Predigten für das Christenthum, an Agrippiner unter den Christen: Teil 2 [Reprint 2019 ed.] 9783111436487, 9783111070612


178 77 12MB

German Pages 224 [228] Year 1834

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Vorwort
Text: Math. IX, 35 — 38.
Text: Ieremias XVII, 7, 8.
Text: 1. Joh. IV, 16.
Text: Buch der Richter V, 31.
Text: Jes. XLV, 19.
Text: 1. Kor. XVI, 22.
Text: Brief an den Titus II. 11 —14.
Perikope: Math. XXVII, 24 —31
Text: Johannes III,16. Die Hingabe Ehnsius zur Belebung der Menschheit
Periokope: Apostelgeschichte II, 1 — 13
Text: Johannes VI, 53—64
Text: 1. Kor. XV, 55 und 57
Gebet
Vater in den Himmeln!
Verzeichnis der Druckfehler im ersten Theile
Recommend Papers

Predigten für das Christenthum, an Agrippiner unter den Christen: Teil 2 [Reprint 2019 ed.]
 9783111436487, 9783111070612

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Predigten für das Christenthum, an

Agrippincr unter den Christen, von

I. Z. Bernet V. D. M. in St. Gallen.

Herausgegeben von einem seiner Freunde.

Math. 7, 28 und 29.

Zweiter Theil.

Berlin, bei G. R e i m e r.

1 8 3 4.

Herausgeber dieser Predigten ist sowohl ihrem Herrn Verfasser als auch den geehrten Lesern noch ein Paar Bemerkungen schuldig. Am besten ganz offen! Da mir mein verehrter Freund diese Auswahl sei­ ner Predigten endlich zur Herausgabe überließ, machte er mir doch noch die Bedingung, ich müsse sie zuerst noch mit scharfer Kritik durchgehen und das Streichen nicht schonen; er erinnere sich, sich hie und da etwa fremder, oder sehr derber Ausdrücke bedient zu haben, die ihn leicht einiger Anmaßung verdächtigen, und im Leser die etwaigen guten Eindrüke, die das Bes­ sere bewirken mögte, wieder vernichten könnten. Und da er nun neulich den ersten Theil gedrukt durchlesen und Alles gefunden hatte, wie er es einst geschrieben, so tadelte er mich alles Ernstes darüber, daß ich nichts gestrichen habe. Allein je öfter ich diese Predigten durchlas, desto mehr schien mir meine Pflicht zu sein, sie gerade so herauszugeben, wie sie mir vorlagen, nur mußte die Rechtschreibung, in welcher der Ver­ fasser inner diesen etlichen Jahren ein wenig änderte.

IV gleichförmiger gemacht werden, was aber hier ja ganz anßerwesentlich ist.

Ich schäze mich wahrhaft glüklich,

manche dieser Predigten den Verfasser seiner Zeit selbst vortragen gehört zu haben, und erinnere mich gar wohl, gerade manche recht entschiedene und derbe Win­

ke oder Züchtigungen, die hie und da Prediger selbst,

oder überhaupt Hart- und Starrgläubige, oder Leicht­ fertiggläubige , oder vorschnell den Glauben Verwer­

fende, oder „süße Schwäzer" And dergleichen mehr

betrafen, dem Verfasser schon damals in meinem Her­

zen sehr verdankt zu haben, eben so wie man eine un­

angenehm schmekende, aber heilende Arznei dem Arzte gerne verdankt.

Das Nämliche weiß ich auch zuver-

lässig von nlehrern Freunden. Wir fanden diese Derb­ heiten von diesem Kraftmanne nicht nur natürlich,

sondern eigentlich nothwendig und nicht weniger den äußern Verhältnissen bestens anpassend, so wie man

es gerne sieht, wenn ein reicher O.uell mächtig hervor­ sprudelt, und ringsum, wenn auch zuweilen die gezo­ gene Bahn nicht achtend, überwallend überfließenden

Seegcn ausgicßt an urkräftigcr Erfrischung und Be­ lebung.

Ich hoffte, es werde wohl auch mancher

Leser eben so oft zwar bittere, aber desto besser das Uebel treffende und heilende Arznei für sich finden —-

und ließ deßwegen Alles, stehen wie es gesprochen und

geschrieben worden.

Es ist doch wahrlich besser, eine

V Predigt wirke ordentlich nach in den Zuhörern, als daß sie ihnen nur ein vorüberrauschendcr angenehmer Ohren- und Geistesschmaus sei.

Das: „Verflucht

zeugt doch

sei, der des Herrn Werk lässig thut!"

mehr von einem Gott recht ergebenen als von einem menschenfeindlichen oder lieblosen Herzen.

Ueberdieß

darf an den Aeußerungen oder Werken eines durch­ weg

eigenthümlichen

und

geistigstarken

Menschen durchaus nicht von Andern,

gebildeten

am allerwe­

nigsten von solchen, die ohnehin hoch an jenen hin­

aufschauen müssen, geändert, oder von ihnen wegge­ nommen werden.

Denn es ist gerade bei solchen

Kraftmenschen am allerwenigsten Form, Gewand,

Vortrag, kurz die ganze Art und Weise ihres sich Aussprechens etwas Gleichgültiges oder Zufälliges, sondern gleichsam selbst ein Theil ihres eignen Wesens und also innigst und lebendigst mit dem Inhalte und Geiste ihrer Aeußerung selbst verbunden. —

Ihr

sollet nichts dazu noch davon thun! — Der denkende,

gebildete Leser wird übrigens selbst bald im Verfasser

dieser Predigten mehr einen Mann entdeken,

der

durch die besten Meister sich selbst gebildet hat, als der eines derselben ausschließlicher Schüler oder

Nachbeter geworden wäre,

welches erste-, beiläufig

gesagt, Zwek aller Bildung sein soll.

Verfasser ist

eben selbst ein Lehrer von Gottes Gnaden!

Lcrl: Math. IX, 35 — 38.

Andächtige! Ä6as der Mensch bedarf auf Erden,

um auf ihr gehörig

sich auszubilden für eine höhere Welt — es ist ihm vollauf

angeboten, seitdem das Christenthum zu ihm gekommen ist.

Das Licht seiner Vernunft wird

dadurch so sehr erhöhet

und vervollständigt, daß er diesfalls mit sich selbst in völli­ gen Einklang zu kommen vermag, und, was offenbar einer

der größten Vorzüge des.Christenthums ist, es ist durch

diese Anstalt das Ideal

seines geistigen und himmlischen

Berufes vor seinen Augen zu That und Leben geworden — das Himmelreich, um in biblischen Worten zu sprechen,

ist in ihm auf die Erde herabgestiegen. Dieser hohe Vorzug des Christenthums wird aber nur allzuoft seiner wohlthätigen Wirkungen beraubt, einerseits

durch die Macht der Gewohnheit, anderseits durch die Ge­

neigtheit der menschlichen Natur zu mancherlei Verirrungen. — So achtet nicht mehr der Bergbewohner der Pracht

und Erhabenheit der ihn umgebenden Welt, Meeresküste lebt,

so der an

nicht mehr des allweiten Gebietes der

vor ihm sich hindchnenden Flulh, so sehen wir alle die

Wunder Gottes, die sich jeglichem von uns darstellen, mit

gleichgültigem Blik an,

ja

am gleichgültigsten das größte

Wunder und Räthsel, das Leben selbst.

Sollte es

denn

der Erscheinung Christus in der Welt nicht also gehen? — Auch des Irrthums Macht ist sie nicht entgangen.

weder hat man Christus Person und Werk,

Ent­

im Wahne,

sie dadurch zu ehren, aller ihrer Einfachheit und ihrer in­ nigen Verbindung mit dem menschlichen Leben entfremdet,

II.

t

2 so daß man, um Christ werden zu können, erst aufhören

mußte, Mensch zu sein, oder man beraubte die christliche

Offenbarung im Gegentheil so ganz ihres wesentlichen Cha­ rakters , daß von ihr nur noch ein Gerippe moralischer Lehr-

säze übrig blieb, zu deren Aufstellung es gar keines Chri­ stenthums bedurft hätte, die aber fteilich den Menschen nur

dünkelvoller, nicht besser machten. Beide Weisen, sie mögen auch noch so Unrecht haben, sind auch jezt noch in großem Ansehn unter uns.

Die

Entfernung vom Geiste des Urchristenthums war die Haupt­

sünde aller christlichen Zeiten, so wie die aller vor- und außerchristlichen Zeiten, also der gesammten Zeit des Men­ schengeschlechts überhaupt, die Entfernung von der mittle­

ren und geraden Straße wahrer Menschlichkeit gewesen ist.

Nicht genug kann man demnach darauf dringen, daß man sich's immerfort angelegen fein lasse,

aus allen Fesseln der Gewohnheit,

zurükzukehren

aus allen Beschränkun­

gen zeitalterlicher Formen zur reinen, einfachen Anschauung, zum kindlichen Genuß, zur gläubigen Annahme und zur

verständigen Anwendung dessen, was das Evangelium selbst

unS giebt. —

Ein Glük für uns, daß dieser Quell uns

ungetrübt fließt und daß aus ihm Jeder, dem daran gele­

gen ist, ohne eines theologischen Systems zu bedürfen, sich

selbst unterrichten, durch sich selbst gelehrt werden kann zum Himmelreiche! Ja, Vater! wir danken dir, daß du es den Klüglin­

gen dieser Welt verborgen, den Unmündigen geoffenbaret

hast,

und daß deine Belehrungen Jedem,

der redlichen

Sinnes ist, offenstehen. Wir preisen dich, daß es also wohlgefällig war vor dir. Laß auch uns in dem Lichte deiner Wahrheit einfältig wandeln,

durch sie immermehr

geheiligt und zu ihrem unsterblichen Quelle,

zu dir, ge­

führt werden!

Wir folgen für unsere diesmalige Betrachtung

ganz

dem vorgelesenen, kurzen Abschnitte der evangelischen Ge-

3 schichte,, die uns in demselben ein belehrendes, rührendes und ermunterndes Bild

Jesus

der Hirtentreue Jesus giebt. durchzog die Städte alle und

die

Fleken, lehrend in ihren Synagogen und ver­ kündend die Freudenbotschaft vom Reiche Got­

tes —

und

heilend

die Krankheit und jedes

körperliche Uebelbefinden.

Laßt uns nicht denklos und kalt an dem Bilde des göttlichen Menschenfreundes vorübergehen! Siehe, es tragen Kränze des Ruhmes in den Ge-

schichtbüchem diejenigen, von denen es heißt: Sie durch­ zogen alle Städte und Fleken mit der Macht ihrer Waffen

und breiteten aus die Geseze ihrer Herrschaft.

Es nennen

sich Bolksbeglüker diejenigen, von denen man sagen kann:

Sie predigen auf allen Lehrstühlen und verkündigen auf

allen Sammelpläzen und in Zeitungen neue Grundsäze ge­ sellschaftlicher Einrichtungen, die auf den alten Grund eines unverbesserten Menschengeschlechts gebaut sind.

Es lassen

sich als Freunde und Beförderer des Lichts, der Wahrheit

und des Heils preisen solche, die da ihre Boten und Par-

teigänger aussenden und Land und Meer umziehen, um Proselyten ihrer Ansicht zu gewinnen.

Man erhebt, als

Zierden und Wohlthäter der Menschheit, solche, die irgend einer Erfindung, irgend einer Wissenschaft Leben und Kräfte

weihten und allenthalben ihr nachgiengen, überall nur sie suchten. Ich stelle allen diesen, den Schlechtem wie den Bes­

sern, den Unedlen wie den Edlen, —

Jesus Christus

gegenüber, und rufe mit dem Römer, der jenes Wort, freilich in einem andern Änne, sagte und eigentlich nicht wußte, wie viel er damit ausdrükte: „Sehet welch ein Mensch!" — Er zog umher

und

lehrte überall.

Er

vorenthielt sein Evangelium Niemand, wartete auch nicht,

t*

4 bis die Leute ihm nachzuftagen kämen, sondern trug es

ihnen zu.

Den Versuch damit machte er allerorts;

denn auch seinen Schülern sagte:

wie er

Sie sollten es Jeder­

mann antragen und nur da sich zurükziehen, wo man sie durchaus nicht hören wolle. Er handelte mit seiner unei-

gennüzigen Gabe gerade so, wie die Menschen gewöhnlich

um Gewinnes willen handeln.

„Meine Speise ist, daß

ich thue, was mein Vater durch mich will,

sein Werk vollende." —

und daß ich

Sie haben es freilich nachher

anders und die Sache Christus zu einer Sache irdischen Vortheils

gemacht — wie noch izt Viele thun, die, um

jhr äußeres Glük zu gründen, so lehren, wie sie davon bei

den vorurtheilsvollen Menschen irgend eines Zeitalters den

meisten Beifall zu hoffen haben — unwürdige Schüler des

Meisters, der sich um der Wahrheit willen an's Kreuz ge­ bracht sah — ausgcartete Nachfolger der Apostel, die da glaub­

ten: man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen! Jesus

lehrte

in

der

Juden Synagogen,

d. h. er hielt sich, mit Ausnahme seiner im Freien gehalte­ nen Vorträge, an die Lehrweise, die unter seinem Volk eingesührt war, da nämlich jedesmal ein Abschnitt aus den

Schriften des alten Bundes vorgelesen und dann, nach be­

liebiger Auswahl,

über

denselben im Ganzen oder über

So ehrte er vor­ daß man diese nicht

dessen einzelne Theile gesprochen wurde.

handene Formen — weil er wußte,

ohne Nachtheil plözlich umstoße und weil sein göttlicher Geist

über jene kindische Vorliebe für irgend eine neue und über jenen kindischen Haß gegen irgend eine alte Form weit er­ haben war, womit sich gewöhnlich die großen Männlein

der Tagesgeschichte so breit machen, daß sie nirgends Raum haben, sondern an aller Biedermänner Schultern anstoßen. — Neue Volksaustlärer sehen

izt freilich mit Achselzukcn

auf die alttestamentlichen Schriften herab, die Christus nicht für unwürdig

hielt, zu Grundlagen seiner Vorträge

braucht zu werden.

ge­

-

5



Aber dann hieng er freilich auch nicht am Buchstaben,

daß cr z. B. jene

und wir finden unter anderm nirgends,

fürchterlichen Verwünschungen, die dem sonst so frommen

David in einigen seiner Psalmen gegen seine Feinde ent­ flossen, jemals mit dem Triumpf herausgehoben habe, wie

unsre allerneuesten Zionswächter es thun, wenn sie Anders­ denkende mit dem Scheine Rechtens zu verdammen sich er­ lauben.

Es läßt sich unschwer errathen, in welchem Sinn

Jesus den Ausspruch verstanden wissen wollte:

„Ich bin

nicht gekommen, Gesez und Propheten aufzulösen, sondern

sie vollständig zu machen" — wenn man nachliest, wie er die alten Gebote behandelte und wenn man sein Wort be­

herzigt: „Der Geist ist's,

der lebendig macht; der Buch­

stabe tobtet" Jesus verkündete die Freudenbotschaft vom

Reiche Gottes. —

Es ist, Andächtige! bei den Schrift­

gelehrten älterer und neuerer Zeit als ausgemacht anerkannt,

auch jedem ungelehrten, aber denkenden Leser des N. T.

klar, daß unter dem Worte Reich Gottes, Himmel­ reich nichts anders als die durch Christus vermittelte, und

unter die Menschen gebrachte Heilsanstalt, sodann auch die Gesammtmasse aller dadurch geistig neugebornen Menschen,

der unsichtbare Veresn aller wahren Jünger Christus —

kurzum,

das zu

verstehen sei, was die christliche Kirche

nicht ist, aber sein könnte und sollte. —

Dieses Gottesreiches

frohe Kunde trug Jesus unter das Volk und er durste darum gar wohl bei der Aufzählung seiner wohlthätigen Werke am Schlüsse der übrigen, als das vornehmste, be­

zeichnen „die Predigt des Evangeliums an die Armen."

Eine Anstalt zur Erleuchtung, Entsündigung, Besserung, Beruhigung und Beseligung des Menschen stiften, bekannt

machen, eröffnen, und antragen —

das ist ein Verdienst

wie die Sterne

um die Menschheit, wovon alle andern, vor her Königin des Tages, erbleichen.

Wir können dies­

mal bei dessen Erörterung nicht verweilen,

aber wenigstens

6 den Gedanken nicht unterdrüken,

daß doch wohl eine

Lehre und eine Anstalt, die durch Jahrtausende sich als das Heil der Welt bewiesen, den Namen Evangelium besser tragt, als sogenannte Beglükungssysteme, die

kaum die Probe von heut auf morgen aushalken. Jesus heilte jede Krankheit undKörperschwachheit unter dem Volke. So war er Wohl­ thäter, nicht nur in Worten und Versprechungen, wie

es, weil es nichts kostet, die Heuchelei und die unter dem Aushangschilde der Beförderung von Menschenwohl verborgene Selbstsucht auch kann und wie vor allem aus das gleißnerische Geschlecht unsrer Zeit darin so meisterlich geübt ist. Alles überfließt heutiges Tages von uneigcnnüzizer Menschenliebe. Man will nur den Staat beglüken, nur Bürgerwohl fördern; man sucht nur der Kirche Gedeihen; man hat nur die Erziehung, die Schule, die Wissenschaft im Auge, will nur dem Gewerbe, dem Handel, anfhelfen, nur die Armuth berathen und unterstüzen — und am Ende, wenn ihr's beim Lichte betrachtet, wenn ihr obrigkeitlich Mäntelein und geistlichen Schwarzrok und gemeinnüzige Maske wcghebet, so steht der leibhafte Pharisäer vor euch,

der nur einen Gott, sein eignes Ich, kennt und verehrt. — O Jesus Christus, dessen Wort That und dessen That Wort ist, wie Gottes Wort und Gottes That — eins und eben dasselbe, inniger verbunden als Leib und Geist, ruf's mit deiner Stimme der Wahr­ heit, die eindringl wie ein doppelschneidig Schwert, ruf's in alle Seelen, die sich selbst und Gott belügen,

hinein: ,,An euern Früchten muß man euch erkennen! Nur die werden in's Himmelreich kommen, die da thun den Willen meines Vaters! " Unser Bericht fährt fort: „Wenn dann Jesus die Volköhaufen so ansah, fühlte er inni­ ges Mitleid gegen sie, daß sie so herumge-

7 triebe» und p r c i s g e g e b e » feien, wie Schaaf e, dir keinen Hirten haben. Das hier gesagte greift mit dem Vorigen in Eins zusammen. Mitleid und Wohlthat sind verwandt, wie Funke und helles Feuer. Es ist, Gott sei gelobt! auf Er­ den schon viel wohlgethan worden; aber doch geschah und geschieht dies mehr in sinnlicher als geistiger Beziehung. In Jesus finden wir beide Arten des Wohlthuns; er heilere ihre Krankheiten und Gebrechen/ aber erbarmte sich ihrer auch als der in geistiger Irre herumgetriebe­ nen Schaafe. Darum waren seine leiblichen Hilfen nur Sinnbilder seiner geistigen. Gern öffnete er dem Blin­ den das Auge, dem Tauben das Ohr — allein sein

eigentlicher Augenmerk war die viel wichtigere Arbeit der Hebung der Blindheit des Geistes und der Taub­ heit des Gemüthes, Gebrechen, die nicht schon vor einigen Arzneimitteln fliehen, oder dem bloßen kurzen Worte des Wunderthäters weichen. Kaum ist eine menschliche Bemühung denkbar, die nicht nur allem eignen zeitlichen Vortheil so wenig günstig wäre, sondern auch

hinsichtlich ihres wirklichen Zieles undankbarer und er­ folgloser erschiene als diejenige, die auf Beförderung der geistigen und sittlichen Vervollkommnung der Men­ schen auögeht und namentlich die Erweiterung und

Verlebendigung des Reiches Gottes auf Erden beab­ sichtigt. Daher so Wenige die, mit Christus zu spre­ chen, sein Kreuz auf sich nehmen und ihm nachfolgen, also irdischen Vortheil dieser besten unter allen guten Sachen zu opfern bereit, und in diesem heiligen Werke nicht mit Miethlingslauheit und pharisäischer Pastoral­ klugheit, sondern mit redlichem Ernst und gottgefälli­

gem Eifer zu wirken beflissen sind — und daher denn auch die Lahmheit, Halbheit, Geistlosigkeit und Abger schmaktheit unsres Christenthums; denn „wie der Hirt,

8 so die Heerde" — und: „der Glaube kommt

aus der Predigt." Gerade darin auch sah Jesus den Grund des Uebels bei seinen Zeitgenossen. Statt besorgt und geleitet, geweidet und beschüzt zu sein, glichen sie Schaafen, die, hirtenlos, in der Wüste müde getrieben und, gleichsam verächtlich hingcworfen, allem Unbill von außen preisgegeben waren. Er sah sie unter der Deke Moses, die freilich ursprünglich Hülle einer erhabenen Offenbarung war. Er sah sie beladen mit Menschensazungen, deren vielgestaltige Kleinlichkeit nie zum Anschauen und Bewußtsein der einfachen göttlichen Ge­ bote kommen ließ. Er sah sie an der Hand von Füh­ rern,- die nicht nur selbst nicht in's Himmelreich einge­ hen wollten-, sondern auch andere mit List und Gewalt davon' abhielten; denn ihre Werke waren böse, und darum Haßten sie das Licht. Er sah sie verführt von dem großen Verführer der Menschen vom Schein, diesem Vater aller Lauheit, alles Hinkens auf beiden Seiten, alles Stehenbleibens auf halbem Wege — und diesem Werkzeug aller Heuchelei und Ungerechtigkeit — dem aber auch ewig das Gotteswort entgegensteht: „Ach, daß du kalt oder warm wärest! Da du aber lau bist,

muß ich dich ausspeien aus meinem Munde!" — Ja so sah Jesus seine Volksgenossen in geistiger Irre, der wahren, vesten Richtung ihres innern Lebens be­ raubt — also dem größten Unglük preisgegeben, in das der Mensch gerathen kann und darüber empfand er in­ niges Mitleid — er, der nicht gekommen war, zu rich­ ten — was auch nicht nöthig war, da im Grunde Jeder in sich selbst schon gerichtet ist —sondern der da kam, daß die Menfchenwelt durch ihn sich selbst, ihr Sein und Nichtsein, ihre Zukunft, ihr Ziel und ihren Gott kennen lerne, ja durch ihn selig werde. Und Jesus sprach zu seinen Schülern;

9

Die Aernte ist groß, aber wenig sind der Arbeiter. Bittet denn den Herrn derAernte, daß er Arbeiter in seine Aernte sende! Die Aernte ist groß! Großes Wort dessen, den Johannes das in Menschengestalt erschienene Wort Got­ tes nennt. Akervörderst bemerken wir, daß Jesus also in seinem Volke nicht einen rettungslos zur Hölle verdammten Hau, sen sah, wie einige Diener Christus heutzutage in ihren Zeitgenossen — sondern daß er die Uebcrreste des Eben­ bildes Gottes in der menschlichen Natur auch im verbün­ deten, verirrten und versunkenen Menschen noch erkannte und auf sie seinen Rettungsplan baute. Er wollte das zerknikte Rohr nicht vollends zerbrechen und den glim­ menden Docht nicht gar verlöschen und nannte den nicht einen fluchwürdigen Irrgläubigen, der noch nicht in alle Worte seiner Lehre einstimmen konnte, sondern gab ihm, wenn er einstweilen auch blos an das höchste Gebot glaubte, die Zusicherung. „Du bist nicht ferne vom Reiche Gottes." Er trug Geduld und gab Anlei­ tung, wie Jeder, was er bereits hatte, mehren und mit seinem Pfunde wuchern könne. Er stieß die Men­ schen nicht, während er sie gewinnen wollte, zurük, sondern überließ nur diejenigen sich selbst und ihrem Schiksale, die sich verhärteten gegen List und Recht, und mit Pharaons Trug ausricfen: Wer ist der Herr, dessen Stimme wir Gehör geben sollten? Und warum sollte er nicht so zu Werke gegangen sein? Kam ihm ja, ungeachtet aller tief gewurzelten und von oben herab geflissentlich unterhaltenen Verun­ staltung des religiösen Lebens des Volkes, doch immer so viel Hunger und Durst nach Besserm, so viel Em­ pfänglichkeit für die Offenbarung menschlichgöttlichcr Wahrheit entgegen, baß er selbst bezeugen konnte, das Reich Gottes breche nun mit Macht herein und daß er

10 seinen Schülern mit Sicherheit Voraussagen konnte r

sein

Werk werde, obwohl eine Weile verkannt und erniedriget, dennoch siegen. Es war ihm ganz gewiß, daß

es nicht an der Anlage, nur an der Entwikelung, nicht am Grunde, nur am Bauen auf denselben, nicht an der Bearbeitbarkeit, nur an Arbeitern fehle — aber freilich auch, daß diese Entwikelung, Erbauung, Bearbeitung ein Werk sei, für das man vom Himmel her sich Arbeiter erbitten sollte, weil nur, wer aus Gott ist, Gottes Sache zu treiben vermag. „Die Aernte

ist groß" sagt hier Jesus und

an einem andern Orte:

„Der Aker ist die Welt." —

Nicht das sogenannte gelobte Landlein nur trug also Jesus im Herzen. Er war der Welt Heiland. Er wies auf alle Weltgegenden hinaus, wenn er von den­ jenigen sprechen wollte, die einst noch würden an ihn gläubig werden. Er sandte seine Schüler ausdrüktich in alle Welt — und diese sprachen in seinem Namen zu ihren Zeitgenossen: „Euer und Euerer Kinder ist die Ver­

heißung des Evangelium, und aller derer, die jezt noch ferne sind und die der Herr, unser Gott, noch herzurufen wird." So erhebe und heitre sich denn unser Blik und fröh­ lich spreche unser Herz in höhrem, als dem gewöhnli­ chen, Sinne: „Die Erde ist des Herrn!" — Zwar noch fehlet viel, daß alle unsre Brüder gelangt waren zur Gnade der Erkenntniß seiner. „Noch tappen ganze Nationen, o Quell des Lichts! in Dunkelheit"---------doch laßt uns an sein Wort uns halten, daß einst nur ein Hirt, nur eine Heerde sein werde! Anbahnung genug, Keime genug, hin und her schon Felder voll schöner Halmen! Ueberall ein Funke Gottes — ein Wort Gottes im Menschen, so lange her, als Menschen sind — niedergcdrükt zwar und übertaubt hie und da, aber

11

doch unaustilgbar/ ewig lebendig und harrend seiner Stunde, der Stunde einer glorreichen Auferstehung. Die Aernte ist groß. Sie ist es auch bei uns, Andächtige! Sei auch der Ruhm unsrer Zeit, was Re­ ligiosität betrifft, nicht fein, und das himmlische Licht des Evangeliums umnebelt von einer, durch Ueberkultur unbändig gewordenen, Sinnlichkeit und von einer, durch Zeitumstände sehr aufgeregten, Selbstsucht, sei es zurükgedrängt durch den Schimmer der Brandfakeln fal­ scher Aufklärung und einer, die Schranken oft übertre­ tenden Neuerungssucht — dennoch wird einerseits das Uebermaaß zur Entbehrung führen, und diese zur Er­ greifung des wahren Heils antreiben und befähigen, an­ derseits aus dem unabsehlichen Gewirre der widerspre­ chendsten Gedanken und Begriffe endlich wieder Man­ ches Lichtvolle, Nüjliche und Wesentliche im Allgemei­ nen, aber besonders auch manches brauchbare Material zum Baue des Reiches Gottes hervorgehen. Müde ge­ trieben im Drange einer kämpfenden, gährenden Welt, preisgegeben allen Einflüssen der verschiedensten, sich izt bestreitenden Elemente, dürfen wir hoffen, daß gerade in dieser Zeit immer mehr erwachen werde das Bedürf­ niß nach einem Hirten, der, von Schiksal und Zeit, und noch mehr von unsrem eignen Innern beglaubigt, sagen darf: „Meine Schaafe hören meine Stimme und ich kenne sie und sie folgen mir und ich geb' ihnen das ewige Leben und Niemand wird sie aus meiner Hand reißen." Aus dem Elend einer Gott entfremdeten Zeit gieng noch immer der Jubel eines Tages des Herrn her­ vor. Mir ist, ich sehe Jesus im Sturmgetümmel. „Was seid ihr so zaghaft, ihr Kleingläubigen?!" — und dann: „Bis hieher und nicht weiter! Hie sollen sich legen deine stolzen Wellen!" Weisheit also ist's, die nicht einschläfern soll, aber trösten kann, in den Regungen unsrer vielbewegten,

12 schweren Zeit auch die Keime einer neuen Saat für das Reich Gottes zu sehen. Die Aernte ist groß. Ich kann nicht schließen, Andächtige! ohne dieß auch noch ganz im Einzelnen an­

gewendet zu haben. Im Gegensaze des verderblichen Leichtsinnes der Zeit bildet sich in derselben oft bei Ein­ zelnen ein Ohnmachtsgefühl, eine Verzagtheit aus, als

ob Menschheit und Christenthum in ihrem gegenseitigen Verhältnisse sich durchaus geändert hätten und als ob unter dem Zepter dieser Zeit es unmöglich würde, zur echten Jüngerschaft Christus, zu einem vesten, wüthi­ gen Glauben, zu einem wirklich und standhaft frommen Sinne zu gelangen. O zweifle nicht: auch in dir ist die Aernte groß. Es schlummern in dir Kräfte des Glaubens, der Hoffnung, det Liebe, eines nach Gott fragenden, Gott umfassenden, in Gott lebendig werdenden und zu beseli­ genden Sinnes,die keine Zeit unterdrüken kann — und

so Manches in dir, was du nicht achtest, vielleicht wohl gar dir nachtheilig glaubst, so manches in deiner Zeir, dessen Einfluß du vielleicht als nur verderblich ansiehst, kann gerade in dir auf jenen Tag der Aernte segensreich wachsen und gedeihen. „Denen, die Gott lieben, müs­ sen alle Dinge zum Besten dienen." Bitten wir denn, Andächtige! den Herrn der Aernte, daß er Arbeiter in dieselbe sende! Betrachten wir selbst uns bald unter dem Bilde seines Akerwerks, bald unter dem seiner Arbeiter! Sein Reich sei unser Augenmerk! Lasset uns in demselben und für dasselbe Gutes thun und nicht müde werden, so werden wir zu seiner Zeit auch ärnten ohne Aufhören! Amen!

13

Sext:

Math. XI, -2 — 10.

Andächtige! „Der große Haufen der Menschen," sagt ein geistreicher

Mann des vorigen Jahrhunderts, „weidet sich unaufhör­ lich an Worten ohne Sinn, Aeußerlichkeiten ohne Kraft, Körper ohne Geist, Gestalt und Form ohne beseelendes Wesen."--------- Sehr wahr! aber nirgend wahrer als auf dem religiösen Gebiete. Oft noch weihet man den Gegenständen und Erscheinungen des täglichen Lebens ein, mehr und minder sorgfältiges, Nachdenken, aber bei den Interessen des Geistes überlaßt man sich entweder einer völligen Gleichgültigkeit oder der nicht viel bessern, mehr passiven als wirksamen Theilnahme an den Förm­ lichkeiten und Uebungen, die das Aeußere unserer Kirche ausmachen. So beweglich der Mensch im Einzelnen ist, so bezieht sich der aus dieser Beweglichkeit folgende Ver­ änderungstrieb doch meist nur auf Kleinigkeiten. Im Großen und Größten folgt er der Gewohnheit, die ihm, anstatt des Wesens, eine Form bietet und wenn er in diese Eewohnheitsform hie und da einige außerwesent­ liche Veränderung bringen kann oder bringen sieht, so wähnt er das Größte vollbracht — und immer kommt er heraus aus dieser Selbsttäuschung, die ihn besängt, ehe er sich selbst klar werden kann. Allein sollte er nicht wenigstens streben, sich davon los zu machen, sobald ihm auch nur eine Ahnung seines Zustandes gewor­ den ist? Andächtige! wir haben heute den dritten Advent­ sonntag , den dritten Vorbereitungstag auf das Andcnkensfcst der Geburt Jesus Christus. Wir haben also den Kreislauf der christlichen Feste abermals begonnen.

14 Wie wäre es, wenn wir uns einmal ernstlich fragten: Verdient wohl bas Christenthum, so wie es sich uns in der Erfahrung zeigt, daß wir uns seiner Stiftung jährlich wieder erinnern, ja daß wir die Anbenkenstage an die Geburt seines Stifters an die Spize aller christ-, lichen Feste stellen und auf sie uns so lange vorbereiten? Hat es nicht in der That die ihm zugemeffene Ehre mit andern wohlthätigen Erscheinungen in der Menschheit

zu theilen?

Dürften wir nicht eben so wohl ein Fest der

Natur, ein Fest des Menschthums, der Erziehung, der Bürgerlichkeit und Verfassung, ein Fest der Kunst und der Wissenschaft in unsern Tempeln feiern, vor allem aus aber ein neneS Fest aller Heiligen aufstellen, näm­ lich aller Philosophen, Staatsmänner, Gesezgeber, aller Entdeker und Erfinder und aller ausgezeichneten Beför­ derer menschlicher Bildung und Glükseligkcit? Dieß, Andächtige! sind Fragen, die schon hie und da und weder von unbedeutenden, noch unweisen Men­ schen öffentlich ausgesprochen wurden — Fragen, an die uns die Lage des Christenthums in unsern Tagen, an di« selbst unser Textabschnitt uns erinnert — Fragen, die in einem Zeitalter, wie das unsrige ist, nicht be­ fremden dürfen, denn bas — Wissen blähet auf, giebt eine gewisse Sattheit und Selbstgenügsamkeit, und nur

wenn der Mensch auf irgend einer Seite bis an die Gränze desselben hindurch gedrungen ist, kehrt er zur Demuth zurük und fühlt das Bedürfniß in sich, nach einer höhern, untrüglichen Weisheitsquelle zu fragen, der er dann auch einen allesübertreffenden Werth zugestcht.

Wohl dem, der noch fragt und sucht und forscht und nicht stille steht und nicht Schein für Sein und Bruchstük für Ganzes und Völliges will! Wohl dein, der ausgenüchtert von aller Krizelei und Wizelei unsrer falsch berühmten Kunst, sich den Armen im Geiste bei­ gesellt, von denen Jesus sagt: „Selig sind sie, denn

15

ihrer ist das Himmelreich!"— Zu ihnen gehörte Jo­ hannes, von dem unser Text redet. Gehen wir nun zu diesem über! Offenbar liegen in dem vorgelesenen Stuf evange­ lischer Geschichte, das uns die Botschaft des Läu­ fers Johannes an Jesus erzählt, folgende drei Hauptmomente: 1. Die zweifelnde Frage des Johannes, 2. die bestimmte Antwort Jesus, 3. die Belehrung Jesus an seine Zuhörer.

I. „ Thut Buße! das Himmelreich ist genahet" — hatte Johannes gerufen in seiner Wüste und viele Her­ zen wurden erschüttert von der Stimme dieses Rufen­ den, der im Geist und in der Kraft des Elias vor dem Welterlöser hertrat. Diele giengen in sich selbst, fanden Sinnesänderung hochnöthig, bekannten ihre Sün­ den und ließen sich durch die Taufe zu Genossen des Messiaereiches weihen, dessen Offenbarung nun bevor­ stehen sollte. Mit glühendem Eifer hatte Johannes sei­ nes Berufes gewartet; mit inniger Freude sah er end­ lich denjenigen auftreten, den er der Welt als das wahre Lamm Gottes anweisen konnte und dessen höhe­ rer Wirksamkeit et gerne die seinige, die nur vorberei­ tend sein sollte, zum Opfer brachte. Er kannte keinen größer» Wunsch, als an der Seite seines göttlichen Freundes, den er auch als seinen Herrn ansah, der immer glorreicher» Entwiklung des Reiches Gottes entgegenzusehen und dazu mitzuwirken. Allein mitten aus diesen Erwartungen hinweg hob ihn der Viertelefürst Herodes Antipas, dem Johannes gesagt hatte: „Es ist nicht recht, daß du deines Bruders Weib habest" — worüber eben dieses Weib den charakterschwachen Ge­ mahl bewog, den strengen Sittenrichter, dem er sonst

16

nicht ungerne das Ohr lieh, für einmal in den Schat« ten zu sezen. Da fieng denn der anscheinend langsame Fortschritt des Planes und Werks Jesus an, dem guten Johannes, der nicht mehr dabei thätig sein konnte, bedenklich zu werden. Einige Tagereisen von dem gewöhnlichen Schauplaze der Wirksamkeit Jesus ent­ fernt, mochte er wohl bisweilen den Ruf einer großen That Jesus vernehmen, mußte aber auch sehen, daß, obwohl Jesus nun schon gegen zwei Jahre wirksam war, doch immer noch von keiner Anerkennung seiner als Messias die Rede sei, sondern daß Alles seinen alten Gang gehe und die große Welt von dem in Ga­ liläa reisenden Lehrer und Wohlthäter noch gar keine Notiz nehme. Da schwand, bei'm spärlich in seinen Kerker einfallenden Lichte des Tages, auch bas höhere Licht beseligenden Glaubens aus der Seele des Gefange­ nen. Ihn faßten entmuthigende Zweifel und er sandte zwei seiner Lernjünger zu Jesus und ließ ihn fragen: „Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten?" Diese Frage, wie oft wurde sie wiederholt, wah­ rend den 1800 Jahren, die seit der Stiftung des Christenthums verstossen sind! Da, als morgenlandische Schwärmerei und heidnische Philosophie in die Lehre des Evangeliums ein flössen und Sekten von den buntesten Farben hcrvorricfen — da, als man das Wesen des Christenthums in der Aufstellung unverstan­ dener, weil unverständlicher, Glaubensbekenntnisse suchte und über Lchrsäzen, von denen das Evangelium nichts weiß, sich gegenseitig verfluchte und verfolgte — da, als die Krippe und das Kreuz Christus in einen unge­ heuren Herrscherpallast umgestaltet wurden, dessen Vor­ höfe alle Länder deken sollten— da, als das einfache geistige, beseligende Wort Gottes von künstlichen, buch­ stäblichen und drükenden Mcnschensazungen verdrängt

17

worden war, da hätte wohl auch mancher eifervolle Johannes dem Christus eines solchen Christenthums zu, rufen mögen: Bist du es, oder sollen wir eines andern warten? Sollte diese Frage des Zweifels in unsrer Zeit so ganz verstummt fein? Freilich, wie man sonst vom Glauben zu sagen pflegte, so könnte man izt von einer Art des Zweifels sagen: es sei nicht Jedermanns Ding. Wenige nämlich zweifeln mit Ernst daran, daß es mit dem Christenthum heutzutage weit am besten stehe. Wenige fragen sich selbst, ob der Christus unsrer Tage wirklich der des Evangeliums, der göttliche Menschensohn oder menschliche Gottessohn sei. Man hält sich mit Selbstzufriedenheit an den Ueberresten einer ehemals vorhandnen, aber nie ausgebauten Kirche, deren Licht und Recht längst dahin ist. Man begnügt sich hie und da einen Baustein aus einer Zeitphilosophie, oder aus dem Staats - und Bürgerthum, oder aus der Schule einzufliken und sieht nicht oder will nicht sehen, daß der Abfall vom Glauben immer allgemeiner und die Kirchenspaltung größer wird, als keine frühere gewe­ sen ist. Ja — Abfall vom Glauben! Etliche sind gänzlich erstorben für alle Religion; in Etlichen liegen noch einige religiöse Gedanken wie welke Herbstblumen herum und Etliche sind die Schlachtopfer der sich mannigfal­ tig gestaltenden Zweifelei — wasserlose Wolken, vom Wind umhergetrieben, ausgewurzelte, zwiefach erstor­ bene Bäume, wie Jakobus sagt. Und ja — Kirchenspaltung! Aus dem Schovße der sogenannten christlichen Kirche aller Bekenntnisse, vor­ nämlich aber des unsrigen, heben sich izt besonders zwei Hauptparteien hervor, die, welche ein Christen­ thum hat ohne Christus und die, welche einen Christus hat ohne Christenthum. Die erstere trennt Christus PerII. 2

18 —

fon von feinem Werke, um ihn und freilich auch man, ches Eigenthümliche seiner Lehre mit ihm ganz in den Schatten zu stellen. Die andere hält sich nur an die Persönlichkeit, an die durch Raum und Zeit beschrankte Persönlichkeit, des Menschcnsohnes Jesus von Nazareth, um ihn zum Herrn und Gott des Himmels und der Erde zu machen, ihn von allem Menschlichen abzuson, dern und damit alles Humane, in die Bedürfnisse und Verhältnisse des Menschen so vielfach Eingreifende sei, ner Lehre in Vergessenheit zu bringen. O Eitelkeit der Eitelkeiten! Sollte man sich nicht versucht fühlen, wenn Christus immerfort so zerrissen und so umnebelt erscheint, die Ivhanneisch; Frage zu wiederholen? Und sollte etwa ein unpartheiischer Blik auf die äußre Gestalt und auf die Ergebnisse des Chri, stenthums diese Frage zurükdrangen können? Der schärft sichtige Beobachter macht uns darauf aufmerksam, daß auch izt nicht mehr als ein Drittheil der Erdbewohner sich zur ausschließlich wahren und ausschließlich göttli, chen Lehre bekenne. Wir fragen: warum? und müssen uns die Antwort geben: Zum Theil aus demselben Grunde, warum die vormals den Israeliten gegebene Verheissung von allgemeiner Verbreitung ihrer Religion nie in Erfüllung gegangen ist. Es fehlt nämlich der unwiderstehlich zeugende Erfahrungsbcweis von der die Menschen erleuchtenden, erhebenden, heiligenden und beseligenden Kraft des Christenthums vor den Augen der Heiden. Dafür sehen sie allenthalben ungefähr dieselben menschlichen Unvollkommenheiten, Thorheiten, Sünden und Laster auch bei uns Christen, sehen, daß auch wir im Ganzen, wie sie, vornämlich von Selbst, sucht beherrscht werden, aus der dann, wie bei ihnen, alle Gestaltungen von Ungerechtigkeit und Bosheit sich entwikeln, die wir namentlich auch so oft gegen sie «uslaffen. Ja, wer muß nicht zugeben, daß gerade

19 dasjenige in der Lehre des Evangeliums, was dieselbe von allen andern Religionslehren ausjeichnet, immer­

fort noch als etwas Ideales da stehe, um dessen Ver­ wirklichung sich Tausende nicht die geringste Mühe ge­ ben mögen, welche Verwirklichung Manche sogar für unmöglich halten? Bei solchen Betrachtungen kann es denn freilich nicht befremden, wenn bisweilen sich die Frage an unser Christenthum aufdrangt: Bist du es wirklich, oder sollen wir eines andern warten?

n. Auf diese Frage antwortete Jesus r „ Gehet hin und saget dem Johannes wieder, waS ihr sehet und höret: Die Blinden sehen und die Lahmen gehen, die Aussäzigen werden rein und die Tauben hören; die

Todten stehen auf und den Armen wird das Evange­ lium gepredigt. Und selig ist, der sich nicht an mir ärgert." — Das war eine Antwort, nicht wie sie Johannes erwartet haben mochte, aber eine, wie sie nur Jesus geben konnte. So gar nichts von seiner Person, nichts für die gewöhnlichen Messiashoffnungen, auch nichts von der eigentlichen, geistigen Entwiklung seines begonnenen Werkes, wie sie nachher ins Leben trat und uns bekannt ist. Welche Demuth — im sichern Bewußtsein dessen, was da kommen soll, nur von dem zu sprechen, was bereits geworden ist! Und welche Weisheit, den Zweifler nicht mit Hoffnungen, sondern mit dem untrüglichen Vorhandenen zu beruhigen! Es ist, als wollte er ihm sagen: Siehe, lieber Johan­ nes! meine Stunde ist noch nicht gekommen — die Stunde, da mein Vater mich verklaren und allge­ mein verstehbar für mich zeugen wird. Doch wirkt der Vater immerfort durch mich und mein Werk geht sei­ nen stillen, großen Gang. Thaten göttlicher Kraft und Liebe bezeichnen seine Fußstapfen und Licht und Wahr-

20 Helt strömt aus ihm auf alle, die sich deren bedürftig

fühlen. Was ich izt thue, es kann dir Symbol sein des Wesens meines Werkes und meines Reiches, das nichts anderes als Erleuchtung der Verblindeten, Hei­ lung der Erkrankten, Beseligung der sonst vergeblich nach Seligkeit ringenden Menschheit zu seinem hohen Endzwek hak. Wohl dir, wen» du aus der Wurzel den Baum schon zu ahnen vermagst, unter dessen Schatten einst Millionen froh und geborgen sein werden! Wohl dir, wenn -Du an meines izigen Wirkens Anspruchlosigkeit nicht irre wirst, sondern in ihr das Pfand unendlich größerer Zukunft zu sehen vermagst. Lassen wir, Andächtige! dies Wort des Herrn auch uns gesagt sein zur Beantwortung dessen, was uns vorhin veranlaßt hat, in die zweifelnde Frage des ge­ fangenen Täufers einzustimmev! Lernen auch wir, selbst bei den rrübesten Aussichten auf die gegenwärtige Ge­ stalt des Christenthums, uns fest halten an das Wirk­ liche, was unwiderleglich, thatsächlich da ist und was Grundlage zu besserm sein kann und sein wird! Wenn es schon bei den Alltäglichkeiten des Lebens eine große Thorheit ist, immer über das vorhandene Gute nach möglichem, wünschbarem hinaus zu sehen, wie viel größer ist sie in Absicht dessen, was das Licht, die Kraft und der Segen des Lebens ist! Ja, Andächtige! auch uns könnte der Herr die

Antwort geben, die er den Boten des Johannes gab; denn wir haben vom Christenthum doch viel Wirk­ liches, Thatsächliches noch unter uns — haben ja vornämlich des Evangeliums Urkunden selbst. Im­ merfort sprechen sie zu uns, zeugen laut gegen unsre Unchristlichkeit und geben gerade dadurch das erste Mit­ tel an die Hand, uns dieses Zustandes zu entschlagen. In ihrem Lichte sehen wir daö Licht, sehen nicht nur,

was wir sind,

sondern

auch,

was

wir seyn

sollten

21

und wie dessen Verwirklichung unS möglich werden kann. Laß denn, lieber Freund! wenn du es nicht ander­ machen kannst, laß die ihren Weg dahin wandeln, die die Finsterniß mehr lieben als das Licht und mache du dir es gewiß, daß das göttliche Licht, so wie es jeden Menschen, der in diese Well kommt, erleuchten will, auch dir strahle und daß es an dir sei, dein Geistes» äuge seinem erheiternden Glanz und dein Gemüth fei# «er belebenden Warme zu öffnen. Frage dich nicht, warum sich Christus in deinen Zeitgenossen nicht offen# bare, sondern nur, warum er sich in dir nicht offen# bare, du mußt nicht durch dein Zeitalter, sondern durch dich selbst selig werden und du kannst dies in jedem Zeitalter durch die Kraft Gottes. Eines tiefen Sinnes ist der schwärmerisch scheinende Ausdruk: Christus muß in jedem Christen auf's neue geboren werden. ■— Also laßt uns nicht eines andern Zeitalters oder Zeitgeistes warten, für das, was uns kein Zeitgeist weder geben noch nehmen kann! Wohl kann irgend eine Zeit vor an# dern aus arm sein an himmlischen Gütern; allein wer auch das Wenige, was ihm Gott durch seine Zeit zu Theil werden laßt, redlich benuzt, dem wird einst daS Urtheil „Ei du frommer und getreuer Knecht-------- ich will dich.über viel sezen!11 — Aber nicht nur der Quell des Christenthums er­ gießt sich auch noch in unsre Zeit hinein; an feinen Ufern gedeiht auch jezt, auch unter uns noch so manche schöne Frucht. Nicht will ich hier mit der andern Hand wieder geben, was ich mit der einen genommen habe. Ich wiederhole, was kein redlicher Beobachter leugnen kann, daß das evangelische Christenthum unter uns im Ganzen nur als Ideal erscheint. Aber giebt es denn keine Lichter unter dem verkehrten und unge­ schlachten Geschlechte dieser Zeit? Wenn dieses nicht wäre, so würde das Verkehrte uns kaum mehr als

22

solches erscheinen können. Ja, noch ist Frucht des Christenthums bei uns — die Feucht des Geistes Gott tes — Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Glaube, Sanstmuth, Keuschheit. Noch izt giebt es Beispiele, die man zur Nacheiferung aufstel­ len darf, Beispiele achter Christen, denen man bei ihrem Hingange nachrufen darf: „Meine Seele sterbe des Todes dieses Gerechten und mein Ende sei wie sein Ende!" Noch blühet so manches Gute unter uns, dessen Ursprung man kaum anders als aus christli­ chen Gedanken, christlichen Empfindungen, christ­ lichen Vorsäzen herleiten kann, und sollten derer auch nicht viele sein, deren Licht nicht unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter gehört, daß man ihre guten Werke sehe und darüber den Vater im Himmel preise, sollten es nicht Viele sein, die aus wahrem, bestem Glauben, aus reiner, heiliger Liebe in allem nicht sich selbst, sondern Gottes und der Menschheit Sache su­ chen — doch sind noch solche und sie sind es, durch die ein Lebensodem einer höhern Welt durch die Masse der Menschen hinwehet, sie sind das Salz der Erde. Freilich unbeachtet oft und unerkannt wirkt in solchen und durch solche das Christenthum; denn nicht das Gute, sondern bas Böse macht Geschrei auf Erden. Bescheiden und demüthig tritt der Christ zurük, da er sich selbst und sein hohes Ziel am besten kennt und weiß/ daß er doch zulczt alles aus Gottes Gnade nur hat. Sein Leben ist, um mit dem Apostel zu reden, verborgen mit Christus in Gott. O daß wir mit aufmerksamem Sinn und mit dank­ barer Freude jede Spur eines solchen Lebens aufzufas­ sen und sie auf unser Gemüth wirken ;u lassen, bereit waren! Daß wir immer empfänglicher würden für jede Erfahrung der Gaben und Kräfte der zukünftigen Welt au uns und an Andern! Wahrlich, wir könnten auch.

wie dort Johannes kernjünger, aber im geistigen Sinne, wahrnehmen, daß Blinde sehend, Lahme gehend, Aus» sazige rein, Taube hörend, selbst Todte erwekt werden, daß überhaupt den geistig Armen aller Art ein Freud» und Fried'evangelium kund wird, das sie mit wahrer Gotteskraft zu seligen Menschen umgestaltet. Aber daß auch, wenn wir solche Erscheinungen nicht immer wahrnehmen und unser Blik über der Ungöttlichkeit dieser Zeit trübe werden will, wir dennoch an Jesus nicht Anstoß nehmen, sondern an dem Anker jenes Ausspruchs unS vesthalten. „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen!"

HL Nun wendet sich Jesus, nachdem die Schüler des Täufers fort waren, an den ihn umgebenden Volks­ haufen. Wie Johannes ihn unrichtig beurtheilt, so wiederfuhr dieses dem Johannes auch vom Volke: „Wißt ihr, sagt Jesus, was ihr eigentlich in der Wüste sehen wolltet? Nein, manche von euch wuß­ ten nicht recht, warum sie Hingiengen. Ucbrigens hat wohl keiner ihn in seiner ganzen Größe begriffen; denn er ist mehr als irgend ein Prophet. Unter allen Erd­ gebornen ist noch kein Größerer aufgestanden als er — der Bote, der Vorläufer des Messias, der Elias, der, eurer Erwartung zufolge, vor dem Messias noch einmal erscheinen soll. — Und doch ist der Kleinste im Reiche Gottes größer als er. Dieses Reich bricht, seit Jo­ hannes aufgetreten ist, mit Macht herein und wem keine Mühe zu viel ist, der erringt es wie einen Preis. Merke sich dieses, wer Sinn hat! Doch das Geschlecht dieser Zeit ist Kindern gleich, die am Markte sizen und denen ihre Gespielen nichts recht machen können. Johannes trat in strenger Enthaltsamkeit auf und ward ein Besessener gescholten. Des Menschen Sohn trat

24 auf, aß und trank---------- da hieß es r Sehet doch, ein Fresser und Weinsäufer! ein Genosse der Zöllner und Sünder! Doch die Weisheit rechtfertigt sich bei

ihren Kindern selbst." So lautet, Andächtige! die Rede Jesus in ihrem, Volt unserm Textstüke getrennten Zusammenhang. Ich sollte nichts dazu beifügen als: Wer Ohr zu hören hat, der höre! Welche unwiderstehliche Wahrheit und wie fruchtbar in der Anwendung gerade auch auf die Mehrzahl der heutigen Menschen! So, wie damals

bei den Juden, ist auch unter uns noch izt wenig klares Bewußtsein eines religiösen Bedürfnisses. Auch uns könnte man, wenn wir zur Kirche gehen, fragen: Was seid ibc hingegangcn zu sehen oder zu hören? und wenn wir in der Bibel oder in Erbauungsbüchern lesen: Verstehest du auch was du liesest? und bei unserm Gebete: Weißest du auch, daß du nicht für Gott, sondern für dich selbst zu beten hast, und weißest du, um was du allernächst bitten sollst? Und was der Fragen mehr sind, die man bei unsern Taufen und Leichenbegängnissen und Festfeiern und Abendmahls» genüsscn an uns thun könnte und wobei Manche auf Tausend nicht Eins zu antworten wüßten. — Ach, Andächtige! wenn wir unö selbst fehlen, so fehlt uns Alles. Wenn wir uns selbst fremd sind, was soll uns dann nahe kommen, was unser Eigen­ thum werden? Wie viel wäre gewonnen, wenn jedes aus uns einmal mit der Redlichkeit, die man sich selbst schuldig ist und mit dem Ernste, der einer so wichtigen, wenigstens sich als so wichtig ankündigenden Sache ge­ bührt, fragen würde: Was soll mir denn eigentlich die Religion? wofür hielt ich sie bisher? in welchem Ver­ hältnisse stand ich bis izt zu ihr? was erwarte, was verlange ich von ihr — was sie von mir?! — Wahrlich, die meisten Menschen kommen in ihrem

25

ganzen Leben nur nicht einmal bis zu diesem Anfang, und die Folge davon ist, daß sie auch in Hinsicht auf Religion nur bei'm Aeußerlichen, bei der Form stehen bleiben, und so der Religion gewisse Erwartungen ent# gegen sezen, ihr gewisse Bedingungen verschreiben und sie nach sich selbst modeln, statt daß man sich von ihr belehren, bilden, erziehen und einen neuen bessern Weg leiten ließe. — Man beklagt sich izt hie und da über ein allerdings wieder aufkommenbes Desthalten an eini­ gen einzelnen Schriftausbrüken, mit Ausschließung an­ derer, so, als ob nur darin allein das Bedingniß der Seligkeit läge — warum nicht auch über das viel häufigere Nichtkennen der ganzen heiligen Schritt? Man nennt es Unsinn, wenn Einige gutmeinende Eiferer alles zur Hölle verdammen, was nicht mit einer gewissen Auelegungsweise jener Bibelstellen übereinstimmt; allein ist es nicht auch Unsinn, über die Fragen: Was bin ich? was wird einst aus mir werden? was ist die wahre Bestimmung meines Geistes? — nie eine genü­ gende, beruhigende und das ganze Leben bestimmende Antwort zu suchen? ist es nicht auch Unsinn in Absicht auf das Christenthum nie mit sich selbst in's Reine kom­ men zu wollen, sondern immer bloß um dessen Außen­ seite herumzuschweifen und am Flittergolds den Blik zu sättigen, womit seine, von Menschenhänden gemachte, Formen verziert sind? — „Wer nicht mit mir sammelt, der zerstreuet. Nicht alle, die „Herr! Herr! “ sagen, werden in's Himmelreich eingehend O, daß es nicht immer und immer wieder auch von uns heißen müsse: Was seid ihr denn hingegangen zu sehen und zu hören? — Schall und Schatten für We­ sen und Wirklichkeit?! Daß wir einmal sehen lernten mit den Augen, die Jesus selig pries — sehen lernten, wie diejenigen, die vom Anschau'n Jesus zeugten: „Wir sahen seine Herrlichkeit als die des eingebornen Sohns

26

vom Vater." Daß wir ihn hörten mit dem Sinne derer, die zu ihm sprachen: „Herr! wohin sollten wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens!" Dann würden wir auch überall, wo Andre blind und taub an ihm vorübergehen, ihn wahrnehmen und Worte seiner Weisheit, einer göttlichen Weisheit hören. Dann würden wir in jedem Feste und in jedem Abend, mahl einen Boten sehen, der uns den Weg zu ihm hin bereiten soll. Ja du, heilige Religion, theures Evan­ gelium! wärest uns dann sichrer und schneller Führer zu ihm und durch ihn zum Vater! Dann nahmen wir auch keinen Anstoß mehr an ihm, sondern in der Demuth de­ rer, die sich eines höher» Lichts bedürftig fühlen, wür­ den wir, wie Maria, das beste Theil erwählen und uns ihm zu Füßen sezen; aber auch in der Freiheit derer, die im Geiste wandeln, würden wir nicht bloß Worte nur sehen, sondern in den Geist Christus selbst eindrini gen und aus demselben eine Fülle geistiger Güter für unS nehmen, die Licht und Leben eines höheren Sinns in seiner Gemeinschaft schon izt in uns wirklich machen würde. Welch ein Hell für uns, Andächtige! Wie gewinn­ reich dann auch die Tage der Vorbereitung auf bas Wier dergedächtnißfest seiner Erscheinung! Nicht mehr sprachen wir zweifelnd: Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten? sondern wir riefen ihm jubelnd entgegen: Hochgelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn! Amen!

