzeugungen jetzt und allezeit anfechtbar und umkehrbar sind. Und das ist auch der entscheidende Unterschied zwischen seiner offenen Dialektik und der Hegel’schen Dialektik der Geschlossenheit oder des absoluten Wissens. Der moralische Materialismus Adornos strebt keine endgültige oder dezidierte Negation der Gnosis an; vielmehr verbleibt er in der gnostischen Welt, und zwar auch dann noch, während er nach ihr innewohnenden Hinweisen auf Freiheit sucht, die über ihre Mauern hinausdeuten. Dies würde allerdings darauf hinauslaufen, dass wir eine bestimmte Antinomie in unserem Begriff von Moral und Freiheit nicht überwinden können. Tatsächlich bekennt er sich in seiner Vorlesung Probleme der Moralphilosophie von 1963 zu diesem Punkt, wenn er erklärt, dass so etwas wie ein richtiges Leben nicht denkbar ist, wenn man nicht zugleich auch an dem Gewissen und an der Verantwortung festhält. Man ist also an diesem Punkt selber wirklich und in allem Ernst in einer antinomischen Situation. Man muß an dem Normativen, an der Selbstkritik, an der Frage nach dem Richtigen oder Falschen und gleichzeitig an der Kritik der Fehlbarkeit der Instanz festhalten, die eine solche Art der Selbstkritik sich zutraut. 68

Dass Adorno keine Lösung für diese Antinomie anstrebt, liegt daran, dass er sie als konstitutiv für unsere gegenwärtige gesellschaftliche Situation erachtet: Wir müssen uns der Herausforderung der negativistischen Interpretation stellen, während wir zugleich »an dem Normativen festhalten« – und damit an unserer Hoffnung auf ein Leben, das endlich lebenswert sein wird. Trotzdem zeigt sich Adorno weiterhin davon überzeugt, dass eine bestimmte normative Festlegung bereits im schieren Akt des kritischen Denkens selbst enthalten sei. Diese Normativität 68 NGS, Abt. IV, Bd. 10, S. 250 (meine Hervorhebung, P. G.).

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gründet ihm zufolge in etwas Tieferem als in Vernunft allein und geht weit darüber hinaus, bloß den Philosophen zufriedenzustellen, der in der Einsamkeit seiner Studierstube nach intellektueller Glückseligkeit strebt. Wenn er Zweifel daran hegte, dass die Philosophie unsere normativen Festlegungen mit ihrem Wesen nach rationalen Rechtfertigungen unterfüttern kann, dann deshalb, weil er den Eindruck hatte, dass die Vernunft in ihrer gegebenen Gestalt den Kontakt mit jener materialen Erfahrung verloren hat, die das menschliche Leben beseelt und lebenswert macht. Was ich als Adornos materialistische Moraltheorie bezeichnet habe, ist mithin der philosophische Name für einen Versuch, diesen Kontakt wiederherzustellen und die Philosophie von ihren begrifflichen Höhenflügen zurückzuholen, damit sie sich wieder der Erfahrung anvertrauen und sich von ihrer Vielfältigkeit leiten lassen kann, die uns aus dem Reich des Nichtidentischen grüßt. Ein solches »offenes Denken« ist keine Einladung zum Irrationalismus, auch wenn sie die Suche nach einer finalen und rationalen Rechtfertigung für unsere normativen Festlegungen kritisch beäugt. Seine stärkste Beglaubigung findet es nicht in philosophischen Überlegungen, sondern in der Erfahrung universellen Glücks, das der menschlichen Gattung als ihr unrealisiertes Versprechen angehört. Dabei handelt es sich allerdings um ein Glück, das Adorno mit seiner eigenen Denkerfahrung verbunden sah. »Das Glück, das im Auge des Denkenden aufgeht, ist das Glück der Menschheit«, wie er in »Resignation« feststellt. 69 Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod, da das Versprechen auf Glück nur allzu oft verraten wird, können diese Worte vielleicht sowohl als sein Epitaph als auch als bleibendes Zeugnis im Gedenken an ihn stehen.

