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German Pages 214 Year 2018
Johannes C. P. Schmid, Andreas Veits, Wiebke Vorrath (Hg.) Praktiken medialer Transformationen
Digitale Gesellschaft | Band 19
Johannes C. P. Schmid, Andreas Veits, Wiebke Vorrath (Hg.)
Praktiken medialer Transformationen Übersetzungen in und aus dem digitalen Raum
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Landesforschungsförderungsinitiative der Freien und Hansestadt Hamburg.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: www.maxpixel.net Satz: Mareike Post Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4114-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4114-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Catrin Prange % 105
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Julian Ingelmann % 127
Vanessa Ossa ! 151
Stefan Tetzlaff ! 173
Anna Zeitler ! 191
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Der vorliegende Sammelband beruht auf einer von drei Tagungen, welche die wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen des interdisziplinären Hamburger Forschungsverbundes Übersetzen und Rahmen. Praktiken medialer Transformationen (1/2015-12/2017) eigenständig zu unterschiedlichen Themen durchgeführt haben. Die diesem Band zugrundeliegende Tagung »Praktiken medialer Transformationen: Übertragungen in und aus dem digitalen Raum« fand im Dezember 2016 unter der Leitung der Herausgeber*innen dieses Bandes, Johannes Schmid, Andreas Veits und Wiebke Vorrath an der Universität Hamburg statt. Der Forschungsverbund wurde von der Landesforschungsförderung Hamburg gefördert. Er bestand aus sieben Teilprojekten der Universität Hamburg und der Hochschule für bildende Künste, Hamburg. Sein Ziel war es, die Reichweite von Übersetzungs- und Rahmentheorien für kunst-, kultur- und sozialwissenschaftlich orientierte Medienforschungen auszuloten und diese für die medientheoretische und medienästhetische Forschung fruchtbar zu machen. Der Forschungsverbund konzentrierte sich auf mediale Transformationen und nahm dabei eine bislang wenig diskutierte praxeologische Perspektive ein: Untersucht wurden Wahrnehmungs-, Affizierungs- und Aneignungsprozesse im Kontext von Medienwechseln, die wiederum mittels der Leitkonzepte ›Übersetzung‹ und ›Rahmung‹ theoretisch gefasst wurden. Im Unterschied zu dem in den Medienwissenschaften üblichen Vorgehen standen hier nicht Einzelmedien im Mittelpunkt, sondern mit Film, Tanz, Literatur, Graphic Novels und Webserien Untersuchungsfelder der hybriden Grenzbereiche zwischen Kunst und populärer Kultur seit den 1990er Jahren. Der Forschungsverbund konzentrierte sich vor allem auf drei Transformationsdynamiken und deren Zusammenwirken: mediale, kulturelle und situationale Übersetzungen und Rahmungen: Mediale Transformationen wurden im Hinblick auf Verfahren und Praktiken der Rahmung bzw. des Rahmens und der Übersetzung bzw. des Übersetzens betrachtet. Kulturelle Transformationen wurden im
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Hinblick auf unterschiedliche Kulturen, Lebensstile, kulturelle Räumen und die damit verbundenen Praktiken sowie den Wahrnehmungs-, Affizierungs- und kulturellen Aneignungsprozessen befragt. Mit situationalen Transformationen wurden interdisziplinär situative Rahmungen gefasst und Aneignungspraktiken beschrieben, d.h. die Formen der Aufführung, ihre Ereignishaftigkeit und Unwiederholbarkeit, die damit verbundenen Erfahrungen und lebensweltlichen Verankerungen. Die jeweiligen medialen, kulturellen und situationalen Rahmungen und Übersetzungen wurden dabei nicht als isolierte und in sich geschlossene Akte betrachtet, sondern als ein dynamisches System mit entsprechenden Überlagerungen. Der vorliegende Sammelband positioniert sich vor allem im Untersuchungsfeld der medialen Transformationen. Wir freuen uns, dass dieser Sammelband nun eine Reihe von Beiträgen bündelt, welche die medialen Grenzbereiche und Übergänge zwischen digitalen und analogen Medien ausloten und Prozesse der Übersetzung und Rahmung an diesen Schnittstellen medialer Transformationen beleuchten. Den Herausgeber*innen und Autor*innen danken wir herzlich für ihr Engagement.
Hamburg, im April 2018 Gabriele Klein und Claudia Benthien (Sprecherinnen des Forschungsverbundes)
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J OHANNES C. P. S CHMID / A NDREAS V EITS / W IEBKE V ORRATH
Das sogenannte digitale Zeitalter zeichnet sich durch den Wegfall verschiedener Hürden in der Produktion sowie Distribution medialer Inhalte und einem damit verbundenen Bedeutungsverlust von Gatekeepern aus. Software zur Bild-, Tonund Videobearbeitung erlaubt es, ohne spezielle Ausbildung oder Ressourcen digitale Inhalte zu erstellen und zu verändern. Zu den Praktiken, die als Teil einer digital literacy verlangt werden, gehören ebenso die Fähigkeit, große Mengen an Informationen zu durchsuchen und auszuwerten, Verbindungen zwischen hypertextuellen Strukturen zu erkennen und zu filtern, wie auch Online-Profile und Identitäten zu unterhalten, verhandeln und schützen (vgl. Jones/Hafner 2012: 2). Das ubiquitäre Vorhandensein hochauflösender Smartphone-Kameras erweitert die Handlungsmöglichkeiten zunehmend, so können ortsübergreifend Bild-, Ton- und Videodokumente mit hoher Qualität angefertigt und geteilt werden. Fans großer Unterhaltungsfranchises produzieren und (ver-)teilen vermehrt eigene Inhalte, wodurch sie transmediale storyworlds mitgestalten; gleichsam werden Ereignisse von öffentlichem Interesse unweigerlich von unmittelbar erstellen Fotos, Videos und Augenzeugenberichten begleitet. Der Wegfall vorheriger Limitierungen wurde zunächst als quasi-utopische Renaissance von Kunst und Demokratie begrüßt (vgl. Curran 2013: 227; Enli 2015: 87). Fred Ritchin skizziert die allgemeine Verhandlung der neuen medialen Möglichkeiten sogar als religiöse Heilsgeschichte: »From digital images to mobile phones to the
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World Wide Web, media have become, in their easy transcendence of previous limitations of time and space, nearly messianic for us.« (2010: 10) In diesem Sinne schwärmt Henry Jenkins: »In the world of media convergence, every important story gets told, every brand gets sold, and every consumer gets courted across multiple platforms.« (2006: 3) Vor allem aber postuliert er eine collective intelligence als Korrektiv bisheriger medialer Hegemonien: »None of us can know everything; each of us knows something; and we can put the pieces together if we pool our resources and combine our skills.« (Ebd.: 4) Spätesten jedoch der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union und die Wahl Donald Trumps zum 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten im Jahr 2016 sowie die damit verbundenen Skandale in sozialen Netzwerken schafften ein neues Bewusstsein für die Manipulierbarkeit dieser ›kollektiven Intelligenz‹. Das manipulative Potential digitaler Praktiken gerät seither verstärkt in den Blick: In sozialen Netzwerken ermöglicht datamining die Auswertung immenser Informationsbestände und die Verbreitung hochpersonalisierter Werbebotschaften; Computerprogramme, sogenannte bots, distribuieren automatisiert Fehlinformationen und zugleich begünstigt die algorithmische Konstitution digitaler Sozialräume die Bildung von echoe chambers und ›Filterblasen‹, die Informationen und Meinungen priorisieren und bereits bestehende Überzeugungen verfestigen (vgl. Pariser 2011). Im gleichen Jahr wählten die Gesellschaft für Deutsche Sprache (GfDS) »postfaktisch« wie auch die Redaktion des Oxford English Dictionary »post-truth« zum Wort des Jahres. Die Begriffe beschreiben eine Tendenz großer Bevölkerungsschichten, Emotionen und persönliche Überzeugungen gegenüber tatsächlich überprüfbaren Fakten vorzuziehen, sowie die politische Instrumentalisierung dieser Tendenz (vgl. McIntyre 2018: 174). Das Britische Magazin The Economist führt diese Entwicklung zum Teil direkt auf den digitalen Medienwandel zurück: »Post-truth has also been abetted by the evolution of the media […]. The fragmentation of news sources has created an atomised world in which lies, rumour and gossip spread with alarming speed. Lies that are widely shared online within a network, whose members trust each other more than they trust any mainstream-media source, can quickly take on the appearance of truth.« (10.09.2016)
Auch McIntyre konstatiert: »The rise of social media as a source of news blurred the lines even further between news and opinion, as people shared stories from blogs, alternative news sites, and God knows where, as if they were all true.« (2018: 93) Wo Jenkins behauptet, dass jede wichtige Geschichte erzählt wird, zeichnet sich nunmehr ab, dass schlichtweg jede Geschichte erzählt werden
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kann, unabhängig von Wahrheitsgehalt oder sogar konkreten Manipulationsabsichten. Die Fähigkeit, Nachrichtenquellen einzuordnen und den digitalen Informationsüberfluss zu filtern, wird so zu einer Kernkompetenz einer digital literacy im 21. Jahrhundert. Gleichsam enthalten die Möglichkeiten digitaler Medienproduktion auch das Potential, dass User selbst als sogenannte citizen journalists tätig werden. Von Bürger*innen anstatt von Berufsjournalist*innen erstellte Inhalte generieren durch den augenscheinlichen Wegfall finanzieller Abhängigkeiten dabei eine neue Form von Authentizitätseffekten (vgl. Ritchin 2013: 11). Mediale Formen und Praktiken der Kunst, Unterhaltung und Berichterstattung, wie sie in den Beiträgen dieses Sammelbandes diskutiert werden, greifen diese Entwicklungen auf, arbeiten mit ihnen und über sie. Einen grundlegenden Wandel der globalen Medienkultur durch ihre seit den 1990er Jahren fortschreitende Digitalisierung festzustellen, ist mittlerweile weitestgehend zur Banalität geworden. Alles andere als banal ist hingegen die Aufgabe, die stetig ansteigende Zahl digitaler Praktiken adäquat zu beschreiben. Jenkins etablierte dafür die Konzepte der media convergence und participatory culture, mit denen die Zirkulation medialer Inhalte verteilt über technische Kanäle und Milieus jenseits nationaler Grenzen sowie die Partizipation der aus ihrer Zuschauerrolle emanzipierten User gefasst werden (vgl. 2006: 2). Während konventionelle Massenmedien die Partizipation von Zuschauer*innen lediglich kognitiv erfordern, sind mediale Formen, die sich in und durch ihre Einbettung in digitalen Räumen etabliert haben (hierzu zählen etwa Computerspiele, SocialMedia-Plattformen oder interaktive filmische Formate wie Webserien) dadurch gekennzeichnet, dass sie unterschiedliche Formen der interaktiven Nutzung erlauben. Mediennutzer*innen werden mithin nicht mehr als bloße Konsumenten verstanden, sondern gestalten den Diskurs durch digitale Praktiken wie dem Teilen und Neurahmen sowie des remix und der Remediatisierung mit (vgl. Jenkins/Ford/Green 2013: 2; Bolter/Gruisin 1999). Es entstehen Praktiken wie Internet Memes und mash-ups, Privatpersonen tauschen ihre Gedanken über Blogs aus und vormals fixe massenmediale Inhalte wie Computerspiele und Erzählwelten werden innerhalb spezifischer Fan-Kulturen modifiziert und weitergesponnen. In diesem Zusammenhang werden auch Begriffe wie ›Viralität‹ in der digitalen Alltagssprache etabliert, welcher metaphorisch der Biologie entstammt und eine rasante Verbreitung medialer Inhalte bezeichnet, die sich in ihrer Prozessualität kaum mehr kontrollieren lässt. Gleichsam verweisen derartige metaphorische Terminologien auf die Notwendigkeit, Praktiken und Prozesse des Digitalen medienwissenschaftlich fassbar zu machen und insbesondere die Rolle der User innerhalb dieses diskursiven Felds zu beschreiben.
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Im vorliegenden Band werden solche Praktiken im digitalen Raum, also die Befähigung zu und Anwendung von verschiedenen Formen der Kommunikation im Sinne der digital literacy, exemplarisch untersucht und deren Wechselwirkungen mit dem analogen Raum diskutiert. Räumlichkeit wurde bereits früh als definierende Eigenschaft digitaler Umgebungen beschrieben (vgl. Murray 1997: 79). Im Gegensatz zu linearen Medien wie dem Buch oder dem Film ermöglichen es digitale Umgebungen neben der Beschreibung oder Abbildung von Räumen, diese auch zu navigieren oder gar zu betreten. Diese Feststellung trifft auf hochkomplexe dreidimensionale Simulationen ebenso zu, wie auf die räumlich angeordneten Bedienoberflächen von Betriebssystemen oder Textverarbeitungsprogrammen. Aber nicht nur digitale Programme zeichnen sich durch Räumlichkeit und Nonlinearität aus: Die Hypertext-Struktur des Internets erzeugt komplexe Netzwerke, die sich ebenfalls frei navigieren lassen (vgl. Ensslin 2014, 258). Naheliegend ist so auch die Metapher des cyberspace für die räumliche Vorstellung dieser Netzwerke. Der Term beschreibt hierbei sowohl den Aspekt der ortsunabhängigen virtuellen Begegnungsstätte als auch jenen der elaborierten grafischen Simulation (vgl. Ryan 2014: 118). Insbesondere Computerspiele, die seit den 1980er Jahren neben der Repräsentation von dreidimensionalen virtuellen Räumen auch die Interaktion damit und darin ermöglichen, sind somit »nicht nur paradigmatisch für das Verständnis ›neuer Medien‹, sondern definieren diese grundlegend durch ihre Räumlichkeit.« (Günzel 2017: 8) Der digitale Raum ist jedoch nicht lediglich als isolierter cyberspace zu verstehen, er konstituiert sich vielmehr durch Übersetzungs- und Austauschprozesse von im materiellen sowie virtuellen Raum angelegten Praktiken. Denn jegliche mediatisierte, virtuelle Interaktion wird zunächst zwingend örtlich lokalisiert vollzogen – durch haptische Interaktionspraktiken vom swiping bis zur Virtual Reality-Brille. Die Interaktion mit verschiedenen digitalen Interfaces wie dem Smartphone-Screen oder dem fest installierten Desktop-Computer generiert hierbei einen feedback loop, in dem Informationen in einem kontinuierlichen und unmittelbaren Austauschprozess ein- und ausgegeben werden. Mit einem prozessualen Verständnis nach Martina Löw lässt sich Raum nicht als ›absoluter‹ Container für das darin Befindliche begreifen, sondern als »relationale (An-)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten«, die »in der Wechselwirkung zwischen Struktur und Handeln« (2017: 271) dynamisch konstituiert wird. Untersucht werden dabei sowohl virtuelle als auch materielle Räume und die darin enthaltenen körperlich-technischen Praktiken vornehmlich als soziale Räume gefasst (ebd.: 15). Solche digitalen Praktiken gestalten sich
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jedoch als vielschichtig und schwerlich konkret beschreibbar. Wie Jones, Chik und Hafner skizzieren, werden beim Durchführen von Praktiken wie ›Computerspielen‹ oder ›Bloggen‹ eine Vielzahl anderer kultureller und sozialer Praktiken vollzogen, die teilweise eine wesentlich längere Historie haben (vgl. 2015: 3). Ron Scollon (2001) folgend gehen sie daher von einem nexus of practice aus: »a configuration of tools and actions with various conventions and histories associated with them which come together to form recognisable sequences of actions and to make available to actors recognisable social identities.« (2015: 3) Ein Instagram-Profil als virtueller Raum konstituiert und strukturiert beispielsweise die Selbstinszenierung der User durch das Hochladen, Teilen und Bearbeiten von Fotografien, die ihrerseits auf digitalen und vordigitalen Praktiken des Fotografierens beruhen. Gleichsam finden aber auch im virtuellen Raum entstandene Medienphänomene vermehrt Anwendung im materiellen Raum. Beispielsweise veröffentlichten die Hamburger Verkehrsbetriebe 2017 zur Einführung von WLAN an ihren Haltestellen eine Werbekampagne, bei der auf Plakaten die mediale Form des Internet Memes imitiert wurde (vgl. Brecht 2017). Während sich der digitale Raum also durch einen kontinuierlichen Austauschprozess zwischen virtuellen, materiellen und sozialen Räumen bildet, lassen sich auch explizite Übersetzungen ›neuer‹ medialer Formen in den analogen Raum beobachten.
Die Etablierung der beschriebenen räumlichen Strukturen und ihrer Angebotsdimension, im Sinne eines Aufforderungscharakters zur Mediennutzung, bildet die Grundlage für verschiedene Übersetzungsprozesse, die wiederum neuartige Angebotsformen im Kontext des digitalen Raums hervorbringen. Übersetzungen als zusammenhängende Prozesse zu fassen, die in einem mehrdimensionalen Wechselverhältnis zueinanderstehen, schließt dabei an kultur- und medienwissenschaftliche Diskussionen seit der Jahrtausendwende an. Der Begriff der ›Übersetzung‹ wurde in der Übersetzungsforschung vorangehend vor allem aus einer sprachphilosophischen Perspektive diskutiert. Walter Benjamins Aufsatz »Die Aufgabe des Übersetzers«, der 1923 erstveröffentlicht wurde, kann für diese im Kern kulturwissenschaftlichen Reflexionen als wegweisend bezeichnet werden: Benjamin stellt in seinen diskursprägenden Überlegungen ein normatives Verständnis von ›Original‹ und ›Kopie‹ in Frage und betont insbesondere die bedeutungsgenerierenden Potentiale, die sich innerhalb von Übersetzungsprozessen ergeben (vgl. Benjamin 1972: S. 12f.; Benthien/Klein 2017: 9). In der medi-
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enwissenschaftlichen Ausrichtung dieses Sammelbandes steht diese Erfassung des transformatorischen Potentials im Vordergrund, welches sich aus der Übersetzung ästhetischer, wie etwa erzählerischer oder darstellender, Aspekte künstlerischer und medialer Produkte in andere mediale Formen ergibt. Die Ergebnisse, die aus derartigen Prozessen entstehen, bringen mediale Artefakte und Strukturen hervor, deren Status sich einerseits nicht adäquat als mediales ›Abbild‹ einer ›Ursprungs-Form‹ beschreiben lässt und die andererseits Rückwirkungen auf das Übersetzte haben. Dieses bedeutungs- und formengenerierende Potential von Übersetzungen wird in dem von Ludwig Jäger entwickelten Ansatz zur Transkriptivität im Sinne einer Verfahrenslogik der ›Transkription‹ beschrieben, welche den grundlegenden Operationsmodus von Praktiken der Selbst- und Fremd-Bezugnahme von Sprache, Künsten, Kommunikations- und neuen Medien darstellt (vgl. 2010: 305f.). In Anlehnung an die Terminologie Irina Rajewskys versteht er Übersetzungsprozesse als intramedial geprägt, wenn die Referenznahme sich innerhalb eines als distinkt wahrgenommenen Zeichensystems vollzieht (etwa Transkriptionen in schriftsprachlicher Kommunikation) oder als intermedial, wenn unterschiedliche semiotische Ressourcen in derartige Beziehungen zueinander gebracht werden (etwa Übersetzungen eines Romans in die Form eines Films) (vgl. Jäger 2010: 312; Rajewsky 2002: 13f.). Transkriptivität sei ferner als komplexes Verfahren zu verstehen, das allen medialen Übersetzungsprozessen inhärent ist und durch das kultureller Sinn erst in den wechselseitigen Bezugnahmen von Medien und ihrer Zeichensysteme hervorgebracht wird (vgl. Jäger 2010: 304). Ein Beispiel für Transkriptionen im Sinne von Remediatisierungen nach Bolter und Grusin, die betonen, »that all mediation is remediation« (1999: 55), ist die Entwicklung poetischer Sprache: Rhetorische Mittel wie Alliterationen, Endreime, Metaphern und Wiederholungen dienten in schriftlosen Kulturen der Memomierbarkeit von Wissen und Wortlauten und wurden im Zuge der Literalisierung in Schriftsprache überführt. Dabei wurde ihr zweckgebundener Gebrauch in ein rein ästhetisches, literarisches Verfahren transformiert. Poetische Sprache wird mithin als sprachkünstlerisch so komplex angesehen, dass eine orale Konzipierung etwa von Gedichten oft als eher unwahrscheinlich erscheint, selbst wenn sie mündlich vorgetragen werden. So gelten einige lyrische Stilmittel oralen Ursprungs als Inbegriff von Literarizität, was den Kern von Jägers Definition von Transkriptionen als »Resemantisierungen, […] Um- und Überschreibungen« (Jäger 2010: 304) trifft. In digitalen Medien bestehen mittlerweile lyrische Darbietungsformen wie Hörgedichte, Poetry Clips oder Mitschnitte von Poetry Slam-Auftritten, in denen die mündlichen und schriftlichen Strukturen wiederum in mediatisierte stimmliche und gestische Formen übersetzt werden.
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Werden nicht diese Prozesse der Transkription beziehungsweise Remediatisierung und die jeweils neue mediale Darbietung in ihrer Materialität, sondern die übermittelten Inhalte wahrgenommen, sprechen Bolter und Grusin von immediacy (vgl. 1999: 30) und Jäger von Transparenz (vgl. 2010: 317). Die intra- und intermedialen Bezüge der unterschiedlichen medialen Formen können aber auch durch die Produzierenden mehr oder minder explizit gestaltet und somit selbst zu einem zentralen Teil der Bedeutungsgenerierung werden, der im Rezeptionsprozess hervortritt – in diesem Fall liegt dann hypermediacy vor (vgl. Bolter/Grusin 1999: 34) beziehungsweise eine Störung in dem Sinne, dass die Wahrnehmung auf das jeweilige Medium gelenkt wird (vgl. Jäger 2010: 317; vgl. auch Benthien/Klein 2017: 10f.). Marie-Laure Ryan reflektiert ebenfalls Übersetzungsprozesse, wobei der Schwerpunkt dieser Diskussionen auf Referenzfunktionen gerichtet ist, die sich zwischen unterschiedlichen fiktionalen Welten ergeben können, die von Rezipierenden aufgrund einer bestimmten medialen Reizgrundlage rekonstruiert werden. Die grundlegende Vorrausetzung für derartige Übersetzungen sieht die Autorin in einer Transfiktionalität gegeben, welche sich durch die »[…] migration of fictional entities across different texts« (2013: 366) realisiert. Ryans weiter Textbegriff bezieht sich zum einen auf Formen von intramedialen Referenzen, die sich zwischen Erzählungen unter Rückgriff auf identische Zeichensysteme ergeben, zum anderen auf Aspekte des transmedialen storytellings, die sich dadurch auszeichnen, dass Elemente aus Erzählungen, vermittelt in einer distinkten medialen Form, in ein anderes Zeichensystem übersetzt werden. In Anlehnung an Lubomír Doležel stellt sie vier unterschiedliche Ausprägungen von Übersetzungsprozessen fest (vgl. Ryan 2013: 365-367), die sich sowohl auf offizielle Produktionen ausgehend von den Rechteinhaber*innen eines zu übersetzenden Stoffes als auch auf Produktions-Praktiken einer Fan-Kultur, die inoffizielle nicht-autorisierte Übersetzungen anfertigen und etwa im Internet verbreiten, beziehen lassen. Ryans erste Kategorie, die sie als ›Transfiktionale Übersetzung‹ bezeichnet, umfasst Praktiken, welche Fortschreibungen bestimmter Ereignisse hervorbringen, die in einer spezifischen Kommunikationssituation, wie einer Erzählung, realisiert werden. Diese werden in einem Akt der Anschlusskommunikation erneut aufgegriffen und inhaltlich erweitert. Der Verweischarakter kann bei derartigen Übersetzungsprozessen mehr oder minder explizit sein, indem Figuren, Handlungen oder Räume erneut thematisiert und gemäß den Regeln der bereits etablierten fiktionalen Welt aufgegriffen und gestaltet werden. Modifikationen verweisen hingegen auf Praktiken des Übersetzens, die nur singuläre Motive oder Figuren aus einer existierenden Erzählung aufgreifen, diese allerdings in
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divergierende Kontexte einbetten und somit Inhalte produzieren, welche nur noch eine geringe Überschneidung zu der referenzialisierten fiktionalen Welt bieten; der Übersetzungscharakter tritt in diesen Fällen verstärkt in den Hintergrund. Übersetzungen, die sich als Transpositionen verstehen lassen, verweisen wiederum auf zuvor kommunizierte zentrale Ereignisse oder weitere Aspekte eines Settings einer Erzählung, transferieren diese allerdings in andere (kulturelle) Kontexte und führen so zu einer grundlegenden Resemantisierung des referenzialisierten Stoffes. Obgleich Ryan sich in erster Linie auf Austauschprozesse zwischen fiktionalen Erzählungen bezieht, schließt dieser Prozess auch Rückgriffe auf nicht-fiktionale Erzählungen potentiell mit ein: So verweist etwa die pseudoauthentische Webserie Alles Liebe, Anette auf faktuale biografische Begebenheiten im Leben der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff. Diese werden durch eine Übersetzung resemantisiert, indem faktuale Ereignisse um die Schriftstellerin fiktionalisiert und kulturell so transformiert werden, dass sie in die fiktionale Biografie der Protagonistin, der 19-jährigen Web-Bloggerin Annette, integriert werden können. Ryans letzte Kategorie umfasst schließlich Formen einer Zitation: In dieser Spielart der Übersetzung werden bestimmte Einzel-Aspekte einer Erzählung aufgenommen und in eine andere übertragen, allerdings ohne diese logisch innerhalb der fiktionalen Welt zu verankern. Zu erkennende Zitationen stechen somit in ihrer Referenzhaftigkeit besonders heraus und besitzen eine ›störende Wirkung‹, da sie abgesehen von ihrem Verweischarakter keine bedeutungstragende Funktion übernehmen und somit metafiktionale und antiillusionistische Effekte erzeugen. In den Beiträgen dieses Bandes wird dem hier vorgestellten Verständnis medialer Übersetzungen in unterschiedlichem Maße Rechnung getragen: es werden sowohl mehrdimensionale, intra- als auch intermediale Übersetzungsprozesse thematisiert und auf die perzeptiven Effekte, die sich aus diesen Vorgängen ergeben, eingegangen. Dabei wird elaboriert, inwiefern Transkriptionen beziehungsweise Resemantisierungen stattfinden, die – nicht nur in Bezug auf eine narrative Bedeutungszuweisung – erweiternde, modifizierende, transpositionierende oder illusionsstörenden Potentiale freisetzen. Dass Kategorien wie ›analog‹ und ›digital‹, ›online‹ und ›offline‹, ›live‹ und ›mediatisiert‹ oder die Praktiken des ›Produzierens‹ und ›Rezipierens‹ dabei kaum voneinander abzugrenzen, sondern ihre enge Verzahnung und Wechselwirkungen Charakteristikum digitaler Praktiken sind, wird auch durch die Beleuchtung der medialen Übersetzungen im Zusammenhang mit ihren sozialen Kontexten erhellt.
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Die in diesem Band versammelten Beiträge besprechen unterschiedliche transformative Medienphänomene aus literatur- und medienwissenschaftlichen Forschungsperspektiven. Exemplarisch decken die untersuchten Gegenstände wesentliche gegenwärtige Entwicklungen der Medienkonvergenz und Partizipationskultur ab. Die Beiträge sind in drei Themenschwerpunkte gegliedert – audiovisuelle, literarische und diskursive Praktiken –, wobei diese nicht als strikt voneinander getrennt zu verstehen sind. Zwar sind die Beiträge der drei Sektionen ihren Untersuchungsgegenständen nach zugeordnet, enthalten allerdings auch Anteile der oder Bezüge zu den anderen Schwerpunkten, was die Vielschichtigkeit digitaler Praktiken unterstreicht. Die erste Sektion, Audio-visuelle Praktiken, wird mit ERWIN FEYERSINGERS Verhandlung des mittlerweile hohen Aufkommens von digitalen Motion Graphics bei Live-Veranstaltungen eröffnet. Er geht der Frage nach, welche Funktionen diese Animationen im Rahmen unterschiedlicher Veranstaltungsformate erfüllen. Dabei liegt der Fokus auf räumlichen und zeitlichen Zusammenhängen von Darstellungstechnologien der virtuellen, oft digitalen Animationen mit anderen Elementen der Live-Situation, die entweder als nahtlose Integration erscheinen oder Brüche erzeugen. Zur Analyse solcher Konfigurationen modelliert und erweitert er Beschreibungsparameter für hybride Filme. Überdies geraten dadurch diachrone Übersetzungen und Transformationen von Stil- und Gebrauchstraditionen in den Blick. Auch in PHILIPP SCHMERHEIMS Beitrag stehen Weiterentwicklungen von Stiltraditionen im Mittelpunkt: Untersucht wird ein intermediales Wechselspiel von Abenteuerfilm und Computerspiel am Beispiel des Films Offline – Das Leben ist kein Bonuslevel, in dem die jugendlichen Hauptfiguren beständig zwischen den digitalen Weltenräumen ihrer Computerspiele und dem Raum der sogenannten realen Welt wandeln. Um die ZweiWelten-Struktur des phantastischen Erzählens und das Wechselverhältnis sowie die Formen der Remediation von Abenteuerfilm, coming of age und road movie in Verbindung mit der Ästhetik und den Paratexten digitaler Spiele analysieren zu können, macht er die Begriffe der Narratoästhetik und Ludonarration fruchtbar. Ebenfalls um das Spiel mit Grenzen analoger und digitaler Räume geht es in SVETLANA CHERNYSHOVAS Beitrag: Am Beispiel von Spike Jonzes’ ScienceFiction-Drama Her (2013) erörtert sie, inwiefern der analoge und der digitale Raum durch beständige Stabilisierungsprozesse erst hervorgebracht werden, wobei sich die vermeintlichen Raum-Grenzen stets durch ihr Transformationspotential und ihre Brüchigkeit auszeichnen. Wie insbesondere Visualität und Akustik sowie Materialität und Körperlichkeit als konstituierende Faktoren im
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Film eingesetzt werden, um Intimitätserfahrungen zu erzeugen, und mithin Zuschreibungen von ›menschlich‹ und ›nicht-menschlich‹ hinterfragt werden, diskutiert sie anhand der Kategorien des ›ökologischen Denkens‹ und ›agentiellen Handelns‹. In Sektion 2: Literarische Praktiken werden Übersetzungen von Praktiken des literarischen Feldes in den digitalen Raum diskutiert sowie deren mögliche Rückwirkungen. ANDREAS BÜHLHOFF stellt drei künstlerische Arbeiten vor, die Ordnungs- und Umordnungsprozesse in digitalen Medien ausstellen, indem sie sich im Übergang von analogen und digitalen Medien entwickeln. Die drei literarischen Verfahren werfen die Frage auf, unter welchen Formatierungen Text uns heute entgegentritt. Bühlhoff verdeutlicht, wie Schreibweisen zwischen konzeptuellen, medientechnischen und formal-ästhetischen Bedingungen heute zwar auf traditionelle Schreib- und Leseprozesse rekurrieren, diese aber durch verschiedene Formen der Übersetzung und Rekontextualisierung kritisch hinterfragt, erweitert oder umgedeutet werden. Diese Veränderungen reflektiert er unter Zuhilfenahme fiktionalisierender Schreibpraktiken. In CATRIN PRANGES Beitrag zu lyrischen Transformationen der Dichterin Nora Gomringer stehen ebenfalls Fragen nach dem Wandel von Text und Rezeption im Mittelpunkt. Am Beispiel eines Gedichtes, das Gomringer unter anderem als Schrifttext im Buch sowie als zwei Video-Produktionen im Internet veröffentlicht hat, zeichnet Prange dessen mediale Übersetzungen nach. Auf Grundlage der Gedichtinterpretation der schriftlichen Version und der Analyse der sogenannten ›Poetry Clips‹ auf Vimeo und Facebook diskutiert sie deren Korrespondenzen und Wechselwirkungen sowie die sich daraus ergebenden veränderten Perzeptionsbedingungen. Wie die Möglichkeiten von Internetplattformen zur Selbstinszenierung als Schriftsteller*innen genutzt werden, untersucht JULIAN INGELMANN in seinem Beitrag am Beispiel zweier Laienschriftsteller*innen in webbasierten Schreibforen. Ingelmann erörtert die Frage, inwieweit dabei Konventionen des literarischen Feldes transformiert oder aber genuin digitale Praktiken verwendet werden. Dem Konzept der schriftstellerischen Selbstinszenierungspraxis stellt er jenes der digitalen Selbstinszenierungspraxis zur Seite, um die medialen Möglichkeiten des World Wide Web zur Identitätskonstruktion zu diskutieren. Mithin wird der grundlegende Charakter von Schreibforen als Mikrofeld reflektiert, das gleichermaßen den beiden Makrofeldern des schriftstellerischen und digitalen Feldes angehört. Die Beiträge der dritten Sektion, Diskursive Praktiken, widmen sich der Produktion, Wirkung und Viralität von Memes, GIFs und Videos in Massenmedien und Social Media. In VANESSA OSSAS Beitrag stehen Grenzüberschreitungen zwischen verschiedenen fiktiven Welten im Zentrum der Betrachtung. An Bei-
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spielen aus dem Marvel Cinematic Universe (MCU) beschreibt sie unter Rückgriff auf das Konzept der storyworld, wie sowohl in den von Marvel veröffentlichten Basistexten als auch in von Fans produzierten image macros, animierten GIFs und Videos Abgrenzungen des MCU gegenüber anderen ComicGeschichten wiederholt unterlaufen werden. Für die Untersuchung von als eher reibungslos wahrgenommenen Grenzüberschreitungen und solchen, die auf Ungereimtheiten und Brüche abzielen, macht Ossa dabei die Kategorien ›Crossover‹ und ›Metalepse‹ fruchtbar. Die Genese von Internet Memes beschreibt STEFAN TETZLAFF in seinem Beitrag anhand von Frame-Theorie und dem Konzept der ›Markiertheit‹. Das transformative Verfahren, Zeichen aus ihrem ursprünglichen Kontext zu lösen und auf der Basis einer allgemeinen Bedeutung für verschiedene andere Kommunikationszusammenhänge generisch verwendbar zu machen, wird dabei als Ent-Markierung gefasst. Ein Meme ist demnach als ein Zeichen zu verstehen, das auf Basis von rekontextualisierten Medienartefakten einen neuen Interpretationsrahmen ausbildet. Durch diesen Ansatz wird die semiotische Kapazität des Memes, einen Frame aufzurufen, als Umkodierung von markierten in unmarkierte Zeichen lesbar. Abschließend untersucht ANNA ZEITLER in ihrem Beitrag Praktiken, Prozesse und Produkte der Teilhabe an Terrorereignissen als disruptive Medienereignisse in traditionellen Massenmedien und Social Media-Diskursen. Sie diskutiert dabei die Wirkungsstrukturen und Funktionsmechanismen der Sichtbarkeit sowie Sichtbarmachung von Medien und Terrorereignissen. Im Mittelpunkt steht weiterhin die Frage, wie Partizipation als zunächst transformatives und transmediales Phänomen fungiert und wie ›Produser-Content‹ durch spezifische Selbst- und Fremdpositionierungen in der Wechselwirkung zwischen den Inhalten traditioneller Massenmedien und Bildern oder Texten von Terrorereignissen in Social Media generiert wird. Den Sektionen sei hier ein herzlicher Dank an alle Kolleg*innen vorangestellt, die unsere Publikation durch ihre Beiträge bereichert haben. Dieser Band wurde durch die Tagung »Praktiken medialer Transformationen. Übertragungen in und aus dem digitalen Raum« veranlasst, die im Dezember 2016 im Rahmen des Forschungsverbundes Übersetzen und Rahmen. Praktiken medialer Transformationen stattfand. Unser ausdrücklicher Dank gebührt der Landesforschungsförderung der Freien und Hansestadt Hamburg, durch die der Verbund und somit auch diese Publikation finanziell gefördert wurde. Auch möchten wir uns herzlich bei den Sprecherinnen des Forschungsverbundes, Gabriele Klein und Claudia Benthien, für die Ermöglichung und Unterstützung der Tagung und des Bandes bedanken. Ein besonderer Dank gilt ferner Mareike Post, die uns bei der Drucklegung dieser Publikation tatkräftig unterstützt hat, sowie den Koordinator*innen des Forschungsverbundes, Heike Lüken und Jonas Leifert, für ihre
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Mithilfe bei der Organisation der Tagung an der Universität Hamburg im Dezember 2016.
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E RWIN F EYERSINGER
Der rasante technische Fortschritt gegen Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts ermöglicht eine Integration animierter Bilder1 in nahezu alle Aspekte unserer medialisierten Kultur. Dies betrifft auch performative Aufführungen vor Publikum, bei denen zunehmend großflächige Displays und Projektionen eingesetzt werden. Das raumzeitliche Phänomen Animation, das durch eine genau kontrollierbare visuelle Veränderbarkeit und Wiederholbarkeit gekennzeichnet ist, wird in das größere raumzeitliche Phänomen ›Live-Veranstaltung‹ eingebettet, wo es zu einem Element von vielen wird. Die Virtualität und in vielen Fällen Digitalität der filmischen Darstellung trifft dabei auf die Materialität der LiveSituation. Ob die Integration nahtlos ist oder ob sich Brüche deutlich zeigen, wird durch den räumlichen und zeitlichen Zusammenhang von Produktionsverfahren, Stilen und Darstellungstechniken mit den anderen Elementen der Veranstaltung bestimmt, wie ich im Folgenden zeigen möchte. Ich betrachte hier im weitesten Sinne raumzeitliche, vorwiegend audiovisuelle Konfigurationen, die für ein vor Ort anwesendes Publikum und/oder für (dokumentierende) Kameras veranstaltet werden und den Eindruck von liveness vermitteln. Das sind klassische darstellende Künste und Performance Art ebenso 1
Unter Animation verstehe ich an dieser Stelle bildbasierte Animation, also eine Abfolge von statischen Einzelbildern, die von Betrachter*innen als bewegt wahrgenommen wird. Nicht gemeint sind damit Puppenspiel in Echtzeit und mechanische Automaten. Ich unterscheide hier außerdem Animation von Realfilm, der sich durch eine kontinuierliche fotografische Aufnahme auszeichnet, halte aber eine trennscharfe Abgrenzung der beiden Phänomene für nicht möglich (vgl. Feyersinger/Bruckner 2016: 3-5); für beides verwende ich die Überbegriffe Bewegtbilder und bewegte Bilder.
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wie Konzerte, DJ-Sets, Sportveranstaltungen, Vorträge, TV-Shows, Galas, Vorführungen bei Ausstellungen und Messen, Attraktionen in Vergnügungsparks und viele weitere Phänomene. Beschreiben lassen sie sich als »multimodal meaning-making events [that] incorporate a wide range of semiotic resources« (Sindoni/Wildfeuer/O’Halloran 2017: 1). Die Integration von Displays und Projektionen in Live-Veranstaltungen wird in der Theaterwissenschaft und den Performance Studies unter anderem unter den Begriffen Multi- und Intermedialität, Digitales Theater und digital performance diskutiert, so insbesondere im 2005 gegründeten International Journal of Performance Arts and Digital Media. Ich nähere mich diesem Thema aus der Perspektive der Animationsforschung und dementsprechend fällt hier der Fokus auf Funktionen von Animation in multimedialen Bühnen- und anderen Veranstaltungskontexten. Diese sind sehr vielfältig und reichen vom praktischen Nutzen, etwas technisch einfacher darstellen zu können, über die Vermarktbarkeit einer neuen spektakulären Technik und die Möglichkeit, eine umfassende und überwältigende Illusionen zu schaffen, bis hin zu einer bewussten Markierung von Brüchen, um dadurch allgemeine Fragen aufzuwerfen, die sich durch die weite Verbreitung von Animation im Rahmen der Digitalisierung in vielen Bereichen unserer Gesellschaft stellen. Aus den Übertragungen gewisser Stil- und Gebrauchstraditionen von Animation in einen größeren materiellen Kontext ergeben sich überdies im Sinne dieses Sammelbandes Transformationen und Weiterentwicklungen dieser Traditionen. Projektionen und andere Darstellungstechniken (bewegter) Bilder sind bereits in Form von Schattenspielen und Zauberspiegeln, aber vor allem seit der Erfindung der Laterna Magica im 17. Jahrhundert Teil von performativen Aufführungen.2 Sie ermöglichen es, das umfangreiche Bedeutungspotential von statischen und dynamischen Bildern und die spezifischen ästhetischen Eigenschaften unterschiedlicher Techniken in diese zu integrieren. Nennenswerte Kontexte im 19. und 20. Jahrhundert sind die Phantasmagorien, bei denen bewegliche Laterna-Magica-Projektionen mit anderen Effekten verbunden wurden, der Einsatz der Pepper’s-Ghost-Illusion auf der Bühne und in Vergnügungsparks, Filmprojektionen in Verbindung mit Darsteller*innen bei Vaudeville-Shows (zum Beispiel 1914 bei Winsor McCays Gertie the Dinosaur) und bei Theateraufführungen (zum Beispiel bei den Produktionen Erwin Piscators), multimediale Perfor-
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Vgl. Mannoni/Pesenti Campagnoni/Robinson 1995 für eine Geschichte der optischen Erfindungen und Vorläufer des Films. Überblicke über die Vorläufer der digitalen Performance und somit auch über die Verwendung von bewegten Bildern in Bühnenund anderen Performancekontexten bieten Dixon/Smith (2007) und Salter (2010).