27

Trit: IrrcmiaS XVII, 7, 8.

Andächtige! Es ist des Geschwäzes viel über Religion.

Wenn uns

der Kern und Mittelpunkt derselben zu groß und das Feuermeer dieser Sonne unsern blöden Augen zu ge­ waltig ist, so wenden wir uns dasür zu dem kleinli­ chen, immer wechselnden Farbenspiele, das ihre ein­ fachen Stralen in den Dünsten unsers niedrigen Seins erjeugen. Unser Verstand ergözt fich damit, die Be­ ziehungen der Religion auf alle denkbaren Fälle des gemeinen Lebens herauszuklügeln und den zahllosen An­

wendungen des Umstanden und der Gesellschaft Schriftgelehrten

Sittengesezes auf die nach Zeit, Ort, Persönlichkeit verschiedenen Verhältnisse nachzuspüren, nach dem Beispiele der und Pharisäer, die die Münze, den

Till und Kümmel verzehndeten, aber das Schwerste im Geseze dahinter ließen, nämlich: Gerechtigkeit, Men­ schenliebe und Wahrhaftigkeit. Mit Jesus darf man auch hier hinzufügen r „Dieses sollte man thun und jenes nicht unterlassen." Wäre einmal der lebendige Glaube an Gott bei uns

an die Stelle des bloßen Begriffes von Gott getreten und wäre unser Gemüth von dem durchdrungen, er­ füllt, was bis izt mehr nur Gedächtniß- und allen­ falls, wenn's hoch kömmt, Verstandes-Sache in uns gewesen ist, wer sollte cs dann nicht schön und nüjlich

und unserm Christenberufe angemessen finden, auch mit abgeleiteten Lehren der Religion, mit in's Einzelne gehenden Anwendungen derselben sich zu beschäftigen? Aber, wahrlich! wir bedürfen, wie Paulus cs von den Galatern bezeuget, gleich den Kindern, Milch. Wir

28

sind «eist nur noch Anfänger in christlicher Erkenntniß und christlicher Heiligung. Nur zu oft ist uns ©oft noch ei» bloßer Gedanke, nicht im Gemüth ergriffene WirklickUit; Vorsehung ein Begriff bloß, nicht ein Gegenstand eines vesten, wüthigen Vertrauen«; Tugend ein leerer Schall, nicht ein durch Gottes Segen selbst Erprobtes; Unsterblichkeit ein zweifelhafter Dämmerschein, nicht ein nnge« trübt über unsere Grabesnebel hinabstrahlendes, die heimwehkranke Seele mit Jubel erfüllendes Himmelslicht. Hören wir doch den uralten Spruch: „Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang!" Fangen wir doch bei'm Anfang au! Halten wir es doch nicht für ein Geringes, recht vest zu werden in der „Hauptsum­ me aller Lehre," in dem, was Christus „das erste und größte Gebot," was er „das ewige Leben" nennt! — „Wer da hat, dem wird gegeben, daß er mehr habe." Wie wahr ist dies namentlich auch in Beziehung auf Religiosität! Aber die lebendige Quelle verlassen sie, um sich Svdbrunnen zu graben, die des Wassers ermangeln. Ach, du hohe, heilige Religion! wann werden wir dahin kommen, daß wir dich sehen, wie du bist? Laß uns dein Angesicht schauen, auf daß wir genesen! Verzeihet uns, Theuerste! diese weithergeholten Ge­ danken und Gefühle, die sich uns unwtllkührlich auf­ drängten, als wir uns vornahmen mit Euch von einem Gegenstände zu sprechen, der, um seiner Allgemeinheit willen unendlich wichtig ist, aber eben wegen dieser Allgemeinheit Jntresse und Nachdruk für Viele verloren hat. Wir sprechen vom Vertrauen auf Gott und halten es für ein Wort zu seiner Zeit, wenn wir, nach Anleitung unsres Testes, die vorzüglichsten Seg­ nungen des wahren Gottvertranens Euerer Andacht nahe legen. —

29 Vertrauen auf Gott ist's, was der Prophet uns in seinem lieblichen, rührenden Naturbilde anempfichlt. Was ist dies Vertrauen? Darüberzum Doraus einige kurze Worte. Vertrauen auf Gott ist ein mit beruhigendem, wohl­ machendem Sicherheitsgesühl verbundener, vernünftiger

und vester Glaube an Gottes Wesen und Wirken, in sofern es mir uns selbst, unserm Daseinszwek und un­ serm

Verlangen

nach wahrer Glükseligkeit in Verbin­

dung steht. Es ist also dieses Vertrauen nichts ande­ res als eine besondere Seite oder Richtung des reli­ giösen Sinnes überhaupt, der persönlichen Religiosität. Oer Echtreligiöse ist auch der Echtvertraucnde und so­ mit hat der wahre Christ das wahrste Vertrauen auf Gott. Er ist überzeugt, daß die Welt, sowie sie durch die höchste Macht, Weisheit und Güte erschaffen wor­ be»/ auch durch dieselbe Güte, Weisheit und Macht erhalten werde; daß das vollkommenste Wesen zugleich der beständige Träger und Regierer aller Dinge sei;

daß die Einrichtung und Leitung der Welt, ungeachtet wir nur einen unendlich kleinen Theil davon kennen, den­ noch von uns als die weiseste, beste und namentlich als auf unser, der Menschen, wahres und größtes Heil berechnet, theils eingesehen, theils geglaubt werden könne und solle, ja auch in den Fällen geglaubt wer­ den müsse, wo es uns an der gehörigen Uebersicht der Fügungen Gottes und an der Einsicht in ihre Absichten

und Erfolge durchaus gebrechen sollte. Bei solchem Vertrauen durchdringen sich gegenseitig zur schönsten Uebereinstimmung, Demuth und Muth, ruhige Ansicht

und lebendige Thatkraft, Bescheidenheit in der Erwar­ tung und Kühnheit in der Zuversicht. Wer so vertraut, spricht mit David: Der Herr ist mein Hirt; mir wird nichts mangeln — und mit Paulus: Ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel, noch Für-

30

stenthum, noch Gewalt, weder Gegenwärtiges, noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch keine an­ dere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes u. s. w. aber eben sowohl betet er auch mit Christus Worten: Vater! nicht mein, sondern dein Wille ge­ schehe! Doch, gerade diese segensreiche Wirkungen eines echten Vertrauens sind es, die wir izt naher beherzi­ gen wollen.— Es verklart dieses Vertrauen allervörderst den innern Menschen. Alles ist eitel hienieden und wandelbar! Verge­ bens bemüh'» wir uns im Staube und aus Staube bleibende Hütten zu bauen, vergebens einen Bund mit dem Geschik zu flechten, vergebens den Strom der Zeit auch nur für Minuten aufzuhalten. Wir ringen mit der Zeitlichkeit, die unter unsern Handen sich in die buntesten Wechselgestalten umwandelt und unsern Scharf­ sinn und Eifer zum Spotte macht. Was Wunder, wenn wir durch diese unaufhörliche Nekerrien und Täu­ schungen einerseits an kleinlichen Wechsel gewöhnt, und in steter Zerstreuung erhalten, anderseits verzagt und ungewiß werden, was wir thun sollen und wenn wir uns endlich, wcnn's wohlgcht, damit begnügen, nach langen unangenehmen Erfahrungen diesem wechselnden Spiele, in uns selbst zurükgezogen, mißtrauisch zuzu­ sehen, ohne uns mehr freiwillig in dasselbe hineinzuwagen. Das nennen wir dann Lebeneklughcit und schmeicheln uns, mit ihr das höchste Gut für dieses Leben errungen zu haben. — O, Freunde! was ist's denn, daß so viele Menschen, deren Gang durch's Le­ ben, nach irdischem Maaße zu urtheilen, meist glüklich war, doch mit Unmuth, mit verbissenem Grimm oder mit höhnendem Ekel die Welt anschauen und gerne den Blik von ihr abwendeten, wenn es ihr zu ent­ rinnen hienieden möglich wäre, ohne sich selbst zu nahe

31

zu treten; ja was isi's, daß auch schon Menschen auü bloßem Lebensüberdruß sich eigenmächtig dieser Bürde entledigten? Das ist es — sie waren ohne Gott in der Welt und sahen darum in ihr nur Nichtigkeit, Täuschung, Verwirrung, ein plan- und zielloses, von tiefer Nacht belastetes Chaos, in das einzutreten, in dem herumgeworfen und aus dem wieder in's Nichts hcrausgeschüttelt zu werden, des Menschen erbärmliches Loos sei. Ja wohl, ein erbärmliches Loos, so zu denken! Anders ist's mit dem, der sein Vertrauen auf Gott sezt, dessen der Herr seine Zuversicht ist. Ruhig und heiter, frei und groß geht er seines Weges mit vcstem Schritt und frohem Herzen, sieht in der an­ scheinenden Verwirrung weisen Plan, im nächtlichen Dunkel ein höheres Licht, im blinden Zufall anbetens­ würdige Absicht und wenn er dies auch nicht immer sicht, so lebt er doch des Glaubens: Ob alles im ewigen Wechsel dreist — es beharret im Wechsel ein ruhiger Geist — der unwandelbare Haltpunkt für alles Wandelbare, gestern und heut und ewig Ein und Eben­ derselbe. Im Lichte der Offenbarung seines Gottes die Welt, die Natur, die Geschichte, die Zeit, die Schiksale des Ganzen und des Einzelnen, kurz alles Gewe­ sene und Gegenwärtige, so weit es zu seiner Kenntniß kommt, überschauen und nach richtigem Maaßstabe wür> digen zu können, welche Ruhe und Vestigkeit, welche stille Größe, welchen Adel muß dies seiner Sccle er­ theilen! Zu seinen Füßen liegen jene Fesseln, womit die Eitelkeit ihre Sklaven bindet, jenes ängstliche, unr stäte, Andern und sich selbst bald zu viel vertrauende, bald gänzlich mißtrauende Dichten und Trachten nach einem Etwas, worüber man sich oft kaum Rechenschaft geben kann, jenes kindische Haschen nach Schatten, jenes Rennen nach Gütern des Staubes. Erhaben iff er über die kleinlichen Bestrebungen und Kunstgriffe,

32 über die als höchfie Weisheit gepriesenen Klugheitsregeln, womit sich gewöhnliche Menschen das erwerben wollen, was sie entweder nie erlangen oder worin sie sich, so, bald es ihnen wird, getauscht finden. Heil ihm! Er hat einen Gott, von dem, in dem, ju dem alle Dinge sind und der auch ihm ein Ziel gesezt hat, ein herr­ liches Ziel, welches er durch dessen Beistand einst er­ reichen $u können, izt schon versichert ist. So erhei­ tert, verklart, adelt das Vertrauen auf den Herrn den inwendigen Menschen. So, wahrend es ihn ganz Gott übergiebt, giebt es ihn, im schönsten Sinne des Wor­

tes , sich selbst wieder. Eine fernere Frucht dieses Vertrauens, aus der eben besprochenen sich entwikelnd, ist die, baß es uns ermuthigt und stärkt bei'm Gefühl mora» lischer Schwäche.

Wir haben das Sittengesez in unsern.Herzen. „Es ist dir gesagt, o Mensch, was gut sei und was der Herr, dein Gott, von dir fordert." Auch haben wir gar schöne Tugendlehren auf dem Papier und unser Kultur­ stand hat es uns möglich gemacht, auch für die schwie­ rigsten und rathselhaftesten Vorfälle mit Sicherheit auszumitteln, was recht und unrecht sei. Aber mit der heiligen Schrift spricht die tägliche Erfahrung: „Sie sind alle abgewichen." „Wer will einen Reinen finden bei denen, da keiner rein ist." „Niemand ist gut als der einige, Gott." Mögen immerhin die schmeichelhaften, selbst von Kanzeln zu hörenden Anreden an die Unschul­ digen und Tugendhaften und die heiligsprechenden Lob­ reden über Verstorbene süß wie Sirenengesang in die Ohren unsrer Zeitgenossen tönen, doch glaubt man im Ernste nicht daran. Da, in der eignen Brust, steht ein gültigeres Zeugniß dessen, was ich bin und nicht bin. — Sollen wir nun aber, Andächtige! einige

Ejenev aus dem Innern der sittlichen Welt herausheben

33 und euch die mannigfaltigen Gestalten der Unzufriedenheit und des Unmuths über sich selbst/ der bittern Vorwürfe und scharfen Züchtigungen des innern Rich­

ters/ so wie des schmerzlichen/ heißen/ oft kaum zu lindernden Reuegefühls und dann auch der so oft wie­ der aufgeregten Selbstanklage lebendig vorzuschildern versuchen? Nein/ Andächtige! das sei euch selbst überlassen. So groß auch der Abstand ist von der grobe»/ meist nur Unmuth über seine Unklugheit im Sündigen aus, brükenden Reue bis hinauf zu der zartesten/ streng­ sten/ den geläutertsten Religionskenntnissen entsprechenden Selbstprüfung und Zurechtweisung/ so kennen doch Alle das Eigenthümliche des Bewußtseins/ gefehlt zu haben. Und nun/ was kann dem Stachel dieses Bewußtseins seine verwundende Schärfe nehmen, was das Gefühl

der Reue über nicht zurükzubringende Fehltritte, nicht auskilgbare Fleken, nicht zu vergütende Ucbelthaten lin, der»? was kann den schwersten Sünder aus seinem Abgrunde, in welchem er mit Kain schreit: „Meine Sünde ist größer, denn daß sie mir könnte vergeben werden!" herausheben? was auch dem ediern Men­

schen den bei ihm, eben weil er schon edler und dem zufolge mit sich selbst viel strenger ist, nicht minder schmerzenden Eindruk seiner allem Kampf und aller An­ strengung truzenden sittlichen Schwäche und Verdor­ benheit einzig erleichtern als eben ein echtes, lebendi­ ges Vertrauen auf die in Christus angebotene Gnade Gottes?! Dieses ist's allein, was uns trösten kann über das Vergangene, was uns zurufen muß: „Mein

Sohn! meine Tochter! dir sind deine Sünden verge­ ben!" Dieses allein ist'ö, was uns ermuthigen kann, zu vergessen, was dahinten und unablässig nach dem, was vor trachten. II.

uns ist, nach dem vorgestckten Ziele, zu O Freunde! es will wahrlich viel sagen,

3

34 den doppelten Stachel der Vergangenheit auszuhalten, die uns für das Unwiederbringliche verdammt und für das, was noch werden soll, entmuthigt! Man kennt die so gemeinen und doch so unglüklich gewählten Bei schwichtigungsmittel der Menschen für solche Wunden und Schmerzen — Aberglaube an äußere und innere Nothwendigkeit, grundloses Vertrauen auf Umstande und auf Selbstkraft für eine bessere Zukunft, Schwächung und Abstumpfung des Gewissens und des sittlichen Ge­ fühls in uns. — O Gott! welche tödtliche Arzneien! Nur das Christenthum ist auch hier der Weg zur Wahrheit und zum Leben. Wie auf schmalem Berges­ grat zwischen zwei drohenden Abgründen führt es Je­ den, der klar sehen und vorsichtig wandeln gelernt hat, zwischen Leichtsinn und Verzagtheit, zwischen unbeding­ tem Selbstvertrauen und unbedingtem Sichselbstaufgeben hindurch. Es flößt das wahre Vertrauen auf Gott ein — auf Gott, in dem der sittliche, wie der physische Mensch Leben und Kraft findet, in dem er, gleich allen andern Dingen, ja in höherm und innigerm Sinn als alle andern Dinge, ruhet. In diesem Gottver­ trauen liegt die Einfalt und Weisheit des Christen­ thums. Er weiß darum nichts von einem selbstge­ rechten Verdienst einiger natürlichen Tugenden, aber eben so wenig von einem aus Mißverstand einiger paulinischen Aussprüche hergeleiteten Ausschließcn des auf irgend eine Weise im Menschen vorhandenen Guten — ein Ausschließen, das Verblindung und geistlichen Hoch­ muth auf der einen und Verzagtheit auf der andern Seite hervorbringt. Aber so war es wohlgefällig vor dem Vater des Lichts und der Gnade, baß den Klüg­ lingen aller Farben und Physiognomien die Wahrheit Gottes verborgen bleiben und dem Kindersinn allein offenbar werden müsse. Kindersinn! du hältst dich, ohne weiteres Erforschenwollen des Unerforschlichen an

35

den allumfassenden Gedanken, daß Gott, die ewige Liebe, das Heil aller Menschen wolle, und daß Alle, die durch Christus zu ihm kommen, nicht verlo­ ren gehen, sondern ewiges Leben haben sollen. Kindcrsinn! du glaubst, baß Gott zu diesem. Endzweke die allanwendbarsten und erfolgreichsten Mittel und Ver­ anstaltungen gewählt und getroffen habe, Mittel und Anstalten, die sich an Keinem, der sie benuzen will, »»bezeugt lassen. Aus diesem Glauben geht Ruhe her­ vor, aus dieser Ruhe Freudigkeit, auS dieser Freu­ digkeit Kraft und Gelingen. Und das ist's ja doch, was wir vornämlich bedürfen und was wir nirgends in dem Grade finden, wie in Gott, d. h. wie in einem Leben unsrer Seele in Gott. Ja, wie einerseits die Kraft jum Guten durch das Vertrauen auf Gott sich stärkt, so nimmt auch die feindselige Kraft des Dösen dadurch schon von selbst ab. Das Böse, die Sünde, das Laster haben irdische Zweke und sollen dieselben in einem Grade verwirkli­ chen, der dem Eutsein oft gerade zu entgegen, oft wenigstens nicht so leicht oder schnell oder ganz erreich­ bar scheint und ist. Sollte es der gottvertrauenden Seele möglich sein, Etwas zu suchen, zu verlangen, das wider Gottes Willen streitet? Sollte sie Etwas, das ihr, wenn auch noch so wünschbar und noch so unsträflich scheint, durch unrechte Mittel erlangen, es erkünsteln, erzwingen und so Gott gleichsam vorgreifen wollen? Muß nicht im Lichte des Gottvertrauens Sünde und Laster auch schon von dieser Seite als Empörung und Frevel gegen Gott erscheinen? Der Gottver­ trauende kann ja — so hängt in der Gottseligkeit Alles zusammen — kein solcher sein, ohne daß er zugleich de­ müthig, liebend, gehorsam und ergeben wäre und auS einem solchen Gemüth, einem solchen Tempel des gött­ lichen Geistes, muß alles Ungöttliche weichen. 3*



36

-

Aber, meine Werthesten, nicht nur Kraft und See Ungen gegen die Sünde bedürfen wir, sondern auch zur

Bewirkung des Guten, ;um Thun des Willens Gottes — nicht nur Friede und Ruhe ist's, was unsre Seele erfüllen soll; es muß auch Lebinsfrische zur That in uns wohnen. Auch dafür wirkt das Gottverlrauen segensvoll in uns. Was soll ich sagen über dieses wichtige Kapitel?!

O des Thuns und Treibens ohne Gott in der Welt, das sich selbst immer verschlingt und doch sich selbst immer wieder gebiert; das unter seinen eignen Trüm­ mern fallt und doch immer wieder aus Trümmern Trüm­ mer baut! O des Schaffens — nein ! nicht Schaf­ fens — des Machengeschäftlens ohne Gott, das an angeborner Auszehrung dahin stirbt, weil es nicht Wur­ zel, nicht Grund, noch Nahrung hat! Unverwelkliche

Hochachtung euch, ihr seltnen Kraftmenschen! ihr Gottesmanner aller, auch roherer Zeiten — ihr mit euer« Wunderwerken! — während wir mit einer Gott fernen Kultur keine Thaten mehr, nur Geschäfte noch ha­

ben — oder allenfalls im Rausch eines Fiebertraums Luftstreiche für Thaten ansehen. — O ihr uns unbe­ greiflichen Helden des Glaubensund der Tugend! wie fremd klingt uns selbst euere Sprache! „Ich komme zu dir," sagte euer einer zum gewaltigen Feinde seines Vol­ kes — „ich komme zu dir im Namen Jehovahs, des Gottes Israels." Und ebenderselbe: „Mit meinem Gott übersteige ich feindliche Mauern." — Und ein Ande­

rer r „Hier stehe ich; ich kann nicht anders; Gott helfe mir! Amen." — Solchen Menschen freilich zerrann es nicht unter den Händen, wenn sie etwas thun woll­ ten. Es war Kraft, Fortgang, Segen und nachhal­ tige Fruchtbarkeit darin. Wer Gott vertraut, der muß wirken können; denn er erfaßt die Bedeutung 'einer Lage und seiner Umstände. Sind diese

37 beschränkend und lassen ihm geringen Spielraum, so ist er überzeugt, daß er nun für einmal im Geringen treu sein müsse, und daß Gott ihm gewiß, je nach Be» dürfniß und Vortheil, mehr anweisen werde — sind sie wichtig, schwierig und vielforderud, so flößt ihm

der Gedanke, daß ja der genaueste Herzens - und Lagen­ kenner ihn in dieselben gesezt habe, statt ihn muthlos werden zu lassen, Entschlossenheit und Freudigkeit ein — sind sie leicht, angenehm und entgegenkommend, so hofft er desto mehr Gutes stiften und das ihm ander­ traute größere Talent mit desto größerm Wucher zurükgeben zu können. Sodann ist der Eottvertrauende nie verlegen um Kraft. Sei sein Wirkungskreis eng ober weit, seine Pflicht höherer oder niederer Art — was göttliche Weisheit und Liebe von ihm fordert, das wird sie ihm, denkt er — zu leisten auch möglich machen.

Wenn Sonne und Mond ihre Bahn finden und die Erde ihr Gewächs giebt auf das Geheiß dessen, der Erd und Himmel trägt, so wird auch der Menschen­ geist das erreichen und wirken können, was Eorteswille durch ihn ist. So freut er sich als ein Held, zu lau­ fen seinen Weg. Das Gefühl

seiner Schwäche erhält ihn stets in

der Gemeinschaft Gottes und wandelt sich da um zur seligen Erfahrung, daß Gottes Kraft auch in den Schwachen mächtig sei. Wie ein edles Schoß am saftreichen Weinstok wächst und blühet er und bringt

Früchte — Früchte,

die ihres Ursprungs Kennzeichen

tragen und dem Stamme, aus dem sie sproßen, Ehre machen vor den Menschen und Freude geben allen denen, die ihrer genießen. Endlich auch bangt der Gottvertrauendc nie um den Erfolgs seines Thuns. Er ist über­ zeugt , daß der Erfolg aller in Gott vollbrachter Werke

38 ein guter und gotteswürdiger sein müsse. Ob er ihn voraus berechnen könne, eb er zu der erwarteten Zeit und Stunde und auf erwartete Weise eintreffe, oder ob Verhältnisse und Schiksale, ob Unbill eines verkehr­ ten Zeitgeistes und Uebelgesinntheit der Menschen ihm im Wege stehen, ihn zu vereiteln scheinen, dem Allem hat er nicht nachzufragen; dadurch laßt er sich nicht bestimmen. Er spricht auch in dieser Hinsicht: „Dein Wille, o Gott! geschehe!" Er hat nur eine Stelle in dem unendlichen Reiche Gottes auszufüllen und kann sich so wenig einfallen lassen, die Uebersicht über das­ selbe haben zu wollen, so sehr er gewiß ist, daß diese Uebersicht bei dem ist, dem sie allein zukommen kann — gewiß ist, daß unter solcher Aufsicht in der geistigen wie in der bürgerlichen Welt kein gutes Saamenkorn ganz ersterben, kein edler Lebensfunke völlig erlischen kann, sondern daß Allem diesem ein Tag des Neuer­ blühens, des Wiederaufglanzens kommen werde. Solcher Glauben haucht eine Zuversicht, eine Kraft, einen standhaften, freudigen Muth in die Seele, den die berechnende Weltklugheit nimmermehr geben kann, von dem im Gegentheil auch sie durchdrungen und be­ herrscht werden muß, wenn sie nicht erkaltend, tödtend, auflösend wirken soll. Nur dann kann sie zur nüzlichen Rathgeberin werden, wenn an ihrer Seite das Ver­ trauen spricht: „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?"

Fassen wir zulejt noch die verwandten Gedanken zu­ sammen, daß das Gottvertrauen starke zur Er­ tragung des oft schweren Lebens, zur Aus­ dauer und Ergebung in Leiden und zum hoffnungs-und muthvollen Schritt in eine d un kle, verhän g ni ßvvlle Zu kunft hinein, so haben wir damit noch eine Hauptwirkung des Gottver-

trauens, ja für manche Menschen

und manche Lagen

gerade die wichtigste und segenvollste bezeichnet.

Ich bin hier nicht Willens/ eine Schilderung der Unvollkommenheiten des Lebens zu entwerfen , um allen­ falls damit meinen Vortrag auszuschmüken und die ohnedem schon zahlreichen Seufzer und Klagen »och zu vermehren. Ich frage nur: Worunter leidet die Mensch­ heit, nebst der allerdings unbestreitbaren Erfahrung wirklicher Leiden, mehr als gerade unter der Art, wie sie das Leben mit seinen Leiden ertragt oder vielmehr nicht ertragt? Kann es «ine schreklichere Plage für die Menschen geben, als die so allgemein vorhandene Un­ fähigkeit, vernünftig, christlich, also leidenerleichternd zu leiden? oder noch kürzer: Ist's nicht auch hier wie­ der der Mensch selbst, der sich am meisten plagt?! — Doch schon genug davon! Gottvertrauender!

du trägst des Lebens Un­

vollkommenheit, weil du glaubst, daß Gott sie für dich wollte — und weil du glaubst, daß das Hier und Izt nur Schule, nur Bahn, nur Stufe sein soll für das Jenseits und Einst. Gottvertrauender! du verlierst in den dunkelsten und ermüdendsten Jrrgangen des Lebens die Geduld nie und nie Hoffnung, weil deines Führers Stimme du kennest, sein Wort dir vorleuchtct, sein Stab dich tröstet und seine Verheißung dich ermuntert, daß Geduld und Vertrauen eine große Belohnung haben werden. Dein Wahlspruch ist: Ich folge still, wohin Gott will. So folgst du denn, Gottvertrauender! selbst in die Nacht der Leiden hinein. Die Trübsal, wenn sie da ist, dünkt freilich auch dich nicht Freude, son­

dern Traurigkeit; denn menschlicher Empfindungsfahigkeit wirst du hier nicht enthoben und für die Leiden, de­ nen deine Frömmigkeit sich entzieht, werden dir andre, die denjenigen treffen, der Christus entschieden Nachfol­ gen will. Aber welch ein Unterschied zwischen einer Lei-

40 denswelse, die dem Leben flucht und, nach dem Schrift, ausdruke, Gott in's Angesicht segnet — und zwischen derjenigen, da der Muth doch stets oben bleibt, bas Ziel nie verschwindet, das Gefühl, daß nichts von der Liebe Gottes in Christus uns scheiden könne, nie man, gelt und der Glaube vorherrscht, daß aus jedem nach Gottes Willen ertragenen Leiden eine friebsame Frucht der Gerechtigkeit sprossen müsse!! Ja zum eigentlichen,

unmittelbaren Segen macht uns das Gottesvertrauen die Leiden, indem es uns in der glüklichen Stimmung erhält, in der allein wir fähig sind, die reiche Ausbeute von Belehrungen, Erfahrungen, Zurechtweisungen, Er­ munterungen und Stärkungen daraus zu gewinnen, die in diese allerwichtigsten Heilmittel für die geistigen Krank, heilen der Menschen gelegt sind. So geht denn der Gvttvertrauende auch im Leiden nicht nur der Zeit, son, dern auch dem Geiste nach vorwärts — und ihm allein ist denn das wirkliche, zeitliche Dorwärtsgehen nicht, wie den meisten Menschen, schauerlich. Auch in der dunkelsten Zukunft verliert er die Spur nicht, die ihn leiten soll. Mögen Besorgnisse und Befürchtungen für inneres und äußeres Leben, für sich und die Sei, nen, für Vaterland und Menschheit, für Staat und Kirche sich wie feindselige Heere vor seinem Gemüthe lagern — er wird nicht erzittern. Was zu Grunde ge, hen kann, ist ja nicht das, was seines Geistes Sehn, sucht anstrebt. Mag es fallen — über den Trümmern

schwebt doch stets, von Gott getragen, der ewige Geist. Für die kurzen Tage seiner Wallfahrt wird ihn sein Gott nicht verlassen und nicht versäumen. Er, der Alles leitet nach dem Rathe seines Willens, wird einem Je, den geben, was ihm gut ist und einen Jeden führen auf seine eigne, auf die beste Weise.— Doch, laßt

mich, Theure, meiner matten Worte ein Ende machen! Ach, daß sie Geist und Leben waren, zu erfrischen, was

41

welken, zu erheben, was hinsinken will! Denn soweit isi's leider mit uns Christen gekommen, daß sogar Men­ schen andrer, dürftigerer und dunklerer Religionsein­ sichten unS nicht selten im Vertrauen auf Gott über­ treffen! Ja was Jesus, unser Herr, bei den Seinen vorausftjt, wovon er nur im Vorbeigange noch spricht, als von Etwas, das sich von selbst verstehe, daS ist uns oft noch so fern, das muß uns erst noch an­ nehmbar gemacht und angeprediget werden. Gott! Gott! was für Aussichten auf die immer dunkler wer­ denden Tage!! O komm zu Hilfe unserm Schwach­ glauben! Mehre uns den Glauben! Offenbare dich uns! Gieß deinen Geist in unsre Herzen — daß wir auf dich trauen lernen und dir mit unverrükter Treue und inniger Liebe anhangen! Amen!

— 42

Tert: 1. Joh. IV, 16.

Andächtige! Der Herr allein ist groß.

Durch ihn nur ist es der

Mensch — oder vielmehr: mit ihm nur wird es der Mensch. — Der Herr ist groß. Die ganze Erde ist voll seiner Majestät und in den Herzen seiner vernünf­

tigen Geschöpfe hat er sich ein Lob seiner Größe zube­ reitet. Die Kunde derselben gehet aus in alle Lande und ihre Rede bis an der Welt Ende. Es ist keine Sprache noch Rede, da man nicht ihre Stimme höre. Es schlagt kein Menschenherz, daß nicht etwas wenig­ stens von dem drinn wohne, was wir als das Höchste und Unerreichbarste und zugleich als das mit uns Ver­ wandteste erkennen müssen. Verschieden freilich ist dies Bewußtsein nach Grad und Art; oft nur dunkle Ahnung auf bloßen sinnlichen Eindruk gegründet. — Schau um dich in die weite Menschenwelt hinaus! Da werden deinem Blike begeg­

nen Menschengemüther, in denen du nur stumme, knech­ tische Furcht wahrnimmst vor den Wirkungen der All­ macht in der Natur. Siehe die Heiden! Sie verehren Bliz und Donner, sie beten demüthig vor des Stur­ mes Gewalt und flehen zur Sonn' und zum Monde. Auch Thiere und jede Naturkraft, die ihnen im Bilde des Schöpfers Macht zeigt, sind Gegenstand ihrer Ver­ ehrung. Ihnen ist Gott nur groß in Allmacht. — Oder es lebt dieses Bewußtsein vom Ewigen im Verstände, der Zweke aufsucht, Ursache und Wirkung zusammenstellt — und mit der zunehmenden Kenntniß des Wclkbaues und seiner im Größten und Kleinsten

gleich weisen Einrichtung wird die Furcht zur Ehrfurcht.

43 Gott ist groß in Weisheit. Deine Geschöpfe hast du alle weislich geordnet. So zeichnen ihn die Lehren jener ehrwürdigen Weisen der Vorzeit. Für sie war eine etwelche Vereinigung mit Gott denkbar und mög­ lich und Filosofie war das Mittel zur Erreichung dieses hohen Endzwekes. Vollständiger, allgemeiner, klarer und inniger wohnt aber wohl das Höchste, als Begriff-und Empfindung zugleich, in der Seele deS Christen. — Gott ist groß auch in Liebe! ruft er aus, indem er in daS We­ sen der Gottheit und in sein eignes Wesen und dessen Bestimmung, beim Lichte der Offenbarung, hellere Blike wirft, die ihm den Weg zur Vereinigung mit Gott zeigen, der jedem liebefähigen Wesen zu betreten mög­ lich ist. — Somit ist es freilich der größte Gedanke, den wir in unser Gemüth aufzunehmen in dem Stande sind: Gott ist die Liebe, und Liebe ist unser Vereinigungspunkt mit Gott. Es ist der Kern alles unsers Wissens von dem, was über der Sinnen­ welt ewig unwandelbar für uns vorhanden ist, es izt schon ist, und noch vollkommner unser für die Zukunft wartet. Es ist Schöpfung, Erhaltung, Regierung, Erlösung, Heiligung, Beseligung — alle Güter des Reiches der Natur und deS Reiches GotteS in engerm Sinne in einem Brennpunkte betrachtet. Es ist, als das wahrhaft und einzig Erhabene, eine unausdenkliche Fülle in größter Einfachheit, Alles in Einem. Dem tausendsten Theil der unerschöpflichen Betrach­

tung desselben laßt uns izt diese Stunde heiligen. Brauche ich wohl noch zu versichern, daß ich davon nur stammeln kann? Brauche ich wohl noch zu bitten, baß ihr selbst dem Größten alles Großen oft wiederholt und besser als ich es kann, euer christliches Nachden­ ken widmen möget? — Laßt uns aber den Gott der

44 Liebe selbst um seinen Beistand zu unserm Vorhaben bitten. Es ist unsre innige Ueberzeugung, v alles wirkende, alles regierende, alles belebende Liebe, daß du uns aus Liebe schufest, mit Liebe regierest, zur Liebe beleben willst! Aber es ist auch unser klares Bewußtsein, wie wenig noch diese deine große Absicht in uns verwirklichet ist. Wir ahnen das große Gut der Vereinigung mit dir durch Liebe; aber nur um dessen Mangel bei uns desto demüthigender zu empfinden. Wie wir demnach bitten: Heiliger Vater! heilige uns in deiner Wahrheit! — eben so dringend fleh'n wir auch: E.ott der Liebe! Entflam­ me unsre Herzen zur innigsten und ungeheucheltsten Ge­ genliebe! Amen.

I. Was ist Liebe? Liebe ist eine lebhafte angenehme Empfindung, die unsre Vorstellungen von solchen Din­ gen begleitet, durch deren Besiz und Genuß wir Freude empfinden, ober noch zu empfinden hoffen; ein reines Wohlgefallen an einem Gegenstände um seiner selbst willen, aber doch insofern wir mit demselben in einer wirklichen oder künftig noch wirklich werdenden Ver­ bindung stehen. Doch was wollen Worte sagen, wo die Sache selbst spricht oder sprechen sollte! So wenig der Schatten, den unsre Erde zuweilen auf die Mond­ scheibe wirft, ein vollständiges Bild des reichen, präch­ tigen, wunderbar gebildeten Erdkreises selbst genannt werden mag, eben so wenig dürfen wir diese und ähn­ liche Worte mit der Sache selbst vergleichen und ver­ wechseln. Wo ist ein Mensch im Stande, seine Gedan­ ken und Gefühle überhaupt genügend darzustellen, zumal die tiefsten und unermeßlichsten derselben? — und wo ist einer im Stande, jene Grundkrafc des menschlichen Wesens, die Liebe, in sich selbst sogar, auch mit den

45

allertiefsten Gedanken und Empfindungen auszudenken und auszufühlen? Denn sie ist die Trägerin unsrer sittlichen Kräfte, die wirksamste Triebfeder unsrer gesammten Thätigkeit; sie ist das Medium, das Mittelglied, wodurch wir uns selbst, und andre und das Leben überhaupt recht genießen; sie ist die Quelle, wor­ aus namentlich das Wohl des Allgemeinen und Beson­ dern aller gesellschaftlichen Verbindungen und Verhält­ nisse herfließt und woraus es seine beste Nahrung zieht; sie allein kann dem Gemüthe eine Gestaltung geben, wodurch das Kleinste groß, das verächtlich scheinende edel, das Niedre, Beschränkte hehr und umfassend wer­ den kann. Sie ist Haupterforberniß, Hauptbestandthcil, Hauptzierde des Reiches Gottes. Ohne sie wäre die Kirche eine leere Form, der Staat eine haltungs­ lose Grille. Liebe nur ist das Band der Vollkommenheit, das unser Wohl an das der Brüder unauflöslich kettet und unsern Handlungen den Stempel ächter Tugend, ja der Unsterblichkeit aufdrükt. Nie ist was Großes, Blei­ bendes, die Menschheit Ehrendes, Beglükenbes gewirkt worden, woran nicht die Liebe vorzüglichen Antheil gehabt hätte. Sind gleich nicht immer die schimmerndsten Thaten der Geschichte ihre, so sind's doch die dauerndsten; denn als eine Tochter des Himmels ver­ schmäht sie den Flitterstaat irdischer Ruhmsucht. Aber wo der Mensch als Stellvertreter und in der Verei­ nigung mit der Gottheit wirkte, wo also Wahrheit, Tugend, geistige Vollkommenheit, Glükseligkeit, wo, mit einem Wort, Geisteezweke, ewige Zweke des ewi­ gen Gottcsrciches befördert wurden, da siehst du die Liebe auf dem Schauplaze der Geschichte die Haupt­ rolle ausführen; da verehrst du noch izt die Spuren ihres stillen aber vcsten und segnenden Ganges, wenn die Fußtritte der Weltenstürmer längst in die Gräber der Vergessenheit gesunken sind. — O daß wir sie

46

mkäftig im Herzen trügen, diese göttlichgroße Gesin, nung, die überall Liebe sieht, im kleinsten Gäbchen den großen Freudengeber ahnet und dem kleinen Freudengeber, dem Menschen, mehr zu danken versteht, als die Gabe werth ist; sie, die im Leiden mit Helden­ starke sonst unerträgliche Lasten tragt und hinter dem Wolkenschleier des ewigen Erbarmers unerforschlichen Rathschluß verehrt; sie, die auch unter den gröbsten Schlaken die Menschheit erkennt, und, selbst mißhan­ delt, sie dennoch liebt, um ihres unveräußerlichen Wer­ thes und um ihres liebenswürdigen Schöpfers willen; sie, die unmöglich scheinendes wirklich macht; in den Schwachen mächtig, unentwikelte oder erstorbene Kräfte in's Leben ruft, nährt, pflegt, stärkt und zu unglaub­ lichen Graden steigert; sie, die kann, was sie will und will, was sie kann und mehr als der heldenmüthigste Glaube, Berge zu versezen im Stande ist; sie, die den Menschen erst recht zum Menschen, zum Christen macht! Sei Gatte; sei Vater; sei Kind; sei Unterthan oder Regent; sei Lehrer oder Zuhörer; sei was du sein willst und kannst — aber ohne Liebe — du bist's nur halb; weil dir die natürlichste und die unergründlichste, die menschlichste und die göttlichste aller Gesinnungen man­ gelt. Wie vielgestaltig und unübereinstimmend zugleich, wie unstät und haltungelos, wie schwach und doch wie furchtbar sich selbst und andern ist der Mensch ohne Liebe; wie einfach, gleichmüthig, standhaft, kräftig, stillgroß, wie voll Muth und Demuth, wie einflußreich auf andrer Wohl, welch eine erfreuende, wohlthuenbe, erhabene, das Göttliche in-sich abspiegelnde Erscheinung der Mensch, der Liebe athmet! — O, meine Andächtigen, wie ist durch alle Zeiten hinab nur Ein Lob der Liebe! welche unsterbliche Ge­ danken und Empfindungen sind ihr schon geweiht wor­ den! welche vortrefflichen Aeußerungen, tief aus dem

47

Wesen der Liebe entnommen, enthalten diesfalls unsre heiligen Bücher! „Liebe ist stark wie der Tod; ihr Eifer ist best wie die Hölle; ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn, daß auch viele Wasser nicht mögen die Liebe auslöschen, noch die Ströme sie nt saufen." Die Liebe dekt der Sünden Menge. Sie ist des Gesezes Erfüllung. Sie ist die Hauptsumme des Gebots. — Wo der berechnende Verstand, wo die strenge gebietende Vernunft nicht mehr genügen; wo der oft vom Bösen besiegte Wille an den tausenderlei Klugheitsregeln einer den Christen entwürdigenden Sit­ tenlehre sich vergeblich zerarbeitet hat, da spricht der in der Liebe und durch die Liebe lebende: Ich habe nun den Grund gefunden, an den sich meine Tugend halt. — Wo das Gesej den, der fein Sklav ist, ver­ dammt; weil er es nicht halt — da ist die Liebe sich selbst Gesej, weil sie jur Freiheit der Gotteskindschaft durchgedrungen ist. — „Die Liebe ist die Frucht des Geistes, des Lebens des Geistes. Sie ist aus Gott. Ihr sind Gottes Gebote nicht schwer" — spricht Jo­ hannes , der Apostel der Liebe, dessen lejtes Wort war: Liebet einander! — Und mit welchen mächtigen, be­ geisternden, scharftreffenden Zügen schreibt Paulus das Lob der Liebe nieder: „Ohne Liebe ist keine Erkenntniß von Werth. Das Wissen blähet auf; die Liebe bessert." Ohne Liebe kann man beim vollständigsten Wissen zur saftlosen Pflanze abdorren, und Mängel des Herzens lassen sich durch keine Lappen weder der Gelehrsamkeit noch eines übelverstandenen Glaubenseifers deken. „Wenn ich mit Menschen- und Engeljungen rcdte, hatte aber der Liebe nicht, so wär' ich ein tönend Erz, eine klin­ gende Schelle. Und hätt' ich göttliche Eingebungen und wüßte alle Geheimnisse und besäße die tiefsten Kennt­ nisse und den stärksten Glauben, daß mir Berge von der Stelle wichen — hätte aber die Liebe nicht, so

48 wäre ich nichts nüze." —

Welche starke Sprache,

welche Höhe der christlichen Liebe! wie tief beschämend und wie erhebend zugleich! „Die Liebe fahrt er fort, ist langmüthig und wohlthätig, nicht eifersüchtig, nicht hvchmüthig, nicht aufgeblasen;

sie stellet sich nicht um

geberbig, suchet nicht bas Ihre, sieht nicht immerund ewig zu allernächst sich selbst; sie läßt sich nicht erbit­

tern; ist ferne von Rache; freuet sich nie über Unrecht, wohl aber über Recht und Wahrheit. Sie trägt alles, hofft alles, glaubt alles, duldet alles. Sie höret nim­ mer auf. Was nimmer aufhöret, ist ewig. Die Liebe ist ewig. Die Sprachengabe, die Weissagungen, die jezigen Kenntnisse, sie werden aufhören; sind Schalten

nur des, was an uns einst soll offenbaret werden — Stükwerk, dunkle Bilder in trüben Spiegeln. Wenn aber das Vollkommene erscheinen wird, wird das Srükwerk aufhören. — Glaube, Hoffnung, Liebe — wahr­ lich drei große Gaben. Doch jene beiden werden einst auch wegfallen. Die Liebe nur wird bleiben; darum ist sie unter diesen dreien die größte." — So spricht der Apostel.

II. Gott ist die Liebe. Erhabner, königlicher Ge­ danke, in dem das Leben der Menschheit und aller geschaffenen Wesen liegt! Wer ihn einmal zu denken versucht hat, weiß, daß er unausdenklich ist; wer ihn empfunden hat, weiß, welch ein neues Leben dem Herzen durch ihn aufgcht, welcher Friede Gottes, höher als alle Vernunft, in seinem Begleite ist. — Aber tief im Innern muß er wohnen. Aufgetüncht werden kann er nicht. Andeuten kann man ihn; Hinweisen auf das, was man sieht, auf daß es andre auch sehe», wofern sie das Organ dazu haben und es gebrauchen wollen. 2" Sic Seele hineingcrufen werden kann es,

49

mit der Begeisterung , di« uns die Bewunderung, der Dank, das Entjüken einflößt. Schau hin auf alles, was da ist, und frage: Durch wen ist es? und warum? — Ist's Allmacht nur, nur Weisheit, die es hervor brachte? Oder ist's Liebe auch, Vie den Unendlichen, in sich selbst Allgenugsamen bewog, Wesen außer sich zu schaffen; Wesen, deren Daseinszwek Glükseligkeit ist? — Wenn Dasein die erste und lezte Bedingniß alles Elükes für dich ist; welche Liebe, die dir dein Dasein gab! Wenn jene höhern Kräfte deines Geistes es sind, die dich erst eines feinern, ediern, innigern, lebendiger» Genusses der Güter deines Daseins fähig machen; ja wenn auf ihnen ausschließlich die unver, gänzlichen Zweke desselben beruhen, die Möglichkeit, in wachsender Vervollkommnung Gott ähnlicher zu wer, den; welche unbegreifliche Liebe) die diese Kräfte her, Vorbringen wollte und wirklich hervorbrachte!— Und der Gedanke: Daß du bist und so bist, dazu hast du selbst so wenig beizetragen, als der leblose Thon, der auch nicht zum Töpfer sagen mag: Warum machst du mich also? — Dieser Gedanke, der dem Unglüklichen, welcher sein Dasein nicht versteht, ein Geruch des To, des zum Tode ist, wird dem, der eS in seiner Höhe und Würde erfaßt, ein belebender Lebenshauch, zu er, höhen die Vorstellung von der Liebe des Schöpfers: „Was ist der Mensch, daß du sein gedenkst und das Menschenkind, daß du dich seiner so annimmst?" — Ferner die Verhältnisse des ganzen Geschlechtes der Meu, schen, schon hienieden auf der untersten Stufe unsers menschlichen Seins, mit allen ihren entwikelnven, fördern­ den, himmelanbildenden Kräften, welche lebendige Zeugen göttlicher Erbarmung — wie er Völker groß werden läßt aus der Kleinheit, auf daß sie den Erdcnkrcis lehren und segnen; wie er Nationen in den Staub legt, auf daß auch dec Unterdrükte wieder des Heils des II. 4

50 Herrn sich freuen möge; — wie er den Saamen des Guren und des Urschönen mit milder Hand ausstreut in alle Zeiten und in alle Lande, und wohlthätig pflegt die himmi lische Pflanze der Weisheit und der Tugend, zum weit­ schattigen Baume, unter dessen Zweigen Millionen Ruhe und Erquikung finden. — Ist wohl ein Volk, an dem sich unbezeugt gelassen hätte seine Liebe, die da nicht will den Tod des Sünders, sondern baß er sich bekehre und lebe? Deine christlichen Feste, theurer Zu­ hörer, geweihet dem Andenken der Eottesvffenbarung im Fleische, durch welche Heil und Leben an das Licht gebracht wurde, durch welche die Wahrheit und die Gerechtigkeit persönlich in die Menschenwclt cingeführt

ward — die Feste der Stiftung des Reiches Gottes auf Erden, siehe sie predigen mit vorzüglich vernehm­ licher Sprache die Liebe des Ewigen! Wie nahe war der Mensch am sittlichen Verarmen, Verdarben, und wie reich ward er und kann er nun fortan werden durch Christus! Kind Gottes, Miterbe Christus, Theil­ haber des ewige» Lebens, näher und immer näher ge» tust der Lebenssonne, die sein Leben zu einer stets feuriger» Flamme anfacht. — O welche Tiefe des Reichthums der Erbarmungen Gottes! — Und in deinem einzelnen Leben die ununterbrochene Reihe von Umständen und Lagen — Veranstaltungen der Liebe, die dich bilden, erziehen, kräftigen, vollreifen will

deiner großen Bestimmung entgegen, durch Genuß und Entbehrung, Freud' und Leid, Sonnenblik und Ge­ witternacht. Schau, mein Christ, auf die langmuthvolle Güte, mit der Gott dich geleitet hat! Hier irr­

test du in deiner Jugend — im Alter dort; er trug Geduld, rief dich durch Elük und Kreuz zur Tugend. Erkenn und fühle seine Huld! — Du kannst izt frei­ lich nur noch ahnen, wie sich einst bet der Entwiklung deiner Lebensrolle fo unübertrefflich rechtfertigen werbe

51

die Wahrheit: „Welchen der Herr lieb hat, den züchtigt er." Wohl dir, wenn du eS kannst; dann wird dein Geistesleben ein Leben in Gott der Liebe und ein nie verhallender Preisgesang zum Lobe dieser Liebe. Selig und abermal selig die Seele, die vom Gefühle der Liebe Gottes erfüllt ist. Der Herr ist ihr Hirt; sie mangelt nie des göttlichen Trostes; sie hat das beste Theil erwählt, das, wenn alles andere hinfallt, dennoch in Ewigkeit nicht kann von ihr genommen werden. —

m. Wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott, und Gott in ihm. — Unser Evangelium lehrt also die Möglichkeit einer Vereinigung des Menschen mir Gott und verheißt hiemit einem Streben Befriedigung, welches so tief in der Menschheit liegt, daß die bekannte Geschichte derselben nicht so weit hinaufreicht, um uns seinen Ursprung bestimmt nachweisen ;u können. Es mußte die Ediern unsers Geschlechts schon frühe das Bewußtsein der Größe und der Kleinhett, die in unserm Wesen so innig und wundersam mit einander verbunden sind; das Bewußtsein höherer Würde, ohne derselben izt schon entsprechende Kräfte — auf dieses Streben leiten. Seelen, die so glüklich waren, zu der Einsicht von der Beschränktheit unsers izigen Zustandes zu gelangen, zu dem Geständnisse: Ich weiß, daß ich nichts weiß; ich fühle, daß ich, mir allein überlassen, nichts vermögte— Seelen, die dort Jesus, als Arme, dem Geiste nach, selig pries; und die dann den innigsten Glauben an den dämtt verbanden, der denen, die ihn suchen, ein Vergelter sein will — solche Seelen fühlten das Bedürfniß einer ihnen selbst bewußten, in ihr geistigstttliches Le­ ben lief eingreifenden Vereinigung mit dem Schöpfer, 4*

— 52 —

Erhalter, dem Heiliger und Beleber des geistigen wie des körperlichen Lebens. — Allein wie suchten sie das zu bewerkstelligen? Sie wollten Gott zu sich hcrabziehen und ihn nach ihren Begriffen cinrichten; wollten ergründen das Unergründ­ liche, begreifen das Unbegreifliche, oder mit Bildern ihrer Fantasie bezeichnen das über alle Bilder Erha­ bene. So war es freilich leicht, sich mit dem selbst erkünstelten Bilde zu befreunden. Aber der Gott des einen blieb ohne Einfluß aufs Herz und Leben; der des andern taugte bloß für seinen Besizer und hiemit auch für diesen nicht recht. — Blinde Leiter der Blinden! Sie betrogen sich selbst und andre und gaben Anlaß, daß das Heilige verunchrt oder verlä­ stert wurde. — Wahrlich, wir mögen auch in die­ ser Beziehung mit dem Erlöser sprechen: „Die Pforr' ist eng und schmal der Weg. Ihrer sind wenige, die ihn finden." Aber das Evangelium stellt uns die Möglichkeit und die Wirklichkeit einer Vereinigung mit Gott dar in dem Bilde des Christen und in dem Beispiele Chri­ stus und der Apostel — nämlich die Vereinigung durch Glauben und vorzüglich durch die Liebe. — Ich sage: vorzüglich; denn der Glaube wird, was wir ihm wohl anfühlen können, einst wegfallen — die Liebe dagegen muß bleiben. Derjenige Glaube aber, von dem das N. Testament zuweilen spricht, und der gleich­ bedeutend mit dem Auedruk: Anziehn Christi ge­ braucht wird, ist so umfassend, daß ec das ganze We­ sen des christlichen Lebens, also auch die Liebe, in sich begreift. — Glaube, im gewöhnlichen Sinne des Wor­ tes ist noch kein Besiz des Göttlichen; ist nur das Mittel, um dazu zu gelangen; woraus sich uns jenes

Wort erklärt r „Wer zu Gott kommen will, muß glau

— S3 —

ben, daß Gott sei." — Jene Anfangs geschilderte Liebe aber ist es, als eine der tiefsten, von unserm Wesen unzertrennlichsten Kräfte, als das Bleibende, waS uns einen Berührungs # oder vielmehr einen Vereint, gungspunkt für Gott giebt. Liebe ist das wirkliche Werden des Göttlichen in uns selbst. Sind wir unS aber dessen bewußt, so bedürfen wir, als solche, die eine lebendige Erfahrung des zu Glaubenden gemacht haben, keiner äußern Gewährleistung mehr dafür, eben so wenig als wir in der Sinnenwelt eines fkemden Zeugnisses dessen bedürfen, was wir selbst sahen, hör, ten, fühlten. — Siehe da die Möglichkeit jener oft dem Evangelium zum Truz verworfenen, oder ihm zum Nachtheil mißverstandenen und mißbrauchten Vereint, gung mir Gott. Siehe da die Rechtfertigung jenes Ausspruches Jesus: „So jemand will Gottes Willen thun, der wird inne werden, ob meine Lehre von Gott sei, oder ob ich von mir selber rcDe." — Aber siehe da auch den Grund, warum diese so einfache Lehre so häufig umgangen wird, als ein Stein des Anstoßes, unberührt gelassen wird, als eine nicht zu hebende, noch viel weniger zu tragende Last. — Leicht schwingt sich der Glaube auf die Höhen geistiger Anschauung, geistigen Genusses empor, wozu er bisweilen durch äußere und innere Veranlassungen angetrieben und mäch, tig unterstüzt wird. Leicht verfolgt die Vernunft ben oft schon von ihr gemachten Gang der Vorstellungen von ewigen Dingen. — Weil diese Aeußerungen unsres Geistes, als lediglich auf das Uebersinnliche gerichtet, nicht in unmittelbarer Verbindung mit unsern izigen Verhältnissen stehen, so sind wir ihrer eher mächtig, so kön, nen wir uns, bei ihrer jedesmaligen Entwiklung desto leichter überreden, daß das, was Wirkung einer günstigen Stimmung des Gemüthes war, beständiges Wesen und Thätigkeit desselben sei. Die Liebe aber als das Blei,

— -4 —

btnbtf soll unsre irdischen und himmlischen Kräfte und Verhältnisse tragen und durchdringen und als das Band der Vollkommenheit, Zeit und Ewigkeit/ unser ganzes Wesen und Leben zugleich und ununterbrochen umfass s«N/ und mit der That selbst im unzertrennlichsten Zu» sammenhange stehen/ und gerade in den Kampf und Leiden bringenden Gegensäzen des äußern und innern LebenS sich wirksam beweisen/ d. h. uns mit dem Quell der Kraft und der Seligkeit, mit Gott, in steter Der» biüdung erhalten. — Kann aber ein Verhältniß unser zu irgend einem Wesen eine Vereinigung genannt wer» den, wenn es nur auf augenbliklichen, vorübergehcn, de» Zuständen beruhet? So können auch die Licht» strahlen des Glaubens, die zuweilen in einem Gemüth entstehen, an sich noch kein Bleiben in dem Gott heißen, der von sich selbst spricht: Ich werde sein, der ich sein werde, gestern und. heut und ewig unwandelbar derselbe. Welche dauernde, unentwegliche, höchst leben» volle Gestaltung der Seele ist da nothwendig, um sich zu dem zu erheben und m dessen Gemeinschaft zu blei­ ben, in dem kein Wechsel des Lichts und der Finster­ niß je denkbar ist! Bedeutungsvoll spricht daher der heilige Johannes: Wer in der Liebe bleibet rc. Welche Höhe aber ist der Höhe der Liebe gleich, die dieses vermag! Wir antworten darum jenem alten Weisen auf seine Frage: Was das schwerste und was das leichteste sei? — die Vereinigung des Menschen mit Gott in Liebe. — Welche leichte und natürliche, und welche schwere und erhabene Pflicht! Welche Stufe göttlichmenschlicher Vollkommenheit hat der erstiegen, der sie in sich trägt, jene Freundin der Liebe des Ewigen; und der in dieser Liebe bleibet, sie nimmer verläßt! — Er bleibet in Gott und Gott bleibt in ihm. Hier steht Christus, der Stellvertreter Gottes unter den

Menschen, der Stellvertreter der Menschen vor'm Antlij der Gottheit. — Ja Liebe, du Wonne des Herzens! Des Lebens Leben! Der Kräfte unerschöpflichste Kraft! Liebe, du Seligkeit Gottes und des mit Gott verei­ nigten Menschen! Du Himmel des Himmels! Du Quelle jeder unendlichen Lust! Wie du flammtest in dem, des Blut der Golgatha auftrank; ewiges Leben der Welt, so sei auch unser Leben! Die du des Ewi­ gen Herz erfüllest, erfüll' auch uns ewig! Verzehre, waS nicht liebet in uns'! Amen!