69 GS 10.2, S. 798f.

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DANK

Dieses Buch geht auf drei Vorlesungen zurück, die ich im Juni 2019 aus Anlass des 50. Todestags von Theodor W. Adorno an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main gehalten habe. Die Adorno-Vorlesungen, die vom Institut für Sozialforschung (IfS) in Kooperation mit dem Suhrkamp Verlag veranstaltet werden, sind eine renommierte Vortragsreihe, die schon seit vielen Jahren stattfindet. Die bisherigen Referentinnen und Referenten haben dabei eine große Bandbreite an Themen abgedeckt. Eingedenk des halben Jahrhunderts, das Adornos Tod bereits zurücklag, hielt man es im Jahr 2019 allerdings für wünschenswert, dass die Vorlesung das philosophische Erbe jenes Denkers selbst thematisiert, nach dem die Veranstaltungsreihe benannt ist. Ich fühlte mich zutiefst geehrt, als Vortragender zu dieser besonderen Gelegenheit eingeladen worden zu sein, und möchte an dieser Stelle all jenen meinen Dank aussprechen, die diese Veranstaltung möglich gemacht und mir bei der Überarbeitung des Textes für seine Veröffentlichung in der vorliegenden Buchform zur Seite gestanden haben. Besonders dankbar bin ich Axel Honneth, der viele Jahre Direktor des IfS war und dessen eigene philosophische Arbeiten so viel dazu beigetragen haben, die anhaltende Kraft der Tradition der kritischen Theorie im Sinne der Frankfurter Schule unter Beweis zu stellen. Auch andere Lehrende am Institut haben mir einen warmherzigen Empfang bereitet, allen voran Ferdinand Sutterlüty, der damals die kommissarische Leitung des IfS innehatte. Ebenso dankbar bin ich für die scharfsinnigen Kommentare und kritischen Anmerkungen zu meinen Präsentationen aus dem Auditorium. Besonders erwähnen möchte ich dabei Rainer 457

Forst, Rahel Jaeggi und Martin Saar. Es waren zwar auch noch viele weitere Personen zugegen, doch ich habe im Eifer des Gefechts nicht daran gedacht, die Namen all jener zu notieren, die auf meine Vorträge reagiert haben, so dass ich hoffe, man wird es mir nachsehen, dass ich sie an dieser Stelle nicht alle erwähnen kann. Bei meinem Aufenthalt in Frankfurt 2019 wurde ich von Mitarbeitenden und Forschenden des Instituts gleichermaßen herzlich in Empfang genommen. Besonders erwähnen möchte ich dabei Sidonia Blättler, die für die reibungslose Gestaltung meines Aufenthalts gesorgt hat. Daneben fungierte eine Reihe von Studierenden, Beschäftigten aus der Verwaltung und Angehörigen des Instituts als meine Gastgeber; eine kleine Gruppe von ihnen gab mir sogar eine inoffizielle Stadtführung durch das Viertel, in dem Adorno in der Nachkriegszeit gelebt hat. Meine Vorlesungen sollten schließlich auch einen bescheidenen Hinweis auf die anhaltende Relevanz des Philosophen geben, und mir gefällt die Vorstellung, dass Adornos Geist (sofern ein solch antiquierter Ausdruck heute noch erlaubt ist) immer noch auf den Straßen des Frankfurter Westends umgeht. Im Institut selbst kann man seine fortwährende Präsenz natürlich nach wie vor spüren, und ich war erfreut darüber, Adornos altem Klavier zaghaft ein paar Töne entlocken zu dürfen. Von den drei Vorlesungen, die ich 2019 gehalten habe, ist hier nur noch wenig im ursprünglichen Zustand geblieben. Abgesehen von einigen Überleitungen und Zitaten ist der Textbestand gänzlich neu. Die grundlegende Struktur meiner These ist im Wesentlichen unverändert geblieben, wurde jedoch sehr stark ausgebaut, aber auch verfeinert und, so hoffe ich, verbessert. Während der Niederschrift dieses Buchs hatte ich das Glück, meine Thesen vor diversen Zuhörerschaften zu verschiedenen Gelegenheiten darbieten zu können. Eine komprimierte Variante meiner zentralen Argumentation wurde erstmals in Form eines Papers in einem 458

Graduiertenseminar zur kritischen Theorie präsentiert, das von Rahel Jaeggi (Humboldt-Universität zu Berlin) und Robin Celikates (Freie Universität Berlin) geleitet wurde, die mich für den Dezember 2019 als Gast eingeladen hatten. Ihre freundliche Aufnahme wird mir für immer in Erinnerung bleiben. Im Februar 2020 stellte ich das Paper vor Kolleginnen und Kollegen des Department of German an der University of Michigan erneut vor, wo ich gebeten worden war, die Grilk Lecture zu halten; eine ähnliche Fassung wurde im März 2021 auch am Anne Tanenbaum Centre for Jewish Studies an der University of Toronto präsentiert. Ende März 2021 stellte ich dann eine finale überarbeitete Version im Rahmen von The Program in Critical Theory an der University of California in Berkeley vor. Bei all diesen Gelegenheiten habe ich von engagierten und scharfsinnigen Kommentaren profitiert und hoffe, dass das vorliegende Buch meine Dankbarkeit dafür belegt. Ich sollte auch die vielen Forscherinnen und Forscher erwähnen, deren Arbeiten mich zu den hier präsentierten Thesen und Argumenten inspiriert haben. Dazu zählen Seyla Benhabib, Jay M. Bernstein, Maeve Cooke, James Gordon Finlayson, Espen Hammer, Axel Honneth, Rahel Jaeggi, Martin Jay, Iain Macdonald, Brian O’Connor, Max Pensky und Michael Rosen (wobei diese Aufzählung keineswegs vollständig ist). Vier Kollegen verdienen dabei eine besondere Erwähnung. Als Erstes möchte ich Fabian Freyenhagen danken, dessen Buch Adorno’s Practical Philosophy von 2013 einen der allerbesten Beiträge zu diesem Forschungsgebiet darstellt und dessen Argumente meine eigenen Thesen mit angeregt haben. Ich selbst gelange zwar zu ganz anderen Schlüssen als er, aber das schmälert meine Bewunderung für seine vorbildliche Arbeit nicht im Geringsten. Zweitens danke ich Rainer Forst, der seine eigenen Überlegungen zu den philosophischen Fundamenten einer kritischen Theorie für die Gegenwart im Rahmen einer Vorlesung an der Harvard Uni459