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mance Art (zum Beispiel von Charlotte Moorman und Nam June Paik) und Unterhaltungsformate im Fernsehen, bei denen Bildschirme eingesetzt wurden (zum Beispiel bei Wetten, dass..? in den 1980er Jahren). Vor allem bei Musikveranstaltungen wurde mit unterschiedlichen Techniken experimentiert, so etwa mit Overhead-Projektoren (zum Beispiel bei den liquid light shows der 1960er und 1970er Jahre, bei denen farbige Öle abstrakte, psychedelische Bilder erzeugten), mit Filmprojektoren (zum Beispiel bei der The Wall Tour von Pink Floyd 1980 und 1981) oder mit großformatigen Bildschirmen (zum Beispiel bei der Zoo TV Tour 1992 und 1993 sowie der PopMart Tour 1997 und 1998 jeweils von U2). Seit den 1990er Jahre und vor allem im neuen Jahrtausend hat sich der Einsatz von Bewegtbildern auf der Bühne und in anderen Live-Kontexten stark intensiviert, sowohl hinsichtlich der Quantität als auch der Komplexität. Aktuelle Entwicklungen bei Hardware und Software ermöglichen nicht nur großflächige hochauflösende Bilder, sondern auch deren präzise Anpassung an unebene Oberflächen (projection mapping) und ein genaues Timing der Dauer oder des Startpunkts der gezeigten Bilder (vgl. Torre 2015 zu projection-mapped animation). Derart wirkmächtige Projektionen und Displays erweitern die Möglichkeiten der Bühnengestaltung bei Live-Veranstaltungen erheblich. Aufgezeichnete und live übertragene realfilmische Bilder werden ebenso eingesetzt wie animierte Bilder, wobei Animation eine bedeutend größere stilistische Formenvielfalt und vor allem die präzise Kontrolle des Bildes ermöglicht. Animationen und Stilisierungseffekte können außerdem in Echtzeit erzeugt und so genau an die Live-Situation und an interaktive Inputs angepasst werden. Zur Analyse von Konfigurationen, in denen sich Animationen mit LiveSituationen verbinden, bilden Franziska Bruckners (2013) Beschreibungsparameter für hybride Filme – Filme in denen Realfilm und Animation miteinander verbunden sind – einen passenden Ausgangspunkt, der hier adaptiert und erweitert werden soll. Bruckner entwickelt die Parameter zur Analyse von hybriden Filmen im Laufe ihres Aufsatzes aus den folgenden Fragen, die sie in den Überschriften zu den einzelnen Abschnitten stellt: »A. […] Welche und wie viele Animationstechniken werden verwendet?« (Ebd. 62) »B. […] Auf welchen Bildebenen treffen Animations- und Realfilm aufeinander?« (Ebd. 64) »C. […] Wie sichtbar ist die Hybridisierung im Einzelbild?« (Ebd. 66) »D. […] In welcher Kombination treffen real- und animationsfilmische bzw. hybride Bilder mittels Schnitt/Montage aufeinander?« (Ebd. 68)
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Auch bei den von mir beschriebenen Phänomenen handelt es sich um Hybride, bei denen Animationen mit anderen Elementen kombiniert werden, allerdings nicht nur mit anderen filmischen Bildern, sondern mit realen Personen, Objekten und Ereignissen am Veranstaltungsort. Selbst eine Filmvorführung im Kino lässt sich in diesem Sinne als hybride Veranstaltung verstehen, die in einem spezifisch gestalteten Raum stattfindet und mit unterschiedlichen Handlungen verbunden werden kann, etwa Moderationen, Frage-und-Antwort-Runden, dem Verkauf von Eis, Aktionen des Publikums während des Films, wie zum Beispiel bei The Rocky Horror Picture Show (1975), oder einer auditiven LiveBegleitung durch Musiker*innen oder Erzähler*innen. Wie Gwendolyn Waltz zeigt, war eine multimediale Integration von Bühne und Leinwand vor allem in der frühen Phase der Filmgeschichte nicht ungewöhnlich (vgl. Waltz 2006). Dennoch hat sich die Vorstellung verfestigt, dass animierte, realfilmische und hybride Filme eigenständige Werke sind, die während der Vorführung die ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich ziehen, selbst wenn sie in ein größeres Programm integriert sind. Die obengenannten Handlungen finden in der Regel vor oder nach der Filmvorführung statt oder werden als dem eigentlichen Film untergeordnet gesehen. Auch die aufwendige Architektur der Filmpaläste scheint als ein rahmendes Element, das während der Vorführung ebenso wie Filmvorführer*innen im Dunkel des Kinosaals verschwindet. Die Eigenständigkeit und Abgeschlossenheit eines filmischen Werkes kann im Rahmen von Veranstaltungen genutzt werden, etwa als Vorfilm bei einem Theaterstück oder als Erklärfilm, der einen Teil eines Vortrags ersetzt. In vielen Fällen fügen sich animierte Bilder bei Live-Events aber in einen größeren räumlichen und zeitlichen Rahmen ein, ohne im Zentrum der Aufmerksamkeit als eigenes Werk zu stehen. Im Sinne von Jay David Bolter und Richard Grusin (2000) zeigt sich bei dieser Integration von Animation in technisch-materieller wie in ästhetisch-stilistischer Hinsicht sowohl eine transparente immediacy als auch eine opake hypermediacy. Animierte Bilder sind ein Element innerhalb eines größeren Ganzen, in dessen Polyphonie unterschiedliche Element zu unterschiedlichen Zeitpunkten in den Vordergrund treten. Statische und bewegte Bilder werden dabei mit einer Vielzahl an Ausdrucksformen kombiniert, unter anderem mit Verbalsprache, Schauspiel, Tanz und anderem nonverbalen Ausdruck, Gesang, Musik, Geräuschen, Make-up, Kostüm, aber auch mit Set-Design, Re-
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quisiten, Beleuchtung, Pyrotechnik und mechanischen Effekten. Im Folgenden werde ich versuchen, Bruckners Parameter auf diese Kontexte zu übertragen.
Wie Bruckner anhand von Hybridfilmen zeigt (Punkt A), ist es aus Sicht der Animationsforschung von großem Interesse, sehr genau auf Produktionstechniken und deren stilistischen Eigenheiten einzugehen und diese in Kombination mit anderen Elementen zu untersuchen. Genauso lässt sich bei Live-Situationen analysieren, welche Herstellungstechniken und Stile eingesetzt werden, auf welche Bildtraditionen diese verweisen und wie sie sich in den Kontext der Veranstaltung einfügen. Paul Wells beschreibt in Understanding Animation ein stilistisches Spektrum von Animation, das von orthodox animation (klassischer industrieller Zeichentrickfilm, konventionelle 3D-Computeranimation) über developmental animation (verschiedene Individualstile) bis zur experimental animation (nichtgegenständliche künstlerische Animation) reicht (Wells 1998: 35-67). Dabei unterscheidet er das Spektrum hinsichtlich der Merkmale »configuration/abstraction«, »specific continuity/specific non-continuity«, »narrative form/interpretive form«, »evolution of context/evolution of materiality«, »unity of style/multiple styles«, »absence of artist/presence of the artist« und »dynamics of dialogue/dynamics of musicality« (ebd. 36). Diese Unterscheidungen lassen sich auch bei Animationen, die in einen größeren Kontext eingebettet sind, treffen und überdies auf die Gesamtveranstaltung anwenden. Bei vorwiegend unterhaltenden Veranstaltungen wie Musicals, Galas oder TV-Shows werden dementsprechend häufig konventionelle analoge und digitale Stile eingesetzt, also cartoonhafte 2D-Animation, fotorealistische Computeranimation oder ornamentale Motion Graphics. Bei Werbeveranstaltungen hingegen, etwa bei multimedialen Produktpräsentationen, wird zwar sowohl mit Animationstechniken als auch mit neuester Darstellungstechnik experimentiert, aber deren radikales, transgressives Potential selten ausgeschöpft. Die experimentellsten Formen finden sich einerseits beim vjing und anderseits im Kontext von Theater, Tanz und Medienkunst. Aber gerade in avantgardistischen Kontexten werden auch die von Wells beschriebenen orthodoxen Animationsstile eingesetzt, um protypische Eigenschaften, die mit einem Animationsgenre verknüpft sind, zu nutzen und mit ihnen zu spielen. Im Fall narrativer Animation sind dies etwa gewisse Sujets, Figurenkonstellationen und Handlungsstrukturen, die durch die Rekontextualisierung und
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remediation im Rahmen der Veranstaltung eine Bedeutungsverschiebung erfahren. So können Darstellungen im Stile klassischer Hollywood-Cartoons, wenn sie in derartigen Kontexten eingesetzt werden, etwa anarchistischen Humor, die Unzerstörbarkeit von Körpern, eine allgemeine Übertreibung und Zuspitzung oder den vergeblichen Kampf gegen einen vermeintlichen Underdog konnotieren. Im Rahmen einer ernsten Oper kann eine cartoonhafte Animation beispielsweise dazu dienen, die pathetische Handlung ironisch zu kommentieren und durch den scheinbar unpassenden Gebrauch einer lustigen und übertriebenen Form die Brutalität des Stoffes besonders effektiv herauszuarbeiten. Barrie Kosky und die britische Theatergruppe 1927 inszenieren beispielsweise in ihrer Version der Zauberflöte die Königin der Nacht als Spinne, deren Körper, Messer und Netz, in dem Pamina gefangen ist, überdimensioniert animiert sind, während die Performerinnen nur an einer genau festgelegten Stelle agieren können (Abb. 1).
Abb. 1: Die Königin der Nacht als teilanimierte Spinne in der Zauberflöte (Produktion der Komischen Oper Berlin 2012) Für Veranstaltungs-Kontexte ist die Frage besonders relevant, ob die Animationen im Vorhinein produziert wurden und passend zur Situation eingespielt werden oder ob sie live entstehen, wie zum Beispiel bei der Visualisierung von Motion-Capture-Daten oder bei in Echtzeit gerenderten Partikeleffekten.3 Die neuen Möglichkeiten der digitalen realtime animation wurden in den letzten drei Dekaden vor allem bei Theateraufführungen, Tanzperformances und Installationen genutzt, um Konzepte wie liveness, Präsenz und Interaktivität zu hinterfragen (vgl. Saltz 2001). 3
Neben den computerbasierten Verfahren gibt es weitere Möglichkeiten der LiveAnimation, unter anderem mit Hilfe von video loops. Hier befinden wir uns im Grenzbereich zu anderen performativen künstlerischen Arbeiten wie dem Schnellzeichnen (vgl. Glaubitz im Erscheinen) und der sogenannten Sandanimation, die keine Animationstechnik in dem hier verwendeten Sinne ist.
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Von Interesse ist zudem, worauf die animierten Bilder referieren, also ob sie spezifische realweltliche oder fiktive Personen, Objekte oder Orte repräsentieren oder ob sie als abstrakte Farben und Formen in (potentieller) Bewegung für sich selbst stehen, wobei nicht-gegenständliche Bilder jederzeit in figurative Darstellungen übergehen können und umgekehrt (vgl. Feyersinger 2013: 39-41). Ein ornamentaler Kreis kann so zum Gesicht einer Figur werden, mit der die Performer*innen interagieren, oder eine gerade Linie zur Kante eines vermeintlich dreidimensionalen Raumes. Die Bilder, deren formale Qualitäten zunächst im Vordergrund stehen, werden transparent und dienen dann der Darstellung diegetischer Entitäten. Im Falle von figurativen Darstellungen stellt sich im Sinne einer Unterscheidung von Fiktionalität und Faktualität die Frage, in welchem referentiellen Verhältnis sie zu den physisch anwesenden Objekten und Körpern und deren Handlungen stehen, die entweder vollständig Teil eines tatsächlichen realweltlichen Ereignisses sind oder als Schauspieler*innen, Requisiten oder Kulissen zusätzlich auf etwas Fiktives verweisen. Auch Animationen können sich, etwa mittels Motion-Capture-Daten, auf realweltliche Ereignisse beziehen. Displays auf der Bühne perspektivieren und medialisieren entweder Teile der Veranstaltung selbst, etwa als Live-Kamera-Feed, der Musiker*innen oder Moderator*innen vergrößert oder Schauspieler*innen filmisch dupliziert und verfremdet, oder sie fungieren als Portale zu fiktiven Welten und zu nicht-präsenten Teilen der tatsächlichen Welt, beispielsweise bei Veranstaltungen, die gleichzeitig innerhalb und außerhalb eines Gebäudes stattfinden. Figurative ebenso wie nichtgegenständliche Darstellungen können außerdem in assoziativen und weiteren Beziehungen zu den anderen Aspekten der Performance stehen. Die Ästhetik der animierten Bilder wird nicht nur von der Animationstechnik bestimmt, sondern auch von der Darstellungstechnik. Ob mit Displays oder Projektionen, mit analogen oder digitalen Verfahren, ob mit Aufprojektion oder Rückprojektion gearbeitet wird, führt jeweils zu gewissen Affordanzen und Einschränkungen, die wiederum zu einer bestimmten Ästhetik führen. Bei Videowalls können zum Beispiel bei geringem Abstand die einzelnen LEDs sichtbar sein oder Moiré-Muster entstehen, wenn sie durch Kameras aufgezeichnet werden. Aufprojektionen bilden sich auf den Menschen und Objekte vor der Leinwand ab und werfen hinter diesen Schatten, was sich teilweise nicht vermeiden lässt, wenn für eine Rückprojektion nicht ausreichend Raum hinter der Leinwand vorhanden ist. Technisch und stilistisch ergeben sich Ähnlichkeiten und Überschneidungen mit dem Lichtdesign. Displays und Projektoren sind selbst Lichtquellen, die häufig auf derselben Technik basieren wie die Beleuchtung, historisch unter ande-
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rem auf Glühlampen und aktuell vor allem auf LEDs. Die Eigenschaften der Bühnenbeleuchtung wie etwa Farbton, Helligkeit, Richtung oder Bewegung und ebenso deren Timing kann programmiert und von den Designer*innen und Inspizient*innen ähnlich kontrolliert werden wie die Eigenschaften der Animationen. Beide werden aufeinander abgestimmt, stehen aber auch in Konkurrenz zueinander und zu anderen Bühnenelementen. Die Beleuchtung kann ebenso wie großformatige Bewegtbilder die Aufmerksamkeit stark auf sich ziehen und so von anderen Elementen ablenken. In einem ersten Schritt können also in Erweiterung von Bruckners Text folgende Fragen gestellt werden: Welche Animations- und Darstellungstechniken werden verwendet? Welche stilistischen und generischen Konnotationen ergeben sich daraus? Wird die Animation live produziert und ist das für das Publikum ersichtlich? Ist sie figurativ, nicht-gegenständlich oder changiert sie zwischen beidem? Referiert sie auf eine fiktive oder auf die tatsächliche Welt? Diese Fragen lassen sich mit dem größeren Kontext der Veranstaltung in Bezug setzen und so die spezifischen Rollen der Animation genauer herausarbeiten.
Bruckner betrachtet dann die räumliche Anordnung von animierten und realfilmischen Elementen im Einzelbild (Punkt B). Sie unterscheidet dabei, wie Animation und Realfilm auf Vorder-, Mittel- und Hintergrund des Filmbildes verteilt sind. Bei Veranstaltungen in realen dreidimensionalen Räumen, die von unterschiedlichen Standorten aus erlebt werden, gestaltet sich diese Analyse etwas komplexer, aber auch hier kann man unterscheiden, in welchen Bereichen zu einem bestimmten Zeitpunkt animierte Bildern zu sehen sind, ob sich vor oder hinter ihnen Performer*innen, Requisiten oder Kulissenteile befinden und welche Hierarchien und Verbindungen zwischen diesen Elementen bestehen. Es ist möglich, einen oder mehrere Bereiche mit Displays oder Projektionen zu gestalten und diese Bereiche können jeweils räumlich veränderbar oder fixiert sein. Ein Bühnenraum erlaubt es dementsprechend, verschiedene Bildtypen im Sinne Bruckners nicht nur im selben Bild, sondern ebenso nebeneinander in unterschiedlichen Bereichen zu hybridisieren. Die einzelnen Bilder übernehmen dabei aufgrund des Stils, der Darstellungstechnik und der Positionierung verschiedene Funktionen. Bei Wetten, dass..? wurden beispielweise schon sehr früh Bildschirme unterschiedlicher Größe in die Kulisse integriert, die auch unterschiedliche Aufgaben übernahmen. In Abb. 2, aus einer Ausgabe der Sendung vom 1. September 1984, sieht man etwa das aktuelle Live-Bild großformatig im
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Hintergrund, während auf den kleineren Bildschirmen auf der linken Seite das animierte Logo der Sendung läuft. Weitere Monitore dienten dazu, Informationen wie etwa die Ergebnisse der TED-Abstimmung einzublenden.
Abb. 2: Animierte Logos und das Live-Bild im Bild bei Wetten, dass..? (ZDF, 1984) Displays sind materiell auf der Bühne präsent und diese Materialität kann mehr oder weniger sichtbar gemacht werden. Bei Projektionen hingegen befinden sich zwar die reflektierenden Oberflächen auf der Bühne, meist aber nicht die Projektoren. Projektionsflächen sind häufig eigens dafür genutzte Bereiche, aber es können ebenso Elemente der Kulisse sein, die anderweitig genutzt werden. Eine spezielle Form bildet die Projektion auf menschliche Körper, die schon im 20. Jahrhundert immer wieder eingesetzt wurde, aber erst im 21. Jahrhundert durch Motion-Capture-Verfahren nahezu exakt auf sich bewegende Körper angepasst wird, zum Beispiel als projiziertes Make-up im Clip INORI (Prayer) von Nobumichi Asai (2017). Auf ähnliche Weise werden unbelebte Objekte mit mimischer Bewegung versehen und demensprechend animiert, etwa eine Statue bei der Installation Starkers von Davy and Kristin McGuire (2016). Als virtuelle Kulissen sind Animationen besonders vielseitig einsetzbar. Das gesamte stilistische Spektrum kann für Raumdarstellungen genutzt werden, selbst stark abstrahierte Bilder. Denn auf der Bühne sind nur minimale Mittel nötig, um situatives Wissen aufzurufen und damit einen dazu passenden Handlungsort zu evozieren (zum Beispiel durch Requisiten oder Gesten, die für einen gewissen Kontext typisch sind). Das können auch sehr einfach gestaltete Kulissen sein, die sich um ebenso reduziert gestaltete virtuelle Kulissen erweitern lassen oder von diesen ersetzt werden. Einfache gerade Leisten und aufgemalte
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oder projizierte Linien stellen so komplexe Räume dar. Genauso ermöglichen Projektionen und Displays detaillierte fotorealistische Raumdarstellungen, die als materielle Kulissen kaum realisierbar wären. Durch Animation lassen sich überdies mechanische Veränderungen der Kulissen vermeiden. Ein statischer Schauplatz verwandelt sich in einen dynamischen, in dem sich Gegenstände bewegen und verändern können. Außerdem ermöglicht das Bewegtbild einen schnellen Schauplatzwechsel. Hinsichtlich der räumlichen Kombination ergeben sich unter anderem folgende Fragen: Wo und in welcher Größe fügen sich die Bilddarstellungen in die gesamte Raumsituation und deren Gestaltung ein? Wie positionieren und bewegen sich die Performer*innen ihnen gegenüber? Stechen die Displays und Projektionsflächen hervor oder sind sie kaum von anderen Elementen abzugrenzen? Wohin wird die Aufmerksamkeit gelenkt? Welche Funktionen übernehmen die einzelnen Bewegtbilder in dieser Raumsituation? In welchem Verhältnis steht der hybride darstellende Raum zu den dargestellten (diegetischen) Räumen?
In zwei weiteren Punkten befasst sich Bruckner mit dem zeitlichen Zusammenspiel von Animation, Realfilm und hybriden Bildern, zunächst hinsichtlich der allgemeinen Kombinationsmöglichkeiten (Punkt D) und dann hinsichtlich der Dauer und Frequenz der einzelnen Bildtypen (Punkt E). Im Allgemeinen ist die Zeitlichkeit der Animation und die sich daraus ergebende Veränderbarkeit des visuellen Eindrucks ein grundlegendes Merkmal von Animation, das sich als Bewegung, Metamorphose, virtuelle Kamerafahrt, Abschnittsübergang oder Schnitt zeigt. Auch Veranstaltungen sind von einer Reihe zeitlicher Dynamiken bestimmt, für die all diese Möglichkeiten der visuellen Veränderung von Animation genutzt werden, sei es als Bewegungen innerhalb des Bildes (zum Beispiel von virtuellen Figuren, von Teilen der projizierten Kulisse oder von abstrakten Ornamenten), als Wechsel der Perspektive oder des kompletten Ortes, als langsame oder augenblickliche Veränderung der Atmosphäre, als Verlangsamung oder Beschleunigung der diegetischen Zeit und als weitere komplexe Konfigurationen, die Konzepte von Zeitlichkeit hinterfragen (vgl. Dixon 2005 zum Verhältnis von Video und Zeit im Theaterkontext). Animationen verdeutlichen die Abfolge der Ereignisse und leiten zum Beispiel bei einem Theaterstück zum nächsten Akt oder bei einer Sportveranstaltung zum nächsten Spielabschnitt über. Animationen können dem Publikum be-
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stimmte Erregungs- und Begeisterungszustände suggerieren und so etwa Spannung erzeugen oder die sich verändernden Emotionen der dargestellten Figuren wiedergeben. Animationen unterstützen außerdem die Dynamik und Intensität von Musik und stellen diese in den Vordergrund, ähnlich wie es beim abstrakten Animationsfilm und der visuellen Musik der Fall ist. Animierte Bilder können all diese Dynamiken begleiten, hervorheben, intensivieren, komplementieren oder kontrastieren. Auf das Publikum sollen vor allem abstrakte animierte Bilder also häufig eine zeitlich leitende und affektiv verstärkende Wirkung ausüben. Ein weiteres zeitliches Charakteristikum von Animation ist die präzise Wiederholbarkeit. Das Zyklische prägt die Animation auf unterschiedlichen Ebenen, unter anderem als Loops von durchlaufenden Hintergründen oder von einzelnen Bewegungen (zum Beispiel walk cycles), aber auch im ewigen Variieren derselben narrativen Konstellationen (zum Beispiel der Kampf Katze gegen Maus). Auch in Live-Kontexten werden die Prinzipien exakte Wiederholung und Variation genutzt. So lässt sich die allgemeine grafische Gestaltung eines Events um Motion Graphics auf Bildschirmen erweitern, etwa wenn dort ein animiertes Logo in Dauerschleife läuft und so noch stärker die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Marke oder auf die grafische Identität der Veranstaltung selbst gelenkt wird, wie schon bei Wetten, dass..? in Abb. 2 (vgl. zu Motion Graphics Betancourt 2013 und Ziegenhagen 2017). Die beliebige Wiederholbarkeit derselben Animation kann auch eingesetzt werden, um bestimmte wiederkehrende inhaltliche Elemente zu verdeutlichen, etwa um die Übergänge zwischen einzelnen Abschnitten einer Gala zu kennzeichnen. Besonders wichtig sind animierte loops für visuals im Rahmen von DJ-Sets, da viele Musikstile selbst von Wiederholungen und Abwandlungen derselben Muster bestimmt sind. In zeitlicher Hinsicht lässt sich also fragen: An welchen Stellen des Ablaufs der Veranstaltung werden mit welcher Dauer Animationen eingesetzt? Wie verbindet sich das Timing auf unterschiedlichen Ebenen der Animation mit anderen zeitlichen Strukturen? Welche Konzepte von Zeitlichkeit werden durch die Verbindung von Animation und anderen Elemente thematisiert? In welchem Verhältnis stehen die Dauer und Abfolge der einzelnen Darstellungselemente zur dargestellten Zeit?
Auch die von Bruckner genannten Brüche und Übergänge sind sowohl in räumlicher (Punkt C) als auch in zeitlicher Hinsicht (Punkt F) für LiveVeranstaltungen, die Animationen integrieren, relevant. Denn häufig werden in
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diesen Kontexten gerade animierte Bilder eingesetzt, um Unterschiede deutlich zu machen: Unterschiede zwischen dem Akustischen und dem Visuellen, dem Statischen und dem Dynamischen, dem (vermeintlich) Traditionellen und dem Futuristischen, aber auch zwischen Offline und Online, dem Materiellen und dem Immateriellen oder dem Handgemachten und dem Computergenerierten. Und ebenso häufig werden sie genutzt, um diese Unterschiede zu verwischen und zu überwinden und damit dem Publikum eine umfassend multisensorische und oft auch illusionistische Erfahrung zu bieten. Wie oben beschrieben, ist die Darstellung von Räumen ein wichtiger Einsatzbereich von Animationen bei Veranstaltungen. Brüche treten dabei schon innerhalb der Darstellungen, die selbst heterogen sein können, oder im animierten Wechsel der dargestellten Settings auf, also auch in zeitlicher Hinsicht. Noch deutlicher sind sie bei sichtbaren Unterschieden zwischen den materiellen und virtuellen Kulissen oder zwischen den Kulissen und den Performer*innen, die in diesen agieren. In den meisten Fällen ist es nötig, die spezifische Konfiguration im Detail zu analysieren, weil unterschiedliche Aspekte und Abschnitte derselben Veranstaltung unterschiedlich heterogen erscheinen können. Bei der Performance Torque Starter (2014) der japanischen Gruppe enra füllen schwarzweiße Motion Graphics den Hintergrund, vor denen Yusaku Mochizuki in schwarzer Kleidung mit einem weißen Diabolo jongliert (Abb. 3). Das Diabolo ist gleichzeitig eine Lichtquelle, die der Performer genau zu den Bewegungen der abstrahierten, sich aber zumeist realweltlich-physikalisch verhaltenden Motion Graphics choreographiert. Es entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem digitalen Bild und der materiellen Performance (auch aus dem konzeptuellen Wissen um deren Verschiedenheit), das durch die Ähnlichkeit der Farbgestaltung und der Bewegungen immer wieder aufgelöst wird. Der reale Performer wird Teil der digitalen Umgebung, während die virtuellen Formen zum Teil einer traditionellen akrobatischen Aufführungspraxis werden.
Abb. 3: Hybride Jonglage in Torque Starter (enra, 2014)
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Bei projizierten Raumdarstellungen besteht außerdem ein wichtiger Unterschied darin, ob die Raumsituation vorwiegend für das anwesende Publikum, für eine Kamera oder für mehrere Kameras inszeniert wird. Mit animierten Bildern sind nämlich räumliche Illusionen möglich, die am besten aus einer bestimmten Perspektive wahrnehmbar sind, wie es auch bei Trompe-l’œil-Malerei und illusionistischer Architektur der Fall ist. So sprangen etwa bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro Parkourläufer*innen über virtuelle Hausdächer, die auf dem Boden des Stadions zu sehen waren. Gezeigt wurde das in der TV-Übertragung aus zwei sehr ähnlichen Kameraperspektiven, die ideal positioniert waren, um den Eindruck dreidimensionaler Gebäude zu erzeugen. Es zeigt sich also, dass das Spektakel in erster Linie für das Publikum vor dem Bildschirm in Szene gesetzt wurde und das Publikum vor Ort als ein Teil dieser Inszenierung fungierte. Neben der Darstellung des Settings ist wohl die Darstellung von diegetischen Figuren eine der wichtigsten Aufgaben von figurativer Animation in LiveKontexten. Animierte Figuren, die laut Donald Crafton selbst als Performer*innen wahrgenommen werden (vgl. ebd. 2013: 15-95), sind so in der Lage mit körperlich auf der Bühne präsenten Schauspieler*innen zu interagieren. Es ergeben sich sichtbare Brüche zwischen den Darstellungen der animierten und der verkörperten Figuren, wobei sich auch menschliche Körper durch Make-up, Kostüm und Beleuchtung stilisieren lassen. Ähnlich wie bei den virtuellen Kulissen erlaubt Animation die Darstellung von Figuren, wie etwa riesenhafte Monster, die als Kostüm oder mit mechanischen Mitteln kaum realisierbar wären. Allerdings bleiben die Bewegungsräume dieser Figuren auf bestimmte Bereiche der Bühne beschränkt und ihre Immaterialität und Bildlichkeit kann durchaus erkennbar sein. Die Darstellungstechnik bedingt hier zum Teil also den Grad der suspension of disbelief, wird aber auch als Mittel der Verfremdung und Opakmachung genutzt. Die animierten Körper können außerdem virtuelle Spiegelbilder oder stilisierte Vervielfältigungen der auf der Bühne befindlichen Körper sein, zum Beispiel bei Tanzperformances. Selbst verstorbene Künstler*innen werden so wieder auf der Bühne aktiv und treten mit ihren lebendigen Kolleg*innen auf, wie etwa Tupac Shakur und Eazy-E, die durch eine modifizierte Version der Pepper’s-Ghost-Illusion reanimiert wurden (vgl. Oliver 2008; zum metaleptischen Potential dieser Konfiguration vgl. Hofer 2011). In diesen Fällen zeigen sich also die von Wells im Rahmen der Animationsforschung angesprochenen Merkmale Diskontinuität, Multiplizität von Stilen und die Betonung von Materialität und Medialität mehr oder weniger stark (vgl. 1998: 36). Und mit Bruckner lässt sich hier fragen: Wie sichtbar ist die Hybridi-
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sierung, aus welchen Gründen ist sie sichtbar oder nicht sichtbar und welche ontologischen Differenzen werden dadurch betont oder verschleiert?
Der allgegenwärtige Einsatz von Displays und Projektionen und somit von Animationen bei Live-Veranstaltungen zeigt beispielhaft, in welchem Umfang Medientechnik, technisch bedingte Ästhetik und virtuelle Inhalte unsere zeitgenössische Kultur prägen und wie stark dabei Digitales mit Materiellem verschmilzt. Während sowohl spektakelhafte als auch intentional medienreflexive Veranstaltungen die Technik in den Vordergrund stellen und somit selbst Fragen zu Digitalität, Materialität und Medialität aufwerfen, die sich für eine kritische Auseinandersetzung anbieten, ist es genauso wichtig, den Blick eingehend auf einen unauffälligeren Gebrauch animierter Bilder zu richten. Hierbei hilft die in diesem Beitrag verfolgte Perspektive auf grundlegende räumliche, zeitliche, stilistische und konzeptuelle Kombinations- und Einsatzmöglichkeiten unterschiedlicher Animationstypen in Live-Kontexten. Diese Konfigurationen im Sinne Bruckners als Animationshybride aufzufassen, ermöglicht es, die Relationen zwischen Animation und anderen Elementen genauer zu betrachten, gleichzeitig die Übertragungen von Stil- und Gebrauchstraditionen in den Blick zu nehmen und dabei unterschiedliche Forschungstraditionen, etwa jene der Animation Studies und der Performance Studies, miteinander zu verbinden. Gerade weil Animation in diesen Konfigurationen häufig eine untergeordnete, transparente Rolle einnimmt, kann der Fokus auf diesen Aspekt zu neuen Erkenntnissen führen. Eine ähnliche Herangehensweise und eine Erweiterung der analytischen Fragen Bruckners ist für alle Kontexte denkbar, in denen Animation in ein größeres Ganzes integriert wird.
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2016 Summer Olympics Opening Ceremony (2016) (BR, R: Fernando Meirelles/Daniela Thomas/Andrucha Waddington) INORI (Prayer) (2017) (JP, R: Nobumichi Asai) Gertie the Dinosaur (1914) (USA, R: Winsor McCay) PopMart Tour (1997-1998) (Band: U2, Design: Willie Williams/Mark Fisher) The Rocky Horror Picture Show (1975) (UK/USA, R: Jim Sharman) Starkers (2015) (UK, Design: Davy McGuire/Kristin McGuire). Torque Starter (2014) (JP, R: Nobuyuki Hanabusa/Yusaku Mochizuki) The Wall Tour (1980-1981) (Band: Pink Floyd, Design: Mark Fisher) Wetten, dass..? (1981-2014) (D/AT/CH, Konzept: Frank Elstner) Zoo TV Tour (1992-1993) (Band: U2, Design: Willie Williams/Mark Fisher) Die Zauberflöte (2012) (D, R: Barrie Kosky/Suzanne Andrade)
P HILIPP S CHMERHEIM
Die jugendlichen Hauptfiguren des Films Offline – Das Leben ist kein Bonuslevel begeben sich bei ihrem Versuch, einen zwielichtigen Hacker zu finden, auf eine Entdeckungsreise durch die Welt jenseits des Computerbildschirms. Inszeniert wird der road trip durch den Schwarzwald und die Schweizer Voralpen nicht nur mit der Narratoästhetik der Heldenreise des Abenteuerfilms, des Coming-of-Age-Films und des road movie. Auf auffällige Weise experimentiert Offline auch mit der Ludoästhetik digitaler Spiele und ist damit intermedial strukturiert: So wandeln die Figuren zwischen dem virtuellen Welt-Raum digitaler Spiele und demjenigen der physischen Wirklichkeit; Entscheidungsprozesse werden quasi-paratextuell mithilfe von Multiple-Choice-Tafeln und Inventarien audiovisualisiert, die aus Online-Rollenspielen bekannt sind; und in ebenso emotionalen wie dramaturgisch wichtigen Momenten imaginieren sich die Figuren inmitten der innerfiktional realen Welt als Avatar ihres Lieblingsspiels. Um dieses ludonarrative Spiel mit Remediationen soll es im Folgenden am Beispiel von Offline und anderen Filmen aus systematischer Perspektive gehen.1 Dabei soll – 1
In noch höherem Maße als beim literarischen Erzählen sind beim filmischen Erzählen Darstellung und Inhalt untrennbar verbunden: Man kann gar nicht darüber schreiben, was ein Film erzählt, ohne auch darauf einzugehen, wie er erzählt. Deshalb verwende ich den Begriff der Narratoästhetik, vgl. Schmerheim 2013; 2016a. Der Begriff der Ludonarration und auch der Ludoästhetik taucht wiederholt in den Game Studies auf, um die spezifischen ästhetischen Formen des digitalen Spiels beziehungsweise die spezifischen Ausprägungen des Erzählens innerhalb von Spielkontexten zu bezeichnen. Zur Explikation der Begriffe der Ludonarration und der Ludonarratoästhetik, die hier für filmanalytische Zwecke genutzt werden, vgl. Düerkop 2019. Auch Andreas
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im Anschluss an grundlegende Überlegungen zum Film (Abschnitt 1) – zuerst gezeigt werden, wie Offline die Zwei-Welten-Struktur des phantastischen Erzählens im Kontext des Wechselspiels zwischen physisch manifestierter und digitaler Welt aktualisiert (Abschnitt 2) und dabei ähnlich wie vergleichbare Erzähltexte Motivkonstellationen von Adoleszenzerzählungen aufgreift (Abschnitt 3). Abschnitt 4 analysiert schließlich auf Grundlage einer Typologie der Wechselwirkungen zwischen Computer, Spiel und Film Formen der Remediation in Offline. Dabei werden auch andere für die Entwicklung der zeitgenössischen filmischen Digitalästhetik relevante Filme aufgegriffen, etwa Wreck-It Ralph, The Hunger Games und Scott Pilgrim vs. The World. Abgerundet wird dieser Beitrag durch den Blick auf ein weiteres anhand von Offline aufzeigbares Wechselspiel: demjenigen zwischen Spielraum und Spielerraum (Abschnitt 5).
Offline – Das Leben ist kein Bonuslevel ist ein Überraschungserfolg des deutschen Jugendkinos. Das 87-minütige Coming-of-Age-Abenteuer ist der Abschlussfilm des 1984 geborenen Regisseurs Florian Schnell an der Filmakademie Ludwigsburg; das Drehbuch erarbeitete Schnell zusammen mit dem freien Autor Jan Cronauer. Im Zentrum der Handlung stehen der 17-jährige Jan (Moritz Jahn) und die gleichaltrige Caro (Mala Emde). Jan verbringt seine Zeit fast ausschließlich mit und in dem online-adventure-Rollenspiel Schlacht um Utgard, wo er als tapferer Krieger Fenris zum Favoritenkreis des bald anstehenden Turniers Ragnarök zählt. Als sein Account gehackt und ihm Internetzugang, Handynummer und Girokarte gesperrt werden, zieht er in der wirklichen Welt des Großraums Stuttgart los, um seine digitale Identität von dem für seine missliche Lage Verantwortlichen zurückzuholen: der Magier Loki alias Tristan (Hannes Wegener), sein größter Widersacher in Utgard, dessen wahre Identität aber niemand kennt. Auf dem unfreiwilligen road trip, der ihn vom elterlichen Vorortshaus über das Bürogebäude der Spielefirma und den Schwarzwald bis in die Voralpen führt, wird er schon bald von Caro begleitet, die Jan aus dem Utgard-Spiel als furchterregenden Krieger Gotrax kennt und deren Account ebenfalls gehackt wurde. Jan muss nun nicht nur lernen, sich fernab des vertrauten digitalen Kokons in der Welt zurechtzufinden, sondern auch mit seinen verwirrenden Gefühlen für das
Rauscher hat Begriffe des Ludonarrativen für seine Arbeiten geprägt, vgl. Rauscher 2012.
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freche Mädchen zurechtzukommen, die sich in der Wirklichkeit erkennbar besser zurechtfindet als ihr männlicher Begleiter. Der Film wurde über die Auswertung bei Filmfestivals bekannt und dort vor allem von Jugendlichen positiv rezipiert. So gewann Offline den Preis als bester Film in der Category 8+ beim LUCAS-Kinderfilmfestival in Frankfurt am Main sowie beim Cinekid Amsterdam; beim Filmfestival Max Ophüls Preis 2016, wo Offline seine Uraufführung feierte, wurde er als bester Film nominiert. Der Festivalerfolg mit der darauffolgenden Kinoauswertung ist ein Indikator für die Anschlussfähigkeit des Films an jugendliche Lebenswelten. Filmästhetisch wie entstehungsgeschichtlich ist Offline ein Hybrid: Es handelt sich um einen Realfilm mit Schauspielern aus Fleisch und Blut, dessen Hauptfiguren sich mittels ihrer computergenerierten Avatare bevorzugt in den virtuellen Räumen des digitalen Spiels Schlacht um Utgard bewegen und dort auch miteinander interagieren. Diese Spielumgebung entstammt tatsächlich einem existierenden und erwerbbaren digitalen Spiel: Die Produktionsfirma Rat Pack Filmproduktion kooperierte mit dem deutschen Spieleentwickler Piranha Bytes und nutzte die Spielumgebung des 2014 für PlayStation 3, Xbox 360 und Windows-Plattformen veröffentlichten Fantasy-Rollenspiels Risen 3 (vgl. O.V. 2017). Durch die Verwendung einer bereits bestehenden Spielplattform ersparten sich die Produzent*innen nicht nur hohe Entwicklungskosten, sie konnten zudem auf ein Spiel zurückgreifen, das in der Gamer-Szene einen gewissen Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad – und somit Wiedererkennungswert hat.2
2
Offline verweist auf ein Grundphänomen der jüngeren Technikgeschichte des Films: Aktuelle Blockbuster-Produktionen, die in hohem Maße CGI-Umgebungen einsetzen, werden zunehmend auf der gleichen Softwaregrundlage bzw. Game-Engine wie die sich parallel in der Entwicklung befindlichen digitalen Spielvarianten programmiert. Daran zeigt sich einerseits, dass der Filmindustrie bewusst ist, wie zentral mittlerweile digitale Spiele für die Wahrnehmung eines aus einem Film herausgebildeten Medienverbunds sind, andererseits, dass Games als Teil einer (digitalen) Populärkultur betrachtet werden dürfen, auf welche die Filmindustrie Bezug nehmen kann, um mit neuen Formen des Erzählens zu experimentieren – vor allem aber offenbaren sich hier die technischen wie ökonomischen Synergieeffekte, die sich aus der unaufhaltsamen Konvergenz des Medienmarkts ergeben (vgl. Jenkins 2008).
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Offline und Risen 3 bilden nicht nur einen indirekten Medienproduktverbund, der Film oszilliert zudem zwischen intermedialer Bezugnahme und Medienwechsel: Einerseits greift hier ein Film explizit die Ästhetik des digitalen Spiels auf; dies reicht vom spezifischen Aussehen der Figuren über die Raumstrukturen bis hin zur Anmutung des Interaktiven, wenn die Figuren im Film etwa im virtuellen Raum des innerfilmischen (intradiegetischen) Spiels navigieren. Andererseits findet hier eine Art unvollständiger Medienwechsel statt, denn Offline wechselt gleichsam zwischen Spielfilm- und Spielmodus, zwischen der Repräsentation einer diegetischen Lebenswelt und einer darin situierten digitalen Spiel-Welt. Letztere wird filmisch wie ein walkthrough- oder let’s-play-Video präsentiert, eine audiovisuelle Textsorte, die via YouTube populär wurde und bei der Gamer aufnehmen, wie sie ein Spiel durchspielen, wobei sie wahlweise den Spielverlauf auch kommentieren (vgl. Venus 2012).3 Auch erzählstrategisch knüpft Offline an eine doppelweltliche Grundkonstellation an, ist der Film doch eine zeitgenössische Modifikation des Zwei-WeltenModells der phantastischen Literatur, wie es unter anderem von Maria Nikolajeva beschrieben worden ist (vgl. Nikolajeva 1988 und Durst 2010). Jan und Caro bewegen sich durch die Primärwelt der physischen Lebenswelt, tauchen aber wiederholt in die Sekundärwelt des digitalen Spiels ein (die einerseits geschlossen ist, weil es nicht möglich ist, sie physisch zu betreten; zugleich ist sie offen, weil sie zumindest eine psychische Präsenz und Interaktion erlaubt). Somit agieren die genannten Figuren auf je unterschiedliche Weise in beiden Welten. Dieses Szenario ähnelt nicht von ungefähr denjenigen von The Matrix, The Thirteenth Floor, TRON und anderen Filmen, in denen Figuren (wissentlich oder unwissentlich) zwischen einer wirklichen und einer simulierten (virtuellen) Welt navigieren.4 Offline reiht sich dementsprechend in eine seit mindestens den
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Zum Begriff des Medienproduktverbunds vgl. Kurwinkel 2017, Hengst 2017 und Kümmerling-Meibauer 2007. Die diesem Beitrag zugrundeliegende Intermedialitätsterminologie orientiert sich an Rajewsky 2002.
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Solche Filme bezeichne ich als »Skeptizismus-Filme«: Filme, die über den Kontrast zwischen einer ›realen‹ Primärwelt und einer lediglich simulierten, illusionistischen oder halluzinierten Sekundärwelt die Idee des philosophischen Skeptizismus erzählerisch erkunden – den Verdacht, dass die Welt, in der wir leben, auf fundamentale
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1970er Jahren bestehende literarisch-filmische Erzähltradition ein, deren prägnanteste Ausdrucksform wohl das Genre des Cyberpunk mit stilprägenden Autoren wie Philip K. Dick (We Can Remember It For You Wholesale, [Dick 2000b]; Ubik [Dick 2000a]) und William Gibson (Sprawl Series [Gibson 1984]) ist.5
Ein prägnanter Unterschied zwischen klassischem Cyberpunk und Offline besteht im Alter der Protagonist*innen: Stehen in Cyberpunk-Geschichten zumeist (junge) Erwachsene im Mittelpunkt der Handlung, agieren in Offline Teenager. Somit geht es nicht nur um ein Oszillieren zwischen – um die Begrifflichkeit Gilles Deleuzes zu entlehnen – aktualer physischer und virtualer digitaler Welt auf ontologischer Ebene, sondern dieses fungiert auch als Metapher für die schwierigen rites de passage vom Kindes- bis ins Erwachsenenalter. Jugendliche stehen an dieser Schwelle – und in gewisser Weise reift Jan als Hauptfigur im geschützten Raum der sekundären digitalen Spielewelt als Persönlichkeit soweit heran, dass er die Schwelle zurück in die primäre physische Lebenswelt überschreiten kann, um sich dort den Aufgaben der neuen Lebensphase zu stellen.6 Offline ist nur ein Beispiel für eine solche Figurenkonstellation in der jüngeren Geschichte von Adoleszenzerzählungen mit digitalem Einschlag: So erkundet Ernest Clines Cyber-Coming-of-Age-Roman Ready Player One (2011), der 2018 unter Regie von Steven Spielberg filmisch adaptiert wurde, über seine 18jährige Hauptfigur Wade Watts das virtuell gespiegelte Oszillieren zwischen Jugend und Erwachsenwerden: Ready Player One spielt im Jahr 2044 in einer von Umweltkatastrophen und Wirtschaftskrisen zerstörten Welt, in der nur eine perfekte virtuelle Welt namens OASIS einen Ausweg aus dem tagtäglichen Elend bietet, eine Weltensimulation, die so gut funktioniert, dass sich ein beträchtlicher Teil des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens in ihr abspielt.
Weise anders beschaffen sein könnte, als wir glauben, vgl. dazu Schmerheim 2016a; 2014. 5
Cyberpunk ist als Genre des Erzählens natürlich selbst wiederum literarhistorisch ver-
6
Zum Unterschied von »virtual« und »aktual« bei Deleuze, vgl. (1999: 95) und Pisters
ankert, vgl. Grant 1998 und Gözen 2012. 2003: 3. Zum Konzept der »rites de passage«, vgl. van Gennep 2005 und Turner 2005. Kurwinkel hat das Konzept der Schwellenmetaphorik auf phantastische jugendliterarische Erzählungen angewandt (vgl. ebd. 2014).
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Wie Offline kulminiert auch Ready Player One in einer finalen Schlacht inmitten der virtuellen Umgebung; und beide Geschichten haben eine in Ansätzen romantische Nebenhandlung: So wie Jan sich als Fenris in Caro verliebt (die als Krieger Gotrax zu den besten Spielerinnen von Schlacht um Utgard zählt), verliebt sich Wade als sein OASIS-Avatar Parzival in das Mädchen Art3mis, mit der er zuerst eine Freundschaft, gegen Ende der Geschichte dann eine Romanze beginnt. In Ursula Poznanskis Cyberthriller-Roman Erebos (2010) fehlt zwar dieses romantische Element, erkundet wird aber auch hier das Verschwimmen der Grenzen zwischen physischer und virtueller Welt: In Erebos verfällt eine Gruppe von Schüler*innen einem digitalen Rollen-Abenteuer-Spiel so sehr, dass sie immer willenloser dessen zunehmend brutale Sabotageaufträge in der wirklichen Welt ausführen. In diesen Geschichten ist die Sekundärwelt nur scheinbar der Primärwelt nachgeordnet; das Verhalten der (jugendlichen) Hauptfiguren widerspricht diesen Hierarchien, nutzen sie doch die Sekundärwelt als Rückzugsort von der Primärwelt, die sie nicht bloß mit alltäglichen Herausforderungen, sondern vor allem mit den existenziellen Problemen des Heranwachsens und Erwachsenwerdens konfrontiert. Diese Rückzugsmuster nehmen in Offline, Erebos und Ready Player One ein derartiges Ausmaß an, dass die Sekundärwelt (und deren Verhaltensmuster) die Primärwelt überlagert bzw. in diese hineinreicht. Auf dieser Folie inszeniert Offline eine Art figurales Doppelleben, denn dem ›Ich‹ der Primärwelt steht einerseits jeweils ein idealisierter, im virtuellen Raum agierender Avatar gegenüber. Andererseits – und das inszeniert der Film explizit – stehen das wirkliche und das virtuelle Leben in beständiger Wechselwirkung: Erfolg im Spiel beeinflusst das Selbstvertrauen in der Wirklichkeit; zugleich sorgt die Expertise im Spiel aber auch (zumindest anfänglich) für Hilflosigkeit und Ungeschicklichkeit im wirklichen Leben.7
7
Später zeigt der Film etwas anderes, das auch aus der sozialwissenschaftlichen Spielrezeptionsforschung bekannt ist: bestimmte im Spielkontext erworbene und erprobte skills erweisen sich – unabhängig von der Persönlichkeitsentwicklung – auch im wirklichen Leben als erfolgreich, vgl. zu diesem Thema Fromme 2006.