56

Text:

Buch der Richter V, 31.

„Die dm Herrn lieb haben, müssen sein, wie die Sonne, wenn sie aufgeht in ihrer Macht."

Andächtige! 28ir stehst an der Schwelle des Sommers.

Die

ganze Pflanzenwelt nahet mit Riesenschritten dem Stand­ punkt ihrer schönsten Blsithe und höchsten Kraft, auf welchem sie sich dann zur Vollendung ihrer wohlthäti­ gen Bestimmung, zur Reife der Frucht, bereiten soll. Von ihr genährt, auf sie sich stüzend, athmet auch die Welt lebendiger Wesen, die Welt der Thiere, rei­ neres, frischeres Leben und der Mensch, der Herr der­ selben, im Namen des Schöpfers, steht in ihr, freu­ digen Muthes, hoffenden Blikes, dankenden Herzens. Siehe, sein funkelndes Auge erhebt sich auch, was das Thier nicht vermag, vom Gegebenen zum Geben­ den, von der Wirkung zur Ursache; es erhebt sich zur hohen Sonne, zum erhabenen Quell so vieler ihn um­ gebenden Schönheiten. Zhr herrliches Licht, ist's, das er entzükt begrüßt, so wie es durch sein -Aug in seine Seele dringt. Zhr Licht ist's, auf das sich ein bedeu­ tender Theil alles organischen Lebens, ein bedeutender Theil sogar des Geisteslebens und seiner Entwiklung durch zahllose uns durch das Licht zugeführte Vorstel­ lungen gründet. Oder ist's nicht das Licht, das mit seinem unwiderstehlichen Zauber selbst unser Inneres be­ rührt und dasselbe zum regsten, frohesten Leben wekt und befähigt? O! der Unersezlichkeit des unbeschreib­ lich reinen, allbestrahlenden, alles in seiner wahre» Gestalt darstellenden Sonnenlichts, das, so wie es uns aufgeht, fllles andre Licht entbehrlich macht! O der

57

allgemeinen Lichtbedürftigkeit! v der Freude des Lichts bei allen Wesen, in denen auch nur ein Fünklein Em, pfindung sich regt! Wohl sprach der Schöpfer im Am beginne seiner Werke: „Es werde Licht!" — Und mit dem Licht strömte Warme aus, und mit der Wärme das regste, innigste Leben durch die ganze lebenfähige Natur — Warme, das große Element, in dem alles Körperliche erwacht, sich bewegt und entfaltet, wächst und endlich vollendet sich darstellt. Wie sind die an, Hern Naturkräfte von dieser Kraft so abhängig, mit ihr verglichen, so wenig wirkend, so sehr nur zur Der, vollständigung ihrer Wirkungskraft vorhanden! Welche Wunder schnell wirkender, ihres Erfolges nie verfehlen­ der Kraft gehen demnach von dir aus, über allen irdi, schen Wechsel erhabene Königin des Tages, lichtvolle, lebenwarme Mutter so vieler Millionen Kinder, sichtbar res Auge der unsichtbaren Gottheit! Wer ist unter ups, Andächtige! der nicht auch schon mit solchen oder ähnlichen Gedanken und Empfin­ dungen dem nahenden Aufgange der Sonne entgegen frohlokt oder ihren Untergang segnend begleitet hätte? — Aber lassen wir unsere gerührten Blike nicht, wie jene Völker der grauen Vorzeit, an der Sonne selbst hangen, sondern lenken wir sie auf den, der sie und ans geschaffen hat und auf jenes unendlich höhere Licht, das von ihm auch in unsre menschliche Geisteswelt aus, gegossen ward, leuchtet und wärmt, schafft und ent, wikelt und mächtig fortwirkt. Laßt uns der großen Wahrheit nie vergessen, daß alles Sinnliche uns Fin, gcrzeig auf etwas Uebcrsinnliches, Bild und Gleichniß von etwas Geistigem sein soll, ja, daß das Aeußcrc oft nur auf diese Weise eine wichtige Bedeutung für uns gewinnen kann. Die äußere Sonne zeigt uns die Natur; cs zeige uns die Vernunft von der Gottvffen, barenden Schrift geleitet, in dem Gott ähnlichen und

58 verivandren Menschengeiste eine innere Lonne, deren Wirksamkeit, wie die der äußern Sonne, erstens wohlthätig ist durch Licht und Wärme undzweitens mächtig durch ihre allem irdischen Wechsel überlegene Erhabenheit.

Unsre weitere Betrachtung lehre

uns dies. — Zu dieser schenk' uns denn dein Licht, o Vater des Lichts und jeder guten Gabe! Laß uns überhaupt das Licht deiner Erkenntniß immer unbewölkter aufger hen, die Wärme der Liebe zu dir unser sonst todtes Wesen immer feuriger durchströmen! Nimm deinen hei,

ligen Geist nicht von uns, sondern erhalte und erneuere ihn uns immerdar zur ungetrübten Klarheit und inni­ gen Lebendigkeit deines Bildes! — Jede Vorstellung, die bestimmt, deutlich und mit verwandten Vorstellungen richtig und genau zusammen­ hängend in uns lebt, gleicht einem erleuchteten Gegen­ stände, dessen Größe, Gestalt und Farbe und dessen Verhältniß zu andern Gegenständen unS das Tageslicht zu erkennen, giebt. Ein Verstand, der einen großen Dorrath deutlicher Begriffe hat, eine Vernunft voll klarer und wahrer Ideen, die alle unter sich im schön­

sten Einklänge stehn, nennen wir erleuchtet, lichtvoll. Alles, was sie in sich aufnehmen, muß in ihnen Licht werden; denn sie selbst sind Licht — ein Licht, das nicht verborgen bleiben kann, sondern dessen Strahlen auch andern, noch unerleuchteten, Geistern, in Absicht dieser Gegenstände Licht zuführen. — Allein, so wie die Sonne eine andre Klarheit hat und der Mond eine andre — wieder eine andre die Sterne und einen von diesen sehr verschiednen, oft sehr geringen Glanz alle die mannigfachen Lichter unsres Erdenrundes — so hat es auch eine höchst ungleiche Bewandtniß mit dem Lichte, dessen wir uns im Gei­ stigen etwa rühmen mögen, und welches wir dieser

59 oder jener einzeln erworbnen Kenntniß,

Wissenschaft,

Kunst, oder der Lebenserfahrung, ober aber der Reli, gion und einer höher» Ansicht aller Dinge zu verdau, ken haben. Allgemein oder blos persönlich, zeitgemäß

oder der Zeit widersprechend, mangelhaft oder in seiner Art vollständig, zufällig und unwichtig oder wesentlich, nothwendig, einflußreich — ist das erstere entweder Kunst,, Irr, und Blendlicht, oder allenfalls Monden, glanz und Sternenschimmer, aber noch kein Sonnen, licht und der, der sich dessen noch so sehr freuen mag, demungeachtet noch keine Sonne, die da aufgehct und leuchtet mit Macht. Nun wer find denn aber die wahrhaft Erleuchteten und Leuchtenden? Die den Herrn lieb haben, sagt die Schrift f die Gotteserkenner und

Gottesverehrer — und Vernunft und Erfahrung spre, chen Ja und Amen dazu und zeigen unwiderspcechlich, daß in der Entbehrung oder in der Verschmähung des

Lichtes, das uns der Geistesblik nach oben, der Glaube an das Göttliche und das Leben im Göttlichen verleiht, das Gericht der Verstokung, der-Verbindung unsrer in, nern, höhern Sinne und Wahrnehmungskräfte liege. Es ist alles ein vielgestaltiges, verworrenes, lichtloses Wesen, was uns umgiebt, ein Wesen, das uns durch seine mannigfach reizenden und doch nie dauernden und ganz befriedigenden Eindrüke zu keinen genügen, den, licht, und lebenvollen Begriffen über uns selbst und unsres Daseins Zwek und Ziel gelangen läßt, son, dern uns selbst uns zum unerträglichsten Räthsel macht,

ja dich, wofern du es nicht zu deuten und durch die Deutung zu beherrschen vermagst, lvkt, umstrikt, unter seine Füße tritt und mit all' deiner geträumten Er­ leuchtung zu Grunde richtet. Ohne Golt giebt es keine gottcewürdigen Zweke unsers Daseins und des Seins alles Geschaffenen. Wer keinen Gott Hal, kann auch feine Bestimmung haben, als ein nach Gottes

60 Bilde geschaffenes Wesen, dem Göttlichen immer naher jv kommen. Tritt nur hin ohne das Licht einer hör Hern Welt in die Wirkungskreise und Kämpfe des Le­ bens und unter seine wogenden und gährenden Kräfte; geh' den Tagen entgegen, von denen man sagt: „Sie gefallen uns nicht" — du in dir selbst Allgenugsamer! gieb dich den Schlägen des Schiksals bloß, du, des­ sen Lichtlosigkeit den Herrn, der in seinen Wettern ein­ herfährt, nicht zu ahnen noch zu schauen vermag; sei

mit der stokfinstern Ansicht, daß die Welt mit allen ihren wirkenden und zerstörenden Kräften ein Ergebniß

des blinden, sinn- und absichtlosen Zufalles sei, ein Tröster den Trauernden, ein Helfer den Hilflosen, eilt unentweglicher Held, wenn tausend zur Linken und zehntausend zur Rechten dir fallen, und harre, ob sich vielleicht die Särge der Deinigen und deine eigne Tod­

tengruft in deinem jämmerlichen Truglichte mit Him< mclsglanze verklaren werden. — Doch nein; harre nicht — sondern mache dich auf und werde Licht und laß dich vom Lichte der Wahr­ heit beleuchten! Erkenne noch zur rechten Zeit, am Tage des Heiles, daß nur auf einem Standpunkte dir das wahre, allbeleuchtcndc, alkesentwirrende Licht aufgehen kann, auf dem des Glaubens an ein höchstes Gut, von dem, in dem und zu dem alle Dinge sind, und zu dem unsre geistige Natur ewig emporstrebcn soll. Mit diesem Lichte, das den Verehrer Gottes überall, außer ihm und in ihm, Golt wahrnchmen läßt, wandle dei­ nen Pfad. Mit ihm beleuchte dir den Ursprung, die Bedeutung, daS Ziel alles dessen, was da ist; mit ihm des Menschen Wiege und Bahre und alles, was dazwischen liegt, das Wachsen, Blühen, Reifen und Wiederumhinwclkeu der Frucht, menschliches Leben ge­ nannt, und alle die zahl- und namenlosen Verbindun­ gen und Berührungen und Verflechtungen und Verwor-

61 renheiten dieses Lebens, das alle, die es von jeher gekostet haben, einen Kampf nannten. Siehe, sie lösen sich dem Gotteskenner, die Verworrenheiten des Lebens; sie lichten sich ihm, die Nachte des Schiksals und durch den Nebel und das Gewirre des Irdischen erschaut oder ahnt er doch die Plane einer alles auf einen, d. h. auf den weisesten, besten Zwek, den der Ver­ vollkommnung und Beglükung der Gvtteskinder ausund durchführcnden Weisheit und Liebe. So trägt er das nimmer «rlischende Licht des Glaubens, das hei­ lige Pfand seines ewigen Berufes, stets in sich und rettcl's mit sich hinüber, hoch über den Todcsfluthen cs haltend, an's sichere Gestade des Jenseits. — In dieser Erfassung eines Göttlichen lebten alle Weisern und Ediern des Menschengeschlechtes und waren er­ leuchtet und leuchtend; unter allen aber unvergleichbar Jesus Christus, der das Göttliche im höchst möglichen Maaße in sich rrug und deshalb sagen konnte: ,,Jch und der Vater sind eins" — und: „Ich bin das Licht der Welt, jeglichen Menschen, der in die Welt kommt, zu erleuchten." Denn zu leuchten ist ja die wesentliche Eigenschaft des Lichts und unaustilgbar ist in der Natur der Geister das Bedürfniß gegründet, sich unaufhörlich mitzutheilen. Man nenne eine einzige Menschengesellschaft, sie bestehe denn aus zwei oder aus hundert oder Millionen Seelen, in welcher nicht eine beständige Mittheilung der gegenseitigen Kräfte und ihrer Veränderungen statt finde, eine ununterbrochene Ebbe und Fluth von Wirkung und Gegenwirkung, ein steter Austausch innerer und äußerer Bestrebungen und Hand­ lungen. Welche Macht des Beispiels, welcher Einfluß namentlich größerer Geister auf die kleinern, einzelner auf das Ganze und des Ganzen hinwieder auf den Einzelnen! Wem sind nicht aus näherer oder fernerer Umgebung, aus alter oder neuer Zeit, Menschen bekannt,

62 deren Geistesfinsterniß Tausende irreführte, andere aber, deren Licht eine halbe Welt erleuchtete? Und wer be­ greift nicht, daß diese vielseitige Mittheilung gerade vorzüglich bei dem Gottesverehrer statt finde, da es ihm Pflicht, Beruf, Ehre, Glük ist, bas Reich Gottes nach bestem Wissen und mit aller Kraft, die Gott darreicht, zu verbreiten? Ja Freunde! nicht nur sich selber erheitert er mit seines Geistes Sonnenlichte sei­ nen Lebenstag; er ist Quell des Lichts für eine Menge Geister, die deS Lichtes tief bedürfen und doch ohn' ihn es vielleicht niemals fanden. Er laßt sein Licht leuchten, und jedes gesunde Auge kennt es leicht, un­ terscheidet's scharf vor allem Irrlicht«, weil die Er­ fahrung es als das beste, als das dauernde und in seiner Anwendung nie täuschende erklärt; weil es un­ trüglich erschaut wird im Spiegel der Handlungen, wo die Larve des verstellten Lichtengels wegfällt und nur dies probhaltige Licht in unverändertem, ja immer schö­ nerm Glanze prangt. Mit dem Lichte kommt dann aber auch Wärme, jene die Körperwelt so innig durchdringende, ihre Kräfte wekende und erregende, ihre Keime entfaltende, treiben­ de, alles durchströmende Urkraft der Natur. Aller Wachsthum beruhet auf ihr, die selbst wieder vom Lich­ te abhängt, vom ihm ihre vornehmste Entwiklung her­ leitet, freilich nicht von dem kleinen Lichte, das unsre Kunst sich verschafft, auch nicht von dem bloßen und halben Lichte der Sterne und des Mondes, sondern von dem herrlichklaren und wunderbar starken Licht­ strahle der Sonne. — So, wo in dem Reiche der Menschengeister das wahre Licht vorherrscht — und dies ist nur eines und ewig dasselbe — wo jede Fin­ sterniß der Befangenheit in irdischen, ungöttlichen An­ sichten gewichen, ist dem Lichte der ewigen, allgemeingiltigen, allgenugsamen, höchst einfachen und doch uner-

63 schöpflichen Wahrheit von Gott und dem Menschen, jenem als Vater, diesem als Kinde und der daraus herfließenden Lehre, daß allein das Heil in der Aner­ kennung und vollkommnen Herstellung dieses Kinder­ verhältnisses, also im Leben in Gott, zu finden sei, wo Vas gelauterte Auge der Vernunft und des ihr eignen Wahrnehmens und Erfassens höherer Dinge unentwcg« lich sich richtet auf die göttliche Licht- und Lebenssonne selbst, und wo der ganze Mensch licht wird, weil das Auge licht ist, da, da muß sich auch, unsrer Natur zufolge, die ächte Lebenswarme entwikeln, aus göttlichem Erkennen zu göttlichem Wellen und Wirken; denn der Mensch ist ein wunderbares Gemisch, von Kräften des Den­

kens, Empfindens und Begehrens, vielfach und doch in ein übereinstimmendes Eins zusammengesezt, ein Wesen, in welchem alles harmonisch in einander greift, Eindrüke zu em­ pfangen und Eindrüke zu machen, verändert und bestimmt zu werden und selbst zu verändern und zu bestiminen, zu denken und zu handeln und nie stille zu stehen. Ein entzündbarer Stoff ist das menschliche Herz, und nicht mag ein Funke guter oder böser Art in dem Verstände erglimmen, daß nicht bas Herz davon ergriffen und bewegt werde zum Guten oder zum Bösen. Darauf stüzt sich denn die große Erfahrungswahrheit, baß Sünde nur Thorheit, Finsterniß, Verblindung sei, das wahre Heil, wenigstens in dem entscheidenden Augenblike nicht zu erkennen. Wie bas Licht deines Geistes, so der Werth deiner That. Die Ueberzeugungen deines Innern stellen sich dar in dem Aeußern deiner Hand­ lungen , und deinen Glauben kannst du nicht klarer

darlegen als in deinen Werken, den Glauben an Reich­ thum, Ehre, Herrschaft, Sinnengenuß, im Streben nach diesen Dingen, den Glauben an das Befriedigende irdischer Güter und an den Werth derselben als Zwek und Ziel unsres Daseins, im unruhigen, selbstsüchtigen,

64

unersättlichen, alles andre vergessende« Rennen und Haschen nach denselben — aber auch den Glauben an Gott und göttliche Dinge in Werken der unentweglir chen, stillgroßen, sich selbst vergessenden, überall et# freuenden, wohlmachenden, menschensegnenden Liebe, in Himmclswerken, in denen Gottes Thun sich abspiegelt und aus denen göttliches Licht und Wärme quillt, weil sie, wie das Evangelium sagt, in Gott gethan sind. Und was folgt aus der Lehre, daß aus der Finsterniß eines Gott entfremdeten Geistes die Todeskälte der Gleich­ giltigkeit gegen alles Gute und mit ihr die Sünde quille, was folgt natürlicher daraus, als daß ander­ seits das Licht einer höhern Einsicht auch die Lebens­ wärme eines göttlichen Lebens Hervorrufe, oder daß Tugend Weisheit und Weisheit Tugend sei und daß, wer den Herrn erkenne, ihn auch liebe und wer ihn liebe, auch in ihm bleibe und wirke? Bestätigung der evangelischen Wahrheit: Das Halten der göttlichen Ge­ bote ist dem, der im Bewußtsein des Göttlichen lebt und webt, dem ein Himmel von Glaube, Liebe, Hoff­ nung, nicht im Katechismus, sondern in der innern Anschauung, in de Tiefe der Seele sich eröffnet hat, leicht, eigenthümlich, natürlich. — Irret euch nicht, wo unser Schaz ist, da ist auch unser Herz, und wo unser Herz ist, da ist unser Gedanke, unsre Empfin­ dung und unsre That — Irret euch nicht! irdisches Licht giebt irdisches Feuer; himmlisches Licht aber himm­ lisches Feuer. Alle möglichen Klugheitsregeln bloß menschlicher Sittenlehren leisten keinen Ersaz für dle unentbehrlichste Stimmung und Richtung des Menschen­ geistes, sind Arzneimittel, die erfolglos bleiben, so lange der Kranke, der Hauptsache, des ihm einzig na­ türlichen , gesunden Elementes des Gottesgeistes entbehrt. Es ist durch sie allein noch kein Mensch unter der Sonne ganz gut und groß gut geworden, wohl aber

65

hat sich mancher durch sie um sein wahres Heil jäm­ merlich betrogen gefunden. Hat je wohl der Akersmann durch die sinnreichsten Kunstgriffe eine einzige Saat zur Reife gebracht, wenn die Sonne und der Himmel ihren Einfluß versagten und giebt es irgend ein beleb­ tes Wesen auf Erden, das frei und leicht und ganz bestehen kann, wenn es nicht in dem ihm zusagenden Element ist? So strömt Himmelswärme nur durch das Wesen des von himmlischem Lichte Erleuchteten und er nur vermag sie zu ertragen, die Well voll Todeskälte, voll Gleichgiltigkeit, ja voll Widerstrebens gegen alles Höhere, Lebendigere, Göttliche. Nie wird sie in ihm Vie Wärme, die eine heilige Flamme in ihm erzeugt und nährt, zu erstiken vermögen; aber sie wird sich wärmen und beleben an ihm, der immer Anlässe, Mit­ tel und Kräfte findet, cinzuwirken in die, wenn noch so unempfängliche, Welt, in die Gott ihn gesandt hat, wie er einst Christus in sie sandte. Und wo noch ein Wesen ist, in dem das Bedürfniß lebt, auch zu sein und zu wirken, was er ist und wirkt, da wird sein wohlthätiger Einfluß in neuem, edlerem, heiligerm Le­ ben und Wandel, das nun aufgeht, sich offenbaren; denn das Wehen des GottcsgeisteS mit seiner wärmen­ den, lebenwekenden Kraft ist spürbar in seiner Nähe und sein Saamkorn, das er säet, kann nicht allein bleiben. Still, unbemerkt, vielleicht ihm selbst unbe­ wußt, aber sicher entfaltet sich's und treibt und wächst der dreißig-, scchezig-, hundertfachen Frucht entgegen — eine Frucht vom wohlthuendsten, segensreichsten Ge­ nusse, die Frucht des Geistes: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Sanflmuth, Freundlichkeit und jede Tugend, die das Gcsammtleben trägt und ihm, dem Beschwer­ den- und Leidenvollen, den Vorschmak himmlischer Erquikung beimischt. Welch' eine heilige Flamme, die das Menschenleben so sanftwarmend durchdringt, aber auch II.

5

66

das vielgestaltige, giftig wuchernde Böse als saftloses Unkraut mit unwiderstehlichem Feuer vertilgt! Doch unsre durch die Zeit beschrankte Aufmerksam« keit wird noch von einem zweiten Gesichtspunkte ange­ sprochen, aus welchem das Wirken des wahren Gvttesvcrehrers ju betrachten ist. Er wirkt wohlthätig durch Licht und Warme, aber dies wohlthätige Wirken ist auch kraftvoll und unwandelbar, wie das Wirken der Sonne, die in ihrer Macht aufgehet. — Es ist mir, als hör' ich Einwürfe daherrauschen, wie Waldströme. Jst's denn auch möglich, die Welt so zu mißkennen? aller Erfahrung so zu widersprechen? Wessen Wirken ist gehinderter, beschrankter, gcdrükter, als das des Eottesverehrers? Wer wird schärfer be­ argwohnt, unrichtiger aufgefaßt, falscher beurtheilt, als eben der einfältig gut sein wollende, der schlichtwahr­ hafte, der unentwegliche Licht - und Recht- und Tugend­ freund? Mißkannl und verfolgt von allen den zahllo­ sen Dienern der Finsterniß und Bosheit, deren licht­ entfremdetem Auge der Strahl des göttlichen Lichtes so widrig entgegenblizt, daß sie rasend werden und Him­ mel und Erde erregen zu müssen glauben, um das neue, unerhörte Wesen, das ihren Planen nnd Schöpfungen so gefährlich zu werden drohet, im Keime zu tödten; mißkannt auch von allen Halbguten, die keinen rechten Glauben an hohe, gottgleiche Tugend in sich tragen und demnach alles bezweifeln, zu dem sie in ihrer Kleinheit sich nimmer erheben können; mißverstanden selbst von so vielen Guten, die auf einen gewissen engen Gesichtskreis eingebannt sind; mißverstanden von seinen Freunden sogar, die nur zu oft sein Werk wider seine Absicht auf eine Weise treiben, daß es weder zur Reife noch zur Allgemeinheit je gelangen kann. Ja mißver­ steht nicht endlich jeder sich selbst am ärgsten? Hat

nicht jeder seines Wirkens größten Feind in sich selbst

67 zu suchen, da für eine Stunde der Klarheit zehn Stun­ den Der Täuschung, und für einen Moment der Kraft zehn Momente der mitleidwcrthesten Schwache vdsr gegen sich selbst arbeitender Leidenschaft eintreten werden? — O, meine Freunde! daß doch solche und ähnliche Zweifel nicht so oft auf dem Aker des Geistes als Unkraut die edlere Pflanzung erstikten! Daß doch das ohnehin so eitle und mühevolle Leben nicht durch selbst­ geschaffne Steine des Anstoßes noch verworrner, und beschwerlicher gemacht würde! Daß wir doch Gottes­ geist uns durch solche Labyrinthe den richtigen Fußsteig weisen ließen! O Andächtige! wer wollte sie'denn nicht anerkennen, die Beschränktheit des menschlichen Wesens; die Hindernisse, die sich der Gestaltung ächter, reiner, gottähnlicher Menschheit in uns entgegenwerfen! wer wollte sie läugnen, die traurige Erfahrung, wie wenig bisher das Urbild derselben an uns sich verwirklichet habe? wer wollte in einer Welt der Unvollkommenheit die Vollkommenheit verlangen oder suchen? Es ist ja nur gesagt: der Eottesfreund wirke mit Macht; seine Wirksamkeit sei unter allen beschränkten Wirksamkeiten noch die wenigst beschränkte, die größte, dauerndste, einflußreichste, nicht aber eine unbedingt vollkommne. — Aber wer wollte anderseits aus der Erfahrung, wie selten ein freierer, höherer Aufschwung zum Göttlichen sich finde, überhaupt den Zweifel an der Möglichkeit eines solchen begründen? Was wir nicht vermögen, vermogten andre und was andre konnten, sollten wir auch noch können; und ward uns nicht gerade dazu das göttliche Vorbild unsers Erlösers gegeben, um an ihm zu erschauen, wessen die menschliche Natur, in Einigung mit Der göttlichen, fähig sei? wie denn auch Christus mit Der gränzenlosesten Zuversicht Der Mensch­ heit in Herz unD Seele rief: Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel es ist! — Wer wollte sich ferner

68 die Forderung einfallen lassen , daß kein Hinderniß uns je in den Weg treten soll, da selbst Christus auf die nachdrüklichste Weise in seinem Werke gehindert wurde! Wer behaupten — daß kein Erfolg unsers Thuns statt finden könne, wo wir gerade keinen erwarten oder wahcnehmen? Gottes Gedanken sind nicht unsre Ge­ danken , auch seine Wege nicht die unsern. Alles reift die Zeit und der größten Thaten Erfolg entwikelt sich gerne erst in der Zukunft. Mußte nicht Christus und seine gute Sache erst leiden und alsdann, durch Leiden vollendet, in immer weiter sich verbreitende Herrlichkeit übergehn? Und endlich — ist denn jeder ein Gerechter, der es in unsern Augen scheint? Verdienen wir jeder­ zeit den gewünschten Erfolg unsrer Bestrebungen? Zer­ stören wir niemals selbst Segen und Kraft unsers Lichts und unsrer Wärme, durch wieder eintrctcnde Licht-und Kraftlosigkeit? — Nein, keine Zweifel vermögen dem geist- und gcmüthvollen Menschen den Glauben an die erfahrungsgewisse, unermeßlich tröstende Wahrheit zu entwinden: Wie es Schwache giebt in der Menschenna­ tur, die alle Triebe lahmt, so giebt es auch Gott entströmende Kraft, die wirkt, einfließt, umgestaltet, ewige Gotteözweke verwirklicht unter den Menschen; wie es Leidenschaft giebt, die durch Leib und Leben geht und überall zukt und stört, so giebt's auch Tugend, die auch durch Leib und Leben und am allermeisten durch die Seele geht und auch überall ein - und durch­ dringt; wie das Gute einen herben und oft sich erneuern­ den Kampf zu kämpfen Hal, so wird es auch zulezt einen vollständigen, herrlichen Sieg davontragen; denn das Böse ist nicht von Gott, das Gute aber ist von Gott, von dem Gott, der einst alles in allen sein wird. — O betrachte das Himmelsbild dessen, der Gott er­ kennt, liebt, in ihm lebt! Wie göttlich groß steht er

unter allen kleinlichen Menschen! Siehe, sie fühlen's

69 und — so wenig sie es auch sich und andern gestehen mögen — sie beugen ihm unwillküßrlich ihr Knie; sie fühlen's/ daß sie ihn nicht zu erfassen, ihm nicht nachzustreben vermögen, und sie ergrimmen und mögen den» noch sein Werk nicht zerstören! Wie kraftvoll steht er unter den Schwächlingen, er, dessen Eottgestärkrer Arm Lasten tragt, die jene mit ihren niedrigen Künsten nicht von der Stelle zu rufen im Stande sind! Wie rein und edel unter den Unedeln, Lasterbeflekten; er die Quelle; sie der Abschaum. Mag auch die Pfüze die Quelle je trüben?! Siehe, was richten sie aus gegen ihn, in dem Bewußtsein ihrer vielköpfigen, unter sich selbst uneinigen Verworfenheit! Siehe, wie seine frucht­ bare Tugend die niedrigen Sünder schrekt, die sich auf ihr eigen Werk nicht stüzen können, an dem ihnen das Brandmal der Hölle enrgegenblizt. Lasset uns fliehen; denn der Herr streitet für ihn! — rust's in ihnen, bei jedem sich offenbarenden Gedanken seiner gottbegeister­ ten Seele, bei jeder gottbezeichneten That seiner Hand. Darum Andächtige! beschränkt auch alle erheuchelte und von allen Eözenalkären zusammengebettelte Kraft des Reiches der Finsterniß das Thun der Gerechten so we­ nig, als die Nacht das Licht der Sonne beschränkt, wann der Tag einmal anbrechen will. Dem Sonnen­ glanze des göttlichen Lichts ist kein Abgrund zu tief und keine Nacht zu finster. Laßt sie wüthen, seine Feinde— sie wüthen gegen sich selber; laßt sie in zü­ gellose Leidenschaft ausbrechen — die vereinte Kraft ihrer Leidenschaft ist ohnmachtähnliche Schwäche gegen die unermeßlich ruhige und sichere Kraft dessen, die mit dem Schilde des weltüberwindenben Glaubens und mit dem Schwerte des Geistes gewaffnet steht, dessen Glaube kein Sturm zu erschüttern, dessen innige Vereinigung mir Gott in der Liebe keine Kreatur zu trennen, dessen auf das Himmelsziel gerichteteHoffnung keinGeschik zu verrufen vermag!

— 70 O Bund der Menschen mit Gott! höchstes Gut der Menschheit; einziges Heil; alles in Einem! wann werden wir einmal deinen Werth und Segen klar er­ kennen , deine Nothwendigkeit bringend fühlen?! Wann

werden wir einmal Christus ähnlicher werden darinn, daß unser ganzes Wesen mit Gott sich zu einigen be­ ginnt?! Wann wird sich uns einmal die Wahrheit mit ihrer ganzen erschütternden umgestaltenden und bele­ benden Kraft aufdringcn, daß der Mensch nichts ist, nichts hat, nichts kann, ohne Gott, und daß er alles vermag durch den, der ihn einzig dazu ermächtigen kann; daß der Mensch der elendeste Sklav aller Lebenseitelkeiten ist, so lange er nur der Vergänglichkeit huldigt, und ein freier Geist, so ihn Christus, des Sohnes Geist, Gottes Geist, davon befreiet hat; daß er für sich allein den eisernen Gesezen nicht bloß einer äußern, sondern einer innern Nothwendigkeit unterworfen, keinen Schritt aus seinen Schranken thun mag — und baß die Schranke fällt, wenn Gottes Hand den ihm sich na­

henden Geist von Licht zu Licht, von Kraft zu Kraft, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit führt. O darum laßt uns trachten nach dem, was droben ist, zu Gott uns nahen, aus seinem Licht-und Lebensquell uns erleuch­ ten und laben, ihn täglich mehr suchen und täglich seiner gewisser werden. — Ein andres Heil, außer dir, o Gott ist nicht gege­ ben! Dein Vatershauch ist's doch allein, der allen

Staub lebendig weht; Du gabst den Sternen ihren Schein; Du bleibst, wenn Erd und Meer vergeht. Zu dir hinauf, du Gotteskraft; die jedes Lebens Keim erneut, ohn' Ende wirkt, ohn' Ende schafft und noch das Grab voll Blumen streut, zu dir hinauf erhebe mich, zu deiner unsichtbaren Welt! Da lebt's und liebt's und ewiglich wird bleiben, was an dir sich hält. Amen!

71

Text:

Jes. XLV, 19.

Ich habe nicht zum Saamen Jakobs vergeblich gesagt: Suchet mich.

Andächtige! 1L>eid mir herzlich willkommen an dieser heiligen, von vielen aus euch so oft, von vielen so selten betretnen Stätte, am Schluffe des hohen Festtages! Ihr alle helfet der Religion ihren Triumftag feiern. Ihr be­ kennet sämmtlich dadurch, daß ihr euch so ungewöhn­ lich zahlreich an ihrem Ältare einfindet, daß sie es ver­ diente, Königinn unsrer Herzen zu sein. — Seid mir willkommen zur Forlsezung und Vollendung dessen, was der heutige Tag, nach dem Willen dessen, der ihn uns sandte, in uns hervorbringen und entwikeln soll. Nach dem Maaße der Stimmung, mit der ihr gekommen seid, zu hören, werdet ihr mehr und minder reichlich empfangen; denn des Tages Würde und Absicht und eure derselben geöffnete Herzen sind, wie immer, so vorzüglich auch diesmal, der Kern und die Hauptsache der Feier; und in einem festlichen Gemüthe werben auch des schwächsten Lehrers Worte Festgebanken, Festempsindungen, Festcntschließungen erregen und zur Reife bringen. — Fassen wir darum des Festes hohe Bedeu­ tung mit heiligem Ernste in's Auge. Wir können auch in dieser Beziehung des Guten nie zu viel thun. Nim­ mermehr sollen wir uns.in unsrer Feier von jenen Völ­ kern des Alterthums beschämen lassen, die ohne wahre Religionskenntniß gleichwohl ihren Festen große Absich, len beilegten und in ihnen wirksame Mittel fanden, den Geist alles Volkes zu erneuen, anzufrischen und in Liebe zum Vaterlande und zu dessen wichtigsten Angele-

72 genheiten neu entbrennen zu lassen. Haben wlr nicht noch viel mehr zu feiern als jene? Wir feiern uns selbst,

dem Vaterlande und der Menschheit — auch der nach« kommenden, der wir unsre Festtage als ehrwürdige, se­ genbringende Anstalten einst hinterlassen sollen. feiern Christo und Gott, dem Herrn selber.

Ja wir

Sind wir denn nun heute auch nur ein wenig zur Erkenntniß, der uns noch schwer drükenden Gebrechen, aber auch zur Erkenntniß der uns unaufhörlich zufließen« den Huldbezeugungen Gottes und zu der Einsicht gekom« men, wie noch immer unser Betragen mit diesen Wohl­ thaten in scharfem Gegensaze stehe, so muß sich uns doch wohl der Wunsch nach einem Zustande aufdringen, der unser und unsers Verhältnisses zu Gott einiger« Maaßen würdiger und dem Gesammtwohl, wie dem des Einzelnen beförderlicher wäre. Unsere heilige Reli­ gion sezt das Bcdingniß, zu diesem Zustande zu gelangen, in das Suchen Gottes, oder in das Nahen zu Gott, weil sie in ihm das höchste Gut erkennen muß. Laßt uns Andächtige! in dieses Gegenstandes Betrachtung, die wohl am schiklichsten den Schluß eines vaterländisch­ christlichen und christlich-vaterländischen Festes ausma« chcn wird, nun sogleich eintreten und dabei vorzüglich in's Auge fassen 1) die Nothwendigkeit und 2) die Art und Weise des Suchens Gottes, oder daß wir und wie wir Gott suchen sollen. Du aber, Quell des Lebens, laß dein Wort an uns sich erproben: Ich habe nicht vergeblich zu euch gesagt: Suchet mich!— Laß dich finden, wenn wir dich suchen; gieb uns gnädig, warum wir dich bitten.

Wir bitten aber vorzüglich um den Geist der Gnade und des Gebets, um Gebetslust und Gebetekcaft, da­ mit dieser Betrag sich uns zum Segenstag und jeder Lcbenstag sich zu einem wahren Bettage weihe! Amen!

73

I. Ich habe nicht zum SaamenJakobs vergeblich gesagt: Suchet mich!

Welch' ein großer Festgedanke, der Gedanke an ein erneuertes Suchen Gottes! Zu groß, zu erhaben, zu schwer erreichbar, Einbildung einer überspannten Phan­ tasie, Traum eines sehnsuchtsvollen Gemüthes, unan­ wendbare Vorstellung einer in sich selbst verlornen, ver­ tieften Vernunft! — werden vielleicht manche sagen unter unö und mit der herzlosesten Kaltblütigkeit sich wieder zu den Kleinigkeiten des alltäglichen Lebens wen­ den. Aber wir antworten — und der heutige Tag berechtiget uns zu der Antwort: Wann sollen wir unS an das Höchste, Heiligste erinnern, wenn nicht an hei­ ligem Tage? wann uns Gott besser nahen können, als wenn er uns sich nahet? wann die Zeit des Heiles benuzen, als wenn sie da ist? — Wir Lehrer müssen an solchen Tagen bas Beste, Erhabenste, Beseligend­ ste, was wir kennen, das Menschlichgöttliche und Gött­ lichmenschliche, das Allerchristlichste, Kern und Kraft aller Eottesoffenbarung zusammenfassen und es mit fle­ hender Liebe euch neu an's Herz legen. Und wir dür­ fen und sollen es desto eher thun, weil die Erfahrung lehrt, daß der Widerwille unsers so selbstgenugsamen Zeitalters gegen das Höhere nur daher kommt, daß es dasselbe nicht kennt, oder doch zu erreichen zu schwach ist. Es ist die Sinnlichkeit, die, trunken von der Wollust Taumelkelch, schreit: Wer ist der Herr, dessen Stimme ich hören soll? — und es ist der, ihren hungrigmachenden und immer leerer lassenden Sättigun­ gen folgende Ekel, welcher die Kraftspeise des Geistes verschmäht, weil die zerrüttete Natur sie nicht mehr leicht ertragen mag, wenn nicht eine Wiedergeburt ihre erdrükten und betäubten Kräfte wieder erneut, die hei-

74 ligen Pfander eines höher» Lebens wieder an's Licht hervorzieht. O Zeitalter, o Vaterland, v Mitbürger! verdienst du

noch einen Funken wahrer Achtung, wenn du fortfährst, der lautzeugenden Erfahrung, der sonnenklaren Ver­ nunft und der Gottesgeistigen Schrift einstimmige Lehre zu verachten — die Lehre r Suche den Herrn! nahe dich Gott! denn anders können deine Gebrechen nicht getilgt werden; anders kannst du aus deiner theilweiscn Versunkenheit nicht emporsteigen. — Aber ist denn hieseBehauptuvg wirklich erfahrungsVernunft- und bibelgemäß? Auf diese dreifache Frage folgende dreifache Antwort: 1) Ich thue Verzicht

auf jeden Anspruch von gesunder Wahrnehmungskraft, wenn sie nicht erfahrungsgemäß ist, die Beob­ achtung: Es ist noch nie, unter der Sonne noch nie ein Mensch wahrhaft und bleibend glüklich geworden, es hat noch nie ein Mensch andre beglükt, große Opfer für Vaterland und Menschheit gebracht, edle, uneigennüzige, erfreuende, beglükende Thaten gewirkt und durch sein Beispiel, sein ganzes Leben und Wesen, wirklich segensreichen Einfluß geäußert, als nur in dem

begeisternden Glauben an ihn, den Unsichtbaren, Aller­ habenen— und in der Liebe zu ihm, der das liebende und zu ihm aufstrebende Herz mit seiner Güter Fülle sättigt, seine Sehnsucht ewig, ewig stillet. — Es hat noch nie ein Volk unter der Sonne dauernde Wohl­ fahrt über seine Mitvölker und über das kommende

Geschlecht verbreitet, das nicht mehr und minder den höchsten Gütern der Menschheit nachtrachtete und so das Göttliche in sich aufzunehmen bemüht war. Sie haben erobert, jene von der Geschichte groß genannten Nationen; sie haben die halbe Welt bezwungen, und mit ast' ihrer Leidenschaftsgewalt nur gezeigt, daß oft nichts dem Menschen feindseliger und unglükbringender

75 sei, als er sich selber. Nie aber konnte die heilige Profezciung zu einem Volke sprechen: In dir werden gesegnet sein die Geschlechter der Erde. — Was ist, frage ich zweitens, vernunftgemäß?

wenn nicht die Behauptung: Jedes Ding lebt und gedeihet nur in dem ihm eigenthümlichen Elemente. Die Pflanze wächst nur alsdann, wenn der allbefruchlende Erdsast in ihr emporsteigt und wenn sie dabei in einer Lage ist, die für ihre Natur und Bestimmung sich schikt. Das Thier genießt seines Lebens nur, wenn es den ihm bestimmten Unterhalt findet —' und so

muß denn auch der Geist, wenn er bestehen, leben, wirken, immer zunehmen und vvllkvmmner werden soll, geistige Nahrung schöpfen aus dem immerwährenden Umgänge mit dem, was das Ziel seiner Bestimmung ist. Auch ihn muß Himmelsthau befruchten und an der Sonne der Geisterwelt muß er sich erleuchten und wärmen; sonst verarmt er und wird erstikt vom wu­

chernden Unkraut der Sinnlichkeit. Mag man auch wohl die Ceder auf Libanon und die Palme der Wüste hinab an's Eismeer verpflanzen? werden sie nicht beide verderben? So wenig darfst du den hohen, edeln Geist unter die Herrschaft des Fleisches hingeben — sondern du mußt ihn vielmehr seiner Heimath zuzuführen, ihn mit derselben in immer nähere Verbindung zu bringen trachten. Was willst du den Adler hindern, zur Sonne zu steigen? Nur von oben herab kann er die niedre

Erde verachten und wird er vor ihrer Nachstellung sicher fein. Was überwindet die Seele nicht, die sich zu Gott zu erheben vermag und in der belebenden Nähe des Größten, alles andere mit ihm verglichen, für klein und armselig erkennen muß?! O, Andäch­ tige! Vernunft und Erfahrung sind wahrlich unschul­ dig, wenn wir nicht einsehen, ja gleichsam mit Hän­

den greifen können die dringende Nothwendigkeit, Gott

76 zu suchen,

ihm zu nahen

und vor seinem Angesichte

fromm zu wandeln! Nur vom Geiste kommt Geist — und Göttliches nur von Gott her. — Es würde uns, da wir noch viel zu sagen haben, an Zeit gebrechen, wenn wir noch anhören wollten auch nur die wichtigsten aller Zeugnisse, die uns die Edeln und Vortrefflichen unsers Geschlechtes über diese größte Menschenangelegenheit hinterließen. Aus allen Zeiten, in allen Sprachen und in der verschiedensten Einkleidung rufen sie uns von Morgen, Mittag, Abend und Mitternacht zu, sie die Weisen und Frommen der Vorzeit: Menschen, sucht das Höchste, trachtet nach dem Göttlichen! — Eben so unmöglich würde uns, der Zeit wegen, der Beweis, daß unsre ausgestellte Behauptung, 3) auch derDibcl gemäß sei. Denn

die heilige Schrift zeigt nicht in einzelnen Stellen nue, sondern durch und durch die Absicht, uns zum Him­ mel zu erziehen, mit dem Ursprünge unsers Daseins, dem so erhabenen und doch uns nahen und verwand­ ten Gottesgeiste uns zu befreunden, den Kindern den Vater darzustellen, dem Vater die Kinder zurükzugeben. — „Fraget nach dem Herrn; suchet sein Antliz. Es freue sich das Herz derer, die den Herrn suchen. — Der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harret, und der Seele, die nach ihm fraget. — Du, Herr, verlässest nicht, die dich suchen! — So ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, spricht der Herr, so will ich mich von euch finden lassen. — Darum so suchet ihn, weil er zu finden ist und rüst ihn an, weil er nahe ist. — Nahet euch zu Gott, so nahet er sich zu euch! — Denn sein Wille ist's, daß ihn die Men­ schen suchen sollten, ob sie ihn auch fühlen und finden mögten; zumal er nicht ferne von einem jeglichen un­ ter uns ist." — So ergehet Gottes Ruf an uns durch die Schrift. — O daß wir des ewigen Er*

-

77



Lärmers Huld verstanden, erfaßten; erwiederten 'seinen treuen Ruf, der an uns zu ergehen nie aufhört! auf daß er auch zu uns Suchet mich! —

nicht

vergeblich

gesagt habe:

n. Ich habe nicht zum Saamen Jakobs vergeblich gesagt: Suchet mich. Vergeblich und umsonst ergeht kein Gotteswort. Eher werden Himmel und Erde vergehen, als daß eins der Worte Gottes unnüz nebenhin gienge. Darum laßt uns, Andächtige! heut' am Altare des Vaterlands uns vereinigen in unsern Entschlüssen und Bestrebun­

gen, baß auch dies Wort Gottes, so viel an uns liegt, in Erfüllung gehe. Suchen wir den Herrn — und zwar auf die Weise, wie er gesucht sein will und gefunden werden kann, auf die uralte Weise, wie der Mensch vermöge seiner Natur schon von Anbeginn ihn suchen mußte. Suchen wir ihn geistig, ge­ müthlich, gläubig. Das Geistige muß geistlich gerichtet sein. Gott ist ein Geist und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten. Unser Geist erhebe sich also immer mehr zu ihm; unsre Vernunft beschäftige sich immer öfter und anhal­ tender mit ihm, auf daß wir stets etwas mehr in uns aufnehmen mögen von der freilich unermeßlichen Vorstellung dessen, den der Himmel und aller Himmel

Himmel nicht umfassen und den wir in seinem Wesen und in seinen Werken durch Ewigkeiten hinab nie ausdenken werden — in dessen Erkenntniß wir aber dennoch (o danken wir es seinem gnadenvollen Willen!) zunehmen können, wie in der Erkenntniß so mancher anderer Dinge, deren unser Geist einmal inne geworben ist.

Aber hat unsre

Vernunft einmal die größte aller

Vorstellungen erfaßt, o so lassen wir frei und froh

78

dieselbe auch auf das Gemüth wirken, was jte wirken mag, aufs Gemüth, den Wohnsiz aller unsrer Ge­ fühle, Wünsche unv Bestrebungen, die unsre Ruhe oder Unruhe, unsre Freude und unsern Kummer, un­ ser inneres und also unser wahres Elük oder Unglük ausmachen. Nichts verschließt aller Religion, aller Erfassung und Erfahrung Gottes unerbittlicher den Zu­ gang als die traurige Verstandesschwärmerei, die da glaubt, man müsse, um der Schwärmerei zu steuern, die Vorstellung Gottes sorgfältig vor allem Gefühle, vor aller gemüthvollen Empfindung bewahren. Gott ist findbar und genießbar dem ganzen geistigen Men­ schen und was oft kein Verstand der Verständigen sieht, das ahnet in Einfalt ein kindlich Gemüth. Nur in des Geistes Tiefen, wo keine Kraft sich von der an­ dern feindselig scheidet, wohnt der heilige Glaube, von dem die heilige Schrift sagt, daß er ein nothwendiges Erforderniß sei für jeden, der Gott suchen und finden wolle. „Wer zu Gott kommen will, der muß glau­ ben, daß er sei und daß er denen, die ihn suchen, ein Vergelter sein werde." Dieser Glaube, wiewohl er niemals in dieser Traumwelt eine ganz unzweifel­ hafte Anschauung genannt werden kann, enthalt alle Kräfte und Güter des Menschengeistes, die auf Gott und göttliche Dinge sich beziehen, vereinigt in sich: die Liebe zu dem, der uns alles in allem, unsrer kühnsten Wünsche Ziel und Ende sein kann, und zu den Men­ schen, seinen Kindern, eben vorzüglich um seinetwillen, dessen Urbild wir mehr oder weniger klar in ihnen wahrnchmcn; die Hoffnung, der unzeebrüchliche Stab in der Trübsalsnacht und ein Wille, dessen Kräfte im Kampfe nur wachsen, ja mit Gott immer herrlicher siegen und die Welt überwinden. — So ist also ein Gedanke an Gott und ein Freudegefühl, daß er ist

und wir sein sind, besser als sonst tausend Gedanken

79 und Gefühle, die das Siegel der Göttlichkeit nicht tra­ gen und darum des Segens und der Kraft zu gott­ ähnlichen Handlungen ermangeln müssen.--------------O Vaterland, Vaterstadt, was wärest du, wür­ dest du werden, wenn deine Söhne und Töchter sich alle so Gott genährt hätten, sich nahen würben! Wo waren dann noch jene Gebrechen, die Staat und Kirche, besonderes und allgemeines Wohl so mannigfach brüstn ? Wo jene Hindernisse, die dem innigen Aneinander­ schließen der gegenseitigen wohlthätigen Einwirkung aller Stande auf einander int Wege stehen? Wo gab* eS noch Bürger, die durch Versäumung der nächsten und wichtigsten Pflichten das Staatswohl unaufhörlich un­ tergrüben? wo noch Familien, die in schreklicher Zer­ rüttung die alte Wahrheit predigten: Ein Mensch, der Gott verläßt, erniedrigt sein Geschike; wer von der Tugend weicht, der weicht von seinem Glüke? — Welche unauflöslichen Bande der segensvollsten Verei­ nigung mit Gott und unter sich würden vielmehr durch alle Verhältnisse des vielgestaltigen bürgerlichen Lebens sich hindurchziehn! Was eines erhabenen Jesaias Be­ geisterung, was eines Jeremias Gott und Tugend erfüllte Seele, was eines Davids frommer, starker Glaube Großes und Entzükendes über Israel weissagten, wenn es einmal in der That ein Volk Gottes sein würde, das und noch viel mehr, was nie in eines Menschen Herz kam, würde unser Erbtheil sein. „Seligkeiten sind dein, o Israel! wer ist dir gleich, v Volk, das du durch den Herrn selig wirst? der deiner Hilfe Schild und das Schwert deiner Hoheit ist. — O daß du auf meine Gebote merktest, so würde dein Friede sein wie Wafferströme und deine Gerechtigkeit wie Meeresfluthen!" — O! Festtag! wenn du nicht ganz ver­ geblich über uns aufgiengst (wie doch in Gottes Hand nichts vergeblich ist) und wenn wir nicht gerabej»

80 denen gleichen, von denen Jesus sagt, daß sie Augen haben und nicht sehen, Ohren und nicht hören und daß ihr Herz nichts vernehme — O! Festtag des Herrn! wenn du auch nur etwas von deinem Segen uns zurüklässcst, mit welcher Ehre und Freude, welcher

Himmelslust und mit welchen strömenden, unerschöpft lichen Dankgefühlen, mit welcher wachsenden Zuversicht würden wir dann künftig Bcttage feiern und die Feste des Herrn ausrufen — bis wir einst dahin uns sam­ meln, wo wir den Preis des Glaubens, der Seele ewige Seligkeit, davon tragen würden. Ja das sei der Segen dieses Festtages für jedes aus uns insbesondere und dadurch für alle, baß wir

neu den Herrn suchen, die welche ihn schon oft gefun­ den haben, zu ihrem Heil und zum Zeugniß für andere, aber auch die, welche ihm noch ferne sind und deren Seele noch des Tages ihrer Erwekung und höher» Belebung harret. Jedes bedarf Gottes, so lange wir Menschen sind und so lange ein Gott ist, den wir Vater nennen dürfen. Je öfter wir ihn aber schon ge­ funden haben, desto leichter und öfter und sichrer wer­

ben wir ihn noch finden; denn, wer da hat, dem wird gegeben. Nicht ferne ist er von jeglichem unter uns, wenn wir auch ferne von ihm sind. Außer uns und in uns kann unser forschender Blik ihm begegnen. Ein offnes Aug', ein stilles Herz sieht Gott, Gott überall. Denn die Erde ist des Herrn, ein Tempel Gottes die Natur, da jeder Lichtstral der majestätischen Sonne und jeder durch ihn entwikelte Pflanzenkcim, besonders jedes lebende Geschöpf in seiner wundervollen Eigen­

thümlichkeit ein nie verstummender Prediger der Herr­ lichkeit Gottes ist. In wie hohem Grade gilt dieses besonders dir, o Vaterland! du Land, wo ihre Segen alle die segnende Natur vereint; wo still im Blumen­ thal und laut tm Wasserfalle herrlich, herrlich Gott

81 — erscheint und wo Gottrsfinger an die Gebirge schrieb: das ist die Stätte, wo meines Namens Ehre thront! Wahrlich, wahrlich ich sage dir, du müßtest aufhören, Mensch zu sein, wenn du hier nicht findest, was eine Gott nachfrazenbe Seele sucht! — Ein offnes Aug', ein stilles Herz sieht Gott, Gott überall — sieht ihn namentlich auch im Menschen selbst. Lichthelle Züge des Bildes des ewigen Vaters aller vernünftigen Geschöpfe zeigt dir dein und deines Mitmenschen unsterblicher, eine Welt von äußern Schönheiten durch seine innere Vortrefflichkeit aufwiegender Geist. Unglaublich wird dein Glaube an Gott wach­ sen, wenn dein Glaube an die Menschheit, an ihren oft verborgenen Adel, ihre oft nicht gerade der Sin­ nenwelt auffallende Würde und Kraft zunimmt. Du wirst dich unaufhörlich durch Menschen belehrt, bera­ then, getragen, geleitet, unterstüzt, du wirst Gottes meiste, größte und geistigste Wohlthaten durch naher und geliebter oder sonst durch guter Menschen Hand dir zugetheilt finden. Wahrlich, wahrlich ich sage dir, wenn du Gott in der ediern Menschheit nicht zu fin­ den vermagst, so ist überhaupt dein Auge zu trübe für sein Anschaun.