versity im September 2019 vorgestellt hat. Sein spezifisches Interesse am Problem der Rechtfertigung und seine scharfsinnigen Bemerkungen zu den Verbindungslinien zwischen Kant und Marx haben mir sehr dabei geholfen, meine Auffassung von Adornos eigenem Platz in der philosophischen Tradition zu elaborieren. Drittens möchte ich meine philosophischen Verbindlichkeiten Axel Honneth gegenüber erwähnen, dessen Überlegungen zur zentralen Rolle der Anerkennung in der Sozialphilosophie einige meiner eigenen Gedanken zur Bedeutung der Mimesis und der Empfänglichkeit für menschliches Leiden inspiriert haben. Viertens und abschließend möchte ich Jürgen Habermas meinen besonderen Dank aussprechen, dessen Beiträge zur kritischen Theorie mein eigenes Denken nach wie vor in zahllosen Hinsichten beeinflussen, obgleich die in diesem Buch präsentierten Überlegungen auch eine fortwährende, wenn auch geringfügige Meinungsverschiedenheit zwischen uns demonstrieren. Habermas selbst hat uns zur Würdigung der Tatsache verholfen, dass philosophische Einsichten aus der auf Dauer gestellten Praxis des vernünftigen Meinungsstreits hervorgehen, und ich gehe davon aus, dass meine Bemühungen hier als weiterer Beleg für dieses Prinzip dienen können. Es war reiner Zufall, dass Professor Habermas weniger als zwei Wochen nachdem ich die Adorno-Vorlesungen gehalten habe, seinen 90. Geburtstag beging – ein Anlass, zu dem er einen öffentlichen Vortrag an der Goethe-Universität Frankfurt hielt. Vor einer großen Zahl von Studierenden und Kollegen bekräftigte dieser Vortrag nicht nur meine Bewunderung für all das, was er in den vielen Jahren erreicht hat, seit er als junger Mann bei Adorno vorstellig geworden war, sondern vertiefte dieses Gefühl auch noch. Das Institut für Sozialforschung wurde 1923, also vor 100 Jahren in Frankfurt gegründet, und wenn die kritische Theorie auch noch ein Jahrhundert später weiterhin in der Vielfalt all ihrer Stimmen blüht und gedeiht, dann schulden wir den größten Teil unserer Dankbarkeit dafür Jürgen Habermas persönlich. 460

Kein Buch sollte in den Druck gehen, ohne seinen Nutzen aus einer klugen Kritik gezogen zu haben. Ich möchte daher auch James Gordon Finlayson, Martin Jay, Iain Macdonald und Max Pensky meinen herzlichen Dank für ihre kritischen Kommentare zu den verschiedenen Entwicklungsstadien des Manuskripts aussprechen. Sie alle vier sind äußerst kenntnisreiche und philosophisch scharfsinnige Experten, weshalb das Buch in seiner nun vorliegenden Form auch ihre Vorschläge und Anregungen enthält – wobei sämtliche Fehler natürlich gänzlich von mir zu verantworten sind. Mein Freund und Kollege Alex Rehding aus Harvard hat ebenfalls vorzügliche Anmerkungen zum gesamten Manuskript beigesteuert und mir bei musikwissenschaftlichen Fragen hilfreich zur Seite gestanden. Schließlich schulde ich einen besonderen, von Herzen kommenden Dank meinem lieben Freund, dem Musiker und Komponisten John Schott, und zwar sowohl für seine spezifischen Ratschläge in Bezug auf die Abschnitte über Musik als auch für sein gewissenhaftes Korrektorat des ganzen Texts. Kein Wissenschaftler kann in einem luftleeren Raum lernen, geschweige denn atmen. Ich hatte das große Glück, von einigen der Besten auf diesem Gebiet zu lernen – manchmal direkt, manchmal aber auch nur durch ihre Veröffentlichungen. Ich habe aber auch von den vielen Studierenden gelernt, die in den vergangenen Jahren an zahlreichen Seminaren zu Adorno und zur Sozialphilosophie teilgenommen haben. Eines davon, Adornos ästhetischer Theorie gewidmet, bot ich 2018 an der School of Criticism and Theory an der Cornell University an. Den vielen Studierenden, die daran teilnahmen, möchte ich für ihre zahlreichen Beiträge danken, und dem amtierenden Leiter der SCT, Hent de Vries, für die Einladung, den Sommer als Gastprofessor in Ithaca zu verbringen. Michael Mango, Doktorand in Harvard, dessen Klugheit und sorgfältige Recherchearbeit auf jeder einzelnen der vorliegenden 461