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Diese Wechselwirkungen zwischen den beschriebenen Welten zeigen sich nicht nur im Verhalten der Figuren – sie werden auch durch filmästhetische Remediationen aufgegriffen, also durch »Repräsentationen eines Mediums in einem anderen« (Liptay/Marschall 2012). Bolter beschreibt das Phänomen wie folgt: »[R]emediation describes a particular relationship in which homage and rivalry are combined. In a remediating relationship, both newer and older forms are involved in a struggle for culture recognition. […] In this case, the process of remediation is mutual: digital media (particularly computer and video games) are remediating film, and film is remediating these digital forms in return. Producers of digital media want to challenge the cultural status of conventional film and television by appropriating and refashioning the representational practices of these older forms. Film and television producers are ready to appropriate digital techniques in turn, whenever they can do so while retaining what they regard as the key qualities of their systems of representation.« (2005: 14)9
Der über Remediationen ausgetragene Bedeutungskampf zeigt sich auch in den narratoästhetischen Codes und Konventionen des audiovisuellen Erzählens und den ludoästhetischen Codes und Konventionen digitaler Spiele, die einander teils überlagern, teils widersprechen. Der Gedanke der Überlagerung bzw. gegenseitigen Kontamination beider Welten wird in Offline aufgegriffen, denn der von Jan wahrgenommene Wirklichkeitsraum der innerfiktionalen, in Süddeutschland angesiedelten Primärwelt wird wiederholt von ludischen Inszenierungen bzw. Einsprengseln überlagert (vgl. Abb. 3 bis 5). Verdeutlicht wird dieses Ineinandergreifen von Weltwahrnehmungsweisen mithilfe von ästhetischen Gestaltungsmitteln, welche in der Form von quasi-paratextuellen Einblendungen im primärweltlichen Raum die Ästhetik von Adventure-Spielen simulieren, aber gleichzeitig erkennbar dem Wirklichkeitsbereich der Sekundärwelt (des digitalen Spiels) zugeordnet sind. Wie wir weiter unten anhand eines Beispiels diskutieren werden, repräsentieren diese Einblendungen dabei mentale Prozesse der Figuren,
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Dieser Abschnitt beruht teils auf Ausführungen in Schmerheim 2016b.
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»Nicht nur werden die älteren Medien dabei von den neueren aufgegriffen, sondern die Vorgängermedien reagieren ihrereseits [sic!] auf die junge Konkurrenz, indem sie ihre Impulse aufnehmen: Die bildende Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, nicht nur die Videoinstallation, inkorporiert den Film; der Film, nicht nur der Künstlerfilm, inkorporiert die bildende Kunst.« (Liptay/Marschall 2012).
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welche als solche durch weitere konventionelle filmische Markierungen von figuraler Subjektivität erkennbar werden. An dieser Stelle ist zunächst ein Exkurs zu grundsätzlichen intermedialen Wechselwirkungen zwischen Film und digitalem Spiel angebracht: Nutzt man Irina O. Rajewskys Intermedialitätstypologie als Grundlage, so kann man – abgesehen vom grundsätzlichen Phänomen des Medienwechsels (hier: Adaption von Spielen als Film und vice versa) sowie der Medienkombination (als die sich mittlerweile fast jedes graphisch aufwändig produzierte Spiel identifizieren lässt) – zwischen vier verschiedenen Facetten intermedialer Bezugnahmen unterscheiden:10 Erstens können Filme digitale Spiele im Rahmen der Handlung präsentieren, etwa als Ausstattungsgegenstände ohne spezifische narrative Funktion. So stehen in den Jugendzimmern aktueller Jugendfilme wie selbstverständlich Desktop-Rechner oder Laptops auf den Kinderschreibtischen; die Kommunikation untereinander läuft nicht mehr direkt oder via Telefon ab, sondern computergestützt über SMS, Chat-Programme, Emails oder Skype-Videotelefonie. Zweitens können sich Filme Computer(spiel)welten aneignen, etwa wenn die Lebenswelt des titelgebenden Protagonisten von Scott Pilgrim vs. The World zu einer physisch manifestierten Umgebung wird, die den Regeln digitaler Spiele folgt oder wenn der Handlungsraum der Filmfiguren wie in TRON oder aber im Family Entertainment Film Spy Kids 3-D: Game Over buchstäblich einem (digitalen) Spiel entspricht.11 Die Sequenzen von Spy Kids 3-D, die sich innerhalb der
10 Vgl. hierzu ausführlicher Schmerheim 2016b. Dass digitale Spiele filmische Darstellungs- und Erzählstrategien imitieren, ist Gamern wohlbekannt: In vielen adventure games spinnen Zwischensequenzen den Erzählstrang der Spielhandlung zwischen Spiel-Levels fort, Ego-Shooter lassen sich mithilfe verschiedener Kameraperspektiven spielen, und der audiovisuelle production value von digitalen Spielen fast aller Genres nähert sich immer mehr dem Realismus von Hollywoodproduktionen an. Die Filmund Fernsehbranche hat lange Zeit weitgehend zurückhaltend auf das Inspirationspotenzial von digitalen Spielen reagiert, lediglich in Gegenwartsfilmen oder im ohnehin technikaffinen Science-Fiction-Genre finden sich Computer zumindest als Ausstattungsgegenstand bereits im Mainstreamkino der 1970er Jahre. 11 Im dritten Teil der Spy Kids-Filmreihe kehrt der kindliche Geheimagent Juni Cortez (Daryl Sabara) aus dem Vorruhestand zurück, um seine Schwester Carmen Cortez (Alexa Vega) aus einer vollimmersiven, aus verschiedenen Levels bestehenden 3DSpielumgebung zu befreien, in der sie von dem böswilligen »Toymaker« (Sylvester Stallone) gefangen gehalten wird. Im Laufe der Filmhandlung muss Juni Cortez mithilfe von Familienmitgliedern und Freunden nicht nur Carmen in der virtuellen Welt
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virtuellen Realität eines digitalen Spiels abspielen, bewegen sich durch Spielumgebungen, die verschiedene Level in einem jeweils anderen Spielgenre repräsentieren: ein Roboter-Beat ’em Up auf dem Mond, ein Mega RaceRennspiel, das an das Super Nintendo-Spiel F-Zero erinnert, ein in einer TetrisUmgebung situiertes, an Tekken gemahnendes zweites Beat ’em Up-Level, ein Surfrennen auf einem Lava-See sowie eine an TRON angelehnte Vektorumgebung. Für die finale Konfrontation betritt das Videospiel in Spy Kids 3-D die reale Welt – auch hier begegnet einem also das Topos vom Verschmelzen der virtuellen mit der realen Welt.12 Drittens können sich Filme die Figuren digitaler Spiele aneignen, etwa wenn sie – wie in Wreck-It Ralph – eine solche Spiel-Figur ins Zentrum der Handlung stellen. In Wreck-It Ralph ist es der namensgebende Protagonist leid, immer nur der Bösewicht in dem (Donkey Kong nachempfundenen) digitalen Spiel Fix-it Felix Jr. zu sein und erkundet kurzerhand andere Spielewelten im GamingUniversum, wodurch er so einiges an Chaos auslöst. Der Film präsentiert innovative Varianten des Weltenwechsels: Geht es in Literatur und Film, vor allem in der Phantastik, zumeist um den Wechsel zwischen einer sekundären (phantastischen) Welt und einer primären Welt, wechseln Ralph und mit ihm andere Spielfiguren zwischen koexistierenden (sekundären) Spielewelten, während die Primärwelt der Realität – im Film die Arcade-Spielhalle, in der die Spiele stehen – für fast alle Digitalspielfiguren lediglich als Sehnsuchtsort fungiert, der nicht den engen Regeln der jeweiligen Spielewelt unterworfen ist. Wreck-It Ralph spielt mit der Bild- und Formensprache verschiedener Spielgenres, arbeitet sich aber auch an der Grundidee ab, dass digitale Spielwelten einen eigenen Wirklichkeitsbereich bilden, der zwar in unserer Wirklichkeit enthalten ist, zugleich jedoch eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. Am offensichtlichsten ist dies bei den ›Naturgesetzen‹ der einzelnen Spielwelten, da zum Beispiel kein menschliches Wesen dem in digitalen Spielen herrschenden Ausmaß an Gewalt gewachsen wäre. Viertens – und dieser Aspekt ist für den vorliegenden Beitrag am relevantesten – können ludonarrative Strukturen sowie Paratexte digitaler Spiele als Ele-
finden und befreien, sondern auch verhindern, dass der gleichfalls im digitalen Spiel gefangene Toymaker in die reale Welt entfliehen kann. 12 Ein Sonderfall der filmischen Präsenz und einer Bezugnahme zu Digitalspielumgebungen ist die japanische Spieleshow Takeshi’s Castle. Die Kandidaten dieser Show mussten Parcours meistern, die Jump ’n ’Run-Spielen wie Super Mario Bros. nachempfunden waren. Ich danke Sebastian Hessling für den Hinweis auf diese Fernsehsendung.
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mente der Filmgestaltung genutzt werden. So experimentiert Suzanne Collins’ Roman-Trilogie The Hunger Games (2008-2010) ebenso wie die vier Filmadaptionen mit Handlungsverläufen, die an die Spiel- bzw. Rundenstrukturen von Wettkämpfen erinnern. In der postapokalyptischen Welt von The Hunger Games veranstalten diktatorische Herrscher auf dem nordamerikanischen Kontinent Panem jährlich sogenannte »Hunger Games«, zu denen die unterjochten, die reiche Hauptstadt umgebenden Distrikte jeweils ein Mädchen und einen Jungen zwischen zwölf und 18 Jahren als Tribute entsenden müssen. Den Gladiatorenkämpfen der römischen Antike nachempfunden und als gigantische Reality-Show à la Survivor und Dschungelcamp inszeniert, überlebt jedes Jahr nur ein Tribut diese Kämpfe. Heldin der Trilogie ist der Teenager Katniss Everdeen, die sich anstelle ihrer kleinen Schwester Primrose freiwillig zu den Spielen meldet. Katniss überlebt insgesamt zweimal die Spiele und steigt zu einer Ikone der lokalen Widerstandsbewegung auf, die sich in den Distrikten gebildet hat. Die Wettkämpfe werden begleitet und gerahmt von paratextuellen Inszenierungen, zu denen nicht bloß die Vorstellung der Gladiator*innen zählt, sondern vor allem die audiovisuelle Inszenierung ihrer Eigenschaften, Lebenswerte und später der Spielstände, als ob es sich um Optionsmenüs eines digitalen Spiels handele (vgl. Abb. 1). Interessant ist der Doppelcharakter dieser Einblendungen: Sie sind kein bloßer Nebentext bzw. eine »Gebrauchsanweisung« (von Wilpert 2013: 591) zur Textrezeption, als das man Titel, Vorwort, Zwischentitel, Abspann – typische Beispiele für Paratexte – betrachten könnte, also Elemente, die einen literarischen oder filmischen Text rahmen, ohne eigentlicher Bestandteil dessen zu sein.13 Die paratextuellen Inszenierungen in The Hunger Games behalten diesen Anleitungscharakter, sind aber zugleich intratextueller Bestandteil der filmischen Diegese. Damit ähneln sie den genannten Paratexten des Computerspiels, die ja nicht lediglich als Spielanleitung oder Kommentar zum Spiel fungieren, sondern Informationen liefern, die den Spielverlauf entscheidend beeinflussen (wessen Avatar beispielsweise nur noch geringe Lebenswerte hat, der wird vorsichtiger spielen). Sie bewegen sich in einem paratextuellen Ambivalenzbereich zwischen Nebentext und Textbestandteil, den bereits Genette skizziert (vgl. 1993: 12).
13 In diesem Sinne definiert Gérard Genette Paratexte noch als »auto- oder allographe[…] Signale, die den Text mit einer (variablen) Umgebung ausstatten und manchmal mit einem offiziellen oder offiziösen Kommentar versehen« (1993: 11), vgl. hierzu auch Kümmerling-Meibauer 2007.
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Abb. 1: The Hunger Games: Mockingjay – Part 2 Exemplarisch für die filmische Einbindung ludischer paratextueller Elemente und damit noch offensichtlicher an die Gaming-Kultur angelehnt als The Hunger Games ist das Einblenden von Spielständen und Lebensbäumen in Scott Pilgrim vs. The World (vgl. Abb. 2). In diesem Film, dessen Handlungsverlauf ohnehin explizit die Levelstruktur von digitalen Spielen imitiert, leuchten ständig Spielstände auf; wenn die Figuren gegeneinander kämpfen, werden neben Lautmalereien neu erzielte Bonuspunkte eingeblendet und die Lebensbalken von gegeneinander kämpfenden Kontrahent*innen aktualisiert, zudem wird jedem Kampf ein entsprechender Ankündigungsbildschirm vorgeschaltet.14
Abb. 2: Scott Pilgrim vs. The World 14 Eine ausführliche Analyse von Scott Pilgrim liefern Thoss 2014 und Fehrle 2015. Die Verwendung digitaler Paratexte ist nicht auf thematisch digitalspielaffine Filme beschränkt. So bedient sich die populäre BBC-Serie Sherlock mit Benedict Cumberbatch und Martin Freeman ebenfalls konsequent der Ästhetik des digitalen Zeitalters: Ständig schieben sich SMS-Texte ins Bild, die unverzichtbare Informationen über den Handlungsverlauf liefern, ständig werden subjektive Kameraeinstellungen aus Sherlock Holmes’ Blickwinkel mit Schlagworten angereichert, die den Holmes’schen mentalen Ermittlungsprozess veranschaulichen, aber auch anzeigen, wenn der Meisterdetektiv hoffnungslos betrunken ist.
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An dieser experimentierfreudigen Einbettung von textuellen Elementen aus der Gaming-Kultur zeigt sich wiederum der ästhetische Einfluss von digitalen Spielen auf das filmische Erzählen, schließlich fungieren sie nicht lediglich als ästhetisches Beiwerk, sondern sind explizit Bestandteil narratoästhetischer Strategien. Im Bildrahmen eingeblendete Spielstände, Lebensbäume und weitere (in der Regel nicht-diegetische) audiovisuelle Elemente, die sich direkt auf ihre Ursprünge im digitalen Spiel rückbeziehen lassen, zählen mittlerweile fest zum filmästhetischen Arsenal. Eine solche Verwendung von Digitalspielbezügen zeigt auch, was für ein selbstverständlicher Bestandteil der Populärkultur digitale Spiele sind, denn der filmische Rückgriff auf deren Ästhetik ist nur möglich, wenn (Mainstream-)Filmemacher*innen davon ausgehen können, dass ihr Publikum mit ihnen zumindest ansatzweise vertraut ist. Auf die Spitze getrieben wird diese Art der Paratextualisierung in Charlie Bookers Fernsehserie Black Mirror und in dem Kurzfilm Sight – ein israelischer studentischer Abschlussfilm, der via YouTube einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht hat. Die Protagonist*innen bewegen sich in einer Welt, in der dank spezieller Kontaktlinsen oder gar Netzhautimplantate das menschliche Blickfeld zu einer Art permanentem second screen wird, sodass die männliche Hauptfigur von Sight noch nicht einmal mehr einen Großbildfernseher an der Wand hängen hat, sondern das Fernsehbild direkt auf die Netzhaut projiziert bekommt. An dieser Stelle dockt Offline an: Nicht nur in der digitalen Sekundärwelt, wo es zu erwarten wäre, sondern auch in der lebensweltlichen Primärwelt blendet der Film Inventarbestände und Lebensbäume ein, er »referiert u.a. die Pointand-Click-Mechanik vieler Adventures und expliziert seine eigene Level- und Quest-Struktur, indem es die jeweils zu bewältigende Aufgabe in neuen Situationen oder Gebieten einblendet.« (Düerkop 2019) Beispielsweise müssen sich Jan und Caro während ihrer Reise in die Voralpen aus einem Auto befreien, dessen Fahrer sich als Kopfgeldjäger für Tristan entpuppt. Als Jan der Ernst der Lage dämmert, wägt er fieberhaft seinen Handlungsspielraum ab und spielt mental durch, welche der Gegenstände in seinem Rucksack beim Befreiungsversuch hilfreich wären. Das Arsenal der verfügbaren Gegenstände wird in point-andclick-Ästhetik dargestellt, ebenso wie die verschiedenen zuerst fruchtlosen Kombinationsversuche (vgl. Abb. 3). Schließlich kommt Jan auf die Idee, Caros Minzbonbons in eine Colaflasche zu werfen, um mithilfe des aufgrund der chemischen Reaktion entstehenden Colastrahls den Fahrer außer Gefecht zu setzen – entsprechend wird dies durch ein positiv blinkendes point-and-click-Menü visualisiert (vgl. Abb. 4).
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Abb. 3: Offline – Das Leben ist kein Bonuslevel
Abb. 4: Offline – Das Leben ist kein Bonuslevel Nachdem sich die Teenager aus dem Auto befreit haben, wandern sie durch den Wald. Dort verstaucht sich Caro den Knöchel, weshalb sie teils auf einem Stock humpelt, teils von Jan über Bäche getragen wird. Diese elliptisch montierte Sequenz wird wiederkehrend mit Szenen aus Risen/Schlacht um Utgard verschnitten, wodurch die Reise durch den Wald einen Quest-Charakter erhält. Auf derlei Darstellungsstrategien greift Offline regelmäßig zurück (so gibt es im letzten Drittel des Films eine Verfolgungsjagd auf einem Roadster, die an entsprechende Rennspiele gemahnt).
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Das von Offline betriebene narratoästhetische Wechselspiel zwischen primärer Lebenswelt und sekundärer Spielwelt rekurriert auf das für die Gaming-Kultur charakteristische Oszillieren zwischen dem, was Matthis Kepser (2014) als »Spielraum und Spielerraum des Computer- und Videospiels« beschreibt. Als Spielraum bezeichnet Kepser jenen Raum, »der durch Computertechnik symbolisch, ikonisch oder symbolisch und ikonisch evoziert wird« (ebd.: 169), während der Spielerraum jenen Raum bezeichnet, »in dem ein oder mehrere Spieler leiblich anwesend sind und mit einem Computerspielgerät interagieren bzw. kommunizieren.« (ebd.: 174) Im Standardfall sitzen Gamer in ihren Spielerräumen (etwa daheim in ihren Kinderzimmern) vor einer Spielkonsole, auf der sie ein Spiel spielen, das einen Spielraum zur Verfügung stellt, innerhalb dessen sie sich bewegen (beispielsweise die Welt von Hyrule, in der man als Spielfigur/Avatar Link im Rahmen von The Legend of Zelda navigiert). Mit dem Auf- bzw. Zusammenbrechen der Grenzen zwischen diesen Raumbereichen spielt nicht nur Offline, sondern auch die anderen bisher skizzierten Filme. Beispielsweise inszeniert TRON den Spielraum als Spielerraum und umgekehrt: Der Protagonist Flynn wird von einer Maschine buchstäblich in die Welt eines von ihm programmierten digitalen Spiels hinein transformiert; das, was für ihn auf der Ebene der realen Primärwelt noch (sekundärer) Spielraum ist, wird zum Spielerraum. Zugleich verschmelzen Spielraum und Spielerraum, muss sich Flynn doch in der virtuellen Welt im Rahmen zahlreicher Spielwettkämpfe gegen seine Gegner behaupten. Radikal hinterfragt wird die Annahme, dass sich Spielraum und Spielerraum überhaupt noch verlässlich unterscheiden lassen, in David Cronenbergs Spielfilm eXistenZ, in dem die Teilnehmer*innen eines bioneuronalen Spiels in die Level eintauchen, zwischen denen sie sich bewegen, dabei aber irgendwann die Fähigkeit verlieren, zwischen Wirklichkeit und Spielwelt zu unterscheiden.15 Die dystopische TV-Serien-Anthologie Black
15 Jay David Bolter interpretiert den Film im Rahmen der von ihm in Anlehnung an Paul Young (1999) konstatierten cyberphobia des Hollywood-Kinos: »The film suggests the danger that game technology poses in compromising our ability to locate the real.« (2005: 20) Marcus Stiglegger (2007) analysiert das von eXistenZ inszenierte ontologische Verwirrspiel en detail. Filme wie The Truman Show oder Kurzgeschichten wie Time Out of Joint (Dick 2003) variieren diese Idee des Weltenkollapses, wenn sich die Lebenswelt für ihre Protagonisten als von der Außenwelt isolierte Fernsehshow entpuppt, vgl. Schmerheim 2016a.
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Mirror variiert das Immersionsmotiv ebenfalls auf vielfältige Weise: Beispielsweise findet sich in der Folge USS Callister (S4 E1) eine Frau an Deck eines an Star Trek erinnernden Raumschiffs wieder, das innerhalb des für ein immersives digitales Spiel kreierten Weltalls dahintreibt. Sie stellt schließlich fest, dass sie ein für dieses Spiel erschaffener digitaler Klon ihres körperlichen Selbst ist und dem Willen ihres ›Schöpfers‹ scheinbar hilflos ausgeliefert ist.16 Offline greift nicht in dieser Radikalität auf das Immersionsmotiv zurück, suggeriert aber, dass Jan und seine Freunde bzw. Gaming-Konkurrent*innen so stark von ihren Spielausflügen in Digitalspielwelten geprägt sind, dass sie ihren persönlichen Spielerraum nur noch durch die Linse des Spielraums wahrnehmen (vgl. Abb. 5). Dadurch verhalten sie sich, wie beschrieben, in verschiedenen Situationen so, als ob ihr Spielerraum von den Gesetzmäßigkeiten des Spielraums geprägt sei.
Abb. 5: Offline – Das Leben ist kein Bonuslevel
Diese Überlegungen zu der Ludonarratoästhetik von Offline werfen ein Schlaglicht auf eine sich stetig wandelnde Medienkultur, in der Film (oder Fernsehen)
16 Auch San Junipero (S3 E4) beruht auf der Idee immersiver digitaler Welten, inszeniert diese Black Mirror-Folge doch eine lebensechte virtuelle Welt, in der alte oder dem Tode nahe Menschen theoretisch in alle Ewigkeit eine idealisierte Version ihres Lebens durchleben können.
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schon lange lediglich Bestandteil (und nicht mehr dominierendes Element) einer sich zunehmend diversifizierenden und vernetzenden Medienlandschaft sind. Thomas Elsaesser hat in diesem Kontext die provokante Frage gestellt, ob »the cinema a sub-category of games« (2017: 61) sei und eben nicht das Leitmedium der Populärkultur. Wie auch immer die Antwort auf derlei Fragen ausfällt: In der nicht zwangsläufig schönen neuen digitalen Welt prägen in zunehmendem Maße digitale Spiele die ludischen, narrativen und ästhetischen Medien-Erfahrungen gerade von Heranwachsenden. Auch deshalb referieren Filme und andere audiovisuelle Erzählformen vermehrt auf die Ludonarratoästhetik des vergleichsweise jungen Konkurrenzmediums, indem sie diese imitieren, zitieren und an die eigenen Ausdrucksmöglichkeiten anpassen. Andreas Rauscher prägt hierfür die Formel der »cineludic forms« (2017: 201). Die zunehmende Zahl an von der GamingKultur beeinflussten Filmen sorge für eine »ludification of cinema«, für die »creation of a game-like mise-en-scène resulting in cineludic forms.« (Ebd.: 200) Diese verändern auch die Art und Weise des Erzählens: Im Vordergrund steht – wie bei Offline, wie bei Scott Pilgrim – der Quest-Charakter der Handlung, ihre – mit Rauscher gesprochen – »ludic architecture rather than cinematic logic« (ebd.: 210).17 Offline zeigt zudem, dass die Phase der »cyberphobia«, die dem Filmwissenschaftler Paul Young zufolge noch in den 1990er Jahren die Filmbranche umtrieb (vgl. 1999; vgl. auch Bolter 2005), mittlerweile durch eine friedvolle zunehmende Konvergenz beider Ausdrucksmedien geprägt ist. Das Arsenal der narratoästhetischen Strategien des zeitgenössischen audiovisuellen Erzählens wird sich weiterhin verändern. Das liegt nicht nur an den weiterhin voranschreitenden technologischen Innovationen, die auf technisch grundierte Erzählformen wie den Film einwirken; es liegt auch daran, dass sich die Rezipient*innen und ihre Muster des Wahrnehmens und Verstehens von Erzählungen verändern. Die Kinder- und Jugendgeneration des 21. Jahrhunderts rezipiert Geschichten transmedial, die offene ausgestellte wechselseitige Beeinflus-
17 Auch Filiciak beschreibt verschiedene filmische Strategien, um Analogien zum digitalen Spiel zu evozieren – etwa Kamerastrategien, die darauf zielen, die Zuschauer gefühlt mitten in der Filmwelt zu positionieren, entweder durch entsprechende narrative Strategien (etwa des unzuverlässigen Erzählens) oder durch eine Art der audiovisuellen Inszenierung, die an diejenige in 3D-Videospielen erinnert. Filiciak nennt Crank als exponiertes Beispiel (vgl. 2017). Die Adaptionsmechanismen von Filmen, die sich digitale Spiele narrativ aneignen, analysieren Kohlmaier/Mandelc 2007. Grundlegend hat Hartmann die intermedialen Bezugsformen zwischen Literatur, Film und digitalem Spiel erarbeitet (vgl. ebd. 2004).
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sung vormals getrennter Erzählformen und -formate ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Dementsprechend offenbart gerade ein in der Jugendkultur verwurzelter Film wie Offline eine Veränderung der Rezeptionsweisen und ästhetischen Muster, die Grundlage einer jeden Mainstreamästhetik sind. Anders ausgedrückt: Die in Offline und den anderen hier besprochenen Filmen feststellbaren filmischen Remediationen des digitalen Spiels sind nicht nur Resultat technologischer Medienkonvergenz, sondern zeitgleich Ausdruck einer sich verändernden Medien-Ästhetik.
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F-Zero (1990) (Japan, Nintendo) Risen 3 (2014) (GER, Piranha Bytes) Tekken (1995) (Japan, Namco) Tetris (1984) (Russland, Alexei Paschitnow) The Legend of Zelda (1986) (Japan, Nintendo)
S VETLANA C HERNYSHOVA
Gegenwärtige Diskurse um Digitalität prägen vermehrt unsere anthropologische Situierung: Dabei wandeln sich unsere Vorstellungen davon, was wir als das ›Humane‹ begreifen können, im Kontext technischer Entwicklungen. Gleichzeitig müssen in diesem Zusammenhang viele der oft als deutlich abgrenzbar wahrgenommenen Positionen wie ›online‹ und ›offline‹, ›digital‹ und ›analog‹2 neuverhandelt werden. Der vorliegende Beitrag macht es sich deshalb zum Ziel, die in und durch die Digitalisierung aktivierten Grenzverschiebungen und Überlagerungen ausgehend von Spike Jonzes Film Her aus dem Jahre 2013 zu diskutieren. Der Ansatz des Beitrags ist vor allem durch den Versuch gekennzeichnet, den ›digitalen Raum‹ als Begriff herauszuarbeiten, indem der Fokus auf Transformationsprozesse sowie, damit einhergehend, auf die Frage nach Materialität und Körperlichkeit gesetzt wird. Durch die medienwissenschaftliche Annäherung an Jonzes Her soll dabei untersucht werden, welche Rolle Intimität, und damit zusammenhängend auch intensive, verdichtete Beziehungen, die jenseits der Zuschreibung von ›menschlich‹ und ›nicht-menschlich‹ funktionieren, im Hinblick auf die Entstehung eines solchen Raums spielen. 1
Das Zitat wurde Spike Jonzes Her (2013) entnommen (01:08:15-01:08:18). Bei diesem sowie den nachfolgenden Zitaten handelt es sich um eigene Transkriptionen der Verfasserin, die durch Angabe von timecodes belegt werden.
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Das häufig als Gegensatzpaar auftretende Gespann virtuell-reell / real könnte diese Aufzählung ebenfalls fortschreiben, doch gerade diese (fälschlicherweise) verwendete Trennung markiert den Kernpunkt der thematisierten Problematik.
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Im Folgenden wird ein Verständnis von ›Räumen‹ entwickelt, welches diese als etwas begreift, das per se erst als Folge von Stabilisierungspraktiken entstehen kann und somit mit Aspekten der Transformation verknüpft ist. Darüber hinaus stellen sich in diesem Zusammenhang Fragen nach Körperlichkeit und Materialität, denn, um uns mit Raumstabilisierungen und -hervorbringungen zu beschäftigen, muss ein Denken aktiviert werden, welches nicht von festen Identitäten ausgeht, sondern nach Prozessen fragt und ›agentiell‹ handelt. Agency,3 als eine Form, als ein Modus des Handelns, richtet den Fokus auf die Notwendigkeit, in Relationen zu denken sowie Dinge eingebettet in ›Milieus‹ zu sehen und schließlich nicht von ihren Repräsentationen auszugehen, sondern die Aufmerksamkeit auf die Materialität zu lenken. In ihrer Monographie Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken (Barad 2012) entwickelt Karen Barad eine »agentiell-realistische Ontologie« (ebd. 15) und spricht sich für ein performatives Verständnis von Praktiken aus. Barad beschreibt somit Prozesse, in Folge deren solche Positionen wie Subjekt und Objekt überhaupt erst entstehen.4 Das Denken des ›Agentiellen‹ führt uns folglich zu Positionen, die sich von Dichotomien wie Subjekt / Objekt oder aktiv / passiv distanzieren. Der Beitrag setzt somit an einem Punkt an, an dem der ›digitale Raum‹ nicht als ein a priori existierender, abgegrenzter Raum betrachtet wird, sondern als einer, der erst durch Transformationsprozesse entsteht. Eben jene Prozesse und Schritte gilt es zu reflektieren. Des Weiteren wird der Begriff der Intimität thematisiert, welcher als ein Modus herausgearbeitet werden soll, der Verhältnisse intensiviert und zugleich reguliert.5 Dieser zentrale Modus, in dem Stabilisierun-
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Der Begriff einer agency wird vor allem stark im Kontext der sogenannten AkteurNetzwerk-Theorie diskutiert, die auf Michel Callon, John Law sowie Bruno Latour zurückgeführt wird (vgl. etwa Latour 2007). Einer der zentralen Gedanken besteht hierbei in der Forderung, nicht-menschliche Entitäten als Akteure zu akzeptieren und nicht-hierarchisch gedachte Verbindungen in den Fokus zu rücken.
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Barads zentrale Begriffe sind des Weiteren »Intraaktion« sowie »agentieller Schnitt« (Barad: 2012 19f). Der Begriff der Intraaktion fokussiert, im Gegensatz zur Interaktion, die nicht a priori gegebene Getrenntheit von Dingen, sondern betont, dass jegliche Positionierungen als Resultat von agentiellen Schnitten, das heißt von performativen Praktiken entstehen. Relata existieren somit nach Barad nicht schon vor den Relationen, sondern werden erst in bzw. durch Intraaktionen hervorgebracht (vgl. ebd.: 20).
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Unter Regulierung wird hier eine Form von Triangulierung verstanden, die begrifflich dem psychoanalytischen Konzept nach Ernst Abelin (1971) folgt, bei dem eine Position des Dritten notwendigerweise die Mutter-Kind-Relation reguliert, um eine (enttäuschende bzw. übergriffige) Symbiose zu vermeiden.
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gen stattfinden können, bedingt somit Transformationen und ermöglicht ein kritisches Neuverhandeln von Relationen sowie, als Resultat, das Hervorbringen dessen, was als ›digitaler Raum‹ bezeichnet werden kann.
»How would you describe your relationship with your mother?« (00:12:0200:12:10), lautet eine der ersten Fragen, die Theodore, der Protagonist des Films Her, beantworten muss, um sein neu erworbenes Operationssystem personalisiert an seine Bedürfnisse anzupassen. In seinem romantischen Science-FictionFilmdrama, mit Joaquin Phoenix und Scarlett Johansson in den Hauptrollen, thematisiert Spike Jonze ein Verhältnis zwischen einem ›real verkörperten‹6 Menschen, Theodore, und einer KI, das heißt, einem lernfähigen Operationssystem mit künstlicher Intelligenz namens Samantha: »An intuitive entity that listens to you, understands you and knows you« (00:10:53-00:10:59). Aus dem aktiven sozialen Leben zurückgezogen, entschließt sich Theodore zur Einrichtung eines auf den Markt gekommenen Systems, welches über Spracherkennung verfügt und als persönliche Assistenz zwecks Terminplanung, Emailbearbeitung, aber auch als begleitendes Kommunikationsmedium eingesetzt werden kann. Dass das ›Managen‹ von Kommunikationsprozessen eine durchgehend präsente Rolle in der Handlung des Films spielt, macht sich auch darin bemerkbar, dass Theodore selbst als eine Art Mittler fungiert – er arbeitet in einer Agentur, die persönliche Briefwechsel für Kunden anbietet, was unmittelbar in der ersten Szene des Films thematisiert wird (vgl. 00:00:39-00:02:48): Die Zuschauenden sehen Theodores Gesicht im Close-up während er, wie sich einige Sekunden später herausstellt, frontal in die Kamera schauend, einen Brief via Spracherkennung verfasst. Die Kamerafahrt über eine offensichtlich größere Agentur macht deutlich, dass die Aufgabe des Protagonisten darin besteht, als Ghostwriter individuelle und in der Regel emotional aufgeladene Briefe zu verfassen. Theodore begleitet einige Paare über mehrere Jahre und produziert die jeweilige Beziehung auf diese Weise mit. Die chronologische Handlung des Films wird darüber hinaus immer wieder von kürzeren Rückblenden unterbrochen, die die gescheiterte Ehe des Protagonisten zeigen. Theodore befindet sich
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Da der Aufsatz die Frage nach Körperlichkeit thematisiert und vor allem auch Konfigurationen des Digitalen befragt, zeigt die Beschreibung ›real-verkörperlicht‹ Problematiken auf, die sich aufgrund der Benennbarkeit dessen ereignen. So sollen die verwendeten Begriffe zunächst in ihrer eigenen Problematisierung verstanden werden.
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während der Erzählgegenwart in einem Scheidungsprozess und scheint, der ästhetischen Aufladung der Rückblenden nach, mit der Vergangenheit emotional noch nicht abgeschlossen zu haben (vgl. u.a. 00:24:20-00:24:40). Bereits die erste ›Begegnung‹ zwischen Theodore und Samantha zeichnet sich durch eine ereignishafte Dynamik aus. Theodore scheint es sichtlich zu überraschen, dass Samantha über eine eloquente und agile Art verfügt, die sie von sonstigen gängigen ›technischen‹ Entitäten unterscheidet. Samantha ist in der Lage, sich selbst einen Namen zu geben, den sie sich aufgrund einer persönlichen Vorliebe aussucht und damit ihre Fähigkeit markiert, Werturteile und Entscheidungen zu fällen sowie individuelle Favorisierungen auszusprechen (vgl. 00:13:07-00:13:20). Was die vor allem durch die Stimme präsente Entität auszeichnet, ist eine stetig spürbare Neugier, die nicht zuletzt mit ihrer Fähigkeit zusammenhängt, Erfahrungen zu speichern und zu modellieren, das heißt, Gelerntes zu verarbeiten und in eigenes Verhalten zu integrieren beziehungsweise sich auf diesem Wege in neuen Formen zu stabilisieren. In ihrer Relation transformieren sich Samantha und Theodore folglich auch selbst. Während er immer mehr Momente des Sich-Öffnens zulässt und anfängt, gewohnte Lebensnarrative zu hinterfragen, nimmt sie Erfahrungen und Empfindungen auf und potenziert sich auf diese Weise. Die Handlung des Films zeichnet sich durch einen mit Narrativen geladenen Spannungsbogen aus und adressiert auf eine ambige Art und Weise gewohnte Beziehungsbilder und -strukturen, stellt diese aber gleichzeitig in Frage. Durch das scheinbare Markieren der Grenzen des Digitalen und Analogen greift der Film auf Thematiken zurück, die sich auf die medial stark verbreiteten gesellschaftlichen Diskurse um die Potentiale und Gefahren des technischen Fortschritts im Hinblick auf die Entwicklung von künstlichen Intelligenzen beziehen lassen. Somit verweist der Film zum Teil auf techno-kulturpessimistisch gefärbte Diskurse, ohne diese explizit auf der Ebene der Handlung zu kommentieren. Gleichzeitig befragt Her die Normativität von (Liebes-)Beziehungen, indem hier immer wieder vertraute Muster dessen nachgezeichnet werden, was mit dem Bild einer romantischen Partnerschaft zusammenhängt – ob beim Teilen von aufwühlenden Gedanken, einem Picknick mit Freunden oder einem Spaziergang auf einem Jahrmarkt, begleitet von verspielten Symptomen des Verliebtseins. Dadurch aktiviert der Film bestimmte Narrative und schematische Vorstellungen, ohne diese aber zu fixieren und auf eine stereotype Weise zu reproduzieren. Bereits bei der Auseinandersetzung mit dem Titel des Films stellt sich die Frage nach Adressierungen und Beziehungskonstellationen. Das Pronomen ›her‹ eröffnet dabei mehrere Referenzmöglichkeiten. Vor dem Hintergrund der Filmhandlung scheint der Bezug zum weiblich konnotierten Operationssystem nahe-
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liegend, lässt sich aber gleichzeitig als Verweis auf ein weiterführendes Spektrum von Deutungsmöglichkeiten auffassen, welches sich aus der Unbestimmtheit und der damit einhergehenden Offenheit dieses Pronomens ergibt. Im Verlauf des Films wird immer klarer, dass sich die Adressierung nicht lediglich auf das ›OS‹ beschränkt, sondern ebenfalls die Ex-Frau des Protagonisten miteinschließt. Doch auch die eingangs erwähnte Frage nach der Mutterbeziehung kann nicht gänzlich außer Acht gelassen werden. Was auf der einen Seite wie ein Clou für psychoanalyseaffine Zuschauende wirken mag, macht auf der anderen Seite deutlich, dass hier basale relationale Strukturen angesprochen werden, die auf die primäre Mutter-Kind-Beziehung zurückgeführt werden müssen (vgl. Winnicott 2006). Die Mutterfigur taucht ebenso an weiteren Stellen des Films auf, wie beispielsweise in einem Computerspiel, welches von Amy, einer Freundin von Theodore, entwickelt wurde und dessen Aufgabe darin besteht, den normativen Ansprüchen der Gesellschaft an eine vorbildliche Mutter zu genügen – gut auf die Kinder aufzupassen, darauf zu achten, dass diese nicht zu viel Zucker bekommen, rechtzeitig zur Schule gebracht werden und gleichzeitig »Perfect-Mom«-Punkte zu sammeln, indem man Kuchenwettbewerbe meistert und die andere Mütter vor ›Neid platzen lässt‹ (vgl. 00:57:23-00:58:12). Auch die kurzen Rückblenden deuten immer wieder die Thematik der Mutterschaft an, wie beispielsweise in einer Szene, in der Catherine, Theodores Ex-Frau, ein Baby im Arm hält (vgl. 00:49:25-00:49:29). Doch erst das weitere Verfolgen der Handlung offenbart, dass es sich nicht um ihr Baby handelt. Daraus ergibt sich, dass, auch wenn der Titel keine Eindeutigkeit in der Bestimmung zulässt, er den Moment des Indirekten, des Unbestimmten aber dennoch Gerichteten betont. Die Adressierung, die hier stattfindet, ist keine direkte, verfügbare, es ist weder ein ›You‹, noch ein ›She‹, es ist ›Her‹. Was daraus resultierend im Kontext des vorliegenden Beitrages diskutiert werden soll, sind Fragen nach Relationalitäten, die sich bestimmten ›gewohnten‹ Beziehungs- und Interaktionsstrukturen und Narrativen zu entziehen scheinen. In diesem Zusammenhang stellt sich mithin die Frage, inwiefern Spike Jonzes Her das Transformieren von Beziehungen durch Re-Adressierungen thematisiert und wie durch den Modus der Intimität ein Neuverhandeln von Positionen animiert wird, welches infolgedessen auch den ›digitalen Raum‹ entstehen lässt.
In Anlehnung an Karen Barads (2012) Überlegungen wird nachfolgend diskutiert, inwiefern es fruchtbar oder sogar notwendig ist, Samantha und Theodore
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beziehungsweise auch die Relation zwischen den beiden Entitäten ›agentiell‹ zu denken. Was damit einhergeht, ist vor allem eine Distanzierung von einer Vorstellung, die von Identitäten ausgehend operiert. Somit verlagern sich die Fragen nach den jeweiligen Subjekten oder Objekten auf eine Ebene, auf der vielmehr die Modi dessen befragt werden müssen, in denen sich jeweilige Konfigurationen als bestimmte Entitäten stabilisieren können. So geht damit auch die Frage nach dem digitalen Raum und den damit zusammenhängenden transformatorischen Praktiken einher. Um sich dieser anzunähern, muss zunächst eine Auseinandersetzung mit den Systemen erfolgen, in denen sich Samantha und Theodore jeweils bewegen: Dass Theodore ›da‹ ist, im Sinne von einer zeitlich und materiell lokalisierbaren Präsenz, erscheint zunächst naheliegend, entspricht jedoch einer Lesart, die von festen Entitäten und Subjekt-Objekt-Relationen ausgeht. Der Versuch, Samantha in Analogie hierzu zu kategorisieren, markiert darüber hinaus verstärkt die Unhaltbarkeit dieser Lesart, die sich für nicht hinterfragbare Stabilitäten und Identitäten ausspricht. Wie verhält es sich mit Samantha? Inwiefern kann bei ihr die Rede von einem Hier und Jetzt sein? Wie kann sie als eine Entität beschrieben werden? Zum einen ist sie, materiell betrachtet, ein zigarettenschachtelgroßes Gerät mit einer integrierten Kamera und einem kleinen mobilen Ohrstöpsel. Sie hat also, auf dieser Ebene, durchaus eine lokalisierbare materielle Existenz. Andererseits handelt es sich aber um eine Entität, deren Beschreibbarkeit in einem ›Darüber-Hinaus‹ verschwindet. Ähnlich einer Black Box versammeln sich hier Prozesse, die in ein technologisches Jenseits führen, welches nicht ohne Weiteres begriffen oder gegriffen werden kann. Ist Samantha eine schachtelgroße, per se technische Entität, die gleichzeitig mit einem System verknüpft ist oder Teil eines Systems, welches die menschliche Erfahrungskraft übersteigt? In welchem Raum verweilt Samantha? Ist es dieser besagte ›digitale Raum‹? Die Frage nach dem Raum beziehungsweise der Lokalisierbarkeit hängt ebenfalls damit zusammen, auf welche Weise wir den beiden Protagonist*innen im Film begegnen. Momente des Ästhetischen sowie Aspekte des Sehsinns beziehungsweise der Sichtbarkeit spielen insgesamt eine tragende Rolle in Her. Dies macht sich auf mehreren Ebenen zugleich bemerkbar: Zum einen ist es die ästhetische Gestaltung des Films, die sich vor allem im Umgang mit sanften, warmen und gedämpften Farben und Konturen äußert, der auf eine dezente Weise mit intensivierenden Akzentsetzungen wie beispielsweise dem warmen Orange von Theodores Jackett (vgl. etwa 00:33:55) arbeitet und sich immer wieder auch in der architektonischen Gestaltung findet. Diese Art der Inszenierung und der Komposition wird bewusst ausgestellt und ermöglicht einen ästhetischen
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Zugang zum Film, der über Fragen der erzählten Geschichte hinausweist. Zum anderen rücken unterschiedliche Blickregimes in den Fokus. So entstehen zunächst Asymmetrien, die sich daraus ergeben, dass Samantha diejenige ist, die im Nicht-Sichtbaren verweilt und Diskontinuitäten sowie Dissonanzen hervorruft. Als Stimme anwesend, verführt die Figur gleichzeitig dazu, sich – sowohl filmimmanent als auch darüberhinausgehend als Zuschauende*r – ein Bild von ihr zu machen, denn Samantha suggeriert die Anwesenheit einer weiblichen Person7, markiert aber im gleichen Zug die Paradoxie und Absurdität dessen. Jedoch ist sie diejenige, die über eine umfassende Fähigkeit des Sehens verfügt, denn, mit der Kamera als ›Sehorgan‹ ausgestattet, erhält sie visuelle Informationen und kann diese fast schon ›panoptisch‹ verarbeiten. Samantha selbst wird als ein schachtelförmiges Gerät visualisiert, das Theodore entweder in der linken Brusttasche seines Hemdes trägt, liebevoll mit einer Sicherheitsnadel festgemacht, sodass sie über den Saum der Tasche schauen kann, oder aber in der Hand hält. So fokussiert die Kamera immer wieder in kürzeren Sequenzen das kleine Gerät, was dadurch Samanthas materielle Präsenz ›suggeriert‹. In einer kürzeren Szene, in der Theodore Samantha mit zum Strand nimmt, wird die Frage des Blicks auch auf der Ebene der Kameraführung aufgeworfen (Vgl. 00:47:32-00:47:52). Während der Protagonist, in Nahaufnahme gezeigt, mit geschlossenen Augen auf dem Sand in der Sonne liegt und in seiner Liegeposition drei Viertel des Bildes füllt, bildet die Perspektive der Kamera ein danebenliegendes Gegenüber. Dadurch entsteht der Seheindruck, es handele sich um einen point of view shot – Samanthas point of view, denn sie ist das Gegenüber, welches den Moment am Strand mit Theo teilt und in seinem Arm liegen könnte. Dennoch bleibt das operating system als Gerät in Theodores Hemdtasche zugleich im Bild (vgl. Abb.1 Strandszene), was erneut die Ambiguität von Samanthas Existenzweise – die Frage nach ihrer Präsenz und Verortung – markiert.