Ein offnes Aug', ein stilles Herz sieht Gott, Gott überall — findet ihn unaussprechlich leicht auch in den Schiksalen des Lebens des Einzelnen sowohl als eines ganzen Volkes und der Menschheit. Kaum ist dem Verstände etwas leichter als die Beobachtung, wie durch und durch so voll Plan und Absicht war und ist der Gang der Begcgniffe der Weltvölker von An­ beginn bis jezt; kaum etwas leichter als der Beweis, daß jedes einflußreiche Ereigniß dann gerade eintraf, wenn seine Zeit erfüllet war, d. h. wenn die Mensch­ heit seiner am meisten bedurfte — und dazu reif ge­ ll. 6

82 worden war. Wir könnten, Daterlandsfresnde! die Probe machen an des eignen Vaterlands Geschichte, auf

deren Blattern wir die Spuren der weisen, liebevoll len und erhabnen Führungen des Völkererziehers, als

unsers Schuz« und BundcegvtteS, so gut wie Israels Prvfeten bei ihrem Volke, zu erkennen und aufzuwei­ sen in dem Stande sind. — Und endlich, wie ist dem, der die größte aller Künste, die Kunst tiefer und richtiger Selbstcrgründung sich erworben hat, Gottes Ansprache an ihn so verständlich, seine Nahe so fühl­ bar, seine besonderste Obsorge so gewiß, wenn er den denkenden Geist zur Betrachtung seiner eignen Schiksale hinneigt. Kein Zug in seinem Leben kann für ihn die Spur der Meisterhand veeläuguen, die ihn zur Ergän­ zung und Vollendung gerade nur dieses Schiksalsgemäldes auSzuführen für gut fand. Darum wahrlich, wahrlich sag' ich dir: du wirst Gott vergeblich in der Ferne suchen, wenn du seine, dir nahe Vaterhand nicht zu erkennen vermagst. —

Ein offnes Aug', ein stilles Herz sieht Gott, Gott überall — müde, von

suchen,

Nahe ist uns der Herr — werdet nicht seiner Nähe zu hören, die ihr, ihn zu

neues Bedürfniß und

neuen Muth empfindet!

— nahe in jenem heiligen Buche, auf dessen Aussage sich fori und fort die heiligste Glaubenslehre und Lebenevorschrift gründet, ohne welche keine christliche Pre­ digt, ja kein wahrer Religionsunterricht überhaupt vor­ handen wäre. O seliger Glaube! komm' und führ'

uns wieder zurük zum Buche aller Bücher, von dem tue vernünftigste aller Vernunft und das tiefste Gefühl am meisten und unwiderstehlich angezogen werden, wenn sie einmal seinen Sinn gefaßt, einmal aus eigner An­ schauung und Erfahrung erkannt haben, es seien Strö­ me lebendigen, zum ewiges Leben nährenden Wassers

83 durch dasselbe ausgcgossen. Ach warum überhören wir der alten Erfahrung Zeugniß vom Geist und Kraft der Bibel als eines GottesgcisteS und einer. Eottcekraft, selig zu machen alle, die daran glauben? Warum eilen tytt nicht, selbst die Erfahrung zu machen, daß ein einziger Dibelgedanke oft mehr Muth gegen die Sünde, mehr Standhaftigkeit in der Versuchung, mehr Antrieb zur Tugend, mehr Trost in den bittersten Leiden »er# leihen kann, als ganze Büchersammlungen voll Geistr und kraftloser Menscheneinfalle?— Wahrlich, wahrlich ich

sage dir, Bibelverachtendes Zeitalter! dir ist kein anders Mittel gegeben, durch das du Golt finden kannst, wenn du dieses vernachlässigest; denn wer ein anerkanntes Gna, denmittel verschmäht, für den sind auch dje andern unr kräftiger geworden! Milder Bibelhochachtung und dem Bibelglaubcn steht und fällt auch die Hochachtung und

glaubenvolle Benuzung aller auf sie gebauten kirchlichen Veranstaltungen, namentlich der Predigt. Aus ihr kommt, nach des Apostels Versicherung, der ächte Glau­ be, weil sie aus dem Worte Goites fließt. Oder sagt. Andächtige! was können wir einwenven gegen die Wahr­ heit: Unmöglich wird ein Mensch das gerne thun, was er nicht einmal gerne hören mag und wer von der Ver­ kündigung des Daseins, der Vollkommenheiten, der Werke und Wege eines höchsten Wesens sich entfernt, der weicht nothwendig auch von diesem Wesen selber?

Ach offenbare, erprobe dich an uns, wie du dich in den Zeiten eines innigern, wahren Christenthums offenbartest und erprobtest, du Golteswahrheit: Wo zwei oder drei in Christus Sinn und Namen versammelt sind, da ist der Herr mitten unter ihnen. Darum wahrlich, wahrlich sag' ich dir, so du, Gokleewori vorbeigchend, dich auf andere Weise berathen zu können glaubst, so wird dich, falls du bann irre gegangen sein wirst, das Wort des gerechten Gottes treffen: Du hattest Moses und die Pro,

6 *

84 feten.

Dieselben hättest du

hören mögen.

Wie oft

hab' ich euch zu mir versammeln wollen, und ihr habt nicht gewollt! — Wlr

steigen,

Andächtige!

vom Hohen noch zum

Höchsten, mit einigen Gedanken noch das Unaussprech­ liche berührend. Nahe und am allernächsten wohl ist der

Herr dir Vaterlands-, Menschheitsrund Christusfreund im Gebete, d. h. im wahren Gebete; denn, so hoch der Himmel über der Erde, so hoch ist das wahre Gebet über die bloße Wortformel erhaben, von der Vernunft und Gemüth gleich ferne sind. Es. ist das

wahre Gebet der Inbegriff alles dessen, was der leben­ digste , der beinahe anschauungsgewiffe Glaube, die innigste, vom Himmel selbst entflammte Liebe, kurz, was der stärkste Drang der edelsten Kräfte der Men­ schenseele erzeugen kann; auf Gott selbst hingelenkt. Im ächten Gebete steht der Mensch, wo er soll; hoch über Welttand weg sich hebend, frei und rein zu Gott sich nahend, im unmittelbarsten Bewußtsein Got­ tes. Während des Gebets ist die Seele, da alles an­

dre verschwunden ist, nur himmlischer Gedanken em­ pfänglich , göttlicher Kräfte und Tugenden fähig und höhern Einflüssen offen. Es ist demnach das öfter wie­ derholte ächte Geistesgebet ein öfter erneuertes Suchen Gottes, auf das immer ein befriedigendes, beseligen­ des Finden des Gesuchten folgt und es ist das Gebet, weil wir nie mit Gott umgehen können, ohne seinen Einfluß zu fühlen, das erste und wirksamste Belebungs­ und Stärkungsmittel, in der That ein Alhemholen der Seele. Darum hat, auch ohne Rüksicht auf die wirk­ liche Erhörung unserer gottgefälligen Bitten, schon an sich das Gebet, nach der Versicherung Jesus und aller Gebetsmänner vor und nach ihm — für die Vered­

lung

unsers

Herjens

eine wahre Schöpfcrskraft,

da

85

eine des Gebets gewohnte, im Gebete verharrende Seele im klaren und lebendigen Bewußtsein der Eottesnähe und zugleich in Zustande der natürlichsten, ungezwun­ gensten Selbstherrschaft steht. — Indem Gott uns also beten lehrte und beten laßt, spricht er am lautesten und rührendsten zu uns: Ich habe nicht zum Saamen Ja­ kobs vergeblich gesagt: Suchet mich! — und wenn Christus selbst in Person uns am heutigen Tage den Weg zum Heil des Vaterland's und des Einzelnen zeigen wollte, so würde er vielleicht die Summe aller seiner Belehrungen in das Wort zusammenfassen: Betet! denn wahrlich, wahrlich, ich sage euch: in diesem Einen liegt eure Kraft und euer Heil! O so erhebe sich denn am Schluffe dieses Festtages unsre Seele noch zum Herrn, hier in seinem Tempel und dann im stillen Kämmerlein, wo die Andacht noch unge­ störter, inniger sich mit ihm vereinigt, immer aber in neuer warmer Liebe zu allen denen, die Gott uns nahe stellte, zur Vaterstadt, zum Daterlande, ja selbst zur Menschheit und in neuem sehnsuchtsvollen Verlangen zu Gott und Christus, und zu seinem Reiche. Es umfasse unser Gebet alle unsere Bedürfnisse, so wie sie allen ins­ gesammt, alle unsre Anliegenheiten, so wie sie.jedem insbesondre bewußt sind. Es sollen unsre Wünsche alles in sich schließen, was ihrer, vermöge seiner Natur und zufolge der Vorschrift des Gewissens und des Wortes Gottes, würdig ist. Es geschehe unser Gebet in freu­ digernster Andacht und in kindlich einfachem Glaubens­ sinn — so wie der heutige Tag es von uns fordert, denn, wenn sollen wir beten lernen, wenn solch' ein Fest es uns nicht lehrt, nicht durch das Bewußtsein unsrer Sündhaftigkeit und Eottesentfrembuntz von unsrer Seite — und der Gottesnahe (in seiner Wohlthaten Fülle) von Gottes Seite — uns auf die rechte Art zu beten unmißvorstehbar hinweißt?

86 Ja zu dir, zu dir,

v Ewiger!

laß uns jezt noch

nahen; dir alles, was unser Herz bewegt für Gegen« wart und Zukunft — traulich vorlegen. Zwar, wenn unser prüfender Blik auf uns selbst und unsre Derr gangcnheik fallt, so mögen wir wohl sprechen: Herr, wir wissen nicht, was wir thun sollen; sondern unsre Augen sehen nach dir. — Aber die feurige Dankr empfindung, die in uns sich regt, wenn uns die Derr gangenheit dich als die schonende Liebe zeigt, erfüllt

uns mit Muth und hoher, freudiger Begeisterung, dir unverhokn unsre Wünsche, die du ja ohnehin schon kennst/ in der Zuversicht vvrzutragen, du werbest sie in Gnaden anschen. Ja Großer, Heiliger, Ger rechter, Allweisester, aber auch ewiger, unermüdlicher Erbarme», Derzeiher, Langmüthiger und unentweglich Treuer! dem wir bisher den überschwenglich tröstlichen Daternamen geben dürften! — auf's neue werde du von uns als Dater gefunden; auf's neue und immer mehr eine uns unser Herz untereinander zur großen Kinderschaar, beseelt von der einen und großen Liebe, die von dir ausgieng und üns alle zu dir führen soll — und unsre Hingabe an Vaterland, Vaterstadt, ge­ meinsames Wochl und an unser besonderstes'häuslich­ stilles Glük, sei begründet, belebt, gestärkt, durch­ glühet von der alles tragenden, alles vermögenden Liebe zu dir, dem ewigen Vater. —

Täglich dringender werde uns die Nothwendigkeit, täglich lieber die Pflicht, dich nur zu suchen und täg­ lich erfahrungsgewisser, unentreißbarer die Wahrheit: daß kein Heil zu finden sei als nur in dem, durch den wir sind und leben. Jede Offenbarung deines Namens, jede Spur deines alldurchdringcndcn Wesens werde uns größer- stets und stets vcrehrungswürdiger — und die Genossenschaft deines Reiches der Gegen-

87 stand

unsres

innigsten und

kräftigsten Strebens!

Es

weiche von uns jene ungastliche, unchristliche, un­ menschliche Gleichgiltigkeit gegen dein in deinem Sohne vollführtes heiliges Werk, das Christenthum; jene To­ deskalte, in welcher jeder gute, unkräftige, hundertfach zu wirken bestimmte Keim unsers ursprünglich Gott ähnlichen Geistes ersterben muß. Dein Geist komme über uns; dein Wort belebe uns! Frühe wollst Du uns

mit

deiner

Gnad'

erfüllen,

uns alle, alle — Dcrtn

unser aller Herz ist dein — zu dir ziehen, alle dei­ ner Kraft und deiner Liebe in etwas mehr theilhaftig machen, auf daß wir immer mehr zum vestvereinten Tempel uns zusammenfügen, den deines Geistes Hauch durchweht; auf daß ein Gottesstaat wir werden, wo Freiheit und Religion die Hand sich bieten, das Ganze durch den Einzelnen und jeden Einen durch das Ganze zu beglüken! Zu diesen Geistesgütern füge denn auch ferner, o Allgütiger! des Leibes Unterhalt und jegliche Noth­

durft, die jezt im Pilgerlande der Erde uns unent­ behrlich ist und deren Bestz und Genuß uns zu deiner fröhlichern Verehrung und Unsrer wechselseitigen Der

glükung geschikter machen kann —• aber schenk' uns auch Zufriedenheit, die nichts vorschreibt-!— Demuth, die alles, wie's und wann's gegeben wird, mit Dank empfangt — Weisheit, die durch der Gaben redlich­ sten und zwekmäßigsten Gebrauch uns größres zu em­ pfangen tüchtig macht.

Ach, unsre Schwäche! — du kennest sie; wir fürchten sie auch für die Zukunft. Ach Vergeber! vergieb, wenn sie uns immer wieder übereilet! Habe fer­ nerhin Erbarmen mit einer Sündenwclt, die, spat und mühsam nur, zu deines Willens und ihres eignen

88

HetlS Erkenntniß kommt und untreu wieder deiner Dar terhand entgeht, da fle dieselbe kaum erst in Buße und Glauben ergriffen hatte. Ach, was für ein Eeschlecht wir sind, vergiß es nie; oder laß vielmehr uns niemals vergessen, welch' ein barmherziger, huld­ reicher Vater du uns Kindern seist. — Ach das furchtbar« Heer unkräftiger Vorsäze — sie scheiterten an der truzigen Gewalt der Sinnlichkeit! — das Heer vergeblich gethaner Gelübde, nuzloS gesprochener Ge­ bete, unfruchtbar gebliebner Gottesdienste — denn ihr Himmelssaamen ward vom rohen Fußtritte deS Leicht­ sinns und der Leidenschaft getreten — ach das dringt uns, die Ditte an dich zu richten, Vater: Nicht daß du uns von der Welt hinwegnehmest, sondern daß du vor ihrem Bösen, ihrer Sünde, ihrem gleißen­ de», verführerischem Elende uns bewahrest. Sieh', wir kommen immer mit dergleichen Bitte wieder, so lange noch die gleichen Hindernisse uns von dir ab­ halten, dieselben Versuchungen uns umlagern, diesel­ ben Kräfte uns mangeln, so lange daö neue Leben in uns noch nicht begonnen hat, in dessen Bewußtsein wir sprechen könnten: Wir leben in der Welt, als lebten wir nicht in ihr; denn unser Wandel ist im Himmel. O, zu dieser Freiheit ächter EotteS Kinder hilf uns! Unsers Geistes unsterbliches Sehnen stille! unsers Herzens unersättlichem Drange sprich das tröstende Wort: Es ist eine Ruhe vorhanden für alle, die sich mir er­ geben ! Von allem Uebel erlös' uns und hilf uns aus zu deinem ewigen Himmelreiche! Erlös' uns nament­ lich vom Uebel der Sünde — dem einzigen wahren Uebel, der Leute Verderben, dessen Ende Finsterniß und des Menschengeistes schreklicher Tod ist, da Licht und Leben hingegen unser harret, wenn wir die deinen



89



uns nennen dürfen. — Ach sieh', wir haben uns unterwunden, heute mit dir zu reden, wir, Staub und Asche noch! — doch wir konnten nicht anders und du, Erbarmer, willst's nicht anders. Darum erhöre unser Flehen, heiliger, starker Gott! Treuer, Gerechter, ewige Liebe, erhör' uns! Deine Verheißung, im Worte und im Geiste, leihe unserm Flehen «in juversichtliches Amen!

90

Text:

1. Kor. XVI, 22.

Wer unsern Herrn Jesus Christus nicht lieb hat, der fei Änathema Waran Atha!

Geliebte Zuhörer! 3ehe Zeit ist in sich so eins und so ganz und doch

zugleich so einseitig und so bruchstüklich; jede ist so erhaben in gewissen Dezkehungen über ihre Vorgänge­ rinnen und doch in gewissen andern wieder so weit unter ihnen; in jeder ist eine so arge Ueberschäzung ihrer selbst herrschend in manchen, ja den meisten In­ dividuen, die diese Zeit ausmachen, aber dafür auch in andern, vielleicht weniger«, eine so arge Verach­ tung dessen, was diese Zeit giebt und Ueberschäzung des Wesens anderer Zeiten, daß eö eine der schwer­ sten Aufgaben wird, in seiner Zeit Und für seine Zeit zu leben und zu wirken, ohne ihr Knecht oder ihr Feind zu sein.

Ohne alle thörichte und darum lächerliche Abnei­ gung gegen die jezige Zeit, die in Gottes Hand ist, was sie ist, darf gefragt werden: Wann war jene Aufgabe schwerer als in unsern Tagen? — denn der Charakter unserer Zeit ist im Einzelnen Zersplitterung, Parteiung, Kampf aller Elemente — und ihr Charak­ ter im Ganzen ist noch obendrein ein Vorherrschen der Verstandesthätigkeit, des Forschens, Grübelns, Zerle­ gens, Erörterns, über die Eemüthsthätigkeit, d. h. über das Genießen und Lieben, Glauben und Fromm­ sein — und daher auch über die Willensthatigkeit; denn der Grübler hat weder Zeit noch Muth zum Han­ deln. Wir haben mit der Einfalt und Rohigkeit der

91 Alten auch ihre Thatkraft und manche ihrer Tugenden

ausgezogen. Das sei übrigens nicht gesagt, um unsere Zeit an-

zuklagen; sondern es wird gesagt aus der Ueberzeugung, daß eS einer Zeit mehr frommen würde, wenn man sie auf ihre Gebrechen wiese, als wenn man sich nur zum Echo ihres Selbstruhms macht — und heute und hier wird es nur gesagt, um die Wahl unsers Textes einigermaßen zu rechtfertigen; denn es mag lange her sein, daß er von einer Kanzel gehört worden ist. Es ist mir nämlich, als müsse ich vc:-. Christus reden, wenn man eben daran ist, ein Christusfest zu feiern, und es ist mir, wenn ich mich frage, was meine Zeitgenossen im Durchschnitte von- Christus hak­ ten, als ob — verzeiht mir, wenn ich mich irre! — als ob der wahre Christus ihnen aus den Augen ge­ kommen und entweder durch nichts oder durch eine Lruggestalt ersczt worden sei. — Durch nichts — das ist der Fall bei denen, die nur dasjenige von ihm glauben, was man vor ihm wußte und ohne ihn wissen kann. — Durch eine Lruggestalt — das gilt von denen, die durch das Menschenwerk einer Kirchen­ lehre verblindet, die reinen Stralen des Geistes Got­ tes in der Schbift nur noch in trüben Farben sich brechen sehen. Und — o Elend! — besteht nicht

ein großer Theil des Christenthums dieser Zeit darin, daß diese zwei Parteien sich gegenseitig bekämpfen, in­ dem jede derselben behauptet, im Besize der religiösen Wahrheit zu sein? — und muß man nicht am Ende sogar mit diesem zufrieden sein, weil noch andere, Un­ zählige, gar keine Religion, weder ein unchristliches Christenthum, noch ein christliches Unchristenthum, ha­ ben wollen? Aber eben darum soll man Geist und Kraft des Evangeliums, als eines von Gott den Menschen

— V2 — gegebenen Wortes nicht verschweigen und die Kernsprüche desselben den Leuten nicht aus den Augen rüken, wie in unsern Tagen so oft geschieht, also daß die Men­ schen die Bibel fast nicht mehr kennen und sich dafür an Bücher halten, die Wein in Wasser verwandeln. Wehe denen, die sich eines solchen Verfalles deS Christenthums vor andern uns schuldig machen, wenn sie nichts Besseres dafür geben können! Wehr denen, die das Volk von Christus abwenden und es, .unter dem Vorwand, als wollten sie es in den Tempel einer ewigen und allgemeinen Vernunftreligion bringen, nur in ein Lehrgebäude einer Zeitphilvsvphie führen, von dem, wie Exempel zeigen, in dreißig Jahren kein Stein mehr auf dem andern liegt! Laßt mich denn heute, mit Ueberzeugungstreue und aus HerzenSdrang, weder dem einen, noch dem andern Extrem zulieb, noch auch auS bloßem Vermittlungsbestreben, reden von der Nothwendigkeit der Liebe zu Christus!

Dabei bin ich gar nicht Willens, nach den Gesezen einer wohlgeordneten Rede, ü.ber den zu besprechenden Gegenstand alles Sagbare zu berühren, um — am Ende nichts gesagt zu haben — sondern ich werde, dem vorgelesenen Ausspruche des Apostels folgend, er­ stens von der Liebenswürdigkeit Jesu sprechen und zweitens zu zeigen suchen, daß man ohne die Liebe zu Christus kein Christ sein könne.

Gefühl der Liebenswürdigkeit Christus war eS, theu­ rer Mann Gottes! großer Apostel deines Herrn! was dich am Ende deines Sendschreibens an die Christen zu Korinth beisezcn hieß: „Dieser Gruß ist von meiner eig­ nen Hand; das ist mein selbst hingcseztes Symbolum:

93

Wer den Herrn Jesus Christus nicht lieb hat, der fei Anathema Maran Atha!"— Gefühl der Liebenswürdigkeit Jesus Christus, du geleitetest ihn durch alle Mühen, Schwierigkeiten und Gefahren seines großen, einzigen Berufes; du machtest ihm alle Entbehrungen und Opfer leichter; du entschädigtest ihn für den Spott der Welt; du versüßtest ihm die Schmach des Kreuzes Christus; du entflammtest sein Herz zu jener heldenwüthigen Liebe zu Christus, die ihn dahin brachte, ganz nur seinem Herrn zu leben und zu sterben. — Gefühl der Liebenswürdigkeit Christus, du beseeltest auch vornämlich den edeln Johannes, dessen geistvolle Schriften ihre höchste Weihe von der Liebe zum Herrn erhalten, wovon fle so ganz durchdrungen sind. Ja auch die übrigen Apostel und ihre Nachfolger und so noch unzählige Gemüther aller christlichen Jahrhunderte hat hauptsächlich dieses einfache Gefühl zu ihm Hine gezogen und in seiner Gemeinschaft erhalten von dem einer der Seinigsten sagt: Wir sahen seine Herrlid) feit; er wohnte unter uns voll Huld und Wahrheit; aus seiner Fülle haben wir Wohlthat um Wohlthat empfangen. Doch das bloße fremde Zeugniß des Eindrukes, den Jesus Christus auf seine Umgebung und durch sie auf die Nachwelt machte, könnte unsere Ansicht und unser Gefühl seiner unvergleichbaren Liebenswürdig­ keit nicht hinlänglich bestimmen. Dazu ist erforderlich, baß das Wesentliche von dem, was auf jene solchen Eindruk zu machen vermochte, auch für uns noch erkenn­ bar und empfindbar sei. Und es ist es, meine An­ dächtigen ! Was geistig ist kann nicht vergehen. Darum JesuS Christus gestern und heute und ewig ebenderselbe — und darum für jeden, der Christ sein will, die Aufforderung, ihn selbst kennen zu lernen und seine Ansicht und Empfindung nur durch das uneingenvm-

04 Neuste, ungetrübteste eigene Anschauen bestimmen zu lassen. Wie viel mehr Werth hat, auch bei einem der Kirchenlehre von Jesus Person und Werke wenig gleich­ kommenden Begriffe von Jesus, eine Liebe zu ihm, die aus klarer, eigner Üeberzeugung hervorwuchs, als eine Neigung, die sich nur auf ein „Herr! Herr!" Sagen gründet, das nach dem Ton irgend einer angemaßten Lehrerautorikät angestimmt wird! So treten wir denn vor sein Bild hin — und o! daß es nicht nur Bild für uns bliebe, sondern Geist und Leben in uns würde! Damit es dieses werden

könne, sei es eben sein frisches-Bild, nicht ein nach gewissen Vorurkheilen verunstaltetes, übertünchtes, das vor unsern Augen als ein „unbekannter Gott" auftritt, weil inan den Menschen davon abgelöst hat, der nach Gottes Bilde geschaffen ist und durch den Menschen Jesus Christus dazu erneuert erschien!

Wir.lesen die Berichte der Evangelisten und wir sehen die Herrlichkeit dieses Menschensohncö ohne Glei­ chen, der eben darum auch ein Gottessohn ohne Gleichen war. Wir denken dabei gar nicht allervöcdcrst an jene sogenannten Wunder und Uebernatürlichkeiren, die man einem Zeitalter, das daran zu glauben wenig geneigt »st, immer zuerst und als die Bedingung aller Glaub­ würdigkeit JesuF aufzuzwingen unklug bemüht ist, oder die man, eben so unklug, als anstößig und ungehörig

in Schatten zu stellen sucht, die aber weder streng zu beweisen, noch streng abzulaugnen sein möchten und darum einem individuellen Glauben überlassen bleiben müssen und wenden unS zu dem großen Ganzen der allerkennbaren, allfaßbacen Herrlichkeit Jesus, wie sie sich Menschen aller möglichen Ansichten gleich unwi­ derstehlich kund thun muß. Größe im Gebiete des Denkens macht achtungswür,

dig;

Größe im Geriete des Empßndens und Wollens

95 oder, besser gesagt, Güte, macht liebenswürdig; doch können Achtung und Liebe gegenseitig einander nicht ganz entbehren, so wenig als in der Menschenweit

irgendwo Geist ganz ohne Herj, oder Herz ganz ohne Geist sein und bestehen kann. Vollkommne Achtungs# und Liebenswürdigkeit aber müssen durchaus ganz mit# einander verbunden sein. Wer nun ist's, der diese besizt unter den Menschen? Offenbar der, welcher ganz Mensch, d. h. Mensch im Ideal ist, der alles ist und hat und zeigt, was zum reinen Meuschthum gehört; ttndlich gesprochen: der Mann nach dem Herzen Got# tos, der Mensch wie ihn Gott lieb hat. Und dazu muß er keineswegs alles das sein und wissen und ha# den und können und zeigen und mittheilen, was irgend jemals durch Menschensinn und Menschenhand gieng — denn das wäre die ungereimteste Forderung die sich denken ließe — sondern er muß dasjenige im höchsten Grade sein und wissen und haben und können und zeigen und miktheilen, was das Ziel des Menschen# geistes, die Grundaufgabe des Menschenlebens, die Bedingung des Menschcnglüks ausmacht und was die Kräfte des Menschen aus dem Staube der Erde zmy

Himmel emporhebt. Er muß also, um aus Vielem nur noch Eines zu sagen, besonders derjenigen For# derung am besten entsprechen, die wir an uns tutD andere mit der größten Dringlichkeit zu stellen durch unsere Natur gezwungen sind, in der die Menschen eben darum weit mehr als in allen andern geistigen Angelegenheiten zusammenstimmen, und deren Erfüllung das Glük des Einzelnen und der menschlichen Gesell­ schaft zum größten Theil ausmacht, nämlich die For#

derung der sittlichen Vollkommenheit, oder, mit einem alten Kirchenausdruke, der Gerechtigkeit und Heiligkeit. Und nun kann ich damit abschließeu. Kommet her, ihr alle, die ihr ein solches Ideal zu suchen durch

96

eures Herjens Sehnsucht aufgefordert und durch eures Geistes Licht jeden/ der sich etwa dafür ausgeben möcht«/ zu beurtheilen befähiget seid; kommet und schauet in aller Welt Enden und durchlaufet im Geist alle Zeiten, ob ihr einen findet unter den Myriaden, auch nur einen, wie Er ist, dessen Namen ju nennen ich nicht würdig bin und dessen Namen ich unablaßig mit Geist und Leben nennen möchte, so cs mir gegeben wäre! Ja kommet auch ihr her, ihr Lichter aller Zeiten, ihr Engel Gottes unter dem verkehrten und ungeschlachten (Geschlechte der Menschen — ich will euch nicht namentlich anführcn — ihr, die ihr wie Berge Gottes da standet gegen den Strom des VerderbntffeS und wie Leuchtthürme auf dem finstern, em­ pörten Meere gottloser Zeiten — ihr, an die mein Herz nicht ohne die wonnevollste Rührung denken kann — ihr, die ihr aber doch nur als Morgen- oder Abendsterne ihm, dem Einzigen, voranginget oder nach­ zöget — kommet ihr her und stellet euch in das Licht seines Angesichtes! O wie erblasset euer Licht! denn die Herrlichkeit des Herrn geht vor uns auf, in Jesus Christus zur Ehre Gottes des Vaters! Ich möchte Züge geben aus diesem Bilde — und ich weiß nicht, wo anfangen und wo enden. Alle tragen ben Stempel seines Wesens: „Ich und der Vater sind eins" — und das Siegel seines Berufes: „Ich bin gekommen in die Welt, daß die Welt durch mich selig werde." Schauen wir ihn als Knaben schon im Hause Gottes, seines Vaters; schauen wir ihn bet der Taufe, wo ein bedeutungsvolles Symbol seinem Geiste die vollendete Weihe giebt; beobachten wir iihn in jener Uebergangszeit, da ihn Versuchung der Sinne, der Ehre, der Herrschsucht, doch nur äußerlich, ang eht und von ihm siegreich abgewicsen wird; folgen wir ihm in seinem Lehramte — mit den Schaaren, die er dmrch

97 den Geist der Rede seines Mundes anzvg — ein gewaltiger Lehrer, der die Weisen in ihrer Schulklugheit beschämte und dem Armen im Geiste emporhalf zu freu­ digem Leben des Geistes — ein Lehrer, dessen Reden unvergeßlich waren, weil sie den innern Menschen an seiner Wurzel ergriffen und weil sie alles, was in einem Gemüthe für das Gute ergeben war, mit Licht und Warme durchstrahlten, mit Leben befruchteten — ein Lehrer, der, wie keiner sonst, dem Flachen verständlich und doch dem Tiefsten unerschöpflich war — ein Men­ schenfreund , der cs seine Speise nannte, zu wirken des­ sen Werk, der ihn gesandt hatte und den das so erlegene und zerstreute, hirtcnlose Volk seiner Zeit und seines Landes so innig erbarmte, daß er mit flehender Liebe seine Erwählten zur Mitarbeit wie zur Fürbitte ermun­ terte — ja ein Menschenfreund, der jedes körperliche und jedes geistige Gebrechen und Leiden, so weit es in seiner Macht lag, hob und mit gleicher Innigkeit den Trost der Genesung wie den Trost der Sündenver­ gebung in kranke Herzen goß. Nicht aueführen, nur andeuten kann ich sein erhabenes Seligsprechen in jener Bergrede; sein erhabenes: Golt ist ein Geist :c., sein erhabenes: Billet, so wird euch gegeben! — sein er­ habenes : Alles, was ihr wollet:c. — sein erhabenes: Seid vollkommen wie euer Vater im Himmel — sein erhabenes: Also hat Gott die Welt geliebet.rc.— sein erhabenes: Ich lasse mein Leben für meine Schaafe — sein erhabenes: Ich bin die Auferstehung und das Leben — sein erhabnes Gcbcremnster— sein erhabenstes, eig­ nes Gebet vor seinem Hingang in den grauenvollsten Tod, erst im Kreise der Jünger, dann in Gethsemanes einsamem Schatten — und dann sein Leiden in Wort und Thal, sein Sterben: Es ist voUcni-er! Vater, in deine Hande befehl ich meine Seele — und seine Re­ den nach seiner Auferstehung bis zu seinem: Gehet hm II. 7

98

und lehret alle Völker! — ja diese Auferstehung selbst, so wie sein ganzes Schiksal, die einzigste und unver» gleichbarste Geschichte auf Erden — ein Wunder aller Wunder, ein Drama aus einer höhern Welt, die der Mensch ahnt und sucht — nur andeuten kann ich dies Heiligthum der Menschheit, nur stumm Hinweisen auf die Thatsache, aller Thatsachen, bas aus ihm hervor» gegangene Christenthum — auf daß man darinn immer heiterer erkenne den Liebenswürdigsten, den je die Erde sah, ja mit welchem verglichen, keiner der Menschen liebenswürdig genannt werden mag. O sehet doch den Menschen und den Gott der Menschen!! Hassenswerth ist die Selbstsucht; liebenswürdig die liebevolle Hingabe des Gemüthes an Andere; das Lie» benswürdigste ein Leben, das rein nur den Mitmen» schen geweiht ist. Ein solches Leben war das des Men» fchen f und Gottessohnes. Er opferte sich selbst, swie keiner es kann; denn er hatte wohl mögen Freude ha» ben statt des Kreuzes. Er opferte sich mit der unbe» dingtesten Freiheit; denn er hatte Macht, sein Leben zu lassen, oder es zu behalten. Er wollte durch sein Leben und durch seinen Tod einen ewigen Zwek der Liebe, das ewige Heil der Menschenwelt. O seht den Menschen und den Gott der Menschen! „Wer unsern Herrn Jesus Christus nicht lieb hat, der sei Anathema Maran Atha!" — schreibt Paulus im heiligen Eifer hin als die Sum» me seiner Empfindung für Christus und als das Ergeb» niß seiner Ueberzeugung vom Werthe der Jüngerschaft Christus. Die fremden Worte sind wahrscheinlich die» jenigen einer Verstoßungsformel, die in der damaligen jüdischen Kirche üblich war. Sie heißen: „Verbau» nutig — der Herr kommt." Ihr Sinn ist: Verbannet

99

bist du von unser« Kirche Abtrünniger — und Gott wird dich richten. — Offenbar wollte Paulus nicht eben den Buchstaben dieser Formel, weil er sie sonst nicht seinem griechischen Briefe in einer, den Korinthiern, fremden Sprache beigefügt hatte; sondern er wollte da« mit sagen: Wie die Juden einen ihrer Genossen, der am Wesentlichen ihrer Religion nicht mehr festhalt, aus« schließen, so «giebt sich dies auch bei Christen aus dem Geiste des Christenthums. Es kann in unserer Kirche nicht mehr der Fall fein, eine solche Ausschließung mit irgend Jemand vornehmen zu wollen, da sich in unsern Tagen fast alle Bande unserer Kirche gelöset haben und Jeder nicht nur denken, sondern auch aussprechen, ja geradezu lehren darf in religiösen Dingen, was und wie er will — und da z. B. heute gewiß Viele Weihnacht feiern, selbst zur Cvmmunion giengen, ohne den Herrn Jesus Christus lieb zu haben. Aber mag immerhin die äußere Kirche in Trümmern liegen — es besieht doch eine innere im Geist und in der Wahrheit. Zu dieser nun gehört nicht, an deren Wvhlthaten und Anwartschaften hat nicht Antheil, wer Jesus Chri­ stus nicht liebt. Er hat sich selbst vom Haupte der Kirche abgetrennt. Diese Lostrennung und ihren Unse­ gen laßt uns noch in Kürze betrachten!

Wer Jesus Christus nicht liebt, der in kein Christ; denn er glaubt nicht an ihst. — Wohl können wir irgend einen Menschen lieben, ohne durchweg an seine Ansichten und Behauptungen zu glau­ ben; denn er kann hie und da irren und doch einige lie­ benswürdige Seiten haben. Auf Christus ist dies nicht anwendbar. Er bindet sein SBort an seine Person, und beides unmittelbar an Gott selbst. Er fordert selbst, daß man ihm nicht bloß persönlich ergeben fei, sondern ihn als die Wahrheit und das ewige Leben, d. h. als

100 den liebe, in dem beides den Menschen offenbar wo« den sei. Christus ist ein so erhabenes Ganze, daß auch das Verhältniß des Menschen zu ihm ein Ganzes sein und sowohl von Seiten des Denkenö, wie des Fühlens und Wollene, das Wort Christus gelten muß: „Wer nicht für mich ist, der ist wider mich." Wer es weiß, daß die religiösen Ideen nicht nur um eines bloßen Wissens willen, sondern vornämlich zur Emporbildung des Mcnschengelstes für sein höchstes Sein vorhanden sind; wer inniges Bedürfniß fühlt, vor AO Um auch in dieser Beziehung zur Klarheit und Gewiß­ heit zu gelangen; wer aus eignem Nachdenken und eigner Erfahrung überzeugt ist, daß, obwohl der Glaube ein vernünftiger fein müsse, derselbe doch vom einzel­ nen Menschen nicht durch sich selbst allein erworben und zum gehörigen Grade gebracht werden könne und daß für den Menschen eine Autorität, wie wir sie in Christus finden, die zuverlässigste und die wohlthätigste sei — wer im wahrhaft christlichen Denken es immer mehr inne wird, daß Christus Lehre von Gott sei und daß das geistige Leben in Christus, das Anziehen Chri­ stus, wie der Apostel es mystisch nennt, den Menschen im Glauben erst recht froh und frei, groß und selig und des Geistes Christus theilhaftig mache — der mu ß Jesus Christus lieben, oder er müßte seine Natur verläugnen. Wer aber Christus nicht liebt — machet selbst den Schluß rükwärtö, meine Theuren! wird der an Christus glauben? und wer Christus weder liebt, noch an ihn glaubt, wird der noch ein Christ genannt werden dürfen?! Wir wollen uns zwar hüten, ihn zu richten; denn, wer nicht an Christus glaubt, hat, leider! sich selbst gerichtet. Mag es sein, daß er seine Ausbildung als eines irdischen Menschen ohnedies findet; für die des himmlischen Menschen hat er sich selbst Licht und Leben, Nahrung und Kraft entzöge»! —

101 Wer Jesuö Christus nicht liebt/ der ist kein Christ; denn er lebr nicht in seinem Sinne; er bleibt nicht an ihm wie das Schoß an der Weinrebe. Wer Christus Geist nicht hat/ der ist nicht sein. — Freunde! Schon in irdischer Bezieh hung besteht die Freundschaft im beid- oder mehrseiti­ gen übereinstimmenden Wollen oder Nichtwollen dersel­ ben wesentlichen Dinge. Darum sagt Jesus: //Ihr seid meine Freunde, so ihr thut, was ich euch gebiete. Liebet ihr mich, so haltet meine Gebote!" Noch ein­ mal: Wir lieben an Jesus ja vorzüglich das sittliche Ideal, die Heiligkeit, die vollkommene Gerechtigkeit, Vie vor Gott gilt. Wer ihn nicht liebt, kann es dem wahrer Ernst fein mit dem hohen Ziele des Menschen? Und wenn er auch das Gute will, wie denn manche achtungswerthe Menschen in unserer Zeit es ohne Chri­ stus wollen, wird er davon die hohen Begriffe haben, die er in Gemeinschaft mit Christus haben würde? und wird er sich von der Nothwendigkeit desselben so oft und so lebhaft durchdrungen fühlen, als wenn er jenes Urbild vor Augen hatte? Wird er nicht vielmehr den aus sich selbst hervorgezogenen Gott des eignen Tu­ gendideals hie und da an andre, ebenfalls selbstge­ machte Götter tauschen und so allenfalls mit seinem irdischen Leben in einen waagerechten Zustand kommen, aber zu keinem staken, durchgreifenden und gesegneten Fort- und Ausbilden seines Geistes und Herzens gelan­ gen? O wie Wenige sind noch der Vorgenannten! Wie Viele lieben Jesus nicht und haben dabei das ent­ schiedene Bewußtsein, ihn nicht lieben zu können, weil ihres Gemüthes Richtung auf Dinge geht, die vor ihrem innern Richter nicht bestehen, wie viel weniger das Licht, das von Jesus auegeht, zu ertragen vermö­ gen— weil sie, mit einem Worte, fühlen, daß Jesus und sie nichts mit einander gemein haben können! Die

102 Moral der Welt ist bei beitem

nicht die Moral Chri­

stus. Wer an der erster» genug hat, wem* er auch nicht immer entschieden schlimm ist, der steht nun ein­ mal doch außer der Gemeinschaft mit Christus und sei­ nem Reiche — und er fallt nur so lange nicht, als ihn Umgebung und Umstände aufrecht erhalten. Wie wenig die Moral der Welt auf Menschen vermöge, so­ bald im Einzelnen oder im Ganzen irgend ein unge­ wöhnlicher Anstoß eintritt, das sagen tausend und tau­ send kebensgeschichten und das predigt laut genug die Geschichte der gegenwärtigen Tage. Wo die Noth ge­ bietet, die Leidenschaft reizt, der Vortheil ruft, da verstreben menschliche Grundsaze, wie Spreu im Winde. Das Herz des gewöhnlichen Menschen hat an sich selbst keinen genügenden Halt. Es muß von höhern Kräf­ ten getragen werden; es muß in höhern Dingen ei­ nen Ersa; finden können für die Opfer, die das Gese; des Rechten und Guten in ihm verlangt. Auf wes­ sen Gemüth keine höhern Kräfte mehr wirken, der gleicht dem dürren Baume, dem fein Sonnenstrahl mehr eine Blüthe, viel weniger eine Frucht zu entloken vermag. Und Andächtige! welches sind die höchsten Kräfte im Leben? Glaube, Liebe, Hoffnung. Die größte aber noch-unter diesen ist die Liebe. Sie kann, was sonst oft unmöglich scheint; sie ist des Gesezes Erfüllung. Wen aber können wir besser lieb haben als Christus?! Gott? Ja, Gott lieben, heißt Christus lieben, wenn man nämlich ihn als Gottes Eingebornen erkannt hat.

Darum ist, wie Paulus sagt: Christus lieb haben, bes­ ser als alles Wissen, und unser höchster Ruhm wäre

es, wenn wir von uns sagen dürften: „Die Liebe Christus dringet uns." Welch' eine Welt von neuen, herrlichen, unsterblichen Gedanken, Ideen, Empfindun­ gen, Neigungen, Bestrebungen muß in einem Herzen aufgehen, bas rein und groß und lebendig genug gewor-

103

bett ist, um sich zur rechten und bleibenden Liebe zu Christus fähig zu finden und wirklich dann in diesem neuen Elemente zu leben! Auch daS Fest dieser Tage, auch das Abendmahl des Herrn, das wir heute genossen haben, könnte uns dazu erweken und leiten. Es liegt die Schuld an uns, wenn wir unsere Feste zwekr und kraftlos machen. — Viele sind berufen, Wenige aber auserwählt. „Der Herr kennet die sein sind." Sie hören seine Stimme; sie folgen ihm; Niemand wird sie aus seiner, oder, was eins ist, aus seines Vaters Hand reißen — und er giebt ihnen ewiges Leben! Amen!

104

Tert: Brief an den LiluS it. 11 —14.

Allerseits werthe, zum Zweke der Fortsetzung einer wichtigen, hochheiligen Festfeier hier versammelte christliche Freunde uni) Zuhörer 1 $um erstenmale reden und zum erstenmale hören von

einer großen bedeutungsvollen, mit unserm Interesse innig verflochtenen Sache, wie sehr wird das die mensch­ liche Wahrnchmungskraft und Theilnahme einerseits, und die menschliche Miklheilunge - und Darstellungsgcbe an­ derseits weken und in 'Anspruch nehmen! Und, wie vergessen wir in solchen Fallen alles Andere, um nur ungestört das zu denken, zu empfinden, zu genießen, dem nachzuhangen, mit dem umzugehcn, was nun ein­ mal uns so tief ergriffen hat! Wie bald und wie aus­ fallend wird sich in unserm ganzen Denken und Wol­ len, Reden und Thun, Handeln und Leiden, mehr oder minder von dem Einflüsse eines solchen neu in unser Gemüth ausgenommenen Gegenstandes spürbar machen! Dagegen, wie matt und unkraftig ist nicht selten der Eindruk, den eine oft wahrgenommene Sache auf uns äußert! Jede Wiederholung derselben laßt uns ihn noch mehr zur Gewohnheit, zur unbemerkten, unbe­ achteten Gewohnheit werden — und die große Lehrerin Erfahrung zeigt, daß selbst die wichtigsten Dinge die­ sem Schiksal nicht ganz zu entgehen vermögen. Ihr versteht mich, Freunde! Ihr gebet mir zu, daß dieses Schiksal selbst die erhabene Religion, die himmclentstammte Tochter des Lichts, die Führerin zur Seligkeit des Jenseits — nicht verschone. Auch ihre Ansprachen an uns unterliegen, ach! nur zu oft und zu

105

sehr, diesem mangelhaften Zustande unsers izt noch unausgebildeten Wesens. Welche Mühe kostet es oft, Andere und sich selbst so für die Sache der Religion, für ihre erhabenen Heilizlhümer zu begeistern, von ihren Wahrheiten so zu überzeugen, für ihre Güter mit so lebendiger, war« Mer Freude und für ihre Verheissungen mit nie wankender Zuversicht zu erfüllen, daß man sich das Zeugniß nicht vorcnlhalten darf, ein unaustilgbares, anregen­ des, segenvolles Wort gegeben oder empfangen zu ha, den — ein Wort, das in seinem Wesen und in sei­ ner Wirkung sich als ein ursprünglich göttliches Wort rechtfertigt! Freilich, was sind wir, wenn wir uns unterfangen, zu reden von den Geheimnissen Gottes, wie Staub und Asche?! Muß nicht das Himmlische sein Himmli­ sches, das Ewige sein Ewiges, das Belebende sein Belebendes zum Theil verlieren, wenn der Mensch, den dec Erde Fessel noch drükt, es zu sich hcrabzieht und in bas Gewand des todten Buchstabens kleidet?! Dennoch müssen wir reden von dem, wovon einst allein und ewig die Rede sein wird, müssen es erfas­ sen und in uns vecgestaltcn, wenn nicht dasselbe und das, was in unsrer Natur demselben entspricht, ver­ gebens in uns gelegt, uns mitgetheilt sein soll. Es ist das Gcburtsfest des Stifters des Christen­ thums, dessen Feier uns heute zu ungewohnter Zeit und in ungewohnter Anzahl in Gottes Tempel rief und am Altare des Mahles der Versöhnung versammelte. Es ist also das Christenthum selbst, an dessen Entste­ hung wir uns heute dankvoll erinnern sollen. Unser vorgeschricbcner Text veranlaßt uns wirklich zu einer Betrachtung desselben als allgemeine Heilsanstalt Gottes durch Christus für die Menschen.

106



Zuerst sprechen wir von seinen Beziehungen und dann von seinen Absichten. Das Christenthum ist eine HeilSanstalt von Gott. Unsre Hilfe steht im Namen und in der Kraft des Herrn, der Himmel und Erbe geschaffen hat.— E« het da, meine Theuersten! die Uebersicht aller Religion und Religiosität des Menschen! Es ist das erhabene Vorrecht unsers Geschlechts, daß es, zwar erdegebvren und im Staube des Irdischen, am Hauche der Der» ganglichkeit und im Schatten des Todes dahin warn delnd, seine Dlike dennoch hinwenden kann nach oben, nach einem Unbekannten und doch Bekannten, Ewigen, Um veränderlichen, Unausdenkbaren und Unausgemeßbaren, nach einem höchsten Gut, dem Urbild alles andern Guten, dem Jnnbegriff aller Vollkommenheit, und daß es sich bewußt 'werden kann seiner innern Verwandtschaft mit diesem Gut, seines angestammten Rechtes an dasselbe, seiner Bürgerschaft im Reiche des Geistes, des Lichts, der Freiheit, des Lebens, der Seligkeit. So haben für den Menschen sein Dasein und Le­ ben, seine Sinne und Kräfte, sein ganzes Walten und Wesen auf dieser Welt, ja diese Welt selbst, eine höhere, ja die höchste Bedeutung. Er lernt aus dem Zeitlichen bas Ewige, aus dem Sichtbaren bas Un­ sichtbare, aus dem Endlichen das Unendliche ahnen, fühlen, denken, lernt in Allem zulezt ein Spiegelbild des unermeßlichen Unerschaffenen und eine Hinweisung auf seine eigne Annäherung zu demselben, Verähnli­ chung mit demselben erkennen, und in Beziehung auf Alles , was ist, besonders aber in Beziehung auf sich selbst, wird ihm immer klarer das große Wort eines Gottesfreundes, auf Gott ausgesprochen: „Von ihm, durch ihn und zu ihm sind alle Dinge." Aber wie Gott sich im Sichtbaren und Zeitlichen unserm Geiste kund thut, so nicht minder auch im Geistigen selbst.

107

Ist das Irdische, Leblose oder doch Dergänglichlebende ein Geschöpf seines Willens, wie vielmehr das Ueberirdische, innigselbstständig', und ewig - Lebendige! So rühret» auch die Geistesschöpfungen und die Geisteser­ neuerungen, die uns in der bisherigen Lebensgeschichte des Menschengeschlechtes begegnen, von Gott; denn „nur vom Geiste kommt Geist, und Göttliches nur von Gott her." Es kam von jeher jenes Wort, das bei Gott, oder vielmehr Gott selbst war, jene außer sich tretende, alles wirkende, alles regierende, alles belebende Gottes­ kraft, zu Menschen, als zu ihrem Eigenthum. Zn alle Welt ergieng jenes Wort; jedem Ohre klingend, keiner Zunge fremd. Gott hat keinem Volke sich unbezeugt gelassen. Wie viel Licht, wie viel Warme, wie viel daraus entsprießendes segenvolles Leben also schon auf Erden unter den Menschen ausgegossen, verbreitet wurde durch Menschen — es ging auS und führt zurük zum einen, großen Quell alles Lichts, aller Wärme, alles Segens und Lebens. Und wenn du das an dir selbst und deinen Umgebungen bemerkst, in deinen eignen Er­ fahrungen wahrnimmst, wie vielmehr denn in dem Leben des ganzen Drüdergeschlechtes! und wenn dieses gilt von den Umstanden und Anstalten, die den Einzelnen zu seinem Ziele zu leiten bestimmt und geeignet waren, wie vielmehr gilt es von den Veranstaltungen, die für alle Bedürfnisse des Geistes, für alle Noth und Anlie­ gen des Herzens, für die edelsten Triebe und Kräfte der gesammten Menschheit berechnet und passend erscheinen, von der Lehre und dem Werke, die eine Kraft sindjeden, der sie gläubig in sich aufnimmt, zu beseligen! Ja es ist erschienen im Christenthum die heilbringende Gnade Gottes! — Das Christenthum ist eine Heilsanstait Gottes durch Jesus Christus!