Seiten durchscheinen, hat bei der Überarbeitung dieses Buchs assistiert und mir damit einen unschätzbar wertvollen Dienst erwiesen. Zudem möchte ich Alexander Cowen für seine Transkription der Notenbeispiele danken. Zuletzt möchte ich auch meinen Verlagen in Deutschland und Nordamerika meinen Dank aussprechen. Beim Suhrkamp Verlag möchte ich besonders meiner Lektorin Eva Gilmer danken, deren Vertrauen in dieses Projekt über die Jahre hinweg nicht geringer geworden ist, die ich brauchte, um die Vorlesungen durch Korrekturen und Erweiterungen in die Form eines annehmbareren (wenn auch immer noch mit Mängeln behafteten) Buchs zu bringen. Suhrkamp steht für die höchsten Ideale der philosophischen Forschung, und es ist mir eine Ehre, die deutschsprachige Fassung meiner Schrift bei einem so angesehenen Verlag veröffentlichen zu können. Die deutsche Übersetzung dieses Buchs wurde von Frank Lachmann besorgt, dessen eigener philosophischer Scharfsinn mich zu weiteren Änderungen zwang und nicht nur die Prosa, sondern auch die inhaltliche Argumentation erheblich verbessert hat. Ich bin ihm für sein Engagement und für den freundlichen Geist der Zusammenarbeit und Professionalität, den er in seine Übersetzungsarbeit eingebracht hat, zutiefst dankbar. Nicht weniger dankbar bin ich Kyle Wagner von der University of Chicago Press und den beiden anonymen Lesern, deren umsichtige Kommentare mich dazu bewogen haben, viele konfuse Punkte in meinen Überlegungen differenzierter und klarer darzustellen. Auf der eher persönlichen Ebene haben mir viele Freundinnen und Freunde ihre Überlegungen mitgeteilt und ihre Unterstützung zukommen lassen, während ich die hier dargelegten Thesen erarbeitet habe. Sie wissen um die Herausforderungen, vor die mich das Leben in den vergangenen Jahren gestellt hat, und ich bin dankbar für ihre Freundschaft. Unter ihnen möchte ich be462

sonders meine geliebte Frau hervorheben, die den überraschenden Erleuchtungen, die mich für gewöhnlich beim Abendessen überkommen, mit großer Toleranz begegnet ist. Wichtiger aber war, dass sie ihren hervorragenden philosophischen Scharfsinn in allen Phasen der Entstehung dieses Buchs unter Beweis gestellt hat. Es ist kaum übertrieben, wenn ich sage, dass sie für nahezu alle der besten Gedanken verantwortlich zeichnet, die ich hier nur verschriftlicht habe. Das eigene Leben mit einem Menschen von so erstaunlicher Intelligenz zu teilen, kann einen ziemlich demütig werden lassen, gehört aber auch zu den größten Geschenken, die man sich nur wünschen kann. Es wäre falsch, diese Danksagung zu beschließen, ohne die ernüchternde Tatsache zu erwähnen, dass dieses Buch in der langen und schwierigen Zeit jener weltweiten Pandemie fertiggestellt wurde, die durch das neuartige Coronavirus verursacht worden ist. Und obwohl es eine Plattitüde sein mag, so lohnt es sich dennoch, die Wahrheit auszusprechen, dass diese Krankheit die Prekarität des menschlichen Lebens auf die dramatischste Weise offenbart hat. Das gilt allerdings nicht nur im natürlichen Sinne, insofern wir mit allen anderen Organismen die Anfälligkeit für Krankheit und Tod teilen, sondern auch im sozialen, da die Pandemie bereits bestehende enorme Wohlstandsunterschiede sowohl innerhalb der Gesellschaften als auch zwischen den verschiedenen Ländern der Welt wie unter einem Brennglas vergrößert hat. Ich teile mit anderen Angehörigen meiner gesellschaftlichen Statusgruppe das vollkommen unverdiente Glück, dass ich die Pandemie ohne große persönliche Einbußen überstanden habe. Aber die durchlebte Erfahrung hat mir einen erweiterten Begriff von der Prekarität des menschlichen Daseins verschafft: Leiden gibt es in unzähligen Formen, für die kein Glück eine hinreichende Abhilfe darstellt, ganz gleich, wie groß es ist. Denjenigen Leserinnen und Leser, die ein solches Leiden in ihrem Leben selbst schon erfahren haben, wird es nicht 463