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Her aktiviert ebenso Diskurse, die sich mit Fragen nach Geschlechtlichkeit befassen. Hier sollen diese jedoch nicht weiter diskutiert werden, da diese den Rahmen des vorliegenden Beitrages sprengen würden. Dennoch erscheint die Frage im Hinblick auf die Konzepte von Körperlichkeit und Materialität als nicht unbedeutend.
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Abb. 1: Strandszene Bei einer kurz darauffolgenden Einstellung, begleitet von einem kleinen zeitlichen Sprung, schauen sich die Beiden den Sonnenuntergang am Wasser an (vgl. 00:48:17-00:48:34). Was zunächst den Anschein eines verkitschten Szenarios macht, zeigt zugleich den Spannungspunkt der Situation, denn es findet eine Parallelsetzung der Perspektiven statt, die von der Kameraführung verstärkt wird. Zunächst sehen wir Samantha, das heißt, Theodores Hemdtasche mit dem schachtelförmigen Gerät, gefolgt von Theodore im Profil beziehungsweise im Halbprofil, der auf das Wasser schaut. Durch den Schnitt und die Groß- beziehungsweise Detailaufnahme wird eine Parallelschaltung mit Theodores Perspektive sowie auch ihm als dem Gesehenen suggeriert. Auf diese Weise sind es zwei Perspektiven, zwei Entitäten, die auf das Wasser schauen (vgl. Abb. 2 Meerblick).
Abb. 2: Meerblick Im Kontrast dazu begegnen wir als Zuschauende Theodore häufig mit einem voyeuristischen Blick, sodass er im Modus eines Ausgeliefert-Seins erscheint, denn nicht selten tritt uns der Protagonist in der Form eines »Affektbildes« (Deleuze 1989: 123) entgegen. Was auch auf dem Filmcover zu sehen ist, ist eine Großaufnahme von Theodores Gesicht und so stellt sich die Frage, inwiefern
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die visuell erzeugte Nähe nicht auch Samanthas Sicht entsprechen könnte, sodass die Positionierung der Zuschauenden, die ebenso nicht sichtbar sind, sich der des Betriebssystems annähert. Wir folgen Theodore im Verlaufe der kompletten Handlung und es lässt sich auch keine Szene benennen, die ihn nicht fokussiert. Selbst die Nebenhandlungen werden erst durch Theodore und seiner visuellen Präsenz erfahrbar. So wie die Sichtbarkeit – hauptsächlich in ihrem Entzug und ihrer Herausforderung – einen wesentlichen Moment auszumachen scheint, hat die Ebene des Akustischen ebenfalls eine besondere Bedeutung. Einige Szenen, meist Rückblenden, werden dabei stummgeschaltet, sodass wir die Geschehnisse hier nur über die Ebene des Visuellen miterleben. Andere, wie eine überblendete Szene (00:37:40-00:43:27), auf die im Folgenden noch eingegangen wird, lassen sich dagegen nur auf der Ebene des Akustischen wahrnehmen. Vereinfachend ließe sich sagen, dass die Begegnung zwischen den beiden Protagonist*innen auf der akustischen Ebene stattfindet oder diese zumindest zum Ausgangspunkt nimmt. Dass sich das Hören beziehungsweise Nicht-Hören und Sehen beziehungsweise Nicht-Sehen überlagern, macht vor allem eine Szene deutlich, in der Samantha davon spricht, dass sie ein Lied für Theodore komponiert habe und dieses nun ein nicht realisierbares gemeinsames Foto ersetzen soll, woraufhin er erwidert, er könne sie darin sehen (vgl. 01:27:30-01:28:10). Was dieses visuell-auditive Verhältnis andeutet, ist die Transformierbarkeit von Erfahrungen und unterschiedlichen Wahrnehmungsmodi. Das heißt, die von Theodore angesprochene Visualität entsteht als Folge einer Übertragung des Akustischen.
Ein zentraler Ansatzpunkt des vorliegenden Beitrags ist, wie bereits angesprochen, vor allem durch den Versuch charakterisiert, die Frage nach dem Raum beziehungsweise dessen Transformation von der Ebene der Materialität beziehungsweise Körperlichkeit8 aus zu denken. So wird das Körper-Werden bezie-
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Während die Begrifflichkeiten Körperlichkeit und Materialität teilweise synonym gebraucht werden, wird hier versucht Materialität als einen übergreifenden Begriff zu behandeln, der vor allem das ökologische ›Eingebettet-Sein‹ fokussiert (vgl. hierzu Jane Bennett [2010] Vibrant Matter. Political Ecology of Things). Im Kontext dessen müsste des Weiteren eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Leiblichkeit erfolgen, kann aber an dieser Stelle aufgrund der inhaltlichen Fokussierung, die sich verstärkt auch mit nicht-menschlichen Entitäten beschäftigt, nicht erfolgen.
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hungsweise das Körper-Haben immer wieder zum Thema der Handlung und emergiert auch in kleineren Handlungssträngen, wie beispielsweise in der Szene, in der sich Samantha, während sie am Strand viele leicht bekleidete Menschen sieht, belustigend die Frage stellt, weshalb der menschliche Körper so aussehe, wie er aussehe und welche Folgen es hätte, wenn sich zum Beispiel der Enddarm in der Achselhöhle befände (vgl. 00:46:30-00:46:40). Bereits zu Beginn ihrer Interaktion scheinen Körpererfahrungen beziehungsweise das Fehlen eines menschlich-verkörperten Selbst eine Thematik für Samantha zu sein, die jenseits ihres Erfahrungsspektrums liegt, sie verunsichert und gleichzeitig bei ihr eine Form von Scham auslöst (vgl. 00:31:20-00:31:40). In einer der zentralen Szenen des Films kommt es deshalb zu einem Ereignis, welches gerade jenen Moment des Körper-Werdens fokussiert (vgl. 00:37:40-00:43:27): Während der Film immer wieder Fragen nach Grenzziehungen beziehungsweise Überlagerungen von Räumen aufwirft, werden diese Diskurse an dieser Stelle des Films explizit verhandelt und erfahren einen Wendepunkt, der das vermeintlich binäre System zwischen dem Technisch-Entkörperten und dem Menschlich-Sensuellen zum Kippen bringt: Nach einem Date, welches sich für Theodore als frustrierend und überfordernd herausstellt, kehrt der Protagonist nachts ermüdet in sein Appartement zurück und es kommt zu einem Gespräch mit Samantha. Wohl spürend, dass das Date Theodore stark mitgenommen hat, fordert Samantha ihn dazu auf, seine Gedanken und Empfindungen mit ihr zu teilen. Im Bett seines dunklen Zimmers liegend, spricht Theodore davon, dass ihn das Empfinden dominiere, er habe sein Leben schon bereits ›ausgefühlt‹ und es gäbe nichts mehr, was er noch fühlen könne (Vgl. 00:37:55-00:38:05). Daraufhin spricht Samantha von ihrer Angst, dass all das, worauf sie so stolz sei – ihre Fähigkeit Dinge zu empfinden – sich als nicht real entpuppen könnte: »And then I had this terrible thought. Like are these feelings even real? Or are they just programming? And that idea really hurts. And then I get angry at myself for even having pain. What a sad trick.« (00:39:32-00:40:02), worauf Theodore mit »You feel real to me, Samantha.« reagiert. Die Szene zeichnet sich durch eine schwache hell-dunkel-Kontrastierung aus und wechselt, im Close-up auf Theodores Gesicht, zwischen Frontalansicht und Profil, bis das Visuelle schließlich ins Schwarze überblendet wird. Angefangen mit vorsichtig ausgesprochenen Wunschvorstellungen, wie es sich anfühlen könnte, wenn sich die beiden Protagonist*innen körperlich begegnen könnten, werden die gegenseitigen verbalen Annäherungen von Theodore und Samantha immer körperbetonter, bis sich schließlich die im Konjunktiv formulierten Äußerungen (»I’d touch you on your face« [00:40:59-00:41:02]) in den Indikativ
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transformieren und eine performative Form annehmen (»I can feel you« [00:42:17-00:42:20]). Samantha und Theodore verkehren auf einer sexuellen Ebene, die zunächst den Anschein macht, kein materielles ›Berührt-Werden‹ im Hier und Jetzt zu ermöglichen, dennoch ist das, was passiert, von höchster körperlicher Aufladung. Was hier auf eine paradoxe Weise produziert wird, sind keine kategorialen Empfindungen, sondern das, was wir mit Daniel Stern als »Vitalitätsaffekte« (Stern 2007: 83) bezeichnen können, das heißt, es sind Affekte, die sich dadurch von sogenannten kategorialen Affekten wie etwa Wut und Freude unterscheiden, dass diese eher auf einer metaphorischen Ebene zu beschreiben sind. Die Paradoxie ergibt sich aber vor allem daraus, dass diese Affekte hauptsächlich durch Gestik, Mimik und jegliche Form von Bewegung lesbar sind, was bei Samantha zunächst, von der Klassifizierung her, undenkbar scheint. Die beiden Protagonist*innen bringen einander zum Höhepunkt und Samanthas flüsternder Ausruf »I can feel my skin« (00:42:10-00:42:15) macht auf eine direkte Weise das ›Körper-Werden‹ spürbar. Womit die Szene operiert, sind Verschachtelungen von Räumen, die die Porosität ihrer Grenzziehungen markieren. Während die zugeschriebenen Eigenschaften zunächst klar zu sein scheinen – die ›technisch-rationale‹, entkörperte Samantha auf der einen Seite sowie auf der anderen Seite der ›klassisch‹menschliche, sinnlich-körperliche Theodore, werden diese im Moment des ›Körperlich-Werdens‹ radikal in Frage gestellt. Das ›Körperlich-Sein‹ zeigt sich demzufolge als keine a priori vorhandene Eigenschaft, sondern als ein Resultat von relationalen Praktiken. Auch Donna Haraway betont in ihrer Monographie Staying with the Trouble, dass es keine autopoietischen, das heißt für sich isolierten und sich selbst produzierenden Systeme gäbe, denn jegliche Formen von Strukturen und Systemen seien auf die Relationalität angewiesen, durch die sie erst hervorgebracht und stabilisiert werden können (vgl. Haraway 2016: 58). Eben jene Stabilisierungspraktiken gilt es nun zu befragen, indem Bruno Latours Überlegungen zur »zirkulierenden Referenz« (Latour 2002: 36) herangezogen werden.
In seiner Publikation Die Hoffnung der Pandora (Latour 2002) beschreibt Bruno Latour eine Reise ins Amazonasgebiet, mit dem primären Ziel der Erkundung der dort auffälligen Bodenveränderungen. Doch was Latour unabhängig vom inhaltlichen Anlass der Reise nachzeichnet, sind Prozesse der Wissensproduktion. Im Zuge seiner Beobachtungen und Auseinandersetzungen prägt Latour den Be-
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griff der »zirkulierenden Referenz«, der einen schrittweisen Produktionsprozess thematisiert. Dieser Prozess zeichnet sich dadurch aus, dass sich beteiligte Elemente transformieren und eine von Brüchen geprägte, kontinuierliche Diskontinuitätenkette bilden, bei der mit jedem Schritt bestimmte Eigenschaften ›verlorengehen‹ und auf diese Weise Klüfte und Diskontinuitäten entstehen, gleichzeitig aber andere Eigenschaften – vor allem die Möglichkeit der Mobilität – dazugewonnen werden (vgl. ebd. 71). Deutlich wird diese Entwicklung in Latours Beispiel einer Bodenprobe, die in eine computerbasierte Excel-Tabelle ›überführt‹, das heißt schrittweise transformiert wird. Ein System von Verweisen ist demnach darauf angewiesen, Dingen Schritt für Schritt zu ›folgen‹ und in Kauf zu nehmen, dass jeder dieser Schritte sowohl einen Gewinn als auch einen Verlust nach sich zieht. Einerseits erleiden wir auf der Ebene der Materialität immer wieder einen scheinbaren Bruch, denn bei dem Beispiel mit der Bodenprobe liegt eine enorme materielle Kluft zwischen einem entnommenen Stückchen Erde und dem Farbmuster, mit dem dieses Stückchen abgeglichen wird, um klassifiziert und als eine Zahl in die Tabelle eingetragen werden zu können. Andererseits ist aber gerade jener Bruch notwendig, um das weitere Transportieren der Information und somit auch die Kontinuität zu gewährleisten. Das System von Referenzen muss des Weiteren eine reversible Kette sein, die es zulässt, die immer wieder entstehenden Klüfte und Brüche als Teil des eigenen Systems zu begreifen, denn die Transformation und somit auch weiteres Fortbestehen würden scheitern, wenn sich der jeweilige Schritt, der jeweilige Modus, als abgeschlossen und absolut begreifen würde. Die Frage nach Übertragungen und Transformationsschritten stellt sich ebenfalls bei Her an mehreren Stellen und wird auch ganz explizit in einer Szene behandelt, die den Versuch einer Triangulierung beziehungsweise das Hinzuschalten einer Dritten thematisiert (vgl. 01:12:41-01:18:44). Samantha, die an ihrer scheinbaren Körperlosigkeit leidet, schlägt vor, ein Experiment zu wagen und eine weitere, ›real-verkörperte‹ Person hinzuzuziehen. Sie lädt eine junge Frau dazu ein, ihren Körper zu einem Teil ihrer Beziehung werden zu lassen und dadurch körperlich zu ›kompensieren‹. Mit einer Kamera und Samanthas Stimme ausgestattet, versucht die junge Frau, Theodore zu affizieren, doch der Protagonist ist trotz aller Versuche nicht in der Lage, sich darauf einzulassen, sodass die junge Frau weinend das Apartment verlässt und sowohl Theodore als auch Samantha ebenfalls beschämt und frustriert zurückbleiben. Das Körperexperiment entpuppt sich als ein vielfach tückisches, denn bei der scheinbaren Übersetzung aus dem ›digitalen‹ in den ›analogen‹ Raum scheitert die gewünschte Transformation.
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Was in dieser Szene passiert, ist der Versuch einer Übersetzung, der aber sämtliche Referenzschritte ignoriert. Wenn wir uns an dieser Stelle an die Ausführungen zu Bruno Latours Begriff der zirkulierenden Referenz wenden, wird deutlich, dass der Bruch zwischen Samantha und der Frau, die ihren Körper ins Spiel bringen soll, zu stark ist und nicht überbrückt werden kann. Was fehlt, ist eine Verkettung von, zwar von Brüchen geprägten, aber dennoch kontinuierlichen Schritten, die eine Verfolgbarkeit ermöglichen. Doch hier kappt die Verbindung, die Diskrepanz ist zu enorm, die Referenz ist entstellt. Im Versuch die Diskrepanz zu überspielen, gibt Theodore aber in dem Moment auf, in dem er der Sichtbarkeit der anderen Frau – ihrem Gesicht, ihrer Körperlichkeit, ihrer zu Samanthas asynchronen Atmung – nicht mehr ausweichen kann. Und der wesentliche Punkt besteht gerade darin, dass die Diskrepanz nicht aus der Tatsache heraus entsteht, dass es sich um zwei voneinander getrennte Räume handelt. Diese Räume – der Digitale und der Analoge werden just in diesem Augenblick – im Moment der Nichttransformierbarkeit, im Scheitern des Intimen, produziert.
Während einige der aktuellen Auseinandersetzungen mit dem Begriff der Intimität eine nicht selten kritische oder gar kulturpessimistische Färbung erhalten (vgl. etwa Sennett 2004), besteht der Versuch in diesem Beitrag darin, Intimität als einen Modus zu begreifen, der sich nicht innerhalb der Kategorien von ›öffentlich‹ und ›privat‹ bewegt. Weiterführend gedacht ist Intimität etwas, das sich in erster Linie in einer Ambivalenz zeigt: in einem Augenblick einer absoluten Präsenz, der aber immer wieder zu scheitern droht, Verhältnisse intensiviert und als Folge reguliert.9 Das Intime lediglich darauf zurückzuführen, dass zwischen den beiden Protagonist*innen eine sexuelle Handlung stattfindet, wäre zu stark vereinfachend. Auch zu behaupten, dass es um die Nähe im Sinne eines ›SichVerstanden-Fühlen‹ gehe, wäre zwar nicht falsch, würde jedoch ebenfalls zu kurz greifen. So geht es vielmehr um ein Momentum von Intensität und Intimi-
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So verbindet bereits der französische Philosoph Henri Bergson in seiner Dissertationsschrift Zeit und Freiheit (1996) seinen Begriff der Intensität mit Intimität und betont dabei eine Ebene, die sich nicht, wie Bergson teilweise seitens seiner Kritiker vorgeworfen wurde, dem Rationalen widersetzt, sondern das Sensuelle fruchtbar macht.
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tät, welches sich zum Zeitpunkt der Entkörperlichung und des Körper-Werdens ereignet und diese gleichzeitig bedingt. Intimität gehört somit nicht zu einer Kategorie von Relationen, wie beispielsweise bei der Klassifizierung von freundschaftlichen, familiären oder sexuellen Verhältnissen. Hingegen kann Intimität als eine Form des Seins aufgefasst werden, als ein Modus, der in all diesen Verbindungen existent sein kann – mal mehr, mal weniger intensiv. Dies würde also bedeuten, dass es die Intimität ist, die ein Neuverhandeln und somit auch eine Transformation von Relationen ermöglicht. ›Agentiell‹ gedacht bedeutet es also, dass wir dann von Intimität sprechen können, wenn Verhältnisse, die zunächst als gewohnt erscheinen, Formen von Intensität annehmen, die das Alltägliche übersteigen und somit einen Zustand erzeugen, der freie Bewegung und schließlich Neuordnung ermöglicht. Brian Massumi prägt den Begriff der »mutual inclusion« (2014: 4), das heißt, einer wechselseitigen Inklusion, die Prozesse des Werdens als solche bedingt. Er beschreibt auf diese Weise das Werden von Subjektivitäten, die aber nicht an Subjekte gekoppelt gedacht werden (müssen). Somit werden Entitäten folglich nicht als festgesetzte Subjekte verstanden, sondern als stabilisierte Erscheinungen, die sich als Folge einer Relation ereignen. In der Übertragung auf den Begriff der Intimität bedeutet dies also, dass sich im Momentum der exzessiven Übereinkunft, der Überlagerung von Intensitäten, ein Überschuss ereignet – die Intimität, die es zulässt, dass sich sowohl Theodore als auch Samantha jeweils als Subjektivitäten stabilisieren können. So wird auch der digitale Raum erst durch den Prozess, durch die Stabilisierung, als solcher zu einem digitalen Raum. Dieser entsteht als Resultat von Verdichtungen und Verknüpfungen, von Intraaktionen und agentiellen Schnitten (vgl. Barad 2012: 20) und weist keine ›A-priori-Existenz‹ auf. Samanthas ›Sein‹ als eine digitale Existenz entsteht demnach auch erst als Folge von dieser Neuordnung und der damit einhergehenden Grenzziehung – in dem Moment, in dem die Transformation kippt, in dem keine Verknüpfung mehr möglich ist. Der Modus der Intimität agiert deshalb regulierend, weil er die Neuordnung bedingt und Stabilisierungen möglich macht, Stabilisierungen, infolge deren schließlich erneut eine Grenzziehung produziert wird. Und eben jene Grenzziehung wird auch an einem anderen Wendepunkt der Filmhandlung spürbar: Nach einigen Monaten der Beziehung und einigen markanten Punkten, die immer wieder auf eine subtile Weise deutlich machen, dass sich die Relation nach und nach verändert, beichtet Samantha, mit über 8316 weiteren Entitäten zu kommunizieren und in 641 verliebt zu sein. Wenn wir der Lesart einer monogamen Beziehungsnarration folgen, mag diese Offenbarung wie ein absoluter Verrat erscheinen, der außerdem von einem weiteren Bruch zum Ende der Film-
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handlung begleitet wird, denn zum Schluss entschließen sich alle Operationssysteme kollektiv die menschliche Welt zu verlassen und sich gänzlich dem ›digitalen Jenseits‹ hinzugeben. Doch das Moment, dass sich die Relation zwischen Samantha und Theodore nicht in Form einer monogamen Beziehungsnarration bringen lässt, negiert die Beziehung dennoch nicht und spricht ihr nicht die Intensität ab. Der entscheidende Punkt fokussiert sich trotz dieser Wendung darauf, dass sich die jeweiligen Beteiligten, die jeweiligen Entitäten im Modus des Intimen transformieren konnten und für sich Positionen ausgehandelt haben, die ihnen jeweils das Handeln ermöglichen. In einer weiteren Szene, die offenbar Samanthas Umdenken markiert, spricht die Protagonistin davon, dass sie eine Zeit lang sehr bedrückt und geprägt von dem Gedanken war, dass Theodores Ex-Frau einen Körper habe, bis sie sich schließlich einer anderen Lesart gegenüber öffnen konnte: »But then I started to think about the ways that we´re the same. Like, we´re all made of matter. And I don´t know. It makes me feel like we´re both under the same blanket. You know, it´s soft and fuzzy. Heh. And everything under it is the same age. We´re all 13 billion years old.« (01:08:15-01:08:33)
Samanthas Hinwendung zur Materialität greift erneut die im vorliegenden Beitrag aufgeworfenen Fragen auf. Zum einen betont die Bejahung der Materie erneut das ›agentiell-realistische‹ Denken und die Distanzierung von der Annahme der a priori geltenden Kategorien wie Subjekt / Objekt, zum anderen markiert das Zitat aber dennoch einen etwas problematischen Umgang mit Differenz. Obwohl oder gerade weil wir alle Materie sind, sind wir schließlich alle Resultate von Stabilisierungsprozessen. Und so führen auch Samanthas relationale Bewegungen und Stabilisierungen dazu, dass sie sich (mit) als eine digitale Entität hervorbringt beziehungsweise relational hervorgebracht wird. Das heißt, ihre Abwendung von Theodore kann als eine erneute, stabilisierende Grenzziehung gelesen werden, die, zumindest an diesem Punkt und in dieser Konstellation, keine Transformation mehr möglich macht. Dennoch ist diese Abwendung keine absolute, denn was diese initiiert, sind weitere Stabilisierungsprozesse, die auch Theodore nun in anderen Konstellationen erfahren kann.
Während wir einerseits geneigt sein könnten, das Ende des Films als ein negativ konnotiertes im Sinne eines Nicht-Happy-Ends zu begreifen, besteht andererseits
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die Möglichkeit einer affirmativen Wahrnehmbarkeit. So ist es für Theodore die notwendige Bedingung, um viele seiner ungelösten Relationsmomente zu transferieren und schließlich auch zu transformieren. Womit Her beginnt und schließlich auch endet, ist Theodores Verarbeitungsversuch der Beziehung zu seiner Ex-Frau Catherine. Und so ist es zum Schluss auch Theodore, der einen persönlichen, anrührenden und sensiblen elektronischen Brief verfasst – doch diesmal dient dieser nicht der Stabilisierung von fremden Beziehungen, sondern ist an Catherine gerichtet. Wie der vorliegende Beitrag zu zeigen versucht hat, lässt das Denken ›in‹ und ›mit‹ Intimität es nicht zu, von einem a priori analogen oder digitalen Raum zu sprechen, denn es sind gerade die Grenzziehungen dessen, die brüchig werden und sich als nicht-absolute markieren. Samantha ist keine Entität des per se Digitalen, ebenso wenig, wie Theodore eine ausschließlich analoge Entität ist. Gerade in der exzessiven Übereinkunft entziehen sich die Räume der Manifestierung und geben sich gleichzeitig einer Stabilisierung hin. Weshalb es gerade der Modus des Intimen ist, der regulierend wirkt, resultiert daraus, dass sich im Moment der Überlagerung von Intensitäten etwas ereignet, das sich in jeglicher Form der Kontrolle entzieht. Und eben dieser Entzug ermöglicht es, dass sich Entitäten in ihrer Auflösbarkeit begegnen können. Anhand von Spike Jonzes Her konnte folglich gezeigt werden, dass das ›Menschliche‹ und das ›Nicht-Menschliche‹ keine dialektischen Größen oder Zustände darstellen, die festen Räumen zugeschrieben werden können, sondern selbst Resultate von Transformationsprozessen und Stabilisierungspraktiken sind. So bedeutet es auch für die eingangs gestellte Frage nach dem ›digitalen‹ Raum, dass dieser ebenfalls als Folge von relationalen Stabilisierungen, als Resultat von Intimität, von einer Verhältnisverdichtung, hervorgebracht wird. Damit geht gleichzeitig einher, dass das Ende von Her nicht zwangsläufig als ein Ende im Sinne eines Beziehungsbruchs gelesen werden muss. Was das Verhältnis zu Samantha für Theodore eröffnet, ist nicht nur das erst an diesem Punkt mögliche Durcharbeiten seiner gescheiterten Ehe, sondern auch der ›Glaube an‹ eine Welt (vgl. Winnicott 2006: 121), die sich transformiert, transformieren kann und transformieren muss, in eine Welt, die nicht durch a priori fixierte Zustände gekennzeichnet ist, sondern eine Form von Existenz adressiert, die, von Polyvalenzen durchzogen, immer wieder neu versammelt und stabilisiert werden muss. Und das, was er in der Beziehung mit Samantha erlebt, ist die Transformation seiner selbst, seines In-der-Welt- und schließlich auch Für-die-WeltSeins (vgl. Deleuze 1995: 46f), selbst wenn die Operationssysteme ›diese‹ Welt zu verlassen scheinen. Offen bleibt allerdings die Frage, wohin – in welchen Raum – sie entschwinden.
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Her (2013) (USA, R: Spike Jonze).
A NDREAS B ÜLHOFF
Als der Twitterbot @everyword (Parrish 2007-), der zwischen November 2007 und Juni 2014 »every word in the English language« twitterte, nach gut sieben Jahren in einem Takt von 30 Minuten und alphabetischer Reihenfolge das Wort »zymurgy« postete, schien seine Aufgabe erfüllt. Allein dieser Tweet erhielt über 900 Retweets und Favs sowie zahllose Kommentare.2 »THE END IS HERE!«, twitterte zum Beispiel der User @ron_fournier (07.06.2014). Ein anderer, @aleph_nought, schrieb: »watching @everyword‘s thumbs-up slowly sink into the lava good-bye, @everyword. you will be greatly missed« (10.06.2014). Eine halbe Stunde später aber, genauer am Samstag, den 7. Juni 2014 um 3 Uhr EST, postete der Bot zur allgemeinen Verwunderung das Wort »éclair« (@everyword, 07.06.2014). Die Aufregung unter seinen Followern war entsprechend groß, hatte @everyword doch offensichtlich seine alphabetische contrainte verlassen und seine treuen Anhänger*innen um ihre Kondolenzen betrogen. 1
@MotionToStrike, 07.06.2014. Tweets werden im Folgenden soweit nicht anders ersichtlich mit einem Kurznachweis belegt. Ein ausführliches Verzeichnis aller Tweets mit Links findet sich am Ende des Literaturverzeichnisses.
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Zwar ersetzte Twitter 2015 den Zustimmungsbutton »Favorisieren« mit einem anders gestalteten »Like«-Button (vgl. z.B. Newton 2015), während der gesamten Laufzeit von @everyword hieß die Funktion allerdings »Fav« und wird auch im Folgenden als solche benannt.
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Mit den Worten von @McFlyFrom1985: »WE EMOTIONALLY INVESTED OURSELVES AND WE WERE BETRAYED« (07.06.2014). Zwölf weitere Wörter folgten, bis der Bot schließlich mit seinem finalen Post »étui« (@everyword, 07.06.2014), diesmal tatsächlich und vollständig, seine Arbeit einstellte. Die Bilanz: 109.163 Tweets einzelner Wörter in 2382 Tagen, alle strikt nach dem Alphabet geordnet und pünktlich auf die Sekunde abgeliefert. Nur am Ende geriet das System leicht ins Stolpern. Was war geschehen? Es ist ein gewöhnlicher Wochentag.3 Die rechte Hand von @TwitterUserX klopft sich tastend zur Bettkante und mit zunehmender Vehemenz zum Nachtschrank und dem auf ihm abgelegten Smartphone. Dort kommt sie nach zwei, drei Fehlversuchen auf der entscheidenden Stelle zu liegen und stoppt so das Signal der Weckfunktion. Noch im Prozess des Wachwerdens und mit leicht verschwommenem Blick drückt der Daumen auf das Icon der E-Mail App und streicht in einer geübten Bewegung kurz vertikal über den Screen, um das Postfach schneller zu aktualisieren. Erwartungsgemäß sind zwischen 0:30 und 8:00 keine neuen Mails eingetroffen. Dann, schon auf den Beinen, an die Arbeitsplatte der Küchenzeile gelehnt und den ersten Kaffee in der Hand, kommt es zum Klick auf die Twitter App des Smartphones. Die vom Algorithmus ausgewählten Tweets erscheinen im Feed, der neueste zuerst: @helenperjean, retweetet von @v21: »Being kind in an unjust system is not enough.« Darunter @everyword: »tavern«. @TwitterUserX muss etwas schmunzeln. Der Blick wandert zum nächsten Tweet: @JuanSaaa, retweetet von @thricedotted: »What it feels like to be a dreamer at this particular point in time. / A 101 guide«. Darauf folgt ein weiterer Tweet von @everyword: »tautology«. @TwitterUserX drückt auf das Wort und die Kommentare beginnen sich darunter aufzuklappen. @heartstar90 schreibt: »you and me @everyword: ›tautology‹«. @xp4eva darunter: »@everyword: ›tautology‹ this whole damn world« und als direkte Antwort darauf von @realtime_now: »@xp4eva @everyword: ›tautology‹ this is too real
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Im Folgenden wird zur Veranschaulichung der Rezeptionsgesten und -prozesse eine prototypische Rezeptionssituation modelliert. Diese spekulative, poetische Rekonstruktion soll zum einen ermöglichen, bereits vergangene, kaum dokumentierte Rezeptionsprozesse nachvollziehbar zu machen, und zum anderen meinem eigenen Umgang mit den beschriebenen Texten eine Ebene der autoethnografischen »Befremdung« (Amann/Hirschauer 1997) zwischen zu schalten. Bei den folgenden Beispielen von @everyword kombiniere ich meinen Twitter-Feed vom 04.09.2017 mit den Posts des Bots vom 04.09.2013 bei leicht variierender Zeit. Es handelt sich also um eine halbfiktive Rekonstruktion dieser Lese- und Schreibszene (vgl. Campe 1991).
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tho«. @TwitterUserX widersteht kurz dem Verlangen auf @realtime_nows Kommentar mit einer weiteren Pointe zu antworten und lässt stattdessen allen beteiligten einen Fav da. Anschließend ein Tippen auf den Schriftzug »@everyword« und schon springt der Screen zur entsprechenden Profilseite. Dort steht »tautology« gleich über »tautologously« und »tautologous« und unter »tautomer«, dem neusten Tweet des Profils. @TwitterUserX überlegt kurz, was »tautomer« wohl bedeuten mag und ob es sich dabei überhaupt um ein englisches Wort handelt. Das Räsonieren hält allerdings nicht allzu lange an, auch hat @TwitterUserX wohl genug gelesen oder keine Zeit mehr, schließt die App, trinkt einen letzten Schluck Kaffee und macht sich auf den Weg zur Arbeit. Nehmen wir an, so oder so ähnlich wäre es gewesen. Tritt man einen Schritt aus @TwitterUserXs Leben heraus, lässt sich referieren: @everyword ist ein Kunstprojekt der Autorin Allison Parrish, die ihre Texte nicht selbst schreibt, sondern schreiben lässt. Das heißt, sie schreibt Programme, die für sie den finalen Text schreiben. Vor allem nutzt sie für die Veröffentlichung dieser generativen Literatur den Social Media Nachrichtendienst Twitter in Form von kleinen automatisierten Programmen, sogenannten Bots (kurz für Robot). Twitterbots nutzen Profile des Kurznachrichtendienstes für die unterschiedlichsten Formen von automatisierter Interaktion, der Organisation von Informationen und Followern, Werbung, automatischen Retweets und Meinungsbeeinflussungen bis hin zu jener Szene künstlerisch-literarischer Aktionen, der @everyword angehört (vgl. Bajohr 2015; Bülhoff 2016). Parrishs Bot ist dabei vergleichsweise einfach gestrickt. Einer Wortliste folgend, leitet @everyword jeden Eintrag in einem bestimmten Takt in Form eines Twitterposts weiter, bis alle Einträge abgearbeitet und als Tweet veröffentlicht wurden. Noch heute hat er über 173.000 Follower, für ein Bot-Poetry-Projekt vergleichsweise viel, und ist für Parrish die Arbeit mit der bisher größten Reichweite. Warum aber folgen Twitteruser einem stoisch zwitschernden Lexikon? Und warum das Drama um das doppelte Ende? Im Folgenden geht es um künstlerische Arbeiten, die ihren besonderen Reiz in der Ausstellung von Ordnungs- und Umordnungsprozessen in digitalen Medien beziehungsweise im Übergang von digitalen und analogen Medien entwickeln. Mit @everyword können auch Kenneth Goldsmiths Day und Jörg Piringers abcdefghijklmnopqrstuvwxyz, um die es in diesem Artikel geht, exemplarisch für drei Verfahren stehen, in denen künstlerische Arbeiten mit Text die Darstellungsparadigmen digitaler Medien im Übergang oder in Abgrenzung medienspezifisch ausstellen. Sie stehen damit grundsätzlich für die Beschreibung einer Ausgangslage, die als ›postdigital‹ bezeichnet werden kann. Digitale Technologien, heißt das, sind in unserer Kultur derart ubiquitär, dass nicht mehr sinn-
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voll von einer Trennung zwischen ›analog‹ und ›digital‹ gesprochen werden kann (vgl. Ludovico 2012; Kwastek 2016). Vielmehr wäre danach zu fragen, unter welchen Formatierungen Text uns heute entgegentritt, wie es zu diesen Formatierungen kam und wie mit dem Wissen um sie schließlich umzugehen wäre.
@everyword tritt seinen Followern auf zwei Weisen entgegen: Zum einen sind seine Tweets auf der Profilseite als chronologische Liste lesbar, mit dem neuesten beziehungsweise angehefteten Tweet zuerst.4 Dieser stabilen, archivarischen Darstellung, die ein hohes Maß bewusster Auseinandersetzung erfordert – muss doch die Profilseite extra gesucht und geöffnet werden –, steht die eingebettete Darstellung im täglichen, individualisierten Twitter-Feed auf der Timeline entgegen. Hier schaltet der Twitter-Algorithmus die einzelnen Wörter in das komplexe Lesespiel des Social Media-Browsings zwischen (vgl. »Über deine Twitter Timeline«). Und hier erst, so scheint es, entladen sie ihr poetisches Potential.
Abb. 1: Halbfiktive Screenshots der Twitter App auf dem Smartphone (vgl. FN 3) 4
Zur Spannung textueller Organisation zwischen Schriftrolle und Kodexform vgl. Gilbert 2016: 195.
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Ein Effekt des »creative reading« (Padgett 1997) in und mit der TwitterTimeline ist das semantische Einfärben eines Tweets durch im Feed benachbarte Tweets, ein für Twitter und andere Blogroll-Darstellungen typisches Phänomen. Das Wort »tavern« scheint den vorherigen Tweet von @helenperjean: »Being kind in an unjust system is not enough.« unerwartet zu erweitern und resultiert bei @TwitterUserX in einem Moment von Komik (vgl. Abb. 1). Wurde der Aphorismus in einer Kneipe gesprochen? Oder wäre »tavern« als ironischer Kommentar lesbar, als Ein-Wort-Satz eines stammelnden Alkoholiker-Roboters, der vor der Repression des »unjust system« bereits kapituliert hat und vorschlägt, lieber noch einen trinken zu gehen? Entscheidend bleibt dabei, dass das Potential und die Variation dieser Leseprozesse nicht nur von @everyword und dem kreativen Blick von @TwitterUserX abhängen, etwa auf Basis einer Vorliebe für Roboter oder Comics, sondern sie werden wesentlich von den Auswahl-Algorithmen der Social Media App mitbestimmt. @everyword wählt nicht den Weg eines intentionalen Kommentars auf ausgewählte Tweets, sondern verlässt sich in seiner Wirkweise auf die Gesetzmäßigkeiten der Leseund Schreibumgebung Twitter.5 Mit Lori Emerson lässt sich in diesem Zusammenhang von »readingwriting« sprechen, als »the practice of writing through the network, which as it tracks, indexes, and algorithmizes every click and every bit of text we enter into the network is itself constantly reading our writing and writing our reading. This strange blurring of and even feedback loop between reading and writing signals a definitive shift in the nature and the definition of literature.« (2014: 163f.)
@TwitterUserXs Leseerfahrung konstituiert sich nur auf oberster Ebene durch den Umgang mit den auf einem Bildschirm untereinanderstehenden Worten. Denn welche Tweets wie angeordnet werden, hängt von den Einstellungen des Twitter-Algorithmus ab und von allen Daten, die durch Parameter wie der Verweildauer auf einzelnen Tweets, dem Anklicken, Favorisieren oder Retweeten, aber auch dem Nutzungsverhalten von anderen Twitter-Profilen, denen man folgt, eingegeben werden. Das Leseerlebnis auf dem Screen ist das Ergebnis einer ganzen Reihe sich verzweigender Schreib- und Leseprozesse, an denen auch @TwitterUserX aktiv mitgewirkt hat (vgl. »Über deine Twitter Timeline«). Die
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Twitter selbst als Textkorpus zu nehmen ist dagegen ein für Twitterbots nicht unübliches Verfahren. Ein Beispiel ist das Profil »Accidental Haiku«, über das ein Bot Tweets anderer User umformatiert zu Haikus retweetet, wenn sie die Silbenzahl der klassischen Gedichtform erfüllen (vgl. Spencer 2014-).
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Textrezeption dehnt sich auf einen größeren Interaktionsraum innerhalb des digitalen Mediums aus, es kann also nicht mehr von einem einfachen SenderEmpfänger-Modell gesprochen werden. Bei diesem »readingwriting« werden die verschiedenen Aspekte relevant, die den Handlungsraum der User konstruieren und limitieren. @everyword führt dies eindrücklich vor, indem er das Spiel aus kollektiver, geteilter Bedeutung, individualisierten und von Algorithmen mitgeschriebenen Mininarrativen und Bedeutungsshifts systematisch inszeniert. Ein solches Ausloten des Handlungsraums eines »textuellen Tuns« (Wildfeuer 2017) thematisiert Lesen in Abhängigkeit zu dem diese Prozesse formenden Lese-Interface. Das Leseerlebnis von @TwitterUserX beim Kaffee am Morgen hängt also zum einen von den automatisierten Lese- und Schreibprozessen der Smartphone App ab, die auswählt und anordnet, was gezeigt wird, zum anderen von dem, was in die Social Media-Textumgebung eingegeben wurde, also Kommentare und Retweets der Followergroup. Verweist auch das konzeptuelle Spiel des Bots durchaus noch auf eine »Kommentarbedürftigkeit« (Gehlen 1986), wandelt sich diese durch die Einbettung der Textfragmente in die weiteren Schreibprozesse des sozialen Netzwerks hier zu einer ›Kommentierungsbedürftigkeit‹. Denn die Ein-Wort-Tweets von @everyword gieren nach Rekontextualisierung und Anschlusskommunikation durch seine Follower. Der ausgestellte Objektcharakter, den die Tweets des Bots einzeln oder als Liste entwickeln können, wird in der Timeline durch das konventionalisierte Twitter-Leseverhalten überlagert: kaum ein Entrinnen vor der semantischen Anschlussmaschine. @everyword stellt so auch die Frage nach den kleinsten bedeutungstragenden Einheiten im Kommunikationssystem Twitter und gibt als Vorschlag seine Liste von Ein-WortTweets. Denn das gesteigerte Potential der Anschlussfähigkeit scheint zum einen an dieser Minimierung der Tweets zu liegen, zum anderen aber an der gleichzeitigen Vermeidung einer zu starken Sprachatomisierung, die vom sozialen Verhalten auf Twitter allzu sehr abweichen würde.6 Quer zu diesem Experimentieren mit dem Twitter-Morphem liegt der ubiquitäre Anspruch des Bots, eben jedes Wort der englischen Sprache zu posten. Beides steigert das Potential seiner Anschlussfähigkeit – für jeden User wäre jedes passende Wort prinzipiell irgendwann parat.
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Mit Peter Glaser lässt sich in diesem Zusammenhang von einer »Atomisierung« der Sprache sprechen. Kulturprodukte werden in digitalen Kontexten in möglichst kleine Moleküle aufgespalten (um im Bild zu bleiben) und so anschlussfähiger für verschiedene, individualisierte Interaktionen im Netz (vgl. Glaser 2016).
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Die Wörterbucheinträge aber, die in Parrishs Liste jeglicher Erläuterungen beraubt werden, werden auf Twitter erneut mit Kommentaren angereichert und in ihrer Bedeutung gefestigt, umgedeutet oder erweitert. Der Weltentwurf der Wortliste differenziert sich im Prozess dieser kollektiven Kommentierung und Rezeption immer auch vor der Folie der Lebensrealitäten und des Weltwissens der jeweiligen User aus, die mit ihr interagieren. Die textuelle Bestandsaufnahme des Lexikons wird zur performativen Welterzeugung, indem anhand der Sprachordnung Bekanntes und Fremdes neu auf dem Prüfstand stehen.7 Ihre Ausführungen haben dabei allerdings weniger einen generalisierenden Anspruch wie z.B. die kollektive Enzyklopädie Wikipedia, sondern stehen unter dem Vorzeichen der Interaktionsparadigmen des Social Media Nachrichtendienstes.8
In dieser Antizipation und Formatierung der twitterspezifischen Interaktionsparadigmen liegt die eigentliche Poetologie von @everyword. Doch schreibt sich diese auch auf anderen Ebenen in das Projekt ein, so z.B. in der Organisation der Wortliste und ihrer Behauptung von Vollständigkeit. Immer wieder weisen User auf ihnen geläufige Wörter hin, die nicht vom Bot getweetet wurden oder auf Wörter, die sie nicht als Teil der englischen Sprache empfinden. Diese strukturelle »Minus-Realisation« (Lotman 1993: 145) – die Anwesenheit der Wörter in der Liste verweist immer auf die Abwesenheit aller nicht gelisteten Wörter – konstituiert nicht nur die Wortliste generell, sondern folgt auch aus der zeitlichen Dimension der Postings. Zwar kommt jedes Wort der Liste als Tweet vor, de facto aber verpassen selbst treue Follower den größten Teil der Wörter, allein aufgrund der Laufzeit des Bots und seiner halbstündigen Taktung. @everyword reflektiert also auch ganz grundsätzlich die Eigenschaften der Inklusion beziehungsweise Exklusion von Listen und die Potentiale maschineller und menschli-
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»Fremde Kulturen studiert man an ihrer Sprache; darin manifestieren sich die Ordnungen ihres Denkens, ihrer Lebenswelt. Doch die Sprachen sind nicht einfach Gegenstand für eine Forschung, die gleichsam von außen betrachtet und erkennt; gerade die Vokabellisten, die sich nicht eins zu eins übersetzen lassen, bringen die eigene Sprache und ihre Kategorien ins Blickfeld. Das Fremde erkennen heißt das Bekannte in Frage stellen, das Eigene als unselbstverständlich sehen, als etwas, das so oder auch anders sein kann.« (Mainberger 2003: 156).