108

„Gott in Christus daS Heil der Welt." Sehet in diesem einfachen Gedanken die Summe des gan» zen Evangeliums, in dessen gläubige Aufnahme und lebens digthärige Vesthaltung eS die ganze Seligkeit des Men­ schen ftjt! O Zeitalter! ausgebildeter, aufgeklärter, kenntnißreicher und auch sittlicher wenigstens um etwas besser als jenes Zeitalter des Gottes- und Menschen­ sohnes — o christliches Zeitalter!. wie stehest du, un­ geachtet jener ruhmvollen Eigenschaften, da vor dem Gerichte der einfachen Wahrheit: Gott in Christus das Heil der Welt!? — Lebt denn wirklich diese Wahrheit in dir in licht­ voller Erkenntniß? oder hatte Christus auch izt noch Anlaß zu fragen: Wer sagen die Leute, daß ich sei? Und müßten wir ihm nicht antworten: Diese sagen so; jene sagen anders. In der That, meine Freunde! weggesehen über die große Menge derer, die im Christenthum geboren, in keinem Falle irgend etwas von demselben wissen wollen und demnach, nicht aus Schwache, sondern aus Vor­ bedacht und verkehrten Grundsäzen, demselben geradezu entgegen handeln — (die Vernunft spricht ihnen ihr nnabweisliches Urtheil!) — wie Wenige nehmen mit bescheidnem, unklügelndem, und dennoch nüchternem, besonnenem Sinn jene große Wahrheit, so wie sie gege­ ben wird, in sich auf! Siche auf der einen Seite ein ehrliHes Häufchen gut­ meinender Seelen! Sie wollen durch Christus nicht zum Vater. Sie sehen in ihm nicht denjenigen, der sich selbst den Weg zur Wahrheit und zum Leben, die Thüre zum Heil, den Führer zu Gott und den Vermittler unserer Seligkeit nannte, sondern sie bleiben stehen bei ihm, machen ihn, in seiner menschlichen und zeit­ lichen Beschränkung, selbst zu Gott, halten also auch jede zeitliche Form, in der er auftral und sein Werk

109 darstellte,

für gleich ewig und gleich göttlich, und über-

scheu so den große» Ganz Gottes, des erziehenden Vaters mit seinen Kindern, und vergessen alle übrigen weltumfassenden Offenbarungen der so mannigfaltig sich kundthuenden, im Wesen dennoch ewig einen und ewig gleichen göttlichen Majestät. Sie haben keinen Mene schensvhn wehr, der Menschen so meuschlichnahe stehen, sie seine Brüder nennen mußte, um ihnen die Möge lichkcit einleuchtend und die Wirklichkeit leichter ju machen, sich mit der vergessenen und verlornen Gott» heit wieder zu vereinigen. Aber siehe auf der andern Seite eine große Zahl verehrungkwerthcr Menschen, die durch Lage und Schiksal, die durch fremdes und eignes Verdienst zum Best; eines schönern Antheils edler Menschlichkeit gekommen sind, des Wahren viel erkennen, des Guten mancherlei thun — und dabei fremd sind der schönsten, erhaben­ sten, annahmswürdigsteu Offenbarung des Wahren und Guten durch Jesus Christus! Durch mannigfachen Irr­

thum errangen sie sich einige Stralcn der Wahrheit, durch die schwersten, wiederholtesten Kämpfe einige Blätter vom unvcrwelklichen Ehrenkranze der Tugend und in der Mcereeticfe deö Zweifels treffen sie endlich auf den Anker der Hoffnung, ohne des Desthaltens an ihm für immer

vrrsichecc zu sein. O ihr edeln, guten Seelen! wollt ihr nicht beider­ seits, mit Verachtung auf eure Vorurtheile, herbeitrer ten auf den einfachen, aber himmelbeleuchteten Weg des Evangeliums? um in Christus zu erkennen den Menschen­ sohn, Fleisch von euerm Fleisch, Gebein von euer» Gebeinen, aber in der Seele die Klarheit Gottes, im Herzen die Seligkeit des Himmels, nahe dem Vater, eins mit ihm in seinem Thun, bas in Menschengestalt cingegangcne ewige Gottcswort — Bruder zwar aller, die Kinder Gottes heißen auf Erden und dennoch der

110

eingebvrne, d. h. unvergleichbare, unerreichte Sohn des Vaters. Ja erkennen sollt ihr in Jesus Christus den Thatbeweis von der verborgenen innern Herrlichkeit der menschlichen Natur und von der Möglichkeit, daß durch innige Vereinigung mit Gott diese innere Menschen, würbe sich schon hier auf diesem Erdschauplaje sichtbar und spürbar entfalten könne, kernen sollet ihr, daß es nicht um eine Trennung des Menschlichen und Gött­ lichen zu thun sei, sondern um eine Vereinigung des, selben in und durch Christus, der zum Vater einst flehte: „Vater laß sie alle eins sein, wie wir eins sind; du in mir und ich in ihnen!" Lernen sollet ihr, daß nur das wahre -Weisheit sei, unter den Lichtern das hellste, unter den Sonnen die wärmste, unter den Wegen den kürzesten und sichersten, unter den Vorbil­ dern das höchste, unter den Mitteln das kräftigste zu wählen — und da müssen Proben entscheiden, oder ha­ ben schon längst entschieden; denn es handelt sich da nicht um glänzendes Wissen, scharfsinnige Erfindung, müssige Spekulation, sondern um das Bestimmungsziel der Menschheit und um die Zuversicht seiner Erreichung, also um einen wahren Gewinn für das Leben. Da stehen denn bald zwei Jahrtausende als Zeugen dafür ein, daß Kesseres nichts und Höheres nichts und nichts Fruchtbringenderes gegeben ist, als das Werk Gottes durch Jesus Christus. Auf den mühseligsten Wegen gelangten die Weisesten doch zulezt nur wieder zu dem, was er als bas Ziel und die Summe der menschlichen Bestimmung — nur viel einfacher, klarer, zuversichtlicher, beglaubigter und — vollständiger dar­ gestellt hat. So erfüllt sich am Ende das Sprichwort: Es ist in keinem Andern Heil; ist auch kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben rc. als allein in dem Namen Jesus Christus!

Wahrlich, zu ihm sollten wir mehr nahen, mit ihm

111



unsern Geist mehr beschäftigen, mit der Betrachtung seines uns so anschaulichen, so genießbaren Bildes das göttliche Leben in uns mehr anzufachen und zu nähren suchen! Unser Wort an ihn, tief aus dem Herzen sollte sein: „Herr! wohin sollen wir gehen? du hast Worte des ewigen Lebens!" „Das Christenthum ist eine Heilsanstalt von Gott, durch Christus, für die ganze Menschheit!" „Es ist erschienen die heilbringende Gnade Gottes allen Menschen." Welche Verschiedenheit in so vielen Beziehungen unter den Menschen, nach ihren Lagen, Verhältnissen, Umgebungen, Zeitaltern, Bildungsstufen! Keines ganz das Andere; jedes also zum Theil mit andern Bedürfnissen und Wünschen, und auf verschiedenem Wege zur Befriedigung und Stillung derselben. So mancherlei Gaben, so ungleiche Vorzüge, so verschiedenartige Gü» ter und auch so mancherlei ungleiche Fehler, Mängel und Gebrechen! Aber wie ein Licht Allen leuchtet, so stralt für Alle Eine Wahrheit; wie eine Sonne Alle wärmt, so sprühet für Aller Herzen der Eine Funke der Gotteskraft; wie Alle des gleichen Elementes der Luft theilhaftig sind, so ist für Alle Ein Reich Gortes aufgethan, wo der Geist in seinem Elemente waltet und wirkt und sich immer neu erfrischt und belebet; wie Alle durch im Ganzen einerlei Mittel ihr irdisch Leben erhalten und foclsezen, so giebt es auch für Alle Eine nährende, kräftigende, gedcihenbringende Speise des unsterblichen Geistes. Für Alle, All« ist das Chri­ stenthum, diese Universalanstalt der Menschheit! Was sind die verschiedensten Verhältnisse dieses Le­ bens — einst wann sie für uns dahin sind? Man geht durch Hoch und Niedrig, durch Roh und Rein zum gleichen Ziele. Da ist nicht arm und reich, nicht gelehrt und ungelehrt, nicht herrschend und bienend;

112 da ist bloß der Mensch,

wie er ist und —

wie er

sein soll. Und ohne Mühe und fleißigen Fortschritt gelangt Niemand dahin, sei er sonst, wer er wolle. Aber daß er nicht im Finstern wandle, Anstoß nehme, sich verirre und in's Verderben stürze, daß er das Ziel sehe, und den Weg, der zu ihm führt, und daß er, ihn zu wandeln, Muth und Kraft habe, das ist nicht gleichgiltig. Da bedarf er eines Beistandes, der ihm nur von oben werden kann. Und dieser Beistand in der Heilsanstalt des Christenthums gegeben, ist durchaus nicht auf Ansehn der Person gegründet, sott# dern auf das Bedürfniß der Menschheit, kann nicht durch anderweitiges Verdienst erworben werden, weil diese Heilsanffalt vor uns war, und in Beziehung auf Gott von Verdienst keine Rede sein kann. Es ist also eine freie Gnade Gottes, diese heilbringende Anstalt -und es ist diese Gnade allen Menschen erschienen. Was sollen wir hiezu sagen, meine Theuren! Was

soll uns diese Allgemeinheit des Christenthums lehren? Hochachtung, Ehrfurcht, Zutrauen, Glaubensfreudig# keit, Tugendmuth, Bruderliebe. Was ob Allen ist, ist erhaben; was für Alle ist, ist umfassend; was Allen nüzt, wohlmacht, hilft, das kann auch mir nüzen, wvhlmachen, helfen; was für Alle Lebenskraft und Geistesfülle enthalt, dem werd' auch ich solche entschövfen können; was Allen die gleichen Pflichten auferlegt, die gleichen Glükfeligkeitsbedingnisse vorschreibt, das nimmt auch mich für diese Pflichten und Bedingungen in An­ spruch — und endlich, was alle Menschen unter die gleiche Vaterobhut stellt, in die gleiche Reichsgenossenschäft bringt, das will mich, lehren, die ganze Mensch# heit als meine Brüderschaft in einem liebewarmen Her­ zen zu tragen, und allernächst denen, die mit und neben mir ihren Pfad wandeln, die Bruderhand freundlich zu reichen. O jene entehrenden Gesinnungen :—. wir wollen

113 sie Ijt nicht mit Namen nennen — o es halte sie fern von sich, wer mit Andern zu Einer Gemeine getauft und in Einer Gemeine des Liebesmahls des Herrn theilhaftig geworden ist; wer zum gleichen Vater betet und des gleichen Erlösers sich erfreuen darf! Und eben so ferne bleibe von uns jene Verzagtheit, der es an Kindersinn mangelt, sich die Güter des allgemeinen Got» tcereiches dankdarfroh zuzueignen. So lange du dich des Vorrechts rühmen kannst, ein Mensch zu sein, so lange gilt auch dir, wenn du anders von Christus Werk benachrichtigt bist, der Ausspruch Christus: Also har Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingebornen Sohn gab, auf daß Alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern ewiges Leben haben.

II. Aber laßt uns die Eottceanstalt nun auch betrachten nach ihren Zwekcn! Sie ist eine Anstalt der Erlösung, Heiligung, D e sc l i g u n g. 1. Das Christenthum ist eine Anstalt der Erlösung. „Jesus Christus," sagt unser Text, „hat sich für die Menschen dahin gegeben, auf daß er sie erlöscte von aller Untugend." — Erlösung vom Dö­ sen , der erste Schritt, die Vorbereitung, zur Pflan­ zung des Guten; das erste Werk des weisen Erziehers am verdorbenen Zögling, die erste Veranstaltung Got­ tes zur Wiederherstellung der gefallenen Menschheit. Wie sollten Gutes und Döscs mit einander bestehen können für die gleiche Sache, auf den gleichen Fall hin?! Wie sollte Döscs nicht wieder Döscs, rin saur II. 8

114 ler Baum nicht eine schlechte Frucht hervorbringen? Wird das Unkraut nicht wachsen und wuchern und dem nüzlichen Gewächse die Stelle und die Nahrung rauben?! Ich berufe mich auf die Geschichte der damaligen Menschheit! Sie predigt laut die Wahrheit des Aus­ spruches: „Ihr könnet nicht Gutes thun, die ihr des Vosen gewohnt seid!" Wahrlich: die Zeit, da der Sohn Gottes auftrat, war erfüllet, d. h. das Maaß des Bösen war voll. Der bcweinenswürdigste Aber­ glaube herrschte unter den Heiden, selbst unter den Völkern, die in andern Beziehungen Lehrer der Welk waren; und unter Israels Volk, das im Desize herr­ licher Gottesvffenbarungen stand, hatte ein äußerliches Gesezwcsen alle wahre Religiosität beinahe völlig aus­ gelöscht. Es unterwarf sich die Menschheit, von Ge­ schlecht zu Geschlecht verschlimmer!, den Zweken und Forderungen der Sinnlichkeit, und der Mensch war zum bloßen scharfsinnigen Thiere geworden. Die Verbindung mit dem Göttlichen, die dem Menschen ursprünglich so nahe liegt, hatte meisteniheils aufgehört. Da jeder nur für sich selbst da war, und auch dieses im gröb­ sten Sinne, so drohete der ganzen Gesellschaft ein un­ vermeidlicher furchtbarer Untergang. Aber Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selbst und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu., ES besiegte das Licht die Finsterniß und alle Werk« derselben. Es rief die Macht und Liebe Got­ tes neues geistiges Leben aus dem Todeeschlafe, und die Kranken erfreuten sich wieder der langentbehrlen Gesundheit. Eine neue Menschheit ging nun aus dem Schooße der alten, zerfallenen hervor, und es wan­ delten an der Hand des Sohnes, des Eingebornen, eine Menge der abtrünnigen Kinder wieder dem Va­ ter zu.

115 Wohl betrifft uns dies nicht unmittelbar, meine Freunde! Aber sollen wir nicht auch die Ursache verdankcn, da wir die Wirkung genießen? Wo waren wir izt, wenn jene heilbringende Gnade nicht einst erschienen wäre? Wir lägen lief in Abgründen der Finsterniß und des Verderbens. Zudem bedarf Jedes persönlich einer solchen Er­ lösung; denn in jedem einzelnen Menschen wiederholt sich im Kleinen der Gang der ganzen Menschheit — erst Unschuld, dann Kenntniß des Guten und Dösen, dann Fall, Sünde, Strafe, und hierauf, wenn nicht Hemmungen dazwischen treten, eine Gewohnheit, eine Uebung zu sündigen — Laster und Verderben. Ja, Theure! erinnern wir uns hier, als vor Gott und am heiligen Feiertage, nur einmal an unsre, jedem von uns bekannten, Hauptfehler und Licblingssündcn! Welch' einen Abgrund von Unreinigkeit, Niedrigkeit, Schwäche und Untugend muß unser Herz uns noch erbliken las­ sen! Wie. sind wir noch Sklaven, noch in Banden dessen, was wir langst als schmählich, unwürdig, als dem Gewissen der Gortesoffenbarung und unserm Heile zuwiderlaufend erkannt haben — und womit wir uns fürchten müssen, in baS ernste Jenseits hinübcrzutrcten. O wer wird uns erlösen von diesen tödtlichen Fesseln! so seufzen, so schmachten wir. Aber uns auch schallt die Friedensbotschaft entgegen: Christus Jesus hat sich auch für euch hingegeben, daß er euch crlösete von aller Untugend. Eo euch nun er, der Sohn, frei macht, so seid ihr recht frei! — Ja lassen wir uns erlösen durch ihn vou aller Unwissenheit und Lichtlosigkeit, von allem Trug und Wahn in Absicht auf das Eine, Große, baß so un­ aussprechlich noth thut! — erlösen von ticfgcwurzelter Verdorbenheit, Jrdischgesinntheit, Ungötllichkcit, von aller Sünde und deren traurigen cntsezlichen Folgen!

8*

116

und laßt aas bei ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, suchen! Wer sucht, der wird finden. —

2. Das Christenthum ist eine Anstalt der Heiligung. Wer auf den großen Schauplaz der ganzen Christen­

heit, auf den kleinern einer christlichen Gemeine hin­ aus«, oder in den kleinsten des eignen Herzens hin» einblikt und sich dann den Sinn unsrer Textes- und so vieler ähnlichen Schriftwerke recht klar vorhalt, möchte der nicht irre werden entweder am Christenthum oder an der Menschheit in sich selbst und Andern?! Laßt, Theure!

uns einfältig einmal folgendes vor­

halten: Vor bald zwei Jahrtausenden ward eine Gottesanstalt zum Heile der Menschen offenbar Ein gdltlichmcnschlicher Vermittler opferte sich selbst dem Zwefe auf, die Menschen von jeder Ungerechtigkeit zu befreien und sie dahin zu bringen, daß sie alles Ungdttlichc und Verderbliche vcrläugnen und schon in der Gegenwart stets

nach den Forderungen der hohen Zukunft leben. So wollte er sich ein edles Volk weihen, das voll Eifere zu guten Werken wäre.----------------

Ich will nicht strafpredigen, meine Werthen! Ich will nur bitten, und das heutige Fest berechtigt mich zu dieser Bitte: Entscheidet, urtheilet, erkläret! Ist denn der Christenname und das äußere Zeremoniell der kirch­ lichen Einrichtungen das Wesen der so eben mit evan­ gelischen Worten bezeichneten Sache? — und zweitens: Wird nicht oft der bloße Name und das bloße Zeremo­ niell mit einer, was weiß ich? unbegreiflichen Verblindung oder noch unbegreiflichern Dreistigkeit, an die Stelle der Sache selbst geschoben? Entscheidet, urtheilet, erkläret! Sind wir diejenigen, die Ungöttlichkeit und Irdischgesinntbeit verlaugncn,

als Bürger eines höhern

Gotreestaaieö leben, als ein edles Volk voll Eifers zu



guten Thaten find?

117



Ich sage kein Wort jur Beantwort

tung dieser Frage. Was ist Erlösung

ohne Heiligung?

ohne Fortgang! Jesus selbst sagt:

Ein Anfang

Der kaum Vertriebne

böse Geist, wenn er, bei seinen erneuerten Versuchen zur Wiedcreinkchr / die vorige Stelle leer findet, nimmt sie wirklich wieder, in Begleit von noch mehrerem Bö­ sen, in Besi;, und so wird der lezke Betrug ärger

als der erste. Wer nicht vorwärts kommt, geht rükwärts.

Wer

nicht Gutes thut, thut Böses. Wer nicht für mich ist, spricht Christus, der ist wider mich, und wer nicht mit mir sammelt, dec zerstreuet! — Wenn der Glaube nicht Werke hat, so ist er todt. Nur die mit dem Bekenntnisse das Thun verbinden, die werdendes

himmlischen Vaters Reich ererben. — Sollen wir euch das ganze neue Testament vorsagen, Theure? um euch unwidersprechlich zu beweisen, daß das Christen­ thum eine Anstalt der Heiligung, nicht bloß der Erlö­ sung sein will. Waren wir noch im Stande, etwas einzusehen, wenn uns nicht diese Wahrheit hell wie Mittageglanz einleuchtcle? Wenden wir unsre Dlike, wohin wir wol­ len — überall Bestätigung! Das Ziel des Christen­

thums: Bcscligung — und wodurch denn? Durch Ver­ ähnlichung mit Gott, dem Alleinseligen. Und diese Verähnlichung, was ist sic? Ein Bcfserwerdcn, eine Vervollkommnung des innern, geistigen Menschen, eine immer größere Annäherung zum wahren, vollständigen Gutsein; denn Gott ist der Alleingute, der Alleinvollkommne und eben darum der Alleinsclige. — Der Führer zu diesem Ziele? Jesus Christus — der Ab­ glanz dieser Güte, dieser Vollkommenheit, dieser Se­ ligkeit — Ein Vorbild uns lassend, daß wir eintre­ ten sollen in diese seine Fußstapfen. Seine Lehre: eine

118

Lehre, die unmittelbar auf's Leben hinzielt und aus nichts anderm besteht, als aus Wahrheiten, Vorschrif­ ten und Hilfsmitteln, die alle nur jenen Einen Zwek der Heiligung im Auge haben. „Vater!" flehte er, „Vater! heilige sie in deiner Wahrheit! dein Wort ist die Wahrheit! —" O daß wir mit dem heiligen Ernste, mit dem Chri­ stus sagte: „Ich muß wirken, so lang es Tag ist" — auch unser Werk, das der Heiligung, wahrnähmen und nur das für wahren Gewinn, für wesentlich hielten, was wir in dieser Beziehung etwa erlangen konnten! O könnt' es uns mit der Mark und Gebein durchdrin­ genden Stimme der Entscheidung in die Seele hinein­ gerufen werden: Unter allem Nöthigen das Nöthigste ist, daß wir uns einmal der erbärmlichen Worttäusche­ rei entziehen und in's Wesen der Sache eintreten, das Christenthum zu nehmen, wofür es da ist, nämlich für eine Anstalt der Heiligung, ohne welche Niemand den Herrn sehen wird! 3. Das Christenthum ist eine Anstalt der Beseligung. Für unsern sinnlichen Menschen kann es nur einzelne angenehme Empfindungen, aber keine Seligkeit, kein wesentliches, dauerndes, makelloses Glük geben; denn er ist dem Geseze des Wechsels unter­ worfen und wird einst der Vergänglichkeit Raub. „Die Welt vergeht mit ihrer Lust." In unserm geistigen Theile liegt die Empfänglichkeit für wahres Glük, für ein Glük, das nicht nur in den Außendingen liegt, sondern seine Wurzel in uns selbst, und mit den Din­ gen dieser Welt nur geringe Gemeinschaft hat. „Vom Geiste sollen wir ewiges Leben, d. h. ewiges Heil arnten." Darum ist die Anstalt, deren Absicht es ist, uns von Allem, was diesem Ziel uns entfremdet, zu be­ freien und uns dagegen zu Allem, was uns ihm näher

119 bringt,

hinzuleiten,

oder ist die Anstalt der Erlösung

und Heiligung zugleich auch eine Anstalt zur Beseligung. Durch die Umgestaltung, die das Christenthum in uns bewirken will, sollen wir Gott ähnlicher, als ihm ähn­ liche Wesen mit ihm vereinigt, als mit ihm Vereinigte auch Theilhaber seiner Seligkeit werden! O Höhe des Christenthums! wie werben wir dich einst preisen, wenn

erschienen sein wird, was wir sein werden; wenn die Dcke von unsern Augen fällt und Lichtglaoz und Selig­ keitsgefühl der ganz enthüllten Veranstaltungen deü Erbarmers uns überströmt und in höherer Sprache des geistigen Gottesreiches unser entfesselte Geist sein eignes Sein, sein hohes Ziel, sein unaussprechliches Glük und das beseligende Anschauen des'hier Unanschaubaren sich nennen und Andern lobpreisen wird. Nichts Geringe­ res, Freunde! als das will das Christenthum uns an­ bieten, und zusichern, wenn wir in seine beiden ersten Absichten einzutreten,uns bewogen fühlen. Es entspricht auch Diese Seite des Christenthums ganz den tiefsten An­ lagen., Kräften und Bedürfnissen unserer Natur. Es

will unser Geist Leben und zwar im Reiche des Lichts und des Rechts, und nur inwiefern er diesem innern Drange, dieser Himmelsspur folgt," fühlt er sich rein und voll beglükt — und eben Glük ist's, wornach sein unauslöschlicher Durst unermüdet ringt. Daß er aber,

was er sucht, aus sich selbst nicht findet, zeigt die Er­ fahrung; daß er es im Christenthume findet, zeigt auch die Erfahrung. Auf dieser Bahn wandelt sich's sicher zum Himmel— ob durch Licht, ob durch Nacht, von Außen, das ändert an der Sache nichts. Immerhin kann der Christ auch durch die dunkelsten Stürme mit aufgerichtetem Haupte gehn, weil nach der Sturmesfinsterniß ihm der Wonnetag gewiß und nur desto schöner leuchten wird. Im Herzen selbst trägt er bas Licht, bas ihm seinen Pfad erhellet. Es auszulöschen, dazu reicht

120 die Wuth des stärksten Ungewitters nicht hin.

Weit

überwindet er in der Kraft dessen, der unsichtbar sein Helfer ist. So verschönert, so heiligt die Erwartung, die beseligende Hoffnung der majestätischen.Offenbarung des großen Gottes und des Heilandes Jesus Christus, die Tage seiner Wallfahrt. Kurz oder lang — immer sind sie ihm und Andern ein Beweis, daß das Evangelium eine Gotteskraft ist, zu beseligen alle, die daran glauben! O daß wir glaubten! Herr! mehr' uns den Glauben! O daß Lebenskraft, wie dort bei der Schöpfung, Gei­ steefeuer, wie dort am Pfingstfest, uns durchdränge,

uns aufzuraffcn und nicht müde zu werden, ob wir doch das herrliche Kleinod dieser Bcscligung auch noch er­ langen möchten! Herr! wirke du Wollen und Vollbrin­ gen in uns! Ach, daß dies Fest des Andenkens der Geburt des Stifters des Christenthums auch ein Fest der Geburt eines echten, lebendigen christlichen Sinnes und Wesens in uns sein möchte! Freunde! Wir haben's so nahe

und noch leuchtet uns der Tag des Heils. O daß wir bedächten zu dieser unsrer Zeit, was zu unserm Frieden dient! Laßt uns nicht zögern, sondern unser Herz öffnen dem Lichte, der Gnade, der Kraft, dem Geiste, der Seligkeit des, der auch für uns einst auf Erden erschien, um uns den Himmel zu bringen! Amen!

121

Perikope: Math. XXVH, 24 — 31.

Andächtige! ^as Evangelium ist zwar nicht für Gelehrte,

aber

doch für Denkende geschrieben und es heißt auch dies­ falls: „Wer da hat, dem wird gegeben." Wer es denkend zu betrachten vermag, der wird es in seiner Ganzheit auffassen und, waS Gott zufammengefügt hat, nicht trennen wollen. Ihm ist dessen Geschichte nicht minder heilig als dessen Lehre — ein Leib zwar nur für den Geist der leztern, aber also doch ein Tempel eines heiligen Geistes. — Dem Kinde er­ zählt man bloß die evangelische Geschichte und Ge­ schichten malte man in die christlichen Kirchengebäude hinein, ursprünglich um derer willen, die an Erkennt­ niß Kinder waren. Nur zu gerne verfällt dagegen der Gebildetere in den Wahn, als bedürfe er einzig noch der Ideen und der, diese enthaltenden Lehrsäze.— Christus aber knüpfte Worte und Werke zusammen und wollte nicht nur als der redende, sondern auch alS der handelnde und duldende, und als der durch das außer­ ordentlichste Echiksal vollendete Offenbarer EotteS er­ scheinen. O freuen wir siunliche, an Thatanschauung gewiesene Menschen unS eines solchen OffenbarerS und übersehen wir nicht, daß es auch in dieser Beziehung heißen kann: Christus hat für uns gewirkt, für uns gelitten! Die gröste Geschichte der Bibel ist die Leidensge­ schichte des Herrn. Man hat sie mit Recht «ine Welt im Kleinen genannt. Während der träge Gewohnheitsmensch gedankenlos an ihr vorübergeht, weil sie ihm von Kindheit an zu bekannt geworden, schließt

122 sich dem tiefern, gemüthlichen und lebendigen Men­ schen, dem cs ein Wohlleben des Geistes ist, Gott und den Menschen kennen zu lernen und der, mit Jo­ hannes, gern an Jesus Seite ruhet, hier eine immer größere Fülle von Betrachtungen auf. Denn bei sol­ chen Erscheinungen ist's, wo, wie Symeon sagte, der Herzen Gedanken an's Licht kommen, wo die Menschen­ natur, außer die Schranken des gewöhnlichen Lebens tretend, ganz das entfaltet, was in ihr innerlich nach und nach geworden ist, wo das Reich des Lichts und das der Finsterniß gegen einander in Kampf ge­ rathen , und ein Verhimmel und eine Vorhölle auf Erden sich aufthun. Wo aber konnte, mußte dies sich anschaulicher, ent­ schiedener zeigen als bei Christus so einziger Persön­ lichkeit und so einzigem Schiksal? — 3a, er mußte sein, zum Fall und zur Aufrichtung Vieler; er mußte sein ein Zeichen, dem widersprochen wurde. Todt konnte Niemand bleiben, wer mit ihm in Berührung kam. Es gereichte entweder zur Beseligung oder zur Verdammniß. Er brauchte eben nicht zu richten; die Beziehung, in die der Mensch zu ihm trat, war auch zugleich das Gericht über den Menschen. Immer, aber freilich am entscheidendsten in den Momenten, von de­ nen unser Textkapitcl spricht, fand sein Wort Anwen­ dung: ,,Wer nicht für mich ist, der ist wider mich." Mit diesen Betrachtungen laßt uns denn unsrer vor­ gelesenen Erzählung naher treten! Sie bietet uns

Das Gemälde der Verurtheilung Jesus

dar. Es sind drei verschiedene Menschenklassen, die uns hier lehrreich entgegenkommen, die uns drei ver­ schiedene Zustande der im Argen befangenen Menschen­ natur darstellen. Indem wir so annehmen, waS unser Text uns giebt, fürchten wir feineswegs den geiniß-

123

krauchten Vorwurf, die Leidensgeschichte deS Herrn rum bloßen Moralisiren gemißbraucht zu haben. Der Mensch lebt nicht allein vom Wind allgemeiner Säze — und zudem werden wir nicht ermangeln, zum Schluffe noch unsre andächtigen Blike dem leidenden Erlöser selbst jujuwenden.

„Die Kriegeknechte des Machthabers nahmen Jesus (nach der Derurtheilung) in Empfang, in bas Prälo, rium hinein und brachten über ihm zusammen die ganze Schaar u. s. w." Durch den Akt der förmlichen Derurtheilung, auf welche dieemal, um des bevorstehenden Festes willen, die Vollziehung sogleich folgen mußte, kam Jesus in die Hände der damit beauftragten römischen Kriegs, knechte. Diese Menschen vermochten wahrscheinlich Je, sue innere Größe kaum zu ahnen, und hätten höchstens durch schrekende, sinnliche Machrzcichen zur Ehrfurcht gegen ihn gebracht werden können. Verlassen, gefan, gen, überklagt und schon vorläufig verurtheilt, wie er war, zudem so schweigend und gleichsam sich selbst aufgebend, kam er ihnen mit seinen vorgeblichen An, sprächen und in diesem grellen Gegensaze gegen daS, war sie vielleicht sonst von ihm gehört haben mochten, nur lächerlich, ja verächtlich vor. Ja die wirk, liche Derurtheilung auch vor dem hohen römi, schen Gerichtshöfe ließ ihn in ihre« Augen vollends zum Nichtegeltenden herabsinken. Sie standen deshalb nicht im mindesten an, ihn, den schwärmerischen und nun so unmachtigen Judenkönig, zum Fegopfer ihres nationalstolzen Muthwillens zu machen und sich eine Weile recht herzlich an ihm zu erlustigen, wobei es, nach dem eigentlichen Bedürfnisse roher Naturen, an

124

Bosheit und Grausamkeit nicht fehlen durfte.

Wir

gehen über die widrige Scene hinweg. über nicht sogleich hinweg über den Eindruk, den diese Gestaltung der Menschennatur auf uns macht und wozu uns die Geschichten der Kriege und Revolution nen, so wie die Geschichten einzelner Menschen unzäh­ lige Seitenstuke liefern! — O Schmach Oer Mensch­ heit ! Schattenseite Des Götterbildes, das in ihr sein soll! Zeugniß der Erniedrigung, Entartung, in Die sie versinken kann, wenn sie nur Dem Sinnenwesen zugewandt bleibt,, wenn Der Geist und das Gemüth nie zu höherm Selbstbewußtsein herangebildet worden sind, nie sich selbst und die Mitmenschen im Lichte Gottes anschauen gelernt haben! Da ist rohe Selbst­ sucht, unter Deren Fußtritt jede freiw lllige Rüksicht auf Andere, jedes reine Wohlwollen Hergehen muß. Der Mensch wird das listigste und gewaltigste der Thiere, von denen er sich dann nur noch dadurch vor­ nämlich auszeichnet, daß er gegen seine eigne Gattung wüthet. — O, eutschlagen wir uns dieses Aubliks nicht etwa mit dem Gedanken, daß wir ferne von einem solchen Zustande seien! In unsern Umgebungen sind noch genug solche Menschen, die nur Die Schranke Des Gesezes bändigt und die bei ungewöhnlichen Ver­ anlassungen eben dasselbe darbieten würden. O Mensch­ heit! bessere dich erst in diesen deinen Gliedern — unD Dann magst du in dem Gepränge deiner Erfindungen und Künste kommen und dich deines FortschreitenS rühmen!

Unsere Erzählung laßt uns zweitens Die Gegner Jesus und den von ihnen geleiteten, überredeten und aufgehezten Volkshaufen wahrnehmen. Lezterer wohl kaum aus jenen Schaaren, Die oft mit innigem Wohl­ gefallen an Jesus Lehrvortragen hingen und seine götts

125

lichen Thaten lobpreisend anstaunten, sondern meist nur

Pöbelvolk aus Jerusalem, eine den Priestern ergebene Rotte — gehört in die eben bezeichnete Menschenklasse. Sie gab nur die Verstarkungelaute zu den Priesterstimmen. Die Anklagen gegen Jesus, die auf den Statt­ halter trefflich berechneten Beweggründe für dessen Verurthcilung, die ihn immermehr schrekenden und entwaff­ nenden Aeußerungen und Zumukhungen, kur; der ganze Nachdcuk in dem Gange dieses allermerkwürdigsten Pro­ zesses, ging durchaus von den Obcrpriestern und Ael» testen der Nation, vom hohen Sanhcdcin und Kirchen­ rath aus. Allee war das Machwerk der durch Jesus Person und Wirken langst erbitterten, in ihrem Anse­ hen und Einflüsse gefährdeten Priester- und Pharisäer­ schaft, mit denen sich auch, wo es den gefürchteten Gerechten galt, die sonst ganz anders denkenden Sad­ duzäer vereinigt hatten. — Und was zeigt sich denn hier für eine Erscheinung? Dieselbe Selbstsucht un­ göttlicher Menschen, zwar etwas weniger roh, aber nicht weniger leidenschaftlich, beharrlich und abscheulich. Wae an Standcebildung und allenfalls auch hie und da sogar an Religiosität — denn wir dürfen uns nicht alle, die im Rathe wider Jesus waren, als bloße Heuchler denken — Gutes hinzukommt, das wird durch falschen Eifer für Herkömmlichkeit und Rechtgläubigkeit, vornämlich aber durch die Ueberzeugung von der Noth­ wendigkeit der Behauptung persönlicher und Standes­ rechte wieder aufgehoben. Der Grad ihrer Schlechtigkeit wird außerordentlich— gegenüber jenen außeror­ dentlichen Umständen. Die sogenannte eiserne Noth­ wendigkeit überwindet alle Schranken der bloßen Konvenienj und gebiert endlich auf ganz folgerichtigem Wege, entweder Werke der Hölle oder Thaten des Himmels. O verdammen wir sie nicht, jene Priester! so vcrdammnißwürdig sie auch vor dem Blike der gött-

126 lichen Heiligkeit erscheinen mögen. Es bedurfte nur der Wahrnehmung, daß durch Jesus ihr Ansehn sinke, baß alle Welt ihm nachlaufe — und der Haß gegen ihn war schon im Keime da; cs bedurfte nur des Hinzutrittee von elwas orthodoxem Eifer für das Eesez und die Tradition — und der Haß erhielt einen bessern Anstrich; es bedurfte nur eines mehrmahligen öffentlichen Defchäinliverdenö von Jesus — und der Haß gebar eine förmliche Verelnigung, einen Plan, gegen ihn; es bedurfte nur cuies Bekanntwcrdcns die­ ses Planes, und die Ehre und die Sicherheit erlaubte keinen Rukfchritt; es bedurfte nur jener auffallenden Wendung in dem lezten Schiksale Jesus, da sich sein Ansehn plözlich so glanzend hob und dann unerwartet genug ein Judas ihnen den Gehaßten in die Hande spielte — und der Anschlag mußte schnell zur Reife geführt werden. — Und was sag' ich von den Er­ eignissen der lezten Nacht und des lezten Vormittags deS Lebens Jesus? Wie schwer ward ihnen seine Vecdammuug!— wieviel schwerer noch der Kampf mit Pila­ tus! Je weiter die Sache gedieh, je mehr trat nur das Entweder — Oder hervor — Alles zu gewinnen, — Alles zu verlieren. Da war eine Stadt, die eben jezt noch bei Tausenden halb - und ganztreuer Anhän­ ger des Nazareners beherbergte — und da gegenüber stand ein übermüthiger Romer, dem man ohnehin ohne die äußerste Noth nicht nachgeben mochte, dem man durchaus in einer National- und persönlichen Angele­ genheit von solchem Belange, die Spize bieten mußte. Und in diesen glühenden Momenten, da jedes Priesters Herz heißer klopfte, und da selbst Manche der Volks­ obersten, die, laut Johannes Bericht, noch in den lezten Tagen an ihn glaubten, doch nicht zu sprechen wagten, sondern sich mit dumpfem Sinne dem unab­ wendbaren Schiksale unterzogen — halle man da wohl

127 erwarten dürfen, daß der Sturm der Leidenschaft plöz-

lief) stille werden und heitre Vernunft in die Stelle der Blindheit und Bosheit treten werde? — Guter Gott! wer wollte freilich Diese Priester zu rechtfertigen Lust haben ? aber wer muß denn auch nicht einsehen, daß dec Mensch, auf einer gewissen Stufe seines gei­ stigen Seins, wo er grokenlheils im Ungöttlichcn, im Argen liegt, unter gewissen Umstanden, bei gewissen außerordentlichen Ereignissen gerade so handeln werde, wie diese Priester handelten?! Freilich: O Jammer!

o Schmach der Menschheit! so dahin gegeben zu sein in verkehrten Sinn, zu thun, was nicht taugt! so verkauft zu sein unter die Sünde! so fern zu sein von dem siegenden Gefühle reiner Wahrheit, Unschuld und göttlicher Kraft in dem Menschensohn, dem Einzigen und Unvergleichbaren! Ja zehnfacher Jammer, daß ge­ rade die Bildung, die den Menschen vermenschlichen sollte, ihn, wenn sie nicht vom göttlichen Geiste durch­ haucht und geheiligt wird, noch zäher, fester, beharr­ licher macht in seiner Selbstsucht und Bosheit! So wird die bloße Larve selbst des Edelsten, was hier dec Mensch haben kann, das Entsezlichste und Furcht­ barste. So wirst du, Religion der Gottheit, „ein Schwert in des Rasenden Hand, des Bluts und des Würgers Priesterin! Tochter des ersten Empörers! nicht Religion mehr! Schwarz wie die ewige Nacht! furcht­ bar wie das Blut der Erwürgten, die du schlachtest und über Altaren auf Todten dahergehcst! Rauberinn jenes Donners, den sich des Richtenden Arm nur vor­ behalten; dein Fuß steht auf der Hölle; dein Haupt droht gegen den Himmel empor, wenn dich die Seele des Sünders ungcstalt macht, wenn ein Menschenfeind dich zur Abscheulichen umschafft!" —

128

Gehen wir noch zu Pilatvs über! Wir erholen vns, wenigstens für den Augenblik, an dem Bilde des Römers. Hoch sieht er auf den fanatischen Haß und tollen Ingnmm der judaischen Priester herab. In ihm erscheint der Sieg einer umfassender» Bildung, die das einseitige Treiben beschrankterer Naturen durch­ schaut und ihm mit gebührender Verachtung entgegentritt. Ein Gedanke en den stbrrigen und religionehochmüthigen Karakler des ihm untergebenen Volkes; eia Blik auf die, ihre Absicht sogleich verrathende, ungestüme Führung dieses Prozesses; einige treffende Fragen an Jesus und eine unbefangene Betrachtung seiner Person — und sogleich ist das wahrste Urtheil fertig: „Ich sind« keine Tvdeeschuld an ihm." Wie sinnreich und menschenkevnerisch sind seine Versuche, die Sache/ da doch die Priester nicht so leicht nach­ geben «ollen, auf eine, für beide Theile erträgliche Weise abzumachen! Wie zart ist sein Horchen auf die Ansprache seiner Gattinn! Wie empsindungereich zeigt er sich bei einigen dec bedeutsamsten Aeußerungen des Angeklagten! wie edel, mitleidsvoll bei dem Andlik deü Mißhandelten! und wie beharrlich in seiner gerechten Ansicht auch noch durch sein typisches Händewaschen! D, loben wir uns hier zur Entschädigung für den Eindruk jener Knechtes- und jener Priesternarur, diese reinere, schönere Menschlichkeit!— Ach nein! nein, meine Freunde! ferne, ferne vom Loben! Klagen, bitterer klagen als je, sollten wir hier über die Menschheit. — Wenn sie es nicht weiter bringen kann, als zu dieser Scheingüte und Scheingröße, bis zu diesem Zustande, über den der Geist Gottes seufzen muß r „Ach daß du kalt oder warm wärest!" — wenn ihr ganzer Fortschritt darin bestehen soll, Vas Gute zu sehen und sich doch durch das Böse überwältigen zu lassen; ihre ganze Kunst, der

129 — Wahrheit und Eerechtigkelt nur mit jener List und Verschmizlhcit, die sonst das Werkzeug des Betrügers ist, zu Hilfe zu kommen; ihr ganzer Triumph, am Ende doch für sich selbst gesorgt und sich nicht zum Opfer einer fremden Sache hingegebcn zu haben — und ihr ganzer Trost, sich mit guten Erundsäzen ohne Erfolg, höher» Ansichten ohne Frucht, und schönen Empfindung gen ohne Leben, zu sättigen und zu beruhigen — o dann wehe dir, du aufgeklärte, gebildete, Weltbürger« lich und philosophisch zugestuzte, höhere Menschheit, bei der der leztc Betrug ärger ist als der erste und an der weder Gott noch Satan eine Freude haben kann! Aergert euch nicht, m. Th. I dieser meiner Rede! Der römische Prooinzverwalter Pontius Pilatus ist das Abbild unzähliger Menschen aller Zeiten und auch der unsrigen. Diese Halbheit und Wankelmuth, diese Un# entschlossenheit, wo schneller Entscheid, dies Untcrhandein, wo Machtspruch, dieser fade Spott, wo schnei­ dender Ernst, diese Schliche, wo gerader Gang, und diese furchtsame Rüksicht auf allfälligen Pcrsonalnachtheil, wo ein herzhaftes, edelmüthiges Opfer für Wahr­ heit und Recht erfordert wurde — wie unglaublich allgemein ist es unter den Menschen! Man ist auch jezt gutdenkend, wahrheitehrcnd, rechtliebend, wo Nüth nicht an Mann kommt— und man giebt Christus und die Grundsäzze seines Reiches preis, wo äußerer Vortheil wirkt oder Nachtheil droht, und wo der Sturm der Leidenschaft überhand nimmt. — Woher kommt dies? Mögen wir noch fragen?! — Es kommt, wie bei Pilatus, daher, daß das Gute in unserm Gemüth, als bloße magere Frucht der Erziehung, Angewöhnung einer gewissen feinern Wcltbildung in uns liegt; neben dem Bösen, mit ihm, wcnn's wohl will, zu gleichen Theilen ausgewachsen; gleichsam in Bruchstüken herum/ gestreut, anstatt daß unser Inneres dem Urquell alles II. 9

130 Schönen, Wahren und Guten genähert, aus ihm ge­ reinigt, durchläutert und neugeboren, ja beständig aus ihm belebt wäre. So kann daö köstliche Ding, näm­ lich daß das Herz vest werde, bei uns nicht eintreffen und von dem Gebäude unsrer Tugend heißt es: Da die

Stürme kamen und die Wafferwogen heranbrausten, da fiel cs und thät einen großen Fall.

Wenden wir schließlich unsern Blik noch auf die große Sache selbst, und auf den, den sie allernächst be­ traf, Jesus Christus! Allervörderst bemerken wir den Erfolg, den die ver­ schiedenen Aeußerungen und Handlungen der in dieser Geschichte auftretenden Personen für ihn hatten. So wenig sie sonst gemüthlich zusammenstimmtcn, sich nach einander einrichteten, gemeinschaftliche Sache machten, „so hatten sie sich doch hier versammelt über Gottes hei­

ligen Sohn, alles das zu thun, was Gottes Rath und Willen zuvor beschlossen hatte." Judas Habsucht, der Priester Haß, der Knechte Pöbelsinn, Herodes Abgeschmaktheit, Pilatus Welcklugheit und des Volkes Blind­ heit, trafen doch hier in die eine große Wirkung des unabwendbaren Leidens und Todes Jesus zusammen. So zerfällt denn das menschliche Sein in dieser Welt, so vielköpfig es auch scheinen mag, doch immer nur in zwei — in ein Göttliches und in ein Un­ göttliches. Mag auch das Leztere bisweilen sich in einen Engel des Lichtes vergestalten; mögen auf seinem weiten Gebiete noch so viele Unterschiede statt finden, ein Pilatus vor einem Kaiphas noch so Vortheilhaft sich auszuzeichnen scheinen — wenn's zum großen Ent­ scheid kommt, so bleibt nichts als der eine, unversöhn­ bare Gegensaz von Licht und Finsterniß — und die Wahrheit des Wortes des Herrn: „Ein guter Baum

131 sann nicht arge und ein tau‘er Baum nicht gute Früchte bringen. Nur wer aus Gott geboren ist, der thut nicht Sünde." — Zweitens fallt uns der schrekliche Volkeruf aufs Herz: „Sein Blut sei ob uns und ob unsern Kindern!" Nicht als ob wir, nach der Weise älterer Zeiten, das bald nachher erfolgte traurige Schiksal der jüdischen Nation und ihre von jenem Zeitpunkte sich herschreibende, tiefe Herabwürdigung unter den Welt­ völkern als eine rächende Erfüllung jenes Wortes anses hen möchten; denn Gott vergiebt täglich Sünde und Jesus bat: „Vater! vergieb ihnen! Sie wissen nicht, was sie thun." Allein insofern ein Wort dieser Art, der Ausdruk der Gesinnung eines entarteten Volkes ist, wie denn auch der Juden späteres Betragen gegen das aufkeimende Christenthum, diese Entartung, diesen Abfall von Gott schreklich genug beurkundete, insofern erscheint ein solcher Ausruf als eine schauererregende Pro­ phezeiung eines Volkes über sich selbst. Völker haben, wie einzelne Menschen, eine Zeit des Heils und der Gnade, günstige Momente, deren weise Benuzung sie zum wahren Glüke führen kann. Jesus weinte über Jerusalem: „O daß du dieser deiner Zeit wüßtest, was zu deinem Frieden dienet!" Aber sie achteten nicht des großen Wendepunktes, auf dem sie standen und so blieb Jesus, als er seinen Todesgang hingieng, nichts zu sagen übrig, als: „Weinet über euch und über euere Kinder!" Drittens achten wir auch noch auf das Verhalten Jesus in unsrer Textgeschichte. Wir sehen ihn da von allem Thätigen, Handelnden völlig zurükgezogen, hören ihn nicht einmal mehr ein Wort verlieren, da er doch noch kurz vorher, bisweilen durch eine treffende Aeuße­ rung, die erhabene Art, wie er sein Leiden ausfasse, bezeichnet oder ein Zeugniß der Wahrheit abgelegt hatte: 9*

132

Von nun an blieb er eine geraume Zeit bloß leidend und schweigend. Er wollte den Kelch ohne Widrrrede ganz austrinken, den ihm der Valcr bereitet hatte. Er wollte auch für das Dulden, das ja eine unsrer schwersten Aufgaben ist, uns ein vvllkommneS Vorbild aufstellen. — Es kann so kommen im Leben, meine Freunde! daß unser ganzes Ich nur Hingabe, nur Duldung sein muß, und unsre ganze Pflicht im gelassenen Ausharren besteht. Es kann auch das Wahre und Gute, das Göttliche, was in der Menschenwelt ist, gegenüber dem Argen und im Kampfe mit ihm, in so klemme Umstände gerathen, daß sein Untergang, der Sieg und Triumph des Bösen, unvermeidlich scheint. Ja es ist sogar die Verordnung Gottes, baß das Geistesleben des Menschen durch Drang, Nacht, Sturm, Kampf und Leiden hindurch, zur Enlwikelung, zur Kraft, zur Klarheit, zur Vollendung gelangen muß. „Lasset uns denn aufsehen auf den Anfänger und Vollen­ der unsers Glaubens, welcher, da er wohl hatte mögen Freude haben, das Kreuz erduldete, Schmach und Lei­ den nicht achtete, sich dann aber emporschwang zur Rechten der Majestät Gottes!" Ueberhaupt, m. Th.! sehen wir doch stets auf ihn, der uns von Gott gemacht ist, zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung u n d z u r v o l l k o m m e n e n Erlösung! Sei es mehr denkend, fei es mehr empfindend; sei es in einfältigen Worten der Evangelisten; sei es in Ein­ kleidungsformen gelehrterer Zeiten — immerdar muß für jeden Christen doch Paulus Wort eine große Wahrheit bleiben: „Ich rühme mich nicht etwas zu wissen, als nur allein Jesus Christus und denselben gekreuzigt." Wenn uns das Ideal und Ziel der Menschheit kein Ice# rer Schatten sein soll, wenn wir, tief in uns selbst greifend, wissen, was wir bedürfen und unser Auge klar

133

-

ist für göttliches Licht, so wird uns Christus in seiner ganzen Erscheinung, in seinem Kommen, Weilen, Leh­ ren, Wirken, Sein, Leiden, Tod, Auferstehung und Verherrlichung, der Name über alle Namen, in wel­ chem allein wir unser Heil suchen und finden. Nicht im Auffasscn einiger Lehrmeinungen über ihn, an de­ nen die Zeit ändert, und die doch allemal beschran­ kend sind, wird dann unsre Jüngerschaft bestehen, son­ dern wir werden streben, ihn, so wie er es von uns in Absicht seines und unsers Vaters will, im Geist und in der Wahrheit zu verehren.— „Wer Christus Geist nicht hat, der ist nicht sein. Wer in ihm bleibt, der bringet Frucht in's ewige Leben. Vater, laß uns alle Eins sein, in ihm, wie er in dir und du in ihm — daß die einst bei ihm seien, die du ihmgegeben hast, und seine Herrlichkeit sehen!" Amen!

134 Tcrt:

Johsnncs ül, iu.

Die Hingabe Ehnsius zur Belebung der Menschheit.

,Jn dem Gedränge der eilenden Tage haben sich wiederum einige Festtage vor unsern Geist/ vor unser Gemüth hingestellt. Sie scheinen von uns zu verlangen, daß wir sie nicht unbenuzt entlassen, was sie uns anbieten, nicht ver­ schmähen sollen. Dies nicht zu bcrüksichtigen, könnte einzig in zwei Fällen zu entschuldigen fein. Wir müß­ ten nämlich überzeugt sein können, entweder, daß sie das, was sic versprechen, nicht zu leisten vermögen, oder aber, daß wir dessen, was sie uns geben wollen, gar nicht oder nicht mehr bedürfen. Schwerlich aber wird ein Einziges aus uns in diesem Falle sein —insoserne wir Christen sind, die es nicht läugncn kön< neu, Menschen zu sein, oder vielmehr insofern wir Menschen sind, die gerne wahre Christen wären. Wohl sagt cs Jedem aus uns die eigne Erfah­ rung , daß unsre menschliche Schwache eben auch darin sich beurkunde, baß durch Wiederholung alles, auch das Wichtigste und Ansprechendste uns gewohnt wer­ den könne und damit einen großen Theil seines Ein­ flusses auf uns verliere. War uns nicht der erste Festglokcnklang, der unser Ohr berührte, feierlicher, die erste Predigt vom Kreuze, die wir recht verstanden und klar auffaßtcn, herzangreifender, der erste Abendmahls­ genuß rührender, erhebender, stärkender alS so Manche der Nachfolgenden? Also auch das Heilige ist der Ei­ telkeit des irdischen Stükwerks unterworfen?! Doch unausweichlich sollte diese Gleichgiltigkeit der oft wiederholten Eindrüke nicht sein. So wie Wie­ derholungen in der Natur deswegen niemals ihres

135 Zwekes verfehlen, weil sie Wiederholungen sind, sowie z. B. die Sonne jeden Winter zu seiner Zeit wieder in Frühling zu verwandeln vermag, obschon dies eine schon seit mehrern Jahrtausenden vvrkommendc Erscheinung ist, so kann auch der Menschcngcist von großen, wichtigen Dingen wiederholtermaßen angcsprochen werden, wenn er sich nur der Auffassung derselben ganz htngiebk. Ja, o Mensch, Licht vom Licht, Leben vom Leben! du müßtest dich selbst verlieren, wenn nicht in dir ewig sich erneuerte der Lebenekeim, immer neu aufglühte der Lebensfunke, so wie ein Stral der ewigen Gottes« sonne darauf sich niedersenkt. Ein solcher Stral will uns in diesen Tagen leuch« ten. Wie Christus sich selbst entäußerte, so sollen auch wir dabei, nur in anderm Sinne uns selbst entäu« ßern, d. h. in diesem Lichte uns entheben, entschwind gen unserm gewöhnlichen, gemeinen Sinn und Wesen, Thun und Lassen, sollen emporsteigen im ahnenden Be­ wußtsein zur Heimath, die sich izt unsern Glaubens« bliken, ja die sich einst ewig uns aufschlicßcn will, unserm Geiste zur bleibenden Wohnstätte. Unsers wah­ ren Wesens, des Bleibenden, Ewigen in uns entäu­ ßern wir uns durch solche Beschäftigungen freilich nicht, sondern wir finden es erst recht dadurch; wir bete«, bcn es. Christus kam, trat auf, wandelte, wirkte, litt, starb, erstand, ward erhöhet — mit einem Worte, Christus war, was er war, eben für den Zwek der Belebung des geistigen Menschen. Dafür gab er sich hin. Laßt uns unsre Festandacht auf die Betrachtung dieser Hingabe richten! Eine Zeit war, wo unsre Erde, izt der Wunder Gottes voll, noch als gestalt« und lebloser Klumpen, von dichter Finsterniß umnachtet, im unendlichen Rau«

136 me schwebte. Mein, der sie schuf, wollte sein Werk nicht unvollendet lassen. Belebend durchdrang sie Got­ tes Hauch. „Es werde Licht!" so wollte er — und es ward Licht. „ES ströme Leben!" so wollte er — und Leben strömte. Eine Zeit war, wo das edelste Leben, womit der Schöpfer diese Erde zierte, der Menschcngcist, erdwärts gekehrt, in die Bande des Irdischen, Vergänglichen

sich dahin gegeben hatte, in Nacht und Tod sich hin­ abwand und nimmer daS verlorne Gut wiederfinden, Licht und Leben und Liebe, die Pfänder göttlichen

Adels, nicht wieder erringen konnte. Allein, der den Menschrngeist geschaffen zu seinem Bi!de und seiner Gemeinschaft, wollte dies Kleinod nicht dahingeben unter die Macht der Zerstörung, sondern erneuerte und wiedergebar es durch die Offenbarung des Abglanzes seiner Herrlichkeit. — Ist diese Erneuerung nicht auch Schöpfung? Kann sie uns weniger wichtig sein? Ließe

was traurigeres sich denken, als ein Erlöschen des reinsten Lichts, der wohlthätigsten Flamme, des leben­ digsten Lebens, der selbstständigsten Kraft, die wir ken­ nen auf Erden? Ist nicht der Menschengeist ein Tem­ pel Gottes und eine Stätte, da seine Ehre wohnt; Le­

ben vom Leben dessen, der alles in Allem ist ? Dennoch, meine Freunde! rang in der Menschheit das Licht mit der Finsterniß, die Warme mit der Erstar­ rung, das innere Leben mit dem Tode. Schön und reich entfaltete sich, wuchs, blühete der sinnliche Mensch — üble seine Kräfte an den Dingen dieser Welt, strebte nach Befriedigung seines bedürfnißrcichen Her­ zens durch die Reize und Güter derselben. Doch die

eitle Eitelkeit konnte keine wahre Gemeinschaft einge­ hen mit seinem Geiste; die reizende Zaubrerin ward zum tauschenden Gespenst, das seine Triebe zur Leiden­ schaft steigerte und ihm dadurch die würgende Schlinge

137 umwarf/

ihn bald kokend,

bald

drohend,

zu ziehen,

wohin sie wollte, am Ende doch nur in Sumpf und Grube hinein. So verlor sich der Menschheit wahre Haltung. Die Masse dessen, was dem Leben des Gei­ stes zuwider ist, nahm wuchernd überhand. Der hohe Abkömmling wurde seinem ursprünglichen Element immer

entfremdeter. So wie schon durch den ersten Menschen die Sünde in die Welt eingeführt worden war, so war geistiger Tod, Tod des Göttlichen in der Welt, der eben so natürliche als entsezliche Sold der Sünde. Ach I mit welchen in flammende Glut und in schwär­ zeste Nacht getauchten Zügen malt uns die Weltge­ schichte Bilder zu Belegen des Gesagten vor! Unno# thig, daß wir sie hier aufführen, brauchen wir nur in die Geschichte unsrer Tage, unsrer Umgebungen, in die Geschichte unsers eignen Selbsts hineinzublikcn. In der immer noch kränkelnden Menschheit, in andern und in uns, thut sich der Unterschied von Schein und Sein, von Nacht und Licht, von Kleinheit und Größe, von Kälte und Wärme, von Schwäche und Kraft und die Ursache dieses Unterschiedes mit einer, jedem einfältigen,

gesunden Auge unmißverstehbaren, Wahrheit und unwi­ derstehlichen Lebendigkeit kund. Nicht um der Wahr# heitscheus blöder Seelen, sondern um der Kürze der

Zeit willen, die der Betrachtung unsers so inhaltschwe­ ren Thema gewidmet sein darf, brechen wir hier ab und schließen mit der Bemerkung über den allgemeinen Widerwillen gegen schwächecntdekcnde Selbstprüfung: Wenn wir uns selbst richteten, so würden wir nicht gerichtet. Böses zeugt an sich nicht Gutes; Finsterniß bringt

niemals Licht hervor. Kann man auch Trauben lesen von den Dornen und Feigen von den Disteln? Sollte

Hilfe erscheinen, so mußte sie von Gott, nicht von Menschen erwartet werden. Und Gott half. So groß

138 war seine Liebe zu dem Menschengeschlechte, daß er eine Veranstaltung traf, durch die jeder dem Verderi den Nahe gerettet werden und zu ewigem Heile gclangen konnte. Können wir noch zweifeln, daß Gottes Macht, Weisheit und Liebe unendlich sei? Können wir noch fragen, ob seine Absichten wirklich auf das Glük Der Menschheit hinzielen? ob wirklich seine Hand ob den Schiksalen unsers Geschlechtes, des Geschlechtes der Staubgebornen Unsterblichen walte? O machen wir uns, Freunde, den Eegensaz recht klar: Gesunken, gefallen, wegverirrt und wegvcrführt in die Gewalt der Finsterniß, dem Leben, das aus Gott ist, fremd, lag hilflos einst die Menschheit. Und er, den sie verließen, des Kinder sie zu heißen nicht mehr würdig waren, ach! er erbarmte sich, sucht' sie mit Hirtcntreue auf, entriß mit starkem Arme sie dem Rachen des Verderbens. Er will nicht des Sünders Tod, nur daß er Buße thu' und lebe. O Freunde stellt uns ein größres Denkmal seiner Liebe auf — der Liebe, von der wir nun um so mehr noch sagen können, daß nur gute, nur vollkommene Gaben ihr entströmen, und daß aus ihrer Fülle wir ewig nehmen können Gnad' um Gnade. Heil uns! von Grabcrstaub der Erde können, dürfen, sollen wir unsre Hand gen Himmel auf zu Gott erheben und sagen: Dein Name ist Erbarmer!