schwerfallen, seine Spuren auf den Seiten dieses Buches zu erkennen. Frankfurt am Main, 2019 Cape Cod und Cambridge (Massachusetts), 2022

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SIGLEN

Adornos Schriften werden nach der Ausgabe der Gesammelten Schriften (GS), herausgegeben von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt/M. 1970ff., und der Nachgelassenen Schriften (NGS ), herausgegeben vom Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt/M. und Berlin 1993ff., zitiert. Dabei gelten die Abkürzungen: GS 1 GS 2 GS 3

Philosophische Frühschriften, 3. Aufl., 1996 Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, 2. Aufl., 1990 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 3. Aufl., 1996 GS 4 Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, 2. Aufl., 1996 GS 5 Zur Metakritik der Erkenntnistheorie/Drei Studien zu Hegel, 5. [recte: 4.] Aufl., 1996 GS 6 Negative Dialektik/Jargon der Eigentlichkeit, 5. Aufl., 1996 GS 7 Ästhetische Theorie, 6. Aufl., 1996 GS 8 Soziologische Schriften I, 4. Aufl., 1996 GS 9.1 Soziologische Schriften II. Erste Hälfte, 3. Aufl., 1997 GS 9.2 Soziologische Schriften II. Zweite Hälfte, 3. Aufl., 1997 GS 10.1 Kulturkritik und Gesellschaft I : Prismen/Ohne Leitbild, 2. Aufl., 1996 GS 10.2 Kulturkritik und Gesellschaft II : Eingriffe/Stichworte/Anhang, 2. Aufl., 1996 GS 11 Noten zur Literatur, 4. Aufl., 1996 GS 12 Philosophie der neuen Musik, 2. Aufl., 1990 GS 13 Die musikalischen Monographien. Wagner, Mahler, Berg, 4. Aufl., 1996 GS 14 Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie, 4. Aufl., 1996 GS 15 Theodor W. Adorno und Hanns Eisler, Komposition für den Film. Der getreue Korrepetitor, 2. Aufl., 1996 GS 16 Musikalische Schriften I-III : Klangfiguren. Quasi una fantasia. Musikalische Schriften III, 2. Aufl., 1990

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GS 17 GS 18 GS 19 GS 20.1 GS 20.2

Musikalische Schriften IV : Moments musicaux. Impromptus, 1982 Musikalische Schriften V, 1984 Musikalische Schriften VI, 1984 Vermischte Schriften I , 1986 Vermischte Schriften II , 1986

NGS, Abt. I , Bd. 1 NGS, Abt. I , Bd. 2 NGS, Abt. I , Bd. 3 NGS, NGS, NGS, NGS, NGS, NGS, NGS, NGS, NGS, NGS,

Abt. IV, Bd. 1 Abt. IV, Bd. 2 Abt. IV, Bd. 3 Abt. IV, Bd. 4 Abt. IV, Bd. 6 Abt. IV, Bd. 7 Abt. IV, Bd. 9 Abt. IV, Bd. 10 Abt. IV, Bd. 11 Abt. IV, Bd. 12

NGS, Abt. IV, Bd. 13 NGS, NGS, NGS, NGS, NGS,

Abt. IV, Bd. 14 Abt. IV, Bd. 15 Abt. IV, Bd. 16 Abt. IV, Bd. 17 Abt. V, Bd. 1

Beethoven. Philosophie der Musik, 1994 Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, 2001 Current of Music. Elements of a Radio Theory, 2006 Erkenntnistheorie (1957/58), 2018 Einführung in die Dialektik (1958), 2010 Ästhetik (1958/59), 2009 Kants Kritik der reinen Vernunft (1959), 1995 Philosophie und Soziologie (1960), 2011 Ontologie und Dialektik (1960/61), 2002 Philosophische Terminologie (1962/63), 2016 Probleme der Moralphilosophie (1963), 1996 Fragen der Dialektik (1963/64), 2021 Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft (1964/65), 2008 Zur Lehre von der Geschichte und der Freiheit (1964/65), 2001 Metaphysik. Begriff und Probleme (1965), 1998 Einleitung in die Soziologie (1968), 1993 Vorlesung über Negative Dialektik, 2003 Kranichsteiner Vorlesungen, 2014 Vorträge 1949-1968, 2019