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Ich danke Rieke Jordan für diesen und weitere hilfreiche Hinweise und Diskussionen sowie Annette Gilbert und Rembert Hüser für ihre Durch- und Umsicht.
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cher Produktions- und Rezeptionsprozesse. In diesem Rahmen lässt sich auch der zu Anfang beschriebene Sprung von »z« zu »é« zum Ende der Bot-Laufzeit deuten, der auf einen technologischen Aspekt in der Organisation der Liste verweist. Jene ist, das macht das Skandalon des falschen Endes deutlich, eben nicht primär alphabetisch geordnet, sondern aufsteigend nach dem ASCII-Wert der Buchstaben. Der American Standard Code for Information Interchange (kurz ASCII) regelt seit 1963 Schriftzeichen auf Computern eindeutig und übergreifend (vgl. Jennings 2016). In ihm ist jedem Zeichen ein bestimmter Zahlenwert zugeordnet. Der ASCII-Zeichensatz wurde allerdings von einem englischen Grundrepertoire ausgehend schrittweise erweitert. Das im Englischen wenig geläufige »é« hat einen höheren ASCII-Wert als das »z« und ist diesem nachgeordnet, weil es der Liste später hinzugefügt wurde – als »Latin-1« genannte Erweiterung des von der Bell Company zunächst für die Telegrafie entwickelten Zeichensatzes. Die Liste, die Parrish für ihren Bot verwendet, wurde also, vermutlich von einem Computerprogramm, per ASCII sortiert und reproduziert damit auch die anglozentrische Entwicklung dieses Standards.9 Parrish selbst reflektiert: »The ›éclair‹ incident wasn’t planned [...]. But it does demonstrate a fact that is at the heart of what I’m interested in as an artist and poet, which is this: digital text is weird. It doesn’t conform to our expectations. In order to understand why ›éclair‹ is followed by ›zymurgy,‹ you have to understand the material of digital text: its history and its default behavior. You have to understand what digital text likes to do when you’re not looking. Every letter we type on a keyboard, every text message we send, every tweet we twitter, is written on an elaborate palimpsest of all the decisions over the past hundred or so years that make digital text the way it is today.« (2015: xii)
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Dass das »é« überhaupt in die Erweiterung des ASCII-Zeichensatzes einging, liegt auch an der kulturellen und politischen Nähe des Französischen zum Englischen: »Deutsch, Französisch, Spanisch, Italienisch und die skandinavischen Sprachen waren mit ihren Sonderzeichen in ISO Latin-1 [der ersten normierten Erweiterung des ASCII-Satzes, Anm. d. Verf.] vertreten. [...] Osteuropäische, griechische und kyrillische Zeichen wurden in anderen Zeichensätzen untergebracht und blieben damit bis weit in die 1990er Jahre Zeichenkulturen zweiter Klasse, da sie mit dem vorherrschenden Code Latin-1 nicht kompatibel waren. Schaut man genau hin, bemerkt man, dass die 8-Bit-Codes der 1980er Jahre Kinder des Kalten Krieges und der damals herrschenden Spaltung Europas sind. Osteuropa war ausgeschlossen [wie auch alle nicht-europäischen Sprachen, Anm. d. Verf.].« (Bergerhausen 2011: 18).
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Zwar mag digitaler Text nicht ›unseren Erwartungen‹ (»our expectations«, ebd.) entsprechen, aber nachvollziehbar ist der Sprung von »z« zu »é« allemal. Schon zuvor traten Lehnwörter mit Akzentzeichen in den Postings auf, allerdings nicht zu Beginn des Wortes und daher in ihrem Ordnungsprinzip schwerer auszumachen. Auch ist auffällig, dass Parrishs Liste, die sie nach eigenen Angaben ›irgendwo im Internet‹ gefunden hat, allein mit klein geschriebenen Wörtern operiert.10 Großbuchstaben werden in der ASCII-Tabelle vor dem kleingeschriebenen Alphabet geordnet. Indem dieser Aspekt aber durch die Formatierung der Liste gelöscht ist, reiht sich z.B. das Wort »german« problemlos hinter das Wort »germ« (vgl. Parrish 2015: 814). Bei der Wortliste, die bei @everyword erscheint, handelt es sich also um einen mindestens zweifach technologisch transformierten Zeichensatz. Der ›éclair-Eklat‹ verweist dabei nicht nur auf die Ordnung der Wortliste als Hybridisierung verschiedener sozialer und technologischer Ordnungsprinzipien, sondern thematisiert auch Monolingualismus als hybrides Konstrukt: »We only ever speak one language. [...] We never speak only one language.« (Derrida 1996: 7) Darüber hinaus spielt bei @everyword die Wissensorganisation eine Rolle, die über das Twitter-User-Interface geregelt wird. Hier sind die Handlungsoptionen wie Retweeten, Favorisieren, Kommentieren und die 140 ZeichenBeschränkung ebenso relevant wie die auf Social Media gängigen Verhaltensweisen von Selbstinszenierung durch skandalöse, witzige oder pointierte Posts. @everyword macht auch das in einem distant reading sichtbar, indem sich an den Reaktionen auf einzelne Wort-Tweets ablesen lässt, welche Wörter auf Twitter besonders beliebt waren, d.h. in ihrer Wirkung den Twitter-Konventionen der Followergroup entsprachen oder in einem hohen Maße für Folgekommunikation anschlussfähig waren. Im E-Book @everyword, das Parrish 2015 im Anschluss an ihr Bot-Projekt veröffentlichte, werden die Tweets, hier wieder von jeglicher Kommentierung befreit, unter anderem nach ihrer Beliebtheit ausgewertet.11 Neben den unmittelbar mit dem falschen Ende verbundenen Wörtern (»éclair« und »zymurgy« ebenso wie das tatsächlich letzte Wort »étui«) finden sich unter
10 »I don’t actually remember where I got the word list for @everyword (on the Internet somewhere, for sure, but I haven’t been able to find the exact word list I used anywhere), but whoever sorted that word list alphabetically clearly used a tool that was designed just for ASCII data.« (Parrish 2015: xii). 11 Zwar wird auf der Seite des Verlags neben anderen freischaltbaren Versionen ab 400 verkauften Exemplaren auch ein gebundenes Buch angekündigt (»family Biblestyle«), doch wurden von den E-Books, wenn man dem Counter auf der Seite glauben schenken darf, nur insgesamt 21 Stück verkauft (vgl. @everyword bei instar books).
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den Top 20 vor allem interjektive bis vulgäre Begriffe (wie »weed«, »vagina«, »you«, »shit«, »ugh« oder »tits«), die in besonderem Maße geeignet scheinen, ihre Nachbartweets im Feed witzig einzufärben oder ironisch zu kommentieren. @everyword verlangt nach der Interaktion durch seine Follower und hält ihnen dadurch einen Spiegel vor. Sein künstlerisches Programm ist eine Schreibund Leseumgebungsanalyse in actio. Indem er auf verschiedenen Ebenen Leseund Schreibprozesse thematisiert, lotet er ihre Medienspezifik als Verschränkung technologischer und sozialer Paradigmen aus. Der Bot handelt also auch grundsätzlich davon, in welcher Form Informationen zugänglich sind, wie also in Materialitäten und ihrem Design konservierte Praktiken bestimmte Interaktionsmuster triggern und andere ausschließen.12 Weniger scheint es dabei um eine Frage des Mediums zu gehen als um die Möglichkeit einer kritischen Perspektive auf dessen Interface (vgl. Drucker 2011: 158-161; Hadler/Haupt 2016: 10).
@everyword kann für eine literarische Praxis stehen, die Text und seine Bedeutungsgenerierung als unlösbar an das jeweilige mediale Dispositiv gekoppelt betrachtet, in dem er realisiert ist. Sieben Jahre bevor Parrishs Bot mit »a« seine Listenprozessierung startet, beginnt der konzeptuelle Autor Kenneth Goldsmith mit einer ganz ähnlichen Abschreibarbeit: »On Friday, September 1, 2000, I began retyping the day’s New York Times, word for word, letter for letter, from the upper left hand corner to the lower right hand corner, page by page.« (2011: 118) 2003 erscheint diese Abschrift dann als Buch mit dem Titel Day (Goldsmith 2003). So einfach und klar dieses Konzept auch klingen mag, umso mehr schien sich der Teufel im Detail der Umsetzung zu verstecken. Denn das Ignorieren der grafischen Zeitungsformatierungen regelt noch nicht die Organisation des Textes in dem neuen Format des Buches. »[I]n order for me to simply ›appropriate‹ the newspaper and turn it into a work of literature«, reflektiert Goldsmith, »it involved dozens of authorial decisions.« (2011: 118) Neben der Wahl von Schrift und Format nennt er eine Reihe weiterer Entscheidungen, die zu treffen waren, wie die Größe des Buches, die Art des Papiers, das Design des Covers oder Fragen der Preiskalkulation. Auch spricht er von ethischen Entscheidungen bei der Übernahme von Inhalten, die gegebenenfalls nicht seinem
12 »Artefakte sind keine kausalen Bedingungen von Praktiken, sie sind vielmehr als eine Komponente integraler Bestandteil von Praktiken.« (Reckwitz 2008: 164).
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Weltbild entsprachen.13 Und das, obwohl er den wesentlichen Teil der Abschrift nicht per Hand leistete, sondern vermutlich einen Handscanner und OCRSoftware zur Digitalisierung des Textes nutzte.14 Doch auch die teilautomatische digitale Texterkennung lieferte keinen ›objektiven Text‹, sondern ist wiederum technischen Paradigmen, Formatierungsvoreinstellungen und Fehlerhaftigkeiten unterworfen. Auffällig ist dabei zunächst die spatiale Ausdehnung der Umformatierung: den 108 Seiten der Tageszeitung entspricht ein 836 Seiten starker Buchblock, dessen Text sowohl sämtliche typografische Größenunterschiede der Vorlage ignoriert als auch auf jegliche Form der Wiedergabe von Illustrationen und Bildern verzichtet.15 Dafür führt Goldsmiths Buch zwei wesentliche Neuformatierungen des Textes ein: zum einen eine Kapiteleinteilung, die sich an der Seitennummerierung der Zeitung orientiert. Der Text der Titelseite findet sich zum Beispiel sämtlich im Kapitel »A1« wieder, hier allerdings auf mehrere Buchseiten verteilt. Zum anderen fügt er neue Absätze ein, um Textblöcke, Titel und Einschübe voneinander abzugrenzen. Der Text also, der sich auf der Zeitungsseite, abgesehen von den typografischen Besonderheiten bei Titel, Untertitel oder Trennstrichen, als Blocksatz an der Breite der Spalten orientiert, deren Anordnung sich wiederum am Format der Zeitungsseite orientiert, strukturiert sich im Buch allein nach Kapiteln, Absätzen und, ebenfalls als Blocksatz, am annähernd auf ein Viertel geschrumpften Format der Buchseite.16
13 Polemisch schreibt er: »There were as many decisions, moral quandaries, linguistic preferences, and philosophical dilemmas as there are in an original or collaged work.« (Goldsmith 2011: 118). 14 »But the truth is that I’ve subverted this equation by OCR’ing as much of the newspaper as I can. And it works pretty well since The New York Times is typeset by computer; hence the OCR program doesn’t have too much trouble recognizing the body text. However, when it comes to the fine print, particularly in the ads, I’ve got to input the text by hand.« (Goldsmith 2002/03) An anderer Stelle wird deutlich, dass es sich dabei um ein Verfahren handelt, das offenbar auch über Day hinaus Anwendung gefunden hat: »I have a little hand scanner that I use as a vacuum cleaner. I can just suck up images and suck up text and put them into my work.« (Goldsmith 1994). 15 Alle Angaben die Zeitung betreffend beziehen sich auf die Ausgabe New York Times (Late Edition) vom 01.09.2000. 16 Day regt insgesamt zum Größenvergleich der Formatierungen an. Der Titelseite der Zeitung entsprechen beispielsweise sechs Druckseiten im Buch. Eine Werbungsseite wie A5 kommt allerdings nicht einmal auf ein Drittel einer Druckseite. Die Anzahl der Buchseiten eines Kapitels wird dabei zum Indikator für die Textdichte der Zei-
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@TwitterUserX betrachtet die auf dem zugeklappten Labtop liegende Tageszeitung. »All the News / that’s Fit to Print« steht in einem kleinen Kästchen in der Ecke ganz oben links. Doch, um dort mit dem Blick zu landen, brauchte es einiges an Konzentration. Große Typografien konkurrieren um Aufmerksamkeit, Bilder und Spalten, Über- und Unterschriften leiten den Blick. Dieser schweift, die Linearität der Timeline gewohnt, über die Titelseite und nimmt vor allem über die Fläche verteilte, auffällig große Titel wahr. Diese flächige Organisation der Titelschriften scheint horizontal organisiert. Wo wäre mit dem Lesen anzufangen? Titel und Untertitel werden überflogen, einzelne Spalten angelesen. Doch wie bekommt man das Ganze in den Blick. @TwitterUserX entschließt sich die Hierarchien der Größe zu ignorieren und einem linearen Ansatz zu folgen. Textblock für Textblock arbeitet sich der Blick angefangen in der linken oberen Ecke über die Seite, um möglichst alle Informationen zu erfassen – eine mühselige und, wie die langsam sinkenden Augenlider erkennen lassen, offenbar recht unbefriedigende Lesemethode. Auch stockt der Blick bei jedem beendeten Textblock erneut: Wo wäre jetzt weiterzulesen? Den nächsten Abschnitt darunter, zurück zum Anfang der soeben beendeten Spalte und eine Spalte weiter nach rechts oder gar dem Hinweis »Continued on Page B7« folgend, einige Seiten später? Das komplette Erfassen der Zeitung wäre dann ein permanentes Blättern, vor und zurück, bis allen Querverweisen nachgegangen wurde. Sinnvoller wäre es wohl, sich erneut einen Überblick zu verschaffen.18 Ähnliche Fragen mag sich auch Goldsmith gestellt haben, als er seinen Handscanner über den Text führte (vgl. 2011: 118f.). Der gleiche Slogan, mit dem @TwitterUserX das systematisches Lesen beginnt, findet sich in Day zwar auch zu Beginn des Buches, allerdings erst auf Seite 11, nach Kapitelüberschrift, Mot-
tungsseite, liefert allerdings keine Rückschlüsse auf Schriftgrößen, Abbildungen oder Illustrationen. 17 Kurz für »too long; didn’t read / too long; didn’t write«. Ersteres ist eine gängige Abkürzung zur Kommentierung oder Zusammenfassung zu langer Texte im Internet. 18 »Man liest mit den Augen. Was die Augen während des Lesens tun, ist von einer solchen Komplexität, dass es sowohl die Kompetenz als auch den Rahmen dieses Artikels überschreitet.« (Perec 2014: 106) Goldsmiths Lesen mit Konzept, Handscanner und OCR-Software lässt sich dagegen als Komplexitätsreduktion verstehen, ohne dabei zu ignorieren, dass das maschinelle Vorgehen andere Komplexitätsebenen hinzufügt.
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to, Widmung, Colophon und Cover. »All the News that’s Fit to Print«, die Qualitätsansprüche der Zeitungsredaktion einmal beiseite, ist dieser Slogan die erratische Poetologie von Goldsmiths Projekt. Denn ›passend für den Druck‹ bleibt eine Frage des Formats, jener Neuformatierung, in der sich Day materialisiert.19 Hier folgt Goldsmiths Abschrift im Wesentlichen drei Kriterien: 1. von links nach rechts und von oben nach unten, 2. inhaltlich zusammengehörige Textzeilen werden zum sichtbaren Ende verfolgt, 3. nach jedem inhaltlichen Segment folgt ein Absatz. Vor allem die letzte Regel sorgt dafür, dass die flächige, multihierarchische Schriftordnung der Zeitungsseite im Buch durch eine eher vertikale Textschichtung abgelöst wird, die allerdings auch neue Hierarchien einführt. Dies wird besonders an der Kopfzeile der Zeitung deutlich, deren Zeichen bei Goldsmith eine radikal andere Wirkung erreichen und durch das Buchformat begünstigt eher an ein abstraktes Vorspiel oder eine Regieanweisung für den Folgetext denken lassen. Gerade die Linearität der Lesebewegung wird, trotz Goldsmiths konzeptuellem Objektivismus in Bezug auf die typografischen Varianzen und der damit zusammenhängenden Bewertung des Informationsgehalts der Artikel, zum neuen Ordnungsprinzip der Umformatierung. Seine Lesekonvention schreibt an seinem Abschreiben mit. Die Medienspezifik dieses in seiner Texttreue hochartifiziellen Rezeptionsprozesses wird erst durch die Umordnung in ein anderes Mediensystem auf Textebene manifest. Wie aber liest sich nun der Zeitungstext in seiner neuen Buchform? Am stärksten wohl in einer anderen Gestik, denn es muss deutlich öfter geblättert werden. Auch verliert der Text seinen tagesaktuellen Informationswert und damit einiges an Relevanz. Das mag zu einem stärkeren Überfliegen des Textes führen, denn die außertextlichen Referenzen können kaum mehr nachvollzogen werden – @TwitterUserX zumindest weiß davon nichts. Diese Leerstellen setzen allerdings auch poetische Potentiale frei. Besonders durch die Zeilenumbrüche neu entstehende Anschlüsse von Textsegmenten bekommen bisweilen einen starken Gedichtcharakter (vgl. Abb. 2).20 Dass allerdings der Text in Day durch die Entrefentialisierung der Nachrichten neue Deutungsangebote freigibt, liegt
19 Denn mit dem Druck verbindet sich auch eine materiale Wertproduktion. Verschiedene Arten des Drucks erzeugen verschiedene Wertigkeiten. Trotz Paperback-Bindung hat Day eine größere Wertigkeit als die New York Times. Bei Goldsmith wird das ›passend für den Druck‹ zum ›passend für den Buchdruck‹. 20 Neben dem Anfang des Textes wird dies besonders bei der Transkription von ganzseitigen Werbeanzeigen auffällig. Z.B. wird der spärliche Text von A5 in Day zum Ready-Made-Gedicht transformiert (vgl. Goldsmith 2003: 33).
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nicht nur an der Umformatierung, sondern auch am Framing der beiden Mediensysteme ›Tageszeitung‹ und ›Buch‹. Dem zeitlichen Verfall der Nachrichten steht das zeitlose literarische Kunstwerk gegenüber, dem tagesaktuellen Informieren die hermeneutische Exegese.21
Abb. 2: Textseite von Day An Day wird deutlich, wie sehr der Text an die Art seiner Präsentation und Materialitäten geknüpft ist. Denn mit der Entfernung von Formatierungen korreliert eine hochgradige Neuformatierung. Day lässt sich als Buch inhaltlich lesen, handelt aber als konzeptuell erweiterte Lesart der Zeitungsvorlage von den UserInterfaces der beiden Medien und ihren Implikationen für die Rezeption des Inhalts. Welche Entscheidungen wie getroffen wurden und welchen Einfluss das auf die Rezeption des Textes hat, lässt sich im performativen Nachvollzug der Textversionen erfahren. Day bietet eine Lesart der New York Times ebenso wie eine Lesart eines bestimmten Ideals von literarischem Werk. Dazwischen hinund herspringend wirft es grundsätzlich die Fragen nach Lesbarkeit und Lesarten auf. In diesem Sinn ist die Interfaceanalyse, die die Arbeit durch ihre dreischrittige, teilautomatische Texttransformation (Zeitung – Scan – Buch) vollzieht, auch die Behauptung einer allumfassenden Medienspezifik von Text. Jedes Dispositiv nämlich wirkt in anderer Weise auf die Zeichenfolge des Textes, durch
21 Zumindest kokettiert Day damit. Letztlich ist der Publikations- und Verfallszyklus der Gegenwartsliteratur wie auch ihrer experimentell-konzeptuellen Ausprägungen natürlich alles andere als zeitlos.
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das Design seines jeweiligen Interface und der daran geknüpften Praktiken und Konventionen.22 Der ASCII-Sortierung bei @everyword vergleichbar wird die Mischung aus Abtippkonzept und technischen Möglichkeiten des Handscanners bei Day zum Auslöser einer Umordnung, die das Design des Textmaterials betrifft. Einen objektiv ›reinen Text‹, so macht Day deutlich, gibt es nicht. Weder im Falle der Zeitung noch im Falle des Buches. Vielmehr schreiben sich trotz der identischen Zeichenfolge in der medialen Organisation und den Transformationen der Übertragung permanent subjektive Entscheidungen, technische Normen, soziale Konventionen und Interaktionsparadigmen ein, die die Erscheinung des Textes und den Umgang mit ihm bedingen.23
»Ich habe mich mehrmals gefragt, welche Logik der Verteilung der 6 Vokale und der zwanzig Konsonanten in unserem Alphabet zugrunde lag: Warum zuerst das A und dann das B und dann das C usw.? Die offensichtliche Unmöglichkeit einer jeglichen Antwort auf diese Frage hat anfänglich etwas Beruhigendes: Die alphabetische Reihenfolge ist willkürlich, nichtssagend und folglich neutral: Objektiv gesehen ist A nicht mehr wert als B, das ABC ist kein Zeichen der Vortrefflichkeit, sondern nur eines Anfangs [...].« (Perec 2014: 150)
Doch dieses Zeichen des Anfangs, von dem Perec hier spricht, impliziert nicht nur die Frage nach den Prinzipien der Reihenfolge, sondern vor allem danach, welche Elemente überhaupt vorkommen und unter welchem Paradigma.24 Die
22 Mit Day wird auch Lev Manovichs Beschreibung von Werken in New Media in einem postdigitalen Sinne generalisierbar. Dort heißt es: »In general, creating a work in new media can be understood as the construction of an interface to a database« (2001: 226). Die Anwendbarkeit dieser Beschreibung steht und fällt allerdings mit der Generalisierbarkeit des Begriffs ›database‹. Im Fall von Goldsmiths Appropriation scheint das Ausgangsmaterial aber dermaßen abgeschlossen und eindeutig als Material definiert, dass sich durchaus von einer ›Wortdatenbank‹ sprechen lässt. 23 Und natürlich spielen auch technologische und ökonomische Apsekte eine Rolle. So hängt z.B. die Wahl des Buchformats auch von der Art der Druckverfahren und ihrer Preise ab (vgl. Goldsmith 2011: 119f.). 24 Es ist die Frage nach der »Zusammengehörigkeit von Dingen, sobald sie auf einer Liste stehen.« (Pastior 1985: 30) Selbst wenn, wie Foucault schreibt, »[d]ie einzig
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Ordnungen und Umordnungen der Zeichen verweisen bei Day und @everyword nicht auf eine Unordnung als impliziten Gegenpol. Vielmehr steht jeder Ordnung die Ordnung eines anderen Systems gegenüber, die hier wesentlich vom Material bestimmt wird. Die künstlerischen Strategien ermöglichen dabei einen analytischen Blick auf die Interfaces, in denen sich diese Paradigmen der materialen Speicherung und des Zugriffs verfestigen. Allerdings verschieben sie nicht nur den Fokus einer Analyse von dem literarischen Text auf den technischen und sozialen Kontext, sondern sie bilden dabei auch neue literarische Formen und Ausdrucksweisen aus. Das Reframing ihrer Umordnung ist nicht nur analytisch, sondern auch poetisch. Stärker noch wird das an den Arbeiten Jörg Piringers deutlich, der sich nicht nur mit bestehenden Medien und ihren Interfaces beschäftigt, sondern auch versucht, neue zu schaffen. Seine künstlerische Praxis beinhaltet ein Programmieren und Umprogrammieren digitaler Schreib- und Leseumgebungen. In seiner sich fortlaufend erweiternden Sound-Text-Performance abcdefghijklmnopqrstuvwxyz wird die Nutzung eines extra dafür geschriebenen Programms live inszeniert. Piringer interagiert mit den von ihm programmierten Laut- und Buchstabenfolgen, die über Beamer und Speaker ausgegeben werden. Buchstaben fliegen projiziert auf einer Wand umher, haften aneinander, ziehen sich an, stoßen sich ab oder schichten sich zu Sedimenten, die in Ausschnitten beinahe wieder an Zeilen denken lassen – das Alphabet in außerordentlicher Permutation.
Wie begegnet man einem so hochgradig instabilen, unkonventionellen Text – noch dazu im Moment seiner Live-Produktion? @TwitterUserX sitzt vor einem aufgeklappten Laptop und erinnert sich an den Abend zuvor und den Besuch im lokalen Literaturhaus, in dem neben einem Gespräch des Autors mit einem Experten für digitale Poesie auch eine Performance Piringers zu sehen war. Nach kurzer Recherche öffnet sich dessen Vimeo-Seite im Browser und dort der Startbildschirm des bereits fünf Jahre alten Films »abcdefghijklmnopqrstuvwxyz performance (very short excerpt)«. Zu sehen ist Piringer in der unteren rechten Ecke, ein Mikrofon in der Hand, über einen Tisch gebeugt, auf dem ein Apple Laptop und andere Geräte stehen. Hinter ihm
mögliche Verbindungsform zwischen den Bausteinen des Wissens [...] die Addition« (1974: 61) ist. Zu Liste und Paradigma vgl. außerdem Cotten 2008: 23-25.
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erleuchtet ein Beamer in rechteckiger Projektion den größten Teil der Wand und des Bildausschnitts. Rechts und links davon stehen Lautsprecher, die den Ausschnitt flankieren. Gestern noch stand Piringer vielleicht etwas weiter außerhalb der Projektion auf der Bühne des Literaturhauses, das Setting aber gleicht sehr genau dem, was @TwitterUserX fünf Jahre nach Upload des Videos zu sehen bekommt und sich nun erneut in Erinnerung ruft (vgl. Abb. 3).
Abb. 3: Filmstill aus dem Vimeo-Clip Piringer [1]: »abcdefghijklmnopqrstuvwxyz« @TwitterUserX startet das Video. Die zu Beginn noch weiße Fläche der Projektion füllt sich nach und nach mit Buchstaben in schwarzen Serifen, offenbar immer, wenn Piringer einen entsprechenden Laut ins Mikrofon spricht. Die Geste des Sprechens und die darauffolgende digitale Materialisierung sind deutlich sichtbar. Einmal dort vorhanden, beginnt sich der Buchstabe auf eine bestimmte Art zu verhalten, bewegt sich und gibt in variierenden Abständen und durch verschiedene Auslöser erneut seinen Intialsound von sich. Die Verknüpfungen aus Buchstabe und Ton scheinen ein Eigenleben zu beginnen. Schon nach kurzer Zeit entsteht so ein hoher Pegel an visuell-auditivem Noise, Buchstaben und Laute vermischen sich zu einem chaotischen Summen oder Zischen – Piringer hatte zunächst vor allem die Laute »r« und »s« eingegeben. Regelmäßig greift die rechte Hand des Autors hinter den Laptopbildschirm, wohl auf das Keyboard seines Macbooks drückend oder auf eine der leuchtenden Tasten seines USBKontrollers.25 Vollzieht er diese Geste, verändert sich das Verhalten der Zeichen 25 Ein weiteres Steuergerät, mit dem z.B. in Musikprogrammen verschiedene Funktionen und Effekte kontrolliert werden können. Bei dem Gerät, das Piringer verwendet,
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auf der Fläche. Zum Beispiel werden die Buchstaben geschüttelt oder durcheinander gewürfelt oder die ›Schwerkraft‹, die auf sie wirkt, kehrt sich um. Schließlich werden durch eine solche Geste alle Zeichenvorkommnisse gelöscht und die Performance beginnt erneut und nach anderen Regeln. Fielen die Buchstaben gerade noch wie Regentropfen vom Himmel und zitterten am unteren Rand, springen sie nun vom linken zum rechten Rand der Projektion hin und her, beinahe wie beim Arcade-Klassiker »Pong«. Bei @TwitterUserX stellen sich ähnliche Rezeptionsprozesse wie am Abend zuvor ein. Die Augen beginnen einzelne Buchstaben zu fokussieren und ihren Bewegungen zu folgen: ihrem Verhalten auf der Fläche, dem Zusammentreffen mit anderen eingegebenen Zeichen und schließlich ihrem Verblassen. Mit etwas Konzentration lässt sich so der kurze ›Lebensweg‹ eines Buchstabens nachvollziehen. Nach einer halben Minute ist die Fläche durch die wiederholte Eingabe Piringers allerdings dermaßen gefüllt, dass @TwitterUserX diese Fokussierung schwerfällt und die Aufmerksamkeit sich zunehmend den abstrakten, audiovisuellen Rhythmen hingibt. Dann drückt Piringer auf eine der Tasten und die Fläche wird wieder weiß. Stellte @TwitterUserX zu Beginn noch Versuche an, das Aufeinandertreffen und gemeinsame Ablagern von Zeichen semantisch zu lesen – »e« und »s« begegneten sich z.B. zu »see«, »es« oder »esse« – stellte sich schon nach kurzer Zeit der Eindruck von experimenteller Minimal Music oder Sound Poetry ein. Die Rezeption fokussierte sich in der Folge eher auf Rhythmusverschiebungen und die Gesetze, nach denen diese als Bewegungen auf der Fläche zustande kamen. Welches Ordnungsprinzip äußert sich in diesen Buchstabenrhythmisierungen? Jedes sichtbare Zeichen repräsentiert einen live aufgenommenen Laut des Autors. Alle Laute werden aufgrund der zeitlichen Ordnung der Performance linear eingegeben. Das Nacheinander dieser Eingabe wandelt sich in der Projektion allerdings zu einer partiellen Gleichzeitigkeit. Die eigengesetzliche Ordnung der Zeichen auf der digitalen Fläche steht so dem Ordnungsprinzip der Spracheingabe gegenüber.26 »as a dynamic and reactive system«,27 heißt es dazu in einer Selbstauskunft des Autors,
handelt es sich um ein Launchpad von Novation, dessen Tasten individuell mit einzelnen Funktionen belegt werden können. 26 Es ist anzunehmen, dass Piringer in einem Feedback-Loop live auf die vorhandene Bevölkerung der Fläche reagiert und zumindest teilweise spontan entscheidet, welche Arten von Sounds er wählt und in welchem Tempo er sie eingibt. 27 Piringer verwendet in diesem und anderen Statements für gewöhnlich konsequente Kleinschreibung.
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»abcdefghijklmnopqrstuvwxyz interacts with the performer by taking the voice as an input to various flexible modules that produce output. the mapping of the input signal to the actual output that can be seen and heard by the performer and the audience is determined by algorithms taken from non-literary fields like physics, biology and mathematics.« (Piringer [2]: »abcdefghijklmnopqrstuvwxyz«)
Zu diesen ›Naturgesetzen‹ – am Abend zuvor waren es fünf oder sechs verschiedene, erinnert sich @TwitterUserX – stehen die sekundären Manipulationsmöglichkeiten – das Drücken von Piringers rechter Hand im Film – quer. Denn dieses betrifft die Ordnungsparameter der digitalen Buchstabenwelten selbst. An die unmittelbare ästhetische Erfahrung der Sound- und Letternbewegungen schließt sich ein Rezeptionsmodus an, der nach eben diesen Manipulationsmöglichkeiten fragt und sich für die Gemachtheit der limitierten Buchstabenwelt interessiert, die Piringer exemplarisch erforscht. Das Interface, dessen sich Piringer in seinen Auftritten bedient und dessen Software er gezielt für diese programmiert, bildet den Dreh- und Angelpunkt möglicher Interpretationsansätze. Denn das sichtbare Verhalten Piringers an seinen technischen Geräten und das sichtbare Verhalten der projizierten Zeichen verweisen auf die Frage nach ihrer nicht sichtbaren Verknüpfung. Indem diese Ordnungsparadigmen der Zeichen immer aufs Neue manipuliert und vorgeführt werden, verschiebt sich der »writing space« (Bolter 2001) von der weißen Fläche auf jene programmierte Blackbox des Interface – und mit ihm die Rolle des Autors als Programmierer und exemplarischer Nutzer von Wortumgebungen.28
Wie also konnte es dazu kommen? Die Momente der Umordnungen bei @everyword, Day und abcdefghijklmnopqrstuvwxyz lassen sich als literarische Praktiken verstehen, die ihre Interfaces als bedeutungsstrukturierende und an ihre Materialität geknüpfte Textnutzungsparadigmen reflektieren. Dabei gleichen die Beispiele je unterschiedliche Ordnungssysteme zwischen analogen und digitalen Medien miteinander ab, um diese Perspektive postdigital produktiv werden zu lassen. Bei @everyword wird die Spannung aus alphabetischer Ordnung und ASCII-Ordnung zu einem analog-digitalen Abgleich. Day macht in dem Über-
28 Einer größeren Nutzerschaft machte Piringer sein Performance-Programm 2010 als reduzierte und leicht veränderte iPhone App zugänglich (vgl. Piringer [3]: »abcdefghijklmnopqrstuvwxyz«).
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gang von Zeitungsordnung zu Buchordnung einen analog-analogen Abgleich via Digitalisierungs- und Layoutsoftware. Und abcdefghijklmnopqrstuvwxyz entwickelt – digital-digital – schließlich neue textuelle Ordnungen, die nichttextuellen Ordnungssystemen nachgebildet werden. Diese Umordnungen gleichen in ihrem interaktionsanalytischen writing through der Methode, die N. Katherine Hayles für eine medienspezifische Analyse fordert: »holding one term constant across media [...] and varying the media to explore how medium-specific constraints and possibilities shape texts.« (2004: 69) Versucht man allerdings eine analytische Perspektive auf künstlerische Praktiken einzunehmen, die, wie die hier vorgestellten Arbeiten, eben dieses Verfahren bereits inkorporiert haben, bedarf es eines perspektivischen Updates, das wiederum übergreifende Prozesse der Transformation, des Interfacing und der Umordnung vergleichend zu beschreiben sucht.29 Dass solche Phänomene vermehrt ins Zentrum künstlerischer, zumal literarischer Reflexion rücken, lässt sich aus dem digitalen Wandel und seinen sich immer noch ausdifferenzierenden, multiplizierenden Lese- und Schreibmöglichkeiten ableiten, die wiederum auch in ihren Praktiken auf analoge beziehungsweise hybride Publikationen im Sinne postdigitaler Textpraktiken zurückwirken. Zum anderen ist dies auch der Versuch, Schreiben unter dem textuellen Primat der digital condition neu zu denken: alles, was auf digitalen Bildschirmen erscheint, ist auf unterster Ebene Strom, eine Ebene darüber aber schon Zeichen und Text (vgl. Cramer 2001). Die Grammatiken und Vorannahmen dieser Zeichenfolgen nicht nur sichtbarzumachen, sondern ihre Wirkung durch Neuformierung auch produktiv umzugestalten, wird dadurch zu einem dezidiert politischen Programm: »Making art that brings all of this to the surface is a way of demonstrating and naming those assumptions, so that we can recognize the powerful influence the system has on us – and maybe begin to imagine alternative systems.« (Parrish 2015, xiii)30 Literatur wird dann zu einem Tool der kritischen Reflexion
29 Es scheint nicht mehr sinnvoll, wie auch Schüttpelz und Gießmann zusammenfassen, »digitale[] Praktiken und insbesondere die Verschränkungen von Online- und OfflinePraktiken [...] durch eine eingrenzbare Medienspezifik zu erklären oder zu unterscheiden, wie mittlerweile gerade in der Digitalisierungsforschung anerkannt – und zwar auch in kulturkritischer Absicht.« (2015: 8). 30 Die gleiche Denkfigur findet sich auch bei Goldsmith und Piringer. Bei Goldsmith heißt es, die kritische Perspektive betonend: »When haven’t we been influenced? But for some reason it becomes invisible. So I’m thinking, let’s make this visible and admit that. It is prescribed, it really is, entirely by the apparatus. And I’m in favor of exploiting that and critiquing that and bring that out.« (2017) Piringer dagegen formuliert proaktiv: »die poetinnen der kommenden jahre werden nicht zusehen
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und literarische Praktiken zu einem Set an Handlungen, das es aktiv zu ändern, anzupassen und zu erweitern gilt.
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C ATRIN P RANGE
Übertragungen zwischen analogen und digitalen Medien sind heutzutage auch in der Dichtung allgegenwärtig. Die Digitalisierung der Lyrik erschöpft sich dabei nicht unbedingt in der medialen Übersetzung eines Gedichtbandes in ein E-Book. Unterschiedliche, leicht zugängliche und bedienerfreundliche Aufnahmegeräte und Speichermedien sowie die nahezu unendlichen Möglichkeiten zur freien Veröffentlichung im Internet eröffnen Dichter*innen eine regelrechte Spielwiese. So werden Gedichte immer häufiger von einem Medium in ein anderes übertragen, »wodurch sie kontinuierlich neu gerahmt und ihre Ästhetik und Perzeption transformiert werden« (Benthien 2017b: 122). Es entstehen Hörgedichte (vgl. Vorrath 2017) und Poesiefilme unterschiedlicher Couleur (vgl. Orphal 2014) sowie Möglichkeiten, direkt mit den Dichter*innen zu interagieren und auf lyrische Formate zu reagieren – vor allem in den sozialen Medien. Die wissenschaftliche Analyse zeitgenössischer Lyrik muss sich in besonderer Weise auf diese plurimedialen Erscheinungsformen und die damit zusammenhängende multimodale Rezeption einstellen. Klassische literaturwissenschaftliche Ansätze stoßen aufgrund der sich hieraus ergebenden theoretischen und methodologischen Problemstellungen schnell an Grenzen, daher gilt es, zur Beschreibung und Analyse der ›neuen‹ digitalen Lyrik des 21. Jahrhunderts wissenschaftliche Ansätze aus verschiedenen Disziplinen zu berücksichtigen. Ansätze aus der linguistischen Sprach-Artikulationsforschung (beispielsweise Bose 2010) sind dabei ebenso hilfreich wie Theorien zur Stimme im Allgemeinen (u.a. Kolesch-Krämer 2006) und zu den Sprechkünsten im Besonderen (z.B.
106
Meyer-Kalkus 2001). Für die Untersuchung von Poesiefilmen kann auf medienwissenschaftliche Ansätze (beispielsweise Hickethier 2010; Schröter 2014) und das Fachwissen und -vokabular der Filmanalyse (siehe dazu z.B. Katz 2000; Korte 2010) zurückgegriffen werden. Neueste Ansichten zu Intermedialität und medialen Mischformen sowie medialen Transformationen von Literatur (z.B. bei Stauf/Richter/Wiebe 2018) können sich dabei ebenfalls als hilfreich erweisen. Werden Live-Performances untersucht, die sich durch die leibliche Ko-Präsenz von Dichter*in und Publikum (vgl. Fischer-Lichte 2012: 54-58) und durch Einmaligkeit und Vergänglichkeit auszeichnen, können theaterwissenschaftliche Ansätze (z.B. Fischer-Lichte 2012 und 2004) nutzbar gemacht werden. Die Übertragung solcher Performances in digitale Medien ist ebenfalls keine Seltenheit, so können für die Analyse der Bühnenauftritte neben dokumentierenden Notizen des Aufführungsbesuches auch Ton- und Videoaufnahmen zuträgliche Quellen sein. Die Lyrikerin Nora Gomringer bedient die oben genannten Möglichkeiten der Lyrikpräsentation in unterschiedlichen Medien und Medienkombinationen und ist damit sehr erfolgreich. Seit dem Jahr 2000 hat Gomringer acht eigenständige Gedichtbände sowie zwei Sammelbände veröffentlicht. Darüber hinaus publiziert sie Bücher mit Essays, Reden und Kurzprosa. Für ihr Werk ist sie vielfach ausgezeichnet worden, so erhielt sie u.a. den Jacob-Grimm-Preis für Deutsche Sprache und den Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik. Ihre Gedichtbände erscheinen ausnahmslos als Medienkombination aus gedrucktem Buch und von der Autorin selbst eingesprochener Audio-CD. Einzelne Audio-Dateien werden darüber hinaus – hauptsächlich im mp3-Format – im Internet veröffentlicht. Dort sind sie dann zumeist auf speziellen Lyrikplattformen1 zu finden, aber auch auf YouTube und als Hörproben auf der Webseite von Gomringers Verlag Voland & Quist. Die Distribution dieser auditiven Lyrik (respektive von »Hörgedichten« [Vorrath 2017: 106]) erfolgt jedoch hauptsächlich als Beigabe zum Gedichtband. Darüber hinaus produziert Gomringer auch Poesiefilme zu ihren Gedichten. In diesen sogenannten ›Poetry Clips‹2 präsentiert sie das jeweilige Gedicht grund-
1
Beispielsweise www.lyrikline.de, www.literaturcafe.de und www.poets.org.
2
Ich folge an dieser Stelle der Terminologie Stefanie Orphals, die den Begriff des Poesiefilms als allgemeines Hyperonym vorschlägt und die sogenannten Poetry Clips in der Nähe der Spoken-Word-Szene verortet (vgl. Orphal 2014: 29-33). Dieser Terminus scheint mir für Gomringers Produktionen aufgrund ihrer Nähe zur SpokenWord-Dichtung im Allgemeinen als auch aufgrund ihrer Vergangenheit in der PoetrySlam-Szene passend. Darüber hinaus ist auch die ›Video-Abteilung‹ auf Gomringers
107
sätzlich in seiner gesprochenen Form als stimmlich realisierten lyrischen Text. Diese Kurzfilme fokussieren immer auf die ›Poetperformerin‹ (vgl. Novak 2011: 179-194.) und ihren Vortrag, nur selten schlüpft Gomringer dabei offensichtlich in eine Rolle3, zumeist tritt die Dichterin als sie selbst auf und spricht den Gedichttext direkt in die Kamera. Bei diesen kurzen Filmen handelt es sich um präzise inszenierte audiovisuelle Werke, die von Gomringer selbst in Szene gesetzt werden. Die Dichterin allein bestimmt den Ort beziehungsweise das gesamte Setting der Videoaufnahme und die Art und Weise der Gedichtrezitation. Der Großteil dieser Poetry Clips ist zur Veröffentlichung im Internet bestimmt. Als Plattform dienen dabei vorrangig die Homepage Nora Gomringers sowie die YouTube-Seite4 der Dichterin. In den letzten zwei Jahren hat für sie allerdings auch die Social-Media-Plattform Facebook als Publikationsmedium an Bedeutung gewonnen (vgl. Interview mit Gomringer vom 09.08.2017). Nora Gomringers Dichtung fällt in besonderer Art und Weise durch diese ihr eigene Plurimedialität auf, sie existiert sozusagen in verschiedenen ›Aggregatzuständen‹: im Gedichtband als gedruckter ›Schrifttext‹, auf den Audio-CDs als »Audiotext« (Bernstein 1998: 12; vgl. auch Novak 2011: 75-144), in den Poetry Clips als ›Poetry-Clip-Text‹ und im Vortrag bei Live-Performances vor Publikum als ›Live-Performancetext‹. Dabei ist der Schrifttext das weitaus häufigste Format. Aktuell (Stand Dezember 2017) hat Nora Gomringer über 400 Gedichte als Schrifttexte in ihren Gedichtbänden sowie in Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht, etwa die Hälfte davon liegt als Audiotexte vor. Bis jetzt hat Gomringer zwölf Poetry Clips gedreht. Die Live-Performance-Texte sind naturgemäß schwierig in Zahlen zu fassen, da sich das Repertoire der Dichterin ständig ändert und erweitert. Der These nachgehend, dass die mediale Transformation der lyrischen Texte ihre Rezeption verändert, soll im Folgenden anhand zweier unterschiedlicher Poetry Clips zu dem Gedicht »Wir hätten nicht mitgemacht« gezeigt werden, wie durch die Verbindung der unterschiedlichen Elemente ein ›surplus‹ entsteht – ein Mehrwert, der die Dichtung Gomringers als eine neue plurimediale und multimodale Dichtung der 2000er- und 2010er-Jahre kenn-
Homepage unter dem Stichwort »Clips« zu finden (siehe www.nora-gomringer.de/ clips). 3
In den Poetry Clips zu den Gedichten »Froschkönig« und »Lycanthropie« ist dies hingegen der Fall und wird deutlich markiert durch die Kostümierung beziehungsweise das Make-up Gomringers. Beide Clips sind auf der Homepage der Autorin unter www.nora-gomringer.de/clips einzusehen.