Wohl nennt Paulus die Erlösung ein kindlich gro­ ßes Geheimniß! — In den wenigen Worten: Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selbst — liegt die ganze lichthclle Klarheit und die ganze unergründliche Tiefe jenes Werkes ohne seines gleichen. Schauen wir mit Dliken eines vernünftigen Glaubens oder einer gläubigen Vernunft in dasselbe, wie sinnvoll, wie harmonisch, wie übereinstimmend mit Gottes und

139

der Menschen Wesen, wie tief aus dem Verhältnisse beider herausgehoben erscheint es uns! Nie noch kamen sich Gottheit und Menschheit so nahe, berührten sich so innig, wie da; nie noch wurde Gottes unsichtba­ res Wesen so sichtbar, so anschaulich, so genießbar. Welche neue Bestätigung der Alloffenbarung, der All­ mittheilsamkeit Gottes! Welch ein Zeugniß, daß Gott sich keinem seiner Geschöpfe entzieht, jeglichem das ist und sein will, was es bedarf und wofür es Empfäng­ lichkeit hat — dem blos körperlichen Gegenstand als Erhalter und Erneuerer der körperlichen Kräfte, dem rein-geistigen Wesen als reiner Geist, dem sinnlich-gei­ stigen als Geist in Fleischeshülle, in Menschengestalt. Dem Menschen stehet am nächsten der Mensch. Durch einen Menschen war Sünd' und Sündensold, Tod, in die Welt gekommen; durch einen Menschen sollte auch wiederkommen, wiedergebracht werden die Gerechtigkeit zum Leben. Welche Verwandtschaft mit dem Himmel, welcher Abglanz Gottes in der Menschennatur liege, welcher Einflüsse aus der unsichtbaren Welt und welcher dadurch zu bewirkenden Veränderung, Umschaffung, Wiedergeburt seines innern Wesens, welcher Erhöhung, Verlebendigung seiner geistigen Kraft der Mensch fähig sei, das sollten die Menschen anschaulich thatsächlich erkennen lernen in dem göttlichen Menschensohne Jesus Christus, in dem Himmelslicht und der Himmelewärme, die in ihm lebten und durch ihn hervvrstralten in die Welt. Damit die Kinder den Vater wiederfinden, wollte er ihnen selbst an dem Weg stehen, mit dem liebenden Zuruf ihnen begegnen: Siehe, um euertwillen hab' ich, mich selbst entäußernd, mich vergestaltct in euers gleichen. Doch, was wollen wir sagen, Theure! von Gottes Offenbarung durch Christus? was, das nicht seine Herolde uns viel inniger und klarer und erhabener schon

140 — gesagt haben. Unübertrefflich, gehaltvoll und einfach zugleich, himmlisch, heilig, in göttlichen Lauten redet Johannes, der persönliche Freund des Erlösers, davon. Mit herzerhcbeuder Freude lass' ich ihn, statt meiner, zu euch sprechen. „Im Anfang schon war das hohe Eotteswcrt, die außer sich tretende sich offenbarende Eottcskraft — unzertrennlich mit Gott verbunden, Eins mit ihm. Die­ ser wirkende Gottesausfluß war's, der Alles schuf, ohne den nichts wurde von allein Gewordenen. Nur in ihm ist wahres Leben, und dies belebende Gottesleden ist auch der Menschen wahres Licht, das jeden in diese Welt Gebornen erleuchtet. So schien dies Licht in die Finsterniß hinein; allein die Finsterniß erfaßte es nicht. Obschon es von jeher in Ver Welt war und die Welt nur durch dasselbe entstanv und besteht, so wußte sie doch nichts davon. So wurde es, obgleich es in sein Eigenthum kam, dennoch von diesem seinen Eigenthum, d. h. von der Menschheit, nicht ausgenom­ men. Solche aber, die es wirklich anerkannten, in sich aufnahmcn, cs gläubig ergriffen, crhielten dadurch die Würde ächter Gottcskinder, aus und durch Golt ncugeborner Menschen. Endlich ward jenes Gottes­ wort, jene Gotteskraft, jenes hervortretcnde, sich offen­ barende Gottesleben Fleisch, d. h. es trat in eines Menschen Gestalt ein und wohnte so persönlich unter uns, voll Huld und voll Wahrheit. Wir selbst waren Augenzeugen seiner Herrlichkeit — eine Herrlichkeit, wie sie nur der Einzige Sohn des Vaters haben konnte. Aus der Fülle desselben haben denn auch wir Alle Gnad' um Gnad' empfangen." Kaum sollten wir etwas anders hinzuthun als: Wer's fassen kann, fasse es! Ach daß cs uns gegeben wäre, den göttlichen Menschen und den menschlichen Gott so klar und einfach und so innig und cntzükt,

141 wie Johannes/ zu schauen, zu erkennen, zu umfassen, in uns aufzunchmen und durch uns andern zu offen» baren! Wahrlich, wir hatten alles mit ihm, alles Große und Gute der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, der Menschheit und der Gottheit, so viel es unsre Natur erforderte, erkannt, gefühlt, erfaßt und in uns vergestaltct! Mit ihm müßten wir immer ein# facher und kindlicher, aber auch immer männlicher und erhabener werden. Ach daß wir uns und allen unsern Mitbrüdcrn vom Himmel herabflehen könnten einen Licht­ strahl seiner Erkenntniß in unser Auge, ihn zu sehen, wie er ist! Ihn, den Großen unter den Kleinen, den Himmlischen unter den Irdischen; ihn, das Licht in der Finsterniß, die Kraft der Schwachen, den Arzt der Kranken, das Leben der Todten; ihn, den immer Vesten, wenn Alles wankt, den immer Wirkenden, wenn Alles trag und kraftlos und verzagt dahinsinkt; ihn, dessen Glaube Anschauung, dessen Einsicht truglos, dessen Liebe uncrlöschliche Gottesflamme, dessen Thu» und Las­ sen Licht und Recht, Ehre und Wonne des Himmels und Friede und Segen der Erde war; ihn, der Alles hatte, was wir nicht haben und dessen Entbehrung wir entweder leichtsinnig verträumen, oder mit pein­ lichem Schmerzgefühl empfinden; ihn, den allein und ganz Großen, allein und ganz Guten, dem das ganze Menschengeschlecht die Schuhricmen zu lösen nicht werth wäre; ihn, den wir im eigentlichsten, im bezeichnend­ sten Sinne nennen können: den Gott der Menschen! — Den gab der Vater dahin — und diese Hin­ gabe war erstes und leztcs, unerläßlichstes Beding unse­ rer Erlösung. Wie natürlich! wie begreiflich! Ohne Entäußerung seiner selbst ist keine fühlbare, in die Au­ gen fallende, wirksame Annäherung des Großen zum Geringen, des Hohen zum Niedrigen, des Allumfassen­ den zum Beschränkten denkbar. Je mehr du dich im



142

gemeinen Leben in die verschiedensten Denkungsweisen, Geistes» und Gemüthszustände, Charaktere der mannichfaltigsten Arten von Menschen hineinversezest, hinein­ bildest, freilich ohne dabei dein Wesentliches und Wich­ tigstes aufzugeben, um desto genießbarer wirst du für alle diese Menschen sein, um desto mehr von deiner Art zu sein und zu handeln auch in sie hinüberpflanzcn können, wenn du anders größer, edler, kraftreichcr bist als sie. Ze höher du aber an geistigem Werthe stehst als jene, um desto mehr wird auch diese Annä­ herung zu ihnen eine Entäußerung, eine Hingabe dei­ ner selbst und somit ein wahres Opfer von deiner Seite sein. So war es denn für Christus ein Opfer im höch­ sten Sinne, daß er sich selbst entäußerte, sich Knechtes­ gestalt, ein Loos sich gefallen ließ, das mit dem, was er hätte «»sprechen können, verglichen, daö Loys eines Sklaven war, seine Geisteshohcit, seine Himmelskraft der Menschheit zu Füßen legte und derer Diener wurde, die ihm zu dienen ewig unwcrlh waren. So verband sich mit höchster Kraft in ihm die tiefste Ruhe, mit unerreichbarem Gottesgefühl die beispielloseste Demuth, mit der selbstständigsten Wirksamkeit die ergebenste, ge­ lassenste Lcidsamkeit — um — Allen alles zu sein. So konnte er, welcher von sich bezeugte, mit dem Va­ ter Eins zu sein, hinwiederum je nach dem Bedürf­ nisse der ihn Hörenden, als der anspruchlvsc Menschen­ sohn von sich abweisen die Benennung ,, gut", weil Niemand gut sei als der einige Gott. Freunde! laßt uns unser Herz öffnen der Größe dieses sich Hingeben­ den und der Größe dieser Hingabe! Und welchen dun­ keln Gang sehn wir ihn wandeln durch sein leben hin­ ab — einen Gang, von dem er selbst seinen Schülern bezeugte: Wo ich hingehe, da könnet ihr nicht hin­ gehen! — Von der Krippe bis zum öffentlichen Her-

143 Vortritt in die Welt erst körperliche Entbehrungen, dann, mit diesen verbunden, auch geistige — Niemanden um sich, der ihn ganz verstand und erfaßte, Freunde, die ihn unwillkührlich, Feinde, die ihn vorsäzlich mißver­

standen, mißkannten; Machte der Finsterniß, der licht­ scheuesten Bosheit, die sich seinem Wirken truzighöhnend in den Weg warfen. Und er allein hatt' ihn zu kämpfen den großen Kampf, bei dem er durch keine andern. Waffen streiten wollte, als durch die göttli­ cher Wahrheit und Tugend. Wie litt seine Seele tief unter dem Gefühle der furchtbaren Gewalt der Sünde! Wie nahe ward er hingedrängt, er, der Göttliche, zum Erlischen des Gottesgefühls in ihm! Wer, meine Freun, de! enträthselt sich sein Wort: Mein Gott! mein Gott!

warum hast du mich verlassen!? Dekt nicht auch uns hier die Nacht, die seinen Todcspfahl umschattete! Aber ahnen wir nicht darin wenigstens des Opfers Größe, das da in Ewigkeit vollenden sollte alle, die zur Heiligung gelangen? Ja, es rang sich dies Opfer, dieses sünde­ tragende Gotteslamin, durch Angst und Qual, durch Spott und Hohn, durch Schmerz und Kränkung aller Art bis in den Tod und in das Grab hinab. Es rang und kämpfte in Gcthscmaneh den fürchterlichen dunkeln

Gemüths- und Entschlusseekampf, den Kampf der ent# sezlichcn Vorstellung der Sünde, deren Wuth es unter­ liegen sollte; es duldete dies Opfer unter dem Kusse des schwärzesten Vcrräthcrs, unter der Rohigkeit entmensch­ ter Rotten, vor dem Richterstuhle der schändlichsten Volksvcrführung, wie vor dem des niedrigsten Leicht­ sinnes und dein der erbärmlichsten Staatsklugheit. So

ward es, wie der Apostel sagt, genommen, gezogen durch die Hände der Ungerechten, blutete unter Strei­ chen, blutete unter der Geißel, blutete unter dem Dorn­ kranze, verblutete sich an den eisernen Wunden, ver­ schmachtete an dem Marterstamme, als ein Schauspiel

144

der Erd' und des Himmels, als ein Scheusal der Menschheit in den Tod, den Kreuzestod dahingegebcn. ♦



*

Und diese Hingab' in den Tod, warum? wozu? — Jesus sagte? (Wer Ohr zu hören hat, der höre!) „Auf daß alle, die au ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben." Welch ein Zwek! Und kann sie einen an­ dern haben, die Erlösung? Eiebts denn ein Mittel­ ding zwischen Leben und Tod, zwischen Verlorengehen und Gcrettetsein? Für kurze Zeit wohl kann man zwi­ schen beiden schweben. Am Ende muß sich jedoch alles an diese zwei einzigen wichtigen Ziele sammeln. Ewig wird Böses Böses und Gutes Gutes zeugen. Wer Böses säet, schneidet Jammer. Wer aufs Fleisch sack, muß vom Fleische Fleischliches, d. h. Vergänglichkeit, Verderben, ärnten. Wer auf den Geist säet, wird Geistiges, d. h. ewiges Leben des Geistes ärnten. Wer nicht für mich ist, sagt Christus, der ist wider mich und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut. Nie­ mand kann zweien Herren dienen, zweien ganz ver­ schiedenen Weisen, zu sein und zu handeln, huldigen, zwei weit von einander sich entfernende Wege zugleich verfolgen. Wir tändeln noch mit dem Leben, Freunde! wie Kinder, die den Werth des Tages über den Gegen­ ständen des Tages vergessen, uneingcdcnk des hohen Wortes: Herr! lehr' unö unsre Tage zählen, auf daß wir Weisheit in's Herz bringen. Wann einst erschienen sein wird, was wir sein werden, dann kommt der Ernst des Lebens; ja dann kommt er, Freunde!! — Geistig dürftig, schlaff, verschmachtet, todt — oder geistig lebendig, thätig, wirksam— und, je nachdem Vas eine ober andere unser Fall ist, glüklich, selig,

145 oder unglüklich, unselig in einer Welt, wo nichts als Geist und Geistesleben gilt — das werden wir fein; dem gehen wir entgegen, mit jeglichem Tage, jeglicher Stunde, jeglichem Athemzuge, jeglichem Herzschläge, durch Freud' und Leid, Licht und Nacht, durch alle die Frühlings- und Herbsttage, Sommerhizen und Winter­ stürme unsers Schiksals. Wie bald ist der Traum ver­ träumt, der Entscheidungemoment vorhanden! Die da draußen schlafen, wie bald, wie unvermerkt sind auch sie davon übereilt worden! Und wir tändeln noch, und lassen die Zeit, die goldne, uns unter den Händen zer­ rinnen, als ob es Seifenblasen wären! Geist und Leben ist Eins. Je ferner dem geistigen Gebiete ein Wesen ist, desto lebloser ist es. Gott ist das höchste Leben, weil er der reine, der höchste Geist ist. Wohl gehört in uns izt noch geistiges und körperliches Leben zusam­ men, und ist das leztere geschwächt, gehemmt, so lei­ det auch das erstere. Gewinnt aber das leztere, das sinnliche Leben einen zu hohen Schwung, wird es un­ gewöhnlich stark angeregt, so unterliegt das Leben des Geistes nicht weniger. Wer einmal dieses gekostet hat, fühlt, daß es den wahrsten, dauerndsten, köstlichsten Genuß giebt. Sein ganzes Gemüth wird vom Wun­ sche durchdrungen, baß bieg Geistesleben immer reg­ samer, inniger, bauernder, ungetrübter werden möge. Alle Größe der grösten Menschen bestand von je Wel­ ten her immer in einem erhöheten, verstärkten geistigen Leben. Je mehr Leben, desto mehr Fähigkeiten der Seele und desto mehr Thätigkeit dieser Fähigkeiten. Der lebenvollste Geist ist auch der allgemeinste, umfas­ sendste, ergiebigste, kraft- und einflußreichste, meist­ wirkende. In Augenbliken ächten Geisteslebens ent­ faltet sich eine Größe und ein Gefühl dieser Größe in uns, die uns vor uns selbst (oder, sagt der Reli­ giöse: vor dem Schöpfer unser selbst) erstaunen machen.

IL

10

146

Und dies Leben, meine Freunde! kann erneuert, an­ gefrischt, genährt werden, es kann einschrumpfen, ver­ kümmern , verderben. Kaum gicbl's eine erfahrungsge wissere Wahrheit als diese. Aber die Nahrung des Gei­ stes muß Ähnlichkeit haben mit dem Geiste, so wie auch die des Körpers, diesem zusagen muß. Häufet alle Gü­ ter und Herrlichkeiten der Körpcrwelt zusammen ■— dem Geiste habt ihr damit nichts Wesentliches gegeben. Geist an Geist, in sich selbst oder in andern, entschlagt Fun­ ken, die inwendig aufregen, mit neuer Lebenskraft und Lebenslust durchströmen. So kann sein Selbstbewußt­ sein lebendiger, stets und stets die Fülle seiner Kraft überfließender werden. Und was hälf' es denn dem Menschen, so er die ganze Weit gewönne und nähme Schaden an seiner Seele?! Mag, was des Todes ist, sterben! Was lebenbedürftig, lebenfähig ist, soll leben, immer lebendiger leben! Selig derjenige, in welchem dies Leben, dieser Grund alles seines Wirkens, diese Erleichterung alles seines Leidens, dieses Erhöhungsmittel alles seines Genusses kräftig wohnet, deutlich sich äußert, immer selbstständiger sich entwikelt! Ihm ist ein göttliches Leben aufgegangen in der Tiefe seiner Seele, izt schon über dieser Welt Traum ihn emporhebend und ihm eine Dauer im Jenseits tröstlich verheißend. Schon trägt er's in sich. Was in ihm so wenig übereinstimmt mit dem Erdentand, so hoch ihn hebt in seinem Be­ wußtsein über bloße irdische Güter, Verhältnisse und Absichten, es trägt der Zukunft Bedürfniß, Anwart­ schaft und Würde anschauungsklar in sich. Und ewig soll dies reine Leben, dies Mittel alles bleibenden Ge­ nusses dauern, niemals sich die Quelle schließen, die von Gort selbst wahre Kraft, wahres Licht ausströmt, in uns und durch uns reine Wonne zu verbreiten. Doch solches Leden muß schon hier in uns begründet werden, wenn Zeit und Ewigkeit zusammenhängend, jene Anfang

147 nur und diese Fortsezung und Vollendung ist» O kön­ nen wir zwischen Gräbern wandeln und um uns der Erde Tand wie Nebel dahinschwinden sehen, ohne uns dabei nie ersterbender Freude, die der Widerstcal der wahren Tagemorgenröthe der Ewigkeit ist, der gewissen Zuversicht des schönsten, besten Geisteslebens des Jen­ seits zu erfreuen! ? Können wir aber jenes ewigen Le­ bens durch irgend etwas so gewiß werden, als durch die eigne innere Erfahrung seiner Wirklichkeit in uns, die schon in diesem Leben sich uns kund thut?! Das heißt nicht erst, des ewigen Lebens gewärtig sein, seine Offen­ barung ahnen, sondern es heißt: dasselbe in sich tra­ gen und seinen Wandel im Himmel haben, es heißt: leben in der Welt, als lebten wir nicht mehr in ihr.

Was kann, meine Freunde, uns noch für ein Wunsch bleiben, nachdem wir diese Lebensbotschaft wissen?! Sie ist uns alles in allem. Leben des Geistes, von Aeon zu Aeon, Leben mit Gott, in Gott, durch Gott, immer wachsendes, immer sich erfrischendes, erneuerndes, er­ höhendes Leben! O Nachtthal der Erde, solltest du bei solchen Aussichten uns noch Ruhestatt, Zielpunkt unsrer Bestrebungen, das höchste, woran unser Herz sich hängt, sein können?! Soll uns das noch freuen können, was abzieht von Gott, was hineindrängt, hin­ einvergräbt ins Irdische? Zu diesem Leben soll uns bringen deine Hingabe, göttlicher Jesus! Wer hat, der kann geben. Du gä­ best aus der reichsten Fülle! Von dir mußten, wie du selbst sagtest, Ströme lebendigen Wassers über die Mensch­ heit sich ergießen. Dazu gabst du dich ganz uns hin. Nicht deine Lehre nur und nicht blos die von dir er­ wiesenen Wohlthaten, nicht dein Beispiel allein und nicht allein dein Leiden und dein Tod, auch nicht bloß deine Auferstehung und Erhöhung, sondern alles 10*

-T

148

dies in Einem, alles was du warst und thatest und littest, alles was an und in dir war, bewirkte diese Neubelebung der ersterbenden, der In Todesschlummer hingesunkenen Menschheit. Es hoben sich, von deinem Machthauch angefacht, die lezten bald erloschnen Lebens­ funken; sie loderten jur Hellen Flamme empor, die Li>ht und Warme und Segen nun wieder überall verbreitet. Sei dafür gepriesen ewiglich 1

Doch, eins noch, meine Freunde! noch die Frage: Was befähigt uns, dies Leben auch in uns aufzunehmen,- auch unserseits desselben theilhaftig zu werden? Es ist, meine Theuren, die Antwort jedem von uns bekannt — ob im Worte blos oder ob in Wahrheit und im Geiste? das gebe Gott uns selbst in Gnaden zu erkennen. Nicht verloren gehen, sondern ewiges Leben haben sollen alle, „die an ihn glauben." Was schon oft bemerkt worden ist, bringt sich uns auch hier wieder auf in dieser so natürlichen, einfachen Antwort auf die Frage: Was muß ich thun, baß ich das ewige Leben haben, daß ich selig werden möge? „Glaube, glaube nur!" Dies Christenthum, das auf so wichtige Fragen so antwortet, muß sich jedem geraden, Unver­ schrobnen einfachen Sinne unwidcrsprcchlich empfehlen. Was ist Glaube an Christus? Wir wissens und wissens nicht oder scheinens doch nicht wissen zu wollen. Wir wissen doch wohl was Glaube ist an einen Men­ schen, im gemeinen Leben. Und was denn? Die Of­ fenheit unsers Gemüths für einen Menschen, die Fähig­ keit, ihn zu verstehen, zu genießen, das innere, zuver­ lässige, wohlthuende Gefühl, daß er für uns und wir für ihn passen, die kindliche, sorglose, nicht leichtsin­ nige, sondern aus völliger Ueberzeugung hervorgegan-

149

gelte Hingabe unsers Wesens an ihn, das ist Glaube an einen Menschen, im schönsten, tiefsten Sinne des Wortes. Gerade so öffne denn deine Seele auch für Christus! so raffe alles in dir zusammen, was in eine Beziehung auf ihn, auf seine Person, sein Werk, sein Reich gebracht werden kann! so suche dich immer fähi­ ger zu machen, ihn zu verstehen, ihn klar anzuschauen, zu erkennen, wie er ist, wie der Geist des Evangeli­ ums ihn dir zu erkennen giebt! Werde dir immer be­ wußter eines tiefen, durch nichts anderes zu befriedi­ genden Bedürfnisses für ihn, eines Hungers und Dur­ stes deines innern Menschen, der nur durch ihn, und nur durch den ganzen, ungetrennten, persön­ lichen Christus gestillt werden kann! suche das in dir auf, was in dir mit ihm harmoniert, was dich zu ihm hinzieht, an ihn mit immer innigerer Sehnsucht und Liebe fesselt, was dich fühlen laßt, daß er dir Freund und Bruder sei, der seine Wohlthaten auch dir bereitet hat! Ucberlaß dich ihm, gieb dich ihm hin, der dieser Hingabe würdiger ist, als sonst keiner; der, als der einzig Treue und Wahrhafte, mehr Glau­ ben verdient als die treusten, edelsten, besten Menschen! Schmiege dich an an ihn, der Weisheit mit Liebe, Heiligkeit mit Erbarmen, Lehre mit Beistand verbindet, und — was willst du mehr? — Gottheit und Mensch­ heit, alles Vereinbare zu vereinigen gekommen ist. Das ist der Glaube an Jesus Christus; nicht das bloße Wortbekenntniß. So soll alles andre, was sonst in uns lebt und sich regt, umfaßt, getragen, durchdrungen werden von diesem Glauben, also daß wir mit Paulus sagen mögen: ,,Jch rühme mich nicht, etwas zu wissen, außer Jesum Christum, den Gekreuzigten." Das ist das Leben des Glaubens, das so oft von uns gefor­ dert wird im Evangelium. Das ist die Vergestaltung

150 Christus in uns , das Anziehn seiner, nachdem der alte, bloße Sinncnmensch ausgezogen worden iß. Je umfas­ sender dieser Glaube ist, um desto mannigfaltiger die Mit­ theilung Christus an ihn; denn mit dem Grade der Em« pfanglichkeit für ein Geistes «Ent steht auch der Antheil, den wir an demselben haben, im Verhältniß. Erhabenes Ziel der Christen — durch den Glauben aus Gort geboren werden, Christus Leben in sich aufnehr men und so zum Mannesalter Christus cmporreifen zu können — und damit Sicherheitsgcfühl ewigen Heils schon auf dieser Traumerde im zum Himmel gerichteten Herzen zu tragen! Zu dieser Höhe, meine Freunde! laßt uns hinaufschauen! nach diesem alles gebenden, alles enthaltenden, unser ganzes Wesen verklärenden Glauben mit jedem kommenden Morgen und jedem sinkenden Abend sehnsüchtiger streben, und in dem stürmenden Wechsel des Zeitlichen immer bester uns wurzeln in dem allein Unwandelbaren. Gott aber, der uns dazu berufen, dazu erlöset hat und dazu heiligen will, und dem Sohne, der diesem Zweke sich hinopferte, fei ewig Ehre, Lob und Dank. Er hat besucht und erlöset sein Volk. Des freuet euch und dafür bringt ihm euch selbst zum Opfer dar! Wir bitten euch an Christus statt: Laßt euch versöh­ nen mit Gott durch Christus! Amen!

151

Pcrikopc: Apostclgcschichle II, 1 — 13.

A. Z. §^lles ist eitel unter dem Monde — Alles hat seine

Zeit — Alles altert — Alles vergehet----- aber des Herren Wort bleibet in Ewigkeit — — so m. Th. mag wohl schon hie und da eine Predigt, vielleicht auch eine Pftngstpredigt begonnen haben; und es klingt allerdings erbaulicher, als wenn man in dies Eilen, Altern und Vergehen, auch das Christenthum selbst einschlösse. Allein so auffallend immerhin das Leztere wäre, so bin ich doch gewiß, daß nur sehr Wenige sich aufrichtig und innig darüber entsezen und betrü­ ben , sehr viele aber sich bloß deswegen daran stoßen würden, weil es ihnen zu neu und zu sehr wider dasjenige wäre, was sie vormals in Schulen hörten und noch ijt in Kirchen zu hören gewohnt sind, — ja daß endlich auch nicht Wenige es als wahr bestätigen wür­ den. Mit dem Bewußtsein der Ueberzeugung, daß das Auffallende nicht darum, weil es ein solches ist, gesagt, aber eben so wenig deswegen verschwiegen werden soll, gestehe ich freimüthig, daß mich oft bei dem Durchdenken und bei dem Vorlesen eines Schrift­ abschnittes, wie unser heutiger ist, so wie bei dem Ver­ richten auch andrer kirchlichen Handlungen, gleichsam in die Seele der Zuhörer hinein, ein Gefühl befällt, als denke, lese, verrichte ich ein Altes, Hergebrachtes, um der allmächtigen Gewohnheit willen noch Gedul­ detes, Etwas, in das sich zu unsrer Zeit fast Nie­ mand mehr mit wahrer Gemüthlichkeit, von ganzem Herzen hineinversczt. Nicht das Wesentliche der Re­ ligion überhaupt, aber Vas Besondere des Christen-

152

thumS, was die Stifter und ersten Bekenner desselben, nach übereinstimmender Ansicht der Gelehrtesten unsrer Tage, (auch derer, die selbst nicht daran glauben,) als sein Wesentliches mit bestem Glauben und glühen» der Liebe umfaßten, bas ist für unsere Zeit meist da­ hin. Das alte christliche Lehrgebäude ist für uns go­ thische Ruine geworden, deren sinnvolle und großartige Formen wir zwar bewundern, in der wir uns wohl gar noch bisweilen zur Andachtsübung einstellen, in der wir jedoch zu wohnen, viel zu unheimlich fanden. Ich sehe zwar Manche bemüht, das Zerfallene wieder im alten Geschmake herzustellen, oder vielmehr ihren Zeit­ genossen den Eeschmak dafür wieder anzupredigen — aber ich muß der Lehrerin Geschichte glauben, daß die Umgestaltung und Wiedergeburt irgend eines Zeitgeistes kein Werk einer Schule, sondern großer Cchiksale, also nicht nur von Menschen, sondern aus Gott sein müsse. Fragen wir dann aber: „Was ist denn wohl zu thun, bis eine neue, wahre Pfingsten kommt?" — so weiß ich nichts Besseres zu antworten, als: „Denuzen wir, was wir haben, d. h. das Alte mit dem Neuen! Seien wir jedoch gegen das leztere nicht zu vertrauensvoll; denn es ist ein gemeiner Fehler aller Zeiten gewesen, in sich selbst verliebt zu sein un,d dem­ nach das Frühere zu mißdeuten und zu mißhandeln! Zwingen wir uns ein wenig, das zu schazen, was Gott mit dem Finger seiner Allmacht bezeichnet hat — und glauben wir, daß es weder unsrer unwürdig, noch unersprießlich für uns sein könne, wenn wir suchen, so viel es möglich ist, auch außer der Denkweise und der ganzen geistigen Form unsers Zeitalters zu leben — in der Ueberzeugung, daß uns dieses nur in sehr geringem Grade möglich und deshalb Gefahr zu befürch­ ten, wahrhaft kindisch fei!3n solchen Gedanken versuchen wir denn,

153 Einige der wichtigsten Erscheinungen bei

Entstehung des Christenthums aus unserm Texte auszuheben und mit Anwendungen zu begleiten. Ich sage: Christenthum —, obgleich der Ausdruk „christliche Kirche," hier der richtigere wäre, da das Christenthum nicht erst zu Pfingsten entstanden ist. Allein das gewählte Wort gestattet mir mehr Frei­ heit als das, an dessen Stelle es trat — und zudem wird es oft auch zur Bezeichnung nicht nur der Lehre, sondern auch der, dieser Lehre ergebenen Religionspartei gebraucht.

Es geschah,

sagt unsre Erzählung, am Pfingstmor-

gen, schnell ein Brausen vom Himmel als eines gewal­ tigen Windes und erfüllte das Haus, in welchem die Vertrauten Jesus saßen, und man sah an ihnen zer­ theilet Zungen wie von Feuer und es seztc sich aus einen jeden — und sie wurden voll heiligen Geistes und begannen in andern Mundarten zu reden. Und eine Menge der in Jerusalem sich damals avshaltenden Ju­ den aus fernen Gegenden liefen zusammen / als der Schall gehört ward und wurden sehr betroffen, über dem, was sie a wahrnahmen. Sei nun die Uebersezung des so eben aus der Apo­ stelgeschichte entlehnten Derichtes von der Geistesaus­ gießung noch so schwierig, und feien die Erklärungs­ weisen der Gelehrten noch so verschieden — uns bleibt jedenfalls die Bemerkung unangetastet, daß das Chri­ stenthum sich sehr auffallend der Welt an­ kündigte und auch demzufolge viel Aufmerk­

samkeit erregte. Wohl, m. Th., wurde dort ein Elias belehrt, daß der Herr nicht so fast in Sturm, Donner und Erd­ beben, als vielmehr im stillen, sanften Säuseln komme

154

— wohl sagt Christus selbst: das Reich Gottes kommt, als etwas Inwendiges, nicht mit äußerlichen Geber­ den — allein jenes gilt von der gewöhnlichen Wir­ kungsweise Gottes und dieses will wohl nur andeuten, daß äußerer Prunk eben nicht Wesen und Absicht des Reiches Gottes sei. Immer unbemerkt konnte es aber keineswegs bleiben; in die Welt mußte es einmal hin­ austreten; mit den gewöhnlichen Mitteln, wodurch bis­ herige, alltägliche Erscheinungen unter den Menschen zu Tage gefördert wurden, konnte es sich nicht befassen — es mußte durch sein Wesen und durch seine Er­ scheinungsweise auffallen und aufregen. Der Mensch lebt nur; aber er giebt sich nicht daS Leben. Er bildet nur; aber er vermag nichts zu schaf­ fen. Beides muß er Gott überlassen. Go ist er denn auch, einem gewissen, ihm zukommenden Grade von Freiheit unbeschadet, befangen, nicht bloß in der Schranke seiner Natur, sondern auch in der Fessel der Gewohn­ heit, eingebannt in ein gewisses Gleis, das sich die ganze Menschheit, wie ein gewaltiger Strom, nach und nach gegraben hat. So geschiehet auch bei ihm nichts Neues unter der Sonne, wenn gleich die Welle, die oben war, herabsinkk und für sie eine andre auf­ taucht. Sollte nun etwas Anderes, etwas Neues bei und in ihm werden, so muss es ihm gegeben sein, von oben herab, so muß eine höhere Hand ihn dazu leiten. — Siehe die Schöpfungen Gottes! Er machet was er will. Er spricht, so geschieht's. Er ruft dem, das nicht ist, daß es sei. Finsterniß dekte die Tiefe — und Gott sprach: „Es werde Licht!" — Im Chaos lagen die Ele­ mente— und Gottes Odem brauste über sie; da schie­ den sie sich und wurden Ordnung. Staub noch war der Mensch; da hauchte Gott ihm seines Geistes ein, und also wurde der Mensch eine lebendige Seele, zum Bilde Gottes geschaffen! —

155 Welche Wandlung!

welche

Erneuerung!

— und

sollte cs nicht Wandlung, nicht Erneuerung sein, wenn das Licht der Eeisterwelt in die Erdennacht stralt, wenn der Geist einer neuen, einer wahren Religion über Volker und Zeiten wehet, wenn der der Erde anheim gefastcne Mensch dem Himmel wieder zugewandt wer­ den soll? — Und wo irgknd das Christenthum hingelangte, zu allen Zeiten und unter allen Himmelsgegen­ den , da war seine Erscheinung neu, groß und auffal­

lend — da war es Stimme vom Himmel, Wehen eines gewaltigen Windes — da griff es an, regte auf, erschütterte und durchdrang Menschen und Völker, ihre Weise zu Sein, ihre Sitten, Formen und Ver­ fassungen. Nichts in den menschlichen Verhältnissen ließ es unberührt, ungestört; es drang, wie der Apo­ stel sagt, durch Mark und Gebein und bis auf die Theilung des Leibes und der Seele; es war, wie Je­ sus sich darüber ausdrükt, ein Feuer, ein Schwert auf Erden; es war, wie er selbst, ein Zeichen zum Fall und zur Aufrichtung Vieler, so daß vieler Herzen Ge­ danken dadurch offenbar wurden — es war das Ge­ richt, das über die Menschen gekommen war, zu schei­ den Gute und Böse. Wer ermißt den Umfang seines Einflusses? und wer verkennt, auch bei der Unmöglich­ keit, ihn zu ermessen, ja gerade um deßwillen, die Größe und Macht desselben?! — und eben so verhält

es sich mit der Erscheinung des Christenthums in ein­ zelnen Menschen. Mag immerhin die Vorstellung frü­ herer Zeiten von der sogenannten Wiedergeburt zu be­ schränkt und zu ausschließend gewesen sein, und mag es Menschen geben, in denen das Christenthum sehr unmerklich, nach und nach geboren wird und heran­ wächst, so ist doch die Erfahrung von dem Auffallen­ den, Ergreifenden, Anregenden seiner Erscheinung auf die meisten Menschen anwendbar. Unchristenthum und

156 Christenthum, Geistlosigkeit und Gottesgeistigkeit, Zrdischgesinntheit und Himmlischgesinntheit, sind so scharfe Gegensäze, daß die Veranlassungen und Antriebe zum Uebergang ans dem einen in den andern, ja dieser Uebergang selbst dem Menschen lebhaft fühlbar, und auch in ihren innern und äußern Folgen sehr wahr­ nehmbar und wirksam sein müssen. Ein Christenthum, das dich nicht anregt, dir nicht als etwas von deinem bisherigen unchristlichen Sein Verschiedenes auffallt, keine Vergleichungen, kein Stillestehen und Zurükschauen und Dvrwärtsbliken in dir veranlaßt und demnach auch keine Selbstkenntniß, keine Reue, keine Erniedri­ gung und Wiedererhebung deines innern Menschen, keine Fragen nach Gott und seinem Heil, kein Dichten und Trachten nach seinem Reiche, kein Verlangen deiner Seele, mit ihm im Geist und in der Wahrheit verei­ nigt zu sein, keinen Wunsch und Dorsaz, durch ihn und mit ihm in einem neuen Leben zu wandeln — ein Christenthum ferner, das dich nicht auch vor deinen Mitmenschen so verändert und verklärt, daß sie es ge­

wahr werden müssen, du seiest nicht mehr der du warst, sondern zu deinem und ihrem Vortheil umgewandclt, ein geistigerer, edlerer, besserer, ein Heil und Segen verbreitender Mensch geworden — ein Christenthum, sag' ich, das dieses nicht in dir bewirkt, sich dir und durch dich nicht Andern merkbar, auffallend merkbar, macht, dich nur immer gleich bleiben oder schlimmer wer­ den läßt, ist kein Christenthum.

Damit sind wir denn zu einem zweiten Gedanken übergegangen, den wir diesmal zu betrachten haben. — Die Schüler des Herrn wurden voll hei­ ligen Geistes. — Ein noch wichtigerer Umstand bei der Erscheinung des Christenthums; ein entscheiden-

157 des Merkmal und Zeugniß seiner Größe und Vortreff­ lichkeit! Es giebt außer dem Christenthum auch sonst noch Erscheinungen, Entwiklungen, Umwandlungen in der Menschengeschichte, die auffallend und anregend genug waren und mächtigen Einfluß auf Nationen, ja auf ganze Erbtheile äußerten. Wir finden dieses bei Ereignissen, die sich nur auf das gegenwärtige Sein des Menschen beziehen, sehr natürlich, weil sie aster Welt Interesse genug darbicten. Wenn aber das Chri­ stenthum jene Eigenschaft einer sehr merkbaren, ja auf­ fallenden, äußern Wirksamkeit mit ihnen theilen soll und doch an sich eigentlich auf das Innere geht, so muß es dieses Innere so sehr ergreifen, bewirken, um­ gestalten, daß selbst auch das Aeußere den Einfluß da­ von empfindet. Der Einfluß des Christenthums muß also der bedeutendste, seine Wirksamkeit die lebendigste, durchdringendste sein.— Ja, was von innen heraus den Menschen anregt, belebt und beherrscht, das macht seinen wahren Charakter, seine wahre Weise zu sein und zu handeln, aus; bas gestaltet die wesentlichsten Züge auch seines äußern Lebens; das bestimmt die Richtung des Ganges ganzer Familien, Gesellschaften, Völker und Zeitalter. Alles Uebrige scheint oft nur wesentlich, ist bloße Form, bloße Farbe nur, die allen­ falls Thoren und Kinder täuscht. — Forsche denn sorgfältig nach, l. Fr., was denn das Christenthum den Menschen auch dem Aeußern nach gegeben, wie es auf die Formen ihres Lebens eingewirkt habe und noch einwirkc — und wenn du findest und anerkennen mußt, daß das Beste, was wir haben, von ihm ausgegan­ gen sei und mit ihm in Verbindung stehe, das Schlim­ me, Nachtheilige, Unvollkommene hingegen, was von jeher das Menschenleben von Außen brükte und noch drükl, keineswegs dem Christenthum angeschuldet wer­ den dürfe, sondern aus der bekannten Quelle verbor-

158

bettet Menschennatur geflossen sei und fließe; wenn du zu berechnen vermagst, daß die reinste Christlichkeit auch den besten bürgerlichen und geselligen Zustand herbeiführcn würde, so wirst du dem Christenthum seinen Geburts­ adel aus heiligem Geiste, gernezugestehen. Sie wurden alle voll heiligen Geistes. Man mag sich von dieser Geistesergießung eine Vor­ stellung machen, wie man will, oder auch gar keine, was, beim Lichte betrachtet, nicht nur keine Kezerei, sondern, wenn man solcherlei noch nie in sich selbst er­ fuhr, noch nie sich voll heiligen Geistes fühlte, das einfachste, redlichste und klügste ist— immerhin bleibt doch die Thatsächlichkeit und Wahrnehmbarkeit der Fol­ gen jener Geistesergießung. Der beste Schild (im Vor­ beigange bemerkt,) gegen die alles anfcchtende Zweifclci sind Thatsachen und Erfahrungsgewißheiten. — Wie neugeboren stehen nun einmal jene Gesandten Jesus am Pfingsttage, vor allem Volke und vor der Nachwelt—■ sie, die vormals Zaghaften, Furchtsamen und izt Wü­ thigen, Furchtlosen, — sie, die in ihrem Erkennen und Glauben zuvor Schwachen und Unsicher», izt Vesten und Starken — sie, die gewesenen Lcrnlinge, denen jeder, der ihre Geschichte kennt, de» Lehrer zu früh ent­ rissen glauben möchte — sie izt selbst als Lehrer auftretend und in seinem Geiste sein angefangencs Werk sortsezend und erweiternd. Wer staunt nicht und zwar mit Recht, über die Helden unsrer Kirchenverbesserung? Allein hier ist wahrlich mehr denn diese waren! Das Reich Gottes, nur erst noch einem Senfkorn gleich, mußte aus der Erstvrbenhcit, in die es vor den Augen der Welt gesunken war, erwckt und allen Stürmen, die auf dasselbe eindrangen, zu Truz, zum herrlichen, schat­ tenden und fruchtbringenden Baume herangezogen wer­ den. Welch ein Werk! Und seht diese Manner Gortes, die dazu den großen Auftrag haben, seht sie mit der

159 Miene der Siegesgewißheit hervortreten und sich zur Predigt des Evangeliums anschiken! „Ich will euch nicht Waisen lassen" hatte ihr scheidender Meister zu ihnen gesprochen; „ich will euch einen andern Beistand geben, den Geist der Wahrheit, daß er bei euch bleibe ewiglich." Und nun fühlen sie sich selbstständig, eigen, kräftig, erhöhet, gvttbegeistert, fühlen und erfahren die Wesentlichkeit des Geistes ihres Herren in sich — und rufen unter ihre Zeitgenossen hinaus: „Gott in Christus das Heil verWelt! Es ist in keinem andern das Heil!" — rufen's mit einer Selbst­ vergessenheit und Selbstverläugnung, mit einer Stand­

haftigkeit und einer sich opfernden Liebe, wovon wir gemeine Menschen, wir, die, wenn's wohl geht, zweien Herren dienen und Christenthum mit Weltgesinntheit zusammenschmelzen, keinen Begriff haben,— rufen's fort, und Schmach und Verfolgung, Armuth und Flüchtig­ sein, Hunger und Blöße, Beraubung alles dessen, was sonst in irdischen Wünschen liegt, ja selbst der in allen Gestalten drohende Tod, vermögen nicht, sie davon abzuschreken---------- warum? — sie waren voll hei­ ligen Geistes. —

Bedarfst du noch weiter Zeugniß, m. w. Z.!? — Lies Petrus Rede am Pfingsttage, Paulus Vortrag in Athen, Paulus Abschied von den Aeltesten zu Ephesus, — lies die ganze Erzählung der Thaten und Schiksale

der Boten Jesus Christus — lies die Briefe Paulus, Petrus, Johannes, Jakobus und Judas — und wenn dir hier nicht durchweg ein höherer, heiliger Geist entgegcnwchct, ein Geist, den du um deiner eignen Natur willen, auch wenn du ihn noch nicht hast, doch un­ endlich hoch achten must — dann darfst du glauben, daß das Christenthum und du einander nichts ange­ hen. O Theuerste! Nichtachtung des Christenthums

160

ist bloße Unbekanntheit mit ihm. Es kennen und an seine Gottesgeistigkeit glauben, ist Eins nur!

Doch ich muß abbrechen und zu einem folgenden Gedanken übergehen. Juden und Judengenossen aus den verschiedensten Weltgegenden waren Augen t und Ohrenzeugen des Pfingstvorganges — und alle hörten in ihren eignen Mundarten die großen Thaten Gottes preisen. Schon war also die neue Heilsanstalt über die Gränzen von Palästina hinausgeschritten und bald sollte es nun auch heißen: Wenn ihr, Juden, uns nicht aufnehmet, so wenden wir uns zu den Helden; bald sollte das Ge­ bot des Herrn vollzogen zu werden beginnen: Gehet hin und lehret alle Völker! Bald seine Verheißung erfüllt zu werden anfangen: Es wird ein Hirt und eine Heerde sein! — Allgemeinheit des Christenthums! Erhe­ bender Gedanke! So wie alle Menschen, wie unglei­ chen Grades von Naturanlagen und Geistesbildung sie auch seien, wie immerhin sie sich durch die mannichfachste Verschiedenheit der Zustande und Verhältnisse von einander unterscheiden mögen, doch alle desselben Bil­ des theilhaftig, alle Menschen sind, so können auch alle Christen sein! In Christus ist nicht hoch und niedrig, reich und arm, gelehrt und ungelehrt — es ist ein Herr, ein Geist, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater, der da ist über Alle, durch Alle, in Allen. Mag von allem Uebrigen, was Men­ schen sich geistig aneignen können, gesagt werden: Es ist nicht Alles für Alle — vom Christenth u m soll dies nicht gelten. Es sollte ein Quell sein, daraus alle schöpfen können, leicht zugänglich für den Schwachen und Einfältigen, tief, ja unergründlich für den Lief-

161

denker— ein Ruhepunkt für den, der bes Tages äußre Last und Hize getragen, wie für den, der sich in den labyrinthischen Gangen des Forschens müde geirrt, — eine Stüze für die Tugend dessen, dem keine andre Stüje jemals dafür bekannt geworden, wie auch dem, der alle kennen gelernt, selbst erprobt und — zu schwach befunden hat. Wo ist einer, der die Wahrheiten des Evangeliums, wenn er überhaupt denken und empfinden kann, nicht verstehen und nicht fühlen sollte? aber auch wo einer, der sie auszudenken, aüsjuempfinden vermag, so daß er sagen dürfte: das genügt mir nicht mehr, ist mir klein, flach und genußleer geworden. Gebt mir Höheres und Kraftvolleres!? Wo ist eine Lage, ein Verhältniß, ein Beruf eines Menschen, die nicht vom Christenthum Vortheil ziehen könnten? Welches Mensch­ liche wird nicht durch dasselbe gelautert, berichtigt, er­ gänzt und verklärt? Wie richtig schließt dort Paulus sogar alltägliche Dinge in den Bereich des Christen­ thums ein: „Ihr esset oder trinket, oder was ihr thut, so thut es in dem Namen Jesus Christus, zur Ehre Gottes des Vaters!" Und wo ist ein Flck auf der Erde von Menschen bewohnt, daß nicht die Güter des Chri­ stenthums ihre Stelle, die Gebote desselben ihre An­ wendung und seine Früchte ein weites offenes Feld fan­ den? Wo ist nicht Sünde zu tilgen? wo nicht Sünde zu vergeben ? Wo thut das Gebot der Liebe nicht noth? Die Früchte des Geistes — Liebe, Freude, Friede, Ge­ duld, Glaube, Sanftmuth, Keuschheit — sind das nicht Tugenden, die auf dem ganzen Erdenrunbe zu Hause sein können und am kalten Pol wie unter der Elühhize der Sonnenlinie im Herzen des Menschen einen Himmel bereiten müssen? So, m. Th., eignet sich das Christenthum zum glüklichsten Elemente für alle Gei­ ster auf Erden! Und eben diese Allgemeinheit schließt auch, wie schon U.

11

162 — ««gedeutet worden, jene Besondernheit in sich, die, um Allen Alles zu sein, sich in tausend Gestalten darbietet. — Die Zuhörer der Apostel waren erstaunt, Jeder in seinem eigenen Dialekte dieselbe frohe Kunde vernehmen ju kön­ nen. Aber was ist, m. Fr.! die geistige Verschiedenheit der Menschen anderes, als eben so eine Verschiedenheit der Mundarten — unwesentlich an sich uud nnr dem kleinlichen Menschen groß? Du kannst das Christenthum nicht ganz in der Form genießen, in der es dieses, je­ nes Kirchensystem dir giebt — so genieß' es in deiner eig­ nen ! Du beunruhigst dich vielleicht, nicht auf die Weise Christ sein zu können, wie dieser, jener es ist, den du dir gleichsam zum Muster wähltest — sei eS doch, wie du es sein kannst! Nimm das Evangelium einfaltig vor dich, in dem vesten Glauben, daß wenn es von Gott fei, es durchaus auch für dich sein müsse — und dann merke auf, ob es nicht auch zu dir, in der Sprache deines Geistes und Gemüthes rede, dich nach deiner Empfänglichkeit erfasse und anrege; und nach Art und Grad deines Bedürfnisses stärke und erfreue. Du wirst erfahren, daß auch diesfalls Gott reich genug sei für Alle und ein Vergelter Allen, die ihn suchen. Du wirst immer mehr lernen, dich selbst aus dem Chri­ stenthum zu belehren, wirst Gottes nicht der Menschen Zögling werden und ein Eigenthum dir gewinnen, im großen, allgemeinen, unausschließenden Reiche Gottes.