Weitere Abkürzungen: AA MEW

Kant’s Gesammelte Schriften, Berlin 1900ff. (»Akademieausgabe«) Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Berlin 1956ff. (»Marx-EngelsWerke«)

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NAMENREGISTER

Ahmed, Sara 28 Alexander, Peter 89 Allen, Amy 105, 194 f., 432 Anderson, Perry 88, 229 Antonio, Robert J. 143 Aristoteles 20, 71, 168 Avineri, Shlomo 89, 94 f. Backhaus, Hans-Georg 243 Bataille, Georges 39 Baudelaire, Charles 388 Becker, Hellmut 73 Beckett, Samuel 106f., 314, 331, 387 Beethoven, Ludwig van 11, 112f., 118, 204, 298, 314, 325, 351-359, 361-368, 370f., 373, 376, 440 Beiser, Frederick 45, 177 Benhabib, Seyla 78f., 312, 459 Benjamin, Walter 89, 238-240, 283f., 307, 312, 315-322, 324-326, 328, 345, 384, 447 Berg, Alban 11, 314, 351, 377-380, 385, 395 Berkeley, George 88, 438 Bernstein, J. M. 54 f., 72, 128, 168, 240, 257, 293, 298, 332, 403, 423, 459 Best, Beverly 429 Blättler, Sidonia 458 Bloch, Brandon 245 Bloch, Ernst 18-21, 304, 365 Boer, Karin de 144

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Bouchard, D. F. 433 Brahms, Johannes 351 Braver, Lee 438 Brecht, Bertolt 318, 345 Breckman, Warren 352 Brink, Bert van den 82 Brown, Wendy 416, 433 Bürger, Peter 317 Burke, Donald 309 Burnham, Scott 353 Callois, Roger 284 Calvelli-Adorno, Maria 11 Carman, Taylor 426 Carnap, Rudolf 299 Cavell, Stanley 168f., 452 Celikates, Robin 312, 459 Chua, Daniel K. L. 364 Cohen, Gerald A. 91 Comay, Rebecca 396 Cook, Deborah 266, 432 Cooke, Deryck 371 Cooke, Maeve 459 Cornelius, Hans 123 Cowen, Alexander 462 Crary, Alice 169 Czerny, Carl 142 Dante Alighieri 102 Dell’Antonio, Andrew 362 Demokrit 188f., 237 Derrida, Jacques 39 Dewey, John 190

Grünberg, Carl 239 Guenther, Katja 46 Gutting, Gary 80 Guyers, Paul 169

Dews, Peter 229 Düsing, Klaus 231 Düttmann, Alexander García 82 Eiland, Howard 320 Ellmers, Sven 56 Engels, Friedrich 68, 89f., 95, 322 Engstrom, Stephen 231 Feuerbach, Ludwig 10 Fink, Robert 362 Finlayson, James Gordon 30, 36, 44, 100, 134, 143f., 150-154, 370, 388, 390f., 451, 459, 461 Finn, Huck 343 Fischer, Lars 429 Forst, Rainer 451f., 458f. Foucault, Michel 39, 80, 431-440 Frank, Jill 189 Fraser, Nancy 158 Frenkel-Brunswik, Else 419 Freud, Sigmund 50 f., 160, 269-271 Freyenhagen, Fabian 55-61, 71, 78f., 136f., 151, 162, 168, 286, 314 f., 414, 459 Fried, Gregory 427 Friedeburg, Ludwig von 32, 134, 299, 442 Friedman, Michael 299 Fritz, Kurt von 189 Frumer, Naveh 52 Garland, David 433 Gebhardt, Winfried 74 Geuss, Raymond 433 Gill, Roger 89 Goethe, Johann Wolfgang von 29, 350 Gracyk, Theodore A. 341

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Habermas, Jürgen 9, 14, 32, 37-46, 48, 55f., 60f., 71, 74 f., 79f., 88, 99f., 125, 134, 158, 213, 228f., 263, 299, 442, 446, 450f., 460 Hacking, Ian 436 Halm, Hans 364 Hammer, Espen 74, 107, 169, 360, 459 Hegel, G.W. F. 10, 14 f., 29f., 3740, 44, 89, 91f., 121-123, 132-134, 143f., 151f., 156, 158, 164 f., 172f., 175-179, 197f., 216-218, 253, 354 f., 367, 409, 415 Heidegger, Martin 39, 242, 257, 299, 387, 425-427, 432, 442 Heine, Heinrich 10, 19, 302 Heins, Volker 74 f. Heller, Ágnes 267, 277 Henrich, Dieter 198 Hitler, Adolf 423 Hitzler, Ronald 74 Hogh, Philip 56 Hohendahl, Peter 317 Hölderlin, Friedrich 314, 387 Holz, Karl 363 Homer 268 Honneth, Axel 43, 46-55, 78, 87, 93, 96, 158, 165, 310, 435, 439, 457, 459f. Horkheimer, Max 12, 24, 27, 3947, 55, 69, 71, 87, 108f., 239, 256, 263f., 268, 276, 284-286, 329, 418, 421 Horster, Detlef 44