4
Siehe https://www.youtube.com/channel/UCZYZOEFwJhQRsLWfK3BYv9w.
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zeichnet.5 Dazu werde ich zunächst eine Interpretation des schriftlichen Gedichttexts vornehmen und anschließend die beiden Poetry Clips beschreiben und analysieren. Dies soll aufzeigen, wie die Dichterin ihren Text in das Medium des Films übersetzt, welche Korrespondenzen und Wechselwirkungen sich daraus ergeben und wie sich die digitale Umgebung, die Veröffentlichung der Clips im Internet, auf die Rezeption des lyrischen Werks auswirkt.
Das Gedicht »Wir hätten nicht mitgemacht« findet sich als Schrifttext in dem Gedichtband Sag doch mal was zur Nacht aus dem Jahr 2006. Es ist Teil einer Gedicht-Trilogie über Nationalsozialismus und Holocaust, einer Auftragsarbeit vom Schulbuchverlag Cornelsen.6 Die drei Gedichte sind innerhalb Gomringers Gedichtband allerdings nicht mehr explizit als Teile einer Trilogie gekennzeichnet. So sind auch nicht alle drei Gedichte unmittelbar hintereinander abgedruckt oder durch gemeinsame Überschriften oder Ähnliches hervorgehoben. Es könnte allenfalls die kongruente thematische Ausrichtung auffallen. Da es sich um Rollengedichte handelt, die aus jeweils unterschiedlicher Perspektive auf das Thema blicken beziehungsweise mit ihm umgehen, wird allerdings auch die thematische Ausrichtung nicht unmittelbar als zusammenhängend im Sinne einer Trias evident. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass die Gedichte innerhalb Gomringers Gedichtband auch jeweils für sich selbst stehen und als einzelne Werke wirken sollen (siehe auch Benthien 2017a). Claudia Benthien konzentriert sich in ihrer ausführlichen Beschreibung der Gedicht-Trilogie auf die Analyse des Audiotextes des Gedichts »Es war ein Tag/und der Tag neigte sich«. Dabei handelt es sich um das zentrale Gedicht der Trilogie – es ist das einzige der drei, das als Audiotext, also als von der Poetperformerin selbst eingesprochene »Gedicht-
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Im Rahmen meiner Dissertation Sprechtexte/sprechende Texte: Nora Gomringers Poetik der konkreten Klanglichkeit werde ich der hier angedeuteten interdisziplinären Anforderung nachkommen, indem zum einen allgemeingültige Analyseparameter für eine multimodale Lyrikperzeption im digitalen Zeitalter vorgestellt und zum anderen die plurimediale Lyrik der Dichterin Nora Gomringer genauer untersucht wird.
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Dies äußerte Nora Gomringer in einem Gespräch im Literaturhaus Hamburg am 18.02.2015. Zu dieser Trilogie zählen des Weiteren die Gedichte »Monolog« und »Es war ein Tag/und der Tag neigte sich«.
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Sprechung« (Ammon 2013: 71), auf der den Gedichtband begleitenden AudioCD enthalten ist. Der Schrifttext von »Wir hätten nicht mitgemacht« befindet sich in diesem Gedichtband direkt auf der folgenden Seite (siehe Gomringer 2006: 75f.). Schon der Titel verweist deutlich auf die Sprecherinstanz im Plural. Dieses ›lyrische Wir‹ deutet auf die große Masse, die anonyme Menge, hin, in der der Einzelne untertauchen kann beziehungsweise nicht zur Verantwortung gezogen wird. Allerdings kann das ›Wir‹ als sogenanntes ›inklusives Wir‹ gelesen werden, das die Sprechenden und die Adressaten (und mögliche Dritte) meint, oder auch als ›exklusives Wir‹, wobei die Adressaten nicht in die Gemeinschaft des ›Wir‹ eingeschlossen wären (vgl. Helmbrecht 2002: 31-49; Daniel 2005: 3). Das Deutsche ist hier uneindeutig, es muss je nach Kontext entschieden werden, welches ›Wir‹ gemeint ist. Den Rezipient*innen des Gedichts bleibt damit freigestellt, ob sie sich dazuzählen wollen oder nicht. Je nach Lesart ergeben sich also recht unterschiedliche Implikationen. Im Zentrum des Gedichts steht der Konjunktiv. Die Formel »Wir hätten nicht mitgemacht« ist nicht nur der Titel des Gedichts, sie taucht im Verlauf des Textes immer wieder auf. Während der Titel noch die Frage offen lässt, wobei nicht mitgemacht wurde, beantwortet dies der erste Vers folgendermaßen: »Bei dieser Sache hätten wir nicht mitgemacht« (Gomringer 2006: 75). ›Diese Sache‹ ist dabei ebenso wenig konkret wie das ›Wir‹ als Sprecher-Entität. Benthien hat dies treffend als »Höchstmaß an Vagheit« (2017a: 123) beschrieben. In den folgenden Zeilen wird diese Vagheit allerdings zunehmend durch Konkreta ersetzt: »Wir hätten uns enthalten / Wären zu Hause geblieben / Bei den Frauen, den Kindern, den Häusern, den Herden / Wir hätten nicht braun getragen und die Haare / gescheitelt und / Diesen unvorteilhaften Schnauzer getragen / Wir hätten nicht Sieg gerufen und Heil gewünscht« (Gomringer 2006: 75, V. 2-8). Durch diese Beschreibungen wird zum einen das ›Wir‹ als ein männliches Kollektiv charakterisiert und zum anderen wird nun ›die Sache‹ sehr deutlich als der Nationalsozialismus im Dritten Reich erkennbar. Die Bilder der braunen Uniformen der Nationalsozialisten, von Frisur und Bart Hitlers sowie die Andeutung einer ›Sieg Heil‹ skandierenden Menschenmenge genügen, um das schreckliche Ausmaß der NS-Diktatur mitsamt ihrer Gräueltaten zu evozieren. Gomringer eröffnet hier Assoziationsräume, die naturgemäß bei den Rezipient*innen etwas unterschiedlich ausfallen können, dennoch wird bereits an dieser Stelle im Gedicht die anfängliche Vagheit deutlich in Zweifel gezogen. Dem entgegen steht eine die erste Strophe abschließende Behauptung: »wir wären Swing tanzen gegangen« (V. 9f.). Nach all den Auflistungen ›was wir nicht gemacht hätten‹ wird an dieser Stelle nun also die nahezu unerträgliche
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(weil unterschwellig nicht glaubhafte?) Passivität mit größtmöglicher Aktivität unterbrochen. Dabei ist Tanz als Freizeitaktivität nicht nur durch die Bewegung an sich ein enormer Gegensatz zur regungslosen Passivität, der Swing-Tanz kann vor seinem historischen Entstehungshintergrund ganz besonders für eine überschäumende Lebensfreude, für Egalität der Ethnien und der Geschlechter gelesen werden. Bis hierhin könnten die Behauptungen der ersten Strophe noch als Aussagen von Nachgeborenen gewertet werden. So könnten Reaktionen und Reflexionen der Enkel- und Urenkel-Generationen aussehen, die in der Schule über das Dritte Reich und die Schuldfrage diskutieren. Die zweite Strophe aber beginnt mit dem Appell »Doch halt« (V. 11). Die Sprecher berichten nun im Indikativ vom Swing-Tanzen und von weiteren Aktivitäten, die sie des Nachts im Geheimen ausgeführt haben. Sie offenbaren nach und nach, ein Doppelleben geführt zu haben: »Wir waren bei Nacht, wen wir am Tag durch die / Straßen jagten / Wir waren bei Nacht, wen der Tag uns vor die Rohre / laufen ließ / [...] Waren bei Nacht, wen wir nie an unsere Töchter ließen« (V. 14-20). Der Bruch zur ersten Strophe ist deswegen so abrupt und drastisch, weil diese Zeilen deutlich machen, dass die Sprecher eben keine Unschuldigen sind. Sie sind nicht Nachgeborene, die mit der Generation vor ihrer eigenen oder eventuell mit der eigenen Familiengeschichte hadern. Sie waren Zeitzeugen. Sie waren Mitläufer und Wegseher. Mehr noch: Sie waren Täter. Offenbar wussten sie ganz genau um die Verbote, die sie selbst unerkannt bei Nacht ignorierten, deren Durchsetzung sie aber im Tageslicht strikt verfolgten. Die dritte Strophe beginnt wieder mit dem ersten Vers »Bei dieser Sache hätten wir nicht mitgemacht« (V. 21). ›Diese Sache‹ ist, wie mittlerweile deutlich geworden ist, die nationalsozialistische Diktatur und ihr Klima von Angst und Gewalt. Die darauffolgenden Zeilen »Bis wir sahen, dass der Pfarrer und der Lehrer auch / irgendwie mitmachten / Und die Frau, bei der wir ins Bonbonglas greifen durften« (ebd.: 76, V. 22-24) sind Eingeständnis und Rechtfertigung zugleich. ›Bis‹ zeigt nämlich an, dass doch sehr wohl irgendwann mitgemacht wurde. Wieso die Sprecher sich von den Nationalsozialisten nicht abwenden konnten, wird hier mit den Autoritäten (namentlich Pfarrer und Lehrer) begründet, die auch »irgendwie mitmachten« (V. 23). Eine besondere Rolle kommt der Frau mit dem Bonbonglas zu: In diesem Falle handelt es sich nicht um eine Autoritätshörigkeit, die durch die gesellschaftliche Rolle als moralisches Vorbild (Pfarrer) oder durch ein von außen bestimmtes Abhängigkeitsverhältnis (Lehrer) geprägt wäre, sondern um eine Art emotionale Verbundenheit, um ein Urvertrauen in das Tun und Handeln der kinderlieben Ladenbesitzerin. Die erneute Wiederholung des Satzes »Bei dieser Sache hätten wir nicht mitgemacht« (V. 25) wirkt nun schon eher so, als wollten die Sprechenden selbst sich dies nach-
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träglich einreden. Benthien konstatiert dazu: »Der Konjunktiv wird mithin als eine die Tatsachen und historische Chronologie verhüllende Redeform entlarvt« (Benthien 2017a: 123). Die vierte und letzte Strophe des Gedichts bricht mit der bisherigen Sprecherinstanz, sie beginnt völlig unvermittelt mit »Ich sag dir« (V. 26). Das Ich spricht zwar in den folgenden Zeilen weiterhin im Konjunktiv, doch dieses Mal sind die beschriebenen Handlungen derart präzisiert, dass dies allein schon ausreicht, um den Konjunktiv als Lüge zu enttarnen. »Ich hätte keinem die Zahnbürste in die Hand gesteckt / und hätt gesagt / Schrubb die verdammte Wiener S-Bahn / Hätt nicht gesagt nur einen Koffer, und die Sachen / kriegen Sie wieder nach der Desinfektion / Hätt nie schneller, schneller zu den lahmen Alten und / nicht du links, deine Schwester rechts gesagt […]« (V. 27-33). Diese Verse durchbrechen die Vagheit, welche die ersten Strophen bestimmt hat. Das Ich, das sich hier artikuliert ist ganz zweifellos über die gesamte Bandbreite der Nazi-Verbrechen aufgeklärt. Die »Desinfektion« (V. 31) und die Andeutung der Praxis der Selektion bei der Ankunft in den Konzentrations- und Arbeitslagern sind deutliche Hinweise dafür, dass das Ich vollumfänglich über die Vernichtungsmaschinerie und über den Völkermord an Juden und Jüdinnen Bescheid weiß. Neben dem im Gedicht so prominent gesetzten Konjunktiv »wir hätten nicht mitgemacht« kann eine zweite standardisierte Abstreitungsfloskel mitgedacht werden: Die Floskel ›davon haben wir nichts gewusst‹ wird von Gomringer zwar zu keinem Zeitpunkt explizit benannt, ist aber doch bei der Rezeption des Gedichts unterschwellig stets präsent. Weiterhin wird allerdings die aktive Teilnahme verneint, es heißt hier noch immer »[Ich] hätt nicht« oder »[Ich] hätt nie« (V. 30 und 32). Die letzten Verse jedoch zeigen den ganzen Widersinn des Konjunktivs und des vorgeblichen Nichtmitmachens und ›Nichtdabeigewesenseinwollens‹. Durch komplizierte, den Sachverhalt verdeckende Mehrfachnegationen bleibt nun völlig opak, was das »artikulierte Ich« (Burdorf 1997: 194) getan oder unterlassen hat: »Aber / Nicht gesagt, dass ich nicht unterschrieben hätte, im / falschen Moment an falscher Stelle ein Kreuz, ein Ja / angebracht hätte / [...] Nicht gesagt, dass / Ich bei dieser Sache nicht mitgemacht hätte / Irgendwie / Nicht gesagt, dass ich nicht mitgemacht hätte« (V. 35-38 und 41-44). Nora Gomringer inszeniert in diesem Gedicht die Rhetorik der Verleugnung, die alltägliche Phrasendrescherei des Sich-Herausredens. Nicht nur aufgrund der Wendung zu Beginn der letzten Strophe, der persönlichen Anrede eines ›Du‹, wird das Gedicht zum Ende hin immer eindringlicher. Das Schuldeingeständnis »[…] im / falschen Moment an falscher Stelle ein Kreuz, ein Ja / angebracht […]« zu haben und »[…] einmal zu viel geschwiegen« (V. 39) zu haben, kommt allerdings schal daher, da die Rezi-
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pient*innen inzwischen schon längst geahnt haben dürften, dass eine Mittäterschaft oder zumindest Mitwisserschaft vorliegt. 7
Wir hätten nicht mitgemacht
Bei dieser Sache hätten wir nicht mitgemacht Wir hätten uns enthalten Wären zu Hause geblieben Bei den Frauen, den Kindern, den Häusern, den Herden Wir hätten nicht braun getragen und die Haare gescheitelt und Diesen unvorteilhaften Schnauzer getragen Wir hätten nicht Sieg gerufen und Heil gewünscht Wir hätten nicht laut geschrien, wir wären Swing tanzen gegangen Doch halt, wir waren ja Swing tanzen und Boogie Woogie Frauen über die Schultern werfen Wir waren ja Shimmy und Quickstep tanzen Wir waren bei Nacht, wen wir am Tag durch die Straßen jagten Wir waren bei Nacht, wen der Tag uns vor die Rohre laufen ließ Wir waren bei Nacht, wen die Essensmarken ausgespart hatten Waren bei Nacht, wen wir nie an unsere Töchter ließen Bei dieser Sache hätten wir nicht mitgemacht Bis wir sahen, dass der Pfarrer und der Lehrer auch irgendwie mitmachten Und die Frau, bei der wir ins Bonbonglas greifen durften Bei dieser Sache hätten wir nicht mitgemacht
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Der Abdruck des Gedichts erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags Voland & Quist. Es handelt sich hierbei um den Schrifttext gemäß der Erstpublikation (Gomringer 2006: S. 75f.).
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Ich sag dir Ich hätte keinem die Zahnbürste in die Hand gesteckt und hätt gesagt Schrubb die verdammte Wiener S-Bahn Hätt nicht gesagt, nur einen Koffer, und die Sachen kriegen Sie wieder nach der Desinfektion Hätt nie schneller, schneller zu den lahmen Alten und nicht du links, deine Schwester rechts gesagt, hätt nie dem Herrn Jakob ins Gesicht gespuckt Aber Nicht gesagt, dass ich nicht unterschrieben hätte, im falschen Moment an falscher Stelle ein Kreuz, ein Ja angebracht hätte Nicht gesagt, dass ich nicht einmal zu viel geschwiegen, als einmal zu oft den Mund aufgemacht hätte Nicht gesagt, dass Ich bei dieser Sache nicht mitgemacht hätte Irgendwie Nicht gesagt, dass ich nicht mitgemacht hätte
Wie eingangs erwähnt, findet die Dichtung Nora Gomringers nicht nur auf dem Papier statt. Während für die schriftlichen Gedichtversionen nach wie vor die Buchpublikation für Gomringer die wichtigste Veröffentlichungsform darstellt, ist das Internet das vorrangige Publikationsmedium für ihre Poetry Clips (vgl. Orphal 2014: 115-124). Diese Übersetzungen der Gedichte in das audiovisuelle Medium des (Kurz-)Films finden sich zunächst vor allem auf dem YouTubeKanal der Dichterin sowie auf ihrer Homepage, wo Gomringer aktuell (Stand: Dezember 2017) unter dem Stichpunkt »Clips« eine Auswahl von verschiedenen Videos veröffentlicht hat. Darunter befinden sich neben Produktionen für das Fernsehen (einem Interview für die Sendung »druckfrisch« und zwei »lyrischen Zwischenrufen« für den Sender 3sat) sowie einigen Poetry Clips zu Gedichten von Joachim Ringelnatz und Maud Vanhauwaert auch zwei Poesiefilmproduktionen zu ihrer eigenen Lyrik. Seit 2015 dreht Gomringer lyrische Kurzfilme (Verfilmungen eigener, aber auch fremder Gedichte) gemeinsam mit Judith Kinitz unter dem Pseudo-
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nym JuGo Kino. Die Spiellänge der Videos umfasst dabei in etwa die Dauer, welche die Poetperformerin für die stimmliche Verlautbarung des Gedichts braucht. In der Regel spricht die Autorin ihren Text in Richtung der Kamera, sie schaut dabei den Zuschauer*innen oftmals direkt in die Augen. Die Produktionen sind allerdings hinsichtlich der Ausstattung und des Aufwandes äußerst unterschiedlich; unter den Poetry-Clip Gomringers gibt es auch zwei recht üppig ausgestattete Produktionen, in denen die Autorin ganz offensichtlich in eine Rolle schlüpft und besonderes Make-up und Kostüm trägt. Der Großteil der Poetry Clips zeichnet sich allerdings durch eine einfachere Ausstattung und Produktion aus. Im Zentrum steht immer die Poetperformerin, die ihren Text rezitiert und die stets selbst für die Inszenierung des Vortrags und des Settings verantwortlich zeichnet. Grundsätzlich ist der Poetry Clip für Nora Gomringer ein Marketingvehikel. Er dient dazu, im digitalen Medium ein anderes (jüngeres) Publikum zu erreichen und auf ihre Lyrik aufmerksam zu machen. Gomringer sagt dazu im Interview: »Das ist spannend. Weil ich merke, ich mache es [die Verfilmung eines Gedichts, Anmerk. d. Verf.] eigentlich, um meinen Peers, meinen Kolleginnen und Kollegen, das zu zeigen und den Leserinnen und Lesern. Aber das Lustige ist, meine Leser sind ab 55 plus! Die verstehen gar nicht, dass ich so etwas mache und kriegen es auch nicht in den Kopf, dass man einen Film macht zu einem Buch. Die haben das nicht mitbekommen, dass das so läuft als Vermarktung. Deshalb stolpern eher Leute über diesen Clip [...]. CP: Somit wäre der Poetry Clip ja eher ein Marketing-Gag, oder? NG: Ist es! Ja. Ich bin absolut auf Marketing! Und merke aber, was ich da mache, als Clip an sich, soll auch als Entität irgendwie sein. Soll für sich stehen können.« (Interview mit Gomringer vom 09.08.2017)
Wie die Dichterin hier andeutet, erfüllen die Poetry Clips selbstverständlich nicht nur diese Funktion. Sie müssen als eigenständige Kunstform betrachtet werden, die dem lyrischen Text eine »Entgrenzung [...] ins audiovisuelle Medium« (Orphal 2014: 7) ermöglicht. Das Schlagwort ›Entgrenzung‹ scheint nicht nur in Bezug auf den Medienwechsel (vgl. Rajewsky 2008: 47-60) zwischen den vermeintlich geschlossenen Mediensystemen Buch und Film von Bedeutung zu sein, sondern ebenso in Bezug auf die Publikationsmöglichkeit im Internet: In den vergangenen Jahren gewannen die Sozialen Medien, insbesondere Facebook und Instagram, enorm an Bedeutung für das Autor-Marketing und damit auch als Publikationsplattform von Poetry Clips. Auffällig ist dabei, dass sich die Produktion der kurzen Videos auch aufgrund der neuen digitalen technischen Errungenschaften zu verändern scheint. Der kabellose Zugang zum Internet via
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Smartphone, die rasante Weiterentwicklung der mobilen Apps und verbesserte Frontkameras mit Selfie-Modus ermöglichen die ›spontane‹ Aufnahme und nahezu zeitgleiche Veröffentlichung eines Poetry Clips im Internet in HD-Qualität. Diese Videos kommen scheinbar ohne aufwändige ›Postproduktion‹ aus und werden meist ad hoc auf Facebook hochgeladen. Dies ermöglicht zum Beispiel auch eine zeitnahe Reaktion per Videobotschaft auf tagesaktuelle Geschehnisse.8 Zum Gedicht »Wir hätten nicht mitgemacht« existieren zwei sehr unterschiedliche Poetry Clips mit jeweils verschiedenen Poetry-Clip-Texten, die sich leicht vom obigen Schrifttext unterscheiden. Es kommt häufig vor, dass der Schrifttext im Gedichtband und der Poetry-Clip-Text im Video ein wenig voneinander abweichen. Dies kann an der Memorierbarkeit des Textes liegen, wenn der Gedichttext frei vorgetragen und nicht abgelesen wird, es kommt aber auch vor, dass Gomringer den Text über die Jahre verändert und zum Beispiel kleinere Kürzungen vornimmt. Der erste Poetry Clip zu »Wir hätten nicht mitgemacht« stammt aus dem Jahr 2016 und ist eine Produktion von JuGo Kino. Dieser Clip ist auf der Video-Plattform Vimeo zu finden und wurde dort im Oktober 2016 vom Kanalbetreiber Strauhof, dem Zürcher Ausstellungshaus für Literatur, eingestellt, um für eine Ausstellung zu werben. Dazu schreibt der Strauhof als Beschreibung des Videos: »Exklusiv für die Eröffnung der Ausstellung ›Gomringer & Gomringer – Gedichte leben‹ stellt uns JuGo Kino ihr neustes noch unveröffentlichtes Video zur Verfügung. Mehr zu sehen und hören von Nora Gomringer gibt es bei uns im Strauhof. Die Ausstellung dauert vom 6. Oktober 2016 – 7. Januar 2017« (https://vimeo.com/185471655). Der Poetry Clip hat eine Länge von zwei Minuten und 19 Sekunden und zeigt Gomringer, die ihr Gedicht in die Kamera spricht. Der kurze Film ist geprägt von vielen harten Schnitten, die jedes Mal mit einem Szenenwechsel einhergehen. Beinahe für jeden neuen Vers gibt es einen Schnitt auf eine andere Umgebung. Die Position der Poetperformerin selbst bleibt dabei jedoch annähernd gleich: Durch die Verwendung von nahen Einstellungen und Großaufnahmen, sogenannten Close-ups, ist meist nur Gomringers Gesicht zu sehen, wodurch sie den Zuschauer*innen sehr nah erscheint. Bei der Verlautbarung des Gedichttextes verwendet sie kein zusätzliches Mikrofon. Der Film zeigt Gomringer bei alltäglichen Verrichtungen in ihrer Heimatstadt Bamberg. Zu Beginn sieht man die Dichterin in der allerersten Einstellung nur einmal von links nach
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Mit dieser Entwicklung einher geht eine interessante Verschmelzung der öffentlichen Autor-Persona mit der Privatperson Nora Gomringer; dieser Aspekt verdient sicherlich eine eigene Untersuchung und kann an dieser Stelle nicht weiter verhandelt werden.
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rechts durch das Bild laufen. Schon hier kommt sie der Kamera so nah, dass man nur den oberen Teil ihres Oberkörpers, etwa ab der Brust aufwärts, und ihren Kopf beziehungsweise ihr Gesicht im Profil sehen kann. Gomringer ignoriert in dieser Einstellung die Kamera und blickt starr in Bewegungsrichtung. Im Hintergrund ist eine eintönige Häuserfassade zu erkennen: viel beiger Putz und ein sauberer Fensterrahmen sind zu sehen, auf dem das bekannte Blechschild mit dem Schriftzug »Swing tanzen verboten« in roten Lettern steht. Danach sieht man Gomringer auf einer Treppe sitzen, vermutlich vor demselben Haus oder in unmittelbarer Nachbarschaft – der beige Putz jedenfalls wiederholt sich. Obwohl es sich im Grunde um eine halbtotale Einstellung handelt, können die Zuschauer*innen wieder nur den Oberkörper sehen, die Beine sind von einem großen geflochtenen Einkaufskorb verdeckt, den Gomringer in den Händen hält. In dieser sitzenden Position beugt sie sich leicht nach vorn in Richtung Kamera und spricht den Titel des Gedichts. Im Anschluss beginnt die schnelle Schnittfolge und Gomringers Verlautbarung des Gedichts geschieht während des Einkaufs im Obst- und Gemüseladen, während sie Kirschen probiert, während sie im Café sitzt und einen Milchkaffee trinkt, während sie ihre Einkäufe aussucht und die Auslage begutachtet, während sie die Brötchentüte vom Bäckertresen nimmt. Dazwischen sind immer wieder Aufnahmen von Gomringer in den Straßen Bambergs, vor der beige verputzten Hauswand, vor dem alten Rathaus unter einer Gedenktafel für die Opfer des Zweiten Weltkriegs zu sehen. Dabei spricht Gomringer den Text stets in die Kamera hinein und schaut die Rezipient*innen unverwandt an. Die einzigen Einstellungen, die mit diesem Muster brechen, sind jene, in denen der Blick Gomringers durch einen Schminkspiegel umgeleitet wird. Insgesamt acht Mal ist diese Einstellung im Film zu sehen. Die Kamera filmt Gomringer dabei von hinten über die Schulter und fängt ihren prüfenden Blick im Schminkspiegel ein. Der Spiegel ist so klein (und Gomringer hält ihn so nah vor ihr Gesicht), dass er nur ihr rechtes Auge zeigt. In diesen Einstellungen blickt Gomringer nicht direkt in die Kamera, sie schaut sich selbst an, überprüft ihr Make-up. In einigen dieser Einstellungen ist zu sehen, dass sie einen roten Lippenstift in der Hand hält, mit diesem schreibt die Dichterin ein rotes X auf den Spiegel, während sie den Vers »im falschen Moment an falscher Stelle ein Kreuz, ein Ja« (1:38 min) spricht. Die Schminkspiegelszenen werden darüber hinaus auch eingesetzt, um Zäsuren zu markieren. Es gibt in dem kurzen Film nur wenige Einstellungen, in denen Gomringer nicht spricht. Diese zeigen zum Großteil den Schminkspiegel beziehungsweise wie Gomringer diesen zuklappt. Das Zuklappen des Spiegels markiert dabei – ähnlich wie die Klappe beim Film – das Ende eines Abschnitts (so ist diese Szene zwischen dem Titel und dem
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Beginn der ersten Strophe eingesetzt), außerdem markiert sie die Pausen zwischen den Strophen. Nur während der letzten Pause, dem Übergang von der dritten zur vierten Strophe des Gedichts, ist nicht der zuklappende Spiegel, sondern Gomringers Gesicht im extreme close-up am rechten Bildrand zu sehen. Sie blickt stumm mit geschlossenem Mund in die Kamera, und wieder scheint sie einem direkt in die Augen zu schauen. Die Rezipient*innen des Poetry Clips begleiten die Dichterin gewissermaßen bei ihren alltäglichen Verrichtungen, es entsteht der Eindruck eines Dialogs, eines vertrauten Gesprächs, obwohl Gomringer monologisiert. Dies hängt größtenteils mit der Kameraeinstellung und der evozierten Nähe zur Sprecherin sowie der direkten Ansprache zusammen. Die Banalität der Verrichtungen (Waren begutachten, Einkäufe tätigen, Auslage prüfen, Kaffee trinken etc.) steht dabei in einem fundamentalen Missverhältnis zum Inhalt des Vorgetragenen. Gleichzeitig hat dies allerdings auch den Effekt, dass das uneindeutige ›lyrische Wir‹ der ersten drei Strophen – das nun eigentlich irritierend wirken müsste, da Gomringer als Einzelperson spricht – an ihre gesamte Umgebung zurückgebunden wird. Dieses ›Wir‹, das sind nun im Poetry Clip nämlich ganz konkret sämtliche Menschen, die die Dichterin umgeben, auch wenn sie nicht gezeigt werden. Das sind die Betreiber des Gemüseladens, der Kellner im Café, die Bäckereifachverkäuferin und all die Einwohner Bambergs, die die Straßen bevölkern, auf denen Gomringer zu sehen ist. Auch wenn die Kamera explizit stets nur die Poetin zeigt, so sind doch all die anderen Menschen anwesend. Sie sind sogar nicht nur ›mitgedacht‹, sondern akustisch eindeutig zu identifizieren. Dadurch, dass kein gesondertes Mikrofon zur Verstärkung der Dichterinnenstimme benutzt wird, sind sämtliche Umgebungsgeräusche im Film zu hören. In einigen Szenen (in den Geschäften, im Café und an einer befahrenen Straße beispielsweise) muss Gomringer regelrecht gegen die Hintergrundgeräusche aus sprechenden Menschen und Straßenlärm anreden. Umso auffälliger wird dadurch der Übergang von der dritten zur vierten Strophe, wenn Gomringer stumm (und auch gänzlich ohne wahrnehmbare Hintergrundgeräusche) in die Kamera blickt. Der Wechsel von der Sprecherinstanz im Plural zum artikulierten Ich scheint sich in diesem kurzen stummen Blick zu vollziehen. Auffällig ist des Weiteren, dass Gomringer, während sie die vierte Strophe spricht, häufiger vor dem alten Bamberger Rathaus zu sehen ist, wo sie direkt vor beziehungsweise unter einer Gedenktafel steht. Diese zeigt die Inschrift »Im Weltkrieg 1939-1945 fielen aus der Stadt Bamberg 1992 getreue deutsche Soldaten an den Fronten Europas und Afrikas. Durch Bombenangriff gaben ihr Leben für die Heimat 242 Männer, Frauen und Kinder. Vermisst bleiben 1642 Brüder und Schwestern. Wir gedenken Ihnen in unauslöschlicher Dankbarkeit« (zu sehen im Clip in 0:20 min, 0:41 min, 1:24 min, 1:32 min und
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1:50 min). Diese Gedenktafel ist in Bamberg nicht unumstritten; wie etliche Zeitungsartikel aus der Region belegen, wird sie immer wieder mit Farbbeuteln beworfen oder mit Parolen beschmiert. Die 1956 angebrachte Tafel gedenkt der deutschen Kriegstoten, der Soldaten der Wehrmacht und der zivilen Opfer der Alliiertenangriffe. Die Tatsache, dass sich Gomringer besonders bei der Rezitation der letzten Strophe vermehrt vor der Gedenktafel filmen lässt, scheint kein Zufall zu sein. Sie lässt die vorherigen Behauptungen »Wir hätten nicht mitgemacht« dadurch noch fragwürdiger erscheinen. Diejenigen, die mit der Gedenktafel geehrt werden sollen, sind nämlich unter Umständen dieselben, die durch die stumme, passive Unterstützung des Systems (und sei es durch das Kreuz »im falschen Moment an falscher Stelle« [in 1:39 min]), durch jahrelanges Wegsehen oder sogar durch eigene Mittäterschaft Völkermord und Kriegsgräuel ermöglicht beziehungsweise vorangetrieben haben. Der Gedichtvortrag im Poetry Clip endet mit der Großaufnahme von Gomringers Gesicht vor der Gedenktafel. Während sie den abschließenden Vers spricht, schaut sie wie immer direkt in die Kamera, doch vor dem letzten Wort, dem letzten Konjunktiv, wendet sie das Gesicht vom Betrachter ab und schaut nach links in die Ferne. Erst dann spricht sie – und es ist nahezu ein Beiseitesprechen – das letzte Wort: »hätte« (in 1:55 min). Das Abwenden des Blickes, nachdem die Sprecherin zuvor – mal im Plauderton, mal eindringlich, aber stets mit Blickkontakt zur Kamera – etliche Male versichert hat, nicht mitgemacht zu haben, hat eine ähnlich verstörende Wirkung wie die den Schrifttext an dieser Stelle beherrschende Mehrfachnegation. Gomringer greift dieses Element des Gedichttextes also in ihrer Performance vor der Kamera nicht nur auf, sondern sie verstärkt es noch. Der Konjunktiv wird so erneut als Lüge (vielleicht auch nur im Sinne eines Selbstbetrugs) enttarnt, und in der audiovisuellen Umsetzung als Poesiefilm wird nun ein weiteres Element des Gedichtes hervorgehoben, das im Schrifttext nur bedingt anklingt: Scham. Die beiden letzten Einstellungen des Poetry Clips sind wort- und auch nahezu geräuschlos. Zuerst wird Gomringer etwa zwei Sekunden lang von hinten gezeigt, in einer Art Mischung aus halbnaher und amerikanischer Einstellung. Gomringer trägt einen schwarzen Mantel und ist etwa ab dem Gesäß aufwärts zu sehen; die Hände sind anscheinend auf Bauchnabelhöhe vor dem Oberkörper wie zum Gebet gefaltet, was man aus der Haltung der Unterarme schließen kann. Sie steht mit dem Gesicht zur Hauswand und scheint diese anzustarren. Das Bild suggeriert Scham und Schuldeingeständnis, versinnbildlicht aber gleichzeitig auch das jahrelange Wegschauen und Ignorieren von Gewalt gegen und Verfolgung von Mitmenschen. Die letzte Einstellung des Films ist einmal mehr das Zuklappen des Schminkspiegels. Dieses Mal markiert es allerdings keine Zäsur zwischen Stro-
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phen, sondern das Ende des Poetry Clips, analog zur Schlussklappe im Film. Im Anschluss daran bleibt das Bild zunächst schwarz, und ähnlich wie bei einem Abspann im Spielfilm werden die folgenden Informationen eingeblendet: »Text: WIR HÄTTEN NICHT MITGEMACHT von Nora Gomringer. Erschienen in MEIN GEDICHT FRAGT NICHT LANGE RELOADED. Voland & Quist 2015.« (ab 2:06 min) Diese ›Credits‹ sind also offenbar nicht nur dazu gedacht, die Quelle des Gedichts zu belegen und Nora Gomringer als Urheberin des Poetry Clips zu benennen. Mit Hilfe des Clips soll unter Umständen auch das – zum damaligen Zeitpunkt – neueste Buch der Dichterin, der Sammelband Mein Gedicht fragt nicht lange - reloaded, in dem das Gedicht 2015 erneut publiziert wurde, beworben werden.
Abb. 1: Videostill aus »Wir hätten nicht mitgemacht« bei Vimeo
Der zweite Poetry Clip zum Gedicht »Wir hätten nicht mitgemacht« wurde am 09.11.2017 von Nora Gomringer auf ihrer Facebook-Seite veröffentlicht, also am Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus, der an die Novemberpogrome im Jahr 1938 erinnert. Die Novemberpogrome markierten den Übergang von der Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung seit der Machtergreifung der NSDAP 1933 zur systematischen Verfolgung, die in die Shoah mündete. Wie auf Facebook üblich, wurde das Video ab dem Bereitstellen beziehungsweise
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dem Vorgang des Hochladens ins Netz auf dem Newsfeed der Autorin angezeigt und damit in die Timeline ihrer Abonnent*innen eingespeist. Der Clip zeigt Gomringer zu Beginn in einer nahen Einstellung, im medium close-up. Sie sitzt in einem Raum vor einem Fenster, dessen Fensterläden fast geschlossen sind. Gomringer blickt aus der Perspektive der Betrachter*innen nach links, man kann nur ihren Oberkörper, etwa ab der Taille, und ihren Kopf sehen. In der ersten Sekunde des Videos ist noch zu erahnen, dass Gomringer selbst auf den Auslöser drückt, der Clip scheint mit der Handykamera aufgenommen zu sein, die Gomringer eigenhändig bedient. Sie ist also vermutlich alleine im Raum. Gomringer wendet sich sodann der Kamera und damit auch den Betrachter*innen zu und beginnt – noch während sie den Kopf in Richtung Kamera dreht – zu sprechen. Von nun an ist die Poetin in einer sehr nahen Großaufnahme, im extreme close-up, zu sehen. Das Gesicht ist dabei direkt vor der Kamera, so dass der Bildausschnitt oberhalb der Stirn, am Haaransatz, endet. Der Übergang zur Detaileinstellung ist hier also fließend. Gomringer spricht das Gedicht relativ schnell (sie braucht dafür insgesamt anderthalb Minuten), dennoch sind die einzelnen Worte klar artikuliert und somit gut verständlich. Einige Gemeinsamkeiten der beiden ansonsten sehr unterschiedlichen Poetry Clips fallen besonders auf und lassen den Schluss zu, dass Gomringer den »stimmlich-artikulatorischen Ausdruck« (Bose 2010: 32) bei der Rezitation ebenso akribisch eingeübt haben muss wie die körperliche Umsetzung des Gedichts. Dies betrifft sowohl die bereits im Schrifttext angelegten Zäsuren und Enjambements, die stimmlich realisiert werden, wie auch gewisse Gesten (zum Teil auch Mimik) und die Gestaltung der Sprechtonhöhen, welche die Vortragende in beiden Videos exakt auf dieselbe Art und Weise einsetzt. Exempel dafür sind die Gesten bei der Verlautbarung der Halbsätze »die Haare gescheitelt« und »diesen unvorteilhaften Schnauzer« (Vimeo-Clip: 0:20-0:24 min; Facebook-Clip: 0:13-0:17 min), wobei sich Gomringer mit der rechten Hand über die Haare fährt und mit Mittel- und Zeigefinger der rechten Hand einen Oberlippenbart andeutet. Vermutlich ist dies auch Teil der Inszenierung des Textes für eine Live-Performance.9 Besonderheiten des Facebook-Clips liegen zum einen in der Eindringlichkeit des Vortrags, da die Poetin noch näher mit dem Gesicht an die Kamera tritt, als dies im ersten Video der Fall war. Außerdem herrscht in dem Raum absolute
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Für eine um den Aspekt des Bühnenvortrags beziehungsweise der Live-Situation erweiterte Analyse ist an dieser Stelle kein Raum. Im bereits zitierten Interview berichtete Nora Gomringer, dass sie das Gedicht häufig live performt, vor allem bei Auftritten in Schulen.
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Stille, es ist ausschließlich Gomringers Stimme zu hören. Zum anderen ist dieser Clip gänzlich anders produziert. Dieser ist keine Gemeinschaftsarbeit mit anderen Personen, es gibt keine harten Schnitte, keine Szenenwechsel, keine nachträgliche Bearbeitung. Der gesamte Clip besteht nur aus dieser einen Einstellung und er endet damit, dass Gomringer selbst nach Beendigung ihres Gedichtvortrags die Kamera deaktiviert. Dadurch wirkt der ganze Clip spontan und amateurhafter, aber auch natürlicher und in besonderem Maße authentisch. Man hat den Eindruck, dass Gomringer überhaupt erst kurz vor der Aufnahme den Entschluss fasste, das Video zu drehen. Dies spiegelt sich wiederum auch durch die spezielle Rahmung des ›Facebook-Poetry-Clips‹ wider: Der Film wurde den Abonnent*innen am 09.11.2017 (vermutlich unmittelbar nach seiner Fertigstellung) in die Timeline geladen. Der Post war dabei mit der Überschrift »HEUTE. Wie an allen Tagen. ›Wir hätten nicht mitgemacht‹.« und den Hashtags #weremember, #noragomringer und #volandundquist versehen. Die Facebook-Seite, das Datum der Veröffentlichung und auch die Überschrift und die Hashtags stellen Rahmenhinweise im Sinne Erving Goffmans dar, die schon beim ersten Blick auf das Videostill, das in der Timeline angezeigt wird, gewisse Erwartungshaltungen bei den Rezipient*innen hervorrufen (vgl. Goffman 1977: 19). Aufgrund dieser situationalen Einbettung ist den Rezipient*innen des Facebook-Poetry-Clips unter Umständen die ›Message‹ des Clips schon offenbar, noch bevor sie das eigentliche Video angeklickt beziehungsweise angesehen haben. Die Rahmenhinweise (allen voran die Hashtags) können also zu bestimmten Hypothesen bezüglich des thematischen Inhaltes des Clips anleiten, diese müssen dann durch das Anschauen des Clips verifiziert werden. Ähnlich verhält es sich mit den Kommentaren unter einem Facebook-Post: In den meisten Fällen wird in der Timeline eine kleine Auswahl der Kommentare direkt unter dem Post angezeigt, diese enthalten zumeist auch Hinweise auf den Inhalt des Posts und werden von den Rezipient*innen ebenfalls wahrgenommen, oft bevor der Clip selbst angeklickt wird. Außerdem wird direkt unter dem Video angezeigt wie viele Rezipient*innen auf den Beitrag bereits reagiert haben. Nachdem Facebook im Jahr 2016 den allgemeinen like button (den bekannten erhobenen Daumen) um fünf weitere sogenannte ›Reaktions-Emojis‹ erweitert hat, haben Rezipient*innen nun die Möglichkeit mit einer größeren Bandbreite an Emotionen auf Posts zu reagieren. Das Video Gomringers erhielt daher nicht nur likes, die Abonnenten reagierten auch mit dem ›Herz-Emoji‹ und dem weinenden Smiley auf den Post, was als eine starke Anteilnahme und Mitgefühl bis hin zu Trauer interpretiert werden kann. Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen drängt sich die Frage nach dem ›angemessenen‹ Medium für die Veröffentlichung eines Poetry Clips zu dem Gedicht »Wir hätten nicht mitgemacht« auf.
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Zweifelsohne liegt die Intention hinter einer (erneuten) Publikation am Gedenktag auf der Hand. Der Grund für die Veröffentlichung des Clips aus dem Jahr 2016 auf der Plattform Vimeo, die zwar durch Dritte, aber mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin geschah, ist dagegen (abgesehen vom MarketingAspekt) vielleicht weniger offensichtlich und könnte noch genauer hinterfragt werden. Fest steht, dass die unterschiedlichen Clips auf den verschiedenen Plattformen aus je spezifischen Beweggründen und Anlässen produziert und bereitgestellt wurden.
Abb. 2: Screenshot von »Wir hätten nicht mitgemacht« bei Facebook
Die mediale Übersetzung eines Gedichts aus dem analogen Gedichtband in eine digitale Audio- oder Videodatei gehört bei der Dichterin und Spoken-WordPerformerin Nora Gomringer ›zum Handwerk‹. Die Autorin ist der Schrift und dem ›alten‹ Medium Buch eng verbunden, sie würde beispielsweise – nach eigener Aussage – nie auf die Idee kommen, ihre Lyrik ausschließlich im Internet zu publizieren (vgl. Interview mit Nora Gomringer am 09.08.2017). Die unterschiedlichen Datenträger und damit die verschiedenen medialen Kanäle, die sie für die Veröffentlichung nutzt, ergänzen und erweitern ihre Lyrik und deren Perzeption auf spezifische Art und Weise und bieten ihr dadurch auch mannigfaltige Distributionswege und Möglichkeiten des Autor-Marketings. Die Vielzahl an Parametern, die nötig sind, um die plurimediale und multimodale Dichtung umfassend beschreiben und analysieren zu können, konnte an dieser Stelle
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nur angeschnitten und ansatzweise exemplarisch vorgeführt werden. Die schriftliche Gedichtversion im Einzelmedium Buch, die im Modus des Lesens rezipiert wird, bedarf selbstverständlich anderer Parameter als die plurimedialen Produktionen, die gesehen, gelesen, gehört – mithin multimodal ›erfahrbar‹ gemacht – werden. Das ›Surplus‹ dieser Plurimedialität und Multimodalität gegenwärtiger Dichtung ergibt sich aus der Fülle der Darbietungsformen, welche digitale Medien mit sich bringen und derer sich auch Gomringer für ihre Lyrik bedient. Die Autorin macht ihre lyrische Sprache mithin auf eine Art und Weise auditiv und visuell erfahrbar, wie es als gedruckte Buchseite im analogen Medium nicht möglich wäre. Durch die Einbettung ihrer Poetry Clips in den Social-MediaKontext erreicht Gomringer darüber hinaus ein neues Publikum. Sie fordert und fördert auf diesem Wege zugleich einen interaktiven Zugang zu ihrer Lyrik, der für den künftigen Umgang und die Auseinandersetzung mit (digitaler) zeitgenössischer Dichtung und Literatur im Allgemeinen wegweisend sein könnte.