Nun, m. And.! noch zu einem vierten Gedanken, zu dem unser Textabschnitt uns veranlaßt! — Während die meisten Zuhörer der Apostel über das, was diese vortrugen und über die Weise, in der sie es vortru­ gen, erstaunten und für einmal bei einfacher Verwunde­ rung stehen blieben, bis der Verfolg die Sache klar machen würde, fuhren Einige sogleich mit dem Wiz

163 Worte über den Ausdruk der Begeisterung der Apostel her r ,,Sie sind voll süßen Weines." So wurde denn

auch diese herrliche Offenbarung des Geistes Gottes in und durch Menschen besudelt, von niedrigem Spott anderer Menschen, die keine Ahnung von jenes Geistes Wesen und Wirkung haben konnten. Und Spott und Hohn war bekanntlich nur das Vorspiel, das Losungsjeichen zu Dedrükung und Verfolgung, die

dem

Christenthum

schon

gleich

im

Anfang

reichlich

Wiederfuhren. Auch diese auffallende Erscheinung beim Auftreten des Christenthums kann uns, naher betrachtet, nicht befremden. Sie ist in der Ordnung und wenn auch nicht im Christenthum selbst begründet, doch von seinem Offenbarwerden unabtrennlich. Wer davon überzeugt ist, den kann sie auch nicht im mindesten beunruhigen in seinem Glauben. Wie schon gesagt wurde, muß an ekner solchen Erscheinung wie bas Christenthum ist, die Gesinnung aller derer, zu denen es kommt, sich erproben und an den Tag geben. So wie der, dessen Seele nach geistigen, himmlischen Gütern verlangt, durch die Offenbarung solcher, kräftig und wohlthätig ange­ regt wird, so wird derjenige, der jene Güter gar nicht als solche anerkennt, durch alles, was sich ihren Namen giebt, nur widerlich angesprochen und zum Spott, oder, wenn er von jener Erscheinung wohl gar Ein­ griffe in seine eigenen Genüsse, Güter und Bestrebungen fürchtet, zum boshaften Widerstande gereizt. ES muß also zugehen, m. Fr.!; denn was hat das Licht für Gemeinschaft mit der Finsterniß? und was wäre es für Gewinn, wenn bas göttliche Leben sich mit dem Ungöttlichen vermischte, ja demselben sich nachbequemte und unterordnete? Es kann dem Christenthum gar nicht

daran gelegen sein, von allen Menschen, so wie sie nun einmal sind, geehrt zu werden, oder vielmehr, es

11*

— 164 kann keine Verehrer, als nur wahrhafte wünschen. Seine Feinde ehren es aber gerade dadurch, daß eben sie seine Feinde sind. O, Schwachmüthiger! was klagst du, daß das Christenthum fortan so viele Gleichgültigkeit, Verachtung und Widerstand finden müsse — und was las­ sest du darüber Zweifel aufsteigen in deinem Herjen? Haben sie nicht auch den göttlichen Meister Beelzebub gescholten — und war er darum weniger göttlich? Muß nicht auch in dieser, ja vornehmlich in dieser Hinsicht der Mensch im Streite sein auf Erden? Spricht nicht der gröste Apostel auch von einer geistlichen Waffenrüstung gegen die Ungläubigen und dir Feinde des Evangeliums? Auf denn, rüste dich! Kämpfe nach

außen und m*..') innen den edeln Kampf des Glaubens! Es wird Niemand gekrönt, er kämpfe denn recht. Im Kampfe wachsen die Kräfte, und nur wenn du mit dem Feinde dich missest, lernst du seine Blöße, seine Nich­ tigkeit kennen; du aber wirst alsdann immer vester gewurzelt, immer weniger bewegbar durch jeden Wind der Lehre und jedes Zischeln des Zweifels und Spottes, und lernst deine Ueberzeugung auf Felscngrund bauen — lassest dann übrigens dein Zeitalter seinen Gang gehen und Walzen und Unkraut zusammen, dem Tage der Acrnte entgegen wachsen — gewiß, daß das verspot­ tete Christenthum den Spott überleben werde — ja für dich selbst darauf bedacht, auch aus widerchrist­ lichem Thun und Treiben noch Vortheil für deine eigene Christlichkeit zu schöpfen, der Ueberzeugung gemäß, daß denen die Golt lieben, alle Dinge jum Besten dienen müssen.

Wenig ist es, was wir heute, durch unsern Text­ abschnitt veranlaßt, zum Ruhme des Christenthums ge-

— 165



sagt haben — aber auch schon dieses Wenige konnte uns zeigen, daß noch Wenigeres davon in uns selbst lebendig, bei uns selbst wirksam ist. Unsre, mit den Forderungen eines welklichgcsinnten Lebens, so höflich und klüglich gepaarte und versöhnte Religiosität steht im tiefen Schatten, wenn sie mit derjenigen verglichen werden soll, die dem ersten Pfingstsegcn entsprvßte. Soll denn aber nicht jedesmal das Fest, das uns daran erinnert, noch Etwas jenes Segens auch über uns ausgießen? Soll nicht vom Dundesaltare des Herrn der Kirche sein Geist uns anwehen? Zu den Aposteln sprach er r Nehmet hin den heiligen Geist! Er sprach's auch für Alle die, die durch ihr Wort an ihn gläubig werden würden. Das war sein größtes Vermächtnis für seine Gemeine — und kein größerer Wunsch konnte demnach von seinen Boten in seinem Namen für die Gläubigen ausgesprochen werden, als der: „Des hei­ ligen Geistes Gemeinschaft sei mit euch Allen! ** — Sie sei auch mit uns, die wir jezt mit einander in die Gemeinschaft des Genusses der Zeichen der Liebe des Herrn treten wollen! Amen!

166

Text r

Johannes VI, 53—64.

Andächtige! §88enn es nicht so kleinlich wäre, bei der Predigt des Evangeliums nach den Regeln einer gewissen feinern Schiklichkeit sich vorzüglich zu richten; wenn es nicht in der Art und Kraft der Religion läge/ daß sie unsern Sinn über Nebendinge und Zufälligkeiten weit hinaushöbe zu jener Begeisterung, in der uns nur das Wahre schön, das Gute groß und das Göttliche allein einer ernstern Aufmerksamkeit werth erscheint, so könnte leicht auch der Lehrer der Religion versucht werden, bei der Aus­ wahl eines Grundspruches seines Vortrags sich erst rechts und links umzusehen, ob nicht hier eine schwache Seele und dort ein starker Geist, hier ein Verächter des Chri­ stenthums und dort ein Vergötterer dieser oder jener alten oder neuen Philosophie, hier ein von sogenannter Lebens­ weisheit übersättigter und dort ein von süßer Poesie berauschter Sinn sich daran ärgern und sich anschiken werden, alle wie aus einem Munde ihm entgegenzurufen: Das ist eine harte Rede! Wer mag sie hören? — Jesus Christus kehrte sich nicht an solche Einwendun­ gen und die Verkündiger seiner Lehre sind an sein Beispiel gewiesen. — Ob sie dieselbe in einem Gewände und einer Farbe, wie sie ihre Zeit mitbringt, darstcllcn, das ist freilich unwesentlich. Nicht einmal die Formen der Apostel waren sich völlig gleich — und w i r sollten uns nach 1800 Jahren in ihre Sylben und Buchstaben zwängen lassen? Das Christenthum wird in jedem Zeit­ alter seine Außenseite, das, was zur bloßen Darstellungswcisc gehört, ändern; es wird von Zeit zu Zeit gleichsam in einer neuen Ausgabe erscheinen. Wenn



167 —

dann aber Christenlehrer in Schrift vnd Predigt den Geist, das Wesen, die Grundjüge des Christen« thums der wandelbaren Kritik des Zeitgeistes unterwer­ fen, wenn sie ewige Wahrheiten nach zeitlichen Maaß­ stäben juschnizeln wollen, wenn sie diese, jene Ansicht, die, wie der Kikajon des Jonas, in einer Nacht ward und in der andern wieder verderben wird, auf den Thron sezen und das Christenthum zu deren Dienerin ernie­ drigen; wenn sie, um einiger Schwacher willen, die stark heißen, eine dürre Moral, die weder Leben, noch Kraft, noch Trost hat und giebt, ihren Zuhörern statt des achten Geistes der Religion verkaufen und jene höchstens noch mit einigen Flitterblumen aus einer ihnen vom Hören­ sagen bekannten edler» und größer« Denkweise verzie­ ren — dann mag man sich des Wortes Paulus erinnern, der vor den Wortklaubereien jener Menschen warnt, „die zerrüttete Sinne haben und der Wahrheit entfremdet sind, die da meinen, Gottseligkeit sei ein Gewerbe — und in Rüksicht derer er seinem Timotheus zuruft: „Entschlage dich ihrer!" Ja, sei es immerhin im Geschmak unsrer vielgelehr­ ten, kunstreichen und kraftarmen Zeit, jenes kindische und unwürdige Verschwemmen und Versüßen des groß­ artigen, urkraftigen Evangeliums, so laßt uns gleich­ wohl uns ferne davon halten und lieber vest und konse­ quent uns des ganzen Christenthums entschlagcn, oder aber, wenn wir dies nicht können, ihm auch die ihm gebührende Ehre nicht vorenthalten! „Wer mich ehret vor den Menschen," sagt Christus, „den will ich auch ehren vor meinem himmlischen Vater." Nach diesen unumwundenen Aeußerungen werdet ihr, Andächtige! euch nicht mehr wundern, warum ich unsrer Betrachtung einen Kcaftspruch Jesus zum Grunde legte, der der christlichen Kanzel beinahe fremd geworden ist. — Aber noch einmal: Alles oder Nichts! „Wer nicht für

168 mich ist, der ist wider mich," sagt mit tiefem Sinne Christus. Das Christenthum ist zu groß und zu gut für eine Verstümmelung nach der Laune irgend eines Zeit» geistes. Wir haben heute Abendmahl gefeiert. Daher die Wahl unsers Dorspruches. Es wird nicht unschiklich sein, wenn wir zum Nachklang unserer Feier ein Wort Christus vernehmen über die geistige Vereinigung mit ihm. — Dabei sei mir erlaubt, der gewöhnlichen Ordnung einer Predigt zuwider, zwei nicht unmittelbar zusammengehörende Punkte aus dem Verlesenen auszuhe» den und namentlich zu besprechen: 1. die harte Rede, 2. derselben tiefen Sinn und herrliche Anwendung. Möge unser Reden und unser Hören vom Herrn ge­ segnet sein!

I. Die harte Rede. Jesus war, nach einer aus­ gezeichneten Erweisung seiner Hohheit und Liebe, wel­ cher zufolge ihn das Volk zum König Israels hatte ausrufen wollen — worin er ihnen freilich nicht ent­ sprach — von den Schaaren, denen er entgangen war, mit neuem Eifer aufgesucht worden, und immer bereit, seines VaterS Willen zu vollbringen, suchte er auch izt wieder die Lehre vom Himmelreich ihnen ans Herz zu le­ gen. „Ich weiß wohl," begann er, „daß ihr nicht, weil ihr Zeichen meiner göttlichen Sendung gesehen, mir so nachgehet, sondern weil ihr von jenen Broten satt wor­ den seid. Gebt euch doch nicht so sehr Mühe um die Nahrung eures hinfälligen Leibes, sondern vielmehr um die unvergängliche Nahrung des ewigen Lebens, die der Mcnschensohn euch mittheilen will. Denn dazu hat ihn der Vater, nämlich Gott, bevollmächtigt." Sie erwie-

— 169 Sekte« r Wie müssen wir es denn angehen, um Gottes Werk zu wirken? Jesus? „Das ist Gottes Werk, daß ihr seinem Gesandten glaubet." Sie: So gieb uns ein# mal ein rechtes, beglaubigendes Wunderlichen deiner Sendung; so etwa, wie Moses, von dem es dort heißt: Er gab ihnen Brot vom Himmel zu essen. — Jesus: „Ich versichere euch: nicht Moses hat euch wahres Himmelbrot gegeben. Nur mein Vater giebt es. Der, der vom Himmel kam und der Welt Leben giebt, der ist dieses himmlische Brot." Die Juden: Herr! so gieb uns doch dieses! — Jesus: „Ich bin es selbst, dieses Lebenöbrot. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten." Und so fuhr Jesus fort, ihnen von der wahren Speise zum ewigen Leben zu reden und wie sie statt alles andern, von dem sie Befriedigung erwarten, nur darnach verlangen, nur dieses suchen sollten. Sie verstanden ihn nicht und fragten ihn, mit immer wenigerer Kunst und Lust ihn zu verstehen, und mit immer steigendem Unwillen, daß er nicht das antworten wollte, was sie schon wußten oder was wenigstens in ihren Jdeenkreis paßte. Er aber antwortete ihnen in immer gchaltvollern, aber auch immer dunklern und schwerern Worten und sagte ihnen endlich gerade zu (wie wir schon beim Anfänge unsers Vortrages es aus Johannes Evangelium vorgelesen haben), daß nur, wer sein Fleisch esse und sein Blut trinke, das ewige Leben habe. — Nun war ihre Geduld zu Ende. Auch so gar kein Entgegen­ kommen zu ihrer Vorstellungsweise; so gar kein Beque­ men zu dem Wohlhergebrachten; so gar nichts, was ihrem zu neuem, freiem, kühnem, tiefsinnigem Denken so tragen und unaufgelegten Sinn entsprochen oder ihren Vorurtheilen geschmeichelt hätte! „Das ist eine harte Rede," sagten sie; „wer wollte da länger zuhören

170 können?"

Vergeblich erinnerte

sie Jesus,

nicht am

Buchstaben zu kleben, sondern in den Geist seiner Rede einjudringen. Sie konnten nicht, schien es wenigstens. In der That aber konnten sie nicht, weil sie nicht wollten. Darum überließen sie sich erst dem Aerger, dann dem Kaltsinne gegen ihn. Die Erzählung sagt uns: Von da an giengen seiner Jünger viele hinter

sich und wandelten hinfort nicht mehr mit ihm. — Merkwürdige

Thatsache!

Tief geprägt

mit dem

Stempel der Wahrheit! Spiegelbild und Prophezei für alle kommenden Zeiten! Charakteristisches Gemälde unzähliger Menschen auch unserer Zeit!

Ja geradeso sind die Kern r und Kraftstellen unsrer Evangelien, die sinnvollsten, unerschöpflichsten Reden unsers Herrn Jesus Christus nicht etwa nur Juden ein Aergerniß und Heiden eine Thorheit, sondern einer

Menge von Christen nicht hören mögen.

selbst harte Reben,

die

sie

Der Grund ist ebenderselbe, wenn schon in andrer Gestalt. Den Juden lag die Deke Moses auf den Augen. Was mit dem sehr vergröberten, mißzeichne,

ten, ausdrukslosen Schattenriß, der ihnen noch von der herrlichen Offenbarung Jehvva's übrig geblieben

war, nicht zusammenstimmte, dem verschlossen sie Aug' und Ohr. Was in jene Formen und Bilder, in jene Gebräuche und Geseze für sie hineingelegk war, das hatten sie nie erfaßt und bas Feld ihrer Religion lag darum seit undenklichen Zeiten voller Todtengcbeine. Immerhin mochte Christus versichern, daß er nicht ge­ kommen sei, das Ecsez und die Propheten aufzulösen, sondern sie zu erfüllen — sie glaubten nun einmal nicht an ihn, und ihre Verkehrtheit stellte sich mit allen Waffen der Finsterniß gegen ihn zur Wehre. „Obwohl

et in sein Eigenthum gekommen war, haben ihn die

171 — Seinen doch nicht ausgenommen." Jesus Wort war ihnen zu neu, zu groß, zu sehr über ihren Horizont, zu sehr in scheinbarem Gegensaze mit ihrem bisherigen Glauben. Daß es mit Vem Geist ihrer alten Religivnsanstalt in seinen Grundzügen eins und nur eine

Fortsezung des in jener angefangenen Erziehungsplanes Gottes, nur eine Erweiterung, Veredlung und Ver­ vollständigung dessen sei, was sie bisher gehabt hatten,

das vermochten sie nicht zu ahnen, eben weil sie in den Geist ihrer bisherigen Religionsverfassung niemals eingedrungen waren. Doch seien wir nicht zu ungehalten auf sie, meine Theuren! — Wir haben ein achtzehnhundertjahriges Christenthum, das in der That sehr altersschwach aus­ sieht. Neben ihm ist die schöne Pflanz« der Sinnlich­ keils - und Verstandeskultur ausgewachsen und hat ihm unendlich viel Lebenssaft entzogen. Unsre Tugenden sind bürgerliche Tugenden und der Damm gegen allzuwilde Siktenverderbniß entlehnt seine Haltbarkeit aus der izigen Gestaltung feiner, gesitteter Lebensver­ haltnisse. Dabei bleiben wir denn auch redlich stehen und müssen uns, so gut wie unsre weniger gebildeten Vorfahren, nachsagen lassen, daß wir uns in Bezie­ hung auf unser Tiefstes, Edelstes, den Kern und das Grundwesen des Menschen und seine Entwiklung und sein Leben nicht über das Mittelmässige, oft nicht einmal über das Gemeine erheben und neben der vielen und lauten Unzufriedenheit, die denn doch immer über

unsern so hoch gepriesenen Zustand allenthalben sich vernehmen läßt, sind wir hinsichtlich der Gründe und

Ursachen dieser Unzufriedenheit gleichwohl von einer unbe­ greiflichen, lächerlichen Trägheit und satten, kalten Ruhe bcherscht. Zudem haben wir uns aus unsrer, zwar sehr bereicherten, aber immerhin, was das Wesentliche betrifft, höchst dürftigen Kenntniß der Natur und auS

172

der noch dürftigern Kenntniß des menschlichen Griffes ein Lehrgebäude von Säzen zusammengestoppelt, das zwar den tiefen Denker nichts weniger als befriedigt, aber einer Legion von Halbdenkern Dreistigkeit genug einflößt, zu bestimmen, was Gott sein und nicht sein, thun und nicht thun könne, wie die Welt bis in ihre fernsten Weiten hinaus beschaffen sein müsse, wie der Mensch sich von jeher nothwendig habe entwikeln, wie Gott ihn habe so und nicht anders erziehen und warum er gerade diese und keine andern Mittel in diese Erziehung habe legen müssen; wie es auch künftig unfehlbar in der Welt nach den und den ewigen Ecsezcn hergehen werde, wie demzufolge das ganze physische Weltall, zvsammt selbst dem Geisterrcich eine wohlgeordnete Maschine sei, deren Einrichtung nun kein Geheimniß mehr genannt werden dürfe — und wie endlich es nun einmal au der Zeit wäre, vom Christenthum alles dasjenige abzu­ streifen, was bei den Kinderschuhen eines unmündigen Zeitalters zwar gute Dienste geleistet habe, nun aber vor dem Lichte der Vernunft als bloßes Phantasiespiel, als kühnes, orientalisches Bild, als enthusiastische Ueber­ treibung und schöne Schwärmerei erscheine. — So meine Freunde! urtheilen unter der Hand viele Tausende. So wird in Büchern geredet, so von Kanzeln gespro­ chen, so die Jugend unterrichtet, so das hohe Ziel des Christenthums in den Dunstkreis der Alltäglichkeit heruntergezogen und so das, was sich in demselben nicht verfiächen und entgeistern läßt, eine harte Rede, ein unerträgliches Wort genannt und als solches bet Seite gestellt. Doch genug und vielleicht schon zuviel!

Wir gehen zum II. Theil unsrer Betrachtung über und suchen vertrauensvoll den Sinn der harren Rede Jesus zu ergründen. Es ist derselbe

173 —

n. ein tiefer Sinn und von herrlicher Anwendung, So vieles wir auch zugeben mögen der Bildlichkeit des Vortrages Jesus und der Sprache seiner überhaupt, und so gerne wir zugestehen, daß sich manches, was seine Person betrifft, nicht völlig befriedigend erklären lasse, so ist doch eines klar aus allen seinen Aeußerungen, aus seinem ganzen Plan und aus seinem Leben, daß er durchaus in besonderm Sinne als ein Offenba­ rer göttlicher Wahrheit angesehen sein wollte. Er spricht unter zu mannigfaltigen Ausdruksarten davon und kommt so unaufhörlich selbst wieder darauf zurük, daß eine gesunde Wahrnehmungsgabe den Sinn seiner von sich selbst aufgestellten Behauptungen unmöglich ver­ fehlen kann. Er nennt sich das Licht der Welt, zu erleuchten jeglichen Menschen, der in diese Welt komme, nennt sich den cingebornen, einzigartigen Sohn des himmlischen Vaters, sagt, er sei ausdrüklich von diesem in dtt Welt gesandt, um diese zu belehren, sie zu sich selbst und zu Gott zurükzubringen, geistig zu erlösen, zu erneuern, zu heiligen und dadurch unendlich zu beseligen. Er sagt, daß er demnach nicht um seinetwillen, sondern nur um seines Vaters, oder vielmehr um der Menschen willen hier sei, d. h. um unter diesen seines Vaters Werk auszurichten; sagt, daß wer zum Vater kommen wolle, ihn als den Weg dazu zu betrachten habe; daß, wer ihn sehe, den Vater sehe, wer ihn ehre und liebe, den Vater ehre und liebe, wer mit ihm eins sei, es auch mit dem himmlischen Vater sei; baß also er als der unbeschrankte und vollkommne Bevollmächtigte der Gottheit auf Erden, dem das ganze Werk der Wiederherstellung der Menschheit vom Vater übergeben sei, angesehen werden müsse, und verheißt demnach allen denen, die an ihn sich anschließen, ihm glauben, ihm leben, die sicherste und völligste Er-



174

-

reichung dessen, was der Menschengeist und das Men» schenherz so unabtreiblich und so sehnsuchtsvoll ju suchen durchweinen innern Drang von jeher angewiesen war. Er nennt sich deswegen auch auf die allereinfachste und bündigste Weise das Leben und baS Heil der

Welt. — Freunde! was sind uns diese Reden?— Harte Re» den oder aber Worte voll Geist und Leben ? Hat auch uns schon irgend eine Halbaufklärung es unmöglich gemacht, an die Möglichkeit einer höhern Natur in Menschen­ gestalt zu glauben und die Wirklichkeit dieser höhern Natur in Jesus zu sehen? Oder glauben wir lieber,

um uns den Schein von Vernunft zu geben,- in der That aber allem gesunden Menschenverstände zum Truz, daß diese Lehre und dies Leben, diese Stiftung und geistige Schöpfung, das ganz beispiellose, ganz himmlische Wesen aus einem gewöhnlichen Menschen, der mit Gott in keiner nähern Verbindung

gestanden, herzuleiten sei? Jawohl, macht euch denn einmal selbst besser, ihr Vernunflhclden! und erhebt, vergeistigt, veredelt denn doch auch einmal die Welt, die ee so sehr bedürftig wäre! Thun, thun müsset ihr, was ihr saget, und nicht nur eure Denkzedel breit machen! An euer« Früchten muß man euch erkennen,

an Früchten, die die Welt umschaffen, die Welt bese­ ligen, wenn wir glauben sollen, daß Christus nur eures­ gleichen gewesen. Beschämet ihn; überflieget ihn und wir wollen euch heute noch unser Knie beugen! Ach Freunde! lassen wir sie doch, die losen Schwä-

zer, die Pharisäer und Sadduzäer unsrer Zeit, denen vor lauter Vernunft doch leider die Vernunft entwichen zu sein scheint, und wenden wir uns mit Petrus Worten zu Jesus, „Herr! wohin sollten wir gehen?

Du hast Worte des ewigen Lebens. Wir haben geglaubt, ja erkannt, baß du seiest Christus, der Sohn des

175 lebendigen Gottes!"— O Theure! laßt uns unsern innern Sinn erheben zu ihm, diesem Abglanz der ewi­ gen Gottheit, diesem reinen Ebenbild des Vaters! Laßt uns erkennen, daß wir viel, sehr viel von ihm zu lernen haben und daß wir leichter, kürzer, vollständiger bet ihm finden, was wtr andernorts nur unsicher und mit vielfacher Gefahr des Irrthums suchen müßten. Einmal ihn erkannt in seiner idealen Humanität und göttlichen Hohheit, als den unerreichbaren Gottessohn und dennoch zugleich als den traulichen, erfaßbaren, verstehbaren, wenn ich so sagen darf, genießbaren Freund und Bruder — einmal ihn erkannt als den Weg, nicht nur als einen gelegentlich auch etwa zu berüksichtigenden, sondern als den vorzüglichen, sichern Weg zu unsrer Be­ stimmung strahlendem Ziel, als den sichtbaren Bürgen unsers heiligen Glaubens, als den lebendigen Erfahrungs­ beweis für unsre grösten, erhebendsten Ahnungen und Hoffnungen, als den Stifter unsers ewigen Heils — ein­ mal, sag' ich, ihn als solchen erkannt und wir werden aufhören, im Evangelium harte Reden, schwere Worte, überspannte Forderungen, ungereimte Prätensionen zu finden — aber finden werden wir den lichtvollsten, be­ friedigendsten Zusammenhang in sich, die vollkommenste Harmonie mit der Welt und mit uns, mit unserm We­ sen, unsern Anlagen und Bedürfnissen und die schönste Lösung aller Räthsel unsers Seins und Lebens. So werden wir denn auch immer fähiger werden zu einem wirklichen Genusse Jesus. Was will er mit dem Worte: Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, der hat das Leben? Jeder ist bekanntlich seiner Worte bester Ausleger. Er selbst sagt denn am Ende seiner Belehrung, baß das Fleisch kein nüze sei, baß nur der Geist lebendig mache und daß die Worte, die er rede, Geist und Leben seien. — Wie also, will er mit seinem bildlichen Ausdruke sagen,



176

er nur von demjenigen leiblich genossen würde, der sein Fleisch äße, sein Blut tränke, so sei auch da nur ein geistiger Genuß seiner möglich und wirklich, wo man sich durch geistiges Annähern zu ihm, durch Ein» dringen in seinen Sinn und Geist, durch ein immer anhaltenderes Beschauen, ein immer innigeres Auffassen seiner eigenthümlichen Person und seines unvergleichbar erhabenen Werkes gleichsam in ihn hineinbilde, ihn, wie der Apostel Paulus sagt, anziehe, oder, wie er selbst sagt, in ihm lebe, in ihm bleibe. — Daß jener Ausspruch wirklich nicht etwa blos ein gewöhnliches Bild im Eeschmake jener Zeit gewesen und also durch» aus nicht nach dem Sinne mancher Ausleger nur von der Annahme der Lehre Jesus zu verstehen sei, be» weist der Aerger, den die Juden, zwar eines Theils über Jesus Anmaßung, dann aber auch über diesen ihnen viel zu schroffen Ausdruk selbst empfanden. — Ja, was wollen wir uns um Beweis dafür kümmern?! Die Reden Jesu sind voll von dieser Lehre der Noth» Wendigkeit eines lebendigen und belebenden Glaubens, eines innigen Anschließcns, eines wahren geistigen und gemüthlichen Genusses alles dessen, was in ihm und durch ihn sich dem Menschen offenbarte. Treffender, unmißverstehbarer kann er es doch wohl nicht bezeichnen jenes Verhältniß als mit jenem Worte: „Bleibet in mir und ich in euch. Wie das Rebschoß keine Frucht bringen kann, außer es bleibe am Weinstoke, also auch ihr nicht, außer ihr bleibet in mir." — Oder mit jener Bitte: „Vater! laß sie alle eins sein, gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir, daß auch sie in uns eins seien!" — Oder in dem noch klarern, be» zeichnendern Worte unsers Vorspruches: „Wie mich gesandt hat der lebendige Vater und ich lebe durch den Vater, also, wer mich isset, derselbe wird auch leben durch mich" — d. h. so wie ich nun einmal so, in

177 solchem Wesen, mit solchem Sein und Wandel, Sinn und Leben, Wort und That lebe, weil ich im engsten Sinne durch den Vater und um des Dakers willen lebe, so wird auch, wer mich zu genießen versteht, künftig durch mich und um meinetwillen so leben, wie er lebt, nämlich erneuert, verlebendigt, vergeistigt, frei, groß, göttlich selig. — Kann vcrstehbarer und dringen­ der gesprochen werden? Kann man der faden Ausle­ gung noch Raum geben, daß hier eine bloße Annahme der Lehre Jesus und zwar nicht um Jesus willen, sondern um der Vernunftmaßigkeit jener Lehre willen, verstanden sei?— Selig wer Aug' und Ohr hat, zu sehen und zu hören und Himmelswahrhcit von Schulwij zu unterscheiden! — Und selig seid ihr, die ihr versteht die harte Rede Jesus in unserm heutigen Evangelium und sie aufneh­ met und bewahret in einem reinen und guten Herzen! Jesus Christus sagt, ihr habet das Leben, ewiges Leben. Wer an ihn glaube, bezeugt er, wer sich mit ihm ver­ einige, könne nicht verloren gehen; in ihm bleibend, werde er göttlicher Natur theilhaftig, unendlicher Selig­ keit Erbe. Ja, es ist auch eine harte Rede Jesus, aber eine Wahrheit, die er bei allen Gelegenheiten und namentlich bei den besten, günstigsten Anlassen, in den feierlichsten Momenten seines Lebens so laut und ein­ dringend predigte, daß, wer dem Irdischen und Ungöltlichen zugewandt sei, in geistigem Tode bleibe, wer aber aus Gott geboren, oder, wie wir sagen würden, durch Gottes Gnade geistig erwckt, erhoben, belebt worden sei, ein immer sichreres, blühenderes, wirksameres Leben des Geistes hier schon erlangen, in sich tragen werde. So begreiflich diese Lehre ist, so sehr auch die Erfah­ rung bezeugt, daß nur diejenigen Fähigkeiten und Kräfte, Triebe und Bedürfnisse im Menschen recht stark und lebendig werden, die er, sei cs zum Guten oder zum

II.

12

178 Böse», in sich anregt, entwikelt und übt — dennoch

fahren wir unerbittlich fort, unser» Sinn nur der Erde zuzuwendcn, statt daß wir klüglich gaben, der Erde, was ihr, dem Himmel, was des Himmels ist; dennoch wandeln wir, ach! nur zu oft entfremdet von dem Leben, das au6 Gott ist, des Hierseine kurzen und dunkeln Weg hinab — und helfen mit dazu, unsrer Zeit den verdienten Namen der religionsgleichgtltigen zu erwerben. Doch der Herr kennet, die sein sind. Es hat zu allen Zeiten Menschen gegeben, edlere Seelen, die unter allen Lagen und Umstanden, unter allerlei Gestalten Gott suchten, ob sie ihn fühlen und finden möchten. Sie haben gefunden! — Und za allen Zeiten

seit der Erfcheiining Jesus auf Erden hat er ein Volk achter Jünger, eine wahre Heerde besessen, die an sei­ nem Lichte sich sonnten, an seiner Warme sich belebten, im Glauben an ihn ihr ganzes Wesen lauterten und vergöttlichten, denen er wirklich gegeben war zur Weis­ heit und zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur voll­ kommenen Erlösung; die denn aber auch das Salz der Erde waren und Lichter unter dem verkehrten Geschlecht ihrer Zeitgenossen. Sie haben ihres Herrn Bild an sich getragen und sind seines Gei­ stes theilhaftig gewesen. Sie haben den guten Kampf gekämpft, den Lauf wohl vollendet, im Glauben die dem Ungötllichen zugckehrte Welt überwunden.

Ihr Preis ist ihnen nicht entgangen und hat ihnen hienieden schon durch die dunkelsten Wolken ins Herz hineingelcuchtet und nun sind sie dort, wo sie ihrer Geisteeaussaat Acrnte jubelnd feiern in der Gemeinschaft dessen, den ihre Seele höher als alles ehrte und liebte. O Theure! auch an uns ergeht die jenen gewor­ dene Freudenbotschaft, diese Himmelsruftkm — Schwär-

179

Niere! dem Einen, Gotteskraft dem Andern! Im Abend­ male schien uns Jesus heute neu an's Herz reden zu wollen: Nahet euch zu mir! glaubet an mich! Oeffnet alle Sinnen euers Geistes zum Genusse meiner, als der ächten Himmelsspeise, ihr, die ihr unaustilgbaren Hunger und Durst nach Wahrheit und Recht, nach Tugend und geistiger Größe, nach bleibender Ruhe und voller Seligkeit in euch traget! Ihr werdet satt werden! Selig seid ihr! Amen!

180

Text: 1. Kor. XV, 55 und 57. „Der Tod ist verschlungen in dcn Sieg. Grab, wo ist dein Sieg? —

Tod, wo ist dein Stachel?

Gott sei Dank, der uns den Sieg

gegeben hat durch unsern Herrn Jesus Christus.

(Schwerer und leichter, nicderschlagender und erheben, der, betrübender und erfreuender zugleich wird wohl nie dem Diener der Religion sein Beruf erscheinen, als wenn er am Grabe das Wort ergreifen soll. Ein betrachtender Blik auf das pochst wichtige Ereigniß der Beerdigung, des Abschlusses eines Menschenlebens, ein Blik auf die gewöhnliche Weise, wie ein solches Ereigr niß von den Lebenden aufgefaßt und behandelt wird und dann auch auf die uns im Christenthum gegebene Auffassungsweise desselben — Gott! welch ein Stoff zu den herzergreifendsten Belehrungen und Wckungen der entgegengescztestcn Art für ihn! — Dahingegen unter dem allmächtigen Einfluß der Gewohnheit, schauen die Menschen mit Gedankenlosigkeit in die Graber derer hinab, die noch vor kurzer Zeit, als ihres Gleichen, unter ihnen wandelten, sprachen und wirkten, genossen und litten und mit ihnen im Ganzen dasselbe Schiksal theilten. Ein vorübergehendes Gefühl von Unbehaglich, feit ist oft das Einzige, was das Anschau'n des Todes in ihnen hervorbringt und wenn's hoch kommt, so mischt sich etwa eine Thräne des Mitleids gegen die durch einen Todesfall zunächst Betroffenen, durch eine Trennung schmerzlich Berührten bei, oder eine Regung des Bedauerns über den Verlust eines häuslich oder bürgerlich nüzlich gewesenen Menschen. Dann hört man eine Betrachtung an, die ein dazu bestellter über irgend einen in dem Vorfälle liegenden Gedanken öffentlich vor,

181 tragt. Man hört sie ungefähr mit gleich viel oder wenig Theilnahme, mit der man die Lehre von Gott, von seiner Vorsehung, von Jesus Christus und seinem Himmelswcrk und Himmelsreiche, die Lehre von Glaube, Liebe und Hoffnung des Christenthums anzuhören pflegt; das heißt: mit viel weniger Theilnahme, als diejenige ist, mit der man über Interessen des täglichen Lebens oder über Zeitgeschichten sprechen hört und mitspricht. So sind wir meist weit entfernt, das Wort Salomo's zu beherzigen: „Es ist besser, man gehe in das Trauer­ haus als in das Trinkhaus; denn daselbst siehet man das Ende aller Menschen und der Lebendige nimmt es zu Herzen. Es ist Trauern besser denn Lachen; denn durch Trauern wird das Herz gebessert. Das Herz der Weisen ist im Trauerhause und das der Narren ist im Hause der Freuden." Weit entfernt sind wir oft, mit David zu seufzen: „Herr, lehr' uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden!" In einem ganz andern Sinn, als Paulus es meinte, könnten viele von sich selbst sagen: Wir leben in der Welt, als lebten wir nicht in ihr; d. h., als lebten wir nicht in einer Welt des Trugs, des Scheins, der Eitelkeit und Hinfälligkeit, in der uns der bestän­ dige Wechsel dec Zeit verschlingt, ehe wir uns recht zu besinnen angefüngen haben. — Mögte nicht der Diener der Religion nur allzuoft auszurufcn sich gedrungen fühlen: Herr, wer glaubt unserm Predigen ? und sollte er, in dieser Ansicht, es nicht beklagen, daß er einer Lehre zu warten berufen sei, die unter Allem, was bei kultivirtcn Völkern zur Sprache kommt, am wenig­ sten gcschäzt und gesucht, angewandt und befolgt werde? ! So ist es leider! aber so scheint es denn doch immer noch mehr, als es ist. Wenn auf der einen Seite die uralte Thorheit nicht ausgestvrben ist, zu sagen: „Laßt uns essen und trinken; denn morgen sind

182 wir todt!" — so kann denn doch niemals die Mensch­

heit sich ganz entäußern ihrer höher» Bestimmung und niemals hört Gott auf, zur Erreichung dieser ihrer Be­

stimmung auf sie einzuwirken. Das Leben selbst schon giebt unzähligen Menschen ernsthaft genug zu fühlen, daß es selbst nicht des Lebens Zwek und leztcs Ziel sein könne, und der Tod lehrt oft auch die Unbelehrbarsten, etwas suchen, womit sie seine Schreken zu entwaffnen vermö­ gen, und wenn alle ihre Kunst dazu nicht ausreicht und ihre gepriesensten Einfalle wie dürre Stoppeln unter sei­ ner gewaltigen Sichel hinfallen, v so retten sie sich end­ lich noch gerne hinüber zu der ernstmildcn Lehrerin und Trösterin der Religion, die sie früher verachteten, weil sie, sie kennen zu lernen, sich die Mühe nicht geben mogten. So feiert sie noch izt ihre Triumpfe — nicht mit Kriegsgeschrei als die Königin der Welt, son­ dern in stillem, sanftem Wesen als die Bcseligerin der ihr zugewandten Herzen, und wer ihr einmal gchuldiget hat, o, der ist, was er scheint, o der scheint, was er ist und tragt ihrer Herrlichkeit Abglanz im erheiterten Angesicht. Ihr Wort ist seines Fußes Leuchte und ein Licht auf seinem Wege und leuchtet ihm selbst in die Gra­ ber hinab und über die Graber hinaus. Darum verkünde auch der Diener der Religion freu­ dig die ihm anvertraute Himmelebotschaft und trage sie unter seine Brüder, wo sie deren bedürfen! Das Wort

der Wahrheit wird nicht immer und nicht überall leer

ausgehen, sondern hie und da auf guten Boden fallen, den Gottes Hand selbst dafür zubercitct hat. In dieser

Zuversicht laßt es uns auch izt betrachten, da wir uns von dem Grab einer Mitchristin hicher gewandt haben! In einer Welt, die die Spuren göttlicher Leitung trägt,

barfauch dieses Zusammentreffen uns nicht gleichgiltig Vorkommen. Der Vater des Lichte und aller guten Gaben segne unser Vornehmen!

183 Lenken wir unsern Dlik vorerst auf den besondern Todesfall, der uns zu diesen Betrachtungen veranlaßt

hat! (Folgte die Verlesung der Personalien und der Zur spruch an die nächsten Verwandten der Verstorbenen.) Unser Nachdenken beschäftige sich Tode, auS menschlichem und Standpunkt angesehen.

nun mit dem christlichem

Wir betrachten demnach: a) den Sieg des Todes über den Menschen, b) den Sieg des Christen über den Tod.

Tief fühlen wir in des Todes Angesicht die Unvollkommenheiten und Widersprüche dieser sublunarischen Welt. Sie treten nie scharfer hervor als am Sterbe­ lager und auf dem lezten Wege, von dem Niemand zurükkehrt. Waö ist größer unter allen irdischen Gü­

tern, als das gesellige Beisammensein der Menschen, als der Genuß, den sie sich, in von Gott selbst angeordneten Verhältnissen und Verbindungen des Lebens gewahren, der Genuß ehelicher, älterlicher, kindlicher, freundschaft­ licher Liebe? Was fürchtet der, der unter ihrem Fittig wohnt? Er steht auf der Höhe des irdischen Lebens! Was Elemente ihm rauben, der Gang des Schiksals ihm entreißt, selbst feindselige Menschen ihm thun, es ist selten so wesentlich als dasjenige, durch dessen Best; er sich entschädigt fühlt. Am Arm der Liebe trägt er alles, verschmerzt er alles, entbehrt er alles leichter. Ihr belebender Hauch ermuntert die gesunkne Kraft, richtet den niedergebeugten Muth wieder auf und in kranken Tagen ist der Unsrigen treue Liebe oft unser einziges irdisches, aber ein wahrhaft erquikendes Labsal. Der Tod zerreißt diese heiligen Verhältnisse. Da stehn wir fremd und leer in der Welt. Set unser Glaube an die Weisheit und Liebe des verborgenen Gottes noch so lebendig, unsre Hoffnung aus das un-

184 zerstörbare

Erbe des Himmels

noch

so

vest — das

Verlorne kehrt für uns hienieden nicht wieder und der Dlik in die Zukunft vermag nicht, uns den betrü­ benden, wehrhuendcn Eindruk der Gegenwart ganz zu entkräften oder zu vergüten. Die Heimsuchung, wenn sie da ist, scheint uns nicht Freude zu fein, sondern Traurigkeit. Dieses soll so sein und wird nie ganz wegfallen, so lange Menschen Menschen sind. Das Menschliche, das mit uns geboren wird, uns beständig

innwohnt und der uns umgebenden Außenwelt entspricht, geht immer voran. Das Göttliche, was wir im Verlauf unsers Lebens, im Gang unsrer Entwiklung in uns sich entfalten sehen können,. folgt nach. Es soll ja eben ein Licht sein in die Nacht, eine Labung dem Durst, ein Balsam der Wunde, ein Trost in der Trübsal.

Vor ihm also ist Durst und Schmerz und Nacht und Trübsal. Jenem Menschlichen entgiengen wir hienieden selbst dann nicht, wenn wir Vorbilder wären in der Heiligung und strahlende Beispiele höherer, innerer Ver­ klärung, auch wenn wir ganz dem Apostel nachsprechen

dürften: ,,Unser Wandel ist im Himmel. " Mensch sein und empfänglich sein für Freuden und Leiden, ist eins. Aber wie unendlich schwer fällt uns oft die Erfahrung des Lcztern, wenn nicht etwa blos vorübergehende Unannehmlichkeiten uns treffen, sondern wenn uns ein Labsal des Lebens versiegt, eine uns wohl­ thätig wärmende Flamme der Liebe erlischt, ein Mor­

gen, ein Abend uns aus dem Schooße häuslicher Freude an kalte Gräber wegruft, die die theuren Hüllen der Geliebten unsers Herzens verschließen! Wie mannigfach verschieden sind freilich die Grade auch dieses Leidens, je nach unsern Verhältnissen und Umständen! Ob wir die Unsern erst spät verlieren, erst

da sie in Tagen und Jahren standen, an denen sie selbst kein Wohlgefallen mehr haben konnten, erst dann, wann



185

ihr Fuß längst schon am Grabe zitterte —

oder itt der

Kraft der Jahre, da der Gedanke an ihr Scheiden uns­ rer Seele ein Fremdling war und der Schreken der Tren­ nung uns plözlich, wie ein Dieb in der Nacht, über­ raschte! — ob sie, die Theuergeliebten, uns auf langer Leidensbahn, deren zögerndes Ende wir sogar selbst mit ihnen herbei wünschen mußten, entzogen werden, oder ob sie der Ruf zum Scheiden so schnell unserm Blik entrükte, daß kaum ein Lebewohl uns noch vergönnt war! — ja selbst, ob sie uns in Umstanden verließen, die uns sie irdisch zum Theil entbehrlich machen, oder ob wir an ihnen Hilfe, Beistand, Dienstleistung und die vorzüglich­ sten Werkzeuge göttlicher Segnungen für diese Welt ver­ loren — wie sehr verschieden muß freilich bei diesen ungleichen Verhältnissen das Leiden sein, das der Tren­

nung auf dem Fuße folgt und wie wenig sind wir oft im Stande, die Tiefe des Schmerzes zu ermessen, der diesfalls unsre Brüder und Schwestern bald hie, bald da trifft, wo des Todes Sichel wieder ihre Garbe fand und sammelte! Erscheint uns aber der Tod m Beziehung auf die Unsrigen und auf unsre Verhältnisse zu ihnen feindselig, so nicht minder auch in Rüksicht auf uns selbst. — Leicht sterben Kinder, noch nicht sehr schwer Jünglinge und Jungfrauen. In höhern Jahren aber wie ungerne lassen wir uns an Todesgedanken erinnern! Wir gewöh­

nen uns so ganz hinein in dieses Leben; wir gewinnen diese oder jene Seite desselben so lieb, fühlen uns in der einen oder der andern Art des Wirkens so wohl und in unserm Genüssen so behaglich; wir fangen an, unserm Hiersein eine gewisse Bedeutsamkeit zuzuschreiben und an die ungestörte Forlsezung unsrer Thätigkeit, an die wie­ derholte Erreichung unsrer Wünsche und Absichten, an den ungetrübten Besiz unsrer Güter unser Glük gebunden zu glauben, so daß wir uns mit dem Gedanken an ein

186 plözliches Ende alles dessen beinahe nicht mehr vertraut machen können. „Süßes Leben!" — so ruft's in Tausenden — „schöne, freundliche Gewohnheit des Daseins und Wirkens, von dir soll ich scheiden?" Ungerne auch verlassen wir die Unsrigen. Wir möchten ihres Schiksals immerwährende Zeugen bleiben und auch unsrer Hande Werk immer weiter fördern, unsern

Arbeiten Dauer sichern, die Ernte unsrer Saat selbst einsammeln und neue Saaten streuen. Allein zwischen uns und diesen Aussichten stehet der Tod! — Weß ist nun das, was du gesammelt hast? und wie willst du nun wehren, baß ein Anderer zerstöre, was du erbautest? Wahrlich, meine Freunde, dick ist ein Stachel des Todes, der unzählige Herzen, und die meisten vielleicht tiefer verwundet, alS man es oft, bei m Anschein von Ruhe und EleichNwth, glauben mögte. Und doch entlehnt dieser Gedanke fein Bitteres noch aus einer tiefern Quelle, aus dem Mangel eines vesten Glaubens an Unsterblichkeit. Ja, laßt es uns nur redlich gestehen, Theure, was wir ohnehin nicht vor einander verbergen können: Es kommt uns schwer an, zu glauben, d. h. Ucbersinn» liches, in Absicht dessen wir es hienieden freilich nie bis zum Wissen bringen können, als wirklich, als gewiß anzunehmen, uns so davon zu überzeugen, als ob wir es gesehen ober sonst auf irgend eine Weise erfahren hätten. Unser sogenannte Glaube ist nur gar zu oft ein bloßes Nachsprechen dessen, was uns von Jugend an vorgesagt worden; ein bloßes flüchtiges Andenken an die Gegenstände des Glaubens,

nur um schnell genug den Sturm der Zweifel zu beschwichtigen; oder auch ein gewisses banges Sehnen, ein wehmüthiges, heimwehartiges Hingezogensein zu dem, was unsers Geistes und Herzens Bedürfniß ist. Daher bas Bestreben aller Völker und Menschen,

die

187 sich zu sanfter», feinern Empfindungen gebildet hatten, immer die Gestalt des Todes sich in möglichst freund­ liche, sanftrührcnde, Dilder zu hüllen— ein Noth­ behelf , der zu leisten schien, was er nicht leistete, indem er des Todes Bitterkeit doch nicht vertreiben konnte. Sein, Sein, Sicherheiksgefühl eines ununter­

brochenen

Seins

ist's,

wonach

der

Mensch

dür­

stet. Der Rohe, Sinnliche will immerwährendes sinn­ liches Sein; der Geistigentwikelte, Feinere, Edlere hangt nicht an diesem, schmachtet aber desto inniger nach einem höher«, reinern, licht- und lebenvollern Sein des Geistes in bessern Sphären, nach einer Verklärung seines ganzen Wesens. Seine Vernunft

ahnet Unsterblichkeit;

sein Herz

fordert sie ungestüm;

aber Sicherheit kann er sich diesfalls nicht geben. Daher, um bildlich zu reden, der Wurm, der nicht stirbt, das Feuer, das nicht verlöscht — eine Unruhe, die ihn im ganzen Leben aus Furcht des TodeS zu dessen Knechte macht. Stehe, das ist der Sieg des

Todes über uns! Und Paulus ruft doch: „Tod, wo ist dein Stachel? dein Sieg, o Grab, wo ist er? Oer Tod ist verschlungen in den Sieg!" O Ausruf, entquollen einem Gemüth voll heiliger Freude über den gewissen Triumpf des Glaubens — mögtcst du zu aller Menschen Ohren dringen und in aller Menschen Herzen schallen, daß sie still ständen und staunend fragten: Wie? was ist das?! Weher kommt diesem solche jubelnde Zuversicht? Was haben wir zu thun, um auch so selig zu werden? — Gott sei's geklagt, o theure Mitchristen, daß uns das Christenthum leider zu alt und zu kalt geworden, um auf uns noch den wohlthätigen und natürlichen

Eindruk machen zu können, den es unstreitig machte, wenn es izt zum erstenmal uns verkündigt würde! Wenn ich nichts wüßte von diesem Paulus, als daß

188

er diesen Ausspruch mit aller Vestigkeit der Ueberzeu­ gung und aller Innigkeit des Gefühls gethan hat, — Gott! wie ehrwürdig, wie heilig müßte er mir erschei­ nen! wie müßt' ich ihm im Geiste das Knie beugen, daß er glauben konnte, was Tausende zaghaft ahnen, sehnsuchtsvoll verlangen und ungläubig wieder fallen lassen. Man hat Sokrates bis in den Himmel erhoben, daß er bei Annäherung seines Endes den Göttern für seine vollkommene Genesung zu einem bessern Zustande gedankt hat — und man hört hingegen gleichgiltig einen Paulus ausrufen: ,,Dank sei (Sott, der uns den Sieg gegeben hat durch Jesus Christus, unsern Herrn!"— und einen Petrus: „Gelobet sei Gott und der Vater unsers Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung auf ein unvergängliches, unbeflektes, unverwelkliches Erbe!" Freilich muß es also zugchen. Hätten wir, statt eines vorübergehenden Unbehaglichkeitsgefühls, statt eines flüchtigen Schauers, der uns befällt, wenn das Bild des Todes uns näher als gewöhnlich gerükt wird, ein inniges, unabtreibliches, alles Andre überstimmendes Bedürfniß nach Beruhigung über dieses größte Interesse der Menschheit in uns, so würden sich auch Quellen für uns öffnen, aus denen wir dieselbe schöpfen konnten. Es hat das Wort Jesus: „Bittet, so wird euch gegeben! Suchet, so werdet ihr finden! Klopfet an, so wird euch aufgethan!" — wie alle Worte Jesus, einen viel tiefern Sinn, als wir gewöhnlich annehmen und es bezieht sich auf alle wahren, nicht bloß eingebildeten Bedürfnisse der geistigen, menschlichen Natur, denen Gott ihre Befriedigung schuf, wie er Speise dem Hunger, Trank dem Durst, Ruhe der Ermattung zugescllt hat. Darum sehen wir, daß gerade in Beziehung auf diesen edelsten Hunger und Durst, den nach Unsterb-

189 lichkeit, die Suchenden aller Zeiten und aller Völker gefunden haben, und es ist eine tröstliche Erfahrung, daß die größten und gebildetsten Geister, wenn nicht all ihr Streben von einer Leidenschaft verschlungen war, die ihnen den Sinn für alles Höhere raubte, am meisten zu jenem heiligen Glauben sich hinneigten, ihn sich immer klarer zu machen, immer vestcr zu gründen suchten. Wenn uns auch die vielen Gründe, die für diesen Glauben seit undenklichen Zeiten aüfgefunden und von Zeit zu Zeit mit neuem, fast aus allen Gebieten des menschlichen Wissens vermehrt wurden, nicht genügen, indem sie denn doch wirklich nur die schon Elam benden überzeugen, so zeigt dies wenigstens, daß, wie Paulus sagt, auch' bas Nachdenken allein schon zu einiger religiösen Einsicht führen kann und daß sich auch in dieser Hinsicht Gott keinem Volke unbezeuget gelassen habe. Dennoch heißt es auch hicfür: „Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, darin sie selig werden sollen, als allein in dem Namen Jesus Christus." — Du magst dir, lieber Zuhörer! in einem Zeitalter, in welchem man sich nicht mehr begnügen will, Je­ sus ganz einfach, wie er sich giebt, als den Gottes­ sohn und Menschensohn aufzufassen, eine Vorstellung von Jesus machen, wie du immer willst und kannst, so wirst du doch, wenn du ihn anders recht zu betrachten die Mühe nimmst, in jedem Fall ein Ideal von Geistigkeit und sittlicher Größe, mit einem Wort, von Gvttahnlichkcit in ihm wahrnehmen, und so gehe denn, wenn deine eignen Bemühungen dir die rechte, veste Ueberzeugung von Unsterblichkeit zu erwerben, nicht auercichen wollen, gehe denn zu ihm und hör' ihn darüber so oft, so klar, so warm, so ciiidringend sprechen, wie man nur von dem Wichtigsten und zugleich

190

Gewissesten sprechen kann! Begleite ihn an das Grab seines Freundes Lazarus und hör' ihn dort, innig bewegt, die trauernden Schwestern des Verstorbenen trösten: „Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben!" Hör' ihn von seinem Rükgange zum Vater sprechen und seinen Jüngern die Verheissung geben, sie alle zu sich zu ziehen, auf daß sie seien, wo er sei! — Siehe bann diese Jünger ausgehen in alle Welt, um namentlich auch diesen Glauben allenthalben zu verkündigen, eine wahre Freu­ denbotschaft allen in Todesfurcht wie in Sklavenketten gefangenen Menschenseelen. Wobei soll es noch heißen: Wer Ohren hat, zu hören, der höre! — wenn hier nicht? Was sollte dem Menschen Größeres gesagt werden können, alS: Du sollst leben!—? Was soll er sich köstlicheres erwerben können, als den Glauben eines ewigen Seins? — Ach, daß wir diese unaussprechlichen Dinge mit unserm Geschwäz verderben! Wohl dem, der sie in sein Herz saßt, dem sie Geisteseigenthum geworden sind! Er ist wiedergeboren zu einem neuen Leben und in ihm kann sich bas Leben einer höhern Welt izt schon, still und unbegriffen zwar, aber freudig und sicher gestalten. „Wer an den Sohn glaubt, sagt Christus, der hat das ewige Leben und ist vom Tode zum Leben durchgedrungen." Das, was er einst sein soll, wird hier schon in ihm lebendig und keimt und wachst und entwikelt sich in ihm als in einem Tempel, in welchem Gottes Geist wohnet und waltet. Ein echter Glaube an Unsterblichkeit, an innigen Zusammen­ hang dieser zeitlichen mit einer ewigen Welt, kann — so liegt es in der menschlichen Natur — nie allein sein im Menschen; kann nur in einem Gemüthe wohnen, das überhaupt vom religiösen GlaKben geheiligt und

191 durchdrungen ist.