Kundnani, Hans 12 Kürnberger, Ferdinand 142, 195

Höwing, Thomas 229 Hubert, Henri 284 Huhn, Tom 284, 293, 379 Huizinga, Johan 330f. Hulatt, Owen 190f., 286f., 326 Hullot-Kentor, Robert 379 Hursthouse, Rosalind 167f. Husserl, Edmund 123, 244, 257 Huxley, Aldous 63f., 84

Lacoue-Labarthe, Philippe 284 Langton, Rae 126 Lee, Sherry D. 378 Leopold, David 168 Leppert, Richard 341, 343 Levinson, Daniel J. 419 Lindberg, David 189 Lockwood, Lewis 354, 366 Lohmann, Georg 92 Lukács, Georg 36, 88 Lukes, Steven 89 Luria, Isaac 446 Lyotard, Jean-François 31

Ingram, David 80 Jaeggi, Rahel 78, 161-165, 458f. Jarvis, Simon 72 Jay, Martin 43, 88, 188, 239, 241, 255, 284, 346, 352, 459, 461 Jennings, Michael 320 Jonas, Hans 105 Jütten, Timo 198-200 Kafka, Franz 10, 314, 331, 375 Kant, Immanuel 10, 15, 25f., 28, 42, 44, 58, 73, 125-130, 158, 169, 225-235, 248 f., 251f., 254-256, 292f., 301-305, 329, 336, 351, 375, 381-383, 414 f., 421-424, 426, 444 f., 460 Kenny, Anthony 20 Kerman, Joseph 364 Kierkegaard, Søren 10, 319 Kiloh, Kathy J. 328, 361 Kinsky, Georg 364 Klein, Richard 171, 262 Kolleritsch, Otto 379 Koopman, Colin 432, 439 Korsgaard, Christine 231 Krahl, Hans-Jürgen 99 Kraus, Karl 10 Kuhn, Thomas S. 438

469

Macdonald, Iain 13, 15, 19, 104, 119, 166, 265, 306, 459, 461 MacIntyre, Alasdair 168 Mahler, Gustav 31, 154, 314, 370378 Manet, Édouard 395 Mango, Michael 461 Mann, Thomas 30f., 100, 351f. Mannheim, Karl 76 Marx, Karl 10, 18, 27, 46, 67f., 8898, 100, 110, 143f., 152, 156f., 164 f., 168, 171, 205, 236f., 241243, 266f., 273, 276f., 288, 290, 322, 334, 409-411, 460 Mauss, Marcel 272f., 284 Mayer, Hans 31 McClarey, Susan 361-363 McMahon, Darrin M. 159 Mendelssohn Bartholdy, Felix 302 Menke, Christoph 432 Metzger, Heinz-Klaus 379 Milchman, Alan 434

Rosa, Hartmut 261f. Rosen, Michael 320, 459 Rosenberg, Alan 434 Rosenzweig, Franz 426 Rudolf von Österreich-Ungarn 365 Ruge, Arnold 92f., 409 Rush, Fred 320, 332, 346

Miller, Richard W. 94 Mitchell, Andrew 426 Moyn, Samuel 159 Mozart, Wolfgang Amadeus 204, 340, 369 Müller-Doohm, Stefan 74 Neuhouser, Frederick 177 Nietzsche, Friedrich 10, 38f., 42, 82, 205-209, 214, 424, 431-434, 450 Noppen, Pierre-François 284 Nussbaum, Martha 167f. O’Connor, Brian 78, 158, 160f., 459 Okiji, Fumi 341 Owen, David 435 Paddison, Max 362 Pareto, Vilfredo 65f. Parsons, Talcott 62, 65 Pauen, Michael 36 Pensky, Max 74, 261, 280, 432, 459, 461 Picasso, Pablo 369 Pinkard, Terry 45 Platon 188f., 201f., 206, 397f. Pollock, Jackson 311 Polt, Richard 427 Pries, Christine 383 Proust, Marcel 11, 293f., 440, 443, 447f. Quinn, Richard 341 Rabinbach, Anson 284 Rehding, Alexander 364, 367, 461 Reijen, Willem van 44