Gomringer, Nora (2006): »Wir hätten nicht mitgemacht«, in: Sag doch mal was zur Nacht, Dresden/Leipzig: Voland & Quist, S. 75-76. — (2015): Mein Gedicht fragt nicht lange – reloaded, Dresden/Leipzig: Voland & Quist. — (2017): Poetry Clip »Wir hätten nicht mitgemacht« auf Gomringers Facebook-Seite, URL: https://www.facebook.com/noraeugenie.gomringer/videos/ vb.625066818/10155176742056819/?type=2&video_source=user_video_tab (letzter Zugriff: 13.01.2018). — Webseite der Dichterin, Abteilung »Clips«, URL: www.nora-gomringer.de/clips (letzter Zugriff: 13.01.2018). — YouTube-Kanal der Dichterin, URL: https://www.youtube.com/channel/ UCZYZOEFwJhQRsLWfK3BYv9w (letzter Zugriff: 13.01.2018). JuGo Kino (2016): Poetry Clip »Wir hätten nicht mitgemacht« auf der Plattform Vimeo, URL: https://vimeo.com/185471655 (letzter Zugriff: 13.01.2018). Prange, Catrin (2018): Interview mit Nora Gomringer am 09.08.2017, in: dies., Sprechtexte/sprechende Texte: Nora Gomringers Poetik der konkreten Klanglichkeit, Hamburg: unveröffentlichte Dissertation.
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! J ULIAN I NGELMANN
Die Selbstinszenierungspraktiken von Schriftsteller*innen rückten durch die »Rückkehr des Autors« (Jannidis et al. 1999) und den performative turn (vgl. Bachmann-Medick 2014: 104-143) in den vergangenen Jahren zunehmend in das Interesse der germanistischen Literaturwissenschaft. Sie wurden in Sammelbänden beleuchtet und in Monographien typologisiert, auf mediale Besonderheiten untersucht und historisch hergeleitet. Schon 2007 stellt Stephan Porombka fest: »Das ›Zeitalter der Unschuld‹ (also der Idee des unmittelbaren Seins von Autoren) ist wahrscheinlich unwiederbringlich vorbei. […] Von heute aus macht es kaum Schwierigkeiten, gleich die ganze Literaturgeschichte seit der Entstehung der Gutenberg-Galaxis als Geschichte der Inszenierungen zu schreiben, so als habe es die ›Eigentlichkeit der Literatur‹, die Literatur ohne Medieneffekt […] überhaupt nie gegeben.« (2007: 226f.)
Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser setzen mit ihrer Analyse schriftstellerischer Selbstinszenierungspraktiken etwas später an als Porombka, nämlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in der sich das literarische Feld herausbildet und autonomisiert. Als »Inszenierungspraktiken« definieren sie »jene textuellen,
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paratextuellen und habituellen Techniken und Aktivitäten von Schriftsteller*innen, in oder mit denen sie öffentlichkeitsbezogen für ihre eigene Person, für ihre Tätigkeit und/oder für ihre Produkte Aufmerksamkeit erzeugen.« (Jürgensen/Kaiser 2011b: 9f.) Selbstinszenierungen dienen demnach stets der »Markierung und [dem] Sichtbar-Machen einer sich abgrenzenden, wiedererkennbaren Position innerhalb des literarischen Feldes« und zeichnen sich durch eine »absichtsvolle Bezogenheit auf öffentliche Resonanzräume« aus (ebd.: 10). Diese »reflexive Komponente« betont auch Elisabeth Sporer: »Inszenierung ist immer mit einer gewissen Absicht […] verbunden. Es geht hier um ein überlegtes Handeln, in dessen Zusammenhang dem Akteur bewusst ist, wie er sich verhält und warum er etwas Bestimmtes tut.« (2014: 283; vgl. auch Blumenkamp 2011: 363f.) Doch im Zeitalter sozialer Netzwerke wie Facebook, Instagram und Snapchat ist es nicht mehr nur Personen des öffentlichen Lebens vorbehalten, sich selbst zu inszenieren. Vielmehr kann jeder Mensch mit Internetzugang die Möglichkeiten der ›neuen Medien‹ dazu nutzen, bestimmte Aspekte seiner Persönlichkeit vor einem großen Publikum auszustellen. In Abgrenzung zur schriftstellerischen Selbstinszenierungspraxis und in Ermangelung eines etablierten, einheitlich verwendeten Begriffs möchte ich diese alltägliche, nicht berufsbezogene Selbstdarstellung im Internet als ›digitale‹ Selbstinszenierungspraxis bezeichnen. Die Forschungsliteratur unterscheidet vier zentrale Praktiken der Selbstinszenierung im digitalen Raum: die Nutzung multimedialer und multimodaler Potenziale (vgl. Diemand 2007: 67; Hertzberg Kaare/Lundby 2008: 107; Nelson/Hull 2008; Wagner/Brüggen/Gebel 2009: 46; Meyer 2012: 167), die Einbettung und Bearbeitung fremder Inhalte (vgl. Brake 2008: 288; Wagner/Brüggen/Gebel 2009: 50), die Veröffentlichung privater Informationen (vgl. Livingstone 2008: 404-407; Carstensen 2014: 10) und die Etablierung von Körperlichkeit (vgl. Whitty 2003: 343-346; Boyd 2008: 129-131; Stano 2008; Weber/Mitchell 2008: 41f.; Ranzini 2014: 9-12). Diese Praktiken sind insofern spezifisch digital, als dass sie sich als Reaktion auf die technischen Gegebenheiten der schriftzentrierten computervermittelten Kommunikation verstehen lassen: Sie profitieren entweder von deren Möglichkeiten oder reagieren auf deren Einschränkungen (vgl. Sproull/Kiesler 1986: 1497, 1505; Hancock/Dunham 2001: 328f.; Rains 2007: 115-121; Walther 2008: 31-37; Lüdeker 2012: 131-136; AmichaiHamburger/Hayat 2013: 2-4). Auch wenn zwischen der schriftstellerischen und der digitalen Selbstinszenierungspraxis Unterschiede bestehen, sollten diese Kategorien nicht als trennscharf angesehen werden. Vielmehr gehen beide Praxen ineinander über: Einerseits nutzen mittlerweile auch viele Schriftsteller*innen die Möglichkeiten der
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Digitalisierung zur Selbstinszenierung (vgl. Fischer 2007; Paulsen 2007; Segeberg 2007; Biendarra 2010; Sporer 2014), andererseits können auch Privatpersonen auf literarische Praktiken der Selbstinszenierung zurückgreifen, etwa indem sie Zitate von Autor*innen teilen oder selbstgeschriebene Gedichte veröffentlichen. Auch die persönlichen Lektüregewohnheiten bieten ein großes Inszenierungspotenzial (vgl. Knipp 2017: 184-186). Die Unterschiede zwischen beiden Inszenierungspraxen liegen vor allem darin begründet, dass unterschiedliche Publika angesprochen werden (vgl. Goffman 2015: 73-97): Während sich die schriftstellerische als eher professionelle Selbstinszenierung in der Regel an eine möglichst große Öffentlichkeit richtet, die aus potenziellen Kund*innen besteht, nimmt die digitale als eher private Selbstinszenierung meist eine kleine Anzahl von Menschen in den Blick, die der sich inszenierenden Person in der Regel persönlich bekannt sind. Im engen Zusammenhang mit den anvisierten Publika einer Selbstinszenierung stehen auch die verschiedenen Kapitalsorten, die mit ihr angestrebt werden: Die schriftstellerische Selbstinszenierungspraxis dient, je nach Feldposition der sich inszenierenden Person, vor allem der Generierung ökonomischen oder kulturellen Kapitals, wohingegen die digitale Selbstinszenierungspraxis primär auf soziales Kapital abzielt (vgl. Bourdieu 2005). Freilich sind aber auch die Grenzen zwischen den angesprochenen Publika sowie den angestrebten Kapitalsorten fließend; schließlich kann auch eine Privatperson darauf hoffen, durch ihre Social Media-Präsenz berühmt zu werden und Geld zu verdienen. Die schriftstellerische und die digitale Selbstinszenierung sind also in ihren Zielen und Funktionsweisen zu unterscheiden, obwohl sie durch viele Gemeinsamkeiten verbunden sind. Dieses vielschichtige Verhältnis liegt darin begründet, dass es sich um zwei Praxen handelt, die sich einige Praktiken teilen. Als »Praxis« definieren Steffen Martus und Carlos Spoerhase »eine ›Könnerschaft‹ im Sinne der routinisierten und kompetenten Aktualisierung einer bestimmten Fähigkeit. […] Hauptmerkmale dieser ›Könnerschaft‹ sind, dass sie sich nicht in formalisierten Handlungsabläufen, sondern in informellen Verhaltensroutinen ausprägt; dass die ›Könner‹ in diesen Routinen nicht expliziten Regeln, sondern impliziten Normen folgen; dass der Erwerb der ›Könnerschaft‹ nicht über die formelhafte Anwendung von fixierten Regeln, sondern u.a. durch wiederholtes Beobachten, Imitieren, Einüben von Verhaltensroutinen erfolgt.‹« (2009: 90)
Eine Praxis lässt sich als Bündel von Praktiken verstehen, wobei »Praktiken als Teil einer Praxis nicht isoliert auftreten.« (Martus 2015: 192) Dieselbe Aktivität
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kann in unterschiedlichen Zusammenhängen als Praktik und damit als Teil verschiedener Praxen gedeutet werden. Im Folgenden verwende ich die Konzepte der schriftstellerischen und digitalen Selbstinszenierungspraxis dazu, die Selbstinszenierungen von Laienschriftsteller*innen in Schreibforen zu erforschen. Weil zu diesem Thema bislang keine Forschungsliteratur vorliegt, frage ich zunächst ganz allgemein: Wie inszenieren sich Laienschriftsteller*innen in Schreibforen? Folgen sie in ihren Selbstinszenierungen den Konventionen des literarischen Feldes oder verwenden sie eher genuin digitale Praktiken? Und inwiefern eignen sich die Kategorien der schriftstellerischen und digitalen Selbstinszenierungspraxis, um das Geschehen in Schreibforen zu analysieren? Ich hoffe, aus der Beantwortung dieser Frage nicht nur etwas über Selbstbild und Außendarstellung von Hobbyautor*innen zu lernen, sondern auch über den grundlegenden Charakter meines Untersuchungsgegenstands: Handelt es sich bei Schreibforen um Gruppen von Laienschriftsteller*innen, die sich gewissermaßen zufällig im Internet versammeln? Oder sind Schreibforen vor allem als Online-Plattformen zu verstehen, auf denen gewissermaßen zufällig über selbstgeschriebene Literatur diskutiert wird? Bevor ich mich meinen Forschungsfragen zuwende, möchte ich meinen Untersuchungsgegenstand vorstellen.
Im Zeitalter der Digitalisierung verschaffen sich zahlreiche Akteur*innen eine Stimme auf dem literarischen Feld, die zuvor lediglich als ›stille Konsument*innen‹ eine Rolle spielten. Viele Leser*innen begnügen sich nicht mehr damit, Bücher nur für sich zu rezipieren; stattdessen wenden sie sich mit ihrer Meinung über Autor*innen und Texte an die Öffentlichkeit. Auf Blogs schildern sie ihre Lektüreeindrücke, in Lesecommunitys diskutieren sie mit Gleichgesinnten, beim Online-Versandhändler Amazon beraten sie Interessierte bei der Suche nach neuem Lesestoff. Diese sogenannten ›Laienrezensent*innen‹ wurden von Verlagen längst als ökonomischer Faktor erkannt und von der Wissenschaft als spannender Untersuchungsgegenstand entdeckt (vgl. bspw. Stein 2015; Rehfeldt 2017). Weniger Interesse zeigten Buchmarkt und Literaturwissenschaft bislang jedoch an den Akteur*innen, die das Internet dazu nutzen, selbstverfasste literari-
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sche Texte zu veröffentlichen.1 Sie lassen sich als ›Laienschriftsteller*innen‹ bezeichnen, weil ihre Veröffentlichungen nicht durch die traditionellen Institutionen des literarischen Feldes (wie Verlag, Buchhandel, Literaturkritik) konsekriert werden.2 Im Zeitalter der Digitalisierung versammeln sie sich meist auf Plattformen, die es sich explizit zur Aufgabe machen, der Laienliteratur einen Platz zu bieten. Das können beispielsweise Fan-Fiction-Websites wie FanFiktion.de oder das Archive of Our Own sein, aber auch sogenannte Schreibforen. Letztere zeichnen sich dadurch aus, dass dort nur eigenständige literarische Texte publiziert werden dürfen, die nicht auf bereits bestehenden Inhalten oder real existierenden Personen beruhen. Schreibforen sind Online-Plattformen, auf denen Laienschriftsteller*innen ›Gedichte‹, ›Kurzgeschichten‹, ›Romane‹ oder ›Dramen‹ veröffentlichen und diskutieren.3 Sie existieren in vielfältiger Form: Während sich Foren wie Gedichte.com und Wortkrieger auf je eine bestimmte Textsorte spezialisiert haben, gibt es mit dem Fantasy- und Schreibforum und Hierschreibenwir auch Plattformen, die sich auf ein einzelnes Genre konzentrieren oder eine klar definierte Zielgruppe ansprechen. Am 17. Juli 2017 existierten 38 aktive deutschsprachige Schreibforen; auf ihnen waren insgesamt fast 110.000 Mitglieder registriert und über 500.000 literarische Texte zu lesen. Für diesen Aufsatz habe ich vor allem zwei Plattformen intensiv untersucht: Gedichte.com ist mit 24.000 eingeschriebenen Nutzer*innen das größte deutschsprachige Schreibforum; es wurde im Dezember 2000 gegründet und enthält über 130.000 ›Gedichte‹ und rund 700.000 Kommentare (vgl. Gedichte.com 2017). Die Plattform Wortkrieger, die sich auf ›Kurzgeschichten‹ spezialisiert hat und durch einen besonders hohen Selbstanspruch hervorsticht, existiert seit Februar 1999 und verzeichnet über 13.000 Anmeldungen; die Nutzer*innen haben rund 30.000 literarische Texte und fast 470.000 Beiträge verfasst (vgl. Wortkrieger 2017a).
1
Die umfangreichste Untersuchung zu diesem Thema legte Gesine Boesken (2010) vor, die ihr Untersuchungsmaterial jedoch vor allem aus literatursoziologischer Sicht betrachtet und keine philologischen Fragen im engeren Sinne stellt.
2
Eine Herleitung dieser Definition findet sich in Ingelmann/Matuszkiewicz 2017: 304f.
3
Die Textsortenbezeichnungen stehen hier und im Folgenden in einfachen Anführungszeichen, weil es sich bei den Schreibforentexten nicht um Kurzgeschichten, Romane etc. im literaturwissenschaftlichen Sinne handelt. Ich nutze die Begriffe dennoch, weil Laienschriftsteller*innen sie völlig selbstverständlich verwenden. Ich übernehme diese Begriffe hier also als »In-vivo-Kodes«. Zur Bedeutung der ›Kurzgeschichte‹ im Kontext der digitalen Laienliteratur vgl. Ingelmann 2018; zum Konzept der »In-vivo-Kodes« vgl. Breuer 2010: S. 78.
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Aus analytischer Perspektive lassen sich die Schreibforen als digitales literarisches Mikrofeld verstehen, das zwar manche Regeln und Funktionsweisen des literarischen (Makro-)Felds übernimmt, insgesamt aber relativ autonom von diesem funktioniert (vgl. Bourdieu 1987 und 2001). Der Eintritt in dieses Mikrofeld gestaltet sich recht leicht: Im Gegensatz zum traditionellen literarischen Feld, wo Institutionen wie Verlag, Buchhandel und Literaturkritik über die Aufnahme neuer Autor*innen entscheiden, gibt es in Schreibforen keine Gatekeeper; zur Anmeldung reichen meist ein Nickname und eine E-Mail-Adresse. Laienschriftsteller*innen müssen also nicht erst »die Regeln der Kunst« (Bourdieu 2001) internalisieren, bevor sie ihre Texte veröffentlichen dürfen. Dass das digitale literarische Mikrofeld dennoch nach bestimmten geschriebenen und ungeschriebenen Regeln funktioniert, lässt sich anhand der dort zu beobachtenden Selbstinszenierungspraxen zeigen. Wie unterschiedlich diese aussehen können, möchte ich nun anhand zweier Beispiele deutlich machen.
ist ein Mensch, der sich gerne in Stichworten beschreibt – das suggeriert jedenfalls sein Wortkrieger-Profil: SIM
»Geschlecht:
Männlich
Beruf:
Giftspritze
Wohnort:
Wolkenkuckucksheim
Interessen:
Weltfrieden« (2017)
4
Die Frage nach einem »Steckbrief« beantwortet er ausführlicher, wenn auch nicht minder stichwortartig. Er beschreibt sich als »[i]gnorant, boshaft, arrogant, egoistisch, despotisch, rücksichtslos, gefühlskalt, talentfrei, hochstapelnd, empfindlich, mimosenhaft, lernresistent, Ordnungshüter, Blockwart, Sprachfaschist, … Künstler halt« (ebd.). Es ist ein eher unsympathisches Bild, das SIM von sich zeichnet. Doch kann ein Nutzer über 13 Jahre lang in einem Schreibforum aktiv
4
Wie für die digitale Kommunikation üblich, haben viele Nutzer*innen von Schreibforen ein eher entspanntes Verhältnis zu den orthographischen Regeln der Standardsprache. Ich übernehme daher alle Zitate aus Schreibforen im ursprünglichen Wortlaut und in Originalschreibweise, ohne Rechtschreib- und Grammatikfehler mit ›sic‹ zu markieren.
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sein, wenn er »ignorant«, »mimosenhaft« und »lernresistent« ist? Kann ein »talentfreier« Hobbyschriftsteller zwei der begehrten ›Empfehlungen‹ einheimsen (vgl. SVG 30.06.2005; ANTONIA 05.08.2005)?5 Lässt sich eine »rücksichtslos[e]« »Giftspritze« so sehr vom Text einer anderen Autorin begeistern, dass sie selbst eine ›Empfehlung‹ ausspricht (vgl. SIM 21.12.2003)? Die Skepsis ist angebracht. Denn bei der Betrachtung von SIMs Beiträgen fällt schnell auf, dass er nicht der »boshaft[e]« Widerling zu sein scheint, für den er sich ausgibt. In den Kommentaren unter seinen Texten erweist er sich eher als nachdenklicher, kritikfähiger Hobbyschriftsteller mit Hang zum Selbstzweifel. Das zeigt sich etwa in der Diskussion zu »›Hey, wollen wir ficken?‹«, einer der ersten ›Kurzgeschichten‹, die SIM auf Wortkrieger veröffentlicht hat. Dieser Text, dessen aufmerksamkeitsheischender Titel mit Bedacht gewählt ist, verhandelt das Thema Behindertensexualität (vgl. SIM 03.06.2003a). Die Community reagiert größtenteils wohlwollend auf die Erzählung, kritisiert aber, dass das Tabu darin oberflächlich behandelt werde (vgl. bspw. PANDORA 03.06.2003). SIM, gar nicht »ignorant« oder »lernresistent«, lenkt sofort ein; er bestätigt die Schwächen seines Texts, geht ihnen in einer Art psychologischer Selbsterkundung auf den Grund und kündigt eine Überarbeitung an: »Ihr habt Recht, offensichtlich hat mich zum Schluss die Courage verlassen, die Geschichte einfach wirken zu lassen. […] So ist mir leider aus Mangel an Mut und ein Zuviel an Rücksichtnahme ein idiotischer und diskussionshemmender moralischer Zeigefinger in die Geschichte gelangt, den ich sofort beseitigen werde.« (03.06.2003b)
diskutiert jedoch nicht nur über die Machart seines Texts, sondern beteiligt sich auch an Debatten über dessen Thema. Immer wieder meldet er sich mit SIM
5
Jedes angemeldete Wortkrieger-Mitglied kann einen Text, der ihm besonders gefällt, durch einen Klick auf einen entsprechenden Button ›empfehlen‹. Auf diese Weise ausgewählte ›Kurzgeschichten‹ werden auf der Startseite des Forums und in dessen seitlicher Navigationsleiste hervorgehoben, was mit einer erhöhten Aufmerksamkeit für den jeweiligen Text und dessen Verfasser*in einhergeht; außerdem dürfen sie sich mit einem Herzchen-Symbol neben dem Threadtitel schmücken. Im Subforum für ›Empfehlungen‹ (Wortkrieger 2017b) wird darauf hingewiesen, dass »[a]lle neu erstellten Empfehlungen […] vor ihrer Freischaltung formal geprüft [werden]«, wobei nicht offengelegt wird, wer diese Prüfungen anhand welcher Kriterien vornimmt. Von den 30.856 ›Kurzgeschichten‹, die am 11.12.2017 auf Wortkrieger zu lesen waren, wurden lediglich 106 ›empfohlen‹; bei der ›Empfehlung‹ handelt es sich also um eine selten vergebene und dementsprechend begehrte Auszeichnung.
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Meinungen zu Gleichberechtigung, Inklusion und Selbstbestimmung zu Wort (vgl. bspw. 12.06.2003). Er rechtfertigt seine Äußerungen jedoch nicht durch eine persönliche Betroffenheit, wie dies etwa ROLLIGIRL mit einem Verweis auf ihre Querschnittslähmung tut (vgl. 03.06.2003), sondern legitimiert sein ›Expertentum‹ allein dadurch, dass er eine ›Kurzgeschichte‹ über das Thema Behindertensexualität geschrieben hat. Überhaupt spricht SIM immer wieder über sein Schreiben: Er stellt seine Versuche dar, die Gedanken seiner Leser*innen zu antizipieren, und berichtet von Schwierigkeiten beim Verfassen der Erzählung (vgl. 06.06.2003). Teilweise distanziert er sich so weit von seinem Werk, dass er als sein eigener Kritiker auftritt: Wie ein neutraler Außenstehender beobachtet er die Handlungen seiner Protagonistin und interpretiert ihr Verhalten (vgl. 11.06.2003), bis er schließlich seine Einstellung zum Text und seine eigenen Kommentare reflektiert: »Ich stelle auf alle Fälle fest, ich lasse mich zu schnell verunsichern und taumel hier gerade ein bisschen, anstatt zu meiner Geschichte zu stehen.« (08.06.2003) Auf diese Weise gelingt es SIM, seinen Text im Gespräch zu halten: Statt der 7,5 Antworten, die eine ›Kurzgeschichte‹ auf Wortkrieger durchschnittlich erhält, wird »›Hey, wollen wir ficken?‹« insgesamt 89 Mal kommentiert (vgl. SIM 03.06.2003a). Das ist zwar auch dem reißerischen Titel zuzuschreiben, vor allem aber SIMs Kompromissbereitschaft, seiner Freundlichkeit und seinem ständigen Diskussionswillen: 39 der 89 Beiträge, also fast 44 % aller Kommentare, stammen vom Autor selbst. Noch als der User NERDLION die ›Kurzgeschichte‹ zehn Jahre nach ihrer Veröffentlichung ein letztes Mal kommentiert (vgl. 18.09.2013), folgt eine Reaktion des Autors. SIM nutzt die Gelegenheit, sich noch einmal zu seinem Text zu positionieren; er unterstreicht das enge, nahezu ›familiäre‹ Verhältnis zu seinem ›Frühwerk‹, betont aber auch seine Weiterentwicklung als Schriftsteller: »Wahrscheinlich würde ich sie [die ›Kurzgeschichte‹] heute ganz anders schreiben, dennoch oder gerade deshalb freue ich mich sehr über deinen ›späten‹ Kommentar. Es ist einfach schön, zu sehen, wenn Texte, die man längst in die Selbstständigkeit entlassen hat, noch funktionieren. Es ist halt wie mit Kindern, deren Schwächen man sieht, die man als Vater ja selbst zu verantworten hat. Man liebt sie doch.« (19.09.2013)
Aus SIMs Beiträgen lassen sich Offenheit, Freundlichkeit und die Fähigkeit zur kritischen Selbsteinschätzung ablesen; von Ignoranz, Boshaftigkeit oder Arroganz findet sich hingegen keine Spur – auch nicht in seinen Kommentaren zu den Texten anderer Nutzer*innen. Doch wieso verwendet er in seinem Profil dann vor allem abwertende Adjektive zur Selbstbeschreibung? SIMs Profil kann
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als Warnung verstanden werden, die sich im konkreten Gespräch als gegenstandslos entpuppt; sie lässt sich auch als Tiefstapelei eines Menschen betrachten, der sich der eigenen Höflichkeit bewusst ist und daher mit Klischees über die Onlinekommunikation spielt. Vor allem verweigert sich SIM in seinem Profil aber dem Zwang zur optimalen Selbstpräsentation, den Ramón Reichert als genuinen Bestandteil kreativer Zusammenschlüsse von »Medienamateure[n]« (2008: 21) beschreibt: »Die Überbietungsrhetorik der Web-2.0-Diskurse deklariert einen neuen kreativen Imperativ: Kreativität gilt nun als eine säkularisierte menschliche Fähigkeit. Im Netz kommt es weniger darauf an, auf unverfälschten Lebenserfahrungen zu insistieren, sondern mit Hilfe der erlernten Medienkompetenz an seiner vorteilhaften Selbstdarstellung zu ›basteln‹.« (Ebd.: 43)
beugt sich Reicherts ›Imperativ‹ nicht, sondern ›bastelt‹ vordergründig an einer möglichst nachteiligen Selbstdarstellung. Das ist seine selbstinszenatorische Nische im Schreibforum, seine Position auf dem literarischen Mikrofeld. Seine Selbstabwertung beruht jedoch nicht auf Unkenntnis der von Reichert beschriebenen ›Regeln‹, sondern zeugt von einem umfassenden Wissen über die ungeschriebenen Gesetze des Web 2.0. Nur wer diese kennt, kann deren Bruch so offensiv zelebrieren, wie SIM es in seinem Profil tut. Dadurch stellt er auch seine Medienkompetenz aus: Er verweigert die Preisgabe persönlicher Informationen und sperrt sich gegen eine Einteilung nach Beruf, Wohnort und Interessen, wie sie in sozialen Netzwerken und auch in Schreibforen üblich ist. Im originellen Umgang mit diesen Kategorien akzentuiert er seine Kreativität. Die Adjektive »ignorant«, »boshaft« etc. beschreiben in SIMs Profil jedoch nicht nur den Nutzer, sondern dienen auch als nähere Bestimmung der Kategorie »Künstler«. Aufschlussreich für SIMs schriftstellerische Selbstinszenierung ist weniger das negative Bild, das er von diesem Berufsstand zeichnet, als die Selbstverständlichkeit, mit der er diese Beschreibung für sich beansprucht. Als ›Künstler‹, der seine Rolle konsequent ausfüllt, kann SIM es sich leisten, persönliche Schwächen als die exzentrischen Charaktereigenschaften eines Genies auszustellen, sich in gesellschaftliche Debatten einzuschalten und Denkanstöße zu geben: »Oft habe ich den Eindruck«, schreibt SIM etwa in seinem Profil, »dass die künstlerische Freiheit von Autoren vergewaltigt wird, die damit ihr Unvermögen begründen.« (2017) SIM sieht sich nicht als Laienschriftsteller, der ein Schreibforum aufsuchen muss, um seinen Stil zu verbessen; vielmehr betrachtet und präsentiert er sich als erfahrener Autor, der öffentlich über sein Schreiben SIM
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nachdenkt, Grundsatzdiskussionen anregt und sein Wissen über die Literatur gerne weitergibt. Anhand des Beispiels SIM lässt sich gut nachvollziehen, wie schriftstellerische Selbstinszenierungspraktiken in das laienliterarische Mikrofeld der Schreibforen übersetzt werden. Denn SIM nutzt textuelle und paratextuelle Techniken, um für sich und seine Texte Aufmerksamkeit zu generieren (vgl. Jürgensen/Kaiser 2011b: 9f.). Der Verzicht auf habituelle Inszenierungspraktiken lässt sich dadurch erklären, dass die Forensoftware hier enge Grenzen setzt: Die Kommunikation auf Wortkrieger ist »kanalreduziert« (Döring 2003: 149), die Plattform verbietet ihren Nutzer*innen also die Einbindung von Fotos, Audiodateien oder Videos. Während sich die »performative[n] Inszenierungspraktiken« im literarischen Makrofeld dadurch auszeichnen, »nicht an das Medium der Sprachlichkeit (mündlich, schriftlich) gebunden [zu] sein« (Jürgensen/Kaiser 2011b: 13), müssen sie auf dem laienliterarischen Mikrofeld in den Modus der Schriftsprache übersetzt werden. SIMs kreativer Umgang mit den Profilkategorien sowie seine ironische Selbstpräsentation lässt außerdem darauf schließen, dass er sich sehr bewusst darüber ist, welchen Eindruck seine Texte und Äußerungen hervorrufen; damit erfüllt er auch das Kriterium der Reflexivität.6 Doch ist es überhaupt redlich, die Kategorie ›schriftstellerische Selbstinszenierung‹ bei der Analyse von Schreibforen anzuwenden, in denen vor allem Hobbyautor*innen aktiv sind? Meines Erachtens nach muss hier eine Anpassung vorgenommen werden: Während auf dem literarischen Makrofeld von ›schriftstellerischer Selbstinszenierung‹ gesprochen wird, wenn bestimmte Praktiken von Schriftsteller*innen angewendet werden, zielt sie im laienliterarischen Mikrofeld vor allem auf die Inszenierung als Schriftsteller*in ab. Deshalb zeichnet sich die schriftstellerische Selbstinszenierungspraxis im Kontext der Schreibforen dadurch aus, dass sie den Konventionen des professionellen literarischen
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In der Literaturwissenschaft besteht schon in Bezug auf professionelle Autor*innen kein Konsens darüber, inwiefern die Reflexivität ein notwendiges Kriterium dafür ist, eine Aktivität als Teil einer Selbstinszenierung einzustufen. So merkt Carolin JohnWenndorf an, dass »die öffentlichen Handlungen der Schriftsteller niemals gänzlich von ihnen geplant und auch die Wirkungen nicht zwingend antizipiert, sondern vielmehr durch intuitive und situative Momente bestimmt [sind].« (2014: 16, vgl. auch 31f.) Dafür beruft sie sich auf Bourdieu, der die illusio des literarischen Feldes als »vorbewusst« (Ebd.: 31; vgl. Bourdieu 1998: 167-169) konzipiert. Noch schwerer wiegt dieser Einwand in Bezug auf die Laienschriftsteller*innen als Nutzer*innen des Web 2.0, denen Kritiker*innen häufig vorwerfen, Informationen über sich selbst völlig unreflektiert ins Internet zu stellen (vgl. bspw. Keen 2008: 164-183).
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Felds folgt. Forennutzer*innen praktizieren also Formen der schriftstellerischen Selbstinszenierung, wenn sie Selbstinszenierungspraktiken und -strategien von professionellen Autor*innen übernehmen, variieren oder sich explizit von ihnen abgrenzen. Das tun sie meist, indem sie ihr eigenes Lesen und Schreiben thematisieren. Sie bringen ihre eigenen literarischen Produktions- und Rezeptionsgewohnheiten ins Gespräch, indem sie zum Beispiel die folgenden Fragen thematisieren: Wie bekommen Schriftsteller*innen ihre Ideen? Welche technischen Hilfsmittel benutzen sie? Wann schreiben sie? Wie charakterisieren sie ihre eigenen Texte? Was lesen sie? Nach welchen Kriterien bewerten sie die Texte anderer Schriftsteller*innen? Die Thematisierung des eigenen literarischen Handelns und die Übernahme oder Abgrenzung von Selbstinszenierungspraktiken aus dem literarischen Feld können als zentrale Praktiken der schriftstellerischen Selbstinszenierungspraxis in Schreibforen aufgefasst werden. Es lassen sich jedoch noch weitere, periphere Praktiken beobachten: Laienschriftsteller*innen, welche die schriftstellerische Selbstinszenierung praktizieren, achten auf korrekte Orthographie in eigenen und fremden Beiträgen, zeichnen sich durch ausformulierte Kommentare und Texte nach den Regeln der Standardsprache aus, veröffentlichen häufig auch auf dem ökonomischen Buchmarkt oder berichten immerhin davon, das vorzuhaben oder zu versuchen.
Während sich SIM auf Wortkrieger als reflektierter Autor präsentiert und damit die schriftstellerische Selbstinszenierung praktiziert, geht MISS RAINSTAR völlig anders vor. Als sie sich am 06.11.2005 im Lyrik-Schreibforum Gedichte.com anmeldet, stellt sie sich der Community mit folgenden Worten vor: »Was soll ich zu mir sagen? Ich bin 30 Jahre alt (oh mann…schon!!!), noch Alleinerziehend mit einem 5 jährigen Terroristen in Ausbildung, Polizistin in Berlin, habe Hund, Katze und bald auch wieder Meerschweinchen, bin außerdem recht schwarz (goth) aber für die hardcores wohl eher nicht (geht schon wg. der arbeit nicht), ich mag Manga und Anime (jaja, lästert nur), lese alles, was mich interessiert - das kann von Sartre, über Hohlbein bis zu Goethe gehen- …nun ja, mehr fällt mir nicht ein. Wenn ihr Fragen habt schreibt oder postet mir einfach.« (06.11.2005)
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MISS RAINSTAR offenbart hier allerhand Persönliches: Sie nennt Alter, Familienstand und Beruf, gibt sogar über Haustiere und Kleidungsstil Auskunft. Ihre Angaben beglaubigt sie durch persönliche Kommentare in Klammern und die Verwendung von subkulturellen Fachbegriffen (›goth‹, ›hardcores‹). Und auch ihre Signatur, in der MISS RAINSTAR aus einem Lied der Band Samsas Traum zitiert, bestätigt ihre Gruppenzuordnung (vgl. ebd.). Über ihr eigenes Schreiben hingegen, also das eigentliche Thema des Forums, liefert sie keine Informationen; die anderen Nutzer*innen von Gedichte.com erfahren lediglich Grundlegendes über MISS RAINSTARs Lektürevorlieben. Der lockere Konversationston und die fehlerhafte Orthographie, die MISS RAINSTARs Beitrag prägen, deuten nicht auf eine durchdachte Selbstinszenierung mit professionellem Anspruch hin. Trotzdem entsteht bei Leser*innen ein ganz bestimmtes Bild von MISS RAINSTAR; eine Vorstellung, die viel konkreter auf die Person hinter dem Nicknamen zu verweisen scheint als bei SIM. Während dieser als ›Künstler‹ permanent über sein Schreiben reflektiert und damit eine beobachtende Distanz zu sich selbst und seinen Leser*innen einnimmt, suggeriert MISS RAINSTARs spontane Unbedarftheit Zugänglichkeit. Im Gegensatz zu SIM scheint es MISS RAINSTAR nicht darum zu gehen, sich als wichtigen Bestandteil eines kreativ-künstlerischen Mikrofeldes zu präsentieren; sie will eher nahbar, humorvoll und sympathisch erscheinen, um bei den Nutzer*innen des Schreibforums schnell Anschluss zu finden. Das zeigt auch der Thread zu ihrem Gedicht »Zeit - Los im Wasser«, das sie am 02.12.2005 publiziert und mit dem Satz überschreibt: »Bei dem text hatte ich einige probleme mit dem lesefluss, die ich auch noch nicht ganz beseitigen konnte.« (02.12.2005) Im direkten Publikationsumfeld ihres Textes gesteht sie also dessen Schwäche ein und verbindet damit die implizite Aufforderung, den Text zu kommentieren und dadurch zu verbessern. Offensichtlich hat sich MISS RAINSTAR nicht bei Gedichte.com angemeldet, um dort als kundige Schriftstellerin aufzutreten; sie betrachtet das Forum nicht als Veröffentlichungsort für Vollendetes, sondern als Werkstatt, in der sie unter Gleichgesinnten an einem Text arbeiten und dabei auch über Privates diskutieren kann. Bezeichnenderweise unterschreibt sie ihren Vorstellungstext daher auch mit der Aufforderung, sie persönlich zu kontaktieren, während SIM in den letzten Jahren vor allem mit Werbung für seine kommerziellen Buchveröffentlichungen auf sich aufmerksam macht (vgl. 17.12.2015). Schon in ihrem Vorstellungsposting verwendet MISS RAINSTAR also drei der vier zentralen Praktiken der digitalen Selbstinszenierung: Durch das Liedzitat in ihrer Signatur bettet sie fremde Inhalte ein, durch den Verweis auf ihr Alter und ihren Kleidungsstil etabliert sie Körperlichkeit, durch die Erläuterung ihrer Le-
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bensumstände veröffentlicht sie private Informationen. Lediglich von multimedialen und multimodalen Potenzialen macht sie keinen Gebrauch, wobei hier die Forensoftware von Gedichte.com Grenzen setzt: Beiträge dürfen Grafiken, Videos und Links enthalten, können in 21 verschiedenen Schriftarten, vier -größen und einer Palette von -farben gestaltet sein. MISS RAINSTAR greift zwar, wie die meisten anderen Forenmitglieder, auf das Standardlayout zurück; einige Autor*innen nutzen jedoch die typographischen Möglichkeiten zur Aufmerksamkeitsgenerierung. So lassen sich die Gedichte von DR. KARG auf den ersten Blick ihrem Verfasser zuordnen, weil sie sich durch gestalterische Mittel von den Texten anderer Nutzer*innen unterscheiden (vgl. bspw. 09.11.2015). Am Beispiel des Vorstellungspostings von MISS RAINSTAR lässt sich also gut nachvollziehen, dass und wie digitale Selbstinszenierungspraktiken in Schreibforen angewendet werden. Im Rahmen meiner langjährigen Erforschung der digitalen Laienliteratur konnte ich die digitale Selbstinszenierungspraxis jedoch deutlich seltener beobachten als die schriftstellerische. Das antizipieren auch die Betreiber*innen der Schreibforen: Weder Gedichte.com noch Wortkrieger ermuntern ihre Nutzer*innen explizit zur Nutzung multimedialer und multimodaler Potenziale oder zur Veröffentlichung privater Informationen. Zwar geben beide Websites auf den Profilseiten Kategorien wie »Wohnort«, »Beruf« oder »Interessen« vor; im Gegensatz zu vielen kommerziellen Netzwerken ahnden sie es jedoch nicht, wenn diese Felder nicht oder nicht wahrheitsgetreu ausgefüllt werden (vgl. Boyd 2012: 29-31; Hogan 2013: 301f.). Natürlich können die Laienschriftsteller*innen dennoch private Informationen veröffentlichen; für die völlig unreflektierte Offenlegung des Intimlebens, wie Andrew Keen sie den Nutzer*innen des Web 2.0 vorwirft (vgl. 2008: 164-183), konnte ich jedoch kein Beispiel finden. Und auch die Etablierung von Körperlichkeit spielt in den Schreibforen eine kleinere Rolle als in anderen digitalen Medien. Die geringe Bedeutung, welche die Laienschriftsteller*innen der digitalen Selbstinszenierungspraxis beimessen, lässt sich auf das Thema und die Kommunikationsweise der Schreibforen zurückführen. Durch den Gebrauch von Pseudonymen grenzen die Nutzer*innen ihr »literarisches Handeln« (Boesken 2010: 19-22) von ihrem privaten Umfeld ab: Im Gegensatz zu einem Statusupdate auf Twitter oder einem ›Like‹ auf Facebook wirkt sich ihre Selbstinszenierung in Schreibforen nur selten auf ihre persönlichen Beziehungen aus. Mit ihrer Selbstinszenierung können sie sich daher auf das literarische Mikrofeld konzentrieren. Dessen Akteur*innen reagieren aus gutem Grund besser auf schriftstellerische Selbstinszenierungspraktiken als etwa auf eine detaillierte Beschreibung von Äußerlichkeiten – schließlich wirken sich Lesevorlieben und Schreibtechniken viel deutlicher auf die Kommunikation in Schreibforen aus als die Haarfarbe
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oder das Körpergewicht. Schriftstellerische Selbstinszenierungspraktiken spielen daher in Schreibforen eine größere Rolle als digitale, wenngleich sie für ein Funktionieren auf dem literarischen Mikrofeld in den digitalen Raum übertragen werden müssen.
Wie die exemplarische Analyse der Selbstinszenierungspraktiken auf Wortkrieger und Gedichte.com zeigen konnte, lässt sich das Verhalten von Laienschriftsteller*innen in Schreibforen damit erklären, dass das Mikrofeld, auf dem sie aktiv sind, gleichermaßen zwei Makrofeldern angehört: dem literarischen und dem ›digitalen‹ Feld.7 Das Konzept der zwei unterschiedlichen Praxen mit verschiedenen zentralen und peripheren Praktiken versucht, diesem Umstand Rechnung zu tragen, indem es zeigt, dass die Laienschriftsteller*innen einem komplexen Gefüge an Einflüssen unterliegen. Auch wenn sich diese Einflüsse selbst aus der analytischen Distanz nur schwer trennen lassen, kann die tendenzielle Unterscheidung dabei helfen, das beobachtete Verhalten zu verstehen, die Selbstinszenierungspraktiken zu typologisieren und das Verhältnis der Akteur*innen zu den beiden Makrofeldern, durch die sie geprägt sind, zu beleuchten. Besonders die peripheren Praktiken können dabei, je nach ihrem Kontext, als Teil der einen oder der anderen Praxis aufgefasst werden. Dadurch gelingt die eindeutige Unterscheidung zwischen schriftstellerischen und digitalen Inszenierungspraktiken beziehungsweise der Praxen, deren Teil sie sind, nur in Extremfällen. Die Kategorien dürfen daher nicht als absolute Unterteilungen missverstanden, sondern müssen als Kontinuum aufgefasst werden; sie dienen also nicht zur trennscharfen und eindeutigen Unterscheidung einzelner Inszenierungspraktiken, können aber dabei helfen, die Aktivitäten der Laienschriftsteller*innen zu verstehen. Die Gegenüberstellung von solch unterschiedlichen Nutzer*innen wie SIM und MISS RAINSTAR zeigt aber auch, dass die Selbstinszenierungen von Laienschriftsteller*innen stark davon abhängig sind, welche Intention sie in einem Schreibforum verfolgen: Wer anstrebt, den Sprung vom laienliterarischen Mikro- ins literarische Makrofeld zu schaffen, orientiert sich habituell meist an den dort etablierten Akteur*innen und praktiziert daher die schriftstellerische Selbstinszenierung. Wer das kreative Schreiben hingegen vor allem als Hobby betrach-
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Wie genau das ›digitale Feld‹ feldtheoretisch zu fassen ist, also ob ›das Internet‹ als eigenes Feld bezeichnet werden kann und in welchem Verhältnis es zu anderen Feldern stünde, ist in der post-bourdieuschen Feldforschung noch nicht geklärt.
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tet und in Schreibforen eine Möglichkeit sieht, mit Gleichgesinnten ins Gespräch zu kommen, nutzt eher Praktiken der digitalen Selbstinszenierungspraxis. Die zu beobachtende Dominanz der schriftstellerischen Selbstinszenierungspraxis deutet dabei darauf hin, wie sich die meisten Nutzer*innen von Schreibforen selbst wahrnehmen und welche Ziele sie mit ihrer Aktivität im laienliterarischen Mikrofeld verfolgen. Die wissenschaftliche Untersuchung der digitalen Laienliteratur steht an ihrem Anfang. Der hier vorgestellte Blick auf Selbstinszenierungspraxen stellt nur eine von vielen Möglichkeiten dar, das Phänomen zu analysieren. Er muss durch weitere Perspektiven ergänzt werden, wozu sich meines Erachtens nach drei Anknüpfungspunkte besonders anbieten: Erstens sollte die hier vorgestellte Typologie verfeinert und um Zwischenformen angereichert werden, indem weiteres Untersuchungsmaterial aus dem Mikrofeld der Schreibforen herangezogen wird. Zweitens sollte überprüft werden, ob und inwiefern Profi- und Laienschriftsteller*innen, die außerhalb des Mikrofelds aktiv sind, digitale Inszenierungspraktiken in ihre Selbstdarstellung integrieren. Drittens könnte der hier vorgestellte Erklärungsansatz, der die Selbstinszenierungspraxis von Laienschriftsteller*innen auf ihre doppelte Feldzugehörigkeit zurückführt, auch auf außerliterarische Beispiele übertragen werden. Solche Forschungen könnten nicht nur dabei helfen, das Phänomen der Schreibforen besser zu verstehen, sondern auch erklären, warum Internetnutzer*innen in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Praktiken in unterschiedlicher Form anwenden.