O dieses Glaubensmenschen! Siehe,

er überwindet den Tod, entkleidet ihn von feiner schreklichen Außenseite und sieht in ihm nur den Friedens­ boten, der ihn abruft in das Land seines Heimwehs. Er, und nur er, sieht dies irdische Leben richtig an und werthct es nicht zu wenig, noch zu viel; betrachtet es als unterste Stufe einer Bahn von unabsehbarer Höhe, als BUdungrschule, Prüfungs-LäuterungsDorbereitungsort für einen Zustand, von dem er, so

wenig er ihn kennt, doch nur Großes, Gutes, Beseli­ gendes erwarten darf. Darum hangt er sein Her; nicht an das Wesen dieser Welt, die Schatten für Wirklichkeit bietet und ihre Vergölterer mit Großgestalten

tauscht, die an sich doch unendlich kleinlich sind und die Seele nie befriedigen können. Er genießt zwar mit heiterm Sinn und Dankgefühl — „was noch Hinabgepflanzt von Vaterhand Ihm blüht in diesem Pilgerland" — genießt's nicht mit der Begier eines Menschen, der es für sein Eins und Alles halt, aber auch nicht mit der Aengstlichkcit eines Sklaven der Todesfurcht, sondern mit der weisen Gesinnung, die Pfand, Symbol von Höherm darin sieht und benuzt. Er leidet, was ihm zu tragen auferlegt wird, mit dem hoffenden Hinblik auf jene ewige, über alle Maaßen wichtige Herrlichkeit, mit der die zeitlichen Leiden nicht einmal in Vergleichung kommen dürfen und die einst auch in ihm soll offenbar werden. In Leiden beseelt ihn namentlich die Ueberzeugung, daß Leiden das wirk« samste Mittel zur Veredlung und Reinigung seines Geistigen Wesens seien, daß selbst der Erlöser durch Leiden habe vollendet werden müssen, um zu seiner Herrlichkeit einzugehen. Er handelt, wirkt, aber nicht mit dem Sinn und Streben dessen, der keine höhern Daseinezweke kennt und demnach einzig irdische Absichten zur Richtschnur seines Strebens wählt oder der wohl

192

gar die sittliche Weltordnung laugnet, weil sie aller­ dings hienieden nicht in ihrer Ganzheit zu finden ist, sondern in der Weise eines Menschen, der bas Wesent­ liche vom Zufälligen, das Bleibende vom Vergängli­ chen zu scheiden weiß, der Erde giebt, was der Erde, und Gott, was Gottes ist, in der Weise eines Menschen, dem alles anverkrautes Gut ist, von dessen Anwendung dort Rechenschaft folgt — Saatkorn, das erst die Ewigkeit zur Aernte zeitigt; in der Weise eines Menschen, dem eben darum dieses jezige Sein, als ein Theil eines unendlich wichtigen Ganzen, heilig und kostbar ist und der Jesus nachsprechen soll: „Ich muß wirken, so lang es Tag ist. Siehe die Nacht kommt, da Niemand mehr wirken kann!" Sv bezieht er alles Innere und AeuKere auf das ewige Jenseits und nennt sich mit dem Psalmsänger einen Pilgrimm und Fremdling hienieden und bekennt mit Paulus, daß er in der Welt lebe, als lebte er nicht in ihr, weil sein Bürgerrecht im Himmel sei. Ihm ist recht, zu leben und recht, zu sterben, wie eg dem großen Apostel war, da er an die zu Philippi schrieb: „Ich weiß kaum, welches ich vvrzichen soll — Leben oder Sterben; Erstres um euretwillen. Was aber lczteres betrifft, so hab' ich Lust abzuscheidcn und bei Christus zu sein, welches auch viel besser wäre. —

Ja so stehet der Christ vor dem wilden Strome der Zeit. Was füinmcrt’c ihn, daß auch er hinab­ gerissen wird, in demselben unterzugehen? Aus den Fluchen hebt ihn sein Gott wieder empor und er ist noch und lebt noch und denkt noch und liebt noch und genießt noch — wenn auch der Strom sich einst an dem Ufer der Ewigkeit ganz zerschaumt hat. Er wandelt hier mit aufgerichtetcm Haupt über Grä­ ber, über die der Seinigcn, wie über die von Jahr-



193

tausenden auf dieser eitlen Traumwelt. Seinen Dlik trübt nicht mehr der Erscheinungen buntes Wechseln und Wegen; denn sein Sein wiegt ihm eines Erd­ balls Schein weit auf. O Glük und Heil uns! Wir haben einen Gott, der da hilft und einen Herrn, Herrn, der vom Tode rettet! Wir können durch den Glauben gewiß werden, daß weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges, noch Zukünftiges uns scheiden mag von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus, unserm Herrn, ist. Der Tod ist in des Glaubens Sieg verschlungen. Laßt uns glau­ ben, auf daß wir einst schauen! Amen!

II.

13

194

Andächtige! „Ihrer ist das Reich Gottes!" Diesen Auespruch Jesus über die Kinder hörten wir so eben in unsrer Lauffvrmel. — Wie war jenen guten Müllern zu Muthe, als sie sahen, daß der Lehrer, der gewaltig lehrte und in Wort und That sich als das Licht der Welt, als die persönliche Wahrheit, als den Abglanz der Liebe Gottes erwies, auch ihre Kinder seiner Aufmerksamkeit würdigte, mit freundlichem Wort ihnen den Zutritt zu ihm erlaubte, sie an sein liebendes Herz brükte, ihnen segnend seine Hande ausiegte, mit dem Zeugnisse: Ihrer ist Gottes Reich! ? Oft mag jenen glüklichen Müttern wieder im Geiste sich erneuert haben diese gemüthvvlle, heilige Szene; oft mögen jene Worte in ihren Herzen wiebererklungen sein — wohl zu ihrer höher» Freude über die schönste Himmelegabe; wohl zu größerm Heile der ihnen Anvcrtrauten, die alS Lieblinge Gottes ja der innigsten Liebe und der zart« sten Sorge würdig waren. Ferne stehen wir, Theure! mit unsern Kindern jenem herzerhtbenden Auftritte dem Aeußern, der Zeit nach — nahe aber im Geist und in der Wahrheit. Als Menschen stehen wir mit jenen in gleichen Bedürft Nissen und Rechten. Ale solche, die schon in den ersten Lebenetagen in jene kirchliche Gesellschaft eintraten, die sich nach dem Namen Christus nennt, in der Chri­ stus Geist wohnen kann und soll, ergieng auch an une, an unsre Kinder auch das Wort Christus: Lasset die Kinder zu mir kommen; denn ihrer ist Gottes, ist des Himmele Reich! Mögen Veranstaltungen, die blos irdi­ schen Zweken huldigen, wieder in sich selbst zerfallen — mag die Lust der Welt vergehen und von dem äußern Elüke, daö einst diese, jene Menschen umstralte, oft

195

auch nicht ein blasser Schimmer auf die Nachkommen fallen — geistige Güter sind unzerstörbar und der Segen der Heilsanstall Gottes durch Christus für die MenschenWelt erbt sich fort von Geschlecht zu Geschlecht und bas Wort seiner Wahrheit gehet von Munde zu Munde, von Herzen zu Herzen. So hören denn auch wir, christliche Vater! christ­ liche Müller! jenes Wort des Herrn sprechen über unsre

Kinder. — Wohl uns! Wie wird auch unser Blik auf die uns Anvertrauten sich dadurch verklaren! welche höhere Freude unser Gemüth durchdringen, wenn uns ein Kind geschenkt ist! Ja ein froheres Gefühl ergreift

auch des Nichtvaters, der Nichlmutter Herz, so oft eS Zeuge ist, daß wieder ein Mensch zur Well geboren sei, der ein Christ zu sein bestimmt ist. Zwar es wartet auch ihrer das wechselnde Schiksai; es lagert auch auf ihren Pfad sich die Sünde; es füllt auch ihnen einmal des Todes Loos. Wünschet den neuen Ankömmlingen Glük auf ihren angetretenen Weg und weissaget ihnen einen heitern Lebenstag! Es liegt in der Zukunft Schooß, ob eure Wün­

sche erfüllt werden —

und euer freundlicher Blik auf

eure Kleinen vermag die schwarzen Wolken noch nicht zu sehen, die einst auch ihren Pfad umdunkeln, ihren Schritt erschweren werheu. Vielleicht baß ihretwegen einst auch euer Herz ein Schwert durchdringen wird. „Es giebt auf dieser Welt nicht lauter frohe Tage. Wir kommen hier zu leiden her." Aber verzaget nicht und euer Her; erschreke nicht! Denn ihrer ist ja Gottes Reich. Sie sind des Vaters über alles, was Kinder heißt auf Erden. Für sein Reich sie zu erhalten, zu erziehen, wird er auch ihnen, wie er euch that, den Lebenskelch bald mit Freuden füllen, bald wieder Wehcmuth hinein­

träufeln und herbe Arznei; immer jedoch als weiser Regierer, als wohlwollender Vater. 13*

196

Sehet, wie die KnoSpe/ die kaum erst ward/ schon so bald sich freundlich entfaltet! wie sie freudig gedeiht und sich jur herrlichen Rose öffnet! O wo gicbl'ö «ine schönere Blüthe als die der Jugend? ! O, wem ihr ergo« zender Anblik begegnet, und wem Gottes Hand sie naher an's Herz legte, der freue sich, wenn er anders der reinsten menschlichen Freude offen ist! — Aber der sen­ gende Mittagsstral des Sommers wird sie welken und Vie Stürme der Herbstnacht werben sie verwehen, baß ihre Statte man vergeblich sucht. Gutes Kind! so bist du nun in dieses Lebens bunten Schauplaz eingetretcn, um, deinem Softer, deiner Mutter nachzueilen in ein frü» hes Grab — denn was sind selbst siebzig und achtzig Jahre?! — Doch horch! es ruft die Stimme: Auch ihrer ist Gottes Reich! ein ewiges Reich, dessen Sonne Gott selbst ist, dessen Güter nicht von Stürmen verweht werden und dessen Freuden nicht wie Morgentraume fliehen — ein Reich, wo Licht und Leben und Frei, heit und Herrlichkeit unvergänglich wohnt — ein Reich, das jedes geistigen Lebens Keim ewig erneuert und erhält und allem, was wahrhaft groß und gut, was nach göttlichem Bilde gestaltet ist, ewige Dauer sichert. Sv zittre nicht, o Vater, Mutter! vordem Schwünge der Sichel des Todes', die, wie bald! wie bald! den Liebling deiner Seele von dir, oder dich von ihm trennen wird. Auch dir, auch ihm gilt ja des Herrn Wort: Ihrer ist Gottes Reich! Schauet, o schauet bas Lächeln kindlicher Einfalt und Unschuld! Sind denn Engel Gottes herabgestiegen, in Kindergestalt zu wandeln auf dieser Sündenerde? O wie leicht söhnt oft der Kindheit unbefangner, einfältiger Sinn mit der Schiefheit und Verkehrtheit der Welt, in der wir leben, aus — ober welche Sehnsucht facht er in uns selber an, zurükkehren zu können in dieß heilige Element der Unschuld! Aber ach! nur zu frühe wirb

197

diese Unschuld sich trüben, diese Anspruchlosigkeit in Eigensucht, diese heitre Einfalt in tükische Künstelei sich verwandeln! zu frühe nur auch diese Lippe den Gifthauch der Sünde in sich ziehen; diese Wange von sündlicher Lust erröthen; in dieses reine Herz der Quell tausendfacher Schmerzen eigner Schuld sich ergießen! Traurige Aussicht!!— Was ist selbst des Grabes Schauer, aus dem doch Leben wieder hervorblüht, vergli­ chen mit den Banden der Sünde, die in ewigen Tod hinab­ zuziehen drohen?! — Doch seid getrost! Auch unsrer Kinder ist Gottes Reich. Auch diese Unschuld hat einen Hüter, der nicht schlaft, nicht schlummert, einen Hirtenstab, an dem sie sich wieder aufrichten, einen Fels des Heils, zu dem sie sich flüchten kann! Auch ihr zu lieb ist in d-r Welt erschienen die heilbringende Gnade Gottes, die' Sünder zur Sinnesänderung ruft, Verirrte auf den Pfad des Heils zurükführt. Schwache kräftigt, nach Heiligung Ringenden mächtig beisteht. Auch ihnen ward einst ein Heiland geboren, Jesus Christus, durch dessen Mund die göttliche Liebe allen, die an ihn glauben, Rettung von geistigem Verderben — Leben und Seligkeit verhieß. So begrüßen wir denn, christliche Väter und Müt­ ter! unsere Kinder mit höhern Ahnungen; so begleitet sie unser Dlik auf ihrer Jugendbahn mit heitrerer Zuver­ sicht, als wenn wir sie bloß als Kinder irdischer Eitel­ keit, Staub von Staube, denken müßten. O daß wir uns dieselben immer dächten im Lichte von Mitgliedern des Gottesrcichcs, izt in Anwartschaft, einst in Wirk­ lichkeit! Daß uns ihr unsichtbarer Werth stets über ihren sichtbaren giengc! daß wir uns stets als Diener betrachteten, im großen Garten Gottes pflegen zu helfen ,der Pflanzen, die der himmlische Vater gcpflanzct! Unter dem Einflüsse dieser Ansicht und dieses Sinnes sproßt allein das wahre Heil für die Erziehung, denn

198 nur mit Gott thut der Mensch Großes und Bleibendes — und alle Kunst unsers kunstreichen Zeitalters vermag, wie es ja vielfach am Tage liegt, den Fluch der Entfrembung vom göttlichen Elemente der Erziehung nicht auszulöschen. „Ihrer ist das Reich Gottes!" Wohl uns, wenn der Erfüllung dieses Auespruches an unsern Kindern durch uns nicht Hindernisse in den Weg traten, sondern vielmehr wir die beglükten Werkzeuge zu dessen Erfüllung zu sein gewürdigt wurden! Das sei der Preis unsers Lebens, für den des Lebens Güter, ja das Leben selbst einzusezen wir nicht zu hoch achten dürfen. Mag dann die Sonne unsere irdischen Tages sich neigen. Ihre scheidenden Ctrolen werden den Abend eines Le» dens, dessen Kraft dem Wohl der Kinder sich weihte, höher verklären, als wenn wir noch so glanzend in weitern Kreisen gewirkt hatten. Mit einem schönern Worte mag wohl Niemand von hinnen scheiden, als wenn er dem Erlöser vachspr.-chen darf: Vater! ich habe deren keines verloren, die du mir gegeben hast. Aber hören wir zu diesem Ende hin die zwei gro­ ßen kehren, die hier für uns am Wege stehen! „Trach­ tet zuerst selbst nach dem Reiche Gottes!" — undr „Werdet auch ihr wie die Kinder!" — Unsre Kinder schauen auf uns. Unsre Sinnesart, unser Wort, unsre That sind ee, die ihnen den Maaß­ stab zur wahren oder falschen Echäzung des Lebens und seiner Güter und seines Zieles an die Hand geben. Die Richtung unsers Gemüthes und Willens hat mäch­ tigen Einfluß auf die des ihrigen. Wähnen wir d'rum ja niemals, ihnen etwas zeigen zu können, wofür wir selbst blind sind, oder ihnen etwas wichtig und theuer machen zu können, wofür wir kalt bleiben! Wenn wir die Eitelkeiten des Lebens vergöttern, wie sollten Denn sie nicht auch dieselben überschäzrn lernen? und wenn

199 uns

alles andre bekannter,

vertrauter,

lieber ist als

Eones Reich, wenn unserm Herzen das Streben nach demselben fremd ist, wie sollten denn sie im Geist und in der Wahrheit beten: zu uns o Herr! komme dein

Reich! Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmell —? —

Wer geben will, muß haben; wer anleiten will, muß wissen; wer zu irgend etwas unterstüzen will, dem Muß dieß Etwas selbst werth und theuer sein. — Trachte selbst nach Gottes Reich, gute Mutter! und es wird bas Bedürfniß desselben, die Liebe zu ihm hinäberströmen in das Herz deiner Tochter und wie in dir selbst, so auch in ihr, was sie für diese Welt sein kann und soll, ver­ edeln und vergeistigen, vornamlich aber ihr höheres Selbst für dieses Reich immermehr ausbild'en und gestalten. Habe deine Lust an dem Herrn und laß es deine Freude sein, zu ihm zu nahen, du, der du Vater zu sein gewür-

digt wurdest! und dein Sohn wird, von dir geleitet und gesegnet, dir nachwandeln anfdeinerschönen Bahn und wird des Gottes, seines Vaters, auch froh werden und ihn einst Kindcskindern verkündigen. Zugleich aber, Vater! Mütter! laßt uns eines kind­

lichen Sinnes uns befleißen! Die geräuschvolle und zer­ splitterte Künstlichkeit der Welt führt nicht zur stillen, einfachen Größe wahrer Kinder Gottes. Die Täuschun­ gen, mit denen wir uns selbst und andre betüken, sind im ewigen Gegcnsaze mit dem reinen Lichte und der auf­ richtigen Liebe, die in diesem Reiche herrschen und das unsichere, mühselige, ruhelose Haschen nach tausend sich

widersprechenden Dingen vertragt sich nicht mit dem sei­ nes Zieles gewissen, unentweglichen Ernste der großen Aufgabe, das Eine Nothwendige zu suchen. O werden wir doch einmal gegen unsern himmlischen Vater aufrich­ tige, demüthige und vertrauensvolle Kinder und suchen wir für unser wahres Heil einen einfältigen, klaren Sinn

200 zu gewinnen und ju bewahren, so wird das Reich Gottes unser Theil werben und wird sich in und durch uns auch unsern Kindern aufschließen, auf daß sie Eins seien mit uns in dem, der alles Vereinbare mit sich und dem Vater zu einigen gekommen ist. O bann werden wir einst Alle des unaussprechlichen Heils theilhaftig, das jenen jubereitet ist, die da getauft sind auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes! Amen! Schlußgebet.

Unendlicher Vater! der du von uns dich ewige Liebe nennen lässest, indem du in unser Nachtthal einen Fun­ ken der Ahnung, der Erkenntniß deiner uns hinabsandtest und denselben durch mannichfache Mittel zur heiligen Flamme in uns anfachst — habe Dank, herzlichen Dank für diese Gabe, für diese Mittel! Wir erkennen, wir fühlen es in bessern Augenbliken unsers Lebens tiefbewegt, daß nur dadurch unser Leben Bedeutung und einen Werth erhalt, der höher ist, als eine ganze Welt voll Vergänglichkeit. O, wie oft legtest du schon es uns nahe an's Herz, baß wir nur alsdann des Namens Menschen, der Würbe nach deinem Bilde geschaffen zu sein, werth werden! Wir flehen dich daher mit kindlichem Vertrauen um die Gnade, diese Erkenntniß und dieses Gefühl in uns immer herrschender und lebendiger werden zu lassen, da­ mit wir auch der Früchte derselben theilhaftig werden mögen. Dein Geist rege uns an, alle Veranstaltungen, die uns dazu leiten, alle Gelegenheiten, die uns darin vervollkommnen und bestärken können, mit Ernst und Freude zu benuzen und namentlich aus dem Strome gei­ stigen Lebens, der durch deines Sohnes Jesus Christus Erscheinung sich über alle Welt ergoß, Leben und volles Genüge in reichlichem Maaße zu schöpfen. Ja Vater! du Heiliger! heilige uns aüe in deiner Wahrheit! Dein

201 Wort ist die Wahrheit!

Laß durch sie uns alle frei und

in deines Geistes Beistand uns stark werden und Herr anreifen zu immer würdigern und tüchtigern Mitglied

dern deines Reiches und zu Erben deiner uns bereiter ten Seligkeit! Laß denn dazu allch dein Mort, das heute an uns ergeht, gesegnet sein und die dir geweihten Handlungen und Uebungen dieser Stunde einen wohlthätigen Eindruk in unsern Gemüthern zurüklassen! — Herzens« sündiger! ob ein frommer Gedanke, eine heilige Em« pfindung dadurch in irgend eines Vaters, einer Mut« ter Herz gelegt worden sei — ob der christliche Vor« saz, dir und deinem Sohne unsre Kinder zu heiligen, sich in irgend einem Gemüthe zu höherer Glut ange-

sacht habe, das weissest nur du allein. Wir aber wissen, daß wir Säen und Pflanzen, Pflegen und Be­ gießen, Anfang und Vollendung des Guten, daß wir Wollen und Vollbringen deiner väterlichen Huld, die Aller Glük, Aller Beseligung will, fromm und kindlich anempfehlen dürfen. Und so danken wir denn dir schon voraus, daß du unö erhöret hast, wie du alle christlichen Gebete erhörest! Amen!

202 Gebet. Hi er sind wir,

v Herr, unser (Sott!

nüzliche Wahr,

Heiken zu hören, vor dir versammelt. Lenke unsre Her, Jen zu frommer, lernbegieriger Aufmerksamkeit! Allen Belehrungen deines Geistes, des Geistes der Wahrheit, seien unsre Gemüther offen. Warne, demüthige, er, muntre, stärke, belebe uns durch das Wort der Wahr,

heit, das hier, nach deinem Willen, gelehrt werden soll! Alles führe uns dir naher, einziger Quell des Gu, ten! Alles diene uns dazu, uns jede Sünde unmöglicher und jede Tugend leichter zu machen! Unser Geist soll er, leuchteter, lebendiger, edler, unser Herz reiner, lind, licher, vertrauensvoller, dir ergebener und in dir seliger werden! Heiliger Vater! heilige uns alle durch deine Wahrheit und mache uns immer mehr zu deinen echten Verehrern im Sinn und Beispiel deines Sohnes, unsers Herrn, der uns also beten hieß: Unser Vater rc.

Werthe Zuhörer! Keine Predigt, keine Kinderlehre — nur einige ver, mischte Gedanken und Gefühle zu Erwekung religiöser

Stimmung. — Was ist überhaupt all' unser Predigen, verglichen mit der Predigt der Natur, des Lebens, des Schiksals und des von diesen berührten und ergriffenen Gemüthes, verglichen besonders mit dem, was tief in unserm Geiste eine Stimme Gottes zu uns spricht? —

Selig, wer Aug' und Ohr hat, hier zu sehen und zu hören! „Gott hat die Welt in der Mensche» Her; ge,

legt," sagte der Menschen, und Lebenekenner Salomo. — O selig, wer sie versteht und wer sich selbst versteht! Er ist wie ein Daum am Wasser gepfianzet und am Bache gewurzelt und sorget nicht, wenn rin dürres Jahr der Lehre kommt, wo die Ströme lebendigen Wasser

203 vertroknen und nur die Kieselsteine geistloser Schulweise

hcit zu Tage liegen, deren keiner den andern aus der Stelle zu rühren vermag. Er ist nicht wie ein Rohr, vom Winde hin und her getrieben, schaut auch nicht nach allen Seiten nach denen, die, mit der Posaune des Zeitgeistes in der Hand, schreien: Hie ist Weisheit! Hie ist Weisheit! Hie Schwert des Herrn und Gideon! — sondern in sich vest, wandelt er unenrweglich seinem gewissen Ziele zu, und ihm leuchtet von oben die Wahrheit, die, wie die Sterne Gottes, hoch über den gaukelnden Bildern deö Staubes in stilles, ernster Ma­ jestät ewig thronet. — Ein Mann, ein Held unter

dem kindischen Geschlechte seines Zeitalters — ist er ein Kind sich selbst, ein Kind seinem Vater, der in Himmeln ist.

O, der Kindlichkeit!! Wer sollte vor Kindern

stehen und an sie nicht erinnert werden? Laßt uns von der Kindlichkeit sprechen. Jesus

Christus



sein

hochheiliger Name

werde von allen, die seine Jünger zu sein für die Krone der Humanität halten, mit immer höherer und leben­

digerer Freude genannt, je mehr er von den Sprechern der Zeit nur zu einem allgemeinen moralischen Schat­ tenbild ohne Character und Leben ausgewischk wird — Iesus Christus ruft uns zu: „Wenn ihr nicht wer­ det wie die Kinder, so werdet ihr nicht in's Reich Gottes eingehen. —11 Er sprach es zwar zu seinem Volk und zu seiner Zeit, zu ihrer unerträglichen For­ malität und Künstelei, zu dem Pharisäismus, der alles einfache, wahre, göttliche Leben aus den Herzen völlig zu verdrängen suchte. Der Hang zu jener Verkehrtheit ist aber nicht ausgcstorbcn und nur die Pharisäer unsrer Zeit behaupten, baß wir von pharisäischem Wesen frei seien.

204 Was sind aber wohl die Züge in dem Wesen des Kindes, die uns von Jesus empfohlen werden konnten? Vor allem aus: Glauben, Vertrauen, Ein­ falt und Unschuld. Das Kind hak Glauben, d. h. die Fähigkeit, ge­ wisse Vorstellungen auf das Zeugniß andrer Mensche» hin, in sich aufzunchmen und dieselben für so wahr und richtig zu halten, als ob cs die Gegenstände derselben selbst wahrgenvmmen hätte. Mit der Wahrheit ergreift es freilich ebenso bereitwillig den Irrthum, und sein Glaube ist allerdings nicht unbedingt cmpfchlenswerth. Es wächst aber auf, entwikelt, bildet sich, erlangt Gcwandheit im Denken, sieht, daß über die Richugreit und Unrichtigkeit menschlicher Vorstellungen theils E« fahrung, theils das Denken entscheiden. Weg ist der Glaube! Der Mensch will alles wissen und lacht über das, was er nicht zum Wissen bringen kann und wahnt, daß die Gegenstände der höhern Welt sinnlich gerichtet werden dürfen. Darum wird die Kirche des Herrn nicht auferbauet unter uns und truz der hohen Bil­ dung des Zeitalters sind wir ferne von jenem Glau­ ben der Apostel und der ersten Christen — ein Glaube, der nicht in Schlüssen und Beweisen lag, sondern eine veste Richtung des ganzen menschlichen Gemüthes auf Gott und Christus war. Dafür haben wir einen Glauben in die Kirche eingeführt, der das Wissen nachahmen soll. Wir beweisen euch, daß ein Gott sei und eine Unsterblich­ keit und allenfalls noch, mit halber Zaghaftigkeit, daß Chri­ stus ein göttlicher Gesandter gewesen — und eben durch dieses Deweisenwollcn des Unbeweisbaren lehren wir euch zweifeln» Daher jene Haufen von Abergläu­ bigen und jene Schaaren von Ungläubigen, daher jene Verachtung des Wortes, die, nach dem Ausspruche der Schrift, sich selbst verderbt, die sich in Zügello­ sigkeit ganzer Völker wie einzelner Familien und Men-

205

schcn ausdrükt; daher jener läppische, hochtrabende Prunk mit einseitigen Ideen, die bald in allen Wim fein unsers Wclttheils als Götterbilder ausgestellt wer­ den, daß wir ihnen huldigen, eigentlich aber nur die Losung eines unreifen, dünkelvvllen, sich selbst vergöt­ ternden Wissens; daher endlich der so häufige Mangel eines religiösen Elements der Erziehung, welcher Man­ gel freilich alle Plane in diesem Fache zu Luftschlössern macht, die über ihren eignen Erfindern einstürzen müs­ sen. — Darum thäte uns wahrlich noth ein klarer Sinn, der dem Wissen gäbe, was des Wissens und dem Glauben, was des Glaubens ist. O laßt uns die göttliche Kraft des Glaubens in uns aufweken, nähren und pflegen, wenn wir uns wahrhaft gesichert und beglükt wissen wollen! Das Kind hat Vertrauen. Vertrauen gränzt an Glauben, wurzelt in dem Glaube». Wir haben oft entweder Tru; oder Leichtsinn, zwei sehr unachte Nachahmungen des Vertrauens. Werden diese beschämt oder untcrdrükt, so tritt in ihre Stelle Zag­ haftigkeit. Diesen dreien aber ist fast die ganze Welt Unterthan. Man scherzt und kos't mit dem Schiksal und fahrt mit übermüthiger Eeberde auf dem Triumphwagen des Elüks einher; eine düstere Wolke am Horizont, ein kleiner Windstoß — und wir schreien: Herr! hilf uns; wir verderben! — Wir sorgen für den folgenden Tag nicht bloß mit jener lobenswerthen Klugheit guter Hauehalter der mancherlei Gaben Got­ tes , sondern mit quälenden Gedanken und Empfin­ dungen, welche uns nichts helfen, wohl aber Beson­ nenheit, Muth und Ruhe raube». Wir dringen in die Zukunft und beben doch wieder vor ihr, und oft ist uns zu Muth, als ob das Weltall auf unsern Schul­ tern läge. Unsre Acngstlichkeit macht uns die Früchte brechen, ehe sie reif sind und treibt uns zu Planen,

206 durch die wir daS vereiteln, was wir beabsichtigten und bei ruhigem Warten vielleicht erlangt haben wür­ den. — Nicht so das Kind. Es lebt mit völligem Vertrauen jeglichen Tag, ohne, was morgen kommen kann, zu fürchten. Suchen auch wir dieses Vertrauen

uns zu erwerben; nicht ein blindes zwar, wie das der Kinder, sondern eines, das sich siüzt auf religiö­ sen Glauben und auf das Bewußtsein eines guten Wil­ lens; ein beruhigendes, wohlthuendcs Sicherhcitsgefühl, daß wir Glieder einer hehren, vesien Ordnung der Dinge feien, über der ein Gott waltet, der uns

als Vater gleichsam in seine Hande gezeichnet hat und uns als Vater gleichsam in seine Hande gezeichnet hat und uns behütet wie seinen Augapfel! Des Kindes Vorzug ist Einfalt, Unbefangen­ heit, Natürlichkeit. Sie waren auch das Eigen­

thum des kindlichen Weltalters. Uufce Künstlichkeit hak sie verdrängt. Wir sind die abgerichtcten Skla­ ven eines gesellschaftlichen Wesens voll sich gegenseitig stoßender, bekämpfender Interessen. Ja selbst, wo diese nicht in Betracht kommen, hat unsre feine Bil­ dung gleichwohl viel Unnatur, Schiefheit, Ziererei und Verstellung in unsern Umgang gebracht. Wir werden bewandert, Schein für Sein, Zufälliges für Wesentli­ ches, Nebensachen für Hauptsachen gelten zu machen

und — sv' weit gehl die Macht der Gewohnheit — sie endlich selbst dafür zu halten. Wir haben Mühe, uns mit Andern auf einen einfachen, durchaus wahren Fuß zu sezen, und aus den besten Verhältnissen reißt

uns oft ein gezwungenes, gesuchtes, mit tausenderlei Absichten und Vorsichten durchflochlencs Wesen her­ aus. Wir befolgen den Befehl des Heilandes: Seid klug wie die Schlangen! — aber ohne die schöne und unabtrcnnliche Beschränkung: Seid ohne Falsch, wie die Tauben! — O Kindereinfalt als Gefährtin der nvlhi-

207 gen Lebensklugheit — wie heilsam wärest du namentlich unserm Zeitalter! Einsalt, die mit geradem, heiterm Sinne die Dinge dieser Welt nimmt, wie sie sind, die immer weiß, was sic will und nur das Rechte mit uns verrükter Treue vesthält; die der Menschheit in ihren nähern und fernern Umgebungen nicht heimtükisch gegen­

übersteht, sondern ihr eine trauliche Bruderhand reicht; die an Herjen zu glauben und sich ihnen zu genießen zu geben weiß; die der Welt nicht ein grausiges, sich stets wandelndes Zerrbild, sondern eine heitre, mit Gott und sich und dem Nächsten vertraute Seele zeigt!

Dee Kindes Zierde ist Unschuld. Wer nicht unvvrr sazliche Verstöße gegen unsre oft viel zu mannigfalti­ gen Gcseze, oder auch vorsazliches, aber nicht mit dem Bewußtsein von Sünde begleitetes Freiheitsstreben für Sünde hält, kann dem jüngern Kinde die Unschuld wohl nicht absprechen. Ja, wenn es auch anfängt, Unrecht ju kennen und, was hier eins ist, zu üben, so kennt es doch die beharrliche Richtung auf ein böses Ziel, so kennt es doch das Laster nicht. Nein! harmlose

Lust am Guten, leicht und gerne geleitet wird, ist eine solche schöne

zü dem es auö wiedcrzurükkehrt, sein Eigenthum. Zeit und es mag

allen Irrwegen so wo es nur recht Auch uns blühete uns wohl biswei­

len ein Heimwehgefühl beschleichen, wenn der Blik in sie zurükkehrt. „Da keimten noch in tadellosen Herzen des Schönen und des Rechten Lust und in der reinen Brust floß nie der Quell von tausendfachen Schmer­ zen." — Daß sie für uns vorüber sei, jene Zeit,

das ist uns nur allzugewiß, wenn wir unsern sittli­ chen Zustand nicht bloß an den Maaßstab einer bür­ gerlichen Ehrbarkeit, sondern an den der hohen For­ derungen des Christenthums halten. Nur ein süßer und flacher Geist kann uns mit dem Schein dessen, was längst verschwunden ist, täuschen wollen. — Aber

getrost I

das

beflekte

Bild

der Unschuld

kann

durch

Gottes Gnade, freilich im Schweiß unsers Angesichts, umgeschaffen werden zu dem noch wohlthuendern, rührendern, erhabener» Bilde der Tugend, die, stark in Gott, über die Welt und ihre Ungerechtigkeit, nach langem, heißem Kampfe endlich den Sieg davon trägt. Sie kann zwar nur aus ernster, strenger Selbstkennt»iß, nur aus der lebendigsten Sehnsucht und einem Gott umfassenden Glauben hcrvvrgehen, soll darum, wie ein frommer, kindlicher Dichter sagt, „nicht sehr

bekannt und beliebt sein, aberden, der sie hat/ dafür auch reichlich lohnen in Sonnenschein und Frost und Regen und wenn des Todes scharfe Sichel naht." — Zu ihr sind wir berufen, o Christen! Laßt uns würdig wandeln unsers Berufes! Laßt uns das Reich Gottes aufnchmen als Kinder, damit wir in ihm zur wahren Kindschaft Gottes gelangen! „Ein Herz, wo fromme Tu­ gend thronet, wo Glaube, Liebe, Demuth wohnet, ein reines Herz, daö Gott gefällt, sei unser Ziel in dieser Welt!" Amen!

Gebet. Nimm, o Herr! die Opfer unsers Dankes an für das, was auch diese Erbauungsstunde Belehrendes, Wekendcs, Ermunterndes, zu dir Führendes uns dar­ bot ! O möchte dieser Dank für alle deine Veranstal­ tungen zu unserm geistigen Heil, überall aus dem Grunde gläubiger, frommer Herzen emporsteigen! Möchten aber auch alle Lagen, Verhältnisse und Umstände unsres

Lebens uns immermehr zu dir hin leiten, zu dir, der da will, daß alle Menschen dich suchen und dich als reichlichen Belohnet ihres redlichen Suchens erfahren sollen! Laß uns leuchten dein Vaterangesicht! Laß uns immer unzweifelhafter erfahren deine unbegränzte Huld!

209

Laß uns deine Güte mehr und mehr antreiben, unsern Sinn, wo er noch verkehrt sein sollte, zu andern und auf das eine Nothwendige ju richten! Laß uns Kinder werden vor dir, auf daß wir, ohne Anstoß und Rükhalt, mit Freuden in dein Reich eingehen mögen. Es werde immer völliger unser Glaube, immer lebendiger unsre Liebe, immer unentweglicher unsre Hoffnung, bis wir dahin gelangen, wohin dein Sohn uns vermittelnd vorangieng und wohin uns seiner Lehre Licht und sei­ nes Geistes Kraft, ja alle, leiten soll. Amen. Unser Vater rc.

II.

14

210

Vater in den Himmeln! 38ir stehen hier vor deinem allsehenden Auge am

Schluffe einer kleinen Reihe dir geheiligter Betrachtun­ gen und Uebungen. Was dir von uns geweidet ist, das ist uns selbst, unserm ewigen Wohl geweihet. Darum flehen wir dich, ohne den wir nichts vermögen, um deinen Segen-an; oder vielmehr, daß du unsre Herzen empfänglich machest des Segens, den Du in solche Beschäftigungen für uns gelegt hast. Bei dir, o Vater, ist nicht Erstes und nicht Leites — keine Veränderung, kein Wechsel. Aber wir sind ihm noch un­ terworfen, wandeln noch in der Hülle des Staubes, und obwohl unser Blik sich zu dir erheben kann, so ist er doch oft von Trug und Schein geblendet und sinkt nur allzuoft wieder zur Erde hinab. O erheb' ihn wieder, Vater! richt' ihn selbst empor, wenn er sinken will! Denn nur bei dir sieht er sein ewiges Heil. Laß uns denn auch die Flüchtigkeit unsrer Tage tief beherzigen, in derselben das finden, was du Belehren­ des und Ermunterndes in sie legtest — so daß uns alles, was uns begegnet, was wir wahrnehmen und empfinden als deine Veranstaltung zu dir und unserm Ziele führen möge. Laß dazu auch das Wort christ­ licher Betrachtung, das wir izt hören wollen, gesegnet sein! Amen! Werthe Anwesende, besonders du, thcnre, herzlich geliebte Jugend! Die Versammlung, zu der wir uns so eben eingesunden haben, ist nun für einmal, d. h. für dieses Jahr, die lezte dieser Art. Zurükgelcgt ist auch diese Laufbahn, so wie sich alle andern Laufbahnen unsrer



211

verschiedenen Geschäfte und Bestrebungen und

Thätig«

keilen durch dieses Jahr hindurch einmal enden werden. Enden! — Wunderbares Räthsel alles Seins und Lebens und Thuns und Treibens auf Erden, das Gei­ stige selbst nicht ausgenommen! Wir fahren dahin, als

flögen wir davon. Eine unwiderstehliche Gewalt reißt uns ruhelos mit sich fort. Wie ein furchtbarer Riese, vor dem sich Alles in den Staub neigt, tritt oft der Gedanke in unsre Seele hinein, daß nichts als der gegenwärtige Augenblik unser ist, der schnell zerrinnend sogleich wieder einem andern weicht. Also ist im Grunde gar nichts unser! Doch nein! wir selbst sind unser, weil wir Gottes, des Ewigen und Unwandel­ baren, sind — sein Bild, sein Eigenthum. Und so ist denn auch aus der Vergangenheit noch unser, was wir irgend auf den Geist gcsaet, zum Eigenthum deS Geistes gemacht, in das Heiligthum des innersten Men­ schen ausgenommen haben. Und unser ist selbst die Zukunft, wenn wir ihr mit dem vesten, klaren Bewußt­ sein dessen, was wir wollen und mit dem treuen, freudigen Muthe, nur das Wahre zu suchen, das Rechte zu lieben, das Ewigschöne und Ewiggute zu wollen, entgegen gehen. Mit der Waffe solcher Ansicht und Ueberzeugung dürfen wir denn auch dem Gedanken des Scheidens von dem, was in der Zeitlichkeit auf­ tritt, uns kühn gegenüberstellen, in der Erwartung, auch von ihm nur Gutes, Belehrung, Warnung, Er­ munterung , Stärkung für unsern Geist zu gewinnen. Das ist unsre Größe, daß wir wissen können, eö sei einer der ersten Zwekc aller der flüchtigen Zeiterscheinungen, die sich vor unserm Blike hindrängen, daß sie unserm ewigen Geiste zur Ausbildung dienen sollen. Dieser Gedanke verleiht selbst ihnen, den todten Dingen, den Geburten der alles von ihr Hervorgebrachte wieder verschlingenden Zeit, etwas vom Glanze der

14 *

212 Unsterblichkeit. „G vtt hat die Welt in das Her; des Menschen gelegt," sagt Salomo.— Aber das ist dann auch unsre Kleinheit, daß wir die Zeiterscheinungen, statt sie zu bcnuzcn, als unsers glei­ chen betrachten, oder vielmehr uns für ihres gleichen

ansehn, und wahnen, daß wir hier mit ihnen nur zusammentreffen, um bis an ihr oder unser Ende mit ihnen zu tändeln. — Laßt uns weise werden und den höher» Gedanken erfassen; Alles ist unser. Was aber unser ist, dem sollen nicht wir dienen, sondern es soll uns dienen! Mag dann immerhin dem Staub anheim

fallen, was des Staubes ist und in's Nichts zurüksinken,

was nicht um seiner selbst willen vorhanden, keinen Fun­ ken selbstständigen Daseins in sich trägt! Ruhig darf der Landmann Pflanzen dahinwelken, Bäume sich ent­ blättern, die fruchtbringende Wärme verschwinden, die

Lebenskeime ersterben und die Natur in ihr Grabkleid sich hüllen sehen, wenn seine Scheuer des Segens voll ist, den er der für den Arbeitefleiß sich dankbar bewei­ senden Natur abgewann. Aber dürfte er es auch, wenn er die Zeit des Säens, des Anbaues, der Pflege und Besorgung, und dann der Aernte verträumt haben würde?! — O theure Jugend! so wenig wir dir miß­ gönnen, auf den Fittigen eines leichten, frohen Sin­ nes in die dir immer noch so neue Welt deines und unsers ersten Seins herein zu schweben, eben so sehr wünschen wir, daß du diese Welt nicht alö bloßen Schaupla; eines sinnlichen, eitel», einst spurlos zerflie­ ßenden VergnügungstraumS, sondern als einen großen Aker Gottes betrachten lernen mögest, in welchem du

unter dem Beistand dessen, der zu allem Guten Gedei­ hen giebt, eine Saat ausstreuen kannst, deren Früchte eine Kernspeise deines unsterblichen Geistes sein werden. Siehe, die dich erziehen, deine liebenden Acltern, deine treuen Lehrer, sie gehen alle dahin, wovon keine Rük-

213 kehr zu erwarten ist! Und die Jahre deiner Erziehung, sie schwinden wie ein Morgentraum! und plözlich siehst du dich nüzlicher Punkte, was du

an der Schwelle des Berufslebens, der Pflicht Wirksamkeit in der Menschenwclt, auf dem wo es heißt: Nun gieb Rechenschaft von dem, gesammelt hast! — Lern' also deine Tage

zahlen, um deinem Herzen die wahre Lebensweisheit zu erwerben, das Unwiederbringliche mit treuer Sorgfalt zu benuzen! Ach— welch' ein rührender, herzerhebem

der Gedanke —: Dor dir liegt noch offen eine Bahn, die dir izt so lang scheint, und die du einst, ist sie zurükgelegt, kurz nennen wirst; eine Dahn, die von den Meisten der Erwachsenen so durchwandelt ist, daß so Manche ganz, so Manche wenigstens theilweise sie zurüknehmen möchten und dieser Erlaubniß, wenn sie möglich wäre, gerne die wichtigsten Opfer brachten — diese Dahn ist denn vor dir, o Jugend! noch offen, und in deiner Erzie­ hung, in dem Unterrichte, der dir zu Theil wird, ergeht Gottes Wort an dich: Siehe! ich habe dir

Glük und Unglük vorgelegt; strekc deine Hand aus und greife, nach welchem du willst! O daß du dieß recht bedenkest,

auf daß, wenn einst deine Tage sind

wie

die izigen Tage dieses Jahres, das bald zu seinem Ende sich neiget, du dem, der dich für dieß Leben schuf und bestimmte, mit Zuversicht sagen könnest: Ich habe der vorübereilenden Mittel zu meiner Wohlfahrt, der Mittel, die du mir gäbest, keines, keines ganz verloren. Mich begleiteten schon hienieden die Segnun­ gen eines klugen und treuen Haushälters deiner bcglür senden Gaben!

Wir aber, die wir im Gleise des thätigen, frucht­ bringenden Lebens, in der Zeit deö Anwendens des Gesammelten stehen, sei's, daß wir eben in sic getreten sind, oder, daß wir sie für uns schon bald zu Ende

eilen sehen, wir wollen uns durch den schnellen Wechsel

214 der Äußerlichkeit, besonders der izt scheidenden und welkenden Lebensfülle der uns umgebenden Natur recht warm und stark an unser Herz reden lassen — mit neust Inbrunst, mit heißerer Begier/ mit lebendigerem Eifer/ mit treuerer/ vesterer Liebe zu umfassen die kost« liche Gegenwart/ das unbezahlbare/ unersezliche ,/Heute" — ihm einen bleibenden Segen abzuringen. Jesus/ dem Ewigkeiten zu immer höherer/ weiterer Wirksamkeit heller als uns entgegenleuchteten/ Jesus Christus/ sagt dort aus tiefem Ernste seiner göttlichen Seele und sei« nee himmlischen Willens: Ich muß wirken/ so lang es Tag ist. — Wer Ohr zu hören hat/ der höre! — Und da erst ruhete er non s-inem mit Todesqual umringten/ mit Sterbensschweiß bethauten Eotteswerke, als er sagen konnte: Es ist vollbracht! — Noch ein­ mal : Wer Ohr zu hören hat/ der höre! Vollbringen/ vollenden predigt uns auch jede Zeiterscheinung/ die Gott neben uns auf den Schauplaz dieser Welt hinstellte. Es hat jedes Geschöpf und jede Naturkraft ihren Zwek und tritt nicht ab und hört nicht auf/ zu wirken/ ohne dieses Zwekes Erfüllung herbeigebracht zu habe»/ so gering derselbe an sich selbst uns scheine. Denn darin besteht jedes Dinges Werth/ daß es sei/ was es sein kann/ wozu es bestimmt ist/ jedes an seiner Stelle in dem großen/ ganzen/ in ein wunderbares Eins zur sammengefügten Reiche alles Seins und alles Lebens. Wahrlich/ das geringste Saamcnkorn/ dicunschein­ barste Knospe/ das unbeachtetste lebende Wesen ist/ indem es unwissender Weise der Absicht seines Schöp­ fers entspricht/ ein besserer/ brauchbarerer Beitrag zum Ganzen/ als wir selbst, truz unsrer Erhabenheit über die andern Geschöpfe/ es waren, wenn wir die uns für einmal angewiesene Stelle nicht ausfüllten, den mit unserm Sein und Hiersein verbundnen Absichten nicht entsprächen! O Sonne, du solltest ausgchn, zu

— 215 —

laufen als ein Held deinen Weg? Erde, du solltest bei# nen fruchtbaren Schooß jährlich segensvoll öffnen? Tag, du solltest uns leuchten zu unsers Lebens Arbeit und Genuß, und du den ermattenden Kräften Erholung g« wahren, o Nacht? du Speise, solltest uns nähren? du Trank uns tränken? und ihr mannigfaltige Stoffe der Natur, ihr solltet uns in harmonischer Verbindung die erwünschteste Befriedigung so vielfacher Bedürfnisse ver» schaffen? überhaupt alles Zeitliche, Hinfällige sollte nach seiner Art einen genügenden Beitrag zum Dasein und zum Fortbestand einer herrlichen Gotteswelt ausmachen und darreichen? — und wir allein, wir die Zierde der Schöpfung und wir die Beherrscher derselben, wir# die wir wissen, wozu wir da sind, und um deren willen so vieles des Uebrigeu allein da zu sein schMt> wir sollten unsre Lebensaufgabe nicht beachten, fi^ mit Leichtsinn beiseite schieben wollen? sollten uns beschäme« lassen, von Dingen, deren ganze Grvßzahl insgesammt eine Menschenseele nicht aufwiegt?! Nimmermehr! UnS treffe nicht der Vorwurf aller Vorwürfe, planlos, Nuzlos, absichtlos hienieden gelebt zu haben, mit so wenig wesentlichem Erwerb aus dieser Welt heraus;»# treten, als wir in dieselbe gekommen sind! Nein, laßt uns so unshalten, daß einst das große Wort an uns ergehen möge: Wohl, du warst über dem Wenigen, was dir vorerst anvertraut werden konnte, getreu er# funden! Sieh nun will ich dafür weitere, größere, herrlichere Wirkungskreise vor deiner staunenden Seele eröffnen! Unsere Aufgabe, die aus dem Scheiden und Da# Hinschwinden der Zeitgegenstände für uns hcrfließt, wäre demnach eine doppelte: Vergängliches und Unver­ gängliches in seinem wahren Werthe zu erkennen und dieser Erkenntniß zufolge jenes nicht zu sehr zu erheben, dieses über jenem nicht zu versäumen, wohl aber jenes

216

LUM Vortheile des lejtern ju benuzen — oder: Za gebe» dem Staube, was des Staubes ist, Gott aber, was Gottes ist. Wir fühlen alle, daß wir uns der Gemeinschaft des Sinnlichen nicht entziehen können, da wir izt noch selbst Antheil haben an der Natur desselben. Wir fühlen, baß wahrend unser Haupt sich gen Himmel wendet, unsre Füße doch noch auf der Erde stehen — aber wir sollen nicht zugeben, daß auch das Haupt sich hinneige zu der Erde, wie es der Thiere Loos mit sich bringt. Wenn wir sehen, wie denn doch der Staub auch in seinem täu­ schendesten Flitterglanze keine wahre Gemeinschaft ein­ gehen kann mit dem inwendigen Menschen; sehen, wie pst schon die irdischen Güter als treulose Rohrstabe, dem, der sich auf sie stüjte, durch die Hand giengen; sehen, wie wenig alles Aeußere gegen inneres wahres Geistesübel auszurichten, dasselbe zu heben vermag; wenn wir endlich sehen, daß, wenn's hoch kommt, die Gränze dieser Gemeinschaft am Grabe doch allemal unwiederruflich aufgestellt ist — wie sollten wir dann noch den Ruf überhören können: Es ist Wesen dieser Welt. Hanget euer Herz nicht daran! Unterwerft euch ihm nicht; weder zu Lieb noch zu Leid — denn auch die Leiden, die uns ein spannenlanger Erdentraum auflegt, mögen dem Leben unsers Geistes keinen wesentlichen Abbruch thun, so wenig als der Nebel das Sonnenlicht auszulöschen in dem Stande ist. Laßt uns vielmehr nach der Gleichheit dessen zu leben uns befleißen, der da wandelte hicnicden in der Kraft und Herrlichkeit seines und unsers Vaters, und deßwegen sagen durfte: Mein Reich ist nicht von die­ ser Welt! Alsdann werden alle Dinge zu unserm Besten dienen und bas Geringste oder Gröste dieser Welt, was dem Sinnenmenschen entweder gleichgiltig ist oder ihn zum Sklaven macht, enthalt alsdann für uns Kräfte

217 und Gaben von ungeahntem bleibendem Werthe. Ein heiliger Bote Gottes ist uns dann jeder neue Gegen, stand auf unserm Wege; jeder Tag legt eine Aehre zu jener himmlischen Garbe auf dem jubelvollen Morgen der Aernte; jede Stunde, die der Vater vom Himmel uns sendet, flicht uns einen Freudenkranz. Reich an dem, was einst, wenn das Irdische ganz für uns da­ hin ist, einzig unsers Geistes bleibendes Gut ausmacht, werden wir dort an der Hand der Barmherzigkeit des Ewigen ein neues, größeres, innigeres Leben beginnen und der dreißig, scchszig, hundertfältigen Frucht so

manches Körnchens, das wir hienieden so für halb ver­ loren ausstreuten, mit Dank, mit ewigem Danke gegen den Vater genießen, der sein allwirksames Gedeihen dazu geschenkt hat. So Theuerste! betrachtet, so benuzt der Weise, oder, was Eins ist, der Christ, die Dinge dieser Welt, deren Natur ein ununterbrochenes Entstehen und Vergehen ist. So geizt er um jeglichen Tag, so hascht er nach jeglichem Umstande, der ihm zu solchem Vortheile sich anbietet; so benuzt er jeden Menschen und jedes menschliche Verhältniß als eine Schule der erhabensten Lebensweisheit, als eine Fundgrube edler, vollwichtiger Schäze, die zwar nicht am Horizonte der

Sinnenwelt prangen, aber von ihrer Atmosphäre auch nicht verdorben, nicht beflekt, nicht geschmälert werden

können; so muß ihm Freund und Feind, Lust und Leid, günstiges und ungünstiges Geschik — doch nur auf seinem Wege förderlich sein, zu seinem unentrükbaren, herrlichen Ziele! Möchten wir denn das Schei­

dende und Hinfällige so betrachten und anwenden ler­ nen, ehe wir selbst hinscheiden!! — Vater über alles, was Kinder heißt im Himmel und auf Erden! Noch einmal erhebt sich unser Herz zu dir. Mit dir anfangen, forksezen und enden, ist

JI.

15

— 218 — das sicherste Mittel gut

anzufangen,

gut fortzusezen,

gut zu vollenden; denn bei dir ist die lebendige Quelle und in deinem Lichte sehen wir alles in seinem wahren und erfreuenden Lichte. Der Gedanke an dich richtet unsern Blik auf unser ewiges Ziel und erleuchtet unsern Pfad, und das Ahnen deiner Nähe, bas kindliche Gefühl deiner uns sanft leitenden Vatcrhand, gießt

hohen, unsterblichen Muth, gießt eine Kraft in unser Herz, die schon ein leises Vorgefühl des herrlichen Jenseits in uns zu erweken vermag und uns mit sicherm Schritte unsern Pfad verfolgen läßt. O daß wir immer mehr vergessen möchten, was hinter uns liegt und das gegen unser ganzes Wesen sich sehne nach dem, was vor uns ist, nach dem ewigen Ziel unsrer Berufung! Dieß in uns zu befördern, har deine schrankenlose Huld so manche Mittel an unsern Weg gelegt. An uns ist es, dieselben dankbar uns anzueignen. Wir flehen dich, von dem wir Wollen und Vollbringen doch ursprünglich, wie alles andre Gute, herleiten müssen, wir flehen dich: Schenke uns die Weisheit, sie in der eilenden Zeit so gut, als deine Absicht es erfordert, zu benuzen und unter deinem Beistand recht viele Früchte denselben abzugewinnen. Das ist der Dank, den du, Allgütiger, einzig von uns verlangst,-ein Dank, dessen Segen

unmittelbar auf uns selbst zurükkehrt. Laß darum auch die deinem Dienste geweiheten Andachten und Uebungen, die wir einstweilen heute beendigten, an unserm Hers zen gesegnet sein, zur Richtung unsers Sinnes auf dich und das Ewige beigetragen haben! Möchten wir aus ihnen Hochachtung und Liebe auch für eine würs dige äußere Form der zu unserm Besten angeordneten Religionehandlungen gewonnen haben — immer freis lich in dem Gedanken, daß das Aeußere, die Form stets nur Fingerzeig auf das Innere, auf das Wesents liehe, auf den lebendigmachenden Geist sein soll, der

219 aus allem, was sich auf dich und unser Verhältniß zu dir bezieht, uns immer spürbarer anwehen möge!

Und die Worte christlicher Belehrung und Ermunterung, die jedesmal dabei zu uns gesprochen wurden, o mögen sie in wvhlbereiteten, fruchtbaren Boden gefallen sein und Keime eines dir wohlgefälligen Geisteslebens in uns entfaltet haben und ferner noch entfalten! O Vater, bringe du selbst uns Irrende zur Wahrheit, uns Schwa­ che zur Kraft, uns mannigfach Beschrankte und Ger bundne zur vollen und hehren Freiheit deiner echten Kinder und wahrer Mitbrüder und Miterben Jesu Christi !

Es ruft uns dahin ein unwiderstehlicher Trieb, von dir in unser Herz gepflanzt, es ruft uns die Vernunft und das Gewissen; es ruft uns dein Evangelium, dein Wort, bas du durch deinen Sohn uns auf die Erbe gäbest. Du, o Vater, rufst uns also selbst zu dir. O leite uns denn auch selbst an's Ziel, das du uns verhältst, du Anfänger und Vollender alles Güten, alles vermögender, alles wirkender, alles regierender, alles belebender, alles bcglükender Vater durch unsern Herrn Jesum Christum! Amen!

Verzeichniß der Druckfehler im ersten Theile:

Seite X. Zeile 4. von oben lies Sommerblumen statt Sonnenblumen — XL —12- von unten - worden statt werden — 5. —15. von unten - nicht so fast statt nicht so fest — 69. —14. von unten - und nun statt und um — 73. — 3. von oben streiche nach dem Wort: Herr da6 (,) — 95. — 5. von unten lies schwiege statt schweige —109. — 3. von unten - oder statt und —116. — 10. von unten - uns statt nur — 12«'. —16. von oben - nicht statt leicht —1*29. — 7. von unten - nun taufen statt umtaufen — 132. — 17. von unten - jenes statt jener —155. — 7. von oben - aufzuopfern statt aufopfern. — 167< —11. von unten - Triumphe statt Lriumpfe