470

Saar, Martin 39, 435, 458 Sanford, R. Nevitt 419 Sawyer, Tom 343 Schacht, Richard 433 Schiller, Friedrich 329f., 404 Schmid Noerr, Gunzelin 41 Schmidt, Alfred 237, 266 Scholem, Gershom 319, 446 Scholze, Britta 171, 219, 262 Schönberg, Arnold 11, 314, 369, 377-379 Schönherr, Ulrich 341 Schott, John 367, 461 Seel, Martin 237f. Shakespeare, William 223 Shelby, Tommie 440 Sherratt, Yvonne 79 Shuster, Martin 134, 168, 194, 231 Silber, John 231 Sokrates 189 Solie, Ruth 362 Solomon, Maynard 358 Sonderegger, Ruth 144 Spinoza 81, 134 Stahl, Titus 143f., 152, 155 Steinfath, Holmer 167 Stendhal 100, 388f. Strawinsky, Igor 364, 378 Stuckenschmidt, Hans 378f. Sutterlüty, Ferdinand 457

Theunissen, Michael 32, 134, 154, 299, 442 Tiedemann, Rolf 41, 352 Toorn, Pieter C. van den 362 Traub, Rainer 19, 304 Trawny, Peter 426 Underwood, Edgar Ashworth 189 Vandervelde, Janika 361 Verdenius, Willem Jacob 366 Vries, Hent de 297, 445, 461

Warhol, Andy 311 Weber Nicholsen, Shierry 283 Weber, Max 45f., 139 Webern, Anton 314, 379 Weitzman, Erica 330 Welsch, Wolfgang 383 Whiteman, Paul 341 Wiesengrund, Oscar 9 Wieser, Harald 19, 304 Wood, Allen W. 94, 231 Wunberg, Gotthart 378 Zuidervaart, Lambert 257, 284, 293, 309, 379

Wagner, Richard 204, 314, 369f.

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AUSFÜHRLICHES INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort. Adornos Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung. Gegen Gnosis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die negativistische Interpretation . . . . . . . . . . Performativer Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . Honneth und Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . Weniger falsch leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesellschaftliche Uniformität . . . . . . . . . . . . . Die Herausforderung der Selbstreflexivität . . . . Voraussetzungen öffentlicher Kritik . . . . . . . . . Die Möglichkeit immanenter Kritik . . . . . . . . . Die Frage der Übertreibung . . . . . . . . . . . . . Marx’ kritische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . Die Idee des normativen Überschusses . . . . . . . . Ästhetik und der normative Überschuss . . . . . . . Was bei der Gesellschaftskritik auf dem Spiel steht Temporalität und Normativität . . . . . . . . . . . Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9 25 29 37 46 55 61 66 72 76 80 88 93 98 102 104 108

1 Immanente Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Beethovens Fidelio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Der mikrologische Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Das Nichtidentische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Nichtidentität und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Übungen zum richtigen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Immanente und transzendente Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Immanente Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

2 Menschliches Gedeihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Der emphatische Begriff des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Dialektischer Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Der normative Status emphatischer Begriffe . . . . . . . . . . . . . 187 Normativität und Beschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Nietzsche, Genealogie, Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Glück und menschliches Gedeihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Glück und die Grenzen des Formalismus . . . . . . . . . . . . . . 225 3 Materialismus und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Die kritische Aneignung Marx’scher Themen . . . . . . . . . . . . 238 Der Vorrang des Objekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Die Hinwendung zur Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Offenheit und Vulnerabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Die Natur in der menschlichen Natur . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Drei Illustrationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 4 Von der Metaphysik zur Moral . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Bedürfnisse und Wünsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Mimesis und Materialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Metaphysische Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Eine materialistische Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Das Postulat des höchsten Guts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Glück und Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 5 Ästhetische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Das Fortleben der Aura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Das Zeichen der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Die Analogie zum Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Kunst und Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Autonomie und Heteronomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Jazz, Leiden, Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344

6 Ästhetische Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Vorbemerkung zum Spätstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Erstes musikalisches Beispiel: Ludwig van Beethoven, 9. Sinfonie in d-Moll op. 125 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweites musikalisches Beispiel: Ludwig van Beethoven, Streichquartett Nr. 13 B-Dur op. 130 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drittes musikalisches Beispiel: Gustav Mahler, 3. Sinfonie in d-Moll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Viertes musikalisches Beispiel: Alban Berg, Kammerkonzert für Klavier und Geige mit Dreizehn Bläsern . . . . . . . . . . . . . . Une promesse du bonheur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetische Erfahrung und Gesellschaftskritik . . . . . . . . . . . .

357 363 370 377 386 400

Schluss. Gesellschaftskritik heute . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Normativität in der Gesellschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . 407 Antifundamentalismus und Prekarität . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Faschismus und Vulnerabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Nie wieder Auschwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Antihumanismus und Genealogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Prousts theologische Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 Quellen und Rechtfertigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 Denken und Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467