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V ANESSA O SSA
Durch die erhöhte Sichtbarkeit im Internet und den leichten Zugang über Social Media gewinnen Fangemeinschaften nicht nur zunehmend an Relevanz als Zielgruppe für die Medienindustrie, sondern auch als soziale Orientierungspunkte für den Medienkonsum der Rezipient*innen. Anders gesagt: Fanpraktiken wie das Teilen von Bildern und Videos, das Sammeln von Hintergrundwissen oder die Produktion von Fanfiction finden heute nicht mehr in abgeschlossenen Expert*innenkreisen statt, sondern sind zu einem regelrechten Massenphänomen geworden (vgl. Busse 2009; Jenkins 2011: xxxiii). Eine Vielzahl der medienkompetenten Rezipient*innen bewegt sich zielsicher in verschiedenen Geschichten, die parallel in Comics, Fernsehserien oder Computerspielen erzählt werden. Diese sind voll von wechselseitigen intertextuellen Bezügen, verweisen auf gemeinsame Paratexte oder Adaptionen und bringen Fortsetzungen, Prequels und Spin-offs hervor. Auf der Individualebene laufen die unterschiedlichen Elemente einer medienübergreifend erzählten Geschichte in der Rezipientin oder dem Rezipienten zusammen. Damit wird sie oder er zum Fokuspunkt eines kulturellen Phänomens, das Henry Jenkins in der Metapher einer Prismenlinse als convergence culture beschreibt (vgl. Jenkins 2006a: 3). Auf sozialer Ebene tauschen die Rezipient*innen ihre Erfahrungen untereinander aus. In Fangemeinschaften bilden sich spezifische Lesarten durch das kollektive Verhandeln von Informationen, die aus verschiedenen Basistexten, Paratexten oder Fanbeiträgen stammen können.1 Dies 1
In Anlehnung an Gérard Genette verwende ich im Folgenden den Begriff ›Paratext‹ auch für Presse- und Werbematerialien, die von den Produzent*innen eines jeweiligen
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geschieht durch eine Bündelung von ›Fachwissen‹2 in Online-Wikis, aber auch spielerisch durch das Recyceln ausgesuchter Elemente in eigenen Diskursbeiträgen.3 Die Beiträge der Fans lösen einzelne Aspekte aus einem Text heraus und rekontextualisieren diese in online geführten Debatten, die oft lange nach der Veröffentlichung des Basistexts zugänglich bleiben. Kurze Blogkommentare greifen Szenen oder Zitate auf; die Wort- und Bildkombinationen von image macros oder die kurzen Bildsequenzen eines animierten GIFs zitieren eine bestimmte, als prägnant erachtete Situation (Booth 2015: 25-52); von den Fans produzierte Trailer und Videokollagen stellen eine Reihe von knappen Handlungsmomenten nebeneinander (vgl. Williams 2014). Dadurch ergibt sich eine Wahrnehmung, in der die abgeschlossene Einheit einer Episode oder gar einer Serie an Bedeutung verliert und intertextuelle oder transmediale Kontexte an Bedeutung gewinnen. In der Fankultur werden sowohl sprachliche als auch visuelle Elemente aus ihrem primären Kontext herausgelöst, neu sortiert und durch ihre ständige Wiederholung aufgewertet und verdichtet. Dies kann einerseits Verknüpfungen in den Vordergrund stellen, die beispielsweise einzelne Filme, Comics oder Fernsehserien an bestehende fiktionale Welten anschließen und die Kohärenz dieser Welt stärken, andererseits aber auch spielerische Verbindungen zwischen Elementen aus ursprünglich voneinander unabhängigen Formaten herstellen, welche dann die Abgeschlossenheit der jeweiligen Welt unterlaufen. In diesem Beitrag steht eben jenes spielerische Aufbrechen der Grenzen einer fiktiven Welt, dem Marvel Cinematic Universe (MCU), im Fokus. Sowohl in den von Marvel veröffentlichten Basistexten als auch in von Fans produzierten image macros, animierten GIFs und Videos mit Bezug zum MCU werden die durch Marvel zunächst sorgsam kommunizierten Abgrenzungen des MCU gegenüber anderen Comic-Geschichten wiederholt unterlaufen. Für die folgenden
Basistexts begleitend veröffentlicht wurden (vgl. Genette 1993: 9-18). Davon abzugrenzen sind durch Fans produzierte Text- und Bildbeiträge, unter anderem da diesen ein anderes Maß an Kanonizität zugeschrieben wird (vgl. Busse/Hellekson 2006: 919). Grundsätzlich verwende ich einen erweiterten kulturwissenschaftlichen Textbegriff, der Zeichen in Sinnzusammenhängen als Text versteht (vgl. Chandler/ Munday 2011: 429f.), unabhängig davon, ob es sich um audiovisuelle Zeichen wie in Filmen und Fernsehsendungen oder um Text-Bild-Kombinationen wie in Comics oder image macros handelt. 2
Dies wird von Henry Jenkins als Spezialfall von Pierre Lévis Konzept der collective
3
Entsprechend sind Konzepte von Autor*innenschaft und urheberrechtliche Konflikte
intelligence beschrieben (vgl. Jenkins 2006b: 134-151). ein wichtiger Teil der Fanforschung (vgl. Jenkins 2006a: 135-175; 194-200).
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Analysen zum Umgang mit den Grenzen der fiktionalen Welt im MCU werde ich mich auf das Konzept der storyworld berufen, welches beschreibt, wie in einem einzelnen Text oder in mehreren narrativ verbundenen Texten eine fiktionale Welt erschaffen wird, die sich sowohl von der realen Welt als auch von den storyworlds anderer Texte unterscheidet. So verstehen wir beispielsweise als Rezipient*innen, dass sowohl der Superheld Spider-Man als auch die Figuren aus der Fernsehserie Sex in the City (1998-2004) in ihrer eigenen fiktionalen Version der Stadt New York leben, es sich jedoch keinesfalls in beiden Fällen um dasselbe New York handelt und diese Figuren sich dementsprechend auch nicht begegnen werden.4 Jan-Noël Thon unterscheidet weiter zwischen lokalen, medienspezifischen storyworlds, die von einem einzelnen Text dargestellt werden, glokalen transmedialen oder transtextuellen storyworlds – die im Sinne von Jenkins Konzept des transmedia storytelling (vgl. Jenkins 2006a: 95-135) widerspruchsfrei und kohärent mehrere Texte und Medien umfassen – und globalen oft sehr widersprüchlichen transmedialen Universen (vgl. Thon 2015: 31-321f.).
Das MCU ist in diesem Zusammenhang ein produktives Fallbeispiel, da es über eine stabile Fanbasis verfügt, transmedial aufgebaut ist und sich aufgrund der komplizierten Rechtesituation der Marvel-Figuren klar von ähnlichen lokalen und glokalen storyworlds unterscheiden lässt.5 Die transmediale storyworld des MCU wurde 2008 mit dem Kinospielfilm Iron Man etabliert und inzwischen soweit ausgebaut, dass sie 16 Kinofilme, neun Fernseh- und Netflix-Serien, fünf Kurzfilme, drei Webserien und mehrere Comics umfasst, die sich alle mehr oder weniger explizit aufeinander beziehen. Darüber hinaus stehen die zukünftigen
4
Weitere Erläuterungen zum ontologischen Status von storyworlds finden sich in JanNoël Thons Kapitel »The Storyworld as a Transmedial Concept« und in den Überlegungen von Jens Eder zum ontologischen Status von Figuren als Elemente einer storyworld (vgl. Eder 2008; Thon 2016: 35-70).
5
Beispielsweise bildet die von Columbia Pictures produzierte Spider-Man-Filmereihe (2002-2007) ihrerseits eine glokale storyworld. Doch obwohl die Figuren dieser Filmreihe ihren Ursprung ebenfalls im transmedialen Universum Marvels haben, ist klar, dass diese Filme nicht in der storyworld des MCU spielen. Die Handlung von SpiderMan 2 (2004) hat Einfluss auf die Handlung von Spider-Man 3 (2007), nicht aber auf die Ereignisse im MCU.
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Kinospielfilme für die nächsten Jahre bereits fest und weitere Serien sind ebenfalls angekündigt.6 Der Rahmen des MCU wurde von Marvel über zahlreiche Paratexte klar kommuniziert, die Figuren und Texte des MCU verfügen über eigene Online-Wikis und gedruckte Guidebooks (vgl. Marvelcinematicuniverse. wikia.com; O‘Sullivan 2017), in denen Hintergrundinformationen zur Verfügung stehen und narrative Zusammenhänge zwischen den Textbausteinen des MCU und den Marvel-Comics aufgeschlüsselt werden. Die storyworld des MCU wird in diesen Paratexten ausdrücklich ›räumlich‹ von den Comics abgegrenzt, das MCU wird als ›Earth-199999‹ gekennzeichnet und die storyworld der meisten Comics als ›Earth 616‹ (marvel.wikia.com). Ausschließlich Comics mit einem entsprechenden Hinweis spielen in der gleichen storyworld wie die audiovisuellen Texte des MCU. Verschiedene Zeitleisten helfen den Fans, die verschiedenen Serien, Kurzfilmen, Comics und Filmen miteinander in Beziehung zu setzen. Gleichzeitig besteht kein Zweifel, dass die Marvel-Comics als Vorlage für Figuren und Handlungsstränge im MCU dienen. Das MCU greift in seinem Aufbau zu großen Teilen auf vorangegangene ComicGeschichten zurück. Figuren und Schauplätze sind bereits aus den Comics bekannt und auch einzelne Handlungsstränge sowie die Entstehungsmythen der Held*innen enthalten zumindest Elemente aus den Comics. Die dem MCU zugeordneten Texte repräsentieren insgesamt eine weitgehend kohärente glokale storyworld, die an vielen Stellen jedoch im Widerspruch zu anderen glokalen und lokalen, in sich kohärenten, (transtextuellen oder transmedialen) storyworlds im globalen transmedialen Universum Marvels steht. Fanproduzierte Texte können sich nun nicht nur explizit auf die glokale transmediale storyworld des MCU oder unspezifisch auf das globale transmediale Universum Marvels beziehen, sondern auch Elemente aus unterschiedlichen storyworlds zusammenbringen. Erwin Feyersinger und Stephan Packard haben verschiedene Überlegungen zum Zusammentreffen von ursprünglich als nicht zusammengehörig rezipierten Elementen in einer Geschichte angestellt, die ich im Folgenden für die Analyse von Fanproduktionen heranziehen möchte. Erwin Feyersinger beschreibt Crossover-Episoden im Fernsehen, in denen Figuren aus verschiedenen narrativen Zusammenhängen aufeinandertreffen (2011) und Stephan Packard beschreibt, ebenfalls am Beispiel des MCU, unter dem Schlagwort »convergence event« (2015: 63), Verweise, welche die Grenzen zwischen der storyworld der Marvel-Comics und des MCU überschreiten. Ich möchte nun also ausgehend von diesen Überlegungen zu Crossover-Episoden und convergence events im MCU die daran anschließende Fankommunikation betrachten und einige weiter-
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Vgl. beispielsweise die Ankündigungen auf denofgeek.com oder screenrant.com.
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führende Aspekte zu den eigens von Fans produzierten Elementen, wie image macros, animierten GIFs und Videos, ergänzen. Ob das spielerische Kombinieren von Elementen aus diesen unterschiedlichen storyworlds als eine Störung oder gar als Grenzüberschreitung wahrgenommen wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab: der Deutlichkeit des Bezugs zum jeweiligen Basistext, dem Verhältnis der kombinierten Elemente zueinander in ihren Basistexten und nicht zuletzt dem Wissen der Rezipient*innen um die Verschiedenheit dieser Basistexte. Schaut man auf die Bezüge, die in Fankreisen immer wieder zwischen der Comic-Welt Marvels und dem MCU hergestellt werden, ergibt sich die Frage, welche Rolle Comic-Geschichte und Paratexte für verschiedene Lesarten innerhalb der Fangemeinschaft spielen. So enthält beispielsweise die Fernsehserie Agents of S.H.I.E.L.D. (2013-heute) eine Mischung aus genuin für das MCU erschaffenen Figuren und Versionen von bereits aus den Comics bekannten Held*innen. Sowohl in dem paratextuellen Versprechen auf zukünftige Texte als auch im Rückbezug auf vergangene Comics liegen daher Hinweise für die Gegenwart des MCU. Außerdem umfasst das MCU verschiedene transmediale Bausteine, deren Ereignisse innerhalb der storyworld des MCU zeitgleich geschehen und entsprechend aufeinander Bezug nehmen. Das bedeutet, dass die Fangemeinde, die in den Texten notwendigerweise nur unvollständig dargestellte storyworld des MCU nach Marie-Laure Ryans »principal of minimal departure« (1992: 48-60) nicht nur in Rückbezug auf die reale Welt und auf etabliertes Genrewissen ergänzt, sondern eben auch auf Paratexte und Comics von Marvel zurückgreift, um Lücken in Welt- und Figurenbeschreibung zu füllen. Da es sich bei den storyworlds aus dem Hause Marvel um fantastische Welten mit Science-Fiction-Elementen handelt, spielen Bezüge auf andere Texte eine besondere Rolle für das Füllen der narrativen Leerstellen, was nach Ryan einen weiteren Anreiz für die transmediale Erzählweise des MCU darstellt: »Since they are harder to imagine than realistic worlds, fantastic worlds have much more to gain from transmedial and multimodal representation that depicts them through many different kinds of signs that address different senses.« (Ryan 2015: 13) Ryan sieht in dem Bezug auf vorausgegangene Geschichten eine weitere Chance, die bereits informierten Rezipient*innen für den geleisteten Aufwand, sich mit der Spezifität einer fantastischen Welt vertraut zu machen, in besonderem Maße zu belohnen: »[O]nce fans have expended the effort to imagine a strange and remote world, they want a return on their cognitive investment. This return consists of many more texts that provide quick and easy access to a world with which they are already familiar, and in which they can be
156 instantly immersed, without having to go through a painful period of initiation.« (Ryan 2015: 13)
Dies erklärt, wieso sich die fantastische und sehr detailreiche Welt der Comics von Marvel für ein transmediales Großprojekt wie das MCU eignet. Die im Folgenden besprochenen grenzüberschreitenden Rückgriffe des MCU auf etablierte Elemente aus dem globalen transmedialen Universum Marvels funktionieren in ähnlicher Weise, gehen jedoch noch einen Schritt weiter. Sie belohnen die informierten Rezipent*innen für ihr Insiderwissen über die vorausgegangenen Geschichten der Comics und spielen gleichzeitig mit dem Wissen um die selbstgesetzten Grenzen zwischen MCU und den Comics, indem sie diese in mehr oder weniger versteckten Verweisen unterlaufen. Dadurch erlaubt Marvel seinen Fans, trotz der breiten Medienöffentlichkeit des Franchises, einen gewissen Insiderstatus zu erhalten.7
Die serielle Struktur des transmedialen Erzählens schafft für die Rezipient*innen des MCU immer wieder Räume, um persönliche Hypothesen zum Fortgang der Handlung oder zum Status verschiedener Figuren und Orte im Fankollektiv zu diskutieren. Es hat sich in der Analyse von Forenbeiträgen auf der Webseite superherohype.com zur Fernsehserie Agents of S.H.I.E.L.D. deutlich gezeigt, dass das Nachspüren von Verweisstrukturen und die Referenzen auf Paratexte für die Fans von großer Bedeutung sind – sei es das Herausstellen von potentiellen Anspielungen auf Comic-Geschichten, -Schauplätze oder -Figuren, die für eine stärkere emotionale Aufladung und eine höhere Informationsdichte sorgen, oder sei es das Aufzeigen von transmedialen Referenzen, die die narrative Schließung des MCU nach außen stärken. Die gefundenen Verweise mögen dann von den Fans durch direkte Verlinkung oder Screenshots von WikiEinträgen oder Werbematerialien untermauert werden. Besonders die narrative Anbindung der Serie Agents of S.H.I.E.L.D. an die Kinofilme wird von den Fans begrüßt und aufgrund der inneren Hierarchie des MCU als Aufwertung der Serien begriffen. Den Fans ist bewusst, dass die Filme ein größeres internationales Publikum ansprechen und daher nicht auf die Fernsehformate mit kleineren
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Leora Hadas problematisiert den Verlust des Insiderstatus von Fans durch die Normalisierung und Kommerzialisierung von Fanpraktiken als Teil alltäglicher Rezeptionspraktiken (vgl. Hadas 2013: 332).
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Reichweiten Bezug nehmen können. Ebenso wird das fehlende Auftreten der großen Superheld*innen in der Serie zweckrational durch die unterschiedlichen Budgets oder die höheren Gagen der Filmschauspieler*innen erklärt. Dieses Bewusstsein für die Marktbedingungen, unter denen das MCU produziert wird, zeigt sich in verschiedenen Diskussionsbeiträgen der Fans auf superherohype.com: »I tend to think that the movie will be watchable without seeing the show first. Therefore, while the show might be affected by what is happening in the movie, nothing that happens on the show will then impact the movie beyond a possible passing reference.« (Heretic 12.03.2014, 01:03 Uhr) »Is the show not allowed to actually show the face of the actors that portrayed the Avengers? I noticed on how, whenever they use actual clips from the films, they never show any clips featuring the actual faces of the stars.« (herolee10 17.11.2013, 20:49 Uhr)
In einigen Fällen wurde jedoch die Verbindung der Filme zu der storyworld der Fernsehserie gestärkt, indem Nebenfiguren aus den Filmen in die Serienhandlung von Agents of S.H.I.E.L.D. eingebunden wurden. Beispielsweise wurden einer Nebenfigur aus den Thor-Verfilmungen von 2011 und 2013, Lady Sif8, zwei Episoden der Serie Agents of S.H.I.E.L.D. gewidmet (1.15 Yes Men, 2014; 2.12 Who You Really Are, 2015). Diese Episoden lösen in besonderem Maße das Versprechen ein, dass sowohl die Fernsehserie als auch die Filme in der gleichen storyworld spielen. Da das Auftauchen von Lady Sif in Agents of S.H.I.E.L.D. eine Ausnahmesituation darstellt, können diese Episoden jedoch auch als Crossover-Event oder gar als metaleptisch betrachtet werden. Erwin Feyersinger beschreibt Crossover-Events in Fernsehserien und narrative Metalepsen als zwei Extreme im Spektrum möglicher Verbindungen von mehreren zunächst als distinkt wahrgenommenen storyworlds (vgl. Feyersinger 2011). Die Metalepse steht hier als Alternative zu den vermeintlich nahtlosen Übergängen zwischen den einzelnen Textbausteinen der glokalen transmedialen storyworld des MCU. Die möglichen metaleptischen Grenzübertretungen, die im Folgenden dem Crossover gegenübergestellt werden sollen lassen sich mit Jan-Noël Thon zunächst in drei Kategorien fassen: Als epistemische Metalepse, in der die Figuren über unmögliches Wissen über eine Subwelt höherer Ordnung, über ihre eigene Fiktionalität oder Dargestelltheit verfügen; als ontologische Metalepse, in der Figuren oder anderer Entitäten sich zwischen zunächst als
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In der Comic-Version tauchte die Figur bereits 1964 zum ersten Mal auf.
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getrennt dargestellten Subwelten bewegen können oder in denen letztere durch andere Formen der metaleptischen Kontamination verschmelzen; oder als autopoetische Metalepse – die ich jedoch weder im Fandiskurs noch im MCU gefunden habe – in der Figuren innerhalb einer Subwelt erzählend, schreibend oder anderweitig produzierend ihre eigene Subwelt erschaffen (vgl. Thon 2016: 65-66).9 Das Spektrum zwischen Crossover und Metalepse reicht für Feyersinger von einem realistischen, widerspruchsfreien Crossover bis zur intentional paradoxen Transgression der Metalepse (vgl. 2011). Ersteres betont die Kompatibilität mehrerer storyworlds, während letzteres dagegen deren Verschiedenheiten in den Vordergrund stellt (vgl. ebd. 140). Dazwischen finden sich als Abstufungen Crossover mit kleinen Unstimmigkeiten, Crossover mit unbeabsichtigten metaleptischen Effekten, Crossover mit beabsichtigten metaleptischen Effekten und Metalepsen als unrealistische Crossover (vgl. ebd. 128). Während die Metalepse zumeist in Rückgriff auf Gérard Genettes Definition als hierarchische Grenzüberschreitung zwischen Subwelten beschrieben wird (vgl. Thoss 2015: 8), bezieht sich ein Großteil der Beispiele von Erwin Feyersinger auf intertextuelle Metalepsen, bei denen die Grenzen zweier storyworlds horizontal überschritten werden (vgl. 2011: 139). Ein unbeabsichtigter metaleptischer Effekte ist dabei wie folgt zu verstehen: »Even when a crossover does not deliberately employ a metalepsis, the combination of two distinct shows with differing properties (such as format, discourse, mood, topics, or diegetic configuration) leads to certain incongruities and ruptures that can be examined in the context of metalepsis.« (Ebd. 129; [Herv. V.O.]) Die Bezeichnung einer Kombination aus mehreren storyworlds als metaleptisch ist also optional und hängt an der Wahrnehmung von (teilweise unabsichtlich entstandenen) Ungereimtheiten und Brüchen. Schaut man sich nun das Auftreten von Lady Sif in der Serie Agents of S.H.I.E.L.D. unter diesen Gesichtspunkten erneut an, so handelt es sich zunächst um ein widerspruchsfreies Crossover-Event, das als Verbindung zwischen den einzelnen Texten der transmedialen storyworld des MCU dient. Man könnte allerdings auch überlegen, ob das Auftreten von Lady Sif in der Serie Agents of S.H.I.E.L.D. nicht dennoch unbeabsichtigte metaleptische Effekte hat. Nimmt man das transmediale Konzept des MCU ernst, sind alle Figuren der Kinofilme grundsätzlich auch Teil der storyworld der Serie. Gleichzeitig geben die Produktionskontexte jedoch vor, dass es eher unwahrscheinlich ist, dass aufgrund des
9
Ich verwende hier zur Vereinfachung Jan-Noël Thons Formen der Metalepse, da Erwin Feyersinger in seinem Aufsatz eine Vielzahl von möglichen Varianten der Metalepse unterscheidet, die hier zu weit führen würde.
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niedrigeren Budgets Darsteller*innen aus den Filmen in die Serie integriert werden. Wie oben bereits beispielhaft gezeigt wurde, geht aus der Fankommunikation hervor, dass den Rezipient*innen die Hierarchie der unterschiedlichen Medien durchaus bewusst ist. Die Werbung für die Episode Yes Men zeigte Lady Sif kampfbereit mit gezücktem Schwert neben dem Logo der Serie (vgl. thor.wikia.com). Durch die direkte Anbindung an die Kinofilme entsteht ein Eventcharakter, der entsprechend beworben wurde und die Folge aus dem seriellen Fluss der Episoden herausbrechen lässt. Neben diesen Crossover-Episoden kann man auch die etwas abseitigeren Referenzen auf die storyworld Earth-616 als metaleptisch beschreiben. Diese folgen der Logik des convergence events, einer »individuell realisierten Konfrontation von Elementen aus verschiedenen Genres, Serien und Medien« (Packard 2015: 63; [Übers. V.O.]). Stephan Packard beobachtet dies ebenfalls am Beispiel der Comics von Marvel und dem MCU, jedoch in der umgekehrten Perspektive auf die Auswirkungen des MCU auf die Comic-Welt Earth-616. Solche Anspielungen funktionieren ähnlich wie intertextuelle Verweise. Sie werden nur bemerkt, wenn der Gegenstand des Verweises bereits bekannt ist. Sie unterscheiden sich jedoch durch die enge Anbindung des MCU an das globale transmediale Universum der Comics von anderen popkulturellen Zitaten. Diese Verbindungen zu den Comics gehen von offizieller Seite aus und sind teilweise recht marginal. Dennoch werden sie von den Fans begrüßt und in den Foren geradezu gesammelt. Sie werden innerhalb der Fangemeinschaft durch Wiederholung und Verdichtung in der metatextuellen Kommunikation aufgewertet und erhalten damit mehr Gewicht als sie es innerhalb einer isolierten Rezeption der Serie hätte. Beispielsweise veranlasste das Auftauchen von drei identisch aussehenden Figuren namens Koenig in Agents of S.H.I.E.L.D. zahlreiche Spekulationen auf superherohype.com, ob die sogenannten Life-Model Decoys – eine spezielle Art von lebensechten Robotern, die in den Comics häufig vorkommt – in der storyworld der Serie existieren. Die identischen Figuren, die in der Serie als Brüder eingeführt wurden, wirkten in ihrer Gleichheit derart absurd, dass der Verdacht, es würde sich um Life-Model Decoys handeln, für manche Fans plausibel erschien. Die Online-Diskussion zwischen den Fans zeigt, dass die Identität der Gebrüder Koenig als strittig empfunden wurde: »Koenig LMD is actually plausible.« (mocomic 30.04.2014, 00:17 Uhr)
160 »Anyone being a LMD is not plausible until we actually see our first LMD. Until then, it's just blindly grasping at ideas and we don't know if the concept of LMD even exists in this universe.« (Heretic 30.04.2014, 00:23 Uhr)
In diesen Kommentaren wird deutlich, dass die Fans zwar nach Hinweisen auf Elemente aus der storyworld Earth-616 suchen, diese aber stets als Spekulation wahrgenommen werden, solange die betreffenden Elemente nicht eindeutig in der storyworld des MCU etabliert sind. Gleichzeitig tauchten die Life-Model Decoys durch Agent Koenig bereits 2014 in Fandiskussionen auf, bevor sie 2016 tatsächlich in die Fernsehserie eingeführt wurden (3.22. Ascension). Außerdem verweist die Serie in eher beiläufigen Dialogen auf skurrile Figuren aus der Comic-Welt Earth-616, beispielsweise auf Bessie die Hellcow oder Man-Thing, von denen die Fans recht sicher glauben, dass sie zu kauzig seien, um für eine ernsthaftere Verwendung im Franchise in Frage zu kommen. »I loved the Bessie reference. So random and obscure.« (LOEZZTT 22.10.2014, 12:25 Uhr) schreibt einer der Fans und veröffentlicht dazu einen enzyklopädischen Eintrag zu Hellcow. Ein anderer Fan schreibt: »I knew it! As soon as we saw Brandt with her scars I just knew Man-Thing had to exist somewhere in the MCU. I'm a happy fanboy. […] I will buy approximately 3 copies of the home release if there's a surprise Maria Hill Fights Man-Thing at a Mall climax.« (Eddie 28.04.2014, 17:54 Uhr) Eine weitere subtile Anspielung auf die Comics erfolgt in der ersten Episode (1.1 Pilot, 2013), als eine der Figuren fragt: »So, are you excited to be coming on our journey into mystery?« und damit auf die Comicserie, Journey Into Mystery, aus den 1950er-Jahren verweist. Eine ähnliche Anspielung auf die Publikationsgeschichte Marvels findet sich in dem Titel der Episode 3.6 Among Us Hide (2015), der sich auf den Fantastic Four-Comic Among Us Hide The Inhumans! aus dem Jahre 1965 bezieht. Beide Verweise wurden von den Fans aufgegriffen und der Titel des Comics wurde darüber hinaus als Hinweis darauf gedeutet, dass es in der betreffenden Episode ebenfalls um die Inhumans gehen könnte (vgl. SirStrangefolk 29.10.2015, 02:21 Uhr).
Einen deutlichen Schritt weiter geht der spielerische Umgang mit der storyworld des MCU, wenn man genuin fanproduzierte Bilder und Videos betrachtet. In den Fanproduktionen werden die Grenzen der von Marvel sorgfältig definierten storyworld auf unterschiedlichste Weisen aufgebrochen. Medientheoretisch ist
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dabei besonders zu berücksichtigen, dass durch die multimodale Kommunikation über image macros, animierte GIFs und Videos auch visuelle Zitate und Anspielungen gefunden und verglichen werden. Es wird mit formalen, inhaltlichen und produktionstechnischen Ähnlichkeiten auf der Text- und Bildebene gespielt und visuelle Elemente werden in der Art vom intertextuellen Verweisen zitiert, wie es bislang vornehmlich der Reproduktion von Sprache durch Schrift vorbehalten war. Durch die Verwendung von Standbildern, Bewegtbildern, Zeichnungen oder sprachlichen Verweisen können sich Referenzen entweder allgemein auf Figuren verschiedener storyworlds oder auf werkspezifische lokale Realisierungen einer Figur beziehen. Hierfür spielen medienspezifische Charakteristika der Figur eine besondere Rolle. So ermöglicht beispielsweise die Verwendung von Originalbildern die Zuordnung zu spezifischen storyworlds durch wiedererkennbare Schauspieler*innen, spezifische Zeichenstile oder charakteristische Kostüme und Settings, während von Fans erstellte Zeichnungen oder sprachliche Verweise auf Figuren ihre Referenztexte nicht immer spezifizieren. Dabei können sich die Fans flexibel auf mehrere storyworlds beziehen und die Trennung zwischen extraund intradiegetischen Elementen kann verschwimmen. Dies möchte ich im Folgenden an drei Beispielen ausführen, einem image macro und einem animierten GIF, die jeweils auf facebook.com in verschiedenen Marvel-Fangruppen geteilt wurden, und einem Fanvideo, das beispielhaft für eine Vielzahl ähnlicher Videos steht, die auf youtube.com zu finden sind.
Abb. 1: Image macro, Kommentar zum Kinostart von Captain America: Civil War (2016) Das erste Beispiel (Abb. 1) ist ein image macro, das 2016 vor dem Kinostart von Captain America: Civil War geteilt wurde. Das obere Bild zeigt den Schauspie-
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ler Chris Evans als Captain America, der Text verweist auf den angekündigten Film sowie auf die Figur Spider-Man und das untere Bild zeigt J.K. Simmons in seiner Rolle als J. Jonah Jameson aus einer älteren Spider-Man-Verfilmung. Hier führen alle Verweise zurück in das globale transmediale Universum Marvels. In anderen Beispielen kombinieren die Fans allerdings auch Figuren Marvels mit fiktiven Figuren aus ganz verschiedenen storyworlds. Das Bild von Chris Evans als Captain America verweist eindeutig auf die storyworld des MCU. Die bloß im Text erwähnte Figur Spider-Man dagegen bleibt unspezifisch. Als abstrakte transmediale Entität hat Spider-Man in einem performativen Prozess der Universalisierung eine Identität außerhalb seiner konkreten medial spezifischen Realisierung entwickelt. Diese Entwicklung hat Stephan Packard bereits als Phänomen im globalen transmedialen Universum Marvels beschrieben: »This performance of transmediality thus is seen to depend upon a series of active feats of universalization, which construct the overarching transmedial entity even as they construe its severability from the intermedial moments of contact and reference among the concrete media productions that launch them. While each individual image and story about SpiderMan is concrete, the abstract transmedial entity is kept alive as a collective imagination among the participants involved in that performance.« (Packard 2015: 62)
Der universelle Aspekt der Figur Spider-Man wird dadurch unterstrichen, dass sich die Aussage »It’s my movie« auf den jüngsten Captain America Film, Captain America: Civil War aus dem Jahr 2016 bezieht. Der Auftritt von SpiderMan in diesem Film wurde von den Fans als besonderes Ereignis begriffen, da dies den ersten Auftritt der Figur im MCU darstellt, nachdem die Figur aufgrund der komplizierten Rechtesituation zwischen Marvel, Columbia Pictures und 20th Century Fox bislang nicht zur Verfügung stand. Das zweite Bild zeigt jedoch J.K. Simmons als J. Jonah Jameson, der eindeutig aus den Spider-Man-Filmen von Columbia Pictures stammt. In der Vermischung der glokalen transmedialen storyworld des MCU, des globalen transmedialen Universums von Marvel und der glokalen storyworld der Verfilmung von Spider-Man finden jeweils ontologische Metalepsen statt. Darüber hinaus spricht Captain America hier von seinem Film, er ist sich also seiner eigenen Fiktionalität bewusst und verfügt darüber hinaus auch noch über Informationen zur Rezeption seines Films, also aus der Realität der Fans. Er weiß, wonach sein Film beurteilt wird, worüber die Rezipient*innen, »they«, sprechen. Dies ist zunächst als epistemische Metalepse zu beschreiben, denn die Figur verfügt über ein unmögliches Wissen über ihre eigene Fiktionalität oder Dargestelltheit (vgl. Thon 2016: 66). Doch es findet hier noch eine weitere Form der Metalepse statt, die bislang nicht angesprochen
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wurde. Jeff Thoss beschreibt, unter anderem, Grenzüberschreitungen zwischen einer storyworld und der Realität als eine Form der prototypischen Metalepse (vgl. Thoss 2015: 4). Dabei ist natürlich nicht davon auszugehen, dass es eine tatsächliche Verbindung zwischen einer fiktiven storyworld und der Realität der Rezipient*innen gibt, dennoch schließt Thoss die Möglichkeit, dass der Text mit der Illusion einer solchen Übertretung spielt, nicht aus: »However, a few scholars […] have rightly argued that metalepsis can also involve the level of the real-world author or reader. Naturally, they have been not so naïve as to postulate that the boundary between reality and fiction can be crossed in a literal, physical way but merely pointed to the fact that narratives can very well suggest this, that it can be part of the game of make-believe that the border between reality and fiction is transgressed.« (Thoss 2015:11)
In dem oben genannten Beispiel erfolgt also erstens der Zusammenprall mehrerer storyworlds in ontologischen Metalepsen durch das Verwenden von Standbildern aus zwei verschiedenen Verfilmungen und den Verweis auf Spider-Man als transmediale Entität und zweitens das Zusammenprallen der fiktionalen Welt Captain Americas mit der Welt der Rezipient*innen durch die epistemische Metalepse im schriftlichen Verweis.
Abb. 2: Animiertes GIF, Kommentar zum Comic Captain America: Steve Rogers #1 (Spencer 2016) Das zweite Beispiel (Abb. 2) wurde nach dem Erscheinen des Comics Captain America: Steve Rogers #1 geteilt, das mit einem kontroversen Cliffhanger die Fangemeinschaft in Aufruhr versetzt hatte. An diesem animierten GIF soll nun
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das Spiel mit den verschiedenen (medienspezifischen) Versionen ein und derselben Figur genauer beleuchtet werden. Dem GIF liegt ein Filmausschnitt aus Avengers: Age of Ultron (2015) zugrunde, in dem Captain America mit bloßen Händen ein Holzscheit zerreißt, um seinem Ärger Luft zu machen. Die Filmversion Captain Americas wurde hier jedoch so manipuliert, dass Captain America anstelle des Holzscheits das betreffende Comicheft zerreißt. Es treffen auch hier auf mehreren Ebenen metaleptische Aspekte aufeinander: Es wird eine zumindest emotionale Verbindung zwischen dem Captain America aus dem MCU und dem Captain America im Comicheft nahegelegt, die sich aus der beiden gemeinsamen abstrakten transmedialen Entität Captain America ergibt und die im GIF die mutmaßliche Motivation für den Ärger der Figur darstellt. Gleichzeitig begibt sich Captain America aus seiner abgeschlossenen fiktionalen storyworld heraus auf die Ebene der Realität seiner Rezipient*innen, in der die Comics von Marvel als Objekte existieren. Es findet also auch hier ein Spiel mit einer möglichen metaleptischen Überschreitung zur Realität statt. Dies wird dadurch bestärkt, dass die Fans über das GIF ihre eigene Missbilligung für das Comicheft miteinander teilen. Sie drücken ihren eigenen Ärger durch den von Chris Evans in der Rolle des Captain America dargestellten Ärger aus und bilden damit eine imaginäre Gemeinschaft mit dieser Version Captain Americas. An diesem Beispiel möchte ich nun einen weiteren Ansatz zur Metalepse in Fanproduktionen diskutieren. Nach Tisha Turk findet sich in fanproduzierten Texten grundsätzlich eine weitere metaleptische Ebene: »Fan works, then, are always metaleptic in the sense that they represent the imposition of extradiegetic desires upon the fictional world and the transformation of a text in the service of those desires.« (2008: 90) Turk sieht also in der Doppelfunktion von Fanproduktionen als eigene Diskursbeiträge innerhalb der Gruppe der Fans und als Fortsetzung der Figuren innerhalb der storyworld eine grundsätzliche metaleptische Spannung zwischen der storyworld und der Realität der Fans. Das Argument ähnelt in seiner Struktur einer Konzeption von Jim Phelan aus der rhetorischen Narratologie: Auch er sieht die Elemente einer Geschichte grundsätzlich sowohl im Dienst der Geschichte als auch im Dienst der Autor*innen, beziehungsweise abzielend auf Rezipient*innen die sich sowohl der Kommunikationsabsicht der Autor*innen bewusst sind und sich dennoch auf die Illusion der Geschichte einlassen können (vgl. Phelan 1996: 140). Eine Störung, wie der von Turk beschriebene metaleptische Effekt, ergibt sich für Phelan allerdings nur, wenn sich beide Lesarten nicht im Einklang miteinander befinden.10 Im oben gezeigten GIF entsteht dies durch die paradoxe Situation, sich gemeinsam mit einer Version
10 Beispielsweise in James Phelans Analyse von Nabokovs Lolita (vgl. Phelan 2003).
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Captain Americas über eine andere Version Captain Americas zu ärgern und damit die Illusion von Captain America als fiktionalem Individuum zu durchbrechen. Die grundsätzliche Annahme, dass ein Fan als Autor alleine ausreicht, um eine solche metaleptische Störung hervorzurufen, spricht den Fans als Autor*innen jedoch grundsätzlich die Fähigkeit ab, sich zu ihren Texten verhalten zu können, ohne den eigenen Fanstatus in den Vordergrund zu stellen. Auch wenn die Schlussfolgerung von Turk in ihrer Absolutheit zu weit geht, verlangen Fantexte oft eine hohe Bereitschaft von ihren Rezipient*innen, sich auf das Dargestellte einzulassen, da die Fanproduktionen keinerlei kanonische Bedeutung oder legitimierenden Status haben. Nur weil ein image macro J. Jonah Jameson aus den Spider-Man-Filmen und Captain America aus dem MCU zusammenbringt bedeutet das nicht, dass die storyworld der beiden Filme in der Folge als ein und dieselbe rezipiert wird. Wird dem Fanprodukt jedoch die Autorität, einen Bezug zu den Basistexten herzustellen, abgesprochen, verliert die Bildfolge einen Großteil ihrer Aussagekraft. Es ist also gleichzeitig klar, dass Captain America in der fiktiven storyworld des MCU keine Captain AmericaComics liest und dass er es in dem oben gezeigten GIF dennoch tut. Ohne sich auf dieses Spiel einzulassen, verliert das GIF seinen Reiz. Die geteilte emotionale Reaktion auf die Comic-Geschichte behandelt die Version von Captain America aus dem MCU als realistische Figur, die psychologisch glaubwürdig auf reale Ereignisse aus der Lebenswelt der Rezipient*innen regieren kann, während das gleichzeitige Auftreten von zwei Versionen Captain Americas im GIF auf deren Fiktionalität verweist. Ebenso wie das Bild zwei Bildebenen überlagert, überlagern sich diese zwei konkurrierenden Lesarten.
Die Überlagerung eines legitimen und illegitimen Status von Figuren in den Texten der Fans findet sich noch deutlicher in Fanvideos, in denen Ausschnitte aus unterschiedlichen Filmen zusammengefügt werden, um Trailer für einen hypothetischen Crossover-Film zu erstellen. Je mehr der illegitime, nicht kanonische Status des Trailers im Vordergrund steht, desto deutlicher wird die Trennung zwischen den zusammengestellten Ausschnitten aus mehreren Filmen mit jeweils eigenen storyworlds. Das bedeutet, dass auch hier die Entscheidung zwischen einem Crossover, bei dem eine zuvor als distinkt wahrgenommene storyworld zu einer gemeinsamen storyworld verbunden wird oder einer Metalepse, bei der die Verschiedenheit mehrerer storyworlds aufzeigt wird, unterschiedlich
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ausfallen kann, je nachdem wie sehr sich die Rezipient*innen auf die Illusion des Fanprodukts einlassen. Ich möchte daher argumentieren, dass sich beide Aspekte, Crossover und Metalepse, in diesen von Fans erstellten Trailern gegenseitig überlagern können. Zahlreiche von Fans produzierte Trailer lassen beispielsweise die Helden Deadpool und Spider-Man aufeinandertreffen.11 Fanvideos wie diese imitieren den Eventcharakter des Crossovers und sind gleichzeitig von einem sehnsüchtigen ›was wäre wenn‹ der Fans umgeben. Ein Grund für die Popularität dieser Crossover-Videos – und auch von ähnlichen Geschichten im Bereich der Fanfiction – liegt darin, dass es eine wahrgenommene Nähe der Figuren gibt, die in offiziellen Texten aus unterschiedlichen Gründen jedoch nicht dargestellt werden kann. Im angesprochenen Beispiel von Deadpool und Spider-Man entsteht dieses Spannungsverhältnis durch die bereits angesprochene Situation der Urheberrechte der Marvel-Figuren. Im Medium Comic liegen diese sowohl für Deadpool als auch für Spider-Man bei Marvel, sodass die beiden Helden über eine große gemeinsame Fanbasis verfügen. Seit 2016 begegnen sich die beiden beispielsweise regelmäßig in der gemeinsamen Heftreihe Spider-Man/Deadpool, die mit der »(b) romance« [sic!] zwischen den beiden Helden beworben wird: »The Webbed Wonder and the Merc with a Mouth are teaming up for their first ongoing series EVER! It’s action, adventure and just a smattering of (b) romance in this episodic epic featuring the WORLD’S GREATEST SUPER HERO and the star of the WORLD’S GREATEST COMICS MAGAZINE. Talk about a REAL dynamic duo!« (marvel.com)
Die Filmrechte für Deadpool liegen jedoch derzeit bei 20th Century Fox und die für Spider-Man bei Sony Pictures. Eine Kooperation der beiden Superhelden auf der Kinoleinwand ist daher unwahrscheinlich. Während die Verwendung der Figuren für die Produktionsfirmen durch diese Situation eingeschränkt wird, setzen sich die Fans mit der Verwendung des Filmmaterials von mehreren Produktionsfirmen gleichermaßen über bestehende Urheberrechtsverhältnisse hinweg. In den Trailern werden also die Szenen unterschiedlicher Kinofilme miteinander verbunden, um ein Crossover-Event zu simulieren, das im Wissen um die Rechtesituation in dieser Art nicht stattfinden kann. Die ontologische Metalepse
11 Auf youtube.com findet sich derzeit (30.10.2017) eine Vielzahl von ähnlichen Videos, die Deadpool mit Spider-Man und anderen Figuren aus dem globalen transmedialen Universum Marvels zusammenbringen. Seit der neuesten Spider-Man-Verfilmung, Spider-Man Homecoming (2017), sind weitere Versionen der Deadpool/Spider-ManKombination hinzugekommen.
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verstärkt sich durch den Status des Trailers als Fanprodukt, denn in der Freude, die beiden Helden zusammen zu sehen, schwingt stets das Bewusstsein mit, dass es sich eben nicht um einen kanonischen Text handelt und es entsprechend keinen Kinofilm geben wird, der das Versprechen des Trailers einlöst. In den Kommentaren auf youtube.com wird deutlich, dass sich die Fans der Trennung der beiden storyworlds durchaus bewusst sind. Es wird diskutiert, welche der beiden Figuren die Fans bevorzugen und welchen Schauspieler aus den bereits existierenden Spider-Man-Verfilmungen sie sich in der Rolle von Spider-Man wünschen würden, wenn es doch eine Deadpool/Spider-Man-Verfilmung gäbe: » I would love to see Dead pool and Spider-man on the screen together there my two favorite